Jan-Uwe Rogge - Waiblinger Zeitung 21.3.2016
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Jan-Uwe Rogge - Waiblinger Zeitung 21.3.2016
KREISREDAKTION TELEFON FAX E-MAIL ONLINE 07151 566 -275 07151 566 -402 [email protected] www.zvw.de Rundschlag Von Martin Winterling Wir können alles – außer Diesel S chwaben sind bekanntlich ausgesprochen versierte Sparer. Koste es, was es wolle. Derzeit funkeln unsere Augen wie an Heiligabend um den brennenden Weihnachtsbaum, wenn wir die Spritpreise erblicken. 98,9 Cent für den Liter Diesel! Da macht der Ausflug auf die Alb doppelt Spaß. Lässt sich doch bei einer Spritztour nach Gammertingen ... kurz überschlagen ... glatt ein gutes Viertele Trollinger verdienen, äh, sparen. So oder so ähnlich sieht die Dieselfahrer-Rechnung aus, wenn er vor der Wahl Diesel oder Benziner steht. Diesel lohnt sich zwar wirklich nur für Vielfahrer – oder Schwaben wie uns. Und natürlich für SUV-Spritschlucker, deren Fahrer eigentlich nicht auf den Geldbeutel schauen müssten. Hauptsache zwei Parkplätze auf einmal besetzen und auf der linken Spur Kleinwagen hetzen. Wenn wir in zehn Jahren zurückblicken auf das Jahr 2016, werden wir womöglich feststellen: Von nun an ging’s bergab. Mit dem Diesel. Nicht genug, dass die Autoindustrie offensichtlich nicht in der Lage (und willens) ist, die strengen Abgas-Grenzwerte einzuhalten. Der Bluetec-Diesel von Mercedes schaltet beispielsweise seine Abgasanlage bei Temperaturen unter 10 Grad einfach ab. Um sie zu schonen. So wie der Rundschlagautor bei Eis und Frost seine Winterstiefel auszieht und barfuß läuft, damit das kostbare Leder vom Schneematsch keine hässlichen Flecken bekommt. T rotz des Sinkflugs der Spritpreise steht der Diesel nackt da. Wie der Kaiser im Märchen, dem betrügerische Schneider immer neue Gewänder webten und keiner aus seiner Gefolgschaft Mut zum Widerspruch hatte. Einer der Getreuen, der die Dieselfahne hoch und heilig hält, ist Alexander Dobrindt. „Es ist herrlich, niedlich, ausgezeichnet!“*, ruft er. Der Bundesverkehrsminister ist und bleibt von Berufs wegen ein Dieselfan. Schließlich ist er Verkehrsminister und kraft seines Amtes für breitere Straßen und dickere Autos, für mehr gefährliche Abgase und deshalb für mehr stinkende Diesel zuständig. Selbst wenn die auto- und dieselverrückten Franzosen den Diesel bis 2020 aus ihrer Hauptstadt verbannen wollen. Selbst wenn das Bundesumweltamt anregt, den Diesel ein bisschen an die Kette zu legen. Ein Alexander Dobrindt hat ein kleines Männchen im Ohr, das ihm die richtigen Worte zuflüstert. Es heißt Matthias Wissmann und war selbst mal Verkehrsminister und ist jetzt oberster Autolobbyist, CDU-Mitglied – und Schwabe! Und als Lobbyist, Christdemokrat und Schwabe kann Wissmann rechnen! Und beim Diesel fünf gerade sein lassen! „Aber er hat ja gar nichts an!“, sagte endlich ein kleines Kind, als der nackte Kaiser mal wieder seine neuen Kleider ausführte. „Hört die Stimme der Unschuld!“, sagte der Vater; und der eine zischelte dem andern zu, was das Kind gesagt hatte. „Aber er hat ja gar nichts an!“, rief zuletzt das ganze Volk. *Zitate aus Hans Christian Andersens Märchen „Des Kaisers neue Kleider“. Kompakt Film „Power to change“ läuft in Backnang Backnang. Die Energiegemeinschaft Weissacher Tal eG und der Solarverein Rems-Murr e.V. haben den Dokumentarfilm „Power to change – Die Energierebellion“ in das Backnanger Universum geholt. Die Backnanger Premiere des Films findet statt am 7. April um 18.30 Uhr. Im Anschluss an den Film findet eine Diskussion zwischen Publikum und einer Expertenrunde statt. Titel der Diskussion: „Die Energierebellion im Rems-Murr-Kreis.