Seiltänzerin ohne Netz Sabine Hinterberger © 2012 1 Hannah s
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Seiltänzerin ohne Netz Sabine Hinterberger © 2012 1 Hannah s
Seiltänzerin ohne Netz _________________________________________________________________ Seiltänzerin ohne Netz Mein Leben war ein Auf-dem-Seile-Schweben. Doch war es um zwei Pfähle fest gespannt. Nun aber ist das starke Seil gerissen: Und meine Brücke ragt ins Niemandsland. Und dennoch tanz ich und will gar nichts wissen, Teils aus Gewohnheit, teils aus stolzem Zorn. Die Menge starrt gebannt und hingerissen. Doch gnade Gott mir, blicke ich nach vorn. Mascha Kaléko Hannah stand am Briefkasten im Hausflur und hielt mit zitternder Hand eine Postkarte von Robert in der Hand. Seine Schrift hatte sie sofort erkannt. „Liebe Hannah, meine Seiltänzerin, ich bin am Wochenende in der Stadt, hast du Zeit und Lust auf einen Kaffee im Literatur-Hotel, auf der Terrasse, wie in alten Zeiten?“ Hannah schaute auf. „Wie in alten Zeiten nennst du mich deine Seiltänzerin“, murmelte sie. Vor drei Jahren hatte sie jede freie Minute in ihrem Hotel verbracht. Stille und Ruhe in der Umgebung von Büchern genossen, um für die Arbeitswoche Kraft zu tanken. Als sie Robert kennenlernte, taten sie das. Wenn sie für ein Wochenende dort zusammen waren, schliefen sie lange, lasen sich ihre Lieblingsgedichte vor, liebten sich vor dem Frühstück, das er ihr im Bett servierte und in der Hotelküche extra für sie bestellte: Milchkaffee und NutellaCroissants, da waren sie sich einig. Nicht selten wurde der Kaffee kalt, weil ihnen mehr nacheinander als nach Kaffee war. Irgendwann am frühen Nachmittag Sabine Hinterberger © 2012 1 Seiltänzerin ohne Netz _________________________________________________________________ zogen sie sich dann nicht mehr aus, sondern an und gingen im Iserlohner Stadtwald spazieren, redeten und schwiegen Hand in Hand, von Bank zu Bank. „Trinkst du den immer noch so gerne?“ Drei Jahre war es her, dass sie den letzten Kaffee getrunken hatte. Seit fünf Jahren trank sie nur noch Tee. Kaffee, wenn sie ihn fortan nur noch roch, bereitete ihr eine solche Übelkeit, dass sie sich übergeben musste. „Eine psychosomatische Reaktion auf ihre Trennung“, glaubte ihr Hausarzt. Zwei Monate später verlor sie Roberts Kind, von dem sie bis zu der Fehlgeburt nicht einmal gewusst hatte. Trotz Pille, ganz selten, sagte die Frauenärztin. Das Kind im dritten Monat zu verlieren, noch seltener. Hannah war sich sicher, dass es ein Mädchen geworden wäre. „Wenn wir mal ein Mädchen haben, nennen wir sie Mascha.“ Er liebte das Gedicht der Seiltänzerin von Mascha Kaléko, nannte Hannah zärtlich seine Seiltänzerin und las ihr immer wieder vor. Seine Stimme ließ sie alles um sich herum vergessen, sie tauchte ab und fühlte sich sicher. „Nun aber ist das starke Seil gerissen. Und meine Brücke ragt ins Niemandsland.“ Wie sehr waren diese Zeilen zur Realität für Hannah geworden, als sie zwischen Roberts letzten Worten abstürzte, die ihr mal Halt und Seil gewesen waren. „Schreibst du noch?“ Drei Jahre war es her, dass sie Robert das letzte Mal gesehen und selbst ihr letztes Wort geschrieben hatte. Sie hatte das Vertrauen in die Kraft ihrer eigenen Worte verloren. Robert hatte ihre Beziehung mit einer einzigen SMS beendet: Ich kann diese Beziehung nicht mehr leben. Sieben Worte. 30 Zeichen reichten aus, ihre Welt zu zerstören. Dramaturgisch konnte sie von dieser SMS noch eine Menge lernen. Sie schlug mit unbarmherzig verdichteter Sprachgewalt zu, ohne Vorwarnung, mitten ins Sabine Hinterberger © 2012 2 Seiltänzerin ohne Netz _________________________________________________________________ Herz, da, wo es am meisten wehtat. Gut geschrieben, ohne Zweifel, kein Wort zu viel. Mehr brauchte es nicht, um alles klar zu machen. So brachen Welten zusammen. Lautlos und mit nicht mehr als dreißig Zeichen. Geblieben waren ihre Fragen, die er nie beantwortet hatte. Wo einmal liebevolle, poetische und verführerische Worte gewesen waren, war nur noch eisiges Schweigen, in dem sie erfrieren würde, wenn sie sich nicht von ihm löste. Hannah hatte die letzten drei Jahre gebraucht, um sich von der Trennung zu erholen. Sie hatte sich ein halbes Jahr an Robert verschrieben, doch er antwortete nie und hüllte sich in grausames Schweigen. Irgendwann gab sie auf und schrieb kein Wort mehr. Roberts bester Freund Markus hatte ihr, drei Monate nach Roberts SMS, erzählt, er habe ein Literatur-Stipendium der Lydia Eymann Stiftung Langenthal für