Biblische, mythische und fremde Frauen

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Biblische, mythische und fremde Frauen
Ingrid Baumgärtner
BIBLISCHE, MYTHISCHE
UND FREMDE FRAUEN.
ZUR KONSTRUKTION VON WEIBLICHKEIT
IN TEXT UND BILD MITTELALTERLICHER
WELTKARTEN
Summary
In the texts and illustrations of medieval Mappae mundi, women are
represented in three different roles: as biblical or Christian characters
(such as Eve in the Garden of Eden, Lot's wife and female saints),
as legendary or mythical figures (e.g. the Queen of Sheba, mermaids)
and as 'other' creatures with a deviant behaviour fiom the European norm (e.g.
Arnazons). The principal goal of this study is to analyse the different
strategies that were developed by male European observers to project a filtered
image of woman in the selective medium of cartography fiom the tenth to the
fifteenth century.
Auf der gegen Ende des 13. Jahrhunderts entstandenen, aus einem
einzigen Stück Pergament gefertigten enzyklopädischen Ökumenekarte
von Hereford' mit den beachtlichen Außenrnaßen 158 X 133 cm hat der
1
Angesichts der umfangreichen Literatur zur Hereford-Weltkarte seien hier nur
einige grundlegende Titel genannt: P(au1) D.A. Harvey: Mappa Mundi. The
Hereford World Map. Toronto, Buffalo 1996 (mit zahlreichen Abbildungen);
Konrad Miller: Mappaemundi: Die ältesten Weltkarten. 6 Bde. Stuttgart 18951898, hier Bd. 4: Die Herefordkarte, 1896 (mit dem Text der Karte); Meryl
Jancey: Mappa mundi. The Map of the World in Hereford Cathedral. Hereford
1987 (mit Bildtafeln). Eine kurze Zusammenfassung des Forschungsstandes mit Angaben zur älteren Literatur findet sich bei Herma Kliege:
Weltbild und Darstellungspraxis hochmittelalterlicher Weltkarten. Münster
1991, S. 84; Anna-Dorothee von den Brincken: Fines Terrae. Die
Enden der Erde und der vierte Kontinent auf mittelalterlichen
Weltkarten. Hannover 1992 (MGH Schriften 36), S. 93-95; Evelyn
Edson: Mapping Time and Space. How Medieval Mapmakers Viewed
Their World. London 1997 (The British Library Studies in Map
History l), ND 1999, S. 139-144; Valerie I. Flint: The Hereford Map:
Its Autor(s), two Scenes and a Border. In: Transactions of the Royal Historical
Abb. la: H e r e f d e r Weltkarte (nach 1283'), Ausschniti mit da
ing aus
- .-.- - ..- ...,.-von ine uean ana Lnapter of
dem Paradies; Abb. mit kundlicher Genehrnirrunr
Hereford Cathedral and the Hereford Mappa h
----P-mutmaßliche Autor des Entwurres,
ein gewisser Kicnara von Haldingham oder Lafford, verschiedene, oft wenig beachtete Frauengestalten abgebildet, die sich drei Weiblichkeitstypen zuordnen lassen,
nämlich biblischen, mythischen und fremden Frauen. Alle drei Kategorien manifestieren sich kartographisch in mehreren Einzelgestalten.
Den ersten Typ der biblischen Frauen verkörpert insbesondere Eva, die
msammen mit Adam im Paradies der Versuchung der Schlange erlag
ehe bei& von dem Cherub mit dem Flammenschwert aus dem Garten
Eden vertrieben wurden (Abb. l a und lb).* Ein weiteres biblisches
Motiv verarbeitet die Geschichte um Lots Frau, die nach Genesis 19-26
während der Flucht auf das zerstörte Sodom 1ind Gom
Society 6
' sdes 8 (1998). S. 1944, Cathetine DelmSmithlRoger J.P. Kain:
English Maps: A Hisiory. Toronto, Buffi10 1999, S. 17 und S. 38 f. ~i~
Hereford-Karte als episches Meisterwerk untersuchte Btian J. Levy Signes et
communioitions "extraterrestres". Les inscriptions marginales de la -''uk'Fm-monde de Herefud (13eme sihle). In: Das große Abenteuer der Entdeckmng der
Welt im Mittelalter. Hrsg. von Danielle B u s c h i n p und Wolfgang S'piewok.
GreifSwald 1995 (Gseifswalder BeitrILge m Mittelalter 43), S. 35-48.
Harvey Mappa Mundi (wie Amn. I), S. 40 mit Abb.
Abb. lb:
Meer zurückblickte und zur Szilzsäule erstarrte.' Den zweiten,
mythischen Typ symbolisieren eine Seejungfrau im Mittelmeer westlich
,.. .
der griechischen Insel Naxos ( ~ b b .2); ferner vielleicht noch die in
Afrika nahe dem Nil eingezeichnete Sphinx mit Vogelfedern, Schlangenschwanz und einem Mädchenkopf sowie die auffallend mit Penis
und Vulva sexualisierten ~ l e m m ~ am
a e ~äußersten Ende Afiikas. Den
dritten T ypus einier fremden, europäische Verhaltensnormen durchbrechenden Weiblichkeit repräsentieren die in Indien regierenden
Frauen, eillwlullztganz im Osten unterhalb des Paradieses, gleichsam
am Ende der Welt (Abb. 3): ebenso wie die Frauen der Psylli am
südlichen Rand Afrikas, deren Männer die eheliche Treue ihrer
Gattinnen dadurch testeten. daß sie die neugeborenen Kinder den
Schlangen aussetzten.'
Abbildungen weiblicher
i und mtsprechemk Texte prägen
allerdings nicht nur die Haclvlun 1X?..1&Ip..&.
w ~ i i n a ~ sondern
rq
auch zahlreiche
andere Mappae Riundi voim ausgehenden 10. bis zur Mitte des 15.
Jahrhunderts. Ger,ade die cmzyklopädische Ausrichtung implizierte un3
4
5
6
7
Harvqr: Mappa Mundi (wie Anm. I), S. 43 mit Albb.
H817rey Mappa Mundi (wie Anm. l), S. 8 mit AblJ.
Für d ai Hinweis bedanke ich michi herzlich
Maraiet Hoogvliet,
Rijksuniiversiteit Groningen.
Harvey: Mappa Mundi (wie 14nm. I), S.6 mit Abl
.. -. - - "
Peter
R
c
.
.-xber:
Visual Encyclopaedias:l h e Heretord and other Mappae Mundi. In:
The Map Collector 48 (1989), S. 2-8, hier S. 3 mit Ahb.
L-'
h
Abb. 2: Herefotdet Weltkarte (nach 1283). Ausschnitt mit der Seejunghu im
Mittelmeer; Abb. mit freundlicher Genehmigung von The Dem an(
of
Hereford Cathedral and the Hereford Mappa Mundi Tmt.
willkürlich auch die Einfügung weiblicher Geschöpfe in die symbolbeladene, wohlstrukturierte göttliche Ordnung, wobei die Kartographen
eine bewußte Auswahl der in Bibel, Sagen und Reiseberichten
beschriebenen Bestimmungen, Funktionen und Fahigkeiten von Frauen
in ihr vielschichtiges Medium übertrugen. Die vielfaltigsten Anregungen boten hier sicherlich die Ostasienberichte mit ihren untethaltsarnen
Schilderungen von Liebes-, Geburts-, Heirats- und Trauerbrauchni,
mit den ßeobachtungen der gavöhnlich männlichen Verfasser zur Frauenherrschaft, Vielweiberei und Witwenbehandlung sowie mit Überle-
Hereforder Weltkarte (nach 1283), Ausschnitt mit den in Indien regieAbh. 3:
renden Frauen; Abb. mit freundlicher Genehmigung von The Dean and Chapter of
Hereford Cathedral and the Hereford Mappa Mundi Tmst.
gungen zu Prostitution, Schmuck und Kleidung, Körperlichkeit und
Jungferns~haft.~
Doch die Frauendarstellungen auf Weltkarten begannen natürlich,
wie auch nicht anders zu erwarten, mit Eva im Paradies, zuerst
veranschaulicht in verschiedenen, aus dem 10. bis beginnenden 13.
Jahrhundert stammenden Exemplaren der Weltkartenserie des Beatus
:n Aufiiß 2wr Petzepition der Geschlechterrollen in den Reiseberichten
:reits Folk:er E. Rei chert: Fremde Frauen. Die Wahrnehmung von
.. .
Geschlechterrollen in den spätmittelalterlichen Orientreiseberichten. In: Die
Begegnung des Westens mit dem Osten. Kongreßakten des 4. Symposions des
Medi:ivistenverbandes in K6ln 1991 aus Anlaß des 1000. Todesjahres der
Kaiserin 'l'heophanu. Hrsg. von Odilo Engels und Peter Schreiner. S i p a r i n p
1993. S. 167-184.
von Lidbana. Bald erfolgte eine Integration der auf weibliche Gestalten
zurückgehenden Territorialentwürfe, insbesondere der Gefilde der
Amazonen. Sie finden sich unter anderem in der um 1180 mit viel
Liebe zum Detail erstellten Wolfenbütteler Überlieferung der hemisphärischen Weltkarte des Lambert von saint-0mer; die fast nur
Namen von Provinzen und Völkern verzeichnet, ebenso in der ovalen,
erst im ausgehenden 12. oder gar irn beginnenden 13. Jahrhundert
entstandenen, falschlich dem Domherrn Heinrich von Mainz
zugeschriebenen Ökumenekarte, die zusammen mit des Honorius'
Augustodunensis enzyklopädischem Handbuch Imago mundi in einer
Handschrift aus dem Besitz der englischen Abtei Sawley überliefert
ist.'' Sie finden sich aber auch in der vermutlich nach 1262 in London
entstandenen, am Anfang eines englischen Gebetbüchleins überlieferten
Londoner Psalterkarte, die viele Informationen auf kleinstem Raum
komprimiert." Doch kurz vorher erstaunen in der Mitte des 13.
Jahrhunderts bereits einzelne Regionalkarten des sehr produktiven
10
"
Text und Reproduktion der Karte bei Miller: Mappaemundi (wie Anm. I), Bd. 3:
Die kleinen Weltkarten. 1895, S. 43-53 und Abb. 4; ausführliche Analyse bei
Danielle Lecoq: La Mappemonde du Liber Floridus ou La Vision du Monde de
Lambert de Saint-Omer. In: Imago Mundi 39 (1987), S. 9-49; vgl. Kliege:
Weltbild (wie Anm. I), S. 72-74 und S. 133-149; Brincken: Fines Terrae (wie
Anm. I), S. 73-76 mit Abb. 29; Edson: Mapping Time and Space (wie AN^. I),
S. 105-111 mit Abb. 6.2.
Cambridge, Corpus Chnsti College, Ms. 66, S. 2; Maße 29,5 X 20,5 cm;vgl.
Text der Karte bei Miller: Mappaemundi, Bd. 3 (wie Anm. 9), S. 21-29;
Danielle Lecoq: La mappemonde d7Henride Mayence ou l'image du monde au
XIl? siecle. In: Iconographie m6di6vaie: image, texte, contexte. Hrsg. von Gaston
Duchet-Suchaw. Paris 1990, S. 155-207 mit Reproduktion; Brincken: Fines
Terrae (wie Anm. l), S. 68-71 mit Abb. 24; P.D.A. Harvey: The Sawley Map
and Other World Maps in Twelfth-CenturyEngland. In: Imago Mundi 49 (1997),
S. 33-42 mit Fig. 1; Edson: Mapping Time and Space (wie Anm. I), S. 111-117
mit Abb. 6.3.
London, British Library, Additional Ms. 28681, f. 9' (Durchmesser 9,s cm); Text
bei Miller: Mappaemundi, Bd. 3 (wie Anm. 9), S. 37-43; Abb. u.a bei P.D.A.
Harvey: Medievai Maps. London 1991, Abb. 20. Zur Einordnung vgl. Kliege:
Weltbild (wie Anm, I), S. 82 £, S. 167-171 und Taf. 11-12 mit Recte und
Versoseite; Brincken: Fines Terrae (wie Anm. I), S. 85-89; Edson: Mapping
Time and Space (wie Anm. I), S. 137; zur Datierung vgl. Nigel Morgan: Early
Gothic Manuscripts. Bd. 2: 1250-1285. London 1988 (Survey of Manuscripts
Illuminated in the British Isles 4,2), Nr. 114, S. 82-85.
Enzyklopädisten Matthaeus Parisiensis mit Texten und Abbildungen
von rauen.'^
Abwechslungsreicher ausgestaltet wird das kartographische
Frauenbild aber erst in den meist größeren Kartenprodukten des späten
Mittelalters. Einen Anfangspunkt setzt wohl, neben der bereits
erwähnten Herefordkarte, die in der Datierung äußerst umstrittene, aber
wohl nicht vor der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts entstandene
Ebstorfer Weltkarte mit ihrer enormen Größe von 358 X 356 cm, deren
Original 1943 in Hannover verbrannte.13 Und auch in manch späteren
kartographischen Erzeugnissen sind Geschichten um und über das
sogenannte "schwache Geschlecht" oft ausführlich und äußerst
individuell verzeichnet. Denken wir nur an einige, im folgenden noch
intensiver zu erörternde Weltkarten des 14. Jahrhunderts, speziell an
die verschieden geformten kartographischen Entwürfe des Ranulph
Higden (gest. 1363),14 dessen PoZychronicon in der verlorenen
12
13
14
Zur Einordnung vgl. Kliege: Weltbild (wie Anm. I), S. 77-79; Brincken: Fines
Terrae (wie Anm. I), S. 106-109 mit Abb. 34; Suzanne Lewis: The Art of
Matthew Paris in the Chronica Majora. Berkeley, Los Angeles, London 1987,
bes. S. 321-376; Evelyn Edson: Matthew Paris' 'other' map of Palestine. In: The
Map Collector 66 (Spring I994), S. 18-22; Edson: Mapping Time and Space
(wie Anm. l), S. 118-125 zu den verschiedenen Exemplaren der Palästinakarte
in London, Cambridge und Oxford.
Dem Original am ntichsten kommen die retuschierten Photographien von Ernst
Sommerbrodt: Die Ebstorfer Weltkarte. im Auftrag des Historischen Vereins für
Niedersachsen, hierbei ein Atlas von 25 Tafeln in Lichtdruck. Hannover 1891;
Text bei Miller: Mappaemundi (wie Anm. I), Bd. 5: Die Ebstorikarte, 1896.
Eine Zusammenfassung der ausgedehnten Forschungsdiskussionen bieten u.a
Birgit Hahn-Woernle: Die Ebstorfer Weltkarte. Ebstorf 1987, 2. Aufl. 1993, mit
zahlreichen Abb.; Ein Weltbild vor Columbus. Die Ebstorfer Weltkarte.
Interdisziplintires Colloquium 1988. Hrsg. von Hartmut Kugler in
Zusammenarbeit mit Eckhard Michael. Weinheim 1991 mit zahlreichen
wichtigen Beiträgen; Brincken: Fines Terrae (wie Anrn. l), S. 91-93; Hartmut
Kugler: Hochmittelalterliche Weltkarten als Geschichtsbilder. In: Hochmittelalterliches Cieschichtsbewußtsein im Spiegel nichthistoriographischer Quellen.
Hrsg. von Hans-Werner Goetz Berlin 1998, S. 179-198; vgl. demnächst dazu
JUrgen Wilke: Die Ebstorfer Weltkarte. Bielefeld, Giitersloh 2000
(Ver6ffentlichungen des Instituts Alr Historische Landesforschung der
Universittit Gottingen 39).
Millcr: Mappaemundi, Bd. 3 (wie Anm. 9), S. 94-109; vgl. David Wdward:
Mcdicval Mappa~.mundi.In: l'hc History of Cartograpliy. Vol. I: Cartograpliy in
Prehistoric, Ancicnt, and Mcdieval Europe and the Mediterranem. Hrsg. von J.
B. 1CIarlcy und David Woodward. Chicago, London 1987, S. 286-370, hier S. 348
und S. 352 E mit Abb. 18.67-18.69; Klicge: Weltbild (wie Anm. I), S. 85;
Originalfassung der ersten Version wohl noch keine Karte enthielt, oder
an den reich ausgeschmückten, um 1375 auf Mallorca von den
Zeichnern Abraham und Jafuda Cresques angefertigten Katalanischen
Weltatlas, der nur in der aufwendigen Kopie fur König Kar1 V. von
Frankreich überliefert ist.15
Eine Ausstattung mit Elementen aus der Frauenwelt setzte sich im
15. Jahrhundert fort. Dies beweisen die in Niello-Technik gefertigte
Borgia-Karte (um 1430), die nach arabischem Vorbild gesüdete
Weltkarte des Salzburger Benediktiners Andreas Walsperger, die 1448
in der geographisch-kartographischen Tradition der Klosterneuburger
Schule entstand,'' und die mandelförmige, ptolemäisches Erbe aufgreifende Genueser weltkarte17 von 1457. Auch wenn sich der Umgang
der Kartographen mit der Überlieferung über Frauen im Laufe der Zeit
deutlich veränderte, wobei besonders die Abbildungen anfangs zunahmen, um dann teilweise wieder m verschwinden, belebten zumindest einzelne kurze Textpassagen über weibliche Besonderheiten oder
Einflußspharen den Kartenraum. Ein solcher Ansatz gilt selbst fir die
1459 fur den portugiesischen Hof vollendete, aber nur in der Vene
zianischen Kopie erhaltene Mappa mundi des betont kritischen Venezianischen Kamaldulensermönchs Fra Mauro, dessen äußerst anregende, nach arabischem Vorbild gesüdete Zusammenfassung des geogra-
l5
l6
17
Brincken: Fines Terrae (wie Anm. I), S. 112 f.; Harvey: Medieval Maps (wie
Anm. I I), S. 34 Abb. 26.
Paris, Biblioth2que Nationale, Esp. 30; Faksimile: Der Katalanische Weltatlas
vom Jahre 1375. Mit einer E i n f i h n g und Übersetzungen von Hans-Christian
Freiesleben. Stuttgart 1977 (Quellen und Forschungen zur Geschichte der
Geographie und der Reisen 11); Mapp~mndi.The Catalan Atlas of the Y e g
1375. Hrsg. von Georges Grosjean. Zürich 1978; vgl. W~odward:&dieVal
Mappaemundi (wie Anm. 14), S. 3 15.
Biblioteca Apostolica Vaticana, Pal. lat. 1362 B; Faksimile: Weltkarte des
Andrem Walsperger, Pal. lat. 1362 B. Erläuterung von Edmund Pognon. zkich
1987; Text bei Miller: Mappaemundi, Bd. 3 (wie Anm. 9), S. 147 E; vgl. Konrad
Kretschmer: Eine neue mittelalterliche Weltkarte der vatikanischen Bibliothek.