“ Mode- und Musikgala bei Peter Hahn Winterbach. Das Modehaus Peter Hahn lädt auf Donnerstag, 7. April, um 11 und 15 Uhr zu einer Mode- und Musikgala ein. Die ModeHighlights der neuen Frühjahrs-/Sommer Saison werden unter der musikalischen Begleitung von Sänger Jürgen Schories gezeigt. In der jeweils 45-minütigen Gala werden die Neuigkeiten aus dem Hause Peter Hahn, aber auch der Marken Uta Raasch, Looxent, Fadenmeister Berlin und vielen mehr, gezeigt. Eines sei sicher, heißt es vorab: Langweilig gehe es in diesem Frühling kleidungstechnisch nicht zu. Sommerliche CityOutfits und Kombinationen für besondere Anlässe sind nur einige der Themen, die die Models vorführen werden. Rems-Murr C RUNDSCHAU 1 Nummer 67 – RMR1 Montag, 21. März 2016 Eltern machen sich viel zu viele Sorgen Sagt Jan-Uwe Rogge, wohl der gefragteste Erziehungsratgeber in der Bundesrepublik Von unserem Mitarbeiter Wolfgang Gleich Backnang. „Schade, dass mein Mann nicht dabei ist und sich das ebenfalls angehört hat“, bedauerte eine Besucherin. - „Ja“, antwortete ihre Begleiterin, „ so etwas sollte man sich jeden Tag anhören. Du nimmst etwas mit nach Hause, das dir den Alltag leichter macht!“. Wenn Jan-Uwe Rogge spricht wie jetzt im Familienzentrum in Backnang, dann wird Erziehung auf einmal ganz konkret. Erziehung habe etwas mit Humor zu tun, mit der Fähigkeit zu lachen, oder auch mit der ehrlichen Antwort auf die Frage: „Möchtest du bei solchen Eltern ein Kind sein?“ So die Kernaussage des Vortrags, den der Autor und Erziehungsberater Dr. JanUwe Rogge im Rahmen des dritten Fachtages der Tagespflegepersonen im RemsMurr-Kreis hielt, jetzt im fam-futur-Zentrum in Backnang. „Was unsere Kinder und Jugendliche heute eigentlich brauchen.“ Unter dieser Überschrift war Rogges Vortrag angekündigt. Er biete keine Patentrezepte zum Mitschreiben, stellte dieser dann auch gleich zu Beginn seiner Ausführungen klar, sondern lade dazu ein, über die von ihm präsentierten Beispiele herzhaft zu lachen und sich damit zu trösten, dass die eigenen Kinder „vollkommen normal“ seien. „Lachen Sie jetzt“, so Rogge, „denn wenn Sie morgen früh ihre Kinder wieder wecken, dann haben Sie wieder nichts mehr zum Lachen!“ Allerdings verpackte er in seinen Auftritt als Erziehungs-Comedian auch die Mahnung, Kinder zu erziehen bedeute, sie ins Leben zu begleiten, und nicht zu versuchen, sie wie einen Grashalm aus der Erde herauszuziehen, damit sie sich schneller entwickeln. Erziehen bedeute, ständig in einer stabilen Beziehung zu stehen zum Kind. Und in dieser Beziehung könne das Kind auch die Erfüllung von vier Grundsatzforderungen erwarten: Vergleicht mich nicht immer, nehmt mich so an wie ich bin, beobachtet mich nicht ständig und lasst mir Zeit. Früher gab es einfach Kinder und nicht lauter Problemfälle Wie sich das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern veränderte, dies habe er in den vierzig Jahren beobachten, können, in denen er sich mit dem Thema Erziehung beschäftige, erzählte Rogge. Vor vier Jahrzehnten gab es Kinder und Eltern, heute wolle man nur noch „alles im Griff haben“. Damals hatte jedes Kind noch seinen Namen, heute werde es auf eine Rolle reduziert. Kinder seien „Einzelkinder“, „Problemkinder“, „Vernünftig“ oder „Sandwichkinder“. Und wenn man Kindern nur lange genug Rollen zuweise, dann würden sie diese irgendwann auch annehmen und erfüllen. Und während seinerzeit Kinder noch Freiräume hatten, um sich der Aufsicht zu entziehen und in „der Kinderrepublik“ mit Gleichaltrigen Erfahrungen zu sammeln, Regeln und Rituale einzuüben und sich gegenseitig „lebenstüchtig zu machen“, sitze heute auf den Spielplätzen in jedem Busch eine besorgte Mutter, die ihrem Kind ständig Ratschläge zuwerfe, so Beschwört auch mal die Wirkkraft des Humors in der Erziehung: Pädagoge und Bestseller-Autor Dr. Jan-Uwe Rogge im fam-futur-Familienzentrum in Backnang. Bild: Layher wie im Zoo den Affen Bananen. „Oder was glauben Sie, warum Ihre Eltern so alt werden?“, fragte Rogge knitz ins Publikum, um selbst die Antwort zu liefern: „Weil sie nicht alles wissen, was Sie als Kind gemacht haben!