Misericordias Domini – Joh 10,11–16(27–30) Der gute Hirte

Transcrição

Misericordias Domini – Joh 10,11–16(27–30) Der gute Hirte
Thomas W. Stephan – Predigt: Misericordias Domini – Joh 10,11–16(27–30) Der gute Hirte (Shaun, das Schaf) 1 von 5 Misericordias Domini 2015‐04‐19 Johannes 10,11–16(27–30) Der gute Hirte
Es war einmal ein Hirte, der in einer einsamen Gegend seine Schafe hütete. Plötzlich taucht aus einer
Staubwolke ein flotter Wagen auf und hält neben ihm. Der Fahrer, ein junger Mann, steigt aus und
fragt ihn: »Wenn ich errate, wie viele Schafe Sie haben, bekomme ich dann eins?«
Der Schäfer schaut den jungen Mann an, dann seine friedlich grasenden Schafe und sagt ruhig: »In
Ordnung.« Der junge Mann verbindet sein Notebook mit dem Handy, geht im Internet auf die NASA
Seite, scannt die Gegend mit Hilfe eines Satelliten-Navigationssystems und öffnet eine Excel-Tabelle
mit einer Unmenge Formeln. Schließlich druckt er einen Bericht auf seinem Minidrucker aus, dreht
sich zu dem Schäfer um und sagt: »Sie haben hier exakt 1596 Schafe.« Der Schäfer sagt: »Das ist
richtig, suchen Sie sich ein Schaf aus.«
Der junge Mann nimmt eins der Tiere und lädt es in sein Auto. Der Schäfer schaut ihm zu und sagt:
»Wenn ich Ihren Beruf errate, geben Sie mir dann das Tier zurück?« Der junge Mann antwortet: »Klar,
warum nicht?« Der Schäfer sagt: »Sie sind ein Unternehmensberater.« »Das ist richtig, woher wissen
Sie das?« will der junge Mann wissen.
»Sehr einfach«, sagt der Schäfer, »erstens sind Sie hier aufgetaucht, obwohl Sie keiner gerufen hat.
Zweitens wollen Sie dafür bezahlt werden, dass Sie mir etwas sagen, was ich ohnehin schon weiß.
Und drittens haben Sie keine Ahnung von dem, was ich mache ... und jetzt geben Sie mir meinen
Hund zurück!«
Nein, liebe Gemeinde, das ist nicht der Predigttext für heute, aber er führt direkt hinein. Es kommen die gleichen Bilder vor – Schaf, Herde, Hirte – vor und der Witz wirft die gleichen Fragen auf. Guter Hirte, der seine Schafe kennt, eine Beziehung zu ihnen hat – Herdenverwalter, der das als Job tut, ganz genau berechnen kann, wie viele Schafe er hat und per GPS sagen kann wo welches steht, aber nicht mal Schaf von Hund unterscheiden kann. Und vom Schaf aus geschaut: Wer will schon Schaf sein: gutmütig aber fremdbestimmt, ein bisschen naiv und dumm, hilflos ohne Führung? Ich doch nicht. Das Bild des Schafes ist heute eher kein positives Identifikationsbild mehr. Schon eher Hirte, mit Aussteigerromantik. Der milde Schäfer ruht auf seinem Hirtenstab, der Hund hält die Herde zusammen, ab und zu wird mal ein Lämmlein getröstet. Eine Vorstellung, die ja auch an vielen Stellen in der Bibel finden – dem Klassiker, dem 23. Psalm, der Hirte, der dem EINEN Schaf nachgeht und die 99 zurücklässt, der Schäfer, der sein Leben lässt für die Herde… Aber vielleicht gibt es ja auch noch einen anderen Blick auf diese Bilder vom Schaf, von der Beziehung, dem Verhältnis zum Schäfer Thomas W. Stephan – Predigt: Misericordias Domini – Joh 10,11–16(27–30) Der gute Hirte (Shaun, das Schaf) 2 von 5 Vielleicht ist mehr dahinter, was uns heute nicht mehr viel sagt, weil wir die wirkliche Arbeit eines Schäfers, eines Hirten und vor allem die damit verbundene Verantwortung und Aufgabe gar nicht mehr kennen. Das Bild des Hirten und einer Gemeinde als Herde ist uns heute wohl eher fremd und kommt höchstens noch in salbungsvollen Momenten vor, weil es sich so schöööön anhört. Aber als salbungsvolle Floskel und heimeliges Bild ist mir die Rede vom Hirten und der Herde zu wenig. Im Johannesevangelium, im 10 Kapitel spricht Jesus von SICH als dem guten Hirten und UNS als Herde. [BigS]
11 Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte gibt sein Leben für die Schafe. 12 Bezahlte
Angestellte, die nicht Hirtinnen oder Hirten sind, und denen die Schafe nicht gehören,
die sehen den Wolf kommen und verlassen die Schafe und fliehen – und der Wolf
raubt die Schafe und treibt sie auseinander. 13 Dies geschieht, weil sie bezahlte
Angestellte sind und ihnen nichts an den Schafen liegt.
