Heinz-Peter Preußer Transmediale Texturen Schriftenreihe zur

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Heinz-Peter Preußer Transmediale Texturen Schriftenreihe zur
Heinz-Peter Preußer
Transmediale Texturen
Schriftenreihe zur Textualität des Films 3
ISSN 2194–3087
Schriftenreihe zur Textualität des Films
Herausgegeben von John Bateman, Heinz-Peter Preußer und Sabine Schlickers
(Bremer Institut für transmediale Textualitätsforschung, BItT)
Internationaler Beirat der Schriftenreihe:
Stephen Brockmann (Pittsburgh), Wolfgang Bongers (PUC, Santiago de Chile),
Erica Carter (King’s College, London), Jens Eder (Mannheim), Pietsie Feenstra
(USN Paris 3), Matteo Galli (Ferrara), Britta Hartmann (Bonn/Berlin),
Vinzenz Hediger (Frankfurt/M.), Hermann Kappelhoff (FU Berlin),
Ursula von Keitz (Konstanz), Frank Kessler (Utrecht), Markus Kuhn (Hamburg),
Claudia Liebrand (Köln), Fabienne Liptay (LMU München),
Karl Sierek (Jena), Hans Jürgen Wulff (Kiel).
Der Autor: Heinz-Peter Preußer, Dr. phil., Akademischer Rat am Fachbereich 10, Sprachund Literaturwissenschaften der Universität Bremen. Arbeitsgebiete: Neuere und neueste
Literatur, Ästhetik, Medien-, insbesondere Filmwissenschaft. Neuere Publikationen als
Mitherausgeber: Pandora. Zur mythischen Genealogie der Frau. Pandore et la généalogie
mythique de la femme. Heidelberg: Winter 2012. Literatur inter- und transmedial – Interand Transmedial Literature. Amsterdam, New York, NY: Rodopi 2012. Seit 2006 erscheint
regelmäßig das Jahrbuch Literatur und Politik, Heidelberg: Winter, zuletzt 2013 der Band 7,
Technik in Dystopien. Aktuell zudem die Monografie Pathische Ästhetik. Ludwig Klages und
die Urgeschichte der Postmoderne. Heidelberg: Winter 2013 (im Erscheinen).
Heinz-Peter Preußer
Transmediale Texturen
Lektüren zum Film
und angrenzenden Künsten
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© Schüren 2013
Alle Rechte vorbehalten
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Umschlaggestaltung: Wolfgang Diemer, Köln
Druck: Druckhaus Marburg
Printed in Germany
Gedruckt auf Papieren aus nachhaltiger Waldwirtschaft
ISBN 978-3-89472–776-5
Inhalt
Einleitung – Eine Ästhetik des medialen ‹Dazwischen›
7
1. Text und Bild
1.1 Betrachten und Vorstellen
Inszenierte Unmittelbarkeit des Bombenkrieges in Fotografie,
Roman und Geschichtsschreibung
1.2 Tödliche Blicke
Filmische Typologien des Fotografen, des Reporters und des
Regisseurs im Krieg. Spottiswoode – Born/Schlöndorff –
Manchevski – Kusturica – Angelopoulos
1.3Randliteratur
Mediale Transgressionen des literarischen Feldes und im DDRSamizdat insbesondere
1.4 Die (Re-)Konstruktion der DDR über den Westblick
Zu Filmen von Buck, Roehler und Schlöndorff – im Kontrast zu
Volker Brauns Schreibprojekt ‹Lebens|Werk|DDR›
1.5 Berühmt und verboten
Frank Beyers DEFA-Film Spur der Steine
1.6 Sentimentale Worpsweder
Kitsch, Kunst und Literatur um 1900
1.7 Vom Roman zu Film und Doku-Drama sowie retour
Die Buddenbrooks und Die Manns
22
49
72
97
115
123
144
2.Filmlektüren
2.1 Stumm, unmittelbar, authentisch?
Die Sprache des späten Stummfilms am Beispiel von Menschen
am Sonntag
2.2 Eine romantische Synthese und ihr notwendiges Scheitern
Edgar Reitz’ filmische Chronik Heimat 1–3
2.3 Terrorismus im Film
Zu Begriff, Ethik und Ästhetik politischer Gewalttaten
(zusammen mit Dagmar Borchers)
158
188
208
5
Inhalt
2.4 Massen im Monumentalfilm – Überwältigungsstrategien des
Genrekinos
Versuch einer Typologie aus der Theorie des Erhabenen
2.5 Arterhaltung, Hybridisierung, Verschmelzung
Das imaginierte Böse in den Alien-Filmen von Ridley Scott bis
Jean-Pierre Jeunet
2.6 Zur Xenologie der Bugs
oder: das Dilemma der Gewaltparodie in Starship Troopers
von Paul Verhoeven
2.7 Technik und Technikkritik im dystopischen Film
239
257
280
285
3. Mythos transmedial
3.1 Zerstörung, Rettung des Mythos im Trivialen
Über die Travestie der Tradition in Literatur und Film,
in Fernsehen und Comic
3.2 Deutsche Gründungsmythen
Schlachten, Fußball und die staatliche Einheit bei Heinrich Heine,
Heinrich von Kleist, Hermann Wislicenus und Sönke Wortmann
3.3 Die überdeterminierte Amazone
Frauen als mordende Racheengel von der Antike
bis zum Mainstream-Kino
3.4 Den Liebsten verspeisen
Anthropophagie als Reflex von Eros und Individualisierung
bei Heinrich von Kleist, Elfriede Czurda und Peter Greenaway
3.5 Mythos als Meta- oder Konnotationsnarrativ
Antikenrezeption und Popkultur im Kino seit dem Jahr 2000
316
334
351
365
388
Anhang
Quellennachweise – Angaben zu Erstdrucken
Abbildungsnachweise
Personenverzeichnis
Filmverzeichnis
6
414
417
420
436
1.2Tödliche Blicke
Filmische Typologien des Fotografen, des Reporters
und des Regisseurs im Krieg
Spottiswoode – Born/Schlöndorff – Manchevski –
Kusturica – Angelopoulos
Kino ist Krieg – Ist Kino Krieg?
Postmoderne Medientheorie, das macht ihr Faszinosum und ihre Unaufrichtigkeit
aus, kokettiert mit dem Metapherneffekt, als wollte sie auf jeder Seite beweisen,
dass sie nur Literatur sein will. Den Hang zur Trope, gerne auch zur Rhetorik der
Inversion, findet man in Frankreich wie in Deutschland gleichermaßen, bei Virilio
und Baudrillard so gut wie bei Kittler und Zielinski. Gleichsetzung gilt als Mittel der Argumentation. «Krieg ist Kino und Kino ist Krieg» sagt etwa Paul Virilio
mit Apodiktik und Emphase, bar aller Ironie.1 Sein Essay, der dieser Behauptung
seinen Titel verdankt und vorgibt, eine ‹Logistik der Wahrnehmung› bereitzustellen, bebildert diese Behauptung mit dem zähen Gestus der Akkumulation. Virilio
verfügt über einen Zettelkasten, der wohl die Ausmaße eines Arno-Schmidt’schen
erreichen dürfte; aber allein davon wird die Aussage nicht wahrer.
