Letzte Ruhe in der Zone - Berliner Medien Vertrieb
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Letzte Ruhe in der Zone - Berliner Medien Vertrieb
LITERATUR J U NGE FREIHEI T Nr. 43/09Ë16. Oktober 2009 Herta Müller über das Schicksal der deportierten Rumäniendeutschen 1945 Jörg Bernhard Bilke Reinhard Mehrings Biographie des Staatsrechtlers Carl Schmitt S. 26 Günter Maschke Ulrich Raulff und der George-Kreis nach dem Tod des „Meisters“ S. 27 Oliver Zeitler Lorenz Jäger untersucht die Einflüsse der Freimaurerei auf die Weltpolitik S. 27 Karlheinz Weißmann Ingo von Münch klagt die Massenvergewaltigungen der Roten Armee 1945 an S. 28 Thorsten Hinz Jochen Böhler: Polenfeldzug als Vernichtungskrieg S. 28 Vincent Lohmüller Avraham Burg hält eine Holocaust-Identität für die falsche Staatsdoktrin S. 29 Günther Deschner Joachim Fernau zum 100. Geburtstag in Wort und Bild S. 29 Harald Harzheim Juli Zeh und Ilija Trojanow warnen vor der alles umfassenden Kontrolle S. 30 Ronald Gläser Erich Lamp beschreibt die Mechanismen der „öffentlichen Meinung S. 30 Michael Paulwitz Klaus-Dietmar Henke: Die 89er Revolution S. 31 Werner Lehfeldt Politikverdrossenheit nicht mit Beatrice von Weizsäcker S. 31 Sverre Schacht Positive Bilanz nach 1990: Erfolge im Aufbau Ost S. 32 Matthias Bäkermann ISBN 978-3-902475-33-6 Thor von Waldstein DER BEUTEWERT DES STAATES Carl Schmitt und der Pluralismus 215 Seiten, Hardcover & 19,90 Einen Staat nennt man pluralistisch, wenn seine Willensbildung entscheidend beeinflußt wird von nichtstaatlichen Kräften, etwa der Wirtschaft, sozialen Gruppen und sonstigen „pressure groups“. Es war Carl Schmitt, der die von Harold Laski entwickelte Pluralismustheorie einer gründlichen Untersuchung unterzog. Die vorliegende Studie zeigt Schmitts fundamentale Kritik an der unsichtbaren Herrschaft der Verbände als ein zentrales Element seines Antiliberalismus. Ein Thema von hoher Aktualität. ARES VERLAG Foto: pIctuRE allIancE A m 23. Juli dieses Jahres veröffentlichte die rumäniendeutsche Schriftstellerin Herta Müller in der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit einen langen Artikel „Die Securitate ist noch im Dienst“. Darin hat sie grauenvolle Einzelheiten ihrer Verfolgungsgeschichte durch den rumänischen Geheimdienst, der auch noch nach 1989/90 unter dem neuen Namen „Rumänischer Informationsdienst“ seine Verbrechen fortsetzt, aufgezählt: So wurden Angehörige der deutschen Minderheiten unter dem Negativbegriff „Deutsche Nationalisten und Faschisten“ erfaßt; Roland Kirsch, ein Freund von ihr, Ingenieur in einem Schlachthaus, der über die Tristesse des rumänischen Alltags kleine Prosastücke schrieb, wurde im Mai 1989 in seiner Wohnung von mordlustigen Mitarbeitern der „Securitate“ zur Abschreckung aufgehängt; der Hamburger Journalist Rolf Michaelis, der die Autorin in Temeswar besuchen wollte und ein Telegramm geschickt hatte, das nie angekommen ist, wurde im Keller des Hochhauses von drei „Securitate“-Leuten zusammengeschlagen, wobei ihm sämtliche Zehen gebrochen wurden. Herta Müller selbst, die in den Akten (914 Seiten) seit 8. März 1983 als „Cristina“ geführt wurde und der, wegen ihres Erzählungsbandes „Niederungen“ (1982), „tendenziöse Verzerrungen der Realitäten“ vorgeworfen wurden, hat die gnadenlose Verfolgung vier Jahre hindurch erdulden müssen, mit zwei Anwerbungsversuchen und, nach der Verweigerung, mit der Drohung: „Es wird dir noch leid tun, wir ersäufen dich im Fluß.“ Und ein Jahr nachdem sie 1987 nach West-Berlin ausgereist war, erschien ihre angeblich beste Freundin zu Besuch, die inzwischen vom Geheimdienst angeworben worden war. Wenn man das alles weiß, was gewiß nur ein Bruchteil dessen ist, was Herta Müller erlebt und verinnerlicht hat, dann versteht man, daß sie, die seit 1985, noch vor ihrer Ausreise, in Deutschland mit Preisen überhäuft wurde, nur ein Thema kennt: die fortwährende Entwürdigung des Menschen durch die kommunistische Diktatur, die jahrzehntelang die Staaten Osteuropas wie ein Krebsgeschwür überzog! Wenn man die Reihe ihrer Erzählungen und Romane überblickt, die sie seit 1987 veröffentlicht hat, ohne einer Zensur unterworfen worden zu sein, dann sieht man deutlich, daß sie im Reisegepäck einen ungeheuren Stoffvorrat aus kommunistischer Zeit mitgebracht hat, der noch lange nicht aufgezehrt ist. Besonders ihre Romane „Der Fuchs war damals schon der Jäger“ (1992) und „Herztier“ (1994), für die sie mit dem Deutschen Kritikerpreis und dem Kleistpreis ausgezeichnet wurde, machten offenbar, daß sie von Schlüsselerlebnissen bedrängt wird, die nach literarischer Aufarbeitung verlangten. Mit ihrem Roman „Atemschaukel“ aber greift die frischgebackene LiteraturNobelpreisträgerin 2009 weit über ihr Geburtsjahr 1953 hinaus in eine Zeit, als das Ende des Zweiten Weltkriegs abzusehen war. Am 25. August 1944 hatte Rumänien die Fronten gewechselt und dem Deutschen Reich den Krieg erklärt, am 31. August die Rote Armee INHALT S. 25 S E I T E 25 Herta Müller: Im Reisegepäck einen ungeheuren Stoffvorrat über die fortwährende Entwürdigung des Menschen durch den Kommunismus Wenn der Hunger beißt Mit dem Lorbeer des Nobelpreises: Herta Müllers Roman über die Odyssee der Rumäniendeutschen nach 1945 von jörg bernhard bilke die Hauptstadt Bukarest besetzt. Auf sowjetrussischen Befehl wurden zwischen dem 11. und 16. Januar 1945 etwa 80.000 Rumäniendeutsche zu fünfjähriger Zwangsarbeit in die siegreiche Sowjetunion verschleppt. Davon waren alle Gruppen der deutschen Minderheit betroffen: Die Banater und Sathmarer Schwaben und die Siebenbürger Sachsen. Herta Müller konnte noch ihre im Banat lebende Mutter befragen, die auch verschleppt war, viel später dann auch, im Jahr 2001, als sie systematisch Stoff über diese Tragödie zu sammeln begann, die Bewohner ihres Heimatdorfes und noch später den siebenbürgischen Lyriker Oskar Pastior (1927–2006), einen Betroffenen. Mit ihm und dem rumäniendeutschen Autor Ernest Wichner, der seit 2003 das Berliner Literaturhaus leitet, fuhr sie 2004 in die Ukraine, um die ehemaligen Lager, die Stätten des Grauens, zu suchen. So bildet den Kern des Romans auch das Schicksal Oskar Pastiors, der am 4. Oktober 2006 auf der Frankfurter Buchmesse verstorben war, und wurde der fiktiven Figur des 17jährigen Leo Auberg zugeordnet. Die- ser junge Mann aus Hermannstadt in Siebenbürgen, dessen Verhaftung im ersten Kapitel „Vom Kofferpacken“ beschrieben wird, begreift nicht, was ihm geschieht und warum er von allen Verwandten, die hilflos zusehen müssen, beschenkt wird: „Es war 3 Uhr in der Nacht zum 15. Januar 1945, als die Patrouille mich holte. Die Kälte zog an, es waren minus 15 Grad. Wir fuhren auf dem Lastauto mit Plane durch die leere Stadt zur Messehalle. Es war die Festhalle der Sachsen. Und jetzt das Sammellager. In der Halle drängten sich an die 300 Menschen. Auf dem Fußboden lagen Matratzen und Strohsäcke. Die ganze Nacht kamen Autos, auch von den umliegenden Dörfern, und luden eingesammelte Leute aus. Gegen Morgen waren es an die 500.“ Es ist die Zeit des Hochstalinismus in Osteuropa, auch wenn dieses Wort und andere wie „Archipel Gulag“ nie erwähnt werden in den 34 Kapiteln dieses Buches. Menschenleben sind billig und besonders die einer deutschen Minderheit, der die deutsche Schuld aufgebürdet wird. In den Lagern, in denen die Verschleppten, ohne die Befristung zu ISBN-978-3-902475-53-4 Barbara Rosenkranz MENSCHINNEN Gender Mainstreaming – Auf dem Weg zum geschlechtslosen Menschen 168 Seiten, Hardcover & 19,90 ISBN 978-3-902475-60-2 Heiko Luge (Hg.) GRENZGÄNGE Liber amicorum für den nationalen Dissidenten Hans-Dietrich Sander 352 Seiten, Hardcover & 29,90 Der Begriff „Gender mainstreaming“ bezeichnet nach außen den Versuch, die Gleichstellung der Geschlechter auf allen gesellschaftlichen Ebenen durchzuführen. Tatsächlich aber geht es darum, fast unbemerkt ein völlig neues, radikal anderes Menschenbild durchzusetzen – um die mutwillige Zerstörung von traditionellen Werten wie Ehe und Familie. Barbara Rosenkranz spricht hier von einer der radikalsten Revolutionen, die das Alltagsleben in Europa je betroffen hat. Einer der profiliertesten nationalen Publizisten wird 80 – geachtet und gefürchtet: „Was verhütet werden muß“, so Peter Glotz 1989, sei, daß Sanders „stilisierte Einsamkeit, diese Kleistsche Radikalität wieder Anhänger findet. Schon ein paar Tausend wären zu viel für die zivile parlamentarische Bundesrepublik“. ISBN 978-3-902475-42-8 Rudolf von Ribbentrop MEIN VATER JOACHIM VON RIBBENTROP Erlebnisse und Erinnerungen 496 Seiten, S/W-Abbildungen, Hardcover & 29,90 Außenminister Joachim von Ribbentrop gehört zu den historisch umstrittensten Personen der neueren deutschen Geschichte. Erstmals versucht sein Sohn, Rudolf von Ribbentrop, viele der scheinbar festgefügten Urteile aus eigenem Erleben zurechtzurücken. Dies betrifft seine Erfahrungen im England des Vorkriegs ebenso wie die Rolle des deutschen Widerstands gegen Hitler im Auswärtigen Amt oder die Geschehnisse rund um den Hitler-Stalin-Pakt. Selbst mehrfach verwundeter Offizier, insbesondere im Osten eingesetzt, gelingt es dem Autor, die historischen Ereignisse kritisch zu beleuchten. Ein Buch von hohem zeitgeschichtlichem Wert. Mit Beiträgen u.a. von: Thor von Waldstein, Günter Maschke, Bernd Rabehl, Wolfgang Strauß, Günter Zehm, Peter Furth, HansUlrich Kopp, Martin Lichtmesz, Franz Uhle-Wettler, Elmar Walter, Ivan Denes, Klaus Volk, Werner Bräuninger, Götz Kubitschek, Arne Schimmer, Volkmar Voigt u.v.a. kennen, fünf Jahre bei Schwerstarbeit ausharren müssen, wird ununterbrochen gehungert: „Ich wollte langsam essen, weil ich länger was von der Suppe haben wollte. Aber mein Hunger saß wie ein Hund vor dem Teller und fraß.“ Der verschleppte Rechtsanwalt Paul Gast stiehlt ständig seiner Frau die karge Essensration, bis sie an Hunger stirbt. Der Hunger ist so übermächtig, daß Herta Müller die Gestalt des „Hungerengels“ erfindet, der alles und alle beherrscht! Eine der stärksten Szenen in diesem schier unausschöpfbaren Buch ist die Beschreibung eines Selbstmords: „Schon Ende Oktober schneite es Eisnägel in den Regen. Der Begleitposten und der Vorprüfer teilten uns die Norm zu und gingen gleich wieder ins Lager, in ihre warmen Dienststuben. Auf der Baustelle begann ein stiller Tag ohne Angst vor dem Geschrei der Kommandos. Doch mitten in diesen stillen Tag hat Irma Pfeifer geschrien. Vielleicht ‘Hilfe, Hilfe’ oder ‘Ich will nicht mehr’, man hat es nicht deutlich hören können. Wir sind mit Schaufeln und Holzlatten zur Mörtelgrube gerannt, nicht schnell genug, der Bauleiter stand schon da. Wir mußten alles aus den Händen fallen lassen. ‘Ruki nad sad’, Hände auf den Rücken – mit einer erhobenen Schaufel hat er uns gezwungen, tatenlos in den Mörtel zu schauen. Die Irma Pfeifer lag mit dem Gesicht nach unten, der Mörtel machte Blasen. Erst schluckte der Mörtel ihre Arme, dann schob sich die graue Decke bis zu den Kniekehlen hoch. Ewig lang, ein paar Sekunden, wartete der Mörtel mit gekräuselten Rüschen. Dann schwappte er mit einem Mal bis zur Hüfte, Zwischen Kopf und Mütze wackelte die Brühe. Der Kopf sank und die Mütze hob sich. Mit den gespreizten Ohrenklappen trieb die Mütze langsam an den Rand wie eine aufgeplusterte Taube. Der Hinterkopf, kahlgeschoren mit den verkrusteten Läusebissen, hielt sich noch oben wie eine halbe Zuckermelone. Als auch der Kopf geschluckt war, nur noch der Buckel herausschaute, sagte der Bauleiter: ‘Schalko, otschin Schalko’“ („Schade, sehr schade“). ISBN-978-3-902475-55-8 Franz Uhle-Wettler ALFRED VON TIRPITZ IN SEINER ZEIT 559 Seiten, Hardcover & 29,90 ISBN 978-3-902475-41-1 Klaus Hornung ALTERNATIVEN ZU HITLER General Franz Uhle-Wettler hat mit seiner überarbeiteten und aktualisierten Biographie von Alfred von Tirpitz den großen Flottenbauer des Wilhelminischen Reiches porträtiert. Gleichzeitig unterzieht er auch die Ursachen der deutschenglischen Spannungen einer kritischen Untersuchung, die schließlich zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs führten. Der Autor räumt mit dem Mythos auf, die eigentliche Ursache für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs sei die deutsche Flottenpolitik gewesen, die Deutschland und England in einen unüberbrückbaren Gegensatz getrieben habe. Ein grundlegendes Werk! herta Müller: Atemschaukel. Roman. HanserVerlag, München 2009, gebunden, 304 Seiten, 19,90 Euro 245 Seiten, S/W Abbildungen, Hardcover & 19,90 General Wilhelm Groener, der schon während des Ersten Weltkriegs als stellvertretender Kriegsminister eine bedeutende Rolle unter Ludendorff und Hindenburg gespielt hatte, wurde während der Weimarer Republik einer der wichtigsten Politiker und Drahtzieher im Hintergrund. Seine gegen Hitler gerichtete Politik scheiterte schließlich am Intrigenspiel zwischen Brüning, Schleicher und der Umgebung Hindenburgs. Erhältlich über „Bücherquelle“ Buchhandlungsgesellschaft.m.b.H, A-8011 Graz, Hofg. 5, Tel. +43/316/821636, Fax: +43/316/835612, E-Mail: [email protected] oder in Ihrer Buchhandlung LITERATUR S E I T E 26 A Walter Laqueur. „Was für ein Mann! Was für ein Buch!“ Ein Rezensent, der so hymnisch anhebt und derart fortfährt zu tremolieren, scheint kurz vor der Einnässung zu stehen. Obwohl Fritz J. Raddatz, der in diesem Stil in der Literarischen Welt vom 2. Oktober 2009 Walter Laqueurs Autobiographie akklamiert, bislang eher dafür bekannt ist, allein die Tinte nicht halten zu können. Wer, von Raddatz gedopt, die Lebensbilanz des 1921 in Breslau geborenen politologischen Meinungsmachers zur Hand nimmt, erlebt allerdings eine herbe Enttäuschung. Sein Leben schildert Laqueur, der 1938 nach Palästina emigrierte, eher al fresco, anekdotenreich und das Individuelle kaum preisgebend. Wichtiger war ihm der Subtext, der seine bekannten zionistischen Ansichten transportiert. Unter Raddatz’ enthemmtem Beifall trägt der Verfasser seine ebenso zynische wie (seit 1946) völkerrechtswidrige Lösung des Nahostkonflikts vor: Die Palästinenser hätten sich mit dem Status quo abzufinden, besser noch, sie brächen ihre Zelte ab und ließen sich in die arabischen Brudervölker integrieren. Und zwar nach dem Vorbild der deutschen Vertriebenen. Die hätten ihre Vertreibung aus „Osteuropa“ auch akzeptiert und kämen in die „Staaten“, in denen ihre Vorfahren seit Jahrhunderten gelebt hätten, nur als Touristen zurück. Dies bringt zu Papier, wer mitten in Deutschland, in Breslau, aufgewachsen ist. „Was für ein Mann, was für ein Blindfisch!