“ Rogge erntete stürmischen Beifall und schallendes Gelächter, um gleich darauf wieder ernst zu werden: „Kinder benötigen Kraft, Raum und sehr viel Unterstützung, um ihre Kindheit gegen ihre Eltern zu verteidigen.“ Und diese Unterstützung würden sie selbstverständlich auch von den Großeltern als Gegenpol zu den Eltern erfahren, oder von ihren Freunden, wie zum Beispiel der dreidreiviertel Jahre alte Tim, der von seinem sechsjährigen Kindergartenpaten Carlo das Wort „Arschgeige“ lernte und es stolz seiner Mutter und Großmutter präsentierte. Das Kind kann nicht einfach überredet werden Rogges Appell an die Eltern: Verabschieden Sie sich von den drei völlig irrationalen Vorsätzen: Ich will alles anders machen als meine Eltern, ich werde meinem Kind gegenüber nie laut werden und ich werde so lange mit meinem Kind reden, bis es aufsteht und sagt, du hast recht, ich habe dich verstanden. Wenn sich Eltern vornehmen, bei der Er- ziehung keine Fehler zu begehen und alles zu steuern, dann werde Erziehung sehr schnell zu Stress und habe nichts mehr mit Freude und Erfüllung zu tun. Hinausgehen in die Welt wie „Hänschen klein“ Zum Abschluss seines Vortrags gab Rogge seinem Publikum noch das Kinderlied „Hänschen klein“ mit auf den Weg. Nein, er singe es nicht, er verweise nur darauf. Bei dem Honorar für seinen Vortrag sei Singen nicht drin, erklärte er augenzwinkernd: Hänschen gehe allein, er werde nicht von seiner Mutter in die weite Welt hineingefahren. Aber wohl sei er ausgestattet mit Stock und Hut, also mit dem Trost und der „Behütung“ durch seine Eltern; er sei wohlgemut, was bedeute, dass er bisher weder überbehütet noch ignoriert worden sei. Und die weinende Mutter wünsche ihm Glück, sie ließ ihn los und schwebt nicht wie ein Helikopter ständig über ihm. Denn Kindererziehung, so Rogge, sei auch eine Einstellung sich selbst gegenüber. Sie lehre Demut und Dankbarkeit: Kinder seien ein Geschenk, wenn auch – schränkte er ein – die Pubertät diese Dankbarkeit bisweilen auf eine harte Probe stelle. Und wer glaube, Licht am Ende des Tunnels zu sehen, nachdem sein Kind die erste Trotzphase überstanden habe, der täusche sich gewaltig. Das, was er für Licht halte, sei der D-Zug der Pubertät, der frontal auf ihn zurase. Doch auch hier wusste Rogge Trost: Das Leben beinhalte nämlich vier Pubertätsphasen, sie umfassten das Alter von 2 bis 5, von 12 bis 15, von 35 bis 50 und von 65 bis 75. Der Familien-Forscher � Der 1947 in Stade geborene Autor und Erziehungsberater Jan-Uwe Rogge studierte in Tübingen Germanistik, Politische Wissenschaften und Kulturwissenschaften. Er promovierte zum Thema Kindermedien zum Dr. rer.soc. Er war von 1976 bis 1985 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Ludwig-Uhland-Institut für empirische Kulturwissenschaften und leitete mehrere Forschungsprojekte zum Thema Familie, Kindheit und Medien. � Seit 1985 verfasst er Bücher zu Erziehungsfragen, die teilweise zu Bestsellern wurden. Kunstfehler vor Amoklauf in Winnenden? Vater von Tim K. verklagt die Psychiatrie in Weinsberg – die Gefährlichkeit seines Sohnes sei nicht erkannt worden Winnenden/Heilbronn (dpa). Vor sieben Jahren ermordete sein Sohn beim Amoklauf in Winnenden 15 Menschen. Erst stand der Vater des Täters selbst am Pranger, jetzt ist er selbst Kläger: Psychiater der Jugendpsychiatrie in Weinsberg hätten die Gefährlichkeit seines Sohnes erkennen müssen, sagt er. sprüche tragen. Als der 17-Jährige spätere Amokläufer vor der Bluttat von Experten im badenwürttembergischen Weinsberg begutachtet wurde, hätten sie erkennen müssen, was für eine Zeitbombe er mit seinen Tötungsfantasien war, sagt Erik Silcher, der Anwalt des Vaters. Er spricht von einem „Kunstfehler“ der Ärzte. Dieser sei eine Ursache für den Amoklauf gewesen. Die Pistole liegt geladen im Kleiderschrank seines Vaters, die passende Munition