Moderner Literaturunterricht und

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Moderner Literaturunterricht und
NEUE FORMEN DER LEISTUNGSMESSUNG
Ç
Herbst | Winter
• Deutsch Extra
•
2003
Moderner Literaturunterricht und
Prüfungsanforderungen – ein Spannungsfeld?
Die Interpretation: Didaktik und Bewertung |
Reinhard Lindenhahn, Bad Dürrheim
Angesichts der Diskussion um Stan-
In der PISA-Studie wurde festgestellt: Den
reichungen dieser Art suggerieren nämlich,
dards für den Deutschunterricht und
Schülerinnen und Schülern fehlen Grund-
dass es einen Generalschlüssel für alle
der damit verbundenen Vereinheitli-
lagen zum angemessenen Umgang mit
Romane, Gedichte, Kurzgeschichten usw.
chung von Leistungskontrollen stellt
Texten. Also bringt man ihnen nun „Hand-
gibt, den man sich nur aneignen müsse,
sich die Frage, wie dennoch ein schü-
festes“ bei, liefert ihnen gewissermaßen
um damit, einem bestimmten Schema
lerzentrierter Unterricht möglich ist.
Hammer und Nägel, damit sie die Inter-
folgend, alle noch so kryptischen Texte
Besteht nicht im Literaturunterricht
pretation festklopfen können.
z. B. ein Widerspruch zwischen dem
Doch
Ruf nach Handlungsorientierung und
damit das gewünsch-
erzielt
man
den Vorgaben zur Leistungskontrolle,
te Ergebnis?
entschlüsseln und mithin zur Zufriedenheit der Lehrkraft interpretieren zu können.
die textnahe Interpretationen und den
gekonnten Umgang mit literarischem
Rüstzeug verlangen? Wie lassen sich
vor diesem Hintergrund Aufgaben im
Rahmen eines gestaltenden Interpretierens beurteilen? Gibt es dafür praxistaugliche Kriterien?
Interpretationshilfen gegen die
Unsicherheit
Der Wunsch seitens der Schüler und auch
Prinzipiell falsch
seitens der Lehrkräfte nach „handfesten“
ist diese Idee ja auch
Kriterien für eine „gelungene“ Interpreta-
nicht. Schließlich kann ein
tion ist durchaus verständlich. Noch nie
gewisses Inventar an Beobachtungs-
zuvor gab es ein derart vielfältiges Angebot
kriterien den Schülerinnen und Schülern
an Modellinterpretationen und Anleitun-
Erreichen wir damit detailgenaues, text-
durchaus einen Eindruck davon vermitteln,
gen zum Umgang mit Texten verschiede-
nahes Lesen? Wird das Anliegen der PISA-
worauf sie, wenn sie sich auf einen Text
ner Textsorten („Wie interpretiere ich …“).
Studie nicht ins Gegenteil verkehrt?
genauer einlassen, überhaupt achten kön-
Die Lernenden glauben, damit das von
Es stellt sich also die Frage, was Schülerin-
nen. Nur wer z. B. weiß, was unter „Zeilen-
ihrer Lehrkraft vermeintlich zurückgelasse-
nen und Schüler nun wirklich brauchen,
stil“ zu verstehen ist, wird bei der Analyse
ne Wissensdefizit auszugleichen. Und Leh-
um kompetent mit Texten – auch Sach-
eines Gedichts aus dem Expressionismus
rende verwenden die Anleitungen vielleicht
texten – umgehen zu können. Und wie
auf diese Besonderheit achten und sie in
als Orientierung für eine solide Basis der
sich dies in einer Leistungskontrolle darstel-
der Gesamtinterpretation bedenken. Und
Textinterpretation. In der Praxis kann dies
len und überprüfen lässt.
nur, wer ein Metrum analysieren kann,
dann bedeuten, dass z. B. eine Gedicht-
wird merken, dass der letzte Vers in Rilkes
interpretation in der Regel mit einer so
Die Basis ist nicht deklaratives Wissen
Panther eine Hebung weniger hat als der
genannten Formanalyse beginnt.
Um keine Missverständnisse aufkommen
Rest des Gedichts, und vielleicht weiß er
Was eigentlich gedacht ist als grundsolides
zu lassen: Der Einsatz von Lernhilfen und
mit dieser Tatsache sogar interpretatorisch
Arbeiten am Text, kann dann in den
Modellanalysen ist durchaus legitim, in
etwas anzufangen. Insofern haben solche
Prüfungen zu einer schablonenhaften
vielen Fällen sinnvoll und natürlich auch
Kenntnisse durchaus ihren Sinn. Aber sie
Pflichterfüllung werden – ohne wirkliche
in höchstem Maße verständlich. Aber er
sind eben nicht per se schon eine gelunge-
Substanz.
ist eben nicht unproblematisch: Hand-
ne Interpretation.