“ (Mein 20. Jahrhundert. Stationen eines politischen Lebens, Propyläen Verlag, Berlin 2009, 320 Seiten, Abbildungen, 22,90 Euro). Alfred Grosser. Wesentlich abund aufgeklärter präsentiert hingegen der „ewige Kulturbotschafter“ Alfred Grosser, Jahrgang 1925, die Erfahrungen und Schlußfolgerungen eines auch der Vermittlung zwischen Deutschen und Juden gewidmeten Lebens (Von Auschwitz nach Jerusalem. Über Deutschland und Israel, Rowohlt Verlag, Reinbek 2009, gebunden, 204 Seiten, 16,90 Euro). Auch bei Grosser, Frankfurter Großbürgersohn, der mit seiner Familie nach 1933 emigrierte, finden sich Klischees und Abgegriffenheiten, die in diesem Kontext fast unentbehrlich scheinen. Und doch zeigt dieser Politikwissenschaftler, dessen Israelkritik ihm schon öfter Schläge mit der „Antisemitismus“-Keule eintrug, mehr Gespür sowohl für die politischen und historischen Realitäten der Gegenwart. Insofern berührt seine Grundsatzfrage, wann Kritik eben diese Grenze zum Antisemitismus überschreitet, eine historische wie auch aktuelle politische Dimension. Alles in allem präsentiert er im Kontrast zum Generationsgenossen Laqueur, inwieweit sich unterschiedliche Horizonte aus fast gleicher Perspektive präsentieren. Fleißig das Meer gepflügt Brutalstmöglicher Kalenderstil: Reinhard Mehrings mißlungene Carl-Schmitt-Biographie VON GÜNTER MASCHKE FOTO: JF ufgabe einer Biographie ist es, Leben, Werk und Wirkung einer Person erzählend zu deuten. So nötig dazu die Kenntnis der Einzelheiten ist, so unabdingbar bleibt es, das Bedeutsame herauszustellen und auf das Periphere zu verzichten oder ihm allenfalls hier und da einen bescheidenen Platz zuzuweisen, – es gibt wichtige und es gibt entbehrliche Tatsachen. Nur in der Malerei des Pointillismus mag aus zahllosen, gleichberechtigten Pünktchen ein geschlossenes, konturiertes Bild entstehen. Eine literarische Gattung wie die Biographie beruht jedoch auf einer Hierarchisierung der Fakten und hat auf vieles zu verzichten. Es kann ihr nicht darum zu tun sein, mit weitaus geringerem schriftstellerischem Talent als ein James Joyce uns einen bläßlichen, verkopften Wiedergänger des Leopold Bloom zu präsentieren. Genau dies unternimmt Reinhard Mehring, der sich seit etwa zwanzig Jahren als oft kleinlich mäkelnder Kritiker Schmitts betätigt und dabei sowohl die erregende Atmosphäre als auch die beunruhigende, oft vieldeutige geistige Substanz von dessen Werk verfehlte. Bisher äußerte sich Mehrings Abscheu gegenüber Schmitt eher akademisch gesittet und mehltauüberwuchert – im vorliegenden Buch erreicht er zuweilen die Energie eines feindseligen Verfolgers und ernennt Schmitt zum zeitweisen „Vollnazi“. Ärgerlicher aber ist Mehrings Leidenschaft für die liliputanischsten Fakten, und das liest sich so: „Im Juni ist er (Schmitt) in Plettenberg. Im Juli 1930 publiziert er in der Zeitschrift Abendland einen kurzen Aufsatz über ‘Die politische Lage der entmilitarisierten Rheinlande’ nach Räumung der zweiten und dritten besetzten Zone. In der Kölnischen Volkszeitung erscheint ein Artikel über ‘Die Einberufung des vertagten Reichstags’. Am 25. August stirbt der alte Hugo am Zehnhoff. Schmitt fährt zur Beerdigung nach Köln und weiter nach Plettenberg, wo ihn Georg Eisler besucht. Mitte September kehrt er nach Berlin zurück. Er gibt dann auf einem Soziologentag einen kurzen Beitrag. Bald reist er nach Breslau, wo er am 2. Oktober für einen Lehrgang ‘Staatsbürgerkunde’ einen einführenden Vortrag ‘Der Völkerbund’ hält. Schmitt vertieft dort seine Bekanntschaft mit Hans Rothfels und lernt Arnold Brecht näher kennen.“ Wir erfahren auch: „Mitte September arbeitet Schmitt an seinem Aufsatz über ‘institutionelle Garantien’. Er nimmt sein Berliner Leben wieder auf, triff t Popitz und Jünger und korrigiert am ‘Begriff des Politischen’. Am 20. September fährt er mit Werner Becker zusammen auf die Burg Lobeda in Thüringen, wo Wilhelm Stapel, Paul Althaus, Albert Mirgeler und andere Theologen des Nationalismus sind. Schmitt spricht über den ‘totalen Staat’, fährt dann weiter nach Naumburg und Halle. Anfang Oktober liefert er die Fahnen seiner Begriffsschrift ab.“ Schließlich: „Am 3. Dezember fährt Schmitt nach Bremerhaven für einen Vortrag über ‘Diktatur und Wirtschaftsstaat’, den er am nächsten Tag in Bremen wiederholt. Er besichtigt die Stadt, in der Cari nun lebt. Briefe über den ‘Begriff des Politischen’ treffen ein. Schmitt feiert seinen Schritt in die politische Publizistik wie eine Befreiung aus FRISCH GEPRESST J U NGE FREIHEI T Nr. 43/09Ë16. Oktober 2009 Carl Schmitt (1888–1985): Grundlegender Formulierer akademischen Manschetten. Die Liste seiner Frei- und Besprechungsexemplare, 98 Adressen, zeigt, wie sehr er damals schon in den rechtsintellektuellen Kreisen verankert ist. Neben den großen Fachzeitschriften gehen Besprechungsexemplare an …“ usw. usf. Der Leser mag bereits hier aufstöhnen, doch wie ergeht es ihm, wenn er sich durch Hunderte von Seiten dieser Machart quälen muß? Das ist brutalstmögliche Folterung durch schlimmsten Kalenderstil, doch immerhin könnte Mehring (und nur er) eine in Grenzen nützliche Chronologie erstellen, betitelt mit „Carl Schmitt von Tag zu Tag – 11. Juli 1888–7. April 1985“. Eine bedeutende Vorarbeit zu diesem Werk hat er schon geleistet. Derlei rastlose tour de force will alle Details erfassen und kann gerade deshalb bei den wirklich wichtigen nicht verweilen. Wer etwa war Albert Mirgeler (1901–1979), was zeichnete das Werk dieses katholischen Historikers und „Reichstheologen“ aus, welche geistigen Beziehungen bestanden zwischen den Überlegungen Schmitts und den seinen? Solche Fragen lassen sich Dutzende, nein, Aberdutzende Male bei Mehring stellen, der es über seinem wüsten namedropping vergißt, die geistige Physiognomie des jeweiligen Freundes, Feindes, Kritikers, Interpreten usw. zumindest zu umreißen. Damit bleiben die Gründe für die von Schmitt ausgehende Faszination ebenso unklar wie die Analyse der Wirkung seiner Schriften, die bis heute die unterschiedlichsten Geister auf die unterschiedlichste Weise beschäftigen. Meist scheint Mehring Kenntnisse über Schmitts ausgedehnte Entourage und deren Denken vorauszusetzen. Doch des öfteren muß man Mehring unterstellen, daß er weder das Werk noch die Bedeutung der von ihm genannten Personen kennt. Dies gilt vor allem für nichtdeutsche Freunde, Bekannte, Kritiker Schmitts. Der französische Politologe und Mitbegründer Polemologie Julien Freund (1921–1993) wird immerhin fünfmal genannt, doch Mehring weiß weder etwas Substantielleres über das anfänglich schwierige Verhältnis zwischen Schmitt und Freund (der aktiver Kämpfer der Résistance war) zu berichten, noch geht er auf den außerordentlich ergiebigen Briefwechsel der beiden Männer ein, noch weiß er, daß Freund, nicht nur aufgrund seines bekanntesten Buches „L’Essence du Politique“ (zuerst 1965), als der große Fortsetzer und Systematisierer Schmitts gelten muß. Auch über den äußerst engen Freund und zugleich scharfen Kritiker Schmitts, den spanischen Romanisten Álvaro d’Ors (1915–2004), weiß Mehring nur das, was der mittlerweile übersetzte Briefwechsel hergibt – von Interesse ist aber doch wohl, wie sich Schmitts Ideen im Werke von D’Ors widerspiegeln und dabei auch ihre Veränderung erfahren. Überhaupt fällt die spanische Rezeption, neben der deutschen und italienischen die bedeutendste, so gut wie ganz aus dem Blickfeld Mehrings. Der italienische Jurist und Politologe Gianfranco Miglio (1918–2001), der Schmitts Werk ab 1972 mit beträchtlicher Energie propagierte und kommentierte, wird von Mehring nicht einmal erwähnt. Dabei war es Miglio, der die von Schmitt entdeckte große Teilwahrheit des Politischen, die immer sich durchsetzende „Regularität“ der Beziehung von Freund und Feind, erhellte und so aufwies, daß wir neben der konkreten Verortung Schmittscher Schriften und Argumente uns bewußt bleiben müssen, daß hier die Klassizität wie die wohl immerwährende „Aktualität“ Schmitts wurzeln. Schmitt war eben, wenn nicht der Entdecker, so der Formulierer einer grundlegenden, immer präsenten verità parziale aller Politik(en) und deshalb ein Mann vom Range Thukydides’, Hobbes’, Paretos oder Max Webers. Durch seine umfangreichen Unkenntnisse gelingt es Mehring nicht, den Reichtum an theoretischen und intellektuellen Anregungen Schmitts zu verdeutlichen. Ob wir nun das Verhältnis von Politik und Verfassung, von Jurisprudenz und Staatsrecht, den Ausnahmezustand, die Prämie auf den legalen Machtbesitz, die vielen möglichen Beziehungen zwischen Krieg und Frieden, den gerechten Krieg, die humanitäre Intervention, einen sich apolitisch-ökonomisch drapierenden Imperialismus, die legale Revolution, die Dialektik von Humanitarismus und Bestialität, geschweige denn die Politische Theologie betrachten,– fast ein Vierteljahrhundert nach Schmitts Tod bleibt er unser vornehmster „Avancierriese“. Mehring gelingt es aber auch kaum, die Aura und die Argumentation von Schmitts Schriften darzustellen. Von welcher Bedeutung ist für Schmitts „Verfassungslehre“ (1928) die Unterscheidung von einem politischen und einem juristischen Verfassungsteil? Weshalb sagt er nichts zu Schmitts sich ändernder Auffassung vom „Begriff des Politischen“ – 1927 hat das Politische noch einen „Bereich“, 1932 hat es keinen Bereich mehr und kann „überall“ als Intensität von Feindschaft, an „beliebige“ Inhalte andocken. Wenn Mehring von Schmitts vielleicht bedeutendstem Werk, dem „Nomos der Erde“ (1950) spricht, erfahren wir dann wirklich etwas über die den ursprünglichen Begriffsinhalt pervertierende Wiederkehr des „gerechten Krieges“? Werden wir auch nur halbwegs unterrichtet über das Diktat von Versailles, über die betrügerische Fassade des Völkerbundes, über die Rheinlandbesetzung und den Ruhreinmarsch der Franzosen und Belgier 1923, die „Ein wunderbares Buch ...“, aschenbeck media intelligenter lesen 1 1 2 Politik kontrovers Lena Kornyeyeva: Putins Reich, Neostalinismus auf Verlangen des Volkes. Mit einem Nachwort von Vera Lengsfeld. 2 JULIA FRANKE CLEMENS NIEDENTHAL 22 > FRANKE, NIEDENTHAL: WEISSER HIRSCH 23 > LANDHÄUSER & IN VILLEN DRESDEN BAND 1: WEISSER HIRSCH 20.11.2006 0:07:54 Uhr Daisy Gräfin von Arnim Nils Aschenbeck Gutshäuser & Schlösser in der Uckermark 13.04.2009 2:35:40 Uhr www.aschenbeckmedia.de aschenbeck media Unternehmergesellschaft (haftungsbeschr.) Auf dem Hohen Ufer 118 (Landhaus Hoher Kamp) 28759 Bremen, Tel. 04216846080, Fax. 0421807094784 Reinhard Mehring: Carl Schmitt. Aufstieg und Fall. Eine Biographie. Verlag C.H.Beck, München 2009, gebunden, 748 Seiten, 29,90 Euro DAS Weihnachtsgeschenk: Chefredakteur v. bedeut. Jagdzeitschrift „Der reinste Krimi“, Pfarrfrau „So ist das Leben in Wirklichkeit“, Bischof i. R. „Immer wenn ich traurig bin – lese ich darin“, Witwe „Es wird vorgelesen – wir sind alle begeistert. Haben Sie Dank für dieses wunderbare Glaubenszeugnis“, Kath. Klosterschwester Kultur und Architektur Gutshäuser und Schlösser in der Uckermark. Landhäuser und Villen in Dresden, Berlin, Potsdam, München, Freiburg, Hamburg, Bremen, Halle ... den politischen Denker Schmitt erst schufen? Versteht Mehring auch nur ein Minimum von Donoso Cortés und erkennt die Beweggründe Schmitts für seine beinahe abenteuerliche Umdeutung des ihn so intensiv beeinflussenden Spaniers? Klärt Mehring den Unterschied zwischen kommissarischer und souveräner Diktatur? Kennt er die Bedeutung der SD-Akte über Schmitt und versteht dessen höchst reale Gefährdung 1936? Warum ist es für Mehring kein Thema, daß Schmitt immerhin dreimal mit General Franco sprach und ihm die Schaff ung einer Krone vorschlug? Denkt Mehring über die Tatsache nach, daß Schmitt oft jahrzehntelang vielen, sogar Andersdenkenden, ein treuer Freund war? Daß er, als Johannes Popitz nach dem 20. Juli 1944 verhaftet war, um später hingerichtet zu werden, ohne Abstriche zu diesem hielt und sich schon dadurch gefährdete? Kommt er auf die Idee, daß die kleine Schrift „Staat-Bewegung-Volk“ (1933) ein – wenn auch illusorischer – Versuch war, den Nationalsozialismus zu „konstitutionalisieren“ und zu „zähmen“ – was die Nationalsozialisten auch bald erkannten? Weshalb sagt er nichts zu Schmitts Ambitionen, Staatssekretär im Justizministerium zu werden (Anfang 1936), wo doch dies den angeblichen „Vollnazi“ in ein noch brauneres Licht stellen würde, als Mehring es angemessen findet? Wir halten hier erschöpft inne: Über keine wirklich wichtige theoretische Problematik bei Schmitt, aber nicht einmal über wirklich bedeutsame Punkte seiner Biographie erfahren wir in Mehrings monströsem Schinken etwas von Belang. Immerhin verdanken wir ihm die Widerlegung der Legende Nicolaus Sombarts, daß Schmitt im Grunde ein seine latente Homosexualität durch Frauenfeindschaft und Männlichkeitskult Bekämpfender, laut Sombart jun. also ein „typisch“ deutscher Mann war. Schmitt war, so weist Mehring nach, eher ein notorischer Ehebrecher, ein Mann mit einer beeindruckenden Zahl von oft langjährig mit ihm verbundenen Geliebten, der weder vor Studentinnen noch vor Hausmädchen zurückschreckte und auch gern die Dienste professioneller Bordsteinschwalben in Anspruch nahm. Man kann es nicht leugnen: Die implizite Widerlegung der verschrobenen Thesen von Sombart jun. ist ein Verdienst, wohl das einzige Mehrings. Immerhin galten diese Thesen Sombart jun. und seinen zahlreichen Bewunderern als der Universalschlüssel zu Schmitt. Doch deshalb 750 Seiten? P.S. Das Manuskript zu Mehrings Buch wurde immerhin von Gelehrten wie Volker Gerhardt, Herfried Münkler, Christoph Schöneberger, Wolfgang Schuller und Michael Stolleis ganz oder teilweise gelesen und für gut befunden; die Gründer des Carl-Schmitt-Fördervereins zu Plettenberg, Gerd Giesler und Ernst Hüsmert, zwei enge und langjährige Freunde Schmitts, haben Mehring jahrelang beraten und unterstützt. Was sagt uns das über die intellektuellen und universitären Zustände in Deutschland? Difficile est satiram non scribere. Germania-Verlag Postfach 101117, D-69451 Weinheim Tel.: (0 62 01) 18 29 42, Fax: (0 62 01) 84 47 98 [email protected], www.Germania-Verlag.de Wir liefern nahezu JEDES BUCH! 1,5 Mio. neue + 8 Mio. antiquarische Titel! SUCHDIENST für antiquarische Bücher! Gratis-Recherche bei 1500 Antiquariaten! „Vom Gauchosattel auf die Kanzel“ Biographie des