dazu im Nachttisch. Der 17-Jährige greift sie, fährt zu seiner ehemaligen Schule in Winnenden und ermordet acht Schülerinnen, einen Schüler, drei Lehrerinnen und auf seiner Flucht noch drei Menschen. Sein Vater wird später mitverantwortlich gemacht für den Amoklauf und verurteilt. Monika Baumhackel hingegen, Anwältin der Klinikexperten, will nicht mal von einer echten Behandlung sprechen. Termine habe es ein halbes Jahr vor dem Amoklauf gegeben, eine Therapie sei nie angetreten worden. Obwohl die Ärzte den Eltern zur Behandlung geraten hätten. Was genau die Fachleute den Eltern am Ende der Treffen geraten haben, wird im Mittelpunkt der Verhandlung vor dem Landgericht Heilbronn stehen. Rieten sie zu sozialen Kontakten? Oder rieten sie dem Vater sogar, seinen Sohn mit in den Schützenverein zu nehmen? Tim K. hatte am 11. März 2009 an seiner einstigen Schule in Winnenden und auf der Flucht im nahe gelegenen Wendlingen 15 Menschen und sich selbst erschossen. Weil der 17-Jährige die Tatwaffe aus dem Kleiderschrank seines Vaters hatte, wurde der Sportschütze später wegen fahrlässiger Tö- Es geht um Schadenersatz Jetzt am kommenden Dienstag, 22. März, ist der ehemalige Unternehmer selbst Kläger: Ärzte und Therapeuten des Zentrums für Psychiatrie in Weinsberg bei Heilbronn hätten ihn nicht gewarnt, welche Gefahr von seinem dort behandelten Sohn ausging. Nach diesem Kunstfehler müssten sie Teile der millionenschweren Schadenersatzan- War es eine echte Behandlung? tung in 15 Fällen zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Das Landgericht Stuttgart entschied zudem, dass er für Behandlungskosten von Opfern und Hinterbliebenen aufkommen muss. Der Vater argumentiert, er habe nichts mehr. Seine Firma habe er verkaufen müssen. Andere sagen, er habe sie in Sicherheit gebracht. Ein Jahr und neun Monate Haft auf Bewährung lautete das erste Urteil des Landgerichts Stuttgart gegen den Vater. Sein Verteidiger entdeckte einen formalen Fehler, der ein zweites Verfahren nötig machte. Bei diesem gelang es dem Vater, seine Strafe um drei Monate zu senken. Seine erneute Revision blieb dann erfolglos. Langer Kampf um Entschädigung Nach Ansicht von Opferanwalt Jens Rabe war die Verurteilung des Vaters im Strafprozess dennoch wegweisend für die Regelung der Geldforderungen gegen ihn. Ohne Prozess gab die Versicherung des ehemaligen Unternehmers rund zwei Millionen Euro. Rabe erinnert sich an „einen langen Kampf“. Das Gros seiner mehr als 30 Mandanten bekam dem Vernehmen nach Summen zwischen 20 000 und 25 000 Euro. Ansprüche der Stadt Winnenden beglich die Versicherung mit 400 000 Euro. Die letzte größere Summe, die noch aussteht, sind Forderungen der Unfallkasse für Heilbe- handlungen von Schülern, Eltern und Lehrern. Knapp eine Million Euro steht im Raum. Gisela Mayer hat am 11. März 2009 ihre Tochter Nina verloren, die als Referendarin an der Realschule war. Nina starb kurz vor ihrem 25. Geburtstag. „Auch sieben Jahre danach tut es noch genauso weh“, sagt ihre Mutter. Die Prozesse gegen den Vater seien hart, aus heutiger Sicht aber hilfreich gewesen. Hätten sie doch dazu beigetragen, die Bluttat eines jungen Menschen ein Stück weit zu verstehen. Heute wisse sie: Es war „purer Zufall“, dass ihre Tochter Opfer wurde. Amokschütze Tim K. habe Nina genau einmal im Leben gesehen. „Das Ganze war wie eine Naturkatastrophe, gegen die man machtlos ist.“ Dass Ärzte dem Vater geraten haben könnten, seinen psychisch angeschlagenen Sohn mit zum Schützenverein zu nehmen, hält die Vorsitzende der „Stiftung gegen Gewalt an Schulen - Aktionsbündnis Amoklauf Winnenden“ für absurd: „Ich empfehle doch keinem Menschen, der auffällig ist, sich an der Waffe zu üben.“ Hat der Vater überhaupt informiert? Aus ihrer Sicht müsse das Gericht auch fragen, ob der Vater den Ärzten gesagt hat, dass sein Sohn Zugang zu scharfen Waffen hatte.