~ n Zeitschrift
:
der Gesellschail für Erdkunde zu Berlin 26 (1891), S. 371-406;
Woodwgd: Medieval Mappaemundi (wie Anm. 141, S. 316; Brincken: Fines
Terrae (wie Anm. I), S. 145-147.
Edward Luther Stevenson: Genoese World Map 1457. Facsimiie arid Critial
Text. New York 1912 (Publications of the Hispanic S o c i e ~
of America 831,
phischen Wissens aufgrund der enormen Größe von 196 X 193 cm
ungeahnte Möglichkeiten für ausführliche Legenden bot.''
Diese geraffte Aufiählung soll aber nicht suggerieren, daß Frauen
oder zumindest weibliche Konzepte auf den kartographischen
Erzeugnissen des Mittelalters grundsätzlich vertreten sein mußten.
Erinnert sei nur an die große Zahl text- und bildarmer Ökumenekarten,
auf denen keine Frauen und meist auch keine Männer, sondern
höchstens Völker oder gleichsam geschlechtslos agierende Menschen
eingetragen sind.lg Auch dieser Kartentyp erstreckt sich, soweit wir
wissen, über das ganze Mittelalter. Zu denken ist beispieIsweise an das
spirituelle, rechteckige Weltbild des Kosmas Indikopleustes, die
zahlreichen schematischen Sallustkarten sowie die beiden regional
orientierten Hieronymuskarten, die verschiedenen Zonenkarten des
Macrobius, aber auch an die trotz ihrer Ostung unkonventionelle und
ovale Weltkarte von Albi, die (im Spanien oder Septimanien des
ausgehenden 8. Jahrhunderts skizziert) in einer Sammefhandschrift mit
geographischen Texten von Orosius überliefert ist.20 Zu den fur die
Ethnographie Asiens und Afrikas weniger ergiebigen frühen Karten
zählt letztlich auch die wohl im beginnenden 11. Jahrhundert
entstandene, stark auf Europa fxierte ~ottoniana?~eine geostete
18
19
20
Faksimile, Text und Erläuterungen: Il Mappamondo di Fra Mauro. A cura di
Tullia Gasparrini Leporace. Presentazione di Roberto Almagia. Rom 1956;
Marcel Destombes: Mappemondes A. D. 1200-1500. Catalogue pripad par la
Commission des Cartes Anciennes de lYUnionGhgraphique Internationale.
Arnsterdam 1964, S. 223-226, Nr. 52,14; vgl. ingrid Baumgärtner: Kartographie,
Reisebericht und Humanismus. Die Erfahrung in der Weltkarte des
venezianischen Kamaldulensermönchs Fra Mauro (gest. 1459). In: Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 3 (1998), Heft 2: Fernreisen im
Mittelalter. Hrsg. von Folker Reichert. Berlin 1998, S. 161-197.
Vgl. Miller: Mappaemundi, Bd. 3 (wie Anrn. 9), passim.
Albi, Bibliothkque Municipale, MS 29, £ 57"; Text und Nachzeichnung bei
Miller: Mappaemundi, Bd. 3 (wie Anrn. 9), S. 57-59. Zu Kartentext und
~ber~ieferun~szusarnrnenhan~
vgl. Mappa Mundi e codice Aibingensi 29. In:
Itineraria et alia geographica. Turnholti 1965 (Corpus Christianorum Series
Latina 175), S. 468-494, bes. S. 469 mit Abb.; zum Stand der Interpretation vgl.
Edson: Mapping Time and Space (wie Anm. I), S. 32-35 mit Abb. 2.4.
London, British Museum, Cotton Tiberius B. V, f 56" (auch Angelsächsische
Weltkarte oder Weltkarte des Tiberius genannt); Faksimile: An EleventhCentury Anglo-Saxon nlustrated Miscellany. Hrsg. von Peter McGurk u.a.
Kopenhagen 1983 (Early English manuscripts in facsimile 21); Text der Karte
und Umzeichnung bei Miller: Mappaemundi, Bd. 3 (wie Anm. 9), S. 29-37; vgl.
Kliege: Weltbild (wie Anm. I), S. 65 £; Harvey: Medieval Maps (wie Anm. 1I),
rechteckige Mappa mundi, die fir ihren geographischen Realismus und
großen Detailreichtum bekannt ist.
Selbst für das 12. bis 14. Jahrhundert sind zahlreiche Ökumene
karten ohne eine Anspielung auf weibliche Lebensräume zu nennen,
darunter das farbenfreudige Exemplar des Guido von Pisa (1118)
sowie die in der Nomenklatur stark von Isidor abhängige einfache TyOZeichnung im Werk des Wilhelrn von Tripolis, die nur in einer
AbschriR des 14. Jahrhunderts seines um 1273 verfaßten Werkes
erhalten istu Dazu gehören auch die malerische Karte der Bibliothek
Sainte Gdnevikve in Paris (ca. 1364-1372) und die farbigen Skizzen
aus der mehrfach überlieferten, 1344 verfaßten Chronik des Franzis~ ~ Frauenlosigkeit manifestierte sich
kaners Johannes ~ t i n e n s i s .Und
ferner in zahlreichen unter dem Einfluß der Portolankartographie
stehenden italienischen Erzeugnissen in der Zeit von Pietro Vesconte
(um 1320) bis Andrea Bianco (1436), obwohl sogar dieser fur
praktische Belange produzierte Kartentyp die Einbettung weiblicher
Figuren und Konzepte nicht grundsätzlich ausschloß.
Eine erste Durchsicht der genannten Weltentwürfe zeigt, daß
Frauen, übrigens ähnlich wie Männer, auf mittelalteriichen Mappae
mundi prinzipiell in drei verschiedenen Funktionen präsentiert werden,
als Gestalten aus Bibel und Christentum, als mythische, historische
oder auch pseudohistorische Individuen sowie als fremde, von der
europäischen Verhaltensnorm abweichende Wesen. Dieses Potential
unterschiedlicher, vom 10. bis 15. Jahrhundert in Bild und Text
entwickelter Vorstellungen von Frauen ist im folgenden exemplarisch
zu beleuchten und in einem ersten Zugriff zu erfassen. Zu erwarten ist
kein Entwurf einer umfassenden Theorie von differenzierten Wahrnehmungsstrategien oder Geschlechterverhalten; da& eignen sich die
wortreichen Reiseberichte sicherlich besser. Aber immerhin sind die
Weltkarten ein Teil der Wirkungsgeschichte der "Berichte; sie sind
bildlicher Ausdruck einer Perzeption von Geschlechterrollen, die der
europäische männliche Beobachter (und fast alle Berichterstatter und
22
23
S. 21-26 mit farbiger Abb.; Harvey: Mappa Mundi (wie Anm. I), S. 26-28 mit
farbiger Abb.; Edson: Mapping Time and Space (wie Anm. I), S. 74-80; DdanoSmithlKain:Engiish Maps (wie Anm. l), S. 34-36 mit Abb.
Text und lineare Umzeichnung bei Miller: Mappaemundi, Bd. 3 (wie Anm. 91,
S. 121 £; vgi. Brincken: Fines Terrae (wie Anm. l), S. 89 f.
Zu den Karten vgi. Brincken: Fines Terrae (wie Anm. I), S. 135 £
Kartenzeichner waren Männer) angesichts fremder Frauen in schwer
zugänglichen und kaum faßbaren Welten entwickelte.
Bescheidenes Ziel der folgenden Ausfihrungen ist es deshalb,
anhand einiger Beispiele die Gattungstraditionen und Repräsentationsstrategien der Kartographie zu analysieren, die Vielfalt der
kartographischen Repräsentation wahrgenommener weiblicher Wirklichkeit auhzeigen und dann die verschiedenen Strategien fur die
Aneignung des Wissens über fiemde Frauen im selektiven und
traditionellen Medium der hoch- und spätmittelalterlichenKartographie
zu erläutern. Dabei können die zahllosen Variationen, Kombinationen
und Permutationen nur partiell berücksichtigt werden, so daß der
folgende erste Überblick keinerlei Anspruch auf Geschlossenheit und
Vollständigkeit erhebt und eher als eine Sammlung von Kuriositäten,
Widersprüchlichkeiten und Ungleichzeitigkeiten zu betrachten ist.
1. Weibliche Gestalten aus Bibel und Christentum
Bibel und Christentum tragen zu unserem Thema vielleicht weniger bei,
als wir erwarten. Häufiger eingezeichnet ist fast nur das geradezu als
Kennzeichen mittelalterlicher Mappae mundi geltende Paradies, das im
hohen Mittelalter meist versinnbildlicht wird mit Adam und Eva, der
ersten Frau der Weltgeschichte, die mit ihrem Sündenfall Sexualität
und Tod in die Welt einführte. Die Gestalt von Eva, neben Adam und
der um den Baum der Erkenntnis gewundenen Schlange, erscheint am
fnihesten in der Gruppe der W z e h n mehr oder weniger stark
divergierenden Weltkarten, die sich in den 26 illustrierten
Handschriften des Apokalypsekommentars des Beatus von Lidbana
erhalten haben.24 In der Regel nehmen diese Beatus-Karten die
24
Vgl. die Zusammenstellung der Abbildungen der 26 illustrierten Codices des
Apokalypsekommentars bei John Williams: The Illustrated Beatus. A Corpus of
the Illustrations of the Commentary on the Apocalypse. 5 Bde., erschienen Bd. 13. London 1994 und 1998, Bd. 1: htroduction, S. 28 £, S. 51 £, S. 181 und
jeweils am Ende der Bände. Die AufStellung zeigt, daß 15 Codices Weltkarten
enthielten, davon ist die Weltkarte in der heute unvollständigen Handschriff
Eswrial, Biblioteca del Monasterio, t.iI.5 nicht mehr überliefert; allerdings
fiihrt John Williams die einzige isoliert vom Apokalypsenkommentar tradierte
und erst spät entdeckte Weltkarte in der Biblioteca Ambrosiana in Mailand in
seiner Liste nicht auf. Destombes: Mappemondes (wie Anm. 18), S. 40-42 kennt
davon nur 13 Karten des 10. bis 12. Jahrhunderts; vgl. auch die aersicht bei
Kliege: Weltbild (wie Anm. I), S. 61 £ Zu den Legenden und dem Inhalt
einzelner Karten vgl. Miller: Mappaemundi (wie Anm. I), Bd. 1: Die Weltkarte
Doppelseite eines Codex ein; zusätzlich zum irdischen Paradies, das
zwar nicht außerhalb, aber jenseits der menschlichen Erfahrungsmöglichkeiten verortet wurde, ist immer noch ein vierter Kontinent
abgebildet. Bei den Paradiesdarstellungen lassen sich zwei verschieden
ausgestaltete Typen herauskristallisieren; differenzierendes Kriterium
ist die graphische Ausstattung, denn den Garten Eden belebten
entweder die Urmenschen Adam und Eva neben dem Feigenbaum mit
der Schlange oder (weniger häufig und gleichsam als abstrakte Lösung)
nur die vier Paradiesflüsse.
Der erste, stärker religiös orientierte Typ besticht durch eine
signifikante Hervorhebung des Paradieses mit Adam und Eva sowie
einem Feigen- oder Apfelbaum, um dessen Stamm sich die Schlange
rankt. Dieses Design akzentuiert den Garten Eden als Inbegriff der
Erschaffung des Menschen und der nachfolgenden Vertreibung, folglich
den Beginn der irdischen menschlichen Geschichte. Im sogenannten
~aius-Beatus2', einem der ältesten Codices der Tradition, der
vermutlich spätestens 962 entstand, liegt auf der rechten Kartenhälfte
das Paradies, in dem Eva auf der linken Seite Adams steht und beide
mit einem großen Feigenblatt ihre Scham bedecken. Die Szene spielt
sich also nach dem vollzogenen Sündenfall ab und unmittelbar vor der
Vertreibung aus dem Paradies, während die Schlange sich noch um den
stilisierten fruchttragenden Baum neben Eva windet und ein
unbestimmbarer Baum neben Adam die Symmetrie vollendet. Eine
außerordentlich ähnliche Anordnung zeigt auch das fiühe Exemplar aus
~ a l l a d o l i d ~entstanden
~,
um 970, auf dem nur der ntsätzliche Baum
neben Adam fehlt. Und die Maius-Tradition setzt sich zudem in dem
um 1047 niedergeschriebenen Facundus-~eatus~~
fort, in dem das
25
27
des Beatus (776 n.Chr.), 1895. Wichtige Hinweise geben auch Brincken: Fines
Terrae (wie Anm. I), S. 56-58; Edson: Mapping Time and Space (wie Anm. I),
S. 149-159.
New York, Pierpont Morgan, Ms. 644, f. 33'-34'; Reproduktion: A Spanish
Apocalypse. The Morgan Beatus Manuscript. Introduction arid Commentmies by
John Williams, Codicological Analysis by Barbara A. Shailor. New York 1991,
33'-34'; Beatus-Apokalypse der Pierpont Morgan Library. Ein Hauptwerk der
spanischen Buchmalerei des 10. Jahrhunderts. EinfUhrung und Kommentar von
John Williams. Stuttgart 1991.
Valladolid, Biblioteca de la Universidad, Ms. 433, f. 36'-37'; vgl. Reproduktion
bei Miller: Mappaemundi (wie Anm. I), Bd. 2: Atlas von 16 Lichtdruck-Tafeln,
1897, Abb. 5.
Madrid, Biblioteca Nacional, Vitrina 14-2, f. 63'64'; vgl. Faksimile: Beato di
Liebana: Miniature del Beato de Fernando I y Sancha (Codice B. N. Madrid, Vit,
deutlich vergrößerte Paradies die rechte Kartenhiilfte dominiert sowie
Evas und Adams Bnistrippen markant ausgefonnt sind. Die Szene
betont jeweils den erfolgten Sündenfall und verweist, verstärkt durch
den unübersehbaren Schlangenkopf direkt neben Evas Haupt, auf die
selbst verschuldete, kurz bevorstehende Vertreibung.
Abb. 4:
Silos-Beatus (spätestens 1109). Ausschnitt mit Adam und Eva im
Paradies; London, Rritish Library, Additional Ms. 11695, f. 39'-40'; Abb. by
permission of The British Library. London.
14-2). Hrsg. von Umberto Eco. Parma 1973; Reproduktion bei Miller:
Mappaemundi, Rd. 2 (wie Anrn. 26), Abb. 6; vgl. John Williarns: Isidore,
Orosius and the Reatus Map. In: Imago Mundi 49 (1997), S. 7-32 mit Fig. 9.
Die geschilderte Komposition beherrscht ferner die nur als Entwurf
u n dem
~~~
gezeichnete, noch nicht ausgemalte Seu d ' ~ r ~ e l l - ~ a s saus
letzten Viertel des 10. Jahrhunderts, auf der das rechteckige irdische
Paradies weiter nach rechts Richtung Mika verrückt ist und die
Schlange sich noch um einen imaginären Baum windet. Und selbst der
deutlich jüngere Silos-Beatus in London, dessen Illuminationen erst im
W e n 12. Jahrhundert, genauer 1109, vollendet wurden;9 präsentiert
exakt dieses Bild der Stammeltern neben dem Apfelbaum mit der
Schlange. Die Haltung der Schlange deutet an, daß die Versuchung von
ihr auf Eva ausgegangen ist (Abb. 4). Greifbarer wird der Vorgang des
Sündenfalls nur auf einer einzigen Beatus-Karte, nämlich auf der
besonders detailreichen ovalen Weltkarte aus saint-sever;' entstanden
zwischen 1028 und 1072. Hier pflückt die langhaarige blonde
Verfuhrerin Eva, unmißverständlich vor dem Essen der Frucht, gerade
den Apfel vom Baum mit der Schlange, während Adam noch ohne
Feigenblatt im Zustand der Unschuld verweilt. Diese herausragende
Paradiesversion wird (ebenso wie die im äußeren, die Welt umgebenden
Ozean schwimmenden Fische) im allgemeinen dem fihrenden Iliuminator des Codex, Stephanus Garsia Placidus, zugeschrieben, dem
Leiter und 'Chefdesigner' der angesehenen produktionswerkstatt,3'
dessen Hand offensichtlich die wichtigsten Teile der Weltkarte entwarf.
In mehreren Varianten dieses ersten Beatkskartentyps wurden die
Komponenten leicht reduziert, indem man insbesondere das Paradies
29
30
31
Seu d'urgell, Museu Diocesh, Num. Inv. 501, E VIV-VIIr(im Herbst 1996
gestohlen); Abb. bei Williams: The iilustrated Beatus (wie Anm. 24), Bd. 3: The
Tenth and Eleventh Centuries, Abb. 10-11.
London, British Library, Additional Ms. 11695, f 39'40'; vgl. Reproduktion bei
Miller: Mappaemundi, Bd. 2 (wie Anm. 26), Abb. 7; Harvey: Mappa Mundi (wie
Anm. I), S. 24 mit Abb.
Paris, Bibliothkque Nationale, Lat. 8878, E 45bisv45ter'; Faksimile:
Comentarios al Apocalipsis y al Libro de Daniel. Edition facsimil del ddice de
la abadia de Saint-Sever. 2 Bde. Madrid 1984; vgl. Reproduktion bei Miller:
Mappaemundi, Bd. 1 (wie Anm. 24), Abb. 1; Anna-Dorothee von den Brincken:
Weltbild der lateinischen Universalhistoriker und -kartographen. In: Popoli e
paesi nella cultura altomedievale, 23-29 aprile 1981. Vol. 1. Spoleto 1983
(Settimane di studio del centro di studi sull'alto medioevo 29), S. 377-421
Cdiscussione' S. 409421), hier Tav. Xm; Williams: The Illustrated Beatus (wie
Anm. 241, Bd. 3, S. 47 und Abb. 392-393; Kenneth Nebenlaht: Atlas aim
Heiligen Land. Karten der Terra Sancta durch zwei Jahrtausende, Stuttgart 19959
S. 26 f.
Williams: The Illustrated Beatus (wie Anm. 24), Bd. 3, X. 44.
auf die Stammeltern einengte und die Schlange an der rechten
Umrandung des Paradieses hochklettern ließ. Frühestes Beispiel ist der
975 verfaßte Beatuscodex von ~ e r o n aDieser
. ~ ~ Fassung folgen auch
te~~
die im 11. oder frühen 12. Jahrhundert entstandene ~ u r i n - ~ a r und
das auffallend farbig ausgeschmückte, aus der zweiten Hälfte des 12.