Ich möchte im Folgenden zeigen, wie gerade Bildmedien – allen voran der fiktionale Spielfilm – zur Kritik der Verhältnisse beitragen, die sie medientheoretisch
angeblich verantworten sollen. Filme, die selbst theoretisch ambitioniert sind, reflek1
Paul Virilio: Krieg und Kino. Logistik der Wahrnehmung [1984]. Übers. aus d. Frz. von Frieda Grafe
und Enno Patalas. Frankfurt/M.: Fischer 1989, S. 47.
49
1. Text und Bild
tieren den Anteil ihres Mediums an der Kriegsentwicklung, um den Krieg selbstreferenziell kritisieren zu können. Anders gesagt: Sie kritisieren mit filmischen Mitteln
und unter Bezug auf das Filmische an sich, was an ihnen zum Kriegerischen tendiert. Damit wird prinzipiell zwar eingeräumt, was Kittler, Virilio und andere unentwegt vorführen. Dass nämlich nicht nur der Krieg, wie schon Heraklit wusste, der
Vater aller Dinge ist, sondern dass sich gerade die Entwicklung der Aufzeichnungen
aus dem Feld des Realen und Imaginären2 untrennbar mit der des Militärischen
vollzog.3 Ob man aber, wie Zielinski dies tut, von einer grundsätzlichen Aggressivität telekommunikativer Technik ausgehen kann, ob schließlich die Gewalt der
Wahrnehmungsveränderungen parallelisiert werden darf mit der Gewalt im Krieg,
bleibt wenigstens fragwürdig, wenn man sich bescheiden und höflich ausdrücken
will. Vielleicht gilt auch nur, was derselbe Autor bereits in seinem Untertitel über
den Zusammenhang von Krieg und Medien ausführt: Er ist ein «kybernetischer
Kurzschluß», und das wäre dann, genau besehen, alles andere als ein Geistesblitz.4
Ich möchte dagegen eine negative Ontologie des Spielfilms entwickeln und Filme
präsentieren, die um die Gefahren wie um die Grenzen filmischer Repräsentation des
Grauens, der Gräuel im Kriegsgeschehen wissen. Über die Brechung dieser Volte erst
wird der Kern der Thesen Virilios und seiner Anhänger doch noch wahr: Nicht als
positive Identifikation von Krieg und Kino, sondern als kritische Aneignung der zerstörerischen Gewalt, die von dem Medium selbst auszugehen scheint. Indem Filme
bebildern, was an ihnen Gewalt ist oder zu Gewalt führen kann, distanzieren sie sich
von eben den Wahrnehmungskonventionen, welche die Filmgeschichte erst etabliert hat. Solche selbstreflexiven Filme, die ich an den fünf Fallbeispielen von Spottiswoode, Born/Schlöndorff, Manchevski, Kusturica und Angelopoulos vorführen
will,5 lösen der Form nach ein, was an ihnen kritischer Gehalt sein kann, nicht durch
2
3
4
5
50
Kittler weist – mit Bezug auf Lacans Trias Reales, Imaginäres und Symbolisches – der filmischen
Aufzeichnung das Imaginäre, der akustischen hingegen das Reale zu. «Phonographie und Spielfilm stehen zueinander wie Reales und Imaginäres.» Film «speichert statt der physikalischen
Schwingungen selber [...] nur ihre chemischen Effekte auf sein Negativmaterial.» Friedrich Kittler:
Grammophon, Film, Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose 1986, S. 183, 182; vgl. 29 sowie 11 f.
Rockmusik ist, nach einem nicht einmal falschen Bonmot von Kittler, «Mißbrauch von Heeresgerät». Und stärker noch als für das Auditive gilt vom Visuellen, dass es seine Verwendung zu
Zwecken der Unterhaltung der vorigen kriegerischen Entwicklung und Nutzung verdankt. Kittler,
Grammophon, Film, Typewriter (Anm. 2), 170, ebenso 149; vgl. 196.
Siegfried Zielinski: Medien/Krieg. Ein kybernetischer Kurzschluss. In: Medien im Krieg. Die zugespitzte Normalität. Hg. von der Österreichischen Gesellschaft für Kommunikationsfragen, Red.
Peter A. Bruck u.a. Salzburg 1991, S. 12–20, hier 15, 12. Auch Kittler beschreibt den «Zusammenfall von Kino und Krieg» über die Veränderung der Perzeptionsmuster: «Kino war von Anfang an
Manipulation der Sehnerven und ihrer Zeit.» Kittler, Grammophon, Film, Typewriter (Anm. 2), 177.
Es wären zahlreiche weitere möglich. Einschlägig – im Wortsinne – ist etwa die Eingangssequenz
von Lord of War, USA 2005, Regie: Andrew Niccol, die den Weg einer Patrone von der Herstellung bis in den Kopf eines afrikanischen Jungen nachzeichnet. Zuletzt ‹folgt› ihr ‹die Kamera›,
fliegend, scheinbar identisch mit dem Projektil, bis ins ‹Ziel›. Siehe dazu aber insbesondere Warshots von Heiner Stadler, der thematisch an Spottiswoode anknüpft, allerdings Elemente des
1.2 Tödliche Blicke
das Dargestellte. Es ist also eine im strengen Sinne ästhetische Reaktion; so wie auch
der Umgang mit dem Vorwurf der universalen Simulation, wie ihn in aller Schärfe
Baudrillard erhoben hat,6 als Selbstreflexion und spielerisch umgesetzt wird.
Doch zunächst zur Theorie und dort insbesondere zu Paul Virilio: Für den Franzosen bricht die Technisierung mit einer von außen kommenden Gewalt in das
Empfindungsvermögen ein, die letztlich die Wahrnehmungsfähigkeit selbst zerstört. Das gilt für die Beschleunigung der Telekommunikation7 ebenso wie für die
angebliche Überreizung des Menschen mit Sinneseindrücken oder seine prothesenhafte Motorisierung.8 Einerseits werde der Mensch durch Technik entmachtet – es herrscht ein «technophile[r] Synkretismus» –,9 andererseits rüste er sich
selbst auf durch die Technisierung seines Körpers.10
Seit dem Ersten Weltkrieg, so sagt Virilio, kann nur noch «die Blende des Objektivs [...] den Film der Ereignisse konservieren, den momentanen Frontverlauf, die
Sequenzen seines fortschreitenden Verfalls».11 Die Unmittelbarkeit des Sehens
wird von optischen und optisch-elektronischen Verfahren der Wahrnehmung und
Konservierung des Wahrgenommenen abgelöst.12 Auf der Ebene der Unterhaltungsmedien vollzieht sich eine analoge Entwicklung:
So gibt es keinen Krieg ohne Selbstdarstellung, keine noch so entwickelte Waffe
ohne psychologische Mystifikation. Die Waffen sind Werkzeuge nicht nur der Zerstörung, sondern auch der Wahrnehmung. Sie sind Stimulatoren der Sinnesorgane
Dokumentarfilms (hier Realaufnahmen von UN-Truppen in Mogadischu, UNOSOM-Einsatz)
mit einer Spielfilmhandlung und fiktionalen Kriegsschauplätzen kombiniert. «Verstörend» sei
der Film und lasse «seinen Helden Mord- und Todschlag aufmerksam beobachten, um mit dem
‹besten› Schnappschuß vom Kriegsschauplatz, der brutalsten Szene Meriten zu gewinnen, auch
wenn er dabei die Seele verliert. Ein spannender Beitrag über Fragen von Ethik, Moral und Verantwortung», befindet Margret Köhler: Viel Spreu, wenig Weizen. Neue deutsche Filme beim ‹Filmfest München›. In: film-dienst 49 (1996), Heft 17, S. 15 f., hier 16.
