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Back to the Roots
Wenn im Sommer die Olympischen Spiele 2012 in London stattfinden, wird Segeln für
einmal mehr als nur den Status einer Randsportart geniessen. In England sind Leute wie
Iain Percy (Star) und Ben Ainslie (Finn) echte Stars. «marina.ch» nahm gut vier Monate vor
den Spielen einen Augenschein und segelte vom Solent ins Olympiarevier vor Weymouth.
Text und Fotos : Lori
Schüpbach
Für einen Engländer ist die Sache klar: Der Solent ist
die Wiege des Segelsports und Cowes bis heute das
Mekka desselben. Hier wird seit 1826 jedes Jahr im
August die von der altehrwürdigen Royal Yacht
­Squadron organisierte Cowes Week ausgetragen.
Hier hat vor über 150 Jahren der America’s Cup
seinen ­Anfang genommen, als die Engländer gegen
den US-amerikanischen Schoner «America» beim
100-Guinea-Cup rund um die Isle of Wight eine bittere
Niederlage einstecken mussten. Das berühmte Zitat
des 1. Offiziers, der zur Queen gesagt haben soll
«Your Majesty, there is no second», ging um die Welt.
Hier passierte 1979 beim berüchtigten Fastnet Race
das schlimmste Unglück in der Geschichte des Segelsports. Hier ist die Heimat von Beken of Cowes, der
wohl bedeutendsten Yachtfotoagentur der Welt. Hier
hatte Dame Ellen MacArthur über Jahre ihr Hauptquartier. Und hier ist Segeln nicht eine von vielen Freizeitbeschäftigungen, sondern Kultur.
näheren Umgebung auf Entdeckungsreise zu gehen.
Das Revier bietet alles, was Segeln spannend und
manchmal auch anspruchsvoll macht: gute Windverhältnisse, Gezeiten, teilweise starke Strömungen, viele
Leuchtfeuer und Tonnen, manchmal dichter Nebel
und immer sehr viel Schiffsverkehr.
Es ist Anfangs März und wir übernehmen eine der
42 neuen, identischen Sunsail-F40-Yachten. Die
Temperaturen können hier in Südengland – insbesondere in der Nacht – zum jetzigen Zeitpunkt noch
Unter dem wachen Auge des QHM
Portsmouth ist einer der
«Verkehrsknotenpunkte» im
Solent – von Weit her sichtbar
der berühmte Spinnaker Tower.
Die Basis von Sunsail in Port Solent (s. Kasten) ist
ideal gelegen, um im Solent zwischen dem Festland
und der Isle of Wight oder – je nach zur Verfügung
stehender Zeit, Weymouth ist gerade mal rund
50 Seemeilen von Cowes entfernt – auch in der
empfindlich kalt sein. Wir sind deshalb froh, dass uns
die Yacht «Sunsail 4022» dank Heizung mit einer
wohlig warmen Temperatur empfängt.
Um Port Solent verlassen zu können, müssen wir uns
ein erstes Mal mit den Tidentabellen beschäftigen –
sie werden in den nächsten Tagen unsere treuen Begleiterinnen sein. Fragen im Stil: «Wie hoch ist das Wasser
hier zwei Stunden nach Hochwasser in Portsmouth?»
oder «In welche Richtung und mit welcher Stärke setzt
der Strom vier Stunden vor Niedrigwasser in Dover?»
stehen dauernd im Raum respektive schwirren im
Kopf des Navigators umher. Das Hafenbecken von Port
­Solent ist mit einer Schleuse vom gut markierten Kanal
Richtung Portsmouth getrennt – ausser bei Niedrigwasser ist diese Strecke problemlos. Portsmouth selber
bietet dann einen ersten Eindruck vom SchiffsVerkehrsaufkommen in dieser Gegend. Überwacht vom
Queen’s Harbour Master (QHM), der auf Kanal 11 per
Funk das Ganze dirigiert, laufen Fähren ein und aus,
passieren Zoll- und Kriegsschiffe, Fischer und natürlich
jede Menge Yachties. Letztere müssen den so genannten
Small Boat Channel benützen – wer für einen kleinen
Stadtbummel oder einen Besuch des Spinnaker Towers
beispielsweise in der Gunwharf Quays Marina kurz anlegen möchte, muss vor der Querung des Kanals den
QHM um Erlaubnis fragen. Wie so vieles ist auch diese
Information im Channel Almanac von Reeds zu finden
– ein unerlässliches Nachschlagewerk!