Jahrhunderts stammende Manuskript aus ~anchester:~ in dem
allerdings Eva mit Adam den Platz tauschte, um sich dadurch
eigenartigerweise von der Schlange zu entfernen. Dieser Platztausch ist
sehr ungewöhnlich; er läßt sich lediglich mit außerparadiesischen
Einflüssen und einem mutmaßlichen Gesamtkonzept der Ökumenekarte
erklären, das eine veränderte Position von Adam und damit auch von
Eva erforderte. Allerdings wird diese unkonventionelle Positionierung
der Ureltern zueinander erneut in der wohl spätesten Beatuskarte von
~ r r o aus
~ oder
~ ersten
~
Häifte des 13. Jahrhunderts aufgegriffen. In
diesem dekorativ überwucherten Weltbild ist der Baum mit der
Schlange jedoch so weit nach rechts verschoben, daß er vollkommen
aus dem Garten Eden evakuiert ist, während der seine Scham
bedeckende Adam mit dem Zeigefmger auf die schuldige Eva deutet,
die, ein Blatt vor dem Geschlecht, mit abwehrender Geste darauf
reagiert. Mit dieser Anklage gewinnt, gleichsam in Anpassung an die
veränderte Mentalität der Zeitgenossen, die Sündhafiigkeit der
Urmutter als Vertreterin der Weiblichkeit ein neues Gewicht. Zu
untersuchen wäre in diesem Zusammenhang, ob die Kartographen die
zunehmend polarisierende Sicht der Theologen auf Frauen als
Sünderinnen und jungfkäuliche Heilige auch auf andere weibliche
Gestalten aus Bibel und Christentum übertrugen. Zumindest könnte der
kartographische Weltentwurf im erst 1220 fertiggestellten Codex von
32
33
34
35
Gerona, Museu de la Catedral, Num. Inv. 7 (1 I), f. 54"-55) vgl. Reproduktion
bei Miller: Mappaemundi, Bd. 2 (wie Anrn. 26), Abb. 3b; Abb. bei Williams:
The Iilustrated Beatus (wie Anm. 24), Bd. 1, S. 52 mit Abb. 22.
Turin, Bibliotem Nazionale Universitaria, Sgn. 1.11.1, f. 45'46'; vgl.
Reproduktion bei Miller: Mappaemundi, Bd. 2 (wie Anm. 26), Abb, 8.
Manchester, John Rylands University Library, Ms. lat. 8, E 43'44'; Faksimile:
Beatus a Liebana in Apocalypsin Commentarius: Manchester, the John Rylands
University Library Latin MS 8. Hrsg. von Peter Klein. München 1990 (Codices
illurninati medii aevi 16).
Paris, Bibliotheque Nationale, Nouv. acq. lat. 2290, f. 13"-14'; vgl. Abb. bei Leo
Bagrow1R.A. Skelton: Meister der Kartographie. 4. neu bearbeitete und
erweiterte Aufl. Berlin 1973, S. 310 mit Tafel XXUI.
Las ~ u e l ~ aufgrund
a s ~ ~ der bewegten Gestik der Ureltern in die
gleiche Richtung weisen, wenngleich hier - einzigartig in der
Beatustradition, aber durchaus gewöhnlich für hochmittelalterliche
Paradiesdarstellungen - der Baum mit der Schlange zwischen Adam
und Eva steht.
Diese personale Wiedergabe des Beginns der menschlichen
Geschichte fehlt auf drei ~eatus- arten:^ die anstelle von Adam und
Eva nur die zentrale Quelle mit den in die vier Teile der Welt fließenden
Paradiesflüssen reproduzieren. Ein solch abstraktes Layout betont die
Schöpfung und den Ursprung der Welt in Gott, nicht mehr den
menschlichen, in erster Linie weiblichen Ungehorsam. Mit den vier in
die Ecken fließenden Urströmen dekoriert ist der weiterhin in der
rechten Kartenhälfte angesiedelte Garten Eden sowohl auf der
besonders kunstfiig ornamentierten, auf 1086 datierten Osma- arte^*
als auch auf der gegen Ende des 12. Jahrhunderts entstandenen
Ofiakarte in ~ a i l a n d . ~An
' das Urfluß-Modell knüpfte zudem die
konfus und vollkommen unsystematisch wirkende Beatus-Karte in
Paris an, deren willkürliche Zusammenstellung von Orten den
Sinngehalt des ausnahmsweise in die linke Kartenhälfte verschobenen,
krakenhaft gestalteten Paradieses stark relati~iert.~'
Die kurze Analyse der sich verändernden Rolle Evas im Paradies
der verschiedenen Beatus-Karten zeigt das Bemühen der Karten36
37
38
39
40
New York, Pierpont Morgan Library, Ms. 429, f. 3lV-32) Anscari M. Mund6
und Manuel Shchez Mariana: E1 comentario de Beato al Apocalipsis: Cataogo
de los ddices. Madrid 1976, Nr. 18 mit weiterer Literatur.
Aufgrund ihres fragmentarischen Zustands können der hrväo-Beatus (Lissabon,
Arquivo Nacional da Torre do Tombo,
160, datiert 1189) und die
rudimentär erhaltene Wandkarte in San Pedro de Rocas nicht berücksichtigt
werden.
Bwgo de Osma, Archivo de la Catedral, Ms. 1, f 34'-35'; Faksimile: Apocalipsis
Beati Liebanensis Burgi Oxomensis. Valencia 1992; vgl. Reproduktion bei
Miller: Mappaemundi, Bd. 2 (wie
261, Abba 3a; Brincken: Fines Terrae
(wie Anm. l), Abb. 17; Edson: Mapping Time arid Spate (wie Anm. I), ~ b b .
8.3; Williarns: The Illustrated Beatus (wie Anm. 2% Bd. 1, S. 51 mit Abb. 21.
Mailand, Biblioteca Arnbrosiana, F 105 Sup., f 71"-72'; nicht bei Williams: The
Ulustrated Beatus (wie Anm. 24). Vgl. Luis V m u e z de Parga: Un mapa
desconocido de la serie de los "Beatos". In: Actas del Simposio Para el estudio
de los c6dices del 'Comentario al Apocalipsis' de Beato de Liebana. ~ d 1..
Madrid 1978, S. 273-278.
Paris, Bibliotheque Nationale, Nouv. acq. lat. 1366, f 24"-25'; vgl. Reproduktion
bei Miller: Mappaemundi, Bd. 2 (wie Anm. 2619 Abb. 2; BagrowISkelton:
Meister (wie Anm. 35), S. 310 mit Tafel m.
zeichner, eigene Intentionen bezüglich der Wahrnehmung Evas bildlich
umzusetzen und Vorgaben aus Vorgängerkarten fur den eigenen Bedarf
zu modif~ieren.Auffallend ist der in Szene gesetzte Funktionswandel
von der anfangs figurativ fast gleichberechtigten Partnerin zum letztlich
von Adam offen angeklagten, der Zuwiderhandlung gegen göttliches
Gebot beschuldigten Wesen, wobei der Sündenfall nicht nur die
Bedeutung der Geschlechtlichkeit grundlegend verändert, sondern auch
zur Einführung von Konkupiszenz und Geburtsschmen beigetragen
haben ~011."~
In der Herefordkarte ist die Paradiesdarstellung mit Adam und Eva,
wie eingangs geschildert, in zwei konsekutiven Phasen wiedergegeben
(oben Abb. l a und lb):42 In dem von der Welt durch eine Mauer und
einen Wassergraben abgetre~ten Paradies erfolgt zuerst die
Versuchung. Um den im Zentrum verankerten Baum der Erkenntnis
windet sich die Schlange, deren Kopf in Richtung Eva vorstößt, um mit
dem Maul die verbotene Frucht hinüberzureichen, während der hinter
Eva stehende Adam bereits in seinen Apfel beißt. Aus den Wurzeln des
zentralen Baumes entspringen die vier Paradiesflüsse Euphrat, Tigris,
Gehon (Elon) und Phison. Außerhalb der turmartig befestigten
Paradiespforte ("Paradisi porte") sehen wir rechts darunter die zweite
Phase, die Vertreibung aus dem Paradies durch den Cherub mit dem
erhobenen Schwert in der Rechten. Mit der linken Hand schiebt der
Wächterengel geradezu die unter der neuen Last gebeugten
Stammeltern, über denen der Text "Expulsio ade et eva" das Ereignis
kommentiert, aus dem Paradies. Die Botschaft scheint klar: Die
vertriebenen Stammeltern haben das Recht auf eine Rückkehr ins
Paradies verwirkt und müssen mit ihren Nachkommen Buße leisten.
Nicht veranschaulicht ist allerdings die weitergehende Interpretation der
Theologen, die sündige Frau habe in Zukunft dem Mann zu gehorchen,
41
42
ZU den Paradieskonzeptionen des fiühen und hohen Mittelalters vgl. Reinhold
Grimm: Paradisus coelestis, paradisus terrestris. Zur Auslegungsgeschichte des
Paradieses im Abendland bis um 1200. München 1977 (Medium aevum 33),
passim.
Vgl. Frcd Plaut: Where is Pwadise? Tlie Mapping of a Myth. In: Map Collector
29 (Dce. 1984), S, 2-7, bcs. S. 2 mit einer Reproduktion der alten scliematisclien
Umrsiclinung von 1854, welche die Vorghge in und außerhalb des Paradieses
deutlicher crkcnncn Iüßt; vgl. auch die Beschreibung bei W.L.Bevan und H.W.
Phillott: Mcdicvd Gcogr:r:iphy.An Essay in Illustration of the I-Iereford Mappa
Muridi. Iandon, IIcrcfard 1873, ND Atiistcrdiun 1969, S. 25; Janutcey: Mappa
tnundi (wie Anin. I), Segt11cni 2.
Abb. 5:
Hereforder Weltkarte (nach 1283), ,4ussdinitt mit Lots :Frau; Abb. mit
freundlicher Genehmigung
ean and Cliapter of H erefwd Canhedral and the
Hereford Mappa Mundi.
da sie das vt
Heil nur durch Unterordnung m r
nnen
könne.
Die Ikonograpnie
H-fordkarte,
mit der enzyklopadischen
Vielfalt der Erde a15; Spiegelbild des göttliclien w i i ens,
ist un~
gewöhnlich ausgeklügt:It, da dris Thema des weiiblichen 1Ungehorsams
nochmals aufgegriffer.i wird.
-,
nämlich mit Lo„tc Er.x.
,
deren nach
Genesis 19,26 verbotener Blicl zurück auf Sodom und Gomorrha die
ohnehin Namenlose nIr Salzsäiule erstarren ließ, beschrieben mit den
.-*-*- :- .
Worten "uxor Lods muuiui
in petra salis" (Abb. 5). Dieses Motiv war
in den zeitgenössischen Reiseberichten vorgegeben. Bereits 1 172173
&schrieb der jüdische, in den Jahren 1168 und 1169 durch Paläsha
reisende Benjamin von Tudela in seinem auf Tagebuchn~tiz~n
zurückgehenden Buch der Reisen den Blick vom Ölberg auf das M=
von sodom, in dessen Nähe die Salzsäule stehen sollte, "die Lots Weib
war [...I. Und die Schafe und Ziegen lecken an ihr. Und danach wiichst
-W-
- - V -
.„,
sie wieder [und wird3 wie
Eindringlicher konnte weibliche
Renitenz und deren fortwährende Bestrahng nicht dargestellt werden.
Und auch wenn nicht alle Reisenden bereit waren, an die Existenz von
Lots Frau im vegetationsarmen Umland des Toten Meeres zu glauben,
so wurde sie trotzdem gerne beiläufig genannt. Denken wir nur an
Petachja von Regensburg, der rund ein Jahrzehnt später seine aus
persönlicher Erfahrung gewonnenen Zweifel mitteilte.44
Häufig suchten die Pilger jedoch sehr gezielt nach der in der Bibel
nur in einem kurzen Satz Erwähnten. Nach einem langjährigen
Aufenthalt irn Nahen Osten verwies der Dominikaner Burchard von
Monte Sion beispielsweise in seinem um 1283 verfaßten sachkundigen
und weit verbreiteten Handbuch Descriptio terrae sanctae auf die
Schwierigkeiten solcher Nachforschungen irn sarazenischen Territori~rn.4~
Trotz aller Unsicherheiten entschlossen sich zumindest zwei in
England arbeitende Kartographen, den Platz in ihren Produkten zu
kennzeichnen. Außer dem Autor der Herefordkarte war dies Matthaeus
Parisiensis, Mönch der großen Benediktinerabtei St. Albans im
englischen Hertfordshire; er verzeichnete gegen Mitte des 13. Jahrhunderts auf dem mit Bildern zurückhaltenden Oxforder Exemplar
seiner Palästinakarte einen Großteil der von Benjamin genannten
darunter auch die "Uxor Loth" als "Statua salis", abgebildet als
43
44
45
46
Benjamin von Tudela: Buch der Reisen (Sefär ha-Massa'ot). Ins Deutsche
übertr. von Rolf P. Schmitz. Fradcfkt am Main, Bern, New York, Paris 1988
(Judentum und Umwelt 22), S. 18; Die Reisen des Rabbi Benjamin bar Jona von
Tudela. In: Benjamin von Tudela, Petachja von Regensburg. Jüdische Reisen im
Mittelalter. Aus dem Hebräischen übersetzt von Stefan Schreiner. Leipzig 1991
(Sammlung Dieterich 416), S. 5-1 19, hier S. 44; Zitat nach: Syrien und Palästina
nach dem Reisebericht des Benjamin von Tudela. Hrsg. von Hans Peter Rüger.
Wiesbaden 1990 (Abhandlungen des Deutschen Palästinavereins 12), S. 45.
Die Reise des Rabbi Petachja ben Ja'aqov von Regensburg. In: Benjamin von
Tudela, Petachja von Regensburg. Jüdische Reisen im Mittelalter (wie Anm.
43), S. 121-164, hier S. 161 zu dem als Salzmeer bezeichneten Toten Meer:
"Dort gibt es kein Kraut. Die Salzsäule, hat er erzählt, hat er nicht gesehen. Es
gibt sie überhaupt nicht."
Burchard of Mt. Sion: Description of the Holy Land. London 1896 (Library of
the Palestine Pilgrims' Text Society), ND New York 1971, S. 59: "I strove hard
to See this, but the Saracens told me that the place was unsafe ... I have learned
since that it was not so.)'
Syrien und Palästina nach dem Reisebericht des Benjamin von Tudela. Hrsg. von
Rüger (wie Anm. 43), S. 15 mit Abb. Verzeichnet ist hier die Uxor Loth als
Statua salis (auf einem Mons), zudem abgebildet als eine Frauengestalt in der
Nähe von Sodoma, Gomorra und dem Toten Meer.
eine Frauengestalt auf einem Hügel in der Nähe von Sodom und
Gomorrha und nicht weit entfernt von der großen Kreuzfahrerburg
Krak des Chevaliers auf der anderen Seite des Toten ~ e e r e s . 4 ~
Beide Karten dürften (jede auf ihre Weise) der Information von
Pilgern gedient haben. Für die kleine Palastinakarte ist dies offensichtlich, aber auch die visualisierte Eschatologie der Hereforder Weltkarte eignete sich als Kirchenschmuck, auch wenn die ursprüngliche
These, daß es sich um ein Altarbild gehandelt haben könnte, längst
verworfen ~ u r d e . 4Als
~ Mittelbild eines Triptychons, dessen Zentralteil
aus Holz wiederentdeckt wurde, könnte sie die Wand geziert haben, an
der die zahlreichen Pilger vorbeizogen, die die Kapelle mit dem Schrein
des 1320 kanonisierten Heiligen Thomas de Cantilupe, Bischof von
Hereford von 1275 bis 1282, besuchen wollten.49 Die jemalernzentrierte Mappa mundi eignete sich, Marcia Kupfer mfoige,
hervorragend zur didaktisch-religiösen Unterweisung im Umkreis der
Hereforder Kathedrale, aber meiner Meinung nach wohl nicht - wie die
Autorin ferner zu demonstrieren versuchte - abgeschlossen in der
elitären Kathedralschule und ihrer erlesenen Bibliothek, sondern noch
besser in der viel besuchten Kirche, in d a sie fir die aus den
umliegenden Gegenden herbeieilenden Pilger sichtbar ausgestellt werden konnte.
Man kann sich gut vorstellen, daß die Pilger zuerst, somsagen m r
Einstimmung, an dieser enzyklopädischen Belehrung über die
Vergänglichkeit des irdischen Seins vorbeizogen, um dann um so
demütiger die F a eile des Heiligen ZU betreten. Eine Möglichkeit, die
Karte an d e f l a n ,des Seitenschiffs in Sichthöhe zu befestigen, könnte
ein heute noch existierender Steinsockel geboten haben. Dies
entspräche bis zu einem gewissen Grade auch der Plazierung der
k
47
4s
49
Edson: Matthew Paris (wie Anm. 12), S. 19.
Harvey: Mappa Mundi (wie Anm. I), S. 12-16; Marcia Kupfer: Medieva, world
Maps: Embedded Images, Interpretive Frames. In:Word and Image 10,3 (1994),
S. 262-288, bes. S. 273-275.
Die h e g u n g e n für diese These verdanke ich der Diskussion mit ~~~i~~~
Harbour (Hereford) und Daniel Terkla (Illinois Wesleyan University) vor ortin
der Kathedrale von Hereford anläßlich der "Mappa Mundi Conferenc? vom 27.
Juni bis 1. Juli 1999; vgl. dazu die Darstellung von Daniel P, ~
~
Impassioned Failure. Memory, Metaphor, and the Drive toward Intellection. I,,
Imagining Heaven in the Middle Ages. A B00k of Essays. Hrsg. von Jan Svvango
Emerson und Hugh Feiss, OSB. Afterword by Jeflcey Burton Ilussell. New york,
b n d o n 2000, S. 245-3 16, hier S. 266.
~
verlorenen Wandgemälde mittelalterlicher Weltkarten, die sich zumindest in zwei sorgfältig rekonstruierten Fällen gerade in dem für Laien
zugänglichen Kirchenschiff und nicht im Altarraum befunden haben
müssen.50 Propagandistischer hätte man die Sehnsucht nach dem
verlorenen Paradies und die Mahnung an den menschlichen Ungs
horsam kaum bekunden können.
Abb. 6: Ebstorfer Weltkarte (zweite Halfte 13. Jh.), Ausschnitt mit Adam und
Eva im Paradies.