Filmdaten – Titel: Warshots. D 1995 – 94 Min. Verleih: offen. Erstaufführung: 6.4.1998 arte.
Produktionsfirma: HSF-Film / BR / WDR / SDR / arte. Produktion: Heiner Stadler. Regie: Heiner
Stadler. Buch: Harald Göckeritz, Heiner Stadler. Kamera: Yusef Hu. Musik: Roman Bunka. Schnitt:
Micki Joanni. Darsteller: Herbert Knaup, Peter Franke, Özay Fecht, David Kelhoe, Claude Channice.
Diese und alle nachfolgenden filmografischen Angaben wurden dem Lexikon des internationalen
Films, Ausgabe 1999/2000 auf CD-ROM, München: Systhema 1999, entnommen. Dort jeweils
weiterführende Hinweise.
6 Jean Baudrillard: The Gulf War Did Not Take Place [1991]. Übers. aus d. Frz. von Paul Patton.
Bloomington, IN: Indiana University Press 1995, insb. S. 36 und 61–87. Siehe auch die Einführung
Paul Pattons: Introduction, 1–22.
7 Vgl. Virilio, Krieg und Kino (Anm. 1), passim.
8 Paul Virilio: Die Eroberung des Körpers. Vom Übermenschen zum überreizten Menschen [1993].
Übers. aus d. Frz. von Bernd Wilczek. München, Wien: Hanser 1994, passim.
9Virilio, Krieg und Kino (Anm. 1), 51.
10Virilio, Eroberung des Körpers (Anm. 8), 78; vgl. ders.: Rasender Stillstand [1990]. Essay. Übers. aus
d. Frz. von Bernd Wilczek. München, Wien: Hanser 1992, S. 128.
11Virilio, Krieg und Kino (Anm. 1), 157.
12 Ebd., 155.
51
1. Text und Bild
und des zentralen Nervensystems, deren Wirkung sich in neurologischen und chemischen Effekten äußert, die die Reaktionen beeinflussen, das Erkennen der wahrgenommenen Objekte, ihre Unterscheidung im Verhältnis zu anderen.13
Im Zweiten Golfkrieg 1991, dem «ersten totalen elektronischen Krieg der
Geschichte», sollen die Fernsehzuschauer sich sogar «in einer Situation der absoluten Interaktivität» befunden haben.14 Die «Darstellung in Echtzeit» verwandle das
Wohnzimmer in reine «Teleaktion».15 «Das direkt übertragene Bild ist ein Filter [...],
der nur das Gegenwärtige durchläßt.» Und Desinformation bedeutet im Zeitalter der
Fernsehkriege nicht mehr Lüge, «sondern das Übermaß an widersprüchlicher Information, die Überinformation».16 Krieg und Fernsehen beschreibt die Entwicklung
dieses Bilderkrieges, sein täuschendes Faszinosum und das schnelle Verblassen der
Erinnerungsspuren, ganz ähnlich, wie man dies für den Kosovo-Krieg analysiert hat
und für Afghanistan und den Irakkrieg wohl gar nicht mehr brauchte. Das Medienspektakel konnte darüber hinweg täuschen, dass hier Kriegstechnik vorgeführt und
erprobt wurde am Menschen, an konkreten Opfern, und die doch für die Führung
sauberer Kriege, wie auch im Kosovo, wie im Irakkrieg, eingesetzt werden sollte.
Seit Erfindung des optischen Telegraphen 1794 «wurde bereits die Distanz eingeholt im Augenblick. Von nun an verlor der Ort an Bedeutung, zogen sich entsprechend der wachsenden Geschwindigkeit die geographischen Räume zusammen»,
und es konstituierte sich «eine topologische Scheinwelt [...], in der alle Oberflächen des Globus einander unmittelbar konfrontiert sind».17 Alles rückt in eine
beängstigende oder aber gleichgültige Nähe. «Der Nihilismus der Geschwindigkeit» vernichtet «die Wahrheit der Welt», heißt es an anderer Stelle.18 Der Krieg ist
für Virilio nur die Gewaltform der Beschleunigung. «Seit es Geschwindigkeit gibt,
bricht die Welt unaufhörlich herein; der Gegenstand löst sich auf in den Anfang
einer Informationskette. Und gerade diese Verkehrung zerstört die Welt, wie wir sie
wahrnehmen».19 Dieser Prozess mache «das Sehen zum Rohstoff». Die Beschleunigung erzeuge «nicht so sehr Bilder als vielmehr unglaubliche und übernatürliche neue Erinnerungsspuren», die das Erleben verdrängen.20 Dieser «[r]asende[..]
Stillstand»21 löscht, was als Eindruck im Subjekt zurückbleiben könnte; er negiert
13 Ebd., 10. Vgl. Paul Virilio: Krieg und Fernsehen [1991]. Übers. aus d. Frz. von Bernd Wilczek.
Frankfurt/M.: Fischer 1997, S. 61–64.
14Virilio, Krieg und Fernsehen (Anm. 13), 30, 16. Hervorhebungen im Original kursiv.
15 Ebd., 17. Vgl. 35 f., 48, 78 f., 133 f.
16 Ebd., 15 f.
17Virilio, Krieg und Kino (Anm. 1), 83.
18 Paul Virilio: Ästhetik des Verschwindens [1980]. Übers. aus d. Frz. von Marianne Karbe und Gustav
Roßler. Berlin: Merve 1986, S. 128.
19 Ebd., 112.
20 Ebd., 67.
21 So der bereits oben zitierte Titel von Virilio, Rasender Stillstand (Anm. 10), im gleichnamigen
Band, 126–158.
52
1.2 Tödliche Blicke
den «Horizont der menschlichen Erfahrung».22 Die Wirklichkeit der Phänomene
ist begrenzt durch «die Geschwindigkeit ihres Auftauchens».23
Da der Krieg Motor der Beschleunigung wie der medialen Wahrnehmung
ist, bildet er die Spitze der Bewegung und den Ansatzpunkt der Kritik. An ihm
und in ihm manifestiert sich, nach Virilio, was das Wesen der Bildmedien ausmacht. «‹Das erste Opfer eines Krieges ist immer die Wahrheit›, wußte schon Kipling. Heute könnte man sagen: das erste Opfer des Krieges ist das Konzept von
Realität.»24 Bereits Ernst Jünger beschreibt In Stahlgewittern25 die Entrealisierung
durch den industrialisierten Krieg, vor allem aber zeigt er «das Ineinandergreifen,
die Verkoppelung von Beobachtungsmaschinerie und moderner Kriegsmaschine»,
welche «den Zeit-Raum des Sehens» revolutioniert.26 Aufklären, Sehen, Vermessen,
Fokussieren, Dokumentieren sind die audiovisuellen Eigenschaften, ohne die Zielsuche, Auswahl, Bestimmung und letztlich Beschuss mit Gewehren, mit Bomben
und Raketen nicht möglich wären. Die Filmkamera fliegt immer mit, wo sie nicht
selbst verschaltet ist mit dem Schussmechanismus.27 Dieser Militär-Medienverbund besteht bereits im Ersten Weltkrieg. Heute leiten Cruise-Missiles den Blick bis
in den Punkt des Aufschlags; Drohnen sehen alles und führen die nachfolgenden
Bomber zielgenau an ihren Ort.28 Existent ist, was gesehen wird: Und im Moment
des Sehens bereits kann das so Gesehene zerstört werden. Das wären dann wahrhaft tödliche Blicke.29
22 Ebd., 134. Vgl. Virilio, Ästhetik des Verschwindens (Anm. 18), 120.
23Virilio, Rasender Stillstand (Anm. 10), 145.