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Ein Beispiel: Verfall von Georg Trakl
Angesichts dieses interpretatorischen Dop-
Methoden lehren, statt arbeiten mit
Trakls Gedicht kann man im Unterricht
pelschlags sitzt der Korrigierende nach
vorgefertigten Mustern
„beschreiben“
getaner Arbeit da und sieht betroffen: Das
Ein Garant für eine gelingende Interpreta-
schema, Kadenzen, Rhythmus, Lautfolgen,
lassen
(Metrum,
Heft ist zu, doch alle Fragen offen.
tion ist diese Vorgehensweise freilich auch
Assonanzen,
Alliterationen,
Reim-
Sonettform,
Mit einem gestaltenden Zugang zu dem
nicht, aber letztendlich doch erfolgverspre-
Standort des lyrischen Ichs, Motive usw.).
Gedicht lässt sich dagegen ein anderes,
chender, denn sie vermittelt Methoden: Die
Das
statt
besseres Ergebnis erzielen. Hier bietet sich
Schülerinnen und Schüler lernen keine
lebendiger Analyse, deskriptive Platitüden,
Ergebnis:
Textbeschreibung
z.B. an, die Schülerinnen und Schüler den
Patentrezepte, sondern durch die Metho-
die Seite um Seite füllen. Ist jetzt das
Text gleich nach dem ersten Lesen in einen
denvielfalt des Unterrichts kennen sie meh-
Gedicht interpretiert?
Film umsetzen zu lassen. Dabei müssen
rere verschiedene Herangehensweisen, die
Häufig erweist sich diese Art der vermeint-
Fragen geklärt werden wie: Wie bewegt
sie dann auf einen unbekannten Prüfungs-
lich objektiven, genauen Textbeschreibung
sich die Kamera?
text anwenden. Sie lernen, mit diesem Text
als janusköpfig: Das zweite Gesicht ist näm-
in dem Sinne kreativ umzugehen, als sie
lich die spekulative Konstruktion von Sinn
Was zeigt sie in der Totalen, was als
seine Offenheit, seine mögliche Vieldeutig-
und Gehalt. Die Schülerinnen und Schüler
Nahaufnahme? Wie sind die Farben des
keit erkennen (beim Drama z. B. hinsicht-
mühen sich ab zu ergründen, was Trakl mit
Films? Gibt es eine Hintergrundmusik? Ver-
lich der Sprechakte).
dem Gedicht vielleicht sagen wollte, und
ändert sich die Stimmung? usw. Mit einer
versuchen am Ende zu begründen, warum
solchen Aufgabe nähern sich die Lernen-
Man sieht, das vermeintliche Spannungs-
etwa in der traurig singenden Amsel das
den dem Text, sie analysieren das Gedicht
feld zwischen handlungsorientiertem Un-
Bild der Schwester zu erblicken sei, die, wie
mit allen Details, erkennen seine Bildlich-
terricht und der Forderung nach detailge-
jeder weiß, für den Dichter eine wichtige
keit, bemerken die Simultaneität des Zei-
nauer Interpretation auch und gerade in
Rolle spielte und die deshalb immer wieder
lenstils usw. Und im anschließenden Unter-
Prüfungen löst sich auf und verwandelt sich
auftaucht. Warum also nicht auch hier?
richtsgespräch werden die Beobachtungen
in ein Beziehungsgeflecht.
Man beweise das Gegenteil!
und Lösungsvorschläge auf ihre Übereinstimmung mit dem Text überprüft.
Die gestaltende Interpretation als
Auch in einem handlungsorientierten Un-
Prüfungsaufgabe
terricht muss also, entgegen einem weit
Dieser Tatsache trägt nun auch ein neuerer
verbreiteten Vorurteil bzw. Missverständnis,
Typ von Prüfungsaufgabe Rechnung: die
die Textanalyse Zielpunkt
gestaltende Interpretation. Um es vorweg-
der verschiedenen
zunehmen:
Gestaltendes
Interpretieren
Methoden
heißt nicht, von einem Text ausgehend
sein.
beliebig drauflos zu schreiben. Wir verstehen darunter vielmehr die schöpferische
Textproduktion auf der Basis des zu interpretierenden Texts. Letzteres ist von zentraler Bedeutung und nimmt der Aufgabe
ihre Beliebigkeit.
Zum Beispiel: Effi Briest
Im Anschluss an die Behandlung von Fontanes Effi Briest könnte eine Teilaufgabe der
Prüfung beispielsweise lauten:
Wir nehmen einmal an, Fontane hätte in
einer früheren Fassung seines Romans Effi
Briest die Episode beschrieben, wie Innstetten vom Tod Effis erfährt. Zu Beginn ist
Wüllersdorf anwesend, der sich jedoch
wenig später verabschiedet.