Auf den Karten war nur bedingt Platz fur individuelle
Entscheidungen, so daß die Zeichner auch im Blick auf Frauen
höchstens in begründeten Fällen den anerkannten Hauptstrang der
biblischen Tradition verließen und sich also weitgehend auf die
kartographische Inszenierung des Paradieses mit Adam und Eva
konzentrierten. Allerdings repräsentierten die Bilder nicht immer eine
so einseitige Schuldzuweisung an die Frau wie in den späten
Beatuskarten. Der große Garten Eden der Ebstorfer Weltkarte (Abb. 6)
illustriert zwar eingängig den Sündenfall, doch der weißhaarige Adam
Marcia Kupfer: The Lost Mappamundi at Chalivoy-Milon. In: Speculum 66, 3
(1991). S. 540-571; Serafin Moralejo: EI mapa de la diiispora apostolica en San
Pedro de Rocas: notas ptua su interpretaci6n y filiaci6n en la tradici6n
cartogrhfica de los "Reatos". In: Compostellanum 3 1 (1986). S. 3 15-340.
und die brünette Eva stehen fast gleichberechtigt auf beiden Seiten des
früchtebeladenen Baumes, um dessen Stamm sich eine Schlange ringelt,
deren Menschenkopf nahe an Evas Haupt die Einflüsterung des Bösen
suggeriert, während hinter Adam die vier Paradiesströme aus der
Quelle des Lebens sprudeln, auf deren anderer Seite sich der Baum des
Lebens erhebt. Zweifellos halten beide Ureltern bereits eine rote Frucht
in Händen, so daß nicht der verbotene Akt des Pflückens, sondern das
einträchtige Verspeisen akzentuiert wird. Die Gemeinsamkeit des
Vorgehens spiegelt sich ferner in dem über dem Paradies schwebenden
Begleittext, der nur von der Täuschung der Ureltern durch das Reptil
spricht, ohne Evas maßgebliche Rolle auch nur an~udeuten.~'
Das Paradies gehörte zu den kartographischen Standardmotiven; die
individuelle Ausgestaltung setzte jedoch erkennbare Akzente, nicht nur
in der Wahrnehmung geschlechtsspezifischer Rollen. Unter den drei
jerusalemzentrierten Karten des 13. Jahrhunderts bildet etwa die
Londoner Psalterkarte eine Ausnahme; das irdische Paradies ist mit den
Gesichtern des Elia und des Enoch ausgeschmückt, die nach
altkiichlicher Anschauung wegen ihrer Frömmigkeit körperlich dorthin
versetzt wurden, während fünf Ströme (zusätzlich zu Phison, Geon,
Tigris und Euphrat auch der Ganges) den Garten Eden verlassen." Den
Höhepunkt solch komplexer und individueller Darstellungen erreichte
sicherlich das 13. Jahrhundert. Im 14. und 15. Jahrhundert etablierte
sich das Paradies zunehmend als stark befestigte und damit verschlossene gotische Burg. Doch das konventionelle Bild mit Adam und
Eva nach dem Sündenfall sowie der sich um einen zentralen Baum
windenden Schlange kennzeichnet selbst noch die aus der Serie der
sogenannten Weltkarten des Ranulph Higden stammende, ovale
~vesham-~eltkarte?~
die vermutlich zwischen 1390 und 1392 in der
gleichnamigen Abtei entstanden ist und an der Wand hinter dem Altar
aufgehängt gewesen sein könnte. Das von einer Art kunstvoll
52
53
Miller: ~ a ~ ~ a e m u nBd.
d i ,5 (wie Anm. 13), S. 48: "Paradisus et lignum vite et
quatuor flumina fluentes de Paradiso; ubi primos parentes decepit serpens
suadens de ligno vetito manducare."
Miller: Mappaemundi, Bd. 3 (wie Anm. 9), S. 38 behauptet irrtümlich, es wären
die Gesichtsbilder von Adam und Eva
Peter Barber: Die Evesham-Weltkarte von 1392. Eine mittelalterliche Weltkarte
im College of Arms in London. Von der Universalität zum Anglozentrismus.
Cartographica Helvetica 9 (1994), S. 17-22, hier S. 17 f. und 21 mit Abb.; Peter
Barber: The Evesham World Map: A Late Medieval Englisli View of God arid
the World. In: Imago Mundi 47 (1995), S. 13-33, bes. S. 14 mit Abb. und S. 22 f.
geschnitzter Rückwand eines Throns umrahmte Paradies, Ort des
Sündenfalls und des letzten Gerichts, symbolisiert gleichzeitig Beginn
und Ende der menschlichen Zeit, im Hintergrund durchquert von den
vier Paradiesflüssen.
und biblische Stoffe in
Ansonsten werden ~chö~fun~s~eschichte
dieser Zeit bereits eher in den fur differenzierte Äußerungen besser
geeigneten Begleittext verschoben. Auf dem textreichen ersten Doppelblatt des Katalanischen Weltatlas (1375) wird beispielsweise die
Erzählung um Isaaks Frau, die listige Rebekka, wiedergegeben, die
ihren Lieblingssohn Jakob bewog, seinen Bruder Esau um den
väterlichen Segen zu betrügen; zugleich wird die Frau schlechthin
bezeichnet als "eine Verworfene, verleumderisch und faul".54 Doch
soIche misogynen Attacken waren selten und hatten nur beschränkte
Auswirkungen, m a l die Zeitgenossen im ausgehenden Mittelalter
immer vorsichtiger gegenüber Illustrationen biblischer Geschichten
wurden und nach neuen Lösungen suchten.
Ein außergewöhnliches Programm entwickelte in diesem Zusarnmenhang vor allem der Venezianer Fra Mauro, der trotz der Ausmaße
seines Weltentwurfs den Garten Eden als eigenständiges Gemälde aus
der Ökumene auslagerte und es in der Ecke links unten zwischen dem
zentralen Weltenkreis und dem fast quadratischen Rahmen ~erortete.~'
Auffallend ist die Komplexität dieser originellen und gelehrten
Abbildung: Das nach der Erbsünde für den Erdenrnenschen unerreichbare irdische Paradies ist ein befestigter, von einer starken Mauer
umgebener Garten mit dem im Zentrum wachsenden Baum der
Erkenntnis, neben dem auf der weltzugewandten Seite Eva halb
versteckt hinter Adam steht, Leide nahem ängstlich und mit schamhaft
auf der Brust gekreuzten Armen, während auf der anderen Seite,
gleichsam Einhalt gebietend, Gottvater dominiert. Den Eingang
54
"
Der Katalanische Weltatlas. Hrsg. FreiesIeben (wie Anrn. 15), S. 28 f.
I1 Mappamondo di Fra Mauro (wie Anm. 18), S. 22; Abb. auch bei Peter
Whitfield: The Image of the World. London 1994, S. 13; vgl. Plaut: Where is
Paradise (wie Anm. 42), S. 4 f. zur Auslagerung des irdischen Paradieses bei Fra
Mauro und anderen Weltkarten des 15. Jahrhunderts; dazu neuerdings auch
Alessandro Scafi: Ii Paradiso Terrestre di Fra Mauro. In: Storia dell'arte 93/94
(1998), S. 411-419; ders.: Mapping Eden. Cartographies of the Earthly Paradise.
In: Mappings. Hrsg. von D. Cosgrove. London 1999, S. 50-70, bes. S. 66 f. Nach
Abschluß des Manuskripts wurde mir erst zumglich Alessandro Scafi: The
Notion of the Earthly Paradise ffom the Patristic Era to the Fifteenth Century.
London 200 1.
bewacht der Cherub, unter dessen Füßen sich gleichsam das Wasser,
das aus der unterhalb des Baumes entspringenden Quelle des Lebens
sprudelt, in die vier Paradiesflüsse Ganges, Tigris, Euphrat und Nil
aufteilt, um die Erde zu be~ässern.'~Der lange Begleittext darüber
beschreibt die Situation und benennt irn Rekurs auf Augustinus,
Albertus Magnus und Beda nur den Ungehorsam Adams, der durch das
Essen der Frucht seine Verdammung aus dem Paradies verursachte.
Erstaunlich ist, daß die Rolle der mindestens ebenso sündigen Eva
volIkomrnen verschwiegen wird.57Offensichtlich war die Relevanz der
Frau bis zur Nichtbeachtung gesunken.
Gleichzeitig zogen es die Kartographen vor, die realen Bedürfnisse
von Pilgern zu berücksichtigen. Schon seit langem bildeten sie die
Gräber christlicher Heiliger als Grundlage wichtiger Klostergründungen ab, die als Orientierungspunkte die Territorien beherrschten
und anhand der Reiseberichte leicht zu lokalisieren waren. Dieses
Modell gilt nahezu unterschiedslos fur weibliche wie fur männliche
Heilige. Fra Mauro verzeichnet den Begräbnisort der Heiligen Brigitte
in ~orwegen'~
und die Genueser Weltkarte von 1457 den Berg Sinai
mit dem Katharinenklo~ter.~~
Ein solcher Ansatz war natürlich keine
Erfindung des 15. Jahrhunderts. Das von Pilgern bei ihren Heilig-LandReisen häufig besuchte Sinaikloster, das in zahlreichen Berichten
beschrieben wird, zierte unter anderem bereits das vierte Doppelblatt
des Katalanischen Weltatlas, begleitet von folgender Formulierung
(Abb. 7): "Hic est Corpus catarina ~ir~inis".~'
56
57
58
Scafi: I1 Paradiso Terrestre (wie Anm. 55).
II Mappamondo di FraMauro (wie Anm. 18), Tav. XXXVII, S. 22.
I1 Mappamondo di Fra Mauro (wie Anm. 18), Tav. =I,
24, S. 60: "'NorVegia
Qui se dice esser el co(r)po de sancta Brigida, la qua1 sego(n)do alguni fo de
suetia."
Stevenson: Genoese World Map 1457 (wie Anm. 17). S. 29.
Der Katalanische Weltatlas. Nrsg. Freiesleben (wie Anm. 15), S. 31: "I-Iier ist
der K6rper der Jungfrau Katarina". Zum Katharinenkloster in den deutschen
Reiseberichten des Sptitmittelaltcrs vgl. Aleya Khattab: Das Amtenbild in den
deutschsprachigen Reiscbeschreibungcn der Zeit von 1285-1500. Frankfurt
Main, Bern 1982 (Europtiische I-Iochschulschriftcn. Reihu I: Deutsche Spracht
und Literatur 5171, S. 84-92.
...
59
60
I
1
.
,
Katalanischer Weltatlas (1375). viertes Doppelblatt, Ausschnitt mit dem
Abb. 7:
Heiligen Land und dem Katharinenkloster (rechts unten), Paris, Biblioth&que
Nationale, Esp. 30 (Faksimile: Der Katalanische Weltatlas vom Jahre 1375. Mit
einer Einflhmng und Übersetzungen von Hans-Christian Freiesleben. Stuttgart
1977).
Doch außer der betonten ~un~fiäulichkeit~'
lassen sich keine weiteren
geschlechtsspezifischen Eigenheiten erkennen. Männliche und weibliche
Heilige eigneten sich gleichermaßen fit solch praktische Referenzen.
61
Zum gewandeltem Ideal der Virginität im Spätmittelalter vgl. Claudia Opitz:
Hunger nach Unberührbarkeit? JungfifIulichkeitsideal und weibliche Libido im
spateren Mittelalter. In: Feministische Studien 5 (1986), Heft 1, S. 59-75.
Abb. 8:
Katdanis
&las (1375). a n f i e s Doppelblatt. Ausschnitt mit der
KGnigin von Saba; Pans, Hibliotheque Nationale, Esp. 30 (Faksimile: Der Katalanische Weltatlas vom Jahre 1375. Mit einer EinEhrung und ifbersetzungen von
Hans-Christian Freiesleben. Stuttgari 1977).
2. Historische und mythische Frauen aus Sage und Geschichte
Klassische Texte und Sagen, rezipiert und kommentiert in den
Berichten der Orientreisenden, dürften vermutlich den historischmythischen Blick auf das Weibliche stimuliert haben. In das imaginäre
Wirkungsfeld der Karten gesetzt wurden, ähnlich wie "große" Männer,
"berühmte" Frauen mit überragenden Leistungen, f m e r aufregende
Phantasieprodukte aus Kinderträumen, die irgendwo in der Welt ja
schließlich existieren mußten, und feminisierte Kontinente und Inseln.
Die Kartenmacher ließen sich gerne animieren, die Überliefeningen aus
Sage und Mythos in die Grenzräume des Wissens, meist nach
Nordeuropa, Asien und Afrika, zu transferieren und die eine tiemde
Realität tatsachlich bezeugenden Bestien und wundersamen Geschöpfe
nach sorgfältiger Beurteilung ins Bild zu übertragen, Und da die
Kartengröße die Anzahl der Eintrgge begrenzte, mußte - wie bei den
biblisch-christlichen Motiven - eine bewußte und zielstrebige Selektion
erfolgen.
Vom ausgehenden 13. bis zum 15. Jahrhundert belebten einzlne
"berühmte" Frauen die kartographischen Weltentwürfe. Auf dem
fünften Doppelblatt des Katalanischen Weltatlas beherrscht die
sagenumwobene Königin von Saba die reiche südarabische Provinz,
genannt "Arabia Sabba" (Abb. 8), die bereits irn Alten Testament
wegen ihres sagenhaften Reichtums Erwähnung fand. "Es gibt dort
viele Wohlgerüche wie Weihrauch und Myrrhe, dazu Überfluß an
betont der Begleittext, dem zufolge
Gold, Silber und ~delsteinen"~~
diese Gegend zur Abfassungszeit des Atlas den Sarazenen unterstand.
In Größe und Aufwand ähnelt die in voller Pracht illustrierte Königin
den anderen Herrscherfiguren, darunter den auf der anderen Seite des
Persischen Golfes und des arabischen Meeres beheimateten Königen
von Persien ("Rey da1 Tauris") und von "Delhi" in Indien, die mit
untergeschlagenen Beinen auf ihren Sitzkissen ruhen, während die
legendäre Königin in fast europäischem Stil erhöht thront und eine
Weltkugel hält. Zu untersuchen wäre freilich, inwieweit sie in der
Folgezeit auch in andere stark ornamentierte, namentlich in katalanischer Manier gezeichnete Portulane Eingang fand. Zu denken wäre
beispielsweise an die Valseca-Karte von 1439 mit der Abbildung eines
farbigen zeltartigen Gebildes in Arabien, das eine gekrönte Figur
umhüllt. Deutlich weniger illustrativ war jedenfalls zwei Jahrhunderte
zuvor noch der einfache Schriftzug "Saba Ethiopie" in der
Wolfenbütteler Weltkarte des Larnbert von Saint-Omer gewesen.63
Aber die skeptische Frage, ob die "formosissima regina e sibila Saba"
(Abb. 9) überhaupt jemals existiert habe, beschäftigt erst einige
Jahrzehnte später den kritischen Fra Mauro, der sie sicherheitshalber
ohne ein Abbild "in ierusale[m] al te[m]po de ~ a l a m o [ n ] 'historisch
~
verortet, während er gleichzeitig mit "se dice" und an anderer Stelle mit
"io no[n] l'afermo" in angemessener Form seine persönlichen Zweifel
Außer biblisch ableitbaren Königinnen besaßen natürlich auch
heilige Herrscherinnen eine besondere, gewissermaßen doppelte
Legitimation, um in das Kartenbild aufgenommen zu werden. Im
Rudimentum Noviciorum, einer Lübecker Minoriten-Weltchronik von
1475, befindet sich ein sehr früher, noch recht grober Holzschnitt einer
62
63
64
Der Katalanische Weltatlas. Hrsg. Freiesleben (wie Anm. 15), S. 31.
Miller: Mappaemundi, Bd. 3 (wie Anm. 9), S. 48.
I1 Mappamondo di Fra Mauro (wie Anm. 18), Tav. XVI, 33, S. 30: "Arabia sabea
E de questa se dice venisse quela formosissima regina e sibila Saba in
ierusale(m) al te(m)po de Salamo(n)."
LI Mappamondo di Fra Mauro (wie Anm. 18), Tav. XVI, 75, S. 31.
...
65
Weltkarte des Fra Mauro (1459), Ausschnitt mit Arabien und Text zur
Abb. 9:
Königin von Saba; Venena, Biblioteca Nazionale Marciana (Faksimile: il Mappamondo di Fra Mauro. A cura di Tullia Gasparrini Leporace. Rom 1956).
geosteten Weltkarte, deren Editio Princeps von 1475 in der Nähe der
alten bithynischen Hauptstadt Nicomedia am östlichen Rande Europas
nicht weit vom Kartenzentnim entfernt eine gekrönte, andächtig
betende Frauengestalt zeigt, wahrscheinlich eine fromme Regentin, die
im Gegensatz zu den zahlreichen europäischen Königen in voller Figur
und ohne Szepter abgebildet ist. Nur der Papst in Rom ist ähnlich in
ganzer Größe akzentuiert. Die Gestalt dürfte mit der 'Augusta7 Helena,
Mutter Konstantins des Großen, zu identifizieren sein,66 deren Geburt
im bithynischen Dtepanon, einer später unter Konstantin als
Helenopolis zur Stadt erhobenen Ortschaft an der Südküste des Golfs
von Astakos, lange Zeit für verbürgt galt. Ihre Frömmigkeit veranlaßte
sie gegen Ende ihres Lebens zu einer Pilgerreise nach Palästina, wo sie
nicht nur (ebenso wie in Rom) den Kirchenbau gefördert haben,
sondern angeblich auch an der Aufindung des "Wahren Kreuzes"
66
Den Hinweis auf die M6glichkeit dieser Identifizierung verdanke ich einem
Gesprgch mit Wesley Brown auf der "Mappa Mundi Conference" in Hereford
(wie Anm. 49). Zur Rudimentum-Weltkarte V@. Anna-Dorothee von den
Brincken: Universalkartographie und geographische Schulkenntnisse im
Inkunabelzeitalter (unter besonderer Beriicksichtigung des "Rudimentum
Noviciorum" und Hartmann Schedels). In: Studien aim stadtischen
Rildungswesens des späten Mittelalters und der n2lhen Neuzeit. Bericht Ober
Kolloquien der Kommission nir Erforschung der Kultur des Spätmittelalters
1978 bis 1981. Hrsg. von Bemd Moeller, llans P a t 7 ~und Karl Stackmann.
Gottingen 1983 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Gnttingen.
Philologisch-histoiischeKlasse. Dritte Folge 137). S. 398-429. bes. Abb. S. 428.
beteiligt gewesen sein soll. Auf der Weltkarte blickt Helena deswegen
in Richtung des großen, vor dem Papst stehenden h u z e s . Weibliche
Größe und Religiosität wären kartographisch nicht besser zu
inszenieren gewesen.