24Virilio, Krieg und Kino (Anm. 1), 59. Die eigene Erkenntnis hielt Kipling nicht davon ab, selbst
Propaganda zu betreiben und den Gegner (hier die Deutschen des Ersten Weltkrieges) zu dämonisieren als die neuen Hunnen, wenn es der nationalen Sache nützlich war. Vgl. dazu den Beitrag
von Michael Kunczik: Public Relations in Kriegszeiten – Die Notwendigkeit von Lüge und Zensur.
In: Krieg in den Medien. Hg. von Heinz-Peter Preußer. Amsterdam, New York, NY: Rodopi 2005,
S. 241–264, hier 251.
25 Ernst Jünger: In Stahlgewittern. Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppführers [1920]. Vgl. dazu den
Essay Jüngers: Der Kampf als inneres Erlebnis [1922]. Texte erneut in ders.: Sämtliche Werke, 18
Bde. Stuttgart: Klett-Cotta 1978–1983, hier Bd. 1 – Tagebücher 1: der Erste Weltkrieg, 1978 und Bd.
7 – Betrachtungen zur Zeit, 1980.
26Virilio, Krieg und Kino (Anm. 1), 161.
27 Vgl. Kittler, Grammophon, Film, Typewriter (Anm. 2), 190: «Die Geschichte der Filmkamera fällt
also zusammen mit der Geschichte automatischer Waffen. Der Transport von Bildern wiederholt nur den von Patronen. [...] Im Prinzip von Kino haust der mechanisierte Tod.» Siehe ebd.,
192–196, 210.
28Virilio, Krieg und Kino (Anm. 1), 95, 180.
29 Der Zweite Irakkrieg brachte als Innovation die Drohne für den Tornister. Dragon Eye unterstützt
den Einzelkämpfer, indem sie für ihn über den nächsten Hügel, um die Ecke, hinter die Frontlinie
oder ein paar Häuser weiter schaut, ob Gefahr zu gewärtigen ist. Vgl. Peter Münch: Kampf mit
ungleichen Waffen. In: Süddeutsche Zeitung vom 21.3.2003. In Afghanistan wurde die unbemannte
Predator nicht allein als Aufklärungsdrohne, sondern bereits mit Raketen bestückt als Angriffswaffe eingesetzt. Die intelligente Bombe erledigt den Rest. Vgl. ebd. und Thomas Kleine-Brockhoff: Quantensprung im Kriegshandwerk. Amerika rüstet für die Feldzüge der Zukunft. In: Die Zeit
vom 14.2.2000.
53
1. Text und Bild
Mit der Kamera schießen: Under Fire
Der erste und einfachste Prototyp, der für diese Veränderung der Realitätswahrnehmung haftbar gemacht werden kann, ist der Fotograf, der Fotoreporter. Auch dafür
gibt es reichlich Belege aus der Technikgeschichte. Und die Zerlegung von Bewegung in ihre Sequenzen, die Chronofotografie, hat das sinnbildlich eingelöst. Der
erste Kampf gegen die Zeit bestand in der Analyse eines Kontinuums. So viele Bilder
wie möglich in der kürzest denkbaren Zeit gaben den Blick frei auf nie Gesehenes,
auf Abläufe, die dem menschlichen Auge zunächst zu schnell waren; das berühmteste Beispiel ist das Setzen der Beine beim galoppierenden Pferd. Ob alle vier Beine
jedweden Bodenkontakt wärend des Galopps verlieren, war ohne technische Hilfsmittel nicht zu entscheiden. Eadweard Muybridge brachte den Beweis durch eine
Maschine, die angeblich nicht lügt und das trügerische menschliche Auge substituiert, ja korrigiert. In einer klug ersonnenen Reihenschaltung – die Versuchsanordnung baute er in seinem Freilichtstudio in Palo Alto auf – lösten die vorbeigaloppierenden Pferde den elektrischen Kontakt
25
aus, der den fotografischen Verschluss
betätigte. Das Objekt selbst belichtete
sich vielfach und zerlegte dadurch das
Kontinuum seines Bewegungsablaufs
in jene Segmente, die Klarheit für etwas
bis dahin Unsichtbares brachten. Muybridge hatte die erste serielle ‹Selbstschussanlage› erfunden.30
Auch mit Etienne-Jules Mareys fotografischer Flinte konnten Bewegungen
zerhackt und dadurch erst verstanden
werden. «Innerhalb von einer Sekunde
wurden 12 Fotos in Intervallen von je
1/720 Sekunde ‹geschossen›». Mareys
Herrschergeste des Zielens, Erfassens
und Schießens erinnert nicht von ungefähr an einen schrotbewehrten Jäger
(Abb. 25).31 Marey traf Möwen im Flug,
keine Gänse oder Enten; und seine Tiere
durften weiterleben, reproduziert in
30 Vgl. Gerhard Kemner und Gisela Eisert: Lebende Bilder. Eine Technikgeschichte des Films. Berlin:
Nicolai 2000. Dort das Kapitel 5: Chronofotografie (verf. von G. Eisert), S. 67–83, insb. 71 f. Siehe
auch Kittler, Grammophon, Film, Typewriter (Anm. 2), 178 f.
31 Voriges Zitat und Abbildungsquelle Kemner u.a., Lebende Bilder (Anm. 30), 66.
54
1.2 Tödliche Blicke
unzähligen Zeichnungen, ja selbst in dreidimensionalen Skulpturen, die ihren Flug
anschaulich machen sollten.32 Das Bild aber der Bemächtigung des zeitlichen Kontinuums blieb prägend: als das eines Jägers. Hier wurde, in der Tat, geschossen.
Jeder Schuss sprengte Teile aus einem ungegliederten Zeitfluss.33 Weil Lebendiges
auf diesen Zusammenhang existenziell angewiesen ist, weil es das Seiende selbst
ausmacht, erinnert seine Zerstörung an den Tod. Ein Tremendum, an das Roland
Barthes in seinem Essay Die helle Kammer erinnert.34 Unbeweglich sind die Fotografien wie die Verstorbenen, die sie im Bilde erinnernd wach halten: aber nur als
Entlebendigte. Der Tod ist das eidos der Fotografie.35 Bei magisch denkenden Völkern wird auch darum das Fotografieren mit einem Seelenraub gleichgesetzt.36
Schnell zu sein heißt, nach Marey, dem Kontinuum möglichst viele Einzelteile
entreißen, in der Stillstellung und Fixierung des Ablaufs das Lebendige einzufrieren in eine starre Haltung. «Den Wettlauf gegen die Zeit gewinnen nur die Besten», lautet folgerichtig der Slogan einer Werbung für Nikons F4, Titelzeile: Die
Unschlagbaren (Abb. 26).37 Darüber posiert ein verwegener Kämpfer mit seiner
Waffe, breitbeinig mit halbem Ausfallschritt, sicher auf der Erde stehend; ein echter
Phallokrat, wie ihn sich die feministische Kritik nur wünschen kann. So viel Hel32 Vgl. Abbildungen und Text bei Sigfried Giedion: Die Herrschaft der Mechanisierung. Ein Beitrag
zur anonymen Geschichte [1948]. Hg. von Henning Ritter. Frankfurt/M.: Europäische Verlagsanstalt 1987, S. 37–49, 42 f. insb.