ev. Pfarrers Fritz Held Hänssler Verlag 600 S., 14,95 Euro LITERATUR J U NGE FREIHEI T Nr. 43/09Ë16. Oktober 2009 rowicz, während er sich für die letzten Jünger, die Brüder Stauffenberg, durch Peter Hoffmanns wohl ultimative Monographie und für Wolfskehl durch Voit entlastet fühlen durfte. Es blieben natürlich „Georginen“ übergenug übrig, deren Lebensschicksale demjenigen reichen Ertrag versprachen, der den Gang in die Archive nicht scheut, die Nachlässe durchstöbert, die letzten Zeitzeugen befragt. Raulffs Wahl fiel dabei auf die Philosophin Edith Landmann, die sich in ihrer Griechenverehrung nur vom „Meister“ selbst übertreffen lassen wollte, auf den 1938 emigrierten Historiker Ernst H. Kantorowicz, dessen „reichsmythologisches“ Werk über den Stauferkaiser Friedrich II. (1927) zum kanonischen Text des späten George-Kreises avancierte, auf den Psychiater, Philosophen und Konstrukteur des „georgisierten Platon“ Kurt Hildebrandt, den Raulff als Typus des Überläufers vom geistigen Reich des „Kreises“ zum Dritten Reich präsentiert, auf den umtriebigen Hubertus Prinz zu Löwenstein und auf Erich von Kahler, die im Exil das politische Potential Georges auf recht konträre Weise auslegten, sowie auf zwei westdeutsche Bildungsreformer, Georg Picht und Hellmut Becker, deren Einfluß erst in den letzten Stunden der Bonner Republik versickerte. Die Reliefs dieser Zentralgestalten mitsamt denen vieler Nebenfiguren von Ernst Morwitz bis Carlo Schmid zeigen durchaus unterschiedlich scharfe Profile. Am wenigsten originell fällt Raulffs Versuch über Ernst Kantorowicz aus. Hier speist er den versierten Leser mit einem öden Referat der Forschung ab, die sich in den letzten Jahren mit Enthusiasmus auf den „Chevalier“ des „Kreises“, den Sohn des Posener Judentums, gestürzt hat. Wesentlich plastischer gerät ihm Bekkers Biographie, überhaupt das beste Kapitel des Buches. Der Jurist Becker, Sohn des preußischen Kultusministers Carl Heinrich Becker (1876–1933), einem der drei oder vier bedeutendsten in diesem Amt seit Wilhelm von Humboldt, springt dem Tod 1942 als Gebirgsjäger von der Schippe, zählt im Nürnberger „Wilhelmstraßen-Prozeß“ zu den Verteidigern Ernst von Weizsäckers, geht 1981 als Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Pension und hat als Freund der Familie unbeschränkten Zugang zum Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, der wie sein Bruder, der Kernphysiker Carl Friedrich, ebenfalls vom „George-Erlebnis“ nicht unberührt geblieben sei. Bei aller Annäherung Beckers an die „Frankfurter Schule“ glaubt Raulff bei ihm doch ein genuines Erbe Georges, einen Pfad von dessen platonischem „Gegenstaat“ in die „pädagogische Provinz der Bundesrepublik“ auszu- D er eigentliche Text beginnt mit dem Satz „Der Deutsche, der von den Freimaurern hört, wird ‘Verschwörungstheorie!’ sagen und abwinken.“ Recht hat Lorenz Jäger. Manche dürften schon vor dem Titel zurückschrecken, alle vor dem Untertitel seines neuen Buches: „Freimaurerei und Revolutionsbewegungen“. Tatsächlich gibt es außer den Themen „Atlantis“, „Rasse“ und „Judentum“ keines, das so leicht diskreditiert wie die Freimaurerei. Wer nicht willens ist, deren Harmlosigkeit als humanitäre Vereinigung achtbarer Männer nachzuweisen, sollte das Ganze besser meiden. Jäger weiß natürlich um das Heikle seiner Wahl und kennt auch die Menge absurder „antimaurerischer“ Literatur mit ihren phantasievollen Annahmen über eine mehr oder weniger umfassende Konspiration, die letztlich dem Ziel dient, die Weltherrschaft an sich zu reißen. Nur, und das ist wohl die Hauptursache, weshalb er sich dem Zusammenhang trotz allem zugewandt hat, es spricht viel, allzuviel dafür, daß die Behauptung freimaurerischer Subversion einen rationalen Kern hat, daß noch in der großen Angst vor der großen Verschwörung ein Gran Wahrheit steckt. Das will gefunden sein. Zu den ersten Indizien für die Verbindung von Freimaurerei und Umsturzbewegungen gehören die Aussagen von Freimaurern selbst, die zu gegebenem Anlaß und nicht ohne Stolz darauf hingewiesen haben, welchen Anteil die Logen an den europäischen und amerikanischen Revolutionen und deren intellektueller Vorbereitung seit dem 18. Jahrhundert nahmen. So wandte sich die bretonische Loge des Grand Orient 1790 an die französische Nationalversammlung mit den Worten: „Was seit Jahrhunderten nur die Devise der freimaurerischen Gesellschaft war, das Geheime Leitung der Befreiten Lorenz Jäger über die Freimaurerei und ihren Einfluß auf die Politik von karlheinz weissmann Eine Gespenstergeschichte für Erwachsene Deutsche Bildungsromane: Der George-Kreis nach des „Meisters“ Tod von oliver zeitler Foto: ABoutpixel / N-loAder M an spricht wieder von Stefan George. Nicht erst seit Thomas Karlaufs Biographie des „Charismatikers“, die 2007 einen für dieses Genre nicht alltäglichen Publikumserfolg erzielte (JF 42/07). Viel eher schon, bald nach dem Mauerfall, hatte der „Meister“, mehr aber noch sein „Kreis“, jene Adoranten und Trabanten, von denen sich nicht wenige in die deutsche Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts eingeschrieben haben, die interdisziplinäre Neugier von Kulturwissenschaftlern geweckt. Die im wörtlichsten Sinne schwergewichtige Studie von Carola Groppe („Die Macht der Bildung. Das deutsche Bürgertum und der George-Kreis 1890–1933“, 1997) sowie Rainer Kolks dicke Habilitationsschrift („Literarische Gruppenbildung. Am Beispiel des GeorgeKreises 1890–1945“, 1998) ragen unter einer Flut von Untersuchungen ebenso heraus wie der Zweipfünder Friedrich Voits über das Spätwerk Karl Wolfskehls (2005). Mit den sich partiell überschneidenden Arbeiten von Groppe und Kolk liegen zwar hinreichend gründliche Analysen zur Wirkungsgeschichte dieses um 1900 gestifteten „Geistbundes“ vor, so wie sie sich zu Lebzeiten des am 4. Dezember 1933 verstorbenen Dichters entfaltet, wobei Kolk auch noch einen Blick ins Dritte Reich wirft und natürlich das wieder und wieder traktierte „Geheime Deutschland“ nicht unberücksichtigt lassen kann, das die Tat des 20. Juli 1944 für sich reklamiert. Was bislang aber in der Rezeptionsforschung fehlte, war die umfassende Erkundung von Georges Nachwirken und dem langsamen Verwelken seines Einflusses bis nahe an unsere Gegenwart heran. Ulrich Raulff, einst FAZund SZ-Feuilletonist, heute Direktor des Marbacher Literaturarchivs, hat sich dieses Desiderats des „Kreises ohne Meister“ angenommen. Freilich nur unter der Voraussetzung, daß man ihm nachsehen möge, in dieses Dickicht einige Schneisen zu schlagen und sich um vieles nicht zu kümmern, was am Wege lag. Die Biographie des verstoßenen „Lieblingsjüngers“, des Germanisten Max Kommerell, schließt Raulff daher von vornherein aus. Ebenso, und das ist schon problematischer, den Theologensohn Wolfgang Frommel, seine Amsterdamer „Nebenkirche“ mitsamt seiner 2008 eingestellten Zeitschrift Castrum Peregrini (JF 18/08), von der Thomas Karlaufs „Nachruf “ zu Recht behauptete, sie habe die „eigentümliche Welt Stefan Georges, die Welt des ‘geheimen Deutschland’“, sogar bis an die Schwelle des 21. Jahrhunderts überliefert. Zu bedauern ist auch, daß sich Raulff nicht auf Wolfram von den Steinen einlassen wollte, nicht auf Ludwig Klages oder Gertrud Kanto- S E I T E 27 Der letzte Kreis: Claus von Stauffenberg, Walter Anton, Alexander v. Stauffenberg, Johann Anton, Albrecht v. Blumenthal, Max Kommerell, Berthold v. Stauffenberg (v.l.n.r.), Oktober 1924 in Berlin: Bildungsaristokratismus unter den Bedingungen des industriellen Massenzeitalters machen: den Bildungsaristokratismus unter den Bedingungen des industriellen Massenzeitalters, der zurückwollte zu den „Idealen von Menschenbildung und Erziehung“. In den 1980er Jahren sei davon allerdings nur noch ein „Festreden- und Feiertagsgespenst“ übrig gewesen. Wie überhaupt viel in dieser eher einem Potpourri der Bildungsromane als einer Intellektuellensoziologie ähnelnden Arbeit für die Zeit nach 1945 an eine „Gespenstergeschichte für Erwachsene“ (Aby Warburg) erinnert. Die größte, allerdings kaum vermeidbare Schwäche des Opus besteht darin, daß Raulff Redundanzen hätte riskieren müssen, wenn er das weltanschauliche „Programm“ des George-Kreises vor 1933 über die von ihm hingeworfenen Andeutungen zu Anti-Modernismus, Anti-Demokratismus und Anti-Historismus hinaus expliziert hätte. Ohne derart erzielbare Kontraste muß jedoch leider verwaschen bleiben, wie und bei wem wie nachhaltig sich diese Spielart des „Aufstands gegen die Moderne“ nach 1933 wandelte. Noch unzureichender ist die Behandlung der „Judensach“ (George, rheinhesselnd). Wahrlich nicht bedeutungslos, da sie den Kreis 1933 in NS-Anhänger, Innere Emigranten und Exilanten zersprengte. Raulff, insoweit auch geschmeidiger Wissenschaftsmanager, umschifft das Thema in weitem Bogen. Wo er „harten“ Zitaten der famosen deutschen Jüdin Edith Landmann, die beileibe mehr als nur ein „gewisses Verständnis“ für Judengegner offenbaren, nicht ausweichen kann, versteckt er sie in den Anmerkungen. Gegen seinen bête noir, den „Irrenarzt“ Kurt Hildebrandt, ruft er hingegen (risikolos, versteht sich!) für angeblich „rassistische“ Texte aus den 1960ern nachträglich nach dem Zensor. Das Werk ist einigermaßen fehlerhaft im Detail. Zu den unverzeihlichen gehört die Behauptung, Reichsgerichtspräsident Walter Simons sei der „letzte Reichstagspräsident“ gewesen. Das rutscht ein wenig ab zu Luise Rinser, die auch nicht wußte, ob sie nun für das Amt des Bundes- oder des Bundestagspräsidenten kandidierte. Insgesamt kann man solche Schnitzer wie die erfreulich seltenen Druckfehler indes verschmerzen. Nicht jedoch das Fehlen eines Quellenund Literaturverzeichnisses, ein Manko, das den Wissenschaftsverlag C. H. Beck bis auf die Knochen blamiert. wird nun, Herr Präsident, die Nationalversammlung zur rechtmäßigen Devise Frankreichs, vielleicht ganz Europas machen. Freiheit und Gleichheit, Worte, die bislang nur unserem Munde heilig waren und nur von ihm mit vollem Rechte ausgesprochen werden konnten, werden nun von 26 Millionen Menschen wiederholt, im Rausch der Begeisterung und des Glücks.“ Wahrscheinlich sehen die meisten heute nichts Ehrenrühriges darin, daß die Französische Revolution wesentlich von Freimaurern vorbereitet und geleitet wurde, daß sie parlamentarische Versammlung und Exekutive beherrschten und sich ihr Einfluß bis auf die Emblematik des neuen Staates erstreckte. Für eine gewisse Irritation sorgt aber vielleicht, was Jäger ausbreitet über die verborgene Seite freimaurerischer Riten und Lehren, den Ursprung der vielen Hebraismen in Vorstellungswelt und Sprache, den Einfluß häretischer messianischer Strömungen des Judentums, die Mischung aus Hochstapelei, Mummenschanz und „esoterisierter Aufklärung“. Das für den Außenstehenden Befremdende darf keinesfalls zur Unterschätzung führen. Denn die politische Wirksamkeit der Freimaurerei war mit der Atlantischen Revolution nicht zu Ende. Eigentlich nahm sie erst ihren Anfang, jetzt unter neuen und günstigeren Bedingungen. Der Haupträdelsführer des Anarchismus im 19. Jahrhundert, der Russe Michail Bakunin, auch er ein Freimaurer, wird von Jäger mit den Worten zitiert: „Bekanntlich waren alle bedeutendsten Männer der ersten Revolution Freimaurer, und als diese Revolution ausbrach, fand sie dank der Freimaurerei in allen anderen Ländern ergebene und mächtige Freunde und Mitarbeiter, was sicherlich viel zu ihrem Siege beitrug.“ Das Erfolgsmodell gedachte Bakunin für eine zweite, radikalere Revolution zu übernehmen, und damit stand er nicht allein. Von dem Frühkommunisten Gracchus Babœuf und dem deutschen Jakobiner Georg Forster über den jüdischen Sozialisten Moses Hess und den italienischen Carbonaro Filippo Buonarroti bis zu Garibaldi und den Vorkämpfern der Commune von 1871 gab es eine ununterbrochene Kette von Männern, die einerseits im Großen Orient und seinen Filiationen aktiv waren, teilweise hohe Ränge der Hierarchie bekleideten, und andererseits Pläne verfolgten, die weit über die nach außen deklarierten bürgerlich-liberalen und aufklärerischen Ziele der Logen hinausgingen. In manchen Fällen, etwa bei Buonarroti, ging es sogar um eine Art „Maurerei in der Maurerei“, eine Subversion der Subversion, in jedem Fall darum, das maurerische Konzept der „Gegenelite“ neu umzusetzen und das mit erstaunlicher Durchschlagskraft. Für Frankreich, Italien und die übrigen romanischen beziehungsweise lateinamerikanischen Länder kommt Jäger zu dem Schluß: „Die Freimaurerei diente den Revolutionsbewegungen teils als Rekrutierungsraum, teils als Kommunikationsnetzwerk; manchmal als Rückzugsbasis und manchmal als Versteck, als Stützpunkt legaler Deckung.“ Es kann nicht überraschen, daß es zahlreiche Versuche gegeben hat, dieses Zusammenspiel auch im 20. Jahrhundert fortzusetzen. Jäger führt vier Beispiele an: die Revolution der Jungtürken im Osmanischen Reich und die Kerenskis in Rußland, die Funktion von Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzky als „Einflußagenten“ Frankreichs beziehungsweise des Großen Orient in der Weimarer Zeit, und die Biopolitik der Vierten und Fünften Republik. Der letzte Fall erscheint am unspektakulärsten, enthält aber Sprengstoff, denn in diesem Zusammenhang wird besonders klar erkennbar, wie erfolgreich man eine verdeckte Zielsetzung unter der Tarnung allgemeiner gesellschaftspolitischer Stellungnahmen gerade heute verfolgen kann. Von der Freigabe der Verhütungsmittel über die Legalisierung der Abtreibung bis zur Befürwortung der Sterbehilfe ist in Frankreich eine Tendenz auszumachen, die nach eigenem Bekenntnis auf freimaurerische Initiativen zurückgeht. Die Stoßrichtung geht dabei immer gegen die christliche Lehre, aber die Propaganda für den Laizismus kann kaum verbergen, daß eigentlich die alte durch eine neue Dogmatik, die alte durch eine neue Moral, die alte durch die „Kirche der Republik“, wie ein früherer Berater Sarkozys die Freimaurerei nannte, ersetzt werden soll. In seinem Schlußwort formuliert Jäger die Konsequenzen seines Befundes: „Alle Tendenzen, die wir beobachtet haben, kommen in der Vorstellung der Emanzipation, der ‘Befreiung’ überein. Zieht man die Linien des freimaurerischen Gedankens aus, dann steht am Ende die völlig autonom gewordene Menschheit. Aber zugleich wäre sie dann unausweichlich einer geheimen Leitung unterworfen, einem verschwiegenen Kreis, zu dessen innersten Lehren kein Uneingeweihter Zugang haben darf.