Auch wenn die Forschung bisher nur sehr selten auf solche
Konstellationen h'igewiesen hat, stellten die Kartographen die
angeblichen Leistungen "großeryyFrauen immer wieder zwanglos neben
die gewiß häufiger dargestellten Taten bedeutender Männer. Die
Ebstorfer Weltkarte betont etwa die Iobenswerten Anstrengungen der
sagenhaften Semiramis, Königin der Assyrer, um die gewaltigen
Stadtmauern des mächtigen Babylon zu ~ergrößern:~ohne freilich die
ihr zugeschriebenen "Hangenden Gärtenyyauch nur beiläufig zu nennen.
Sicherlich entsprachen die historischen Kenntnisse nicht unseren
kritischen Anforderungen, und mächtige Frauen wurden nicht immer so
unbefangen in das Weltbild integriert. In Skandinavien erinnerte uns
Fra Mauro an die Herkunft der Langobarden, die von Pannonien nach
Italien einfielen, um große Teile der Halbinsel zu erobern. Doch den
Mönch fesselte nicht die große Politik, sondern die Rolle der perfiden
Sophia, Gattin des oströmischen Kaisers Iustinus H., deren Intrigen
angeblich zur Abberufung des Feldherrn und Eunuchen Narses aus
Italien (567) führten.68 Trotz seines ausgeprägten Mißtrauens
gegenüber Legenden gelang es dem Kamaldulenser letztlich nicht,
Frauen vorurteilslos in seinen Weltentwurf zu integrieren und ihren
Einfluß neben den Leistungen der positiv konnotierten männlichen
Herrscher wie Tamberlan und Alexander gelten zu lassen.
Im Gegensatz zu den meisten anderen Kartenmachen fand der
skeptische Fra Mauro jedoch keinen Gefallen an geheimnisvollen
''
Miller: Mappaemundi, Bd. 5 (wie Anrn. 13), S. 45: "Babylonia civitas magna ...
Hanc Nemroth gygas hndavit, sed Semiramis regina Assyriorum ampliavit
murumquey'.
I1 Mappamondo di Fra Mauro (wie Anm. 18), Tav. XLI, 13, S. 63: "'Notache de
questo luogo de scandinaria uene j longobardi i(n) italia, e q(ue)sti p(r)ima si
diceuano himuli, i qual uene al te(m)po de uno Papa Pelagrio p(r)imo, e co(n)
gra(n) difficulta e contrasto gonse i(n) panonia e 1i stete alguni anni, et in quel
te(m)po regnaua Justin menor e Narses eunucho, el qual hauea el patriciato de
roma, esse(n)doli fato inguria e torto da Sophia dona del predito Iustin, essend0
remosso da1 patriciato scrisse da napoli a j longobardi ch(erano i(n) panonia,
persuade(n)doli hi aba(n)donnsse quela terra sterille e uignisse a le large pianure
de italia e per questo j uene i(n) italia e subiugb tuta la lo(m)bardia e gra(n)
p(ar)te del resto de italia."
Katalanischer Weltatlas (1375), sechsfies Doppe:lblatt, Ausschnitt mit
, ~ - 30 (Faksimile:
"Sarena" im Indischen O m ; Paris, Biblioth*qu~XI-.:
iuauonaie,
~ - .Esp.
Der Katalanische Weitatlas vom Jahn
lit einer I3nfi3hnmg und Übers e m g e n von Hans-Christian Freieslebe
t 1977).
Abb. 10:
ri
~
Fabelwesen wie Seejungfrauen und Siraien, die in früher.en Karten
vomgsweise unbekannte Meere bevölkert hatten. Auf der Herefordkarte residierte die Seejungfrau als Reprilsentantiri dieser Inythischen
Weiber noch im östlichen Mittelmeer nahe det griechischen Insel Naxos
(oben Abb. 2), während die abenteuerliche Sphinx in ihrer eigenartigen
Kombination aus behelmtem Mädchenko~f,gefiederten vogelschwingen, Greifenklauen und Reptilienschwanz in die unbekannten Weitm
Afrikas jenseits des Nils entrückt wurde. Und die Ebstorfer Weltkarte
nutzte die kleinen entlegenen Atlantikinsein im äuDersten ~~~d~
-~
Europas, um den legendären Frauemtyp der Sirenen einzubinden?9
~~~t der Katalanische Weltatlas veranschaulichte die sirenenhafl 'm
MischwIndischen Ozean (Abb. 10). Abgebildet ist hiier we~tli
ch
von Sumatra, dem klassischen 'Tabrobana', eine "Sarena" mit dem
stark sexuell konnotierten doppelten FischSchwanz und dem Oberkörper einer langhaarigen, begehrenswerten Fra& deren vermeintliche
@
Mi1lel-Z Mappaemundi, Bd. 5 (wie Anm. 13), S. 26: "Gadanmte in-.,
sirene."
„, ,,,,,bus
I
Schönheit dem Zeichner nicht so recht glücken wollte.70 Die
darüberstehende zugehörige Legende differenziert zwei Arten von
Sirenen, deren Statur stets den Oberkörper einer Frau, aber den
Unterleib scheinbar wahlweise von Fisch oder Vogel entlehnen ~ ü r d e . ~ '
In den Indischen Ozean beförderte auch die Genueser Weltkarte die
wirkm'achtige Sirene, eine monströse Gestalt mit Frauenkopf und
stacheligem Fischkörper, deren Illustration vom zugehörigen Text nach
Plinius ein wenig abweicht." Die Sirenen verblieben dabei permanent
in einem gleichsam äußeren Grenzstreifen der bekannten Welt, der mit
den wachsenden Kenntnissen von der Fremde immer weiter in die
Tiefen Asiens, Afrikas und des Indischen Ozeans verrutschte. Nur auf
der Herefordkarte überraschen die ganz irn Süden am Erdrand
angesiedelten kopflosen Blemmyae mit dem Gesicht auf der Brust
schon frühzeitig dadurch, daß sie explizit in weiblicher und männlicher
Form abgebildet sind und auf diese Weise die übliche Geschlechtslosigkeitder Erdrandvölker radikal d~rchbrechen.~~
Aber was fiihrte zur Aufnahme dieser Fabelwesen in die
Kartographie? War es die mystische Märchenhaftigkeit oder die
erotisch-sexuelle Wirkkraft imaginärer Verführerinnen? Fungierten die
mißgestalteten Frauen als misogyne Allegorie verderblicher weiblicher
Sinnenlust, wie sie in der mittelalterlichen Literatur vielfach verarbeitet
wurde, oder repräsentierten sie einfach die lockende ~ e r n e In
? ~den
~
Weltkarten erscheinen die ambivalenten Mischwesen distanziert und
ohne einen moralisierenden Impetus. Sie belebten sozusagen die
gefährliche, aber zugleich sehnsüchtig beäugte Fremde. Der Prozeß der
Aneignung selbst war jedoch nicht vorgegeben, sondern er oblag nicht
zuletzt aufgrund der vielgestaltigen Deutungsmöglichkeiten der
Imagination des jeweiligen Betrachters.
70
71
Der Katalanische Weltatlas. Hrsg. Freiesleben (wie Anm. 15), S. 22.
Der Katalanische Weltatlas. Hrsg. Freiesleben (wie Anm. 15), S. 33: "Meer der
indischen Inseln, wo die Spezereien sind Auch findet man drei Arten von
Fischen, die man Serenas nennt, die eine halb Frau und halb Fisch, die andere
halb Frau und halb Vogel."
Stevenson: Genoese World Map 1457 (wie Anm. 17), S. 26 f.
Harvey: Mappa Mundi (wie Anm. 1)' S. 48 mit Abb.
ZU den verschiedenen Denk- und hterpretationsmustern vgl. Rüdiger Krohn:
ccdazsi totfiorgiu tier sint". Sirenen in der mittelalterlichen Literatur. In:
Dmonen, Monster, Fabelwesen. Hrsg. von Ulrich Müller und Wemer
Wunderlich. St. Gallen 1999 (Mittelaltermythen 2), S. 545-563.
...
72
74
Ähnliche Interpretationsspielräume gewährte die gängige Tendenz,
Inseln, Länder und Kontinente zu feminisieren. Der Ebstorfer Weltkarte
zufolge leitete sich der Name der Insel Korsika von einem Weib
namens "Corsa7' ab:'
Libyen von einer Nichte Jupiters, die später
Afrika regierte:6 und Asien von einer diesen Kontinent regierenden,
altorientalischen ~errscherin?~
Und selbst die Bezeichnung Europa
wird in der Tradition Homers und Isidors von Sevilla auf die von
Jupiter geraubte Tochter König Agenors z~rückgeführt?~
Allein der
argwöhnische Fra Mauro modifiziert diese europäische Abkunftsthese
sehr individuell mit einer alternativen Erklärung; er führt in maskuliner
Dominanz den Namen Europa auf einen König namens "Europo"
mrück, nicht ohne zugleich auch die weibliche Lösung m r Wahl zu
stellen.79Individuelle Begriffsbestimmungen gehörten offensichtlich zu
seinem persönlichen Stil. An anderer Stelle deduziert der Venezianer
bizarr die "insula Anglia", also England, von einer erfundenen Königin
namens hgela.*'
Alle diese Beispiele beweisen die Affinität der Kartographen, die
Namen unbekannter Inseln und Kontinente bereits lange vor der
Entdeckung der Neuen Welt mit mythologischen, historischen oder
sogar fiktiven Frauengestalten zu erklären. Erforderte das neue
ctjun~äuliche''Land gleichsam feminine Namen? Die Feminisiemng
fremder Länder besitzt auf jeden Fall, zuerst in schrifilichen Texten," I
dann in kartographischen Einschüben und Illustrationen, eine längere I
i
75
76
77
78
79
Miller: Mappaemundi, Bd. 5 (wie Anm. 131, S. 29: "Corsica insula. Corsica a C
Corsa muliere".
Miller: Mappaemundi, Bd. 5 (wie h m . 13), S. 55.
Miller: Mappaemundi, Bd. 5 (wie Anm. 131, 8: "Asya ex nomine cuiusdm
muli&s est appeiiata, que apud antiquos imperium tenuit orientis." vgl. ibid.,
~d 5, S. 48: "Asya a regina eiusdem nominis est appellata".
Miller: Mappaemundi, Bd. 5 (wie h m . 1%
8: "Europa Agenoris regis filia
dicta est, que idem nomen sortita est." Vgl. ibid., S. 11 mit einem langen zitat
aus den Etymologiae des Isidor von Sevilla (W,4,1).
11 ~ ~ ~ ~ a m di
o nFra
d oMauro (wie Anm. 181, Tav. XXXV, 33: "Europa fi
nominata da Uno re dito Europo ouet da una fiola d'Agenore dita Europa"
11 Mappamondo di Fra Mauro (wie Anm. 18), Tav. XXXVI, 16, S. 60: "Nota
la insula anglia e da una sua regina dita A(n)gela la nomib a(n)glia ..T
vgl. u.a. den Versuch von Margaret Clunies ROSS:Lad-Taking md T ~ ~ ~ Making in Medieval Iceland. In: Text and Territory. Geo~aphicalImaginationin
the European Middle Ages. Hrsg. von Sylvia Tomasch und Sealy ~ill~,,
Philadelphia 1998, S. 159-184 zur Kodierung von sozialem Raum als weiblich
(häuslich), mmnlich (öflentlich) und heilig w'dhrend der tiefgreifenden prWessc
von Migration und Kolonisation.
...
81
und ausgedehntere Tradition als meist angenommen. Herausragendes,
h e r wieder zitiertes Beispiel ist die bildliche Allegorisierung Europas
und anderer Kontinente als weiblicher Körper. Diese Praxis setzte
spätestens im Jahre 1336 ein, als der kuriale Kleriker Opicinus de
Canistris (1296- 135012) seiner mit insgesamt 52 Tafeln ausgestatteten
Bilderhandschrift auch 25 symbolistische Landkarten einfugte. In
einigen dieser rätselhaften Entwürfe zeichnete er M i k a in Gestalt einer
Frau neben den buckligen Mann Europa. Die Kombination beider
Erdteile galt als besonders pikant, weil das rechte Ohr des Greises,
dessen Kopf Spanien repräsentierte und dessen Beine in Italien und
Griechenland endeten, gleichsam am geöffneten Mund der Frau ruhte;
dies wurde gerne als Ausdruck sinnlicher Begierde und als Symbol
unzüchtiger Sündhafligkeit gedeutet.82
Für unseren Zusammenhang wichtig ist die Personifikation eines
Kontinents als Frau, sichtbar in der subtilen Überlagerung von
weiblichem Körper und geographischem Raum. Kosmologisches
Pendant war im Mittelalter wohl die Allegorie der "Frau Weltyy,vorne
eine schöne Frau und auf der Rückseite mit Geschwüren bedeckt,
gleichsam symbolischer Ausdruck des Dualismus zwischen Schönheit
Im 16. Jahrhundert
und Vergänglichkeit, zwischen Leib und ~eele.'~
setzten die Kartographen diese figürliche Körperlichkeit vor allem in
der geographisch konzipierten "Königin Europa" fort; zu denken ist an
die einander recht ähnlichen Entwürfe von Johannes Putsch, Matthias
Quad und Sebastian ~ ü n s t e r .Dieser
~~
Prozeß der weiblichen
82
83
84
Vgl. Richard Salomon: Opicinus de Canistris. Weltbild und Bekenntnisse eines
avignonesischen Klerikers des 14. Jahrhunderts. 2 Bde. London 1936 (Studies of
the Warburg Institute IA), ND Nendeln 1969, Bd. 1, S. 65 £, 68-77 und Bd. 2,
T. 35, 39 und 42 mit Abb. aus der Handschrift der Biblioteca Apostolica
Vaticana, Pal. lat. 1993; Anna-Dorothee von den Brincken: "... Ut describeretur
universus orbis". Zur Universalkartographie des Mittelalters. In: Methoden in
Wissenschaft und Kunst des Mittelalters. Hrsg. von Albert Zimmermann. Berlin
1970 (Miscellanea Mediaevalia 7), S. 249-278, hier S. 273. Zu Person und Werk
des Opicinus vgl. H.-J. Becker: Artikel 'Canistris, Opicino de'. In: Dizionario
biografico degli italiani 18 (1975), S. 116-119.
Sabine Poeschel: Studien zur Ikonographie der Erdteile in der Kunst des 16.-18.
Jahrhunderts. München 1985, S. 16-20 und passim; Sabine Schülting: Wilde
Frauen, fiemde Welten. Kolonisierungsgeschichten aus Amerika. Reinbek bei
Hamburg 1997, S. 36.
Vgl. Jörg-Geerd Arentzen: Imago Mundi Cartographica. Studien zur Bildlichkeit
mittelalterlicher Welt- und Ökumenekarten unter besonderer Berücksichtigung
des Zusammenwirkens von Text und Bild. München 1984 (Münstersche
Konnotierung von Raum knüpfte an antike Denkformen und Motive,
insbesondere verschiedene Stadt-, Provinz- und Erdteilpersonifibtionen (vor allem von Asien und Afrika), an,'' die bereits die universelle
Anpassungskraft geheimnisvoller Weiblichkeit zu nutzen verstanden.
3. Fremde Frauen, fremde Sitten
In der Fremde schien zudem die europäische Ordnung der Geschlechter
aus den Fugen zu geraten. Von den Geschichten der Asienreisenden
sahen sich die Kartographen animiert, fi.emde Frauen und ihre Sitten in
Text und Bild zu veranschaulichen, nicht ohne die Wahrnehmung
weiblicher Lebensräume mit der geographischen, kulturellen und
physischen Erfahrung der Fremde zu vereinen. Ergebnis war das
diffuse Konstrukt einer widersprüchlichen oder sogar verkehrten, auf
kultureller Alterität basierenden Geschlechterordnung, die noch von
anderen, weniger fest umrissenen Zielvorstellungen geleitet war als
später in der "Neuen Welt", deren Kolonisierung mit der sexuellen
Dominanz des Mannes und der Eroberung des jungfräulichen Landes
zusammenzuhängen scheints6
Ansätze zu einer moralisch begründeten Unterordnung des
weiblichen Geschlechts zeigen sich in den Weltkarten selten, allenfalls
vielleicht bei den Frauen der Psylli am südlichen Rand Mikas. Bei
diesem Stamm überprüften, nicht nur der Herefordkarte zufolge, die
Männer die eheliche Treue und die Keuschheit ihrer Gattinnen
einschließlich der Legitimität ihrer Nachkommen dadurch, daß sie die
Neugeborenen dem Urteil der Schlangen aussetzten, die über Leben und
Tod
Die Überzeugung von diesem sehr absonderlichen
Treuetest der Psylli finden wir übrigens auch im Mittelteil der Aslake
85
86
87
Mittelalter-Schriften 53), S. 19 f und Abb. 76 mit der figürlichen Europakarte
des Johannes Putsch (1537); Schülting: Wilde Frauen, fiemde Welten (wie Anm.
83), S. 37 mit einer Abb. der Europa-Darstellung von Sebastian Münster (1588).
Zu Matthias Quads Europae descriptio (1587) vgl. auch Folker E. Reichert:
Gremn in der Kartographie des Mittelalters. In: Migration und Grenze. Hrsg
von Andreas Gestrich und Marita Krauss. Stuttgart 1988 (Stuttgarter Beiträge
m Migrationsforschung4), S. 28 f mit Abb. 9.
Poeschel: Studien (wie Anm. 83), S. 11-15.
Schülting: Wilde Frauen, fiemde Welten (wie Anm. 83), S. 13 E und passim.
Barber: Visual Encyclopaedias (wie Anm. 7), S. 3 mit Abb; vgl. Terkla:
Jinpassioned Failure (wie Anm. 49), S. 266.
Weltkarte aus dem zweiten oder dritten Viertel des 14. ~ahrhunderts.~~
Diese exotisch anmutende Prüfung sicherte damit im fernen M i k a
europäische Ideale und kirchliche Moralvorstellungen, nämlich
weibliche Treue und eheliche Geburt. Und die älteste französische
Version der Reisen des imaginären Asien- und Afrikareisenden Jean de
Mandeville erklärt noch genauer, daß nur die aus einer legalen
Verbindung Geborenen von den Schlangen nicht gebissen würden.89
Auf der Herefordkarte ist dieser Vorgang meisterlich ins Bild gesetzt:
Die ängstliche Mutter beobachtet demütig und in sich gekehrt, fast in
betender Haltung, ihr von gefährlich aussehenden, langzüngigen
Schlangen umschlungenes Baby, das vorerst noch munter die Hand
hebt; der erläuternde Begleittext zwischen beiden Figuren kommentiert
das Geschehen. Eine solche Abbildung von Mutter und Kind mit
Schlange bereichert auch die äthiopischen Erdrandvölker der
Ebstorfkarte. Der Text beschreibt sie, in freier Modifikation von
Solinus und Plinius, als immun gegen Schlangengift, wenn sie
ehrenwert und nicht schändlich im Ehebruch gezeugt wurden.'' Die
kartographischen Gegenwelten veranschaulichen damit aber weniger
weibliche Unterordnung als die absonderliche Verwirklichung europäisch-christlicher Moralgebote.
