Hinweise für Schüler

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Hinweise für Schüler
Abitur 2005 Deutsch Gk
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Aufgabenauswahl:
Wählen Sie von den vorliegenden vier Aufgaben
e i n e aus und bearbeiten Sie diese vollständig.
Bearbeitungszeit:
Ihre Arbeitszeit beträgt 240 Minuten;
zusätzlich stehen Ihnen 30 Minuten Lesezeit für
die Wahl der Prüfungsaufgabe zur Verfügung.
Hilfsmittel:
Sie dürfen ein Nachschlagewerk zur Neuregelung
der deutschen Rechtschreibung verwenden.
Hinweis:
Die den Aufgaben zu Grunde liegenden Texte
wurden nicht in jedem Fall der neuen
Rechtschreibung angepasst.
Sonstiges:
Geben Sie auf der Reinschrift die bearbeitete
Aufgabe an und nummerieren Sie die Seiten bitte
fortlaufend.
Für die Bewertung gilt die Reinschrift.
Entwürfe können nur dann ergänzend
herangezogen werden, wenn sie
zusammenhängend konzipiert sind und die
Reinschrift etwa drei Viertel des erkennbar
angestrebten Gesamtumfangs beträgt.
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Aufgaben im Überblick
Aufgabe I
Gerhard Zwerenz:
Sein Lebenslauf
Schreiben Sie einen Leserbrief an Gerhard Zwerenz. Setzen Sie sich darin mit der im Text
aufgeworfenen Problematik, mit Positionen des Autors und seiner Gestaltungsweise
auseinander.
Kommentieren Sie die inhaltliche und die sprachlich-stilistische Gestaltung Ihres Briefes.
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Aufgabe II
Stephan Clauss:
Der Verlust der Stille
Analysieren Sie den Text.
Setzen Sie sich mit den Auffassungen von Stephan Clauss auseinander.
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Aufgabe III
Erich Kästner:
Märchen von den kleinen Dingen
Interpretieren Sie den Text.
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Aufgabe IV
Mascha Kaléko:
Heinrich Heine:
Im Exil
Ich hatte einst ein schönes Vaterland
Interpretieren Sie das Gedicht von Mascha Kaléko.
Vergleichen Sie die Gestaltung des Motivs Heimat mit der in Heines Gedicht. Berücksichtigen
Sie dabei auch literaturhistorische Bezüge.
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Aufgabe I
Gerhard Zwerenz:
Sein Lebenslauf
Schreiben Sie einen Leserbrief an Gerhard Zwerenz. Setzen Sie sich darin mit der im Text
aufgeworfenen Problematik, mit Positionen des Autors und seiner Gestaltungsweise
auseinander.
Kommentieren Sie die inhaltliche und die sprachlich-stilistische Gestaltung Ihres Briefes.
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Text zur Aufgabe I
Gerhard Zwerenz, geboren 1925 im Erzgebirge, studierte Philosophie in Leipzig, übersiedelte 1957 in
die Bundesrepublik Deutschland. Er ist Autor von Erzählungen, Romanen, dramatischen Texten und
besonders bekannt durch satirische Werke zur Gegenwart.
Der hier vorliegende Text wurde im September 1993 in der Zeitschrift „neue deutsche Literatur“
veröffentlicht.
Gerhard Zwerenz (geb. 1925)
Sein Lebenslauf
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Als Mann mußt du vor allen Dingen Mann sein. Nicht heulen, Zähne zusammenbeißen,
scharfe Sachen vertragen, Skat spielen, Blut vergießen, wenn es verlangt wird. Es heißt dann:
Deine Pflicht erfüllen. Als Mann mußt du vor allem das Gegenteil der Frau sein. Sie kriegt die
Kinder. Du machst sie ihr. Sie steht in der Küche. Du beschaffst die Kohlen, damit der
Schornstein raucht. Als Mann hast du die Hosen an. Falls deine Frau sie anziehen will, gibst
du ihr zu verstehen, was du davon hältst. Als Mann bist du der Herr im Haus.