33 Die prägnantesten Aufnahmen der Chronofotografie stammen weder von Muybridge, noch von
Marey, sondern von Ottomar Anschütz. Sein «elektrischer Schnellseher» zeigte Bewegungsfolgen wie etwa den Speerwerfer von 1886. «Nicht nur das ausgewählte Modell, ein durchtrainierter
junger Soldat, fand gebührendes Lob, sondern vor allem erstaunten die Fotos in ihrer Schönheit
und Unverstelltheit, die allen posierenden Modellen hohnsprachen.» Kemner u.a., Lebende Bilder
(Anm. 30), 78. Abb. dort 77: «Speerwerfer», 79: «Schnellseher».
34 Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie [1980]. Übers. aus d. Frz. von
Dietrich Leube. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989, insb. S. 99–104.
35 Ebd., 24. Ähnlich bereits der frühe Siegfried Kracauer in seinem Essay Die Photographie [1927].
In ders.: Das Ornament der Masse. Essays. Mit einem Nachwort von Karsten Witte. Frankfurt/M.:
Suhrkamp 1977, S. 21–39, dort insb. 35, 30. Vgl. auch Bernd Busch: Belichtete Welt. Eine Wahrnehmungsgeschichte der Fotografie [1989]. Frankfurt/M.: Fischer 1995, S. 364–366; anschließend über
die Chronofotografie, 367–372.
36 Noch in der Fotografie der Moderne wirkt die Furcht vor schwarzer Magie unbewusst nach. Vgl.
Henri Cartier-Bresson: Der entscheidende Augenblick [1952]. In: Die Wahrheit der Photographie.
Klassische Bekenntnisse zu einer neuen Kunst. Hg. von Wilfried Wiegand. Frankfurt/M.: Fischer
1981, S. 267–282, hier 274. Siehe auch Barthes, Die helle Kammer (Anm. 34), 21–23 sowie Kittler,
Grammophon, Film, Typewriter (Anm. 2), 21.
Man wird dagegen halten können, die Chronofotografie habe erst den Film mit seinen scheinbar
fließenden Bewegungen ermöglicht. Das trifft durchaus zu, bildet aber nur die Gegenseite zu der
Irritation, welche die angehaltene Zeit als Erfahrung eines Tremendum auslöst. Vgl. etwa James
Monaco: Film verstehen. Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und Theorie des Films [1977/80].
Übers. aus d. am. Engl. von Hans-Michael Bock und Brigitte Westermeier. Reinbek: Rowohlt 1987,
S. 35, 66. Ebenfalls Ralf Schnell: Medienästhetik. Zu Geschichte und Theorie audiovisueller Wahrnehmungsformen. Stuttgart, Weimar: Metzler 2000, S. 41–43.
37 Auch in Zielinski, Medien/Krieg (Anm. 4), 14.
55
1. Text und Bild
dentum, so viel Manneskraft bündeln
sich im langen Teleobjektiv, dass der
Recke in beiden Händen hält. In tiefer
Untersicht, fast aus der Froschperspektive aufgenommen, hat man so einen
ganzen Heros vor sich, einen Unerschrockenen, welcher der Gefahr trotzt,
sich ihr stellt. Im Strahlenkranz leuchtet
die Ikone des investigativen Journalisten, der nicht allein Sensationen liefert,
sondern auch aufklären will durch das,
was er, im «Wettlauf gegen die Zeit»,
sichtbar werden lässt.
Roger Spottiswoode macht sich diese
Konvention, die besagte Werbung nur
ins überzeichnete Extrem getrieben hat,
in seinem Film Under Fire von 1982
zunutze.38 Thematisch geht es um den
Aufstand der Sandinisten gegen den
26
Diktator Somoza in Nicaragua. Formal
reflektiert der Film auf eine Ontologie der Fotografie. Immer wenn Russell Price,
Hauptfigur der Geschichte und Fotoreporter, Kampfszenen im Einzelbild festhält,
stoppt der Bewegungsablauf, die so geschossenen Fotos werden aus dem Fluss des
Geschehens herausgerissen, eingefroren, und sie erstarren in dokumentarischem
Schwarzweiß. So erlebt man ihn bereits eingangs, im Tschad, bis eines der Bilder
schließlich den Titel des Time-Magazine ziert. An seiner Seite findet sich schon
der amerikanische Söldner, den er in Nicaragua wiedersehen wird: Ein Universal
Soldier, Ed Harris verkörpert die Rolle, der an allen Orten der Welt auftauchen
kann und in den immer gleichen Szenarien. Stets im Einsatz, stellt diese Figur jenen
Typus aus, der gegen Bezahlung alles tut, dem Skrupel nie in den Sinn kommen.
Gegen diese Folie des Käuflichen muss sich Price beweisen, und er emanzipiert
sich, zunächst verblüffend, durch eine Fälschung: Ins Lager des Sandinistenführers
Rafael geleitet, soll er mit einem Foto belegen, dass der soeben erschossene Revolutionsheld noch lebt.
38 Filmdaten – Titel: Under Fire. USA 1982, Under Fire. Unter Feuer – 128 Min. Literaturverfilmung, Politthriller. Verleih: Orion im Filmverlag. Erstaufführung: 11.11.1983/12.10.1984 Kino
DDR/28.12.1985 DFF 1. Fd-Nummer 24287. Produktionsfirma: Lions Gate. Produktion: Jonathan
Taplin. Regie: Roger Spottiswoode. Buch: Ron Shelton. Clayton Frohman. Vorlage: nach einer
Erzählung von Clayton Frohman. Kamera: John Alcott. Musik: Jerry Goldsmith. Schnitt: John
Bloom, Mark Conte. Darsteller: Nick Nolte (Russell Price), Gene Hackman (Alex Grazier), Ed Harris
(Oates), Joanna Cassidy (Claire), Jean-Louis Trintignant (Jazy), René Enriquez (Präsident Somoza).
56
1.2 Tödliche Blicke
Spottiswoode dreht also
die Konvention um, indem
er einen Toten im Bild wieder zum Leben erweckt
(Abb. 27).39 Price, der Fotograf, produziert ein Zeichen gegen das Wahrheitsgebot, weil er inzwischen
von der Wahrhaftigkeit
der Sandinisten, von ihrem
Kampf überzeugt ist. Das 27
ist zwar rührend naiv, was
die politischen Konsequenzen anbelangt40 – ein «Plädoyer für nationale Befreiung
und Selbstbestimmung», wie der Regisseur selbst, und mancher Rezensent mit
ihm, sagt.41 Aber dieses sacrificium intellectus 42 lebt von der Bereitschaft zur dezisionistischen Entscheidung, zur Parteinahme, die hymnisch verklärt wird. Nicht
außen zu stehen, eingreifen zu können ins Geschehen, macht das Faszinosum aus
für einen, der sonst nur Oberflächen ablichtet, der nur reproduziert, was andere
ihm vorgegeben haben.43 Das Kalkül des bewussten Betrugs, die Unterordnung von
reiner Information unter ein parteiliches Interesse, geht schließlich auf.
So erweckt der Film zugleich substanzielle Zweifel am dokumentarischen Charakter, der den Fotografien, angelegt mit dem «Zeichenstift der Natur», eignet.44
Information, auch die bildliche, so lernen wir aus dieser Szene, wird konstruiert,
39 Der Revolutionär wird als lebende Leiche instrumentalisiert – um für die Informationsgesellschaft
fälschlich das eigene Überleben zu beglaubigen. Auf dem stillgestellten Bild scheint er lebendig.