Cowes lockt
Wir verlassen den Kanal, trauen uns aber nicht, unmittelbar ausserhalb sogleich Kurs nach Südwesten,
Richtung Cowes, zu setzen. Die auf der Karte – wir
benutzen selbstverständlich eine elektronische Version auf dem iPad – grün, also trockenfallend, eingezeichnete Hamilton Bank hält uns davon ab. Erst als
wir längst daran vorbei sind realisieren wir, dass laut
Tidentabelle in weniger als einer Stunde Hochwasser
mit 4,8 m angesagt ist… Der kleine Umweg tut uns
allerdings nicht weh. Wir geniessen das wunderbare
Frühlingswetter, setzen die Segel und spenden
­Neptun einen guten Schluck Gin. Auf eine tolle­
Woche in diesem reizvollen Revier.
Der Solent an einem gewöhnlichen Samstag im März,
das ist – abgesehen von den Windverhältnissen –
ungefähr wie ein schöner Sommertag auf dem Neuen­
burgersee. Unglaublich, wie viele Segel- und Motor­
yachten unterwegs sind.
Kurz vor Cowes bergen wir die Segel und fahren unter
Motor am Clubhaus der Royal Yacht Squadron vorbei
Richtung Hafen. Hier kann die Strömung bei Springtide
über 4 Knoten betragen! Im Moment ist es allerdings
ziemlich ruhig, die Tide ist demnächst am kentern. Wir
machen schliesslich an einem Steg von Cowes Yacht
Haven fest und bezahlen für einen Kurzaufenthalt
7 Pfund… Ein Bummel durch Cowes versetzt uns in eine
andere Welt. Alle 10 Meter ein nautisches Geschäft,
Cowes ist der Nabel der
Welt – wenigstens aus der
Sicht der Engländer und wenn
es um den Segelsport geht…
Sunsail Racing
Vor einem Jahr lancierte Sunsail das Programm «Sunsail Racing». 42 (!) neue,
identische Sunsail-F40-Yachten liegen seither in Port Solent bei Portsmouth bereit.
«Wir wollen Hemmschwellen abbauen und das Regattasegeln auch unerfahrenen
Leuten näher bringen», sagt Christina Hall, Marketing & PR Executive von Sunsail.
Bei den Yachten handelt es sich um leicht modifizierte Bénéteau First 40. Das von
Bruce Farr gezeichnete Modell überzeugte Sunsail sowohl bezüglich der Segel­
eigenschaften, als auch bezüglich des Interieurs. Ausgehend von Port Solent werden nun Corporate Events, Regattatrainings und Bareboat-Charter angeboten.
Gewisse Regatten wie etwa die Cowes Week stehen fix auf dem Programm, für
Gruppen von 5 bis 500 Personen werden aber auch individuelle Events organisiert.
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Karte «Europa Grundkarte» Format: 6,5 cm x 6,5 cm hoch
Southampton
Portsmouth
Weymouth ist ein klassischer
Cowes
englischer Badeort – allerdings
nicht mehr ganz so taufrisch…
Weymouth
Isle of Wight
ENGLISH CHANNEL
sämtliche grossen Bekleidungsmarken an jeder Ecke,
die Schaufenster von Beken of Cowes, der Firmensitz
von Spinlock… Zum Glück sind wir alle bereits gut ausgerüstet.