Ein Mann hat Arbeit. Ein Mann hat Sorgen, Verantwortung und einen elektrischen Rasierapparat. Ein Mann ist ein Mann. Ein Mann dient in der Armee. Auch der General ist ein Mann
und dient in der Armee. Ein Mann, der viele Frauen kriegt, zeigt damit, er ist sehr männlich.
Eine Frau, die viele Männer nimmt, ist mannstoll. Eine Frau soll einen Mann nie nehmen.
Eine Frau soll sich nehmen lassen. Der Mann nimmt. Die Frau wird genommen. Der Mann
gibt der Frau, die er heiratet, seinen Namen. Die Frau nimmt den Namen an. Wenn sich an
den alten stabilen Verhältnissen neuerdings manches ändert, so ändert sich daran doch nichts.
Die Leute wissen schon, welche Neuerungen notwendig sind, ohne daß sich was ändert.
Frühmorgens verläßt der Mann die Familie und verdient das Geld. Wenn der Mann tüchtig ist,
kommt er gut voran und heißt Chef. Als Chef sitzt der Mann in der obersten Etage. Seine
Sekretärin heißt Chefsekretärin. Die Chefsekretärin ist eine Frau. Sie sitzt auch in der
obersten Etage. Aber sie hat nichts zu sagen. Der Mann, der der Chef ist, hat was zu sagen.
Alle Männer unter ihm bewundern den tüchtigen Chef. Im Geheimfach des Chefs liegt ein
kleiner vergoldeter Schlüssel. Der Schlüssel öffnet und versperrt das Marmorklosett, in das
nur der Chef gehen darf, weil er der tüchtigste Mann ist. Die Männer, die nicht ganz so
tüchtig sind, aber auch nicht ganz untüchtig, schließen sich zusammen und bilden eine
Gewerkschaft. Sie nehmen Frauen auf. Aber nicht allzu viele. Manche Männer haben so
starke Gewerkschaften gebildet, daß an ihre Spitze Gewerkschaftsführer kommen, die sind
Chefs und sitzen in der oberen Etage. Aber sie haben keine vergoldeten Schlüssel und keine
exklusiven Marmorklosetts. Manche von ihnen leiden an diesem Mangel. Denn sie sind
Männer. Und tüchtig.
Der Mann, der auf sich hält, trägt dunklen Anzug, Krawatte und Hut. Er macht Spesen auf
Firmenkosten. Wenn er nicht in den obersten Chef-Etagen anordnet und verwaltet, bevölkert
er Flugzeuge und ICE-Züge. Der Mann fährt Mercedes oder BMW. Der Mann hat 1 Familie.