“ Und: „Der kirchliche Einfluß, der noch über den sowjetisch bestimmten Kommunismus siegte, wäre vollends ausgeschaltet; die Gemeinschaften in Individuen atomisiert. Damit wären die Möglichkeiten der Resistenz zunichte gemacht. Gebildet gesagt: Die Dialektik der Aufklärung hätte ihre höchstes Stadium erreicht.“ Ulrich raulff: Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben. C. H. Beck Verlag, München 2009, gebunden, 544 Seiten, Abbildungen, 29,90 Euro lorenz Jäger: Hinter dem Großen Orient. Freimaurerei und Revolutionsbewegungen. Karolinger Verlag, Wien 2009, broschiert, 144 Seiten, 19,90 Euro FRISCH GEPRESST Kempowski, Forte, Sebald. 1997 klagte Walter Kempowski wieder einmal über das hartnäckige Desinteresse an seinem Werk, bei Literaturkritikern und Germanisten gleichermaßen. Kümmerliche drei Dissertationen seien seinem Schaffen gewidmet worden, und die stammten von Auslands-Germanisten. Obwohl diese Ignoranz bis zum Tod des „deutschen Chronisten“ im Oktober 2007 zumindest im hiesigen Feuilleton ins Gegenteil umschlug, ist es kein Zufall, wenn die jüngste, ihm gewidmete Studie aus dem akademischen Milieu wieder von einem Auslands-Germanisten stammt: Jürgen Ritte, der die „Erinnerungspoetik“ Kempowskis mit gleichartigen Ansätzen bei Dieter Forte und W. G. Sebald vergleicht (Endspiele. Geschichte und Erinnerung bei Dieter Forte, Walter Kempowski und W. G. Sebald, Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2009, gebunden, 253 Seiten, 29,90 Euro), ist Direktor des germanistischen Instituts an der Université de la Sorbonne Nouvelle in Paris. Leider ist der Proust-Spezialist Ritte aber inzwischen soweit akkulturiert, daß er die „typisch französische“ Kunst der pointillierenden Interpretation pflegt, die sich ganz im Gegensatz zum landläufigen Vorurteil weniger cartesianischer clarté als einer etwas maniriert wirkenden Hermetik verpflichtet fühlt. So deutet Ritte die „Traditionslinie“ von Kempowski über Walter Benjamin zurück zu Marcel Proust kaum an. Unterbelichtet bleibt auch die gar nicht zu überschätzende Beziehung zu Arno Schmidt, dem sprachmächtigsten unter den deutschen Autoren nach 1945. Ritte wäre gut beraten gewesen, auf Forte und den ohnehin völlig überschätzten Sebald zu verzichten, und sein längstes, das Kempowski-Kapitel monographisch auszubauen, um dann eine gründliche Analyse des hochkomplexen Prozesses literarischen Erinnerns zu liefern. Bismarcks Nachfolger. Nachdem die Hauptdarsteller zwischen Reichsgründung und „Untergang“ alle ihre Biographen gefunden haben, beginnt sich der akademische Nachwuchs inzwischen verstärkt für die Männer der zweiten Garnitur zu interessieren. Exemplarisch mag dafür Bert Beckers 1.000-Seiten-Epos über Georg Michaelis stehen, den heute völlig vergessenen Neunzig-Tage-Reichskanzler des Krisenjahres 1917 (JF 13/08). Bei solcher Vorgabe war eigentlich zu befürchten, daß zu ebenso unbedeutenden Nachfolgern Bismarcks, die sich länger als Michaelis im Amt halten konnten, gleich mehrbändige Porträts ins Haus stünden. Etwa zum dritten Reichskanzler Fürst Chlodwig zu HohenloheSchillingsfürst 1819–1901 (Ein deutscher Reichskanzler. Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2009, 485 Seiten, eine Abbildung, 49,90 Euro), der von 1894 bis 1900 im Palais in der Wilhelmstraße residierte. Doch Volker Stalmann handelt die Reichskanzlerzeit des liberalen süddeutschen Fürsten auf 150 Seiten ab. Selbst dies erscheint noch verschwenderisch für einen Mann, der mit 75 Jahren das Ruder des Reichsschiffes übernahm, das 1894 nach dem Willen Wilhelms II. mit Volldampf Kurs auf die „Weltpolitik“ und einen „Platz an der Sonne“ nahm. Denn Stalmann verhehlt nicht, daß sein „Held“ im günstigsten Fall als „‚vornehm gesinnter Greis‘“ zu charakterisieren sei, wie Preußens Kultusminister Robert von Bosse dies ausdrückte. Als Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident war er hingegen vom ersten Tag an schlichtweg überfordert, wurde von seinem kaiserlichen Dienstherrn geradezu „untergebuttert“. Seit 1897 überließ der dem „physischen Verfall“ ausgesetzte Hohenlohe die Außenpolitik des Reiches Wilhelm II. und dessen Günstling, dem AA-Chef Bernhard von Bülow. Allein die wenigen innenpolitischen Erfolge wie die Milderung des Militärstrafrechts scheinen für Stalmann das Urteil zu tragen, im Wirken Hohenlohes hätte „der deutsche Liberalismus“ noch einmal seine „milden Schatten“ geworfen – „deren Konturen freilich allmählich zu zerfließen begannen“. LITERATUR S E I T E 28 Junger Hitler. Eigentlich müßte eine so fast ausgeforschte Person wie Adolf Hitler kaum noch ein lohnendes Betätigungsfeld für Historiker bieten. Doch weit gefehlt, der Mann steht sowohl bei der Zunft als auch den Medien nach wie vor hoch im Kurs, was nicht zuletzt der halbjährliche Spiegel„Führer“-Titel belegt. Vermutlich ist der Leserschaft die Faszination am Bösen kaum auszutreiben. Wer da den Eindruck vermitteln möchte, noch etwas Neues zu bieten, der weicht angesichts des Getümmels gern auf Teilaspekte („Hitlers ...“) oder einfach auf dessen Jugendzeit aus. Und in der Tat, hier lassen sich die interessantesten Fragen am einfachsten neu formulieren. Ob die Ausbeute deshalb reicher wird, sei dahingestellt. Doch immerhin das, was der Hamburger Historiker Dirk Bavendamm anzubieten hat, lohnt der Beachtung allemal (Der junge Hitler. Ares Verlag, Graz 2009, gebunden, 612 Seiten, Abbildungen, 29,90 Euro). Zumal, wenn es so mundgerecht angerichtet ist: Bavendamm hat den Stoff erfreulicherweise gleich mehrfach gegliedert. Mit einem chronologischen Teil über Herkunft und frühen Werdegang, einem ideengeschichtlichen Teil über Vorbilder und Anreger, von Bismarck über Wagner bis Karl May, und einem systematischen Teil, von A wie Antisemitismus bis S wie Sexualität, gibt Bavendamm über den „lebendigsten Toten aller Zeiten“ (Botho Strauß) einen kohärenten Überblick. Fromm. Was ist Frömmigkeit? Oftmals ins Lächerliche gezogen, führt Elisabeth von Thurn und Taxis in ihrem Buch „fromm!“ (fe-Medienverlag, Kißlegg 2009, broschiert, 192 Seiten, 9,95 Euro) den Leser zu dem eigentlichen, weitaus tiefer liegenden Sinn dieser Eigenschaft. In ihrem Werk legt sie dar, wie sie in jungen Jahren erst wenig Sinn in der Beichte erkennen konnte und wie sie durch ihren Beichtvater im Laufe der Jahre zu einer neuen Sichtweise über die Absolution gelangte. Sie erklärt, daß es beim Fasten nicht um ein paar Kilo weniger geht, sondern daß dessen Zweck vielmehr eine Befreiung aus der Selbstsucht darstellt. Die Autorin führt ferner aus, wie sie einst das Morgengebet nur selten praktizierte und ihr Tagesbeginn von Hektik bestimmt war. Inzwischen habe sie jedoch gelernt, daß ihr das in der Frühe praktizierte Ritual helfe, sich zu „zentrieren“ und auf den Tag vorzubereiten. Weiterhin beschreibt sie, warum der Rosenkranz eine „Vitaminbombe für die Seele“ ist, Kreuz und Weihwasser als Schutzfunktion dienen, Wallfahrten ein „ultimativer Wellnesstrip“ sein können und die Klänge klassischer Chöre dem Menschen innere Ruhe geben. Thurn und Taxis’ frommes Bekenntnis wurde von Papstbruder Georg Ratzinger im Vor- und Wilhelm Imkamp im Nachwort gewürdigt. S chätzungsweise bis zu 1,9 Millionen deutsche Frauen wurden 1944/45 von Angehörigen der Roten Armee vergewaltigt, vom siebenjährigen Kind bis zur über achtzigjährigen Greisin, viele davon mehrfach, oft Dutzende Male. Drei Viertel der Verbrechen geschahen in Ost-, die übrigen in Mitteldeutschland. Viele Frauen starben oder trugen bleibende Schäden an Leib und Seele davon. Im exzessiven deutschen Opferdiskurs spielt ihr Schicksal dennoch keine Rolle. In der DDR ergab sich das Beschweigen aus dem Satrapen-Charakter des Regimes, doch auch in der Bundesrepublik blieb ihr Schicksal ohne durchschlagende Resonanz. Die Gründe dafür sind vielschichtig. Der wichtigste war zunächst das Schamgefühl. Weder die Opfer noch die Öffentlichkeit konnten mit der massenhaften sexuellen Gewalt und der Verletzung des existentiellen Tabus umgehen. Heute stehen der Antifaschismus und die Schuldreligion einer angemessenen Würdigung entgegen. Eine umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung steht bis heute aus. Die Verfilmung des „Anonyma“-Buchs vom vergangenen Jahr bot statt einer Ästhetik des Schreckens dessen politisch korrekte Ästhetisierung. Die Geschichte der sexuellen Demütigung wurde mit einer frei erfundenen deutsch-russischen Liebesgeschichte überzuckert. Der Buchtitel „Frau, komm“ nimmt den Schreckensruf jener Zeit auf. Der Verfassungsrechtler Ingo von Münch, geboren 1932 in Berlin, ehemaliger Kultursenator von Hamburg, will Verfälschungen korrigieren und Erinnerungslücken schließen. Sein Buch enthält Zeugenaussagen, historische und juristische Betrachtungen sowie Anmerkungen zu den Darstellungen des M itte August 2009 strahlte die ARD „den Film zum Buch“ aus, das, aus der Feder des Zeithistorikers Jochen Böhler, unter dem Titel „Der Überfall“ „Deutschlands Krieg gegen Polen“ Revue passieren läßt. Irgendwann gegen Ende des Dokumentarstreifens, als die mediale Aufbereitung dieses kurzen Feldzuges durch Joseph Goebbels’ Propagandaministerium zur Sprache kam, resümiert die Stimme aus dem Off: „Das deutsche Volk war Lügen ausgesetzt.“ Nun, bei einem Blick in Böhlers Buch ist unübersehbar: da hat sich in den letzten 70 Jahren wohl nicht viel geändert. Nur die weltanschaulichen Prämissen geschichtspropagandistischer Indoktrination wechselten inzwischen natürlich. Böhler, Jahrgang 1969 und seit 2000 am Deutschen Historischen Institut (DHI) in Warschau tätig, ergreift nochmals die gut entlohnte Gelegenheit, den Schematismus seiner Dissertation „Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939“ zu offerieren. Dieses Pamphlet, das die Bundeszentrale für politische Bildung seit 2006 sturzbachartig aufs Lesepublikum herabregnen läßt, will die dank Reemtsmas Anti-Wehrmacht-Schau mittlerweile dogmatisierte These vom „Vernichtungskrieg“, der 1941 gegen die Sowjetunion geführt worden sei, bereits dem „18-Tage-Krieg“ im September 1939 applizieren. Herausgekommen ist eine Darstel- ANTIQUARIATSKATALOGE KOSTENLOS: Zeitgeschichte und Geschichte, Landes-, Volks- und Völkerkunde, Archäologie, Vorgeschichte Atavistische Rituale der Roten Armee Der Staatsrechtler Ingo von Münch reißt die millionenfachen Vergewaltigungen in Ostdeutschland 1944/45 aus der Vergessenheit von thorsten hInz Foto: Fotolia / montage FRISCH GEPRESST Gepeinigte Frau als wehrloses Opfer der Soldateska: im exzessiven deutschen opferdiskurs keine Rolle gespielt Themas im Film, in der Literatur und Publizistik. Die Regisseurin Helke Sander hatte 1992 mit dem Film „BeFreier und BeFreite“, dem sie ein gleichnamiges Buch folgen ließ, die Schweigemauer erstmals massiv durchbrochen. Sie in- terpretierte die Vergewaltigungen aus feministischer Perspektive als exzessives Beispiel für die ewige Gewalt von Männern gegen Frauen. Um das Ausmaß, die Intensität, die ideologischen und kriegspsychologischen Begleitumstän- lung, die sich wie eine Auftragsarbeit für das polnische Außenministerium liest. Nicht von ungefähr bedankt sich der Verfasser eben zuerst bei jenen, die ihm halfen, seinen „Blick durch die polnische Brille zu schärfen“. Damit wäre über den historisch-wissenschaftlichen Wert auch dieser Böhler-Publikation eigentlich alles gesagt und man könnte es zum „übrigen Wegwurf“ (Rudolf Borchardt) dieses tristen Genres tun. Allein: dem Steuer- und GEZ-Zahler ist man schon Aufklärung darüber schuldig, was er hier mitfinanziert. Nicht weniger nämlich als die geschichtspolitische Stabilisierung des Mythos von der polnischen Nation als ewigem „Opfer“ eroberungssüchtiger Nachbarn. Dem dient schon die manisch oft wiederholte Redewendung vom „Überfall“. Das suggeriert, Polen sei im Sommer 1939 arg- und wehrlos einem überraschenden Angriff ausgesetzt worden. Schwer vorstellbar bei einem säbelrasselnden Militärregime, das auf deutsche Verhandlungsangebote mit der Generalmobilmachung reagiert hatte und das sich, seit der Staatsgründung 1918 von der polnischen „Großmacht“ träumend, an Phantasien vom „Marsch nach Berlin“ berauschte. Gleichwohl meint Böhler, die polnische Armee, obwohl zahlenmäßig der deutschen in etwa ebenbürtig, sei zum hilflosen Opfer der „hochtechnisierten Wehrmacht“ geworden. Dabei sind es gerade die Militärhistoriker seiner Generation, die in den letzten Jahren die mangelhafte deutsche Rüstung und den geringen Motorisierungsgrad des Heeres betonten und dies als Beleg für Adolf Hitlers verantwortungslose Risikobereitschaft werteten. Um die „totalisierende“, zivile Ziele nicht verschonende Form der Kriegführung zu dokumentieren, verweist Böhler wieder einmal auf die Bombardierung Wieluns am 1. September 1939. Daß sich eine polnische Division in unmittelbarer Nähe des Ortes aufhielt und deren Einheiten auch in dieser Kleinstadt zu vermuten waren, Görings Luftwaffe also primär ein militärisches Ziel anvisierte, ist ihm nur einen Nebensatz wert. Die Bombardierung Warschaus ist für ihn ein „Terrorangriff“, dessen völkerrechtliche Zulässigkeit Böhler zwar zähneknirschend einräumt, nicht ohne diese Tatsache rasch in ein Non-liquid der Forschung umzudeuten: „Die Frage, ob die Luftangriffe vom Kriegsrecht gedeckt waren, ist gleichwohl bis heute zwischen deutschen und polnischen Militärhistorikern umstritten.“ Ebenso „umstritten“ sei übrigens auch, ob die Deutschen nicht doch selbst am „Bromberger Blutsonntag“ schuld seien, weil einige Bromberger sich als „Heckenschützen“ betätigt hätten. Ganz und gar nicht „umstritten“ ist für Böhler, was er als Herzstück seiner Adam und Eva kamen nicht aus Afrika! Weitere Interessen? :DVZXWHGHU :HVWHQ" Arbeit am Mythos Jochen Böhlers allzu kühne Thesen zum Polenfeldzug 1939 von vIncent LohMüLLer luten Wehrlosigkeit der Opfer. Auf die Hilferufe der Gequälten zu reagieren, kam einem Todesurteil gleich, und eine Staatsmacht, die Schutz oder juristische Genugtuung gewährte, gab es nicht. Die totale Niederlage wurde millionenfach zur individuellen körperlichen Erfahrung. Nicht genug, daß die Opfer am Boden lagen, sie durften, so von Münch, straflos in den Staub getreten werden. Die Demütigung wurde dadurch gesteigert, daß Vergewaltigungen auch vor den Augen der Kinder und Ehemänner stattfanden: ein atavistisches Ritual, das die Männer, die ihre Frauen nicht schützen konnten, moralisch „kastrierte“. Die Schwierigkeiten, die eigene moralische Vernichtung in das Selbstbild und die Geschichtsschreibung zu integrieren, liegen auf der Hand. Es ist leichter, die erlittene Gewalt als wohlverdiente Strafe zu interpretieren und die Dimension des eigenen Leids in einer Tätervolk-Ideologie verschwinden zu lassen. Damit aber setzt man sich zur menschlichen Natur, zu den geschichtlichen Abläufen und der politischen Vernunft so sehr in Widerspruch, daß die Situation, in der Deutschland sich heute befindet, als die einer geistig-moralischen Perversion bezeichnet werden muß. Nur in deren Lichte sind viele wissenschaftliche, künstlerische und geschichtspolitische Hervorbringungen der letzten Jahre überhaupt erst erklärbar. Das kluge und unaufgeregt verfaßte Buch Ingo von Münchs lädt zur Vertiefung dieses Themas ein. Ingo von Münch: „Frau, komm!