Den Typus der fremden, die europäischen Normen verletzenden
Weiblichkeit symbolisieren am einprägsamsten die regierenden Frauen,
auf der Herefordkarte in Indien situiert mit der kurzen Feststellung
"Gens indie a feminis regitur7' (oben Abb. 3). Auf diese herrschenden
und dadurch unweigerlich vermännlichten Frauen im Fernen Osten
nahe dem Paradies richtete der europäische Betrachter auch in den
anderen Weltkarten mit besonderer Vorliebe seinen Blick. Außer der
Herefordkarte skizziert beispielsweise auch die EbstorFkarte das
Konzept einer von Frauen regierten Volksgemeinschaft, dem Stamm
der sogenannten Pangea rPangea gens, quae a feminis regitur")91. In
der urchristlichen Literatur war die Metapher des 'Männlichwerdens'
von einer moralischen und geistigen Vervolikornmnung begleitet; nach
89
W
"
Vgl. Peter Barber und Michelle Brown: The Aslake World Map. In: Imago
Mundi 44 (1992), S. 24-44, hier S. 36 und 38.
Vgl. Malcolm Letts: The Pictures in the Hereford Mappa Mundi. In: Notes and
Queries for Readers and Writers 200 (1955), S. 2-6, hier S. 4; John Mandeville:
Travels. I-irsg. von Malcolm Letts. 2 Bde. London 1953 (Hakluyt Society Ser. 2,
101 und 102), Buch I, S. 40.
Vgl, Miller: Mappaemundi, Bd. 3 (wie Anm. 9). S. 60.
Miller: Mappaemundi, Bd. 5 (wie Anm. 13), S. 49.
den Vorstellungen der christlichen Anthropologie konnte die Mann
gewordene Frau sogar zum vorbildlichen Mann avancieren, während
die Verweiblichung, also der Frau gewordene Mann, unrnißverständlich
den moralischen Verfall, den unaufhaltsamen Niedergang signali~ierte?~
Gerade die räumliche Nähe der regierenden Frauen zum
Paradies in diesen beiden großen Weltkarten könnte deshalb auch auf
eine Transzendenz der irdischen Geschlechtlichkeit bei der Erlangung
des Heils deuten.
Seit der Antike waren diese maskulinen oder Mann gewordenen
Frauen jedoch faszinierendes Ideal und erschreckendes Kuriosum
zugleich. Bestes Beispiel für die Umsetzung dieses widersprüchlichen
Wahrnehmungsmusters in die Kartographie sind die im Mittelalter
~~
ein alter Topos,
multifunktional verwerteten ~ m a z o n e n , sicherlich
den Isidor von Sevilla in seinen Etymologien für den mittelalterlichen
Leser rezipierte und er~chloß?~
Die männerrnordende Amazone in
ihrem unzugänglichen Land war trotzdem kein Relikt langst
überwundener Zeiten. In den mittelalterlichen Weltkarten figurierte sie
gegenwartsnah als Imagination einer phantasmatischen Figur und als
Personifikation eines tiefen Konflikts, denn in doppelter Verfremdung
verwies sie auf das nicht vereinnahmbare Andere, auf die mit der
92
93
Vgl. Kari Vogt: "Männlichwerdenyy - Aspekte einer urchristlichen
Anthropologie. In: Concilium 21 (1985), S. 434-442. Zur Verbindung mit
Sündenfall und Sexualität vgl. Kerstin Aspegren: The Male Woman. A Feminine
Ideal in the Early Church. Hrsg. von Ren6 Kieffer. Uppsala 1990, S. 14 und
passim.
Vgl. Othmar Pollmann: Der Arnazonenmythos in der nachantiken Kunst bis zum
Ende des Barocks. Wiedergeburt und Wandel eines antiken Mythos. Diss.
maschinenschr. Würzburg 1952; Beate Wagner-Hasel: Männerfeindliche
Jungfrauen. Ein kritischer Blick auf Amazonen in Mythos und Geschichte. In:
Feministische Studien 5 (1986), Heft 1, S. 86-106; Vincent Dimarco: The
Amazons and the End of the World. In: Discovering New Worlds. Essays on
Medieval Exploration and Imagination. Hrsg. von Scott D. Westrem. London
1991, S. 69-90; Josine H. Blok: The early Ammns. Modern and Ancient
Perspectives on a Persistent Myth. Leiden 1995, allerdings unter Umgehung der
mittelalterlichen Rezeption; Claudia Brinker-von der Heyde: Er ist ein rehtez
wiphere. Amazonen in mittelalterlicher Dichtung. In: Beiträge zur Geschichte
der deutschen Sprache und Literatur 119 (1997), S. 399-424.
Vgl. Isidori Hispalensis Episcopi Etymologiarum sive originum. Hrsg. von
Wallace Martin Lindsay. Oxford 1911, Bd. 1, Lib. D(, 2, 62 und 64-65 ZU den
Amazonen; Edition mit ~anzösischer übersetmng: Isidore de Siville:
~tymolo~ies
Livre W. Les langues et les groupes sociaux. Texte etabli, traduit et
comrnent6 par Marc Reydellet. Paris 1984, S. 72-75.
Kulturauseinandersetzung verbundenen Gefahren und auf den Prozeß
der kulturellen ~ssirnilation?~
Klarer kartographischer Ausdruck war die geographische Verortung
dieses zwischen männlicher Äquivalenz und geschlechtlicher Differenz
angesiedelten Mythos in der Peripherie der bekannten Welt, also in
einem Landstrich, in dem die europäisch-abendländische Ordnung
gleichsam umgekehrt wurde und in dem sich der Umbruch von der
christlichen Ausstrahlung des Abendlandes zum Nicht-Christlichen der
unerforschten Weiten Asiens vollzog. Spätestens hier war die Grenze
zwischen dem Eigenen und dem Anderen erreicht. Den zugehörigen
Raum umreißen gewöhnlich Begriffe wie die Region der Amazonen
("Regio Amazonum") in der Münchner Isidor-Handschrift des 12.
~ahrhunderts,~
die Provinz der Amazonen ("Provincia Amazonumy')
bei den eingeschlossenen Vöikern mit ihren 32 Reichen ("regna
XXxU") in der Weltkarte Lamberts von St. ~ m e oder,
r ~ ~unter
Zurückdrängung des personalen Konzeptes, einfach Amazonien
("Amazoniay') in der von vier Engeln gestützten, fälschlich Heinrich
von Mainz zugeschriebenen Ökumenekarte mit über 200 Ortsnamen
und ~e~enden." Und jenes geheimnisvolle Land Amazonien,
verschrieben als "AviazonnaYy,findet sich selbst noch in der gegen Ende
des 14. Jahrhunderts entstandenen Eveshamkarte, die den mythischen
95
%
97
"
Schülting: Wilde Frauen, fiemde Welten (wie Anm. 83), S. 16.
München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 10058, f. 154'; ~ a t i c kGautier
Dalchd: La "Descriptio Mappe Mundi" de Hugues de Saint-Victor. Texte inddit
avec introduction et commentaire. Paris 1988, S. 194 und Abb. der Karte vor
dem Titelblatt; Durchmesser 26,6 Cm. Eine Auflistung der in den Weltkarten
erwähnten Amazonen bietet Anna-Dorothee von den Briricken: Mappa mundi
und Chronographia In: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 24
(1968), S. 167, Tafel VII; vgl. zudem Arentzen: Imago Mundi Cartographica (wie
Anm. 84), S. 92, S. 117 Anrn. 363, S. 174, S. 188 E. und Abb. 97 mit Karte von
1599.
Miller: Mappaemundi, Bd. 3 (wie Anm. 9), S. 48; Danielle Lecoq: La
Mappemonde du Liber Floridus (wie Anm.9)) S. 17.
Cambridge, Corpus Christi College, Ms. 66, S. 2; Miller: Mappaemundi, Bd. 3
(wie Anm. 9), S. 25; Lecoq: La mappemonde d'Henri de Mayence (wie Anm.
10), S. 162. Zur umstrittenen Zuschreibung der Karte vgl. Gautier Dalchd: La
"Descriptio Mappe Mundi" (wie Anrn. 96), S. 183; Harvey: Mappa Mundi (wie
Anm. I), S. 27 E und zuletzt Harvey: The Sawley Map (wie Anm. 10), der
jegliche Verbindung zu dem im Vorsatzblatt genannten Kanoniker Heinrich an
der Mnricnkirche von Mainz ablehnt und Air eine Entstehung der Karte in der
Durham Cathcdral Priory pltldiert.
Abb. I I: Ebstarfer Weltkarte (zweite Htllfie 13. Jh.), Ausschnitt mit den bewaffneten Kbniginnen Marpesia und Lampeta
Frauenstaat trotz der nicht allzu dichten Beschriftung in ihr Design
aufhimmt.*
Eine anschauliche Präzisierung des Anderen half den Kartographen,
das Eigene bewußt abzugrenzen und irn Entwurf einer Gegenwelt zu
stabilisieren. Weniger der separierte Raum, sondern die Amazonen
selbst hielten deshalb Einzug in die Londoner Psalterkarte, registriert
mit dem kurzen Text "Die Amazonen verweilen hier" ("Arnazonas hic
manent").'OOUnd in der Ebstorfer Weltkarte sind sogar zwei solche
personengebundenen Legenden verzeichnet, die kriegerischen Frauen
mit ihrem Wohnsitz beim Kaukasus an der nördlichen Grenze zwischen
Asien und ~ u r o ~ a und
' ~ ' das Bild zweier bewafieter Königinnen
namens Marpesia und Lampeta in Asien neben einem zinnengekrönten
Turm (Abb. 11).'02 Der Begleittext charakterisiert nun diese beiden
99
Barber: The Evesham World Map (wie Anm. 53), S. 21.
'* Miller: Mappaemundi, i3d. 3 (wie Anm. 9), S. 39.
'O'
Io2
Miller: Mappaemundi, FM.5 (wie Anm. 13), S. 35: "Hunc habitant Ama~nn".
Miller: Mappaemundi, Rd. 5 (wie AN^. 13), S. 32: "Ammnes. Haec regio
Amazanum. Hec sunt mulicres ut viri preliantes. Duas namque quondam reginas
pulchras gnarasque et elegantes instituemnt. Quarum una Marpesia vocabatur,
altera Lamperta Masculos enim necantes, feminas vero servantes atque curiose
wehrhaften, mit Helm, Schild und Schwert bzw. Spieß ausgerüsteten
Gestalten als rnännergleich kämpfend, erfahren und bildschön, nicht
ohne zugleich ihre Rücksichtslosigkeit anzuprangern, da sie angeblich
ihre neugeborenen Silhne töteten und ihre rechte Brust dem Kampfgeist
im Bogenschießen opferten.
Als ihr Sitz galt Themiskyra, ein stark befestigter Platz, in der Karte
umgeben und abgesondert durch einen JCreis.lo3 Und ihre erschreckenden Utensilien wurden sogar zum Vergleichsmaßstab, denn
die Blätter eines benachbarten Riesenbaumes sollen, der beigegebenen
Erklärung zufolge, die Ausmaße eines Arnazonenschildes erreicht
haben.Io4 Trotzdem sind die beiden Frauen durchaus e*f,
ihre
langen Haare und faltenreichen Röcke konstituieren einen reizvollen
Gegensatz zum knielangen Waffenrock und betonen eine fiemde und
doch in vielem vertraute Weiblichkeit. Wären nicht die Beschreibung
des grausamen Handelns und die militante körperliche Erscheinung, so
könnte die zierliche Schönheit durchaus auf geordnete höfische
Lebensformen de~ten.'~'
Doch fremde Frauen konnten sich offensichtlich nur profilieren,
wenn sie ihr Geschlecht mit männlich konnotiertem Verhalten, also der
Inszenierung von Kraft und Tapferkeit, überspielten. Verbunden war
dies häufig mit der Versehrtheit des schwachen Frauenkörpers.
Befilhigte deshalb speziell das Fehlen einer Brust zur Wahrnehmung
männlicher Aufgaben? Eine Abweichung in Sitten und Gebräuchen
korrespondierte zumindest nicht selten mit körperlicher Signifikanz.
Ranulf Higden erwähnte in der Mitte des 14. Jahrhunderts neben dem
männlichen Kampfstil ("viriliter militantes") insbesondere das Fehlen
der rechten Brust als typisches Kennzeichen der in Asien angesiedelten
'03
IM
'Oa
nutrientes nec non cura belli imbuentes, dextrasque earum papillas, ne iaculo
sagittarum lederentur, exusserunt." Vgl. Arentzen: Imago Mundi Cartographim
(wie Anm. 84). S. 188 E; Pollmann: Der Ammnenmythos (Anm. 93), S. 37;
SehUlting: Wilde Frauen, fremde Welten (wie Anm. 83), S. 54 £; Abb. bei HahnWocrnle: Die Ebstorfer Weltkarte (wie Anm, 131, S. 57.
Miller: Mappacmundi, Bd. 5 (wie Anm. 13), S. 34: "Temiscerinum oppidum".
Miller: Mappacmundi, Bd. 5 (wie Anm. 13), S. 49: "Arbores
hlia vero eius
magnitudinem Iiabe(a)nt peito Amwonum".
Vgl. Brinker-von der IIeyde: Br ist cin rchtez wfphere (wie Anm. 931, S. 406-
...,
409.
Arnazonen.lo6 Daneben stellte er noch die Hermaphroditen als
Kreaturen beiderlei Geschlechts; gemäß Plinius und Isidor wiesen auch
sie, wenngleich aus anderen Gründen, denselben korperlichen Defekt
auf, denn sie waren dazu verurteilt, die rechte weibliche Brust zu
entbehren.lo7In der Herefordkarte gehören diese doppelgeschlechtlichen
Wesen zu den Erdrandvölkern in Äthiopien, nicht weit entfernt von den
Psylli, aber noch ohne eine Schilderung solch geschlechtlicher Merkmale.'08
Abb. 12: Weltkarte des Andreas Walsperger (1448), Ausschnitt mit den
Amazonen; Biblioteca Apostolica Vaticana, Pal. lat. 1362 B (Faksimile: Weltkarte
des Andreas Walsperger, Pal. lat. 1362 B. Erläuterung von Edmund Pognon. Zürich
1987).
106
107
108
Miller: Mappaernundi, Bd. 3 (wie Anrn. 9), S. 101: " A m m e s sunt femine sine
mamillis dextris, per se ipsas [per sagittas?] viriiiter militantes." Die
Klammerversion im Zitat klingt überzeugender.
Miller: Mappaemundi, Bd. 3 (wie Anm. 9), S. 103: "Hemifrodites utriusque
sexus, dextram mammam habent virilem, sinistram rnuliebrern" in ~nknüpfung
an Plinius 7,34 und lsidori Hispalensis Episcopi Etymolqrjamm sive originum
(Anm. 94), Bd. 2, Lib. XI, 3, 11.
Miller: Mappaemundi, Bd. 4 (wie Anm. I), S. 38: "Gens uterque sexus
innaturales multirnodus modis"; vgl. Bevan und Phillott: Medieval (ieography
(wie Anm. 42), S. 102; Terkla: lmpassioned Failure (wie Anm. 49). S. 266.
Abb. 13: Weltkarte des Andreas Walsperger (1448), Ausschnitt mit den b8itigen
Frauen; Biblioteca Apostolica Vaticana, Pal. lat. 1362 B (Faksimile: Weltkarte des
Andreas Walsperger, Pal. lat. 1362 B. Erlautenmg von Edmund Pognon. Zürich
1987).
Trotz der wachsenden Skepsis der Kartographen besiedelten die
Amazonen bis zum 15. Jahrhundert weiterhin die Mappae mundi. Die
gesüdete Borgia-Karte bildete diese militanten Weiber nicht nur im
Nordosten ab, sondern rechnete sie auch unter die berühmten Frauen;
besonders hervorgehoben wird freilich die in jedem mittelalterlichen
Trojaroman auffretende Kämpferin Penthesilea, die dem Griechen
Achilleus vor Troja zum Opfer fie1.1°9 Andreas Walsperger verwies die
Amazonen hingegen mit einem kurzen Text und ohne Illustration (Abb.
12) in die Weiten Asiens, in einen eigenen Landstrich ("Amazonum
mulierum regio") auf halber Strecke zwischen Jemsalem und dem
Paradies. In gewisser Entfernung davon verortete der Benediktiner in
einem Text ohne Abbildung übrigens einen anderen spektakulären
Frauentyp, die auf einer Halbinsel im Indischen Ozean lebenden
bärtigen Frauen (Abb. 13), von deren Existenz er nicht nur durch die
klassischen Autoren, sondern auch durch den ethnographisch
I09
Miller: Mappaemundi, Bd. 3 (wie Anm. 9), S. 149: "Terra quondam illustrium
mulierum" und "Pentesilea ad Troiarn multa bella et Grecos debellavit".
interessierten Hamburger Erzbischof und Geschichtsschreiber Adam
von Bremen erfahren haben k ö ~ t e . ' ' ~
Selbst der überaus kritische Fra Mauro konnte sich der Anfechtung
nicht entziehen, die Provinz der Kriegerinnen ("provincia amazones")
trotz aller sonst zur Schau gestellten Skepsis gewissenhaft zu
verzeichnen (Abb. 14),'11 obwohl zweifellos viel bescheidener und
weniger aumllig als zuvor beispielsweise im Katalanischen Weltatlas.
Dort erscheint die zu diesem Zeitpunkt kartographisch fast obligate
Frauenregion ("Regio Fernm'') als isoliertes Inselreich auf Ceylon,
genannt "Illa Jana" (Abb. 15), auf der eine langhaarige weibliche
Herrschergestalt thront, die h&hstens durch das übergroße Schwert in
der Rechten an eine Arnazonenkönigin er+
A---nsten figuriert sie
it .einer goldenen
majestätisch in mittelalterlich europäischem
Krone auf dem Haupt, einem Reichsapfel
,mken und einem
Abb. 14: Weltkarte des Fra Mauro (1459), Ausschnitt mit den Amazonen;
Venezia, Biblioteca Nazionale Marciana (Faksimile: ii Mappamondo di Fra Mauro.
A cura di Tullia Gasparrini L.eporace. Rom 1956).