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Sie besteht aus 1 Frau, 2 Kindern, 1 großen Hund mit scharfen Zähnen. Früher zählte zu dieser Art oberer Familie noch das Dienstpersonal. Das ist zu teuer geworden. Man sagt: Das
kann ich mir nicht mehr leisten. Allein die Sozialabgaben für die Dienstboten! Nein. Der
Mann mit Familie hat 1 Zweithaus im Inland, 1 Ferienhaus im Tessin, 1 Grundstück in
Kanada oder den USA. Für alle Fälle. Ein Mann hält nichts von Kommunismus, Sozialismus,
Anarchismus. Der Mann hält nichts von Kapitalismus. Er lebt nur davon. Der Mann liest die
„Frankfurter Allgemeine Zeitung“. Der Mann ist lebensversichert, krankenversichert, rentenversichert, risikoversichert. Der Mann ist rundum versichert, ebenso seine Frau, die Kinder
und der Hund, nur etwas geringer. Der Mann fährt keinen Gebrauchtwagen. Der Mann hat ein
eigenes Haus mit Swimmingpool. Der Mann hat einen Garten, wo Gras wächst. Der Mann
behält sich vor, das Gras mit dem Rasenmäher zu mähen. Wenn der Mann im Flugzeug oder
ICE unterwegs ist, mäht eines der Kinder Gras mit dem Rasenmäher. Früher war der Mann in
der Feuerwehr. Heute ist die Feuerwehr nur noch auf dem Dorf freiwillig, wo der Mann sein
Ferienhaus hat. Der Mann akzeptiert die Berufsfeuerwehr und die Gewerkschaften. Der Mann
sagt: Es kann nicht ewig so weitergehen. Was wir verbrauchen, müssen wir erst einmal verdient haben. Der Mann hat immer verdient, was er verbraucht. In der oberen Etage gibt’s
nichts, das unverdient wäre. Ausgenommen den Bankrott. Hat ein Mann Bankrott gemacht, ist
er arm dran und seine Frau kann nur noch einmal die Woche zum Friseur gehen. Der Mann,
der einen Bankrott gemacht hat, ist wirklich arm dran. Der Staat, in dem der Mann lebt, ist ein
unsozialer Staat, denn es gibt in ihm keine Arbeitslosenunterstützung für bankrotte Millionäre. So muß der Mann seine Geschäfte im Ausland betreiben oder vom Ausland her. Dazu
benutzt der Mann das Flugzeug oder den ICE oder den Mercedes oder BMW. Auch sonst
muß der Mann sich im Ausland einschränken. Die Ferienvilla im Tessin hat nur zehn Zimmer.
Da ist der arme Mann arm dran. Der Mann steht vor dem Portal, krault seinen Hund unter
dem Kinn und spricht: Wahrlich, es kommen schlimme Zeiten.
Aus: „neue deutsche Literatur“ 489. Aufbau Verlag. Berlin und Weimar 1993
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Aufgabe II
Stephan Clauss:
Der Verlust der Stille
Analysieren Sie den Text.
Setzen Sie sich mit den Auffassungen von Stephan Clauss auseinander.
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Text zur Aufgabe II
Stephan Clauss (geb. 1952)
Der Verlust der Stille
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Die wertvollsten Dinge des Lebens sind unverkäuflich. Sie kosten nichts und sind dennoch
schwer zu haben. Eine dieser unbezahlbaren Kostbarkeiten ist die Stille. Und es gäbe keinen
Grund, über sie zu reden, wenn nicht auch sie – die Schweigsame, Unscheinbare – im Begriff
wäre, uns verloren zu gehen – von einigen betrauert, von vielen nicht einmal vermisst. Dabei
ist die Stille nicht einfach nur die Abwesenheit von Lärm, so wie der Frieden sich nicht allein
durch das Schweigen der Waffen definiert. Die Stille war so lange Zeit Voraussetzung und
Bestandteil menschlicher Kultur, dass eine Gesellschaft, die ihr keinen Platz mehr erlaubt,
nicht nur arm und oberflächlich wird, sondern unerträglich.
Um zu begreifen, welche Zumutung der Lärm für seine Opfer bedeutet, braucht man nicht erst
die militärischen Tiefflüge zu bemühen. Lärm ist vielmehr so allgegenwärtig geworden, dass
es schon einiger Anstrengungen bedarf, sich seinem totalitären Machtanspruch zu entziehen.
Immer kleiner werden die Inseln des Schweigens in einer von Medien und Motoren beherrschten Welt.
Selbst Musik gerät zur akustischen Umweltverschmutzung: Supermarktkunden sollen mittels
hypnotischer Klänge zu noch mehr Konsum animiert, Wartende in U-Bahn-Stationen sanft
sediert1 werden. Aus den Boutiquen der Fußgängerzonen fällt uns das gleiche DiskoGedröhne an, das wir im Radio eben erst abgeschaltet hatten und das der dynamische Nachbar
immer gern am Sonntagmorgen aufdreht, damit auch alle mithören können.