14 Ich bin der gute Hirte und ich kenne die Meinen und die Meinen kennen mich, 15
so wie mich Gott wie eine Mutter kennt und ich Gott kenne. Und ich gebe mein Leben
für die Schafe. 16 Aber ich habe noch andere Schafe, die nicht von diesem Hof
stammen; auch diese muss ich führen und sie werden meine Stimme hören, und sie
alle werden eine Herde mit einem Hirten sein.
27 Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie und sie folgen mir, 28 und
ich gebe ihnen ewiges Leben, und sie werden bis in Ewigkeit nicht verloren gehen
und niemand wird sie aus meiner Hand rauben. 29 Gott hat sie mir gegeben und ist
größer als alle, und niemand kann sie aus der Hand Gottes rauben. 30 Ich und Gott
sind eins.«
Ich könnte jetzt einige unbekannte Fakten über Schafe aufzählen, z.B. dass sie 50 Gesichter von Artgenossen unterscheiden können, die Stimmen der eigenen Lämmer, die Stimme der Hirten. Auch wehrlos sind sie nicht. Sie stellen sich Rücken an Rücken, die Schwächsten in die Mitte und schlagen so Angreifer aus der Luft in die Flucht. Und die männlichen Tiere liefern sich von Zeit zu Zeit heftige Kämpfe. Schafe gehen enge soziale Bindungen ein: zueinander und zu den Menschen, die sich um sie kümmern – und auf deren Fürsorge sie als Hausschafe angewiesen sind. Und das wird es sein, was die Menschen in biblischer Zeit täglich vor Augen hatten: enge, vertrauensvolle Bindungen untereinander – Rücken an Rücken gegen Feinde und zielsicheres Hören auf die Stimme ihrer Führenden. Das finde ich auch für uns heute interessant. Thomas W. Stephan – Predigt: Misericordias Domini – Joh 10,11–16(27–30) Der gute Hirte (Shaun, das Schaf) 3 von 5 Ein Bild, das allen Menschen und in all den Zeiten gilt, in denen nach Halt und Orientierung gesucht wird, in denen wir uns in unserer Welt der multiplen Möglichkeiten mal der einen, mal der anderen Lehre verschreiben. Denn so gerne wir selbstbestimmt leben würde; so wenig selbständig sind wir doch in Wirklichkeit. Wir KÖNNEN – in unserer individualistischen Gesellschaft alles selbst und einzeln entscheiden, aber wir MÜSSEN auch alles entscheiden. Und das kann dann auch ganz schnell zum Problem werden. Die Zahlen der alkoholkranken jungen Menschen, die Zahl der Depressions‐ und Burn‐out‐Erkrankten sprechen für sich. Die Selbstbestimmung wird gesellschaftlich erwartetet – doch die schutzbedürftige Seite bleibt oft unbefriedigt, wenn viele Beziehungen zerbrechen und die Mehrzahl der Menschen als Single lebt. In Gemeinschaft zu leben ist ein Grundbedürfnis der Menschen, und um es zu befriedigen, reicht die Zahl der »friends« in den Social Media allein nicht aus. Wir sehen uns doch oft nach Fürsorge und eingebunden sein. Geht es ihnen nicht auch manchmal so? Nicht alles entscheiden müssen, sich einfach mal lassen können. Das fängt bei so Kleinigkeiten an, dass einfach mal jemand sagt: „Komm, wir gehen heute mal ins Kino und den Film habe ich auch schon ausgesucht.