110
I"
Miller: Mappecmundi, M.3 (wie Anm. 9), S. 147: "Mulietes hic suni tmbatc*';
vgl. K m d Kretschmer: Eine neue mittelalterliche Weltkarte der vatikanischen
Bibliothek. In: Zeitschrift der Gesellschaft lür Erdkunde m ßerlin 26 (1891), S.
371-406, bes. S. 387 und 399.
I1 Mapparnondo di Fra Maum (wie Anm. 18), Tav. MMII, 192.
Königin von llla Jana; Paris, Biblioth&que Nationale, Esp. 30 (Faksimile: Der
Katalanische Weltatlas vom Jahre 1375. Mit einer EinRhning und fTbersetmgen
von Hans-Chnstian Freiesleben. SMtgart 1977).
faltenreichen Gewand in den prunkvollen Farben blau und rot."*
Allerdings greifi die der Insel beigefügte Beschreibung dieses Thema
nicht auf, sondern preist nur die üppige Vegetation und die erlesenen
Gewürze.
Die Vorstellung vom Amazonen- oder Frauenland als Umkehrung
der eigenen kulturellen und sozialen Geschlechterordnung erscheint in
nahezu allen mittelalterlichen Weltkarten vom 12. bis zum 15.
Jahrhundert, auch wenn sich Kleider, Waffen und Herrschafiszeichen
der Herrschafisträgerinnen der zeitgenössischen europaischen Lebensart anpaßten. Zuletzt wurden die streitbaren Frauen gleichsam als
wachsende Gefahr fit die europäische Ordnung im 16. Jahrhundert
nach Südamerika transferiert. Ein Beispiel ist die 1599 erschienene
Karte des kalvinistischen Kupferstechers und Frankfurter Bürgers
Theodor de Bry, der den Flußnamen Amazonas mit dem Frauenvolk
der Amazonen erklärt, die nur einen Monat pro Jahr mit Mämern
112
Der Katalanische Weltatlas. Hrsg. Freiesleben (wie Anm. 15). S. 2 1.
zusammenleben, um auf diese Weise immerhin vergnügt fur den
Nachwuchs, bevorzugt Töchter, zu sorgen.l13
Den angeblichen Grund und die vermutlichen Wurzeln fiir die
Versetzung der Amazonen nach Südamerika sah die Forschung im
historischen Kampf eingeborener Frauen gegen die europäischen
~r0berer.l'~
Die Amazonen wurden auf den Karten zuerst d e r weiter
in den Norden Europas, den man gerne mit den grausamen und
barbarischen Völkern besiedelte, und dann in die Steppen Asiens oder
Atrikas verrückt, um zuletzt nach Südamerika an den Amazonas
befördert zu werden. Ein solcher Transfer erfolgte vereinzelt auch mit
anderen, vorher in Indien verankerten Merkwürdigkeiten oder
Monstergestalten; zu erinnern ist z.B. an die Verschiebung der
Kormoranfscherei nach Guayana oder auch der Kopflosen an den
~rinoko.'" Solche Translationen folgten dem aktuellen Erfahrungshorizont und der literarischen Tradition, die das Vorkommen
dieser Gestalten garantierte. Bei den Amazonen war es wohl sogar eine
direkte Reaktion auf das verblüfft wahrgenommene Phänomen der
kämpfenden Frauen, das man zuerst bei den zentralasiatischen
Steppenvökern der Mongolen bemerkte, deren recht eigenständige
Frauen an der nomadischen Kriegfbhng teilnahmen, nicht ohne die
europäischen Beobachter durch größte Fertigkeiten im Bogenschießen
und Reiten zu erstaunen.ll6 Das spätere Pendant in Südarnerika,
genauer ein Gefecht mit kriegerischen Amazonen, beschrieb vor allem
Gaspar de Carvajal, Teilnehmer an der Amazonas-Expedition von
1542."' "Erkenntnisleitendes Prinzip"118 bei dieser geographischen
114
'I5
'I6
'1
Arentzen: Imago Mundi Cartographica (wie Anrn. 84), Abb. 97 und S. 188 E:
"Amazones daher diser große Fluß [SC. Amazonas] den nahmen hati ist eine
Nation so furnemlich in Weibern bestehet welche im Jahr nur einen Monat
haben in welchem si sich zu den Männern geselln alss im Aprillen in dißem
Monat sind si lustig vnd gutter ding vndn einander mit Dantzen springen und
banckenern als balt aber disa Monat auß ist gehen ein yder wider seinen weg.
wen nun diße Weiber einen Sohn gebahren schicken si den selben seinem Vatter
heim ist es aber ein Tochter behalten sie diselbe vnd schicken dem Vater eine
Verehrung dafuhr."
Vgl. Arentzen: Imago Mundi Cartographica (wie Anm. 84), S. 188 ff.; Schtilting:
Wilde Frauen, fiemde Welten (wie Anm. 83), S. 53-58.
Vgl. Folker E. Reichert: Columbus und Marco Polo - Asien in Amerika. Zur
Literaturgeschichte der Entdeckungen. Iri: Zeitschrift fiir Historische Forschung
15 (1988), S. 1-63, hier S. 57-60.
Vgl. Reichert: Fremde Frauen (wie Anm. 8), S. 170 f,
Vgl. Reichert: Colurnbus (wie Anm. 115), S. 59.
Verortung war, wie Folker E. Reichert bereits anschaulich demonstriert
hat, die persönliche Erfahrung, die die Kartographen von den
Berichterstattern übernahmen, ohne allerdings eine moralische Wertung
und Deutung der Antagonismen einfließen lassen zu wollen.
Der Mythos der Amazonen war eng verbunden mit der beerchteten
Existenz separierter Frauen, meist auf einsamen Inseln im Indischen
Ozean. Aber während Ranulf Higden bei den allein auf den Gorgaden
lebenden rauen“^ noch keinerlei Gedanken zur Fortpflanzung
entwickelte, versuchten die späteren Kartenautoren diese Frage bewußt
zu klären. Fra Mauro schildert beispielsweise an zwei Stellen die
Trennung von Männern und Frauen auf Inseln irn Indischen Ozean,
nicht ohne zu betonen, daß sie drei Monate pro Jahr zusammenleben
konnten.120 Dieses Motiv fand auch Eingang in die spätmittelalterliche
Dichtung, zumindest in die Verse eines Reiseliedes Oswalds von
Wolkenstek. "Vierhundert weib und mer an aller manne zal I vand ich
ze Nio, die wonten in der insell smal; I kain schöner pild besach nie
mensch in ainem ~al".'~'Die vierhundert oder noch mehr Frauen, die
Oswald ohne alle Manner auf der kleinen Mittelrneerinsel Nios
angetroffen haben will, boten ihm also angeblich einen so schönen
Anblick, wie ihn noch nie ein Mensch auf einer einzigen Stelle sah. Die
Kombination aus sinnlicher Schönheit und kollektiver sozialer
Eigenstandigkeit faszinierte und erstaunte in der konsequenten
Umkehrung der patriarchal strukturierten Ordnung Europas. Ergebnis
war die geographische Verräumlichung dieser paradoxen Weiblichkeit
in den variierenden Grenzregionen der individuellen Erfährung.
Die imaginative Auseinandersetzung mit fremden Frauenräumen
erstreckte sich auch auf das Ereignis der Geburt, einen für den
'I8
'I9
lZ0
12'
Vgl. Reichert: Columbus (wie Anm. 115), S. 63.
Miller: Mappaemundi, Bd. 3 (wie Anm. 9), S. 107: ccGorgadesinsula a feminis
solis incolitur."
il Mappamondo di Fra Mauro (wie Anm. 18), Tav. III, 1, S. 24: "Queste do'isole
sono habitade p(er) christiani. In una de le qual 906 in nebila habita le done e in
l'altra dita mangla habita li lor homeni, i qual solamente tre mesi de I'ano stano
con le done."; ibid., Tav. JV,6, S. 24: "Circa hi ani del Signor 1420 una naue
ouer goncho de india discorse per una trauersa per el mar de india a la uia de le
isole de hi horneni e de le done de fbora da1 cauo de diab e tra le isole uerde e le
oscuritade a la uia de ponente e de garbin".
Die Lieder Oswalds von Wolkenstein. Hrsg. von Kar1 Kurt Klein. 3. neubearb.
und erw. Aufl. von Hans Moser, Norbert Richard Wolf und Notburga Wolf.
Tübingen 1987 (Altdeutsche Textbibliothek 55), Nr. 18 ("Es fügt sich"), Str. VI,
81-83, S. 51 f.
männlichen Kartographen wegen Kultur und Geschlecht doppdt
fremden Handlungmum. Die ungeheure Macht der Frau bei der
menschlichen Reproduktion dürfte die männlichen Denk- und
Wahmehrnungskategorien enorm angeregt haben. In den Weltkarten
diskutiert wurden Gebärverhalten, gebarfahiges Alter und, als
machtvollstes Symbol, fast grenzenlose Fruchtbarkeit. Ranulf
~ i ~ d e n "und
' die unbekannten Schöpfa der ~bstortkarte'~~
schildern
beispielsweise, nach Aussagen der Historia naturalis des älteren
Plinius und der darauf aufbauenden Sammlung w n Merkwürdigkeiten
des Caius Iulius Solinus, einen Stamm an der asiatisch-afrikanischen
Grenze, dessen Frauen im Alter von fUnf Jahren Kinder gebaren, ehe
sie mit zehn oder sogar sieben bereits starben.
Abb. 16: Katalanischer Weltatlas (1375), dritt- Doppelblatt, Ausschnitt mit dem
Text zur Geburt; Paris, Bibliothhue Nationale, Esp. 30 (Faksimile: Der
lanische Weltatlas vom Jahre 1375. Mit einer Einfihnmg und fbemrmngen von
Hans-Christian Freiesleben. ShMgart 1977).
Aber das Ereignis der Geburt selbst, versteckt vor dem 6ffentlichen
männlichen Auge, erscheint fast nur auf dem dritten Doppelblatt des
122
Miller: Mappaemundi, Bd. 3 (wie Anm. 9). S. 103: "Hic femine quinquennes
@uni et X" annum non excedunt".
In Miller: Mappaemundi, Bd. 5 (wie Anm. 13), S. 49: *Rem alia gms hic cst, cuiuq
femine quinquennes pariunt ct Va non excedunt amium".
Katalanischen Weltatlas, auf dem ein langer Text neben Irland (Abb.
16) den alten Brauch erklärt, die Schwangere zur Geburt von der Insel
zu bringen.'24 Gerade der Rückzug zur Niederkunft gliederte die Geburt
als reine Frauenangelegenheit aus dem Alltagsleben aus. Die Karten
schildern eine Entbindung ohne dörflich-lokale Kontrolle, ohne
männlichen Schutz fur das Neugeborene und für die im Kindbett
liegende Wöchnerin, also eine, wie es Gabriela Signori so treffend
formulierte, "'Frauenwelt" mit ausgeprägtem "~efensivcharakter'~~~~
in
erhöhter Isolation und Absonderung. Dieser Ausschluß von Frauen, die
geboren hatten, aus der sozialen und religiösen Gemeinschaft war
geprägt von der Vorstellung der Gefährlichkeit der Wöchnerin; wir
kennen ihn aus fast allen Kulturen der Welt, nach einer längeren Phase
des Übergangs beendet durch eine rituelle Wiederathahrne zur
sozialen Reintegration der jungen Mutter.126Aber die vollkommene
Isolation auf einer anderen Insel durchbrach rigoros die europäische
Vorstellung von der Schutzbedüdtigkeit der Schwangeren und
Gebärenden, die sich in anderen Passagen der Weltkarten selbst dann
niederschlug, wenn der Prozeß der Fortpflanzung in der Tierwelt
beschrieben wurde.127
Mit solchen Geschichten spiegeln die Kartenentwürfe eine Welt der
matriarchalen Stärke und der weiblichen Unabhängigkeit. Zu erinnern
ist in diesem Zusammenhang auch an das aus Solinus rezipierte
'"
Der Katalanische Weltatlas. Hrsg. Freiesleben (wie Anm. 15), S. 30: "'Auch gibt
es dort eine andere Insel, wo die Frauen niemals ins Wochenbett kommen, aber
wenn sie kurz vor der Geburt stehen, bringt man sie, der Sitte gemm, von der
Insel weg".
Gabriela Signori: Defensivgemeinschaften: Kreißende, Hebammen und
"Mitweiber" im Spiegel spätmittelalterlicher Geburtswunder. In: FrauenBeziehungsgeflechte im Mittelalter. Hrsg. von Hedwig Röckelein und HansWerner Goetz Frankfurt am Main 1996 (Das Mittelalter. Perspektiven
mediävistischer Forschung 2), S. 113-134, bes. S. 133.
Zur Geburt besonders vom 16. bis 19. Jahrhundert vgl. Eva Labouvie: Andere
Umstände. Eine Kulturgeschichte der Geburt, Köln, Weimar, Wien 1998. Zum
Ritus der Reinigung nach der Niederkunft in den unterschiedlichen Religionen
vgi. Hubertus Lutterbach: Sexualität im Mittelalter. Eine Kulturstudie anhand
von Bußbüchern des 6. bis 12. Jahrhunderts. Köln, Weimar, Wien 1999
(Beihefte nun Archiv für Kulturgeschichte 43), S. 259.
Selbst die Elefanten in &ika gewährten, der Ebstorikarte mfolge, ihren
Weibchen diesen Schutz; vgl. Miller: Mappaemundi, Bd. 5 (wie AMI. 13), S. 59:
"Cum autem venerit tempus pariendi, vadit in aquam usque ad ubera sua et ibi
parit propter metum draconum quia insidiantur illis. Masculus non recedit a
femina, sed custodit eam parturientem."
Matriarchat der Garamanten irn erweiterten Libyen der Ebstorfkarte.
Bei diesem Volk direkt an der Grenze zu den Erdrandsiedlern und in
der Nähe der wilden Tiere Afrikas, darunter unbezähmbare Hunde, ein
Panther und zahlreiche Phantasiegeschöpfe, soll die ganze Ehrfurcht
der Kinder den Müttern, nicht den Vätern gegolten haben.128Und die
Borgia-Karte skizzierte an ähnlicher Stelle im südlichen Afrika die
r in der Nähe
Geburt der wilden rauen,'^^ die ohne ihre E h e m ä ~ e und
von Abimichabal, dem König der Hundsköpfigen ("cynocephali"),
ihren Kindern das Leben schenkten. Eine solch abstruse Welt, deren
Bewohner alle zivilisatorischen Normen durchbrachen, konnte letztlich
nur in der übermäßigen Hitze Afrikas, unweit des unerreichbaren
vierten Kontinents, überleben.
Leichter fiel den männlichen Kartographen eine differenzierte
Auseinandersetzung mit den von Region zu Region divergierenden
Heiratsbräuchen, denen sie sich enger verbunden fühlten. Trotzdem
verführte gerade dieses ethnographische Thema dazu, vollkommen
unterschiedliche Interpretationsansätze anzuwenden. Der Genueser
Weltkarte von 1457 zufolge praktizierten die sündhaften und
schmutzigen Männer von Java Polygynie mit beliebig vielen rauen,'^'
während Monogamie in der reichen Provinz Südchina ("Macina")
v~rherrschte.'~'Diesen Aussagen zufolge war die Anzahl der Ehefrauen
offensichtlich ein Gradmesser für das Niveau der Zivilisation,
verbunden ganz gewiß mit einem klaren Urteil zur Überlegenheit der
monogam strukturierten Gesellschaft, die mit den europäischen
Moralvorstellungen kongruierte. Doch dieses sittenstrenge Programm
128
...
Miller: Mappaemundi, Bd. 5 (wie Anm. 13), S. 55: "Garamantes
Inde est,
quod filii tantum matres recognoscunt, nam paterni nominis nulla est
reverentia" Diese matriarchalische Struktur findet keine Erwähnung bei Erwin
M. Ruprechtsberger: Die Gararnanten. Freiburg 1989 (Zeitschrift für
Archäologie und Kulturgeschichte 20. Sondernummer), S. 8 K und 23 f ni
Herodot und der Vorstellung der Dichter.
129
Miller: Mappaemundi, Bd. 3 (wie Anm. 9), S. 150: "Hic mulieres irsute
ferocissime, sine maribus partum faciunt. Abimichabal cum populo suo habens
faciem caninam."
130
Stevenson: Genoese World Map 1457 (wie Anm. 17), S. 22: "Mas nepharii et
immundi habitant homines quibus hominem occidere pro ludo; uxores quotlibet
sumunt."
131
Stevenson: Genoese World Map 1457 (wie Anm. 17), S. 52: "Hec provincia
Macina dicta elephantos gignit, hugus inwle serpentibus vescuntur deliciose
affatin et facies suas variis punctis et wloribus stiloque ferreo depingunt et S O
w r e sunt contenti."
~
wird bei weitem nicht in allen kartographischen Inserten verfolgt. Den
Eegenentwurf präsentierte unter anderem der Benediiinermönch
Mathaeus Parisiensis in einer seiner Palästinakarten aus der Mitte des
13. Jahrhunderts. Er deutete die Polygamie nämlich als ein Zeichen
a~)rmenWohlstandes. Sein Modell sind die reichen Händler, die durch
die Territorien der Beduinen von Akkon nach Damaskus zogen, denn
sie verfUgten außer über Gold, Silber, Seide, Gewürze, Kamele, Pferde,
Öl, Mandeln, Feigen und Zucker auch über so viele Frauen, wie sie nur
ertragen konnten.'32 D a Antagonismus zwischen sehnsüchtigen G e
danken an Liebesfreuden und moralisch-christlichen Zwängen ließe
sich kaum besser verbalisieren.
Besonderen Eindruck machte auf Asienreisende und Kartenmacher
jedoch das sogenannte sati-Ritual, eine Totenfolge der Witwe in
ritualisierter Form, die durch die Öffentlichkeit sanktioniert und
gesellschaftlich legitimiert war.'33 Fremde Beobachter hatten die auf
einem speziellen Jenseitsglauben basierende Totenfolge bereits in der
Antike entdeckt, das Wissen darum wurde bald allgemeines
Bildungsgut. Am verbreitetsten war die geschlechtsspezifische
individuelle Totenfolge der Witwe sicherlich in Indien mit der engen
Anbindung der Frau an den männlichen Leichnam bei der
Verbrennurig, wobei die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen
Erscheinungsformen ungeklärt und die Ursprünge nicht greifbar sind.'Y
Ziel dieses unnatürlichen Selbstopfers war die zeremonielle Wie
derVereinigung mit dem Verstorbenen im ~enseits.'~'Mittelalterliche
Reisende wie Ibn Ba#ii@, Marco Polo, Odorico da Pordenone und
Niccolb de' Conti griffen das Thema begierig auf.136 Der fkeiwiilige
Tod in den Flammen, insbesondere der Frauen der Kriegerkaste, konnte
132
'33
'34
'36
Lewis: The Art of Matthew Paris (wie Anm. 12), S. 359 und S. 508, Anm. 91:
"Tant unt de femmes curn poent sustenir." Vgl. ibid., S. 350, Figure 214 mit
dem entsprechenden Kartenexemplar aus Carnbridge, Corpus Christi College 26,
f: Inv.