“ Die Massenvergewaltigung deutscher Frauen und Mädchen 1944/45. Ares Verlag, Graz 2009, gebunden, 208 Seiten, Abbildungen, 19,90 Euro „Überfall“-Mär präsentiert: die Beteiligung von Heereseinheiten an der „Vernichtung“ der polnischen und jüdischen Bevölkerung. Tatsächlich vermag er hierfür aber nur Einzelfälle aufzuzählen. Ein einheitlicher, systematischer, rassenideologisch motivierter Wille der Wehrmachtsführung, einen „Vernichtungskrieg“ nach Polen hineinzutragen, ist nirgends zu erkennen. Nicht von ungefähr vermag auch Böhler seine „Fälle“ nur als „Übergriffe“ zu klassifizieren. Zudem kommt er nicht umhin, die seine „Vernichtungs“-These arg beschädigenden aktenkundigen Proteste deutscher Kommandeure gegen die von den „Todesschwadronen“ der SS und dem volksdeutschen „Selbstschutz“ vorgenommenen Exekutionen polnischer Zivilisten zu zitieren. Böhlers Werk ist in viele mundgerechte Häppchen eingeteilt, von denen sich eine ganze Reihe der „Entmythologisierung“ widmen. Das reicht vom „Mythos Sender Gleiwitz“, über „Kavallerie gegen Panzer“, „Bromberger Blutsonntag“, „Post von Danzig“ oder „Polnische Freischärler“. Am Ende summiert sich dies zu Böhlers „Arbeit am Mythos“ vom „Überfall“. Jochen Böhler: Der Überfall. Deutschlands Krieg gegen Polen. Eichborn Verlag, Frankfurt/ Main 2009, gebunden, 272 Seiten, Abbildungen, 19,95 Euro +DJHQ.RFK 3HWHU-RDFKLP/DSS 'LH*DUGHGHV(ULFK 0LHONH 'HUPLOLWlULVFKRSHUDWLYH $UPGHV0I6'DV%HUOL QHU:DFKUHJLPHQWÄ)HOLNV ']LHU]\QVNL³ 6HLWHQIHVWJHEXQGHQ PLW6FKXW]XPVFKODJ$E ELOGXQJHQ[FP,6%1 ¼ ¼ Wir veröffentlichen Orber Str. 30 • Fach 51 60386 Frankfurt Tel. 0 69/ 941 942-0 www.verlage.net E-Mail: [email protected] )ULHGULFK:LOKHOP6FKORPDQQ 6HLWHQIHVWJHEXQGHQ$EELOGXQJHQ [FP,6%1 Schreiben Sie? R. G. Fischer Verlag de zu erfassen, war dieser Blickwinkel natürlich zu eng. Einen Griff ins Wespennest hatte Sander dennoch getan. Auf Seminaren, Tagungen, Diskussionen und Kongressen wurde ihr „von den Co-ReferentInnen bisweilen nicht einmal mehr die Hand gegeben“. Die Rotarmisten hätten eben „Gleiches mit Gleichem vergolten“, lautet ein häufiges Argument. Dagegen hebt von Münch hervor, daß es in den besetzten Gebieten der Sowjetunion sexuelle Übergriffe, aber keine Massenvergewaltigungen durch deutsche Soldaten gab. In ihrer preisgekrönten Arbeit „Wehrmacht und sexuelle Gewalt“ stellte die Historikerin Birgit Beck zwar eine nachlassende Tätigkeit der deutschen Militärgerichtsbarkeit bei Übergriffen gegen die Zivilbevölkerung fest, nennt aber gleichzeitig zahlreiche Fälle, in denen Militärangehörige wegen vollendeter oder versuchter „Notzucht“, wie Vergewaltigungen damals hießen, abgeurteilt wurden. Die Urteile reichten von Disziplinar- bis zu Todesstrafen. Es gab keinen ausdrücklichen Befehl zur Vergewaltigung, aber zahlreiche Äußerungen russischer Militärführer, die Duldung, Verständnis oder Zustimmung signalisierten. Der dem Schriftsteller Ilja Ehrenburg zugeschriebene Aufruf: „Brecht mit Gewalt den Rassehochmut der germanischen Frauen. Nehmt sie als rechtmäßige Beute“, läßt sich im Wortlauf nicht nachweisen, dafür aber viele andere Texte Ehrenburgs, die genau diese Aufforderung nahelegten und, wie Befragungen ergaben, von den Rotarmisten auch so verstanden wurden. Die besondere Qualität der sexuellen Gewalt in Ost- und Mitteldeutschland lag neben ihrer Häufigkeit und dem flächendeckenden Charakter in der abso- 'LH6SLRQDJHGHU&,$GHV EULWLVFKHQ6,6GHVIUDQ]|VL VFKHQ'*6(XQGGHV%1' JHJHQGHQ6RZMHWEORFNYRQ ELV'LHZHVWDOOL LHUWHQ0LOLWlUYHUELQGXQJV PLVVLRQHQLQ3RWVGDP Antiquar Hertling Taunusblick 4, 65623 Mudershausen Tel./Fax: (0 64 30) 62 42 Ihr Buch! J U NGE FREIHEI T Nr. 43/09Ë16. Oktober 2009 :ROIJDQJ:HOVFK 3HWHU-RDFKLP/DSS &RANKFURT-AIN )3".Ñ %RHÛLTLICHÓBERDEN"UCHHANDEL ODERDIREKTÓBERDEN6ERLAG EDITIONFISCHER'MB( /RBER3TRAE&RANKFURT- BESTELLUNG EDITIONFISCHERCOM Buchbindermeisterin Irmgard Hanke Klaber Nr. 24, 18279 Langhagen, Tel./Fax: 038456/66494 [email protected], www.buchbinderei-hanke.de 6FKOHULQ8QLIRUP 'LH.DGHWWHQGHU1DWLRQD OHQ9RONVDUPHH 6HLWHQIHVWJHEXQGHQ PLW6FKXW]XPVFKODJ$E ELOGXQJHQ[FP ,6%1 +HOLRV ¼ 9HUODJVXQG %XFKYHUWULHEVJHVHOOVFKDIW 9HUVDQGNRVWHQIUHLH$XVOLHIHUXQJ 'LHYHUNOlUWH'LNWDWXU 'HUYHUGUlQJWH:LGHUVWDQG JHJHQGHQ6('6WDDW 6HLWHQIHVWJHEXQGHQPLW 6FKXW]XPVFKODJ $EELOGXQJHQ[FP ,6%1 ¼ 3RVWIDFK$DFKHQ 7HOHIRQ)D[ H0DLO+HOLRV9HUODJ#WRQOLQHGHZZZKHOLRVYHUODJGH LITERATUR J U NGE FREIHEI T Nr. 43/09Ë16. Oktober 2009 S E I T E 29 FRISCH GEPRESST W enn ein Mensch die eigene Existenz ohnehin als Unglück betrachtet, fehlt ihm meist die Kraft, Dummheit und Brutalität seiner Umwelt adäquat zu verarbeiten. Wenn dieser Mensch während der NS-Zeit zu seiner jüdischen Verlobten steht, dafür seinen Job als Journalist verliert, ihr aber nicht ins britische Exil folgen kann, weil er eingezogen wird, wenn er gegen seine Überzeugung als Kriegsberichterstatter wirkt und dafür zwanzig Jahre später von einem Germanistikprofessor mit verkappter NS-Vergangenheit öffentlich gekeult wird – kann man diesem Menschen verübeln, daß er zum Eremiten wird, unabhängig um jeden Preis sein will, finanziell und gedanklich? Kaum einer dürfte erraten, daß es sich bei diesem Anarchen, diesem „Waldgänger“ (Ernst Jünger) um den Bestsellerautor Joachim Fernau handelt. Dokumentiert von Götz Kubitschek und Erik Lehnert finden in einer Bildmonographie, die auf der fragmentari- Avraham Burg geißelt das Holocaust-Gedenken als theologische Stütze moderner jüdischer Identität von GüntHEr dEscHnEr die ihn Martin Buber und andere Geistesgrößen auf der Straße treffen ließ. Später diente er in einer Fallschirmjägereinheit – ein Sprungbrett für politische Karrieren in Israel. Im Gegensatz zu seinem Vater, der gerade Innenminister war, lehnte er den Libanonkrieg von 1982 ab, engagierte sich bei „Peace Now“. Eine Bilderbuchkarriere schloß sich an: Er wurde Berater von Schimon Peres, Abgeordneter und Sprecher der Knesset. Einige Jahre leitete er die „Jewish Agency“, führte für sie die Entschädigungsverhandlungen mit Schweizer Banken. Für Burg ist der Holocaust zu einer „theologischen Stütze der modernen jüdischen Identität“ pervertiert. Die „Popularisierung des Schreckens“ gehe weniger auf die tatsächlich Überlebenden zurück; vielmehr seien politische Interessen und paranoide Ängste dafür verantwortlich, daß Israel in ein „Auschwitz-Land“ verwandelt worden sei. Mit seinen Gedenktagen und ideologischen Umformungen sei der Holocaust so etwas „wie das Ozonloch geworden: nicht zu sehen, aber immer präsent“. Faktenreich, bildhaft und manchmal ein wenig polemisch zeichnet Burg den Prozeß der Umwandlung von einer zukunftssicheren und selbstbewußten „Israeliuth“ im Land verwurzelter Staatsbürger hin zu einem Jüdischsein, das von Traumatisierungen geprägt ist. „Wir haben uns verändert, ohne es zu merken.“ Waldgänger Joachim Fernau in Wort und Bild von HArALd HArzHEim Burg ist der Meinung, daß die israelische Gesellschaft zu militaristisch ausgerichtet sei und somit radikal mit der jüdischen Tradition der Weltoffenheit und Toleranz breche. Sein schwerster Vorwurf lautet, das heutige Israel sei „zunehmend faschistisch und imperialistisch geworden“, und die Kehrseite der Fixierung auf die Shoa sei der wachsende Araberhaß. Anschaulich illustriert er seine These, das Beharren auf der Begründung der Staatsidee Israels durch den Holocaust und der „Mythos einer permanenten jüdischen Leidensgeschichte“ verhinderten, daß Israel sich aus der politischen Sackgasse befreien könne, in der es stecke. Burg nimmt sich heraus, sogar von einer israelischen „Opfer-Paranoia“ zu sprechen. Bezugspunkte für die eingeforderte Umorientierung sieht er in der Geistesgeschichte des Judentums selbst, im Anknüpfen an die humanistischen und universellen Werte, wie sie das europäische und speziell das deutsche Judentum entwickelt hat. Erst damit wäre Hitler „endgültig besiegt“.Auch vor anderen provokanten Fragen, vor allem, was den Umgang mit den Palästinensern betrifft, schreckt er nicht zurück: „Ist es ein Wunder, daß niemand mehr unser Freund sein will, wenn wir Enteignungen, ungerechte Verfahren an Militärgerichten, Mißhandlungen und Nahrungsmittelblokkaden praktizieren – und arabische Menschenleben verachten?“ Jetzt ist Burgs brisante Publikation unter dem Titel „Hitler besiegen“ auch auf deutsch erschienen. Für den deutschen Leser sind nicht nur Einblicke in eine hier kaum bekannte innerisraelische Debatte interessant, die das argumentative und geistige Niveau der politisch-korrekten und offiziösen deutschen Einlassungen über Israel mit jedem Satz überbietet. Burg kommt es darauf an zu verdeutlichen, wie relevant diese Debatte auch für Deutschland sein kann. Vertraut mit der deutschen Geistesgeschichte, mit Glanz und Pathologie der deutsch-jüdischen Symbiose, mit Heinrich Heines „Doppelgänger, du bleicher Geselle“, will Burg mit seiner streitbaren Argumentation den verschlungenen Knoten freilegen, der auch noch zwei Generationen nach dem Ende des Dritten Reiches Juden und Deutsche aneinanderbindet. Sein Beitrag zu einer schmerzhaften israelischen „Schlußstrichdebatte“ sei auch für Deutschland nicht ohne Bedeutung: „In meinen Augen sind Israel und Deutschland zwei Nachbarnationen am Ufer eines Meeres gemeinsamer geschichtlicher Erfahrungen. Sie sind sehr unterschiedlich, aber für immer Nachbarn. Solange Israel sich in der Ecke der Abschottung befindet und sich selbst eingräbt, wird auch Deutschland dorthin gezogen sein. Aber an jenem Tage, wenn wir aus Auschwitz ausziehen und den neuen Staat Israel errichten, werden wir verpflichtet sein, auch Deutschland aus unserem Gefängnis freizulassen.“ schen Biographie der Witwe Gabriele Fernau basiert, sowohl die Vielseitigkeit von Fernaus Werk, der zeitgeschichtliche Hintergrund als auch die öffentlichen Reaktionen gleichermaßen Beachtung. Besonders aufschlußreich sind die – prägenden – Jahre des jungen Fernau im Berlin der frühen 1930er Jahre. Eine damalige Liste des Autors über seine Kinobesuche wirft Licht auf die vielfältigen Neigungen, denn unter den Filmen finden sich Vertreter aller Genres: das Melodram „Ariane“ (1930) mit der von Fernau angebeteten Schauspielerin Elisabeth Bergner, Horrorfilme wie „Der Andere“ (1930), Operetten à la „Dreigroschenoper“ (1931), Politdramen wie „Dreyfus“ (1930) – und sogar ein Doku-Spielfilm über Abtreibung und Kinderkriegen „Frauennot, Frauenglück“ (1929). Außerdem werden solche Werke, ernsthafte Themen in populärer Sprache vermittelnd, ihre Wirkung auf Fernaus Genese nicht verfehlt haben. Speziell „Das Flötenkonzert von Sanssouci“ (1930) hat – in seiner Mischung aus Geschichte und Kolportage – dem Friedrich-II.-Verehrer Fernau womöglich bei der Suche nach dem eigenen Stil geholfen. Sogar die Reaktion auf besagte Zelluloidstreifen wird sich bei dessen Büchern wiederholen: von Kritikern oft verrissen, aber vom Publikum geliebt. Seine Zeit in Berlin und die Unauffälligkeit, mit der sich der NS-Horror langsam in den Alltag schlich, beschrieb Fernau in dem farbigen Berlin-Roman „Die jungen Männer“ (1960). Natürlich ist das Gesamtwerk qualitativ höchst unterschiedlich. Da gibt es Szenarien wie „Komm nach Wien, ich zeig dir was“ oder „Komm nur, mein liebstes Vögelein“ (beide 1955), die selbst hartgesottene Trash-Fans erbleichen lassen und von Rolf Thiele adäquat schlecht verfilmt wurden. Deutlich höheren Anspruch vertraten seine autobiographischen Romane wie „Ein wunderbares Leben“ (1975), die Lyrik „Totentanz“ (1946/47) und Essays wie „Der Gottesbeweis“ (1967). Aber natürlich waren es die Geschichtsbücher, in denen der Individualist Fernau seinen höchsteigenen Stil fand: „Rosen für Apoll“ (1961), „Cäsar läßt grüßen“ (1971), „Halleluja“ (1977) usw. Inzwischen ist Fernaus Rang als Bestsellerautor tiefe Vergangenheit. Zu zeitgebunden sind Stil und Perspektive: Wenn er in „Disteln für Hagen“ (1966) das deutsche Wesen an unbedingter Ideentreue festmacht, spricht er als Vertreter der „Generation Stalingrad“ – womit er heute nur noch begrenzte Identifikationsbereitschaft vorfände. Anderseits macht diese Zeitgebundenheit sein literarisches Schaffen zu einem wichtigen Stück bundesdeutscher Mentalitätsgeschichte. Und als solche läßt sich auch die vorliegende Biographie lesen. Foto: Flickr I srael müsse endlich Schluß machen mit seiner „Fixierung auf den Holocaust“. Israel habe eine Holocaust„Industrie“ entwickelt, die das Land wie in einem „Ghetto“ gefangen halte und die zum Verlust von Moral und Werten des traditionellen Judentums geführt habe. Der „Holocaustgedenktag“ müsse gestrichen oder in einen Tag der Menschenrechte umgewidmet werden. Die „israelische Opfer-Paranoia“ müsse überwunden werden. „Hitler ist nicht mehr!