Noch keine Generation ist mit einer derartigen Dauerbeschallung aufgewachsen wie die
Teenager von heute, die sich vor der lärmenden Außenwelt mit der oft nicht weniger lauten
Klangkulisse aus dem Walkman abschirmen, unansprechbare Traumwandler unter ihrer
Klangkappe. Schwermetalle in der Luft, heavy metal im Kopf; die Welt als Nonstop-Diskothek. Hörschäden werden zur neuen Volkskrankheit.
Viele Menschen haben sogar schon regelrecht Angst vor der Stille: In Situationen, wo ihnen
der Lärmteppich unter den Füßen weggezogen ist, reagieren sie verwirrt, unruhig wie unter
Entzugserscheinungen. Sie erleben die plötzliche Ruhe als einen unerwünschten Einbruch in
ihre betriebsame Normalität, als einen anachronistischen Widerspruch, den es schleunigst
niederzubrüllen gilt; sei es mittels der Lautsprecherboxen oder indem man den Rasenmäher
anwirft. Für diese Furcht vor dem Innehalten, der Abwesenheit aller Arten von Aktivitäten,
gibt es eine einfache Erklärung: Wer so vollständig aufgeht in der Existenzweise des Lärms,
auf den muss ihr lautloses Gegenteil wie eine bedrohliche Leere wirken.
Lärm macht krank. Wer ihm ausgeliefert ist, wird aggressiv oder stumpft ab. [...] Wir sehen,
wie der Lärm das soziale Klima vergiftet und manche Zeitgenossen bis zur Weißglut reizt.
Andere leiden stumm oder flüchten sich in den Konsum von Tranquilizern und
Schlaftabletten; Opfer der Gesellschaft, die auch im Lärm den verdrängten Aggressionen ein
Ventil schafft.
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von Sedativum: Schmerz-, Beruhigungsmittel
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Es darf bezweifelt werden, ob technische Verbesserungen und politische Kosmetik an diesen
Zuständen viel ändern können. Wieder einmal ist ein Bewusstseinswandel gefragt, Rückbesinnung auf verschüttete Werte. Wer keinen Lärm mehr veranstalten muss, um sich künstlich
Mut zu machen für den Existenzkampf, der erkennt vielleicht bald, dass er aus der Stille eine
ungleich größere Kraft für den Alltag schöpfen kann.
Nicht nur für den Kranken, der in der Klinik seine Ruhe oft wie einen Luxusartikel bezahlen
muss, ist die Stille eine heilsame und befreiende Erfahrung. Die Stille ist kein entbehrlicher
Luxus für Alte und Kranke, sondern tragendes Element eines zivilisierten Zusammenlebens.
Ohne sie verlernen wir die Kunst des Zuhörens, leidet unsere Wahrnehmung, wird das Denken zur Qual. Wo Arbeiten und Schlafen nur noch mit Wachs oder Schaumstoff in den Ohren
möglich sind, hat der Mensch ein unersetzbares Stück Lebensqualität eingebüßt.
Aus: Badische Zeitung vom 29./30.10.1988
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Aufgabe III
Erich Kästner:
Das Märchen von den kleinen Dingen
Interpretieren Sie den Text.
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Text zur Aufgabe III
Im Juni 1947 stellt Erich Kästner sein „Märchen von den kleinen Dingen“ erstmals in einer Lesung in
Zürich vor. Dem deutschen Publikum wird der Text im Januar 1948 in einem Programm des
Münchner Kabaretts „Die Schaubude“ zugänglich gemacht. Gemeinsam mit drei weiteren Texten wird
er unter dem Sammelbegriff „Gleichnisse der Gegenwart“ veröffentlicht.
Erich Kästner (1899 - 1974)
Das Märchen von den kleinen Dingen
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Es war einmal ein Land, in dem gab es keine Zündhölzer. Und keine Sicherheitsnadeln. Und
keine Stecknadeln. Und keine Nähnadeln. Und kein Garn zum Stopfen. Und keine Seide und
keinen Zwirn zum Nähen. Und kein Seifenpulver. Und kein Endchen Gummiband weit und
breit, und schmales auch nicht. Und keine Kerzen. Und keine Glühbirnen. Und keine Töpfe.