Vgl. Jörg Fisch: Tödliche Rituale. Die indische Witwenverbrennung und andere
Formen der Totenfolge. Frankfurt am Main, New York 1998, bes. S. 213 E;
Gila Dharampal-Frick: Indien im Spiegel deutscher Quellen der Frühen Neuzeit
(1500-1750). Studien zu eincr interkulturellen Konstellation. Tiibingen 1994, S.
132 i'f. izum satI-Ritual.
Fisch: Tödliche Rituale (wie Anm. 133), S. 152 E
Vgl. Fisch: Tödliche Rituale (wie Anm. 133), S. 16-17,
Fisch: Tödliche Rituale (wie Anm. 133), S. 228 R; Reichert: Fremde Frauen
(wie Anm. 81, S. 172 f:
Abb. 17: Katalanischer Weltatlas (1375). sedtstes Doppelblatt, Ausschnitt mit
der Feiserbestattung in Indien; Paris, Bibliotheque Nationale, Esp. 30 (Faksimile:
Der Katalanische Weltatlas vom Jahre 1375. Mit einer Einfühnmg und übersetaingen von Hans-Chnstian Freiesleben. Stuttgat 1977).
entweder als Zeichen der vollständigen Unterwtf i n g biis ins Jenseits
oder wegen der Standhaftigkeit und Entschlosseriheit der Ehehuen als
.. weraen. Folge war
geschlechtsspezifisches Heldentum interpretiert
entweder eine weibliche Heroiisierung cder der Blick auf die Frau als
uneingeschränkter Besitz d ai M a m%, der allein Anspruch auf
Begleitung erheben konnte.
Im Katalanischen Weltatlas wird die
stattung des
verstorbenen Mannes einprägsam abgebildet (Al
!er greise Tote
.. ..
liegt gekrümmt in einer Art Taufbecken, das in gieicnsam bibilscher
Tradition an die Verbindung der läuternden Kräfie Was;ser und Feuer
gemahnt. Daneben stehen drei Musikanten, die mit Lyra Bratsche und
L%.-?- .- . B Fdas~
Blockfl6te vergnügt aufspielen, während ein omiger W
ie
Feuer entfacht. Der Begleittext schildert nicht nur d Trauex der
Angehörigsondern auch den Umstand, daß sicii die W 'itwen
PI.
..
angeblich manchmal in das Feuer stüraen, wiihrmd die onemanner in
.
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8
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~
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dieser Weise niemals ihren verstorbenen Frauen nachf01gten.l~~
Diww
plastische Konzept vermischt zwei verschiedene Passagen aus dem
Divisament dou monde des Venezianers Marco ~ 0 1 0 : Einerseits
'~~
soll
das Zeremoniell der Leichenverbrennungen am Saum der Wüste Gobi
in der inneren Mongolei vom Lärm vieler Instrumente begleitet worden
sein. Andererseits beobachtete Polo das sati-Ritual selbst erst auf der
Reise durch die Maabar-Frovinz an der Südspitze Vorderindiens. Sein
Versuch, über die bewunderte, fur freiwillig gehaltene Selbstverbrennung aus Liebe zum verstorbenen Gatten zu informieren, endete in
der schlichten Feststellung, daß die satis von allen Leuten sehr
gepriesen würden, während die Frauen, die ihren Gatten nicht folgten,
verachtet und beschimpft würden. Solche Informationen kamen
sicherlich von einheimischen Gewährsleuten, die diese Sitte billigten
und sogar idealisierten. Und vielleicht war Indien noch "zu fiemd, m
an europäischen Maßstäben gemessen zu werden".'39 Aber spätestens
der Franziskanermönch Odorico da Pordenone und der venezianische
Handelsreisende Niccoli, de' Conti, von denen der eine 16, der andere
fast 25 Jahre in Asien unterwegs war, dürften persönlich am Geschehen
teilgenommen haben; sie hinterfragten den makabren Brauch und
erkannten den enormen Druck sozialer ~anktionen.'~~
Diese immer differenzierteren Beobachtungen spätmittelalterlicher
Indienfahrer wurden irn Laufe der Zeit auch in einzeine Weltkarten
übertragen. In der Mitte des 15. Jahrhunderts verweist die Genueser
Weltkarte auf die sozialen Zwänge bei der indischen WitwenDer Katalanische Weltatlas. Hrsg. Freiesleben (wie A m . 15), S. 23 und 32:
"Wißt, daß man die Männer und Frauen, wenn sie gestorben sind, mit
Musikinstrumenten und vergnügt zum Verbrennen irägt? obwohl die
Angehörigen weinen. Und bisweilen, aber selten, kommt es vor, daß die Frau
eines Verstorbenen sich mit dem Gatten ins Feuer stürzt, dagegen werfen sich
die Gatten niemals zu ihren Frauen ins Feuer."
'38 Vgl. M w Polo: Ii Milione. Prima edizione integrale a c u a di Luigi Foscolo
Benedetto. Florenz 1928 (Comitato Geografico Nazionale Italiano. Pubblicazione
nr. 3), C. 58, S. 44 f. und C. 175, S. 181; in gekürzter deutscher Übersetzung:
Marco Polo: Von Venedig nach China. Die größte Reise des 13. Jahrhunderts.
Neu hrsg, und kommentiert von Theodor A. Knust. Tübingen, Basel 1973. ND
Darmstadt 1983, Buch I C. 38, S. 95 und Buch III C. 20, S. 281.
13' Fisch: T6dliche Rituale (wie Anm. 133), S. 355.
Iteichert: Fremde Frauen (wie Anm. 8), S. 173 E; zu Odorich vgl. auch Folker E.
Reichert: Eine unbekannte Version der Asienreise Odorichs von Pordenone. In:
Deutsches Archiv Alr Erforschung des Mittelalters 43 (1987), S. 53 1-573, hier S.
562 E.
'37
verbrennung: "Hier gesellen sich die Frauen lebendig zur Leichenverbrennung ihrer Ehemänner, aber wenn sich irgendwelche aus Furcht
weigern, werden sie dazu gezwungen."'41 Selbst wesentlich spätere
Reisebeschreibungen verwerteten das dramatische Motiv fur die
Gestaltung von Text und Illustration: Die aus dem Jahre 1515
stammende Augsburger Ausgabe der Orientreisen des Ludovico de
Varthema zeigt die Witwe in einer Feuergrube, umgeben von diabolisch
wirkenden Priestern, die auf sie einschlagen, während der Priesterkönig
seine Befehle gibt und im Hintergrund ein Teufel assistiert. Diese
ambivalenten Vorgaben wurden weiter rezipiert, beispielsweise in der
1535 erschienenen Lyoner Ausgabe der Geographie des Claudius
Ptolemäus, in der die betende Witwe in der Feuergrube von einem
hüpfenden Teufel mit Stab bewacht
Eine solche Ausgestaltung des Themas aus europäischer Sicht
hplizierte natürlich vermehrt ein Werturteil, verbunden mit dem
Verweis auf die grausamen Gewohnheiten und barbarischen Sitten, zu
denen nur die Anderen, die "Unzivilisierten", fähig waren. Aber die
dabei sichtbare patriarchale Struktur, die "Dominanz des einen
Geschlechts über das andere (konkret der Männer über die rauen)"'^^,
thematisierte bis zum 15. Jahrhundert ausdrücklich wohl nur der
kastilische Adelige Piero Tafur, der den aus Indien kommenden Niccolb
de' Conti 1436137 auf dem Sinai befragt haben wollte und dessen
Erlebnisse au£zeichnete, nicht ohne seine eigenen WahrnehmungsDie Aussagen in den Weltkarten bleiben
muster dur~hnisetzen.'~~
hingegen kurz und möglichst sachlich; weitere Wertungen blieben
höchstens dem kenntnisreichen und literarisch vorgebildeten Betrachter
überlassen.
Eine ähnliche Adaption bestimmte auch die Aufnahme anderer
phantastischer Geschichten, die das in der europäischen Gesellschaft
141
142
143
Stevenson: Genoese World Map 1457 (wie Anm. 17), S. 48 f.: "Hic uxores
virorum suorum exequias ignitas vive comitantur et si que pavide renuunt ad id
compelluntur."
Folker E. Reichert: Von Mekka nach Malakka? Ludovico de Varthema und sein
Itinerar (Rom 1510). In: Beschreibung der Welt. Zur Poetik der Reise- und
Länderberichte. Vorträge eines interdisziplinaen Symposiums vom 8. bis 13.
Juni 1998 an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Hrsg. von Xenja von
Ertzdorff unter Mitarbeit von Rudolf Schulz. Amsterdam 2000 (Chloe. Beihefte
zum Daphnis 3 I), S. 273-297, hier S. 294-296 mit Abb. 6 und 7.
Fisch: TUdliche Rituale (wie Anm. 133), S. 25.
Vgl. Reichert: Fremde Frauen (wie Anm. 8), S. 173.
vorgeprägte Geschlechterverhaltnisverdrehten oder sogar ins Gegenteil
verkehrten, aber manchmal auch bestätigten. Symptomatisch für diese
Ambivalenz der kartographischen Einträge ist die Queiie der
Geschlechtsumwandlung vom Mann zur Frau in der Ebstorfkarte; im
frühchristlichen Sinne dürfte sie den moralischen Abstieg und die
Entfernung vom Heil signalisiert haben, aber angesichts der in den
Weltkarten vielfach bewunderten willensstarken Frauen könnte sie eine
positive Konnotation erlangt und in Umkehrung des christlichen Ideals
eine eher extravagante Vervollkommnung verkündet haben.145 Die
kulturellen Differenzen halfen dabei, den engen europäischen
Moralvorstellungen eine ambivalente und zugleich offene Gegenwelt
gegenüberzustellen, in der den fremden Frauen alle nur erdenklichen
Charaktereigenschaftenzuzuschreiben waren.
Im Blick auf diese exotischen, wilden Frauen wurden konträre
Welten umrissen, einerseits mangelnde Zivilisiertheit, animalische
Triebhaftigkeit, physische Häßlichkeit und barbarische Sitten,
andererseits höchst bewunderte Fähigkeiten wie Mut, Selbständigkeit,
Klugheit und unbeschreibliche Schönheit, gepaart mit männlich
geballter Kraft. Der Mythos der wilden Weiblichkeit erfUI1te eine
doppelte Funktion: Neben den beiden Bildern der Wildheit zwischen
dem Guten und dem Bösen, dem Beneideten und Gefürchteten stand der
Blick auf das andere Geschlecht, das aus jeglicher Konvention befreit
war. Und in der fremdartigen Welt jenseits der Grenzen der
abendländischen Zivilisation konnten Frauen männliche Aufgaben und
männliche Verhaltensweisen übernehmen, ohne die europäische
Geschlechterordnungzu stören.
Die kartographische Selektion orientierte sich bei der Perzeption
fremder Weiblichkeit und femininer Räume vorrangig an alten
Traditionen und antiken Motiven mit einem möglichst offenen
Interpretationsangebot. Nur in diesem Rahmen fühlten sich die
Kartenzeichner verpflichtet, auch Anregungen aus individuelleren
Geschichten aufZugreifen und aktuellere Berichte über fiemde Frauen
und ihre geographischen Räume zu berücksichtigen. Dabei ließen die
Miller: Mappaemundi, Bd. 5 (wie Anrn. 13), S. 34: "Salmacis fons, quem qui
ingreditur vir, exit femina". Zum Ansatz der heutigen Forschung vgl. Was sind
Frauen? Was sind Männer? Geschlechterkonstruktionenim historischen Wandel.
Hrsg. von Christiane Eifert, Angelika Epple, Martina Kessel, Marlies Michaelis,
Claudia Nowak, Katharina Schicke und Dorothea Weltecke. Frankfurt am Main
1996.
Kartenschöpfer seit jeher persönliche Modifikationen einfließen und
setzten immer bewußt eigene Akzente. Vom ausgehenden 13. bis zum
15. Jahrhundert erweiterte sich höchstens das Themenspektnim
deutlich, und die Zweifel an den vorgegebenen Traditionen
vergrößerten sich. Aber der Modus der Ausgestaltung bestimmte in
jeder Phase die kartographischen Schwerpunkte.
Zu fragen wäre in diesem Zusammenhang sicherlich noch, ob und
wie der Geschmack des zeitgenössischen Publikums die Auswahl der
Themen beeinflußte. Die Kartographen konzentrierten sich stark auf
Motive, die antike und fnihchristliche Autoren, insbesondere
Autoritäten wie der ältere Plinius, Solinus oder Isidor von Sevilla,
längst vorgegeben hatten. Gegenüber diesem festen Kanon hatten
aktuelle Entdeckungen nur eine äußerst beschränkte Chance. Gerade
die von Augenzeugen fassungslos, aber interessiert wahrgenommenen
Sexual- und Liebesbräuche asiatischer Völker, sei es die Gastprostitution oder das Füßebinden der hine es innen,'^^ fanden deshalb
keinerlei Rezeption in den Weltkarten.
Zusammenfassung
Das abschließende Fazit richtet sich auf den Umgang mit Nachrichten
über biblische, mythische und fremde Frauen und auf die in der Vielfalt
erkennbaren Selektionsprinzipien mittelalterlicher Weltkarten. Da die
Aufiiahmefähigkeit des Mediums begrenzt war und deshalb bewußte
Entscheidungen zu treffen waren, ist nach den Leitmotiven bei der
Anfertigung dieses heterogenen und facettenreichen Kartenbildes aus
Phantasien, Mythen und Fakten, aus tradierten Topoi und neueren
empirischen Kenntnissen zu fragen, zumal es von großen inneren
Widersprüchen und Antagonismen geprägt war. Die angewendeten
Selektionsprinzipien sollen deshalb zuletzt in vier Punkten kurz
angerissen und zusammengefaßt werden:
1. Die Perzeption von Weiblichkeit konzentrierte sich in der
mittelalterlichen Kartographie auf eine relativ beschränkte Anzahl
von Motiven, wobei die Illustrationen niemals als bloße
Lückenfüller zu betrachten sind, sondern, wie an vielen Beispielen
zu zeigen war, eine bewußte Auswahl repräsentieren. Neben der
146
Folker E. Reichert: Goldlilien: Die europäische Entdeckung eines chinesischen
Schönheitsideals. Bamberg 1993 (Kleine Beitage air europäischen Oberseegeschichte 24).
Stammutter Eva im Paradies und einigen weiblichen Heiligen
waren es pseudo-historische Königinnen, sirenenhafte Fabelwesen,
regierende und vermännlichte Frauen, die immer wieder Text und
Bild der Weltkarten bereicherten. Daneben beschäftigten Matriarchat und weibliche Unterordnung, Geburt und Heiratsverhalten die
Autoren. Im Zentrum standen die Kuriositäten, Sensationen und
Absonderlichkeiten, die im biblischen, klassisch-antiken und
frühchristlichen Erbe, besonders in der Bibel, bei Plinius dem
Älteren und Isidor von Sevilla, vorgegeben waren, während
misogyne Wertungen mittelalterlicher Autoren kaum das
Kartenbild beeinflußten. Das Vertrauen der Kartenzeichner galt
alten autoritativen Motiven, deren Gehalt, wie bei Lots Frau oder
beim sati-Ritual in Indien, durchaus aktualisiert werden konnte.
Aber gegen die Überlebenskraft des antiken Erbes konnten sich die
empirischen Reiseberichte nur vereinzelt durchsetzen. Denn
Voraussetzung für die kartographische Rezeption war im
allgemeinen der Rückgriff auf bewährte antike, biblische oder
frühchristliche Stoffe, die fkeilich individuell verarbeitet werden
konnten.
2. Die Selektion der Kartographen orientierte sich also vorrangig an
traditionellen Topoi und tief verwurzelten Vorstellungskomplexen.
Anthropologische Wahrnehmungen und verdrehte weibliche Welten
hatten nur selten eine Chance, ausgiebiger reflektiert zu werden.
Der Platz reichte im allgemeinen nur für einige kurze, wenig
differenzierte Sätze, vielfach leicht abgewandelte Zitate, in die
nuancierte Wertungen kaum einfließe11 konnten und nicht einmal
sollten.
3. Die Kartographen bevorzugten deshalb Motive mit einem relativ
offenen Interpretationsangebot, das auch im Begleittext kaum
konkretisiert wurde. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang
daran, daß sowohl die biblischen und antiken Vorlagen als auch die
zeitgenössischen Reisebeschreibungen mannigfaltig nutzbar waren.
Beide dienten nicht nur der Erweiterung der geographischen und
ethnographischen Kenntnisse abendländischer Leser, sondern auch
als Spiegel der Ordnungs- und Moralvorstellungen im christlichen
Abendland, als Ausdruck der Sehnsucht nach dem Unbekannten
und als Anknüpfungspunkt für die Selbstdeutung der ~ u r 0 ~ ä e r . l ~ ~
Diese weitgehende Offenheit von Illustrationen und Kurzeinträgen
14'
Vgl. Reichert: Goldlilien (wie Anrn. 146), S. 20 zu den Reiseberichten.
eignete sich deshalb hervorragend dazu, den Antagonismus
biblischer, mythischer und fiemder Frauen hervorzukehren und die
Phantasie zeitgenössischer Betrachter allseitig zu beflügeln.
4. Bei diesem Vorgang Iäßt sich, wie eingangs angedeutet, keine
lineare Entwicklung erkennen; die Abbildung Evas im Paradies
erfolgte neben dem Mythos der kriegerischen Amazonen, die
Gräber weiblicher Heiliger ergänzten das sati-Ritual in Indien.
Allerdings lassen sich vorsichtig Schwerpunkte erkennen: Die
iniheren Karten akzeptierten die Frau nur irn Paradies im
biblischen Kontext. In den spätmittelalterlichen Karten erweiterte
sich das Themenspektrum deutlich; die Verarbeitung antiker
Motive gewann an Bedeutung. Größere Zweifel an der Tradition
ergaben sich im 15. Jahrhundert, als die Bilder an Einfluß verloren,
während narrative Texte einen größeren Spielraum erhielten. Bei
diesem Prozeß hatte die Kartengröße nur eine bedingte Relevanz
fur die Aufhahme und die Auswahl der Motive. Dies gilt
gleichermaßen fur die Perzeption biblischer, mythischer und
fiemder Frauen.