“ Als die hebräische Originalausgabe „Sieg über Hitler“ vor zwei Jahren in Israel erschien, wurde das, was der 54jährige Geschäftsmann und Ex-Politiker Avraham Burg als kritische Liebeserklärung an Israel geschrieben hatte, vom zionistischen Establishment als publizistischer Sprengsatz empfunden, es fühlte sich bis ins Mark getroffen und provoziert. Der Autor bekam das Etikett eines enfant terrible der israelischen Publizistik verpaßt. Sein Buch und der öffentliche Streit darüber machten das Unbehagen an der geistig-politischen Verfaßtheit sichtbar, das Israels Selbstsicht seit langem auf die Probe stellt. Zwar ist innerisraelische Kritik an Mißständen in Israel und in den beherrschten Palästinensergebieten gang und gäbe. Doch während man etwa den Historiker Tom Segev oder Publizisten wie Uri Avnery als Außenseiter abtun konnte, ist das bei Avraham Burg nicht so einfach, denn er kommt aus dem Gründungs-Establishment des Judenstaats und hat ihm selbst an herausragender Stelle gedient. Sein Vater Josef Burg, aus Dresden stammender Rabbiner, hatte im NS-Staat mitgeholfen, die Auswanderung von Juden zu organisieren, bis er 1939 selbst nach Palästina ging. Er gehörte zum Kreis der Staatsgründer und hatte jahrzehntelang Ministerämter inne. Der 1955 in Israel geborene Avraham wuchs in Jerusalem, im Stadtteil Rehavia auf, das er „Kleindeutschland“ nennt, eine Insel der deutschen „Jeckes“, Popularisierung des Schreckens Yad Vaschem, „Gedenkstätte der Märtyrer und Helden des Staates Israel im Holocaust“: Wie das ozonloch JOHANNES ENICHLMAYR Die christlichen Wurzeln sind unsere Zukunft Das Manifest der christlichen Liebe als Antwort auf Karl Marx Wir stehen heute gesellschaftspolitisch und religiös auf einem Berg großer Veränderungen und Umbrüche. Das Friedensprojekt der Europäischen Union möchte ein kommendes Europa ohne seine christlichen Wurzeln aufbauen. Doch bisher konnte man die Europäische Kulturlandschaft gerade durch die christlichen Wurzeln erst richtig verstehen und in ihr leben... HELMUT PFLÜGER 352 Seiten, Pb., € 17.80, Fr. 27.60 Wölfe im Schafspelz Irrwege christlicher Verkündigung im 20. Jahrhundert Geleitwort von Joachim Kardinal Meisner 256 Seiten, 25 Farbfotos, 6 Abb., Pb., € 14.90, Fr. 24.50 Der Verfasser geht der Frage nach, inwieweit die christliche Verkündigung des 20. Jh. die Entchristlichung Deutschlands selbst verschuldet hat. Dagegen setzt er, unter Verarbeitung der neuesten papyrologischen, paOlRJUDÀVFKHQDOWKLVWRULVFKHQXQGDUFKlRORJLVFKHQ(UNHQQWQLVVHGHQ%Hweis, dass alle Evangelien von Augenzeugen bzw. von deren Mitarbeitern verfasst wurden, also eine falsche Darstellung keinen Erfolg hätte haben können. Daraus ergibt sich logischerweise eine Rückkehr zu den Quellen. W. LINDEN Naturwissenschaft gegen Religion? Weltall • Evolution • Hirnforschung Mit Beiträgen von Walfried und David Linden, Karl Philberth, Helmut Röhrbein-Viehoff 216 Seiten, 9 farbige Abb., Pb., € 29.90, Fr. 55.30 Die scheinbare Diskrepanz zwischen Naturwissenschaft und Glaube wird hier diskutiert. Die wichtigen Ergebnisse der Physik, Evolutionsbiologie und Hirnforschung werden in eine Beziehung zu fundiertem Wissen christlicher Weltsicht gesetzt. CHRISTIANA-VERLAG D-78201 Singen, Postfach 110 ZZZFKULVWLDQDFK7HO)D[(0DLORUGHUV#FKULVWLDQDFK Avraham Burg: Hitler besiegen. Warum Israel sich endlich vom Holocaust lösen muß. Campus Verlag, Frankfurt/Main 2009, gebunden, 280 Seiten, 22,90 Euro Götz Kubitschek, Erik Lehnert (Hrsg.): Joachim Fernau. Leben und Werk in Texten und Bildern. Edition Antaios, Schnellroda 2009, gebunden, 141 Seiten, Abbildungen, 24 Euro Gaza-Krieg. Die Aktionen des israelischen Militärs während des Gaza-Krieges zum Jahreswechsel 2008/2009 seien „auf Kriegsverbrechen und in mancher Beziehung vielleicht auch auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ hinausgelaufen, das konstatierte im September der Bericht der Goldstone-Kommission, die im Auftrag des UN-Menschenrechtsrats die damaligen Kriegsereignisse untersuchte. Obwohl darin auch die palästinensischen Terrorattacken auf Israel scharf verurteilt werden, erntete der Südafrikaner Richard Goldstone dennoch heftige Kritik aus Israel und den USA. Einseitigkeit dürfte wohl der erträglichste Vorwurf sein, der Andrea Riccis Buch „Gaza – Die Kriegsverbrechen Israels“ (Kai Homilius Verlag 2009, broschiert, 101 Seiten, 7,50 Euro) treffen wird, denn der laut Verlagsangaben in Beirut lebende Autor stellt seine Fragen offen aus der palästinensischen Perspektive: In dem 22tägigen Krieg seien „1.434 Palästinenser getötet worden, darunter 288 Kinder“ – „doch welche Schicksale verbergen sich hinter diesen Zahlen?“ Ricci fragt nach der Verantwortung für die „grausamen Kriegsverbrechen“ und nach dem ausbleibenden Protest westlicher Regierungen und auch der meisten Medien. Eine Antwort auf die letzte Frage findet sich im Kapitel 6 unter dem Stichwort „Israel-Lobby“. Und Riccis Fazit ist ebenfalls eindeutig: „Nach dem Krieg ist vor dem Krieg.“ Terroristen. Für Peter Scholl-Latour ist al-Qaida „eher ein Mythos, den die Amerikaner hochgespielt haben, der im Irak und der gesamten arabischen Welt aber keine so große Rolle spielt“. Andere gehen noch weiter und behaupten, das „Terrornetzwerk“ sei eine Schöpfung der Neocons in den US-Geheimdiensten, um einen „Regime Change“ in muslimischen Ländern und um Freiheitseinschränkungen daheim zu rechtfertigen. Den ZDF-Journalisten Elmar Theveßen ärgern solche „Verschwörungstheorien“. Für den 42jährigen früheren WashingtonKorrespondenten, der die arabischmuslimische Welt im Gegensatz zu Scholl-Latour hauptsächlich vom Hörensagen kennt, ist al-Qaida höchst real (Al-Qaida. Wissen, was stimmt. Herder-Verlag 2009, broschiert, 128 Seiten, 8,95 Euro): „Allerdings wußte die CIA offenbar schon früh um die Bedrohung“, konstatiert Theveßen. Auch in den folgenden Kapiteln offenbart er wenig Überraschendes oder nicht schon tausendmal Gesagtes. Theveßen kritisiert den Irakkrieg und warnt vor der Terrorgefahr in Deutschland – der Afghanistan-Krieg ist ihm aber kein Kapitel wert. Seine 2004 erschienene „Bush-Bilanz. Wie der USPräsident sein Land und die Welt betrogen hat“ war dagegen weit mutiger und informativer. NEU auf dem Buchmarkt und revolutionär: Georg Meinecke, „GESUND FÜR IMMER“ BoD. brosch. 160 S.; 11,90 Euro „Dieses Buch gehört in die Hände eines jeden verantwortungsbewussten Menschen und auch dessen, der es werden will. Es müsste Pflichtlektüre in der Grundschule, sowie aller Universitäten sein. Der Inhalt ist fundiert, ehrlich und kompetent. Dr. Meineke hat eine klare, direkte und doch eine sehr feine aber informative Art dem Leser die Wahrheit zu übermitteln …“ Leserkommentar zum Buch auf www.amazon.de Georg Meinecke, „Der Königsweg zu Gesundheit und hohem Alter“ BoD, brosch., 512 S.; 27,80 Euro Gesundheitseck Kaufmann: „Wir haben selber viele, viele hundert Bücher zum Thema Gesundheit und Krankheit gelesen. Einem Buch aber möchten wir ab sofort unangefochten den Spitzenplatz einräumen, nämlich diesem Buch von Georg Meinecke, welches unvergleichlich beeindruckend und verständlich geschrieben ist. Wir können dieses Buch mit absoluter Überzeugung empfehlen.“ Der Leser erfährt, wie sich praktisch jede chronisch-degenerative Krankheit bis hin zum Krebs im Endstadium auf natürliche Weise nebenwirkungsfrei heilen bzw. vor ihrem Entstehen verhindern läßt. LITERATUR S E I T E 30 Meinungsmache. Mediale „Meinungsmache und Manipulation gehen seit Jahrhunderten Hand in Hand“. Stimmt. Da muß man dem Autoren Albrecht Müller recht geben. Nur wenn man der Frage nachgeht, wer die Meinungsmacher sind, kommt man bei dem Buch „Meinungsmache. Wie Wirtschaft, Politik und Medien uns das Denken abgewöhnen wollen“ (Droemer Verlag, München 2009, 448 Seiten, gebunden, 19,95 Euro) ins Grübeln. Denn wie Umfragen belegen, siedeln sich Journalisten in Deutschland in großer Mehrheit links der Mitte an (JF 42/09). Da nimmt es nicht wunder, wenn Müller zu belegen sucht, daß diese Linken nichts zu sagen haben. Sondern daß die „neoliberale“ Meinungsmache unsere „Demokratie an den Rand ihrer Existenz“ geführt hat. Opfer und Desinformationen dieser Propaganda gibt es zuhauf: Andrea Ypsilanti, Oskar Lafontaine, die 68er. Dagegen stehen all die Macher, die vom demographischen Wandel sprechen, die „Freiheit“ im Munde führen, von Privatisierungen schwärmen oder den „Verteilungsstaat“ kritisieren. „Mit systematisch inszenierten Kampagnen wird die öffentliche Meinung beeinflußt“, schreibt der Verlag richtig, nur findet man allein Kampagnen, die dem SPDPolitiker Müller in seinem Kampf gegen Neoliberale, Konservative und Rechte in den Kram passen. Andere sucht man vergebens. Unfreiwillig liefert Müller so den Beleg, wie effektive „Meinungsmache“ funktioniert. Gender Mainstreaming. Man kann gespannt sein, ob Gender Mainstreaming, also der Versuch, Geschlecht durch eine sozial erlernte Identität zu ersetzen und damit die Unterschiede zwischen Mann und Frau zu verwischen, auch unter der schwarz-gelben Bundesregierung weiter vorangetrieben wird. Grund zur Hoffnung, daß sich daran etwas ändert, gibt es wenig, dafür sorgt schon das Subsidiaritätsdefizit innerhalb der EU. Selbst wenn die hiesige Speerspitze der Gender-MainstreamingBewegung, Ursula von der Leyen, nicht Familienministerin bleiben sollte, so gibt es in Deutschland und der EU doch zahlreiche Institutionen und Behörden, die ihren Kampf weiterführen. Kritisch mit der Thematik setzt sich dagegen das Buch „Gender Mainstreaming. Das Ende von Mann und Frau?“ auseinander (Brunnen Verlag, Gießen 2009, 175 Seiten, broschiert, 9,95 Euro). Der von Dominik Klenk herausgegebene Band bietet einen fundierten Überblick über die Entstehung und Entwicklung der Gender-Lehre und erläutert die zentralen Begriffe. Daneben liefert er Gegenargumente zur Geschlechtergleichmacherei und kann als Ergänzung zu den Büchern von Gabriele Kuby, Volker Zastrow, Barbara Rosenkranz und Ellen Kositza angesehen werden. B evor ein Passagier ins Flugzeug darf, muß er lauter Kontrollen bis hin zur Leibesvisitation über sich ergehen lassen. Er nimmt seinen Laptop aus der Tasche, legt ihn in eine Plastikwanne, zieht seinen Mantel aus, entfernt seinen Gürtel, nimmt Münzen, Mobiltelefon und selbst Kaugummipapier aus den Hosentaschen. Manchmal zieht er auch seine Schuhe aus. Wenn er lange nicht geflogen ist und die neuesten Bestimmungen nicht kennt, dann muß er auch noch sein Rasierwasser wegwerfen, das er im Handgepäck mitnehmen wollte. Millionen Passagiere lassen diese schwachsinnigen Kontrollen jeden Tag über sich ergehen. Komisch: Wenn der gleiche Passagier nicht das Flugzeug, sondern die Bahn nimmt, dann wird er gar nicht kontrolliert. Die Eisenbahngesellschaft erfährt noch nicht einmal seinen Namen, geschweige denn, daß sein Gepäck kontrolliert wird. Und trotzdem kann der Passagier gefahrlos reisen. Und das, obwohl theoretisch ein Terroranschlag auf einen Zug genauso viele Menschenleben kosten kann wie einer auf ein Passagierflugzeug. Das hat die Welt im März 2004 von den al-QaidaAttentätern in Madrid demonstriert bekommen. Trotzdem ist noch niemand – noch nicht einmal Wolfgang Schäuble – auf die Idee gekommen, Bahngäste am Eingang von Bahnhöfen zu kontrollieren. Dieses kleine Beispiel zeigt den Wahnsinn der Überwachungsgesellschaft und die Sinnlosigkeit der permanenten Kontrollen, denen der Bürger im 21. Jahrhundert ausgesetzt ist. Die große Masse hat sich schnell daran gewöhnt, so schnell, daß einem angst und bange werden kann. Wieso wehrt sich eigentlich niemand gegen diese ganzen staatlichen Kontrollen? Was werden die Leute noch alles über sich ergehen las- D er Mensch ist ein Herdentier. Die Anerkennung durch die Gemeinschaft ist ihm überlebenswichtig, er sucht die Gesellschaft anderer und fürchtet die Ausgrenzung. Erich Lamp rückt diese „soziale Natur“ des Menschen, in der das „Bedürfnis nach Mit-Sein“ anthropologisch tief verwurzelt ist, in das ihr gebührende Licht: Sie ist eine wesentliche Grundlage für die gesellschaftliche Macht der „öffentlichen Meinung“. Der Publizist, Germanist und Kunsthistoriker Erich Lamp liefert damit nicht nur die psychologische und anthropologische Erklärung für das Funktionieren von Schweigespiralen und Kampagnenjournalismus. Er löst zugleich das Paradox auf, daß öffentliches Anpassertum gerade dann gedeiht, wenn „Querdenken“ und autonomer Individualismus als gesellschaftliches Idealbild gelten, dem gerade die Konformisten selbst am meisten zu entsprechen meinen. Die Sozialnatur, meint Lamp, läßt sich eben nicht verleugnen; sie sei für unsere Existenz „genauso unverzichtbar wie Wasser, Sauerstoff, Eiweiß, Fett“, zitiert er Carl Gustav Jung. Empirisch untermauert Lamp diesen Befund mit den Ergebnissen von Experimenten, Selbstversuchen und Befragungsergebnissen, die die dominante Kraft des Peinlichkeits- „Käme die Bundeszentrale für politische Bildung wirklich ihrem Auftrag nach, das Volk, den angeblichen Souverän, in seiner politischen Urteilskraft zu stärken, müßte es die von Armin Geus und Stefan Etzel edierten „Beiträge zur Islamkritik“ (...) gleich palettenweise ankaufen und in allen Bildungseinrichtungen zwischen Bregenz und Ueckermünde kostenlos verteilen.“ Juli Zeh und Ilija Trojanow klagen die Kontrollwut des Staates an und warnen vor drohender Überwachungsgesellschaft VON RONALD GLÄSER : TO LIA TO FO FO empfindens und der vermeintlich leicht zu überwindenden Furcht vor dem Urteil anderer eindrucksvoll bestätigen. Das erklärt, warum die in unserem exhibitionistischen Zeitalter läßlich erscheinenden Pranger- und Schandstrafen in früheren Jahrhunderten als schwere Sanktionen mit ungeheurer Disziplinierungswirkung empfunden wurden. Der Angriff auf die Sozialnatur, die Vernichtung der sozialen kann die Auslöschung der physischen Existenz unmittelbar nach sich ziehen. Daß diese anthropologische Konstante auch im 21. Jahrhundert noch gilt, kann nicht nur die in den USA praktizierte modernisierte Wiedereinführung der Prangerstrafe für Sexualstraftäter im Internet belegen, sondern ebenso die sich häufenden Fälle von Selbsttötungen nach gnadenlosem „Mobbing“ in sozialen Netzwerken. Vor allem aber interessiert Lamp, Akademischer Direktor an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz und Privatdozent am dortigen Institut für Publizistik, die Rolle der menschlichen Sozialnatur in der Bildung und Formierung öffentlicher Meinung. Diese unterliegt einer signifikanten Bedeutungsverschiebung. Ihr rationales Verständnis als aufklärerisches Instrument der Volkssouveränität, der Teilhabe des sich seines Mit den Wölfen heulen Erich Lamp begründet die „Macht der öffentlichen Meinung“ mit der sozialen Natur des Menschen VON MICHAEL PAULWITZ Gegen die feige Neutralität – Beiträge zur Islamkritik Basilisken-Presse, Marburg 2008, broschiert, 276 Seiten, ISBN 3-925347-98-5, 24,– Euro zur Online-Durchsuchung zur Verfügung. Dabei ist es, so Zeh, „völlig unklar, wozu ein solcher Grundrechtseingriff überhaupt gut sein soll“. Juli Zeh und ihr Co-Autor, der Wiener Schriftsteller Ilija Trojanow, schildern diese Absurditäten des Überwachungsstaates mit kleinen Anekdoten wie dem Mann, der sich das Badezimmer neu fliesen läßt. Er kommt überraschend früher nach Hause und trifft den Handwerker mit einer Tasse Kaffee vor seinem Laptop sitzend. Er durchstöbert gerade die persönlichen Dateien des Auftraggebers. „Sie schreien ihn natürlich an, Sie stellen ihn zur Rede. Er wollte nur mal gucken, sagt der Fliesenleger ganz entspannt, ob Sie Steuern hinterziehen, Schwarzarbeiter beschäftigen oder illegal Musik kopieren.