“ Dabei gebe ich doch nicht meine Individualität auf. Wir sehnen uns doch danach, dass sich jemand ‚kümmert‘, dem ich vertrauen kann, wo ich mich wohlfühle – im wahrsten Sinne – geborgen fühle, ohne Angst, fremdbestimmt oder entmündigt zu sein. Eben dieses Bild, das in der Bibel vielfältig für Gott verwendet wird – geborgen „…fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir…“, gut aufgehoben in Gottes Hand „Gottes Hand hält uns fest, wie ein Vogel im Nest, so sind wir wohl geborgen“, singen wir mit Kindern. Und das gilt doch um so mehr in Krisen, wenn wir sprichwörtlich ‚haltlos‘ sind, und uns ‚verloren‘ fühlen. Ich meine, Eigenständigkeit wird erwartet – erwarten wir auch von uns selbst. Aber wenn Krankheit mich lähmt, der Arbeitsplatz verloren geht, Menschen sterben, die mir Halt gegeben haben – dann fühle ich mich verunsichert und ich suche nach Halt. Zuviel muss ich leisten, zu stark muss ich wirken und möglichst schnell wieder fit sein. Wünschen wir uns dann nicht jemanden, der uns nachgeht und jetzt mal NUR nach mir schaut? Und DANN kommt es darauf an, an wen hängen wir uns dann? Wo suchen wir Orientierung – oder muss ich wieder selbst für mich sorgen? Die schnelle Hilfe durch Medizin, Therapien und Gesundheitslehren bringen Erleichterung, doch was ist dann, wenn der Alltag wieder da ist? Wonach sehen wir uns? Was brauchen wir? Der gute Hirte oder Herdenverwalter, dem der/ die Einzelne letztlich, wenn es hart auf hart kommt und die Wölfe kommen, egal ist und die Herde verlässt, oder im schlimmsten Fall der Wolf selbst, der die Herde ausnutzen will für seine Zwecke. Thomas W. Stephan – Predigt: Misericordias Domini – Joh 10,11–16(27–30) Der gute Hirte (Shaun, das Schaf) 4 von 5 Der Mensch ist auch ganz grundlegend ein soziales Wesen, ein Beziehungswesen. Wir sind – überlebenswichtig – auf Beziehung angewiesen. Im ganz normalen Leben und besonders, wenn es schwer wird. Da haben wir doch mehr mit Schafen gemeinsam. Wenn Bedrohung und Angriffe von außen drohen brauchen wir Schutz und Fürsorge. Wenn im Innern Durcheinander und Unsicherheit aufkommt, brauchen wir manchmal jemand, der sich kümmert und Ordnung, Orientierung gibt. Guter oder schlechter Hirte, es kommt darauf an, was er im Fokus hat. Das Schaf – jedes einzelne und die ganze Herde oder nur die Ordnung, klare Zahlen, Verwaltung. Jesus Christus ist der gute Hirte, der sich selbst einbringt. Er sagt ganz deutlich und, wie ich finde, sehr selbstbewusst: „Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte gibt sein
Leben für die Schafe.“ Und dieses Wort steht in einem Zusammenhang von weiteren Ich‐Bin Worten im Johannesevangelium, in denen sich Jesus u.a. als die Tür bezeichnet. „Ich bin das Brot
des Lebens.“ Wir feiern das nachher noch. Er bezeichnet sich als Licht der Welt – die Auferstehung und das Leben – der Weg und die Wahrheit und das Leben. „Ich bin
der Weinstock, ihr seid die Reben“ sagt er. Und immer sind es Sätze und Bilder für eine unbedingte Gemeinschaft, die in allem füreinander einsteht und als Abbild des Reiches Gottes auf Erden. Das »Einssein« des Sohnes mit Gott und sowie des »Kennens« Gottes und des Sohnes bzw. des »guten« Hirten werden hier besonders betont. Jesus Christus ist der gute Hirte, der sich selbst einbringt. Der Hirte wird so gleichzeitig zum Dienenden, weil er das Risiko der Mitglieder der Herde teilt. Das ist auch ein ganz neues Führungs‐Bild, eine verantwortungsvolle Vorstellung von leiten, vorangehen, sich kümmern. Ein gemeinschaftliches ‚Leit‐bild‘. Das Bild der Schafherde einer in enger, liebevoller Verbindung zueinander lebenden Gemeinschaft, die sich gegen die Existenz bedrohenden Mächte, auf sie einstürzen oder sie durcheinander bringen, gegen Krisen, die verwirren und verunsichern