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Oder man lässt eine Episode aus
Und viertens schließlich
der Innensicht Gieshüblers schrei-
sind
ben, der u. a. an den Abschied
Fähigkeiten zu bewer-
von Effi zurückdenkt.
ten.
Man muss einen Text gründlich
natürlich der Grundsatz
gelesen und für sich selbst inter-
der Adäquatheit: Die
pretiert haben. Erst dann kann
Sprache
man ihn sinnvoll gestaltend inter-
muss zur Sprache der
pretieren – also weiterschreiben,
Vorlage passen, und die
perspektivisch verändern, in eine
Schülerin
andere Textsorte transponieren
Schüler zeigt in ihrer /
usw. In der gestaltenden Interpre-
seiner Arbeit, wie gut
tation wird die Genauigkeit der
sie
vorausgegangenen
Sprachebene zu treffen
Textanalyse
deutlich.
die
sprachlichen
Auch
bzw.
hier
des
bzw.
er
gilt
Textes
der
diese
und durchzuhalten vermag.
Bewertungskriterien
Zunächst kommt es darauf an,
Sprache, Inhalt, Form, Personendarstellung usw. der Vorlage möglichst
gut zu treffen – dies kann natürlich auch
bedeuten, von gewissen sprachlichen Normen
abzuweichen
und
Hinzu kommt natürlich noch
beispielsweise
die Bewertung nach den herkömmlichen
umgangssprachliche Ausdrücke zuzulassen
Hinzu kommt als weiteres wichtiges Merk-
fachspezifischen Korrekturrichtlinien (Gr,
oder planvoll Brüche in den Text einzu-
mal gestaltenden Interpretierens die Frage,
Sb, R usw.).
bauen.
wie bzw. ob die Schülerinnen und Schüler
eine gewisse Indirektheit des Erzählens
Fazit und Synthese
Hier zeigt sich, wie genau der Text und
beherrschen und in ihrem Text potenzielle
Man sieht, das gestaltende Interpretieren
seine Problematik in allen Details wahrge-
Offenheit oder gar Mehrdeutigkeit erzeu-
ist eine hochkomplexe Prüfungsform, die
nommen wurde und wie differenziert der
gen und ob sie in der Lage sind, eine
sich in keiner Weise vor der herkömm-
Schüler bzw. die Schülerin ihn verarbeitet
bestimmte Perspektive und die oft damit
lichen Textanalyse zu verstecken braucht.
hat. Auch die mögliche Aussageabsicht des
verbundenen Tempora erzählerisch logisch
Deutlich wird auch, dass ein handlungs-
Verfassers wird dabei selbstverständlich
durchzuhalten.
orientierter Unterricht, der die Schülerinnen
berührt. Dieses Kriterium misst also letzt-
Außerdem: Folgt die Handlung einer inne-
und Schüler zum Text hinführt und sie
endlich die rezeptiven Fähigkeiten der Ver-
ren Logik, einem erkennbaren Plan, sind
in die Lage versetzt, selbstständig auf soli-
fasserin bzw. des Verfassers. Zweitens ist zu
die Personen authentisch oder weisen sie
den, aber nicht überzogenen Grundlagen
berücksichtigen, wieweit die Fähigkeit eines
unmotivierte Brüche in ihrem Verhalten
mit dem Text umzugehen, die bestmögli-
Schülers/einer Schülerin geschult ist, einen
auf? Kurz: Jetzt richtet sich das Augenmerk
che Vorbereitung auf Prüfungen jeglicher
Text zu produzieren. Aspekte wie Einfalls-
auf die produktiven Fähigkeiten des Schrei-
Art ist.
reichtum und Detailtreue oder der Blick für
benden.
Doch auch er ist noch kein Garant für wirk-
repräsentative Einzelheiten (Welche Haar-
Als drittes Bewertungskriterium sind die
lich gute Leistungen, denn ein Rest Talent
farbe hat eigentlich Effi? Ist sie wirklich
kreativen Fähigkeiten zu nennen: Wie origi-
darf und muss schließlich in Deutsch eben-
blond wie in den meisten Verfilmungen?)
nell ist der Text? Finden sich innovative Ele-
so dazugehören wie in jedem anderen
sind in diesem Zusammenhang wichtig.
mente, gibt es ungewöhnliche Ideen oder
Fach. Gerade in Deutsch ist nicht alles
Auch der Blick für Querverweise („Effi,
besonders gelungene Bilder oder Textpas-
erlernbar. Und nicht alles ist abprüfbar –
komm!“), Motive (Chinese, Schloon) und
sagen?
zum Glück!
Bilder (Rollo am Grab Effis) wäre ein wichtiges Qualitätskriterium einer guten Arbeit.
Materialien und Arbeitsanregungen zum gestaltenden Interpretieren finden
Sie im Internet unter www.cornelsen-teachweb.de/co/deutschextra
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