“ Den Fliesenleger schmeißen wir im Handumdrehen raus. Aber der Staat darf so weitermachen wie bisher – was ist das für eine Logik? Der Widerstand Juli Zehs gegen den Abbau von Freiheitsrechten durch den Leviathan ist nicht neu. Eingriffe des Staates sind ein wiederkehrendes Motiv ihrer Arbeit. Schon vor zwei Jahren wurde ihr Science-Fiction-Theaterstück „Corpus Delicti“ uraufgeführt, das im Jahr 2057 spielt. Der Staat zwingt seine Bürger zur Gesundheitsprävention und verbietet sogar das Rauchen. Im vergangenen Jahr legte Juli Zeh Verfassungsbeschwerde gegen den biometrischen Reisepaß ein. Sie kann als eine der härtesten Kritikerinnen des Schäubleschen Überwachungsstaates gelten. Ihr Buch ist ein Muß für Freiheitsfreunde und eine belletristische Anklage gegen die DDR 2.0. Juli Zeh, Ilija Trojanow: Angriff auf die Freiheit. Der Weg in die überwachte Gesellschaft und die Bedrohung der Demokratie. Carl Hanser Verlag, München 2009, broschiert, 176 Seiten, 14,90 Euro Deutschland im Blick der Überwachungskameras: Darf der Staat das? eigenen Verstandes bedienenden Bürgers an Staatspolitik und Gesetzgebung, ignoriert die soziale Natur des „Herdentiers“ Mensch, die eben nicht nur eine individuelle Schwäche ist, sondern eine gesellschaftliche Funktion hat. Lamp möchte öffentliche Meinung daher als „alle umschließende Integrationskraft“ verstanden wissen. Elitäre Abwendung ist in den Augen Lamps folglich kein angemessener Umgang mit der öffentlichen Meinung, die unter den Bedingungen der Massengesellschaft und dominiert von den Massenmedien allgegenwärtige soziale Kontrolle bei größtmöglicher Öffentlichkeit bedeutet. „Political Correctness“, die Kanonisierung bestimmter Ansichten und die massive soziale Sanktionierung jeden Verstoßes dagegen, ist eine notwendige Folge, aber kein statischer Endzustand. Öffentliche Meinung ist ein dialektischer Prozeß; sie ist in Bewegung, obwohl oder gerade weil es so schwer ist, nicht mit den Wölfen zu heulen und gegen den Strom zu schwimmen. „Der öffentlich bekundete Widerspruch mit der hierdurch provozierten Mißbilligung der Umwelt ist ja zugleich ein Handeln gegen die eigene Sozialnatur“, konstatiert Lamp. Doch die Herausforderung der öffentlichen Meinung birgt „stets die Möglichkeit, einer neuen öffentlichen Meinung den Weg zu weisen“, die sich, einmal von den Massenmedien aufgegriffen, um so rascher ausbreiten kann. Passend hierzu beschreibt Lamp an anderer Stelle den Prozeß der Akzeptanz von Homosexualität und Abtreibung nach der Überwindung der Öffentlichkeitsschwelle und der Enttabuisierung durch Entkriminalisierung. Hat sich eine neue öffentliche Meinung durchgesetzt, „wird es immer auch Menschen geben, die sich diesem Wandel verschließen und an der überholten Meinung und den alten Anschauungen festhalten“ und nun ihrerseits gegen den Strom schwimmen. „Lassen sie sich durch die Ablehnung ihrer Mitmenschen nicht beirren und bleiben beharrlich ihrer Haltung treu, ist es gut möglich, daß (...) die Verfechter der überholten öffentlichen Meinung so unversehens zu Vorreitern einer neuen öffentlichen Meinung werden, in der die alten Positionen wieder gesellschaftsfähig sind“. Das darf man getrost als Ermunterung verstehen. Erich Lamp: Die Macht öffentlicher Meinung – und warum wir uns ihr beugen. Über die Schattenseite der menschlichen Natur. Olzog Verlag, München 2009, broschiert, 176 Seiten, 22 Euro TTIXMX EYJ\wRI7GVMIR# 4URIHVVLRQHOOH*UDNWXU[ULHQ IoU2%XQG/Cl %OOH7FULHQ DXI%& ,%&'%( "*# % ��%" +% �� " & %" " $%#%!! "*#,%&'%(%" #%",#) Die Beiträge des Bandes sollen ein möglichst breites Spektrum der Positionen abdecken und stammen u. a. von Thomas Bargatzky, Karl Doehring, Ralph Giordano, Paul Gottfried, Siegfried Kohlhammer, Hartmut Krauss, Michael Miersch, Hubertus Mynarek, Tilman Nagel, Klaus Rainer Röhl, Günter Rohrmoser, Herbert Rosendorfer, Hiltrud Schröter, Björn Schumacher und Rolf Stolz. sen, bis sie endlich protestieren? Auch Juli Zeh wundert sich über diese Dinge. Zum Beispiel darüber, daß heute die Bürger die Abschaffung aller möglichen Freiheitsrechte hinnehmen, obwohl die Bedrohung durch Feinde abgenommen hat. Was ist schon alQaida verglichen mit dem drohenden Atomtod vor dreißig Jahren. Damals hätten sich die Deutschen nicht einfach so ihre Freiheiten wegnehmen lassen, auch nicht wenn dies im Kampf gegen den „kommunistischen Erzfeind“ notwendig gewesen wäre. Die Angst vor dem Terror wird von den Schilys und Schäubles – Zeh nennt sie und die Verlautbarungsjournalisten in ihrem Gefolge „die Angstprofiteure“ – geschürt, um uns weich zu machen für immer mehr staatliche Befugnisse. 76 Prozent der Deutschen fürchten einer Umfrage zufolge, Opfer eines Terroranschlages zu werden. Statistisch gesehen ist die Chance höher, als Kind zu ertrinken. Verbieten wir jetzt Schwimmbäder oder Swimmingpools? Badeseen bleiben, aber Grundrechte werden mir nichts, dir nichts abgeschafft wegen der angeblichen terroristischen Gefahr. Bankgeheimnis? Weg. Telefongeheimnis? Totalabschreibung. Zwei bis vier Millionen Deutsche waren von Lauschangriffen des Staates im vergangenen Jahr betroffen. Oder nehmen wir das Recht auf Privatheit, das von Politikern und anderen Prominenten so gerne in Anspruch genommen wird, wenn es darum geht, lästige Journalisten loszuwerden. Für die Bürger gilt die Privatheit nicht mehr: Ihre PCs stehen den Spitzeln des Staates " Junge Freiheit, 40/08, 26.09.2008 Gegen eine DDR 2.0 FRISCH GEPRESST J U NGE FREIHEI T Nr. 43/09Ë16. Oktober 2009 O NUB SBLUVSLPN * Lateinische Regeln Das große Einmaleins der Sprache in 2 Bänden Das Beherrschen der lateinischen Sprache und ihrer Denkweise kann unbezahlbare Vorteile bringen. Deshalb hat Gerhard Bach ein Nachhilfegerüst geschrieben, das auf eigenen Erfahrungen beruht. *RUGHUQ7LHPHLQ 7FULPX\HUKHNR\HQIUHLDQ (IPFERmS*VEOXYV\VMIR &DQMQTE &DQMAHKC '2Q[&GNDCPkQ(TCMVWTUETKHVGP@VQPNKPGFG 9GNVPGYYYHTCMVWTkQO Band 1 Das kleine Einmaleins der Sprache 34 Seiten, 6,50 EUR ISBN 3-00-008859-8 Band 2 Das große Einmaleins der Sprache 96 Seiten, 10,00 EUR ISBN 3-00-017080-4 Bestellen Sie bei: JF-Buchdienst Hohenzollerndamm 27a · 10713 Berlin Tel. 0 30 / 864 953 - 25, Fax: 0 30 / 864 953 - 50 [email protected] oder direkt beim Autor: Gerhard Bach M.A. · Wingertstr. 1½ · 97422 Schweinfurt · Tel.: 0 97 21 / 2 69 - 27 LITERATUR J U NGE FREIHEI T Nr. 43/09Ë16. Oktober 2009 S E I T E 31 Beatrice geht doch wählen FRISCH GEPRESST 9. November. Ereignisse von weltgeschichtlicher Bedeutung wirken lange nach, auch in der persönlichen Erinnerung. Über 35jährige dürften sich mit Sicherheit detailliert an das Datum des 9. November 1989 erinnern. Die Öffnung der innerdeutschen Grenze ist auch der Angelpunkt, um den das Buch „Mein 9. November“ kreist. Der von dem WDRJournalisten Heribert Schwan und dem Innsbrucker Historiker Rolf Steininger herausgegebene Band versammelt 45 Interviews wichtiger politischer und gesellschaftlicher Akteure von damals, wie etwa Michail Gorbatschow, Günter Schabowski, Valentin Falin, Egon Bahr oder Lothar de Maizière. So fragt man sich allerdings, warum ausgerechnet die beiden Hauptakteure Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher fehlen. Dennoch bieten die Interviews, die sich nicht auf den Fall der Mauer beschränken, sondern den gesamten Prozeß vom Beginn der Revolution in der DDR bis zur Wiedervereinigung reflektieren, interessante subjektive Einblikke und liefern ein facettenreiches Bild jener weltbewegenden Umbruchszeit (Mein 9. November 1989. Patmos Verlag, Düsseldorf 2009, gebunden, 432 Seiten, Abbildungen, 19,90 Euro). Nichtwähler-Belehrungen S Beatrice von Weizsäcker: Warum ich mich nicht für Politik interessiere. Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach 2009, 207 Seiten, 14,99 Euro Die beste deutsche Revolution Klaus-Dietmar Henke hat einen interessanten Sammelband zur Geschichte der Umbrüche von 1989/90 in der DDR herausgegeben von Werner LehfeLdt Foto: picture alliance chon der Titel ist Koketterie. Beatrice von Weizsäcker, Journalistin, Juristin und Tochter des einstigen Bundespräsidenten, stellt plakativ fest, daß sie sich nicht interessiert für Staatsgeschäfte und Bundestag. Der gewünschte Schulterschluß zum vermeintlich desinteressierten Volk gelingt aber nicht. Dazu schreibt sie dem Leser allzu belehrend Vorbilder ins Gewissen: „Clara Anders – nie gehört? Das muß sich ändern.“ Ob es um die „Koordinatorin der Potsdamer Erstwählerkampagne“ geht oder Nelson Mandela – dem Leser schleudert sie im Schnellwaschgang ihre Idole um und in den Kopf. Nicht Enttäuschung treibt die 51jährige an, sondern der Wunsch, andere einzunorden. Sie ist keine Spätberufene, nein, sie hat eine Botschaft. Und die ist affirmativ, staatstragend und anders als der gegen den Strich gebürstete Titel meist sterbenslangweilig. Parteienschelte, Lob für direkte Demokratie und Bundesverfassungsgericht bilden die Gipfel kreativer Systemkritik. Auf 207 Seiten erfährt, wer will, einiges über prägende Zäsuren in ihrem Leben. Stichworte geben etwas Struktur und die Funktion eines persönlichen politischen Kompasses. Scharfsinnig analysiert sie dagegen im lesenswerten Kapitel „Das Neumitglied als Frühstücksei“ die Ochsentour, die Politiker durchleben: „Dort, in den Parteien, erhalten die Jungen ihre eigentliche Ausbildung, nicht außerhalb. (…) Derart geschult, ausgebildet und abgeschreckt leben die Jungen schon bald wie die meisten Abgeordneten nicht für die Politik, sondern von der Politik.“ Attacken gegen den Zeitgeist stehen aber hinter Wohlfeilem zurück. Beflissen erinnert sie sich der Lichterketten. Natürlich ist der Kampf gegen Rassismus ein Leitmotiv ihres Werks, da gesellt sich jeder gern hinzu. Ihr Großvater Ernst von Weizsäcker hingegen „war Diplomat“, so ihre unaufgeregt knappe Mitteilung zum einflußreichen NS-Außenpolitiker. Beatrice von Weizsäcker propagiert Symbolpolitik zum Mitmachen. Allzu hoch lobt sie sich dabei selbst. Unfreiwillig komisch bis psychopathologisch mutet ihr „Briefwechsel“ mit einem erfundenen polnischen Freund an, den sie in den achtziger Jahren geführt haben will. Sie schreibt diesen Marian 1989 im wahrsten Sinne des Wortes ab, nachdem er als Projektionsfläche ihrer Gedanken zur Wende ausgedient hat. Insgesamt motiviert das Buch also eher am Rande, sich für Politik einzusetzen. Sverre Schacht Über 300.000 Menschen protestieren auf dem Leipziger Ring am Montag, den 6. November 1989: anhaltende Demonstration des Volkswillens I m vergangenen und in diesem Jahr sind – mindestens – drei Bücher erschienen, in denen Ursachen und Verlauf der Revolution von 1989/90 in der DDR beschrieben werden: Ehrhart Neubert mit „Unsere Revolution“, IlkoSascha Kowalczuks „Endspiel“ und Wolfgang Schullers „Die deutsche Revolution 1989“. Zu diesen von jeweils einem Autor verfaßten Werken stellt der von Klaus-Dietmar Henke herausgegebene Sammelband „Revolution und Vereinigung 1989/90“ eine willkommene, sehr informative Ergänzung dar, die freilich ihren Wert auch in sich selbst hat. In ihm behandeln 37 Autoren ebenso viele Einzelaspekte bzw. -ereignisse der Revolution und geben so dem Leser die Möglichkeit, seine Kenntnisse über das Geschehen zwischen Sommer 1989 und Herbst 1990 gezielt zu vertiefen. Gegliedert ist das Buch in zwei Teile. Der erste Teil gilt dem übergreifenden Thema „Krise und Aufbruch in der Deutschen Demokratischen Republik“, der zweite steht unter der Überschrift „Die Reaktion der Bundesrepublik Deutschland und der Mächte“. Vorangestellt sind diesen Teilen ein Übersichtsartikel „1989“ aus der Feder des Herausgebers sowie ein Essay: „Vor dem Sturm. Die unnormale Normalität der DDR“ von Richard Schröder. Nach den Worten von Klaus-Dietmar Henke legt das Buch den Akzent auf den Aufbruch in der DDR und soll eine zentrale Aussage belegen: „Keine Wiedervereinigung ohne eine demokratische DDR; keine demokratische DDR ohne den ostdeutschen Volkspro- test“. Gemäß dieser These sind die politischen Entscheidungen, die schließlich zur Wiedervereinigung Deutschlands führen sollten, „zuallererst als Reaktion auf die anhaltende Demonstration des Volkswillens zu verstehen“. In zehn Punkten beschreibt Henke sodann die Voraussetzungen, die die Revolution begünstigt haben. Richard Schröder bedauert in seinem gedankenreichen Essay, daß sich der von Krenz geprägte Ausdruck „Wende“ für den Herbst 1989 durchgesetzt habe, und wendet sich gegen jegliche Ostalgie: „Die DDR-Nostalgiker wünschen sich, wie mir scheint, die Unwissenheit von damals zurück, nun aber wider besseres Wissen.“ Er wagt sich auch an ein Tabuthema, den Vergleich des Alltags in der DDR mit dem in der anderen deutschen Diktatur. „An beiden Alltagen läßt sich leider sehr viel Vergleichbares finden, wenn wir nicht 1944 mit 1988 vergleichen, sondern 1937 mit 1988. Keine Arbeitslosen, ein herrliches Urlaubsprogramm für die arbeitende Bevölkerung, Kraft durch Freude dort, FDGB-Feriendienst hier genannt“ u.a. Freilich übersieht er nicht die auch vorhandenen gravierenden Unterschiede, wie etwa: „Das NSRegime war hausgemacht deutsch, die SED-Diktatur dagegen von der Sowjetunion installiert und ausgehalten.“ Der Inhalt der beiden Hauptteile des Buches kann hier nur durch die Wiedergabe einiger Artikelüberschriften angedeutet werden: „Die DDR-Volkswirtschaft am Ende“ (A. Steiner), „Der 9. Oktober: Tag der Entscheidung in Leipzig“ (R. Eckert), „Der Untergang der Staatspartei“ (W. Süss). „Die Bundesregierung und die Krise der DDR vor dem Mauerfall“ (H. J. Küsters), „Die SPD und die deutsche Frage 1989/90“ (M. Schmeitzner), „Die Sowjetunion und die deutsche Einheit. Warum Moskau die DDR aufgab“ (M. Lemke), „Die Kosten der Einheit. Eine Bilanz“ (G. A. Ritter). Man liest die genannten und alle übrigen Aufsätze mit Gewinn, einige auch nicht ohne ein gewisses Amüsement. Letzteres gilt etwa für R. Engelmanns Artikel „Die Intellektuellen, die friedliche Revolution und die Debatte um die Vereinigung“. Hier kann man das Phänomen des westdeutschen Wendehalses studieren. So schrieb der Chefredakteur der Zeit, Theo Sommer, nach der Öffnung der Mauer: „In den Herzen der Deutschen läuten die Glocken. Die Nation lebt, ihr Zusammengehörigkeitsgefühl ist ungebrochen.