40 Siehe in diesem Sinne die Kritik von Günter Giesenfeld: Under Fire. In: Filmklassiker. Beschreibungen und Kommentare. Hg. von Thomas Koebner unter Mitarbeit von Kerstin Luise Neumann. Bd. 4,
1982–1994. Stuttgart: Reclam 1995, S. 108–111, hier insb. 111.
41 Vgl. Hans Gerhold: Under Fire [Rezension]. In: film-dienst 36 (1983), Heft 24, S. 12. Fd-Nummer
24287. Ähnlich die Kurzkritik in: Lexikon des Internationalen Films. Begründet von Klaus Brüne.
Redaktion Stefan Lux u.a. Hg. vom Katholischen Institut für Medienforschung (KIM) und der
Katholischen Filmkommission für Deutschland. Reinbek: Rowohlt 1995, S. 5944 [Bd. T–U].
42 «Russell begeht die journalistische Todsünde und ergreift eindeutig Partei». Giesenfeld, Under
Fire (Anm. 40), 108.
43 Das Potenzial der Verführung belegt auch eine andere Sequenz. Giesenfeld schreibt in Filmklassiker über Under Fire (Anm. 40), 109: «Einmal, nachdem er in ein Gefecht geraten ist und ein
eben siegreicher Guerillero von einem Amerikaner aus dem Hinterhalt erschossen wurde, ergreift
Russell dessen Waffe und rennt los, ihn zu rächen, bis er sich besinnt und statt dessen die auf dem
Pflaster liegengebliebene Nikon aufhebt. Die Szene steht für die ganze Geschichte: Der neutrale
Reporter erliegt fast der Versuchung, in das Geschehen einzugreifen, statt über es zu berichten.»
44 Siehe Henry Fox Talbot: Der Zeichenstift der Natur [1844/46]. In: Die Wahrheit der Photographie.
Hg. Wiegand (Anm. 36), 45–89. Ein Foto sei ein Index, sagt Peirce, weil «die physikalische Wirkung
des Lichts beim Belichten eine existentielle eins-zu-eins-Korrespondenz zwischen den Teilen des
Fotos und den Teilen des Objekts» herstelle. Charles Sanders Peirce: Phänomen und Logik der Zeichen. Hg. und übers. aus d. am. Engl. von Helmut Pape. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983, S. 65.
57
1. Text und Bild
und ihr Wahrheitswert entspringt erst dem situativen Kontext. Diese Einsicht gilt
also lange vor dem paradigmatischen Bruch, den die digitale Fotografie mit sich
brachte, indem sie den Belegcharakter des Lichtbildes generell in Zweifel zog.45
Deshalb konnte Under Fire als ein Diskurs über «die moralische Verantwortung
des Reporters, Macht, Machtmißbrauch und Manipulation der Nachrichtenmedien» verstanden werden.46 Ganz anders in einer späteren, für unseren Zusammenhang ebenfalls interessanten Szene des Films mit Nick Nolte. Hier fallen dokumentarische Absicht und die Bewegungspartialisierung im Akt der Fotografie mit der
Tötung selbst zusammen. Bei der Suche nach einem Hotel gerät Alex Grazier, ein
Kollege unseres Fotografen, dargestellt von Gene Hackman, in eine scheinbar routinemäßige Kontrolle; eher beiläufig nimmt Price die Szene mit einigen Bildern
auf. Wieder hält der Bewegungsfluss ein, sobald man den Verschluss der Nikon
hört, wenn auch die Farben hier gleich bleiben. Der Film erlaubt sich, die eigene
Idee als Zitat einzusetzen; zweimal nur steht das Bild, um die Spannung nicht zu
sehr zu stören. Als Price aber bemerkt, dass Grazier ohne Vorwarnung, ohne Befragung, fast aus einer Laune heraus von den Milizen Somozas erschossen wird, spult
der Motor seiner Kamera ohne Unterbrechung, decken sich scheinbar filmische
Aufnahme und Fotografie zu einem gleichlaufenden Kontinuum. Paradoxerweise
erhält hier also das aufgenommene Dokument dieselbe Funktion zugewiesen wie
das gefälschte Foto zuvor, nämlich «eine Beglaubigung von Präsenz», von Wirklichkeit zu sein.47 Die dann anschließende Verfolgungsjagd zeigt, was Film mit Zeit
anfangen kann. Die Schrecksekunde des unerwarteten Todes wird aufgelöst in eine
klassische Parallelmontage und umgesetzt in rasante Dynamik.
45 Vgl. Peter Lunenfeld: Digitale Fotografie. Das dubitative Bild. In: Paradigma Fotografie. Fotokritik
am Ende des fotografischen Zeitalters. Hg. von Herta Wolf. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, S. 158–
172, hier insb. 166 f. Siehe ebenfalls Wolfgang Hagen: Die Entropie der Fotografie. Skizzen zu einer
Genealogie der digital-elektronischen Bildaufzeichnung. In: Ebd., 195–235, insb. 234 f.
46 Vgl. Gerhold, Under Fire (Anm. 41).
47Barthes, Die helle Kammer (Anm. 34), 97.
58
1.2 Tödliche Blicke
Verkaufte Wirklichkeit: Die Fälschung
Auch Die Fälschung, der Roman von Nicolas Born aus dem Jahr 197948 wie die
gleichnamige Verfilmung durch Volker Schlöndorff von 1981,49 zeigt die Problematik der Kriegsberichterstattung an einer Fotografenfigur, auch wenn sie hier
nur eine Nebenrolle spielt. Im Zentrum steht der (Text-)Journalist Georg Laschen,
der zusammen mit dem Fotografen Hoffmann in Beirut und Damur, im Auftrag
einer Hamburger Illustrierten,50 über den Bürgerkrieg im Libanon berichten soll.
Die Handlung spielt 1975/76. Eigentlicher Gegenstand ist aber weniger das direkte
Kriegsgeschehen, der Kontakt mit Waffenhändlern etwa (F 116) oder mit Vertretern der Milizen, sondern der Zweifel Laschens an seinem Beruf: wie Wirklichkeit abzubilden sein soll, welche Betroffenheit zulässig, welche notwendig sei, um
adäquat die Lage zu referieren. Hoffmann kennt solche Skrupel nicht, er ist «eine
Existenz ohne Nebengedanken» (F 57), ein «Betonmensch[..]» (F 30), das Stereotyp
des Sensationsreporters, der «seine Raubzüge mit den Kameras» plant und durch
rote Kreuze auf dem Stadtplan markiert (F 28). «Mit dem Zweifel hatte er nichts zu
schaffen. Alle Zweifel waren Laschens Zweifel.» (F 23) Selbst Hoffmanns Frohsinn,
seine Leutseligkeit haben für Borns Roman etwa Gewalttätiges (F 29).