Und kein Glas und keinen Kitt. Und kein Bügeleisen. Und kein Bügelbrett. Und keinen
Nagel. Und keine Schere. Und keinen Büstenhalter. Und keine Schnürsenkel. Und kein Packpapier. Und keinen Gasanzünder. Da wurden die Einwohner des Landes ziemlich traurig.
Denn erstens fehlten ihnen alle diese kleinen Dinge, die das Leben bekanntlich versüßen und
vergolden. Zweitens wußten sie, daß sie selber daran schuld waren. Und drittens kamen
immer Leute aus anderen Ländern und erzählten ihnen, daß sie daran schuld wären. Und sie
dürften es nie vergessen. Die Menschen in dem Land hätten nun furchtbar gern geweint. Aber
Taschentücher hatten sie auch nicht.
Da faßten sie sich endlich ein Herz und sagten: »Wir wollen lieber arbeiten statt zu weinen.
Zur Arbeit braucht man keine Taschentücher.« Und nun gingen sie also hin und wollten
arbeiten. Das hätte ihnen bestimmt sehr gut getan, denn die meisten von ihnen besaßen keine
Phantasie. Und wenn Menschen ohne Phantasie nichts mehr haben und auch nicht arbeiten
dürfen, kommen sie leicht auf dumme Gedanken.
Aber es war leider nichts zum Arbeiten da. Kein Handwerkszeug. Kein Holz. Kein Eisen.
Keine Maschinen. Kein Geld. Da gingen sie wieder nach Hause, setzten sich auf ihren zerbrochenen Stuhl und warteten. Nebenan lief ein Radio. Sie konnten gut mithören, denn in der
Wohnung nebenan gab es keine Fensterscheiben und bei ihnen auch nicht, und der Radioapparat war kaputt und konnte nicht mehr auf »leise« eingestellt werden. Sie hörten also mit und
erfuhren durch einen gelehrten Vortrag, daß das ganze Land so zerstört sei, daß dreißig Kubikmeter Schutt auf den Kopf der Bevölkerung kämen. »Dreißig Kubikmeter Schutt auf meinen Kopf?« sagte da ein alter Mann in der kahlen, kalten Stube. »Ein Filzhut wäre mir lieber.
Oder eine Schaufel Erde.« Und das Radio erzählte dann noch, daß sie selber alle daran schuld
wären. Und sie dürften es nie vergessen. Die Leute nickten müde mit dem Kopf und den dreißig Kubikmetern Schutt darüber ...
Als sie zweiundeinhalbes Jahr auf dem zerbrochenen Stuhl gesessen, eine Menge Radiovorträge gehört und keine Arbeit gefunden hatten, kam ihnen der Gedanke, daß sich ihr Leben
vielleicht nicht lohne und daß sie es fortwerfen sollten. Außer der Schuld besaßen sie nichts.
Und eine Schuld kann so groß sein, wie sie will – so sehr hängt man nicht an ihr, daß man
lediglich deswegen weiteratmen möchte. Nun wollten sie sich also umbringen. Sie freuten
sich richtig darauf. Erst dachten sie daran, den Gashahn aufzudrehen. Aber es war Gassperre.
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Da wollten sie sich am Fenstergriff aufhängen. Aber es gab keinen Bindfaden in dem Lande.
Und einen Fenstergriff gab’s auch nicht. Da wollten sie sich erschießen. Doch man hatte
ihnen das Gewehr weggenommen, damit sie keinen Unfug anrichteten. Nun wollten sie ja
keinen Unfug stiften, sondern nur sich umbringen! Doch so ganz ohne Gewehr kann man
nicht einmal auf sich selber schießen. Als sie das eingesehen hatten, liefen sie in die Apotheken, um Gift zu holen. Aber die Apotheken hatten nichts zu verkaufen, nichts fürs Leben und
nichts für den Tod ...