seine Lyrik erhalten. Das sei ihm wohl mächtig zu Kopf gestiegen und mit der Zusage habe er alle bisherigen Kontakte abgebrochen, um in der Schweiz ganz neu anzufangen. Von dieser anderen Frau erzählte er ihr lieber nichts, weil Hannah so schon unsagbar litt. Sie fand es selbst heraus, als sie in der Schweizer Literaturzeitschrift Scriptum einen Artikel über ihn fand: Der neue Kurt Marti – Robert Wallner. Eine junge Frau strahlte an seiner Seite, die er liebevoll umarmte und als seine Inspiration bezeichnete. Markus und sie waren da gerade ein halbes Jahr zusammen, doch er war und blieb immer nur die zweite Wahl. Hannah konnte Robert nicht vergessen und Markus war es irgendwann leid, der zu sein, mit dem sie zusammen war, weil es Robert nicht mehr gab in ihrem Leben. „Du willst dich nicht ernsthaft mit ihm treffen, oder?“ Roberts Stimme triefte vor Verachtung, als ihm Hannah am Abend davon im Café Del Sol erzählte. „Natürlich nicht!“, antwortete Hannah schnell. Ihr Gesicht erzählte eine ganz andere Geschichte. Eine, die Markus in- und auswendig kannte, für die er Robert Sabine Hinterberger © 2012 3 Seiltänzerin ohne Netz _________________________________________________________________ bis heute hasste, weil er wusste, dass sie es tun würde und er nichts dagegen tun konnte. „Komm hinterher nicht zu mir!“ Er trank sein Iserlohner Free Lemon zu schnell, verschluckte sich und verschwand hustend auf dem Herren-WC. Hannah bezahlte für beide und ging, ohne auf ihn zu warten, in der hell leuchtenden Dunkelheit der ersten Frühlingsvollmondnacht über den Iserlohner Hauptfriedhof nach Hause. „Ich freue mich unheimlich auf dich. Ich habe dich vermisst, mehr als du ahnst!! Nach meiner Lesung lade ich dich zu einem Kaffee ein und beantworte dir alle Fragen. Bis hoffentlich Freitag, dein Robert!“ Gegen jede Logik hatte sie seit drei Jahren täglich auf ein Zeichen von Robert gewartet. Immer wieder auf das zwischen ihnen Gewesene vertraut, das sie einmal verbunden hatte. Sie hatte aufgehört, irgendjemandem davon zu erzählen. Nach der Trennung von Markus lebte sie allein und wollte es bleiben. Als Hannah an diesem Abend das Hotel durch die Drehtür betrat, sah sie ihn sofort. Er hatte sich kaum verändert. Die Haare waren von feinen grauen Strähnen durchzogen, was ihn nur noch attraktiver machte. Und seine Augen, diese blauen Augen, funkelten immer noch so, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Es schien ihr, als hätte es die letzten fünf Jahre ohne ihn nicht gegeben. Sie ging einen Schritt auf ihn zu und noch einen. Wenn er sie jetzt bemerkte, zeigte er es nicht. Sie ging direkt auf ihn zu. Er drehte sich herum und nahm seine Sonnenbrille ab. Ein Lächeln auf seinem Gesicht. Hannah zögerte. Nicht lächeln jetzt, bitte nicht! Sie hatte seinem Lächeln noch nie widerstehen können. Sie stand nach drei weiteren Schritten ganz nah vor ihm. Sabine Hinterberger © 2012 4 Seiltänzerin ohne Netz _________________________________________________________________ „Hallo, meine Seiltänzerin!“, sagte er. „Hallo!“, sagte Hannah. Dann küsste sie ihn und konnte später nicht einmal sagen, warum sie das tat. Natürlich wusste sie, warum sie das tat. Robert sah unverschämt gut aus. Und sie dachte, nur noch einmal… Er erwiderte ihren Kuss. Er, der angeblich eine Beziehung mit ihr nicht leben konnte, erwiderte ihren Kuss. Darauf war sie nicht gefasst, damit hatte sie nicht gerechnet. Und der Kuss dauerte länger, viel länger, als sie ihn küssen wollte und deshalb holte sie aus, um ihn zu ohrfeigen. Doch er war schneller und hielt ihren Arm fest, nahm ihre Hand und ließ sie nicht mehr los. Sie erstarrte in ihrer Bewegung und schaute auf seine und ihre Hand. „Du musst schneller werden!“ Er grinste sie an. Hannahs Worte hatten das Hotel nach dem Kuss fluchtartig durch die Drehtür verlassen. Zu sehr spürte sie seine Hand, die ihre fest umschloss. Er bewegte sich nicht, sagte kein Wort, schaute sie nur an. Sie sah in seine Augen und es war so, als wären sie noch immer zusammen und hätten sich erst gestern das letzte Mal gesehen. Hannah riss sich zusammen und aus ihren Gedanken und dem Moment heraus. Er hielt immer noch ihre Hand. Eine Frau, die Hannah aus der Scriptum kannte, kam auf sie zu. An ihrer Hand ging ein Mädchen, das seine blauen Augen hatte. Robert ließ Hannahs Hand los, drehte sich zu der Frau herum und küsste sie zur Begrüßung: „Darf ich dir meine Frau Johanna und meine Tochter Mascha, unsere kleine Seiltänzerin, vorstellen?“ Sabine Hinterberger © 2012 5