Für Rudnik, «den Allgegenwärtigen» (F 222), der mit Waffen wie mit Bildern
gleichermaßen handelt, trifft dies umso mehr zu. Je abscheulicher das Dargestellte,
desto höher der Marktwert. Hoffmann hat bereits gekauft – für 5000 Dollar – was
der Zwischenhändler jetzt auch dem Reporter zeigt:
«Rudnik hielt die Mappe auf den Knien und blätterte die Fotos durch, so daß Laschen
sie mit zur Seite geneigtem Kopf einigermaßen sehen konnte. Es lagen Leichen
herum. Ein Maskierter hob mit zwei Fingern einen abgeschnittenen Penis in die
Höhe. Ein Mann, ein ausgefranstes, durchschlissenes Bündel, das in einer Staubwolke über den Boden zu fliegen schien, an ein Seil gebunden, das an einem Jeep
befestigt war. Eine Reihe von Männern in arabischer und europäischer Kleidung,
die mit hinter den Köpfen verschränkten Armen an einer Mauer standen. Die Läufe
automatischer Gewehre ragten ins Bild. [...] Das letzte Foto zeigte einen Maskierten
in hohen blanken Schaftstiefeln. An seinem Hals hingen an Ketten mehrere unter48 Nachfolgende Textzitate nach Nicolas Born: Die Fälschung. Roman. Reinbek: Rowohlt 1979. Sigle F,
Seitenzahl.
49 Filmdaten – Titel: Die Fälschung. D, F 1981 Le faussaire. – 110 Min. Literaturverfilmung,
Drama. Verleih: United Artists. Erstaufführung: 15.10.1981. Fd-Nummer 23179. Produktionsfirma: Bioskop/Artemis/Argos. Regie: Volker Schlöndorff. Buch: Volker Schlöndorff, Jean-Claude
Carrière, Margarethe von Trotta, Kai Hermann. Vorlage: nach einem Roman von Nicolas Born.
Kamera: Igor Luther. Musik: Maurice Jarre. Schnitt: Suzanne Baron. Darsteller: Bruno Ganz,
Hanna Schygulla, Jerzy Skolimowski, Gila von Weitershausen, Jean Carmet.
50 Vorbild für Laschen war der Stern-Reporter Kai Hermann, der zugleich beim Drehbuch mitarbeitete. Vgl. Hans Gerhold: Die Fälschung [Rezension]. In: film-dienst 34 (1981), Heft 22, S. 12 f.
Fd-Nummer 23179.
59
1. Text und Bild
schiedlich große Kruzifixe. Mit der einen Hand hielt er die Maschinenpistole, den
Stutzen gegen die Schulter gepreßt, mit der anderen Hand hatte er in den Haarschopf eines Mädchens gegriffen, das er hinter sich herschleifte in eine Toreinfahrt.
Rudnik sagte, da könne man sich lebhaft vorstellen, plastisch geradezu, was dort
gleich passieren werde. [...] Ob Laschen überhaupt wisse, fragte Rudnik, was Vergewaltigung für ein Muslim-Mädchen bedeute.» (F 166, 168)
Gegen diesen vitalen Zynismus, der «allem ins Auge sehen» will, «jeder Wahrheit,
damit man sieht, was realistisch ist» (F 167), kommt das Selbst Laschens nicht an.51
Die Skrupel reiben ihn vielmehr auf: «Vielleicht waren alle Fotos von der Wirklichkeit nicht in Ordnung, falsch, alle Sätze über die Wirklichkeit falsch. Es passierte
etwas mit der Wirklichkeit, [...] mit dem falschen Auge, dem verdrehten, das die
Bilder aufnahm [...]. Er haßte die eigenen Berichte» (F 53). Was eine Errungenschaft sein sollte im Prozess der Zivilisation, gerät Laschen zur Maske und zum
Rollenklischee: «Erfahrungen machen ohne Erfahrungen, Gefühle behaupten, Verantwortung behaupten, fade Pflicht, fade Kulturleistung, abgeschmackt. Und er war
nichts Besseres, er war Schlechteres. Er kopierte Erfahrung, er fälschte drauflos.»
(F 79) Hoffmann und Laschen unterscheiden sich nur darin, dass der eine über ein
Bewusstsein verfügt, das ihn lebensuntauglich macht, während der andere fälscht,
ohne dass die Fälschung ihm zum Problem würde; er empfindet sie, besser gesagt,
als reine Objektivität. Hoffmann lebt durch die «triumphale Neutralität des Blicks
durch den Sucher», durch seine «brutale Zivilisiertheit» erst recht auf (F 186).
Laschen fehlt, wie zunächst auch Price, das tatsächliche Ergriffensein, das Zwischendiefrontengeraten, die Gefahr und die Angst (F 129).52 Nur mühsam rafft
er sich auf zur Routine der Massakerschilderungen, deren Neuigkeitswert jeweils
dem narrativen Rahmen angepasst werden muss (F 139 f.). Der Reporter sucht sein
Inneres und findet es leer; nur gegen Rudnik weiß er noch, sich zu profilieren: «Der
hatte die Menschenverachtung voraussetzungslos, der Hüllenmensch, das Organisationstalent.» Für den zivilisationskritischen Topos passt, dass Laschen sich freut,
krank geworden zu sein «an der Unbeteiligtheit und der Verantwortungslosigkeit
des Berichterstattens» (F 167 f.).
51 Erhard Schütz streicht, mit einem Zitat von Friedrich Christian Delius, die «umfassende Kritik» des «hoch gelobte[n] Roman[s]» «am ‹europäischen Voyeurismus›» heraus. [Artikel] Nicolas Born. In: Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache, Bd. 2. Hg. von Walther
Killy. Gütersloh, München: Bertelsmann 1989, S. 188–120, hier 119. Dem Protagonisten ist das
Dilemma nur allzu bewusst: Laschen «pochte auf sein Entsetzen angesichts von Unmenschlichkeit. Es war das Entsetzen des Herrn aus Deutschland. Es entsetzten ihn vor allem solche Ereignisse, deretwegen er doch hergekommen war, um darüber zu berichten, solche Ereignisse, denen
er, letztlich, seine Bezahlung verdankte. Er konnte gut leiden an unverständlicher Grausamkeit. Er
glaubte doch wohl nicht, daß sein Bericht den Leser ermahnen würde. Glaubte er nicht vielmehr,
daß er für Geld ein Entsetzen lieferte, für das es eine Nachfrage gab, eine unersättliche.» (F 187)
52 Laschen nehme «die Schrecken des Krieges wie ein Somnambuler wahr», schreibt wiederum Gerhold, Die Fälschung (Anm. 50), 12.
60
1.2 Tödliche Blicke
Der Textjournalist zwingt sich zum Hinsehen, zur Pflicht, die sein Beruf ihm
vorschreibt (F 144, 188). «Es war eine trostlose Sachlichkeit darin, die ihn verstörte,
diese angebliche Notwendigkeit, die Augen nie zu verschließen, die Genugtuung,
sie offen halten zu können, was auch passiert, diese mörderische Objektivität».
Laschen spürt die Deformation, die an ihm arbeitet. Er trennt das fremde Sterben von der eigenen Sterblichkeit, um den Schrecken auszuhalten, der die tägliche
Arbeit stören könnte (F 176); aber er registriert die Lähmung (F 178). Und so will
der Reporter nicht das «empfindungslose[...] Monstrum» bleiben, zu dem er als
Berichterstatter geworden ist (F 186). Er sperrt sich gegen das Auseinanderfallen
von Wahrnehmung und Gefühlsreaktion.53
Wie in Under Fire
gibt es eine entscheidende
Erschießungsszene, wieder an einer Mauer, wieder
ohne Grund. Auch wenn
Laschen hier versucht, das
Geschehen aufzuhalten,
so bleibt er doch letztlich
wirkungslos.