“ Dabei hatten es die führenden Leute der Zeit, Marion Gräfin Dönhoff und ihr „Bube“ Theo Sommer, nicht lange vor dem Sichtbarwerden der Existenzkrise des DDR-Regimes für ratsam erachtet, den Deutschen zu predigen, sie sollten nicht nur den Glauben an die Möglichkeit der Wiedervereinigung aufgeben, sondern selbst den Wunsch nach der Wiedervereinigung Deutschlands. Si tacuisses ...! Abgeschlossen wird der Band wiederum durch einen „Essay: Die ostdeutsche Revolution“ des amerikanischen Historikers Charles S. Maier, der diese Revolution in das Muster anderer gewaltfreier Umwälzungen des 20. Jahrhunderts einordnet wie etwa der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung Martin Luther Kings. Den wohl wichtigsten Grund für das Losbrechen und das Gelingen der revolutionären Bewegung sieht Maier nicht etwa in der ökonomischen und der Finanzkrise des SED-Regimes, sondern in dessen „Unfähigkeit, die neue Herausforderung des Postindustrialismus zu meistern, also die Welt des Tourismus etwa, des Stils, der Computer oder das Verlangen der Jugend nach ihrer eigenen Musik“. Eine alternde, bis zur Arroganz selbstbewußte Führung, die die Dynamik des sowjetischen Wandels unterschätzt habe, sei die größte Bedrohung für das SED-Regime gewesen. Zusammen mit den eingangs genannten Monographien und zahlreichen anderen Arbeiten trägt der von Klaus-Dietmar Henke zusammengestellte Band ganz wesentlich dazu bei, die Kenntnisse über den Ablauf der revolutionären Ereignisse von 1989/1990, über deren tiefere Ursachen und deren Folgen zu vertiefen. „Nostalgie, ‘Ostalgie’ (...) ist fehl am Platze“, schreibt Charles S. Maier. Wer ihr dennoch anhängt, der tut dies, wie es Richard Schröder ausgeführt hat, wider besseres Wissen oder jedenfalls wider die Möglichkeit besseren Wissens, wie sie heute jedermann offensteht. Klaus-dietmar henke (hrsg.): Revolution und Vereinigung 1989/90. Als in Deutschland die Realität die Phantasie überholte. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2009, 736 Seiten, 19,90 Euro Spionagegeschichte. Fernab aller James-Bond-Filme vertieft das wirkliche Agentenleben kaum etwas trefflicher als der vorzügliche Sammelband, den der Oranienburger Historiker Jürgen W. Schmidt ediert hat: „Geheimdienste, Militär und Politik in Deutschland“ (Ludwigsfelder Verlagshaus, Ludwigsfelde 2008, 407 Seiten, 29,90 Euro). Der Band beweist überdies, daß auch ein kleiner „Provinz-Verlag“ sich mit Schöningh, Beck et al. zeithistorisch auf Augenhöhe halten kann. Das Werk enthält einen umfangreichen Beitrag des Juristen Klaus-Walter Frey über den legendären Obristen Walter Nicolai, den Chef des deutschen militärischen Nachrichtendienstes im Großen Generalstab (1913–1918), einen den spezialistischen Rahmen sprengenden Aufsatz Schmidts zum deutschpolnischen Verhältnis zwischen den Weltkriegen: „Nationalitätenkampf, Spionage und Agentenaustausche“, sowie, von dem Dresdner Doktoranden Wolfgang Kaufmann, eine spannende Darstellung des 1939/40 entworfenen deutschen Geheimplans zur „Destabilisierung Britisch-Indiens via Tibet“. Trotzdem weht den Leser bei allem Realismus wenigstens ein Hauch von James-Bond-Romantik an. Dafür sorgt allein schon Schmidts Burleske über den dänischen Gentleman-Spion Harry Lembourn, der 1928 mit einer Berliner Kontoristin in der abwegigen Hoffnung anbändelte, sie könne ihm die Geheimnisse des „Stahlhelm“ und anderer Wehrverbände offenbaren. Bücher von Dr. Wolf Kalz DIE IDEOLOGIE DES „DEUTSCHEN SONDERWEGS“ – Exkurse zur Zeitgeschichte – Überzeugend weist Kalz denn auch nach, daß der von bundesdeutschen Historikern und Medienmachern bemühte „Sonderweg“ in erster Linie psychologischen, machtpolitischen Zwecken dient: der Niederhaltung der Deutschen im Stand der „Schuld“ und ihrer fortwährenden Betroffenheit. Ein sauber recherchiertes Buch, dem weiteste Verbreitung zu wünschen ist. (Nation & Europa 3/2005) Lindenblatt Media Verlag 2004 ISBN 3-937807-05-5, 321 S., Pb., EUR 19,80 DIE GESICHTE DER KASSANDRA – Ein zeithistorisches Vademekum – Wolf Kalz traf mit seinem Vademekum nicht nur ins Schwarze, sondern auch den richtigen Zeitpunkt. Die Bürger müssten es ihm aus den Händen reißen. (Dr. Hans-Dietrich Sander in: „Neue Ordnung“ 3/08) Federsee-Verlag 2008 ISBN 3-925171-74-1, 296 S., Pb. EUR 14,00 EIN DEUTSCHES REQUIEM – Vom Aufstieg Preußens zum Niedergang der Republik – Kalz’ Resümee fällt pessimistisch aus: Mehr als ein „Requiem“, einen Abgesang auf das Modell „Preußen“ möchte er seinen Lesern nicht mit auf den Weg geben. (Nation & Europa) Lindenblatt Media Verlag 2006 ISBN 3-937807-09-8, 258 S. Pb. EUR 17,80 DIE POLITISCHE ELITE UND DER STAAT Das rechte Verhältnis zwischen Freiheit und Ordnung zueinander zu finden, ist eine Herausforderung, die zu einer Überlebensfrage unserer Art geworden ist. Der Historiker und Politologe Wolf Kalz beschäftigt sich zunächst allgemein mit dieser komplexen Thematik und entwickelt dann in einer auf den preußischen Staat “rückblickenden Utopie“ Kriterien und Erfordernisse für eine künftige politische Elite. (Rotary-Magazin 12, 2006) Lindenblatt Media Verlag 2004 ISBN 3-937807-06-3, 206 S., Pb. EUR 14,80 GUSTAV LANDAUER – Ein deutscher Anarchist – Die Arbeit von Wolf Kalz ist vor allem eine sorgfältig belegte Systematisierung der von Landauer unsystematisch entwickelten Variante des „freiheitlichen Sozialismus“ bzw. Anarchismus … Die Vorbildlichkeit der Untersuchung liegt in dem geduldigen Bemühen, den Zusammenhang der Landauerschen Gedankengänge evident zu machen, bevor deren kritische Überprüfung unternommen wird … Die Arbeit gehört zu den wertvollen Anfängen einer Geschichte des Anarchismus in Deutschland, die als ganze aber noch geschrieben werden muß. (Hans Martin Bock, (Das Argument 1972)) Federsee-Verlag 2008 ISBN 3-925171-84-0, 168 S., Pb. EUR 15,00 Bestellung über den Buchhandel wie den JF-Buchdienst, Amazon oder über www.wolf-kalz.de ;`\;\lkjZ_\KiX^[`\ R=XkXc\@^efiXeqT >jj[cWdZ[dPm[_j[dM[bjah_[] c_jWbbi[_d[daWjWijhef^Wb[d<eb][d l[h^_dZ[hdadd[d5 @WÅm[ddcWd>_jb[hi8[a[ddjd_iXkY^ ØC[_dAWcf\Ç]hdZb_Y^][b[i[dXpm$ ijkZ_[hj^jj[ André Freudenberg „Freiheitlich-konservative Kleinparteien im wiedervereinigten Deutschland“ Engelsdorfer Verlag Leipzig 2009, 382 Seiten, ISBN 978-3-86901-228-5, Preis: 18,– Euro Welche Versuche es seit der Wiedervereinigung gegeben hat, in diese politische Marktlücke vorzustoßen und warum sie früher oder später allesamt gescheitert sind, soll in diesem Buch ausführlich und fundiert thematisiert werden. Buchbeschreibung des Verlags „Dabei bleibt er keineswegs bei der Analyse stehen. Den Erfahrungen und Fehlern der Freiheitlich-Konservativen werden mögliche Handlungsalternativen und -optionen gegenübergestellt ...“ Brigadegeneral a. D. Reinhard Uhle-Wettler, „Junge Freiheit“ 34/09 C\j\eJ`\[Xj9lZ_ Ù=XkXc\@^efiXeqÈ ledAWhbHWWX%HWb\L_[hj^Wb[h 8e:#L[hbW]ÅDehZ[hij[Zj ?I8D/-.#).))*#.'.(#,%;KH''".& Man darf die Ausführungen als Weckruf an diejenigen verstehen, die sich fragen, wo denn eine der österreichischen FPÖ vergleichbare Interessenvertretung in Deutschland bleibt ... Um sich mit den wesentlichen Entwicklungen und Thesen der einzelnen Parteien vertraut zu machen und eigene Ideen weiter zu entwickeln, bietet dieses Buch eine brauchbare Stütze. Rezensent auf amazon.com LITERATUR S E I T E 32 J U NGE FREIHEI T Nr. 43/09Ë16. Oktober 2009 Ostpreußen. Rhetorisch groß aufzutrumpfen, das wirkt fast immer peinlich. Aber wie anders als ein „Titanenwerk“ soll man es denn nennen, wenn jemand wie Wulf D. Wagner ohne institutionelle Unterstützung, als privatgelehrter Einzelkämpfer binnen eines Jahres fast 1.400 Seiten zum Druck befördert über die „Kultur im ländlichen Ostpreußen“ – exemplarisch dargestellt in seinem zweiten Band zur Geschichte, den Gütern und den Menschen des Kreises Gerdauen (Husum Druck- und Verlagsgesellschaft, Husum 2009, Seiten 717 bis 1382, Abbildungen, 39,95 Euro). Wie schon zum ersten Band bemerkt (JF 6/09) läßt Wagner die herkömmliche Regionalgeschichte, die für Ostpreußen nach 1945 in den Heimatkreis-Büchern der 1960er bis 1980er Jahre versammelt ist, weit hinter sich. Das gilt zum einen für die Abundanz und Gründlichkeit der Quellenauswertung. Hier setzt Wagner schlicht neue Maßstäbe. Das gilt zum andern methodisch für die Verklammerung von Architektur-, Agrar-, Sozial- und Kulturgeschichte, die landeshistorisch einen bislang unerreichten Standard für die Zukunft vorgibt. Und schließlich ist auch die einzigartige Dichte der Baupläne und Abbildungen zu rühmen. Um hier nur eins herauszugreifen: die Farbdias, die der junge Joachim Horn um 1940 von seinem Elternhaus, dem Gut Korellen, gemacht hat. Hineingezogen ins Interieur des Eßzimmers, hingestellt auf die blanken Dielen des Wohnzimmers findet der Betrachter wie von Zauberhand die verlorene Zeit wieder. Eine Frage bleibt: Wird Wagners Kraft für die großen und lohnenden Güterkreise Fischhausen, Rastenburg oder Rosenberg reichen? Krise und Reformen. Beruhigend hieß es im Oktober 1806 nach der preußischen Niederlage von Jena und Auerstedt gegen Napoleons Armeen: „Der König hat eine Bataille verloren. Jetzt ist Ruhe die erste Bürgerpflicht.“ Man muß schon bis zur Agonie der Hohenzollern-Monarchie im Herbst 1918 sondieren, um Untertreibungen solchen Kalibers in den Verlautbarungen des Herrscherhauses aufzuspüren. Jena-Auerstedt war keine verlorene Bataille, sondern die Katastrophe des preußischen Staates schlechthin, der Untergang der friderizianischen Großmacht. Wie das militärische Führungspersonal auf dieses Desaster reagierte, wie unterschiedlich die Generalität bereits vor 1806 über die allfällige Militärreform dachte, welche Bedeutung die Niederlage auf der Walstatt nahe Weimar für die Reformkonzeptionen nach 1806 hatte und wie diese Heeresreformen mit der Steinschen Staatsumwälzung von 1807/08 verknüpft waren – auf diese Fragen sucht ein von Jürgen Kloosterhuis und Sönke Neitzel edierter Tagungsband nach treffenden Antworten (Krise, Reformen – und Militär. Preußen vor und nach der Katastrophe von 1806, Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2009, broschiert, 279 Seiten, Abbildungen, 68 Euro). Fotos: aus dem besprochenen buch FRISCH GEPRESST „Trifugium“ im Stadtzentrum von Leipzig: relikte des Krieges beherrschten die Innenstädte bis 1989 Sankt-Georgen-Kirche in Wismar: mit bürgerengagement gerettet Auferstanden in alter Pracht Aktuelle Stadtansichten zwischen Usedom und Thüringer Wald im Vergleich zur Zeit vor 1990 von MattHias BäkerMann E s schlug fünf vor zwölf. Hätte sich das DDR-Regime nur zehn oder fünfzehn Jahre länger behauptet, vieles wäre, was nicht ohnehin zwischen Oder und Harz im Krieg zerstört wurde, als kulturelles Erbe unwiederbringlich verlorengegangen. Besonders wurde dies dort augenfällig, wo Harris’ Bombenterror seine Zerstörungswut nicht derart offenbarte wie in Halberstadt oder Magdeburg. In Anlehnung an das GerhartHauptmann-Zitat von 1945 „Wer das Weinen verlernt hat, der lernt es wieder beim Untergang Dresdens“ bedurften allein unter dem Aspekt des Denkmalschutzes wohl viele Tränen einer Trocknung – angesichts einstürzender Straßenzüge in Halle/Saale, verkommener Architekturschätze in Görlitz oder in Brandenburg/Havel etc. Natürlich fand der Wiederaufbau in der sowjetischen Einflußsphäre unter ungleich härteren Bedingungen statt, saugte Moskau seine Satrapie doch wirtschaftlich aus. Doch viele Faktoren, die den Verfall begünstigten, waren systemimmanent. So waren die gewachsenen Stadtlandschaften den Kommunisten ein Dorn im Auge, galt diese „historisch überkommene Bausubstanz“ doch als Symbol alter Zöpfe und war kein rechter Lebensort für Plauen, Nobelstraße: einzige aus dem mittelalter erhalten gebliebene häuserzeile den sozialistischen „neuen Menschen“ – übrigens ähnlich im Westen, wo man unzerstörte Architektur in Fortschritts Namen „autofreundlichen Innenstädten“ opferte. Anders als dort untergruben Ulbrichts Enteignungen jedoch jedes Verantwortungsbewußtsein und förderten die Schlamperei. Besonders hart traf die Altstädte der SED-Beschluß, Mieten zum Wohle der Werktätigen auf dem Niveau der Vorkriegszeit einzufrieren, was Erhaltungsmaßnahmen oder gar Investitionen in die immer maroderen Gebäude jede finanzielle Grundlage entzog. Ein zu spät einsetzender Wertewandel blieb in der bankrotten DDR dann fast folgenlos. Nach der Wiedervereinigung konnte auch ein Wiederaufbau beginnen, wie Hubert Bückens Vorstellung eindrucksvoll belegt. Projekte wie dieser großartige Bildband dürften allerdings nur als Appetitanreger für eine umfassendere Dokumentation der gelungenen nationalen Kollektivleistung gelten. Allen hartnäckigen Ostalgikern und „Soli“-Nörglern sei bis dahin dieser Aperitif empfohlen. Hubert Bücken (Hrsg.): Auferstanden in alter Pracht. Stadtansichten vor der Wende und heute. Zeitgeist Media, Düsseldorf 2009, gebunden, 160 Seiten, Abbildungen, 14,80 Euro Thorsten Rundschloß Oberpöllnitz im thüringischen Triptis: ortspfarrer verhinderte die sprengung Alter Markt in Halle: alte patrizierhäuser stürzten ein, ganze Fassadenreihen fielen in die straßen Hinz Das verlorene Land Aufsätze zur deutschen Geschichtspolitik Mit einem an der DDR-Diktatur geschulten feinen Gespür für Gängelungs-, Bekenntnis- und Unterwerfungsrituale begleitet Thorsten Hinz in seinen Beiträgen für die JF seit 1994 die Geschichtspolitik des wiedervereinigten Deutschlands. Den Kern dieser Geschichtspolitik formulierte einst Ex-Außenminister Fischer mit der These, das neue Deutschland habe sein „einziges Fundament“ im Holocaust. Eine Folge dieser vollständigen Moralisierung des Politischen ist, daß jede öffentliche oder halböffentliche Debatte auf ihre mutmaßliche Nähe zur NS-Ideologie überprüft und durch eine eilfertige Verdachtsrhetorik oft vorzeitig beendet wird. Eine ernsthafte öffentliche Auseinandersetzung mit den Zukunftsfragen der Nation findet nicht mehr statt. Thorsten Hinz sieht in dieser Fehlentwicklung eine Ursache für die aktuelle Krise Deutschlands und eine große Gefahr für die Zukunft der deutschen Demokratie. Der nun vorliegende Band versammelt seine wichtigsten Beiträge zu diesem Thema. 256 Seiten, gebunden, Leinen mit Schutzumschlag und Lesebändchen 24,90 Euro, ISBN 978-3-929886-30-6 / Best.-Nr. beim JF-Buchdienst: 89881 u A . 2 ! e g fla