Den Needles entlang
Die Nacht verbringen wir im Lymington Yacht Haven
auf dem Festland. Das enge Fahrwasser ist bei
­Niedrigwasser und in der blutrot gefärbten Abendstimmung doppelt eindrücklich. Erst recht, wenn
plötzlich eine Fähre ausläuft…
Als eines der grossen Highlights wartet am nächsten
Tag der Needles Channel. Wir wollen bis nach
­Weymouth kommen, was auf dem direkten Weg
­etwas weniger als 40 Seemeilen entfernt ist. Aber der
Wetterbericht – geliefert in den Maritime Safety
­Information über VHF von der Solent Coastguard –
hat uns vorgewarnt: Der Wind dreht im Verlaufe des
Tages auf Westen…
Zuerst aber wie erwähnt der Needles Channel am
westlichen Ende der Isle of Wight. Die eigenwilligen
Kalkfelsen und der rotweiss gestreifte Leuchtturm sind
zwar ein begehrtes Fotosujet, die Aufmerksamkeit für
die Navigation sollte aber trotzdem nicht verloren gehen. Je nach Tide setzt hier ein Strom von gut und gerne
4 Knoten nach West-Südwest. Und dort wartet die
Shingles Bank… Zudem entstehen je nach Konstellation
so genannte Races: Praktisch aus dem Nichts heraus
baut sich plötzlich eine kurze, steile und brechende
Welle auf. Das ist zwar ein spannendes Phänomen,
aber für kleinere Yachten kann die Situation durchaus
heikel werden. Die gleiche Gefahr wartet auf unserem
Weg später südlich von St. Alban’s Head.
Weil das Wetter trotz dem tatsächlich eintreffenden
Westwind immer noch sehr schön ist – das Baro­
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Seaside
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meter bleibt in diesen Tagen praktisch konstant bei
1024 hPa – und wir die Abendstimmung nicht durch
lautes Motorenknattern stören wollen, kreuzen wir
auf unserem Weg geduldig weiter. Wenigstens muss
hier in der Weymouth Bay praktisch keine Strömung
berücksichtig werden – ein wichtiger Aspekt für die
Austragung der Olympischen Spiele.
Weymouth by Night
Kurz von 21 Uhr legen wir in Weymouth an, am Stadtquai unmittelbar vor dem Büro des Harbour Master.
Dieser ist allerdings längst nicht mehr im Büro und so
verschieben wir die Formalitäten auf den nächsten
morgen. Kurz nach uns kommt noch eine weitere
Yacht und legt bei uns «im Päckchen» an. Die Crew
sieht ziemlich mitgenommen aus – kein Wunder, wie
wir erfahren haben sie einen anstrengenden Schlag
von Cherbourg, quer über den Englischen Kanal hinter sich. Ein Ausbildungs- und Meilentörn der Royal
Yachting Association.
Wir sind gespannt, was uns Weymouth um diese Zeit
noch zu bieten hat. Und ob in irgendeiner Form schon
jetzt etwas von den Olympischen Spielen zu spüren
ist. Fehlanzeige! Zwar erhalten wir in einem typisch
englischen Pub – gewöhnungsbedürftig ist nur, dass
auch hier nicht mehr im Lokal geraucht werden darf
– noch eine Portion Fish ’n’ Chips, aber sonst scheint
das Städtchen zu schlafen. Eine Beobachtung, die am
anderen Morgen von den beiden Fischern, die gleich
neben uns ihren eher mageren Fang sortieren, bestätigt
wird. Weymouth sei ein ruhiges Nest, jedenfalls in der
Vor- und in der Nachsaison. Der klassische englische
Badeort hat schon bessere Zeiten erlebt. Die Wirtschaftskrise ist an jeder Ecke präsent. Und bei einem
Bummel durch Weymouth zeigt sich: Die Spiele sind
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noch nicht hier angekommen. Nicht wie beispielsweise auf dem Flughafen von Heathrow, wo bereits
an jeder Ecke Souvenirs von London 2012 angeboten
werden. Es wird spannend sein, Mitte Juli am gleichen
Ort vorbei zu schauen…
Der Nebel als Spielverderber
Nach einem Abstecher in die Portland Marina und
einem ausführlichen Gespräch mit deren Manager
Russ Levett (siehe Kasten) machen wir uns – auf Umwegen – auf die Rückreise. Den Needles Channel
passieren wir diesmal Mitten in der Nacht – und zwar
bei stockdickem Nebel! Ohne GPS wäre jetzt gar
nichts mehr möglich, und auch so… Wir informieren
die Solent Coastguard, dass wir unterwegs sind und
erhalten sehr freundlich und zuvorkommend Antwort.