Da gingen sie wieder nach Hause und gaben, nach dem Leben, auch noch das Sterben auf.
Das war ein schwerer Entschluß für sie. Sie weinten diesmal sogar ein wenig. Obwohl sie
immer noch kein Taschentuch besaßen. Ein Fremder, der ihnen durchs Fenster zusah, sagte
ärgerlich, sie sollten sich bloß nicht bedauern. Sie seien an allem selber schuld, und sie
dürften das nie vergessen. Da hörten sie auf zu weinen und blickten zu Boden. Der Fremde
ging. Sie setzten sich nun wieder auf ihren Stuhl und betrachteten ihre leeren Hände.
Und wenn sie nicht verhungert sind, leben sie heute noch ...
(1947)
Aus: E. Kästner. Werke Bd. II. Carl Hanser Verlag. München 1998
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Aufgabe IV
Mascha Kaléko:
Heinrich Heine:
Im Exil
Ich hatte einst ein schönes Vaterland
Interpretieren Sie das Gedicht von Mascha Kaléko.
Vergleichen Sie die Gestaltung des Motivs Heimat mit der in Heines Gedicht. Berücksichtigen
Sie dabei auch literaturhistorische Bezüge.
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Texte zur Aufgabe IV
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Mascha Kaléko (1907 - 1975)1
Im Exil
Heinrich Heine (1797 - 1856)4
Ich hatte einst ein schönes Vaterland
Ich hatte einst ein schönes Vaterland so sang schon der Flüchtling Heine.
Das seine stand am Rheine,
das meine auf märkischem Sand.
Ich hatte einst ein schönes Vaterland.
Der Eichenbaum
Wuchs dort so hoch, die Veilchen nickten sanft.
Es war ein Traum.
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Wir alle hatten einst ein (siehe oben!).
Das fraß die Pest, das ist im Sturm zerstoben.
O Röslein auf der Heide2,
dich brach die Kraftdurchfreude3.
Das küßte mich auf deutsch, und sprach auf deutsch
(Man glaubt es kaum,
Wie gut es klang) das Wort: »Ich liebe dich!«
Es war ein Traum.
(1833)
Die Nachtigallen wurden stumm,
sahn sich nach sicherm Wohnsitz um,
und nur die Geier schreien
hoch über Gräberreihen.
Das wird nie wieder, wie es war,
wenn es auch anders wird.
Auch wenn das liebe Glöcklein tönt,
auch wenn kein Schwert mehr klirrt.
Mir ist zuweilen so, als ob
das Herz in mir zerbrach.
Ich habe manchmal Heimweh.
Ich weiß nur nicht, wonach …
(1945)
Aus: M. Bertram (Hg.). Digitale Bibliothek der
deutschen Literatur. Direct Media Publishing
GmbH. Berlin 2000
Aus: M. Kaléko. Das himmelgraue
Poesie-Album der Mascha Kaléko.
arani-Verlag GmbH. Berlin 1979
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1907
1914
geb. in Galizien als Tochter jüdischer Eltern
Übersiedlung nach Deutschland, ab 1918 in
Berlin wohnhaft
1938 Emigration nach New York, erhält 1944 die
amerikanische Staatsbürgerschaft
1960 Übersiedlung nach Jerusalem
1974 Behandlung wegen Darmkrebs in Zürich
1975 Tod und Beisetzung auf dem Israelitischen
Friedhof in Zürich
Vers aus Goethes „Heidenröslein“
Kraft durch Freude: NS-Organisation für politisch
organisierte Freizeitgestaltung (KdF)
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1797
1831
1856
geb. als Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie
in Düsseldorf
Emigration nach Paris
Tod und Beisetzung auf dem Friedhof Montmartre