beistehen. Das Bild einer vertrauensvoll zusammenstehenden Herde, die die Stimme ihres Hirten kennt, eine Gemeinschaft in die man eintauchen, den Zusammenhalt spüren und sich sicher und aufgehoben fühlen kann. Die Beziehung zu Christus und der christlichen Gemeinde bietet gegenseitige Bindungen, die über kurzfristige und käufliche Orientierungshilfen hinausgeht. Es ist wichtig, in schwierigen Situationen, in einen vertrauten Kreis einzutauchen, und sich aufgefangen zu fühlen. Und es stellt sich immer wieder die Frage: „Wem ist noch zu trauen heutzutage? Was trägt mich auch noch dann, wenn ich kein Geld mehr habe oder vielleicht krank und unattraktiv bin?“ Es kostet uns oft Überwindung, unsere selbstgewählte Eigenständigkeit aufzugeben, Rat und Gespräch zu suchen. Christliche Gemeinschaft will das sein: Begleitung in guten und schlechten Tagen, Thomas W. Stephan – Predigt: Misericordias Domini – Joh 10,11–16(27–30) Der gute Hirte (Shaun, das Schaf) 5 von 5 professionelle Begleitung in Krisen‐ und anderen Zeiten – dafür werden wir Pfarrer ausgebildet und beauftragt. Pastor heißt nichts anderes als ›Hirt‹ –. Aber das ist auch der Auftrag des Hirten Jesus Christus, der auch uns allen gilt: beieinander zu bleiben und einander beizustehen – auch wenn jemand eigentlich einer anderen Herde angehört: wer Beistand braucht, sollte ihn bekommen. Darin zeigt sich Gottes Liebe – dass wir Gottes Kinder heißen und es auch sind! Und das ist ein Abbild des Reiches Gottes, das Jesus Christus selbst mit seiner Zusage verbürgt. „Ich bin der gute Hirte und ich kenne die Meinen und die Meinen
kennen mich […] und ich gebe ihnen ewiges Leben, und sie werden bis in Ewigkeit
nicht verloren gehen […] Ich und Gott sind eins.« Der gute Hirte greift da ein, wo es nötig ist und lässt die Herde ziehen, geht mit und eigentlich nur die grobe Richtung vor – zum nächsten Weidegrund und lässt auch dem einzelnen Schaf seinen Freiraum, seine Individualität, seine Einzigartigkeit sowieso Und Schaf sein, muss nicht dumpf und eintönig sein. Kennen sie Shaun, das Schaf? Wer kennt Shaun, das Schaf? Ich zeige ihnen mal wie Schafsein und Herde auch aussehen kann.  PPP Bilder Ich denke, da ist durchaus was für uns drin: Das ist eine verschworene Gemeinschaft – alle sind Schafe, aber diese Herde ist so vielfältig wie die Menschheit auch. Es gibt verschiedene Charaktere, von hyperaktiv bis verpennt, aber jeder kann was. Sie sind alle individuell, aber alle gemeinsam sind sie eine Gemeinschaft. Auch sie sind angewiesen auf den Bauern und den Hütehund, treiben aber auch ihren Schabernack mit ihnen – auch ganz wie bei den Menschen. Und das Leben auf dem Hof ist aufregend – der arme Bauer kann einem schon manchmal leidtun, was er für einen Schaff mit seiner Herde hat – und die haben Spaß, aber immer nehmen sie Verantwortung füreinander wahr. Niemand wird zurückgelassen, alle werden immer irgendwie – bei den Streichen mit dem armen Bauern – beteiligt, jeder nach seinen Fähigkeiten und Eigenheiten. Darum lassen sie uns ein bisschen von Shaun lernen und dabei der richtigen Stimme trauen. Und zum Abschluss zeige ich ihnen noch einen Trailer zum Kinofilm, um ihnen vielleicht ein bisschen Lust auf Herde zu machen.   Trailer: Shaun das Schaf Dein Wort sei meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege.
AMEN
[© Thomas W. Stephan, 2015-04-19]