Der Nebel soll sich in den nächsten Stunden etwas
lichten, aber auf jeden Fall werden sie uns auf dem
AIS im Auge behalten. Wir unsererseits sollen uns
sicher wieder melden, sobald wir in Yarmouth ange-
kommen seien. Auch diese kurzen Konversationen
zeigen: Segeln ist hier Kultur, Segeln wird gelebt.
Für den nächsten Tag – unseren letzten – haben wir
uns eigentlich vorgenommen, nochmals den Needles
Channel hinaus zu segeln und dann um die Isle of
Wight herum zurück nach Portsmouth. Aber erstens
kommt es anders… Als wir am Morgen den Kopf zur
Luke hinaus strecken, sehen wir kaum bis zum Bug.
Der Nebel ist so dick, dass nicht einmal die Fähre
zwischen Yarmouth und Lymington unterwegs ist.
Später wird es etwas lichter und wir machen uns
unter Motor auf den Weg. Direkter Kurs Richtung
Port Solent. Allerdings nur solange, bis uns plötzlich,
aus dem Nichts hinaus, ein Boot des Southampton
Harbour Master entgegen kommt und uns auf­
fordert, auf der Stelle abzudrehen: Wir seien auf
Kollisionskurs mit der APL Chongqing, einem 349 m
langen Containerfrachter… Noch Fragen? Wir sind
jedenfalls froh, dass Richtung Portsmouth die Sicht
wieder besser wird.
Das Olympia-Revier 2012
Dass Weymouth und Portland als Austragungsorte für die Segelregatten
der Olympischen Sommerspiele 2012 auserkoren wurden, erstaunt nicht.
In Portland Harbour befindet sich die National Sailing Academy und das
ganze Revier ist bekannt für anspruchsvolle aber gute Segelbedingungen.
Dies nicht zuletzt, weil Gezeiten und Strömungen hier nur am Rande
eine Rolle spielen. Während den Games werden insgesamt fünf Sailing
Courses zur Verfügung stehen. Drei davon mit einer Länge von 1,6 sm
in der Weymouth Bay, eine kleinere (1 sm) innerhalb der grossen
­Wellenbrecher von Portland Harbour und die kleinste (0,6 sm) unmittel­
bar südöstlich von The Nothe, einer kleinen Landzunge beim Hafen
von Weymouth. Hier finden die Medal Races statt, und zwar in nächster
Nähe zum Ufer. Und zum ersten Mal in der Geschichte der Olympischen
Spiele werden dafür Zuschauertickets verkauft.
Basis für die Seglerinnen und Segler sind die National Sailing Academy und die Portland Marina. Russ Levett, Marina Manager,
steckt entsprechend Mitten in den Vorbereitungen. «Wir sind gut im Zeitplan, aber es gibt noch vieles zu tun», erzählt er. Wir sitzen
in seinem Büro am runden Tisch. «Im Sommer werden in diesem Raum Jury-Meetings stattfinden. Wir übergeben praktisch das
ganze Gelände an die Organisatoren und sind dann nur noch auf den Stegen der Marina zuhause.» 300 Yachten sind in der Portland
Marina normalerweise stationiert – für alle musste eine Lösung gefunden
marina.ch
werden. «Während den Spielen haben hier strikte nur akkreditierte Leute
Zugang. Also Sportler, Organisatoren, Helfer, Medien. Die Leute, die ihre
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Yacht hier bei uns haben, mussten sich entscheiden: Entweder verzichten
sie während den Spielen darauf, oder sie müssen diesen Sommer in einen
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anderen Hafen zügeln.» Auf die Frage, ob denn die Olympischen Spiele eine
gute Sache für die Portland Marina seien, zögert Russ Levett einen kurzen
Moment. «Kurzfristig gesehen, haben wir einfach enorm viel mehr zu tun
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als sonst. Aber das wussten wir ja schon lange. Und mittel- bis langfristig
erhoffen wir uns natürlich schon einen Kick von den Spielen. Für die Region
[email protected]
ist das Segeln – seit das Militär nicht mehr so präsent ist – ein wichtiger
Wirtschaftszweig geworden.» Und worauf ist die Freude grösser, auf den
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Anfang oder das Ende der Spiele? «Ich freue mich sehr darauf, wenn es
endlich anfängt. Die Spannung wird langsam unerträglich…»
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