Hoffmann
will den Kollegen beruhigen: «du kannst doch nicht
durchdrehen», sagt er. «Ich
28
habe die Bilder. Ich habe
alles drauf.» (F 180) Laschen aber hat dieser Vorfall verändert; «er glaubte, endlich
diesen Offizier, alle diese Leute hassen zu können» (F 181).
Georg Laschens Krise als Reporter ist ein Zeichen für die tiefere Lebenskrise, in
die er geraten ist;54 alles besteht aus Illusion und Selbsttäuschung: die Beziehung zu
Frau und Kindern in Deutschland wie die Liebe zur Botschaftsangehörigen Ariane.
Die Zerstörung um ihn ist seine eigene als Person. Gerade Schlöndorffs Film nutzt
diese primäre Übertragung: Wir sehen die Granaten einschlagen, und die Narben
der Stadt sind wie die auf dem Gesicht des Bruno Ganz (Abb. 28). Für beide Seiten, die private wie die des Berufsjournalisten, gilt «das notorische menschheitsgeschichtliche Weitermachen» (F 240).
Umso fragwürdiger gerät deshalb die scheinbare Befreiung Laschens aus seinem
Verfangensein in Erfahrungen aus zweiter Hand. In einem Keller, der Schutz bieten
soll vor nächtlichem Beschuss, dessen Decke aber bereits nachgibt, fällt ein fremder
53 Vgl. Reinhold Rauh: Die Fälschung. In: Kindlers Neues Literatur Lexikon, Bd. 2. Hg. von Walter
Jens. München: Kindler 1988, S. 954 f.
54 Vgl. Martin Grzimek: [Artikel] Nicolas Born. In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur – KLG. Hg. von Heinz Ludwig Arnold. München: Edition Text + Kritik, 32. Nlg.
1989, S. 10.
61
1. Text und Bild
Körper auf den Reporter. In einer panischen Reaktion sticht er dem Unbekannten
mehrmals eine Messerklinge in den Leib: «Hatte er eine Leiche getötet, einen Betenden?» (F 272) Was auch immer in dieser alptraumartigen Situation geschehen sein
mag, Laschen erlebt es als befreiende Tat (F 273). Und dann empfindet er «sich wiederholende Momente händereibender Genugtuung über seine ‹Einmischung›, ausgekochte Freude darüber, nicht wieder nur empört zu sein und befremdet über die
Ruchlosigkeit der Menschen, sondern endlich heimlich dazuzugehören, eingemischt
zu sein, ein verzweifeltes Interesse am Tod eines anderen gehabt zu haben» (F 275).
Im Film wirkt dieser Umschlag von Ekel (F 222) und Verdruss in Erleichterung
noch drastischer, plötzlicher, letztlich unglaubhaft.55 Wenn der Film zuweilen als
«zwiespältig, wenn nicht zynisch» eingeschätzt worden ist, so trifft das, meine ich,
vor allem auf diese Kausalitätsfigur zu.56
Ob er nun zum Mörder geworden war oder sein Messer in einen toten Körper getrieben hatte: Laschen, so ungewiss wie der Rezipient über den tatsächlichen
Vorfall, nimmt diesen zum Anlass, ein anderer zu werden (F 289). Er kehrt nach
Hamburg, zu seiner Familie zurück. Aber nunmehr bestärkt in dem Wunsch nach
einer grundlegenden Korrektur, reicht er seine Kündigung ein (F 304), gibt den
bisherigen Beruf auf, «den des Fälschens ebenso wie den der moralischen und kritischen Empörung» (F 308).
Gewalt der Bilder – Interruption: Vor dem Regen
Drei spätere Filme, allesamt 1994/95 entstanden, thematisieren Mediensimulationen und deren Agenten mit Bezug auf den Zerfall des einstigen Vielvölkerstaates
Jugoslawien.57 Der früheste von ihnen, Vor dem Regen, ist das zyklische Episodendrama des Mazedoniers Milcho Manchevski von 1994.58 Er behandelt die Ent55 «[E]her bemühte filmische Ausrufezeichen», urteilt Gerhold, Die Fälschung (Anm. 50), 13,
gegenüber den «perfekt rekonstruierten Kriegsszenen an Originalschauplätzen», die den Film
mehr definierten «als Laschens Zwiespalt». Vgl. auch die Kurzkritik in: Lexikon des Internationalen Films (Anm. 41), 1510 f.
56Gerhold, Die Fälschung (Anm. 50), 13, sperrt sich gegen den «oberflächlich» «protokollierende[n]
Realismus». Vgl. hierzu auch den Band von Volker Schlöndorff, Nicolas Born und Bernd Lepel:
Die Fälschung als Film und der Krieg im Libanon. Frankfurt/M.: Zweitausendeins 1981.
57 Einen Überblick über diese und weitere, insb. dokumentarische Beiträge zum (politischen) Thema
gibt Rainer Gansera: Die Untergründe des Hasses – Filme über Ex-Jugoslawien. In: epd Film 13
(1996), Heft 3, S. 14–17. Ergänzend zu den nachfolgenden behandelt Gansera: Marcel Ophüls:
Veillées D’armes – The Troubles We’ve Seen; Klaus Wildenhahn: Reise nach Mostar; ders.:
Die dritte Brücke; Didi Danquart: Wundbrand; Debbie Christie: Wir sind doch Nachbarn;
Radovan Tadić: Les vivants et les morts de Sarajevo; Šukrija Omeragić: Suzana im Keller.
Alle diese Filme sind zwischen 1993 und 1995 entstanden und uraufgeführt worden.
58 Manchevski wurde 1959 in Skopje geboren und lebt seit Anfang der 80er Jahre in den USA. Vgl.
die Internetpräsentation unter: http://www.makedonika.org/milcho/MilchoEng.htm sowie http://
balkansnet.org/milco.html.
62
1.2 Tödliche Blicke
stehung von Hass und Feindbildern zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen,
konkret zwischen Albanern und Mazedoniern.59 Der Plot der Narration spiegelt
die formale Finesse. Teil 1 trägt den Titel Worte: Der junge Mönch Kiril (Grégoire
Colin) versteckt die Albanerin Zamira (Labina Mitevska) im Kloster und entzieht
sie dadurch der Verfolgung einer Gruppe von Mazedoniern, die an ihr Rache für
eine angebliche Bluttat nehmen wollen. Letztlich aber wird das jugendliche Mädchen Opfer, wenn auch nicht der gewalttätigen Verfolger, so doch der eigenen Verwandten, darunter ihr Großvater und ihr Bruder, die ihr nächtliches Fernbleiben
als Entehrung empfinden und sie ungewollt, aus einem verzweifelten Affekt fast,
erschießen. Teil 2, Gesichter : Die Szene wechselt nach London. Hier arbeitet die
Bildredakteurin Anne (Katrin Cartlidge) am selben Material, an eben jener Erschießungsszene, die ihr in Fotografien vorliegt, die sie aber, höchst wahrscheinlich, als
ethnischen Konflikt interpretiert und verkaufen will. Sie fühlt sich zu Aleksander
Kirkov (Rade Šerbedzija), dem Kriegsfotografen, hingezogen.
Teil 3 lautet Bilder : Aleksander kehrt nach vielen Jahren in seine mazedonische
Heimat zurück, auch, um seine Jugendliebe Hanna, eine Albanerin, wiederzusehen.
Inzwischen allerdings leben beide Volksgruppen, orthodoxe Christen und muslimische Albaner, wie Feinde nebeneinander, mit einer imaginären Grenze zwischen
zwei Dorfteilen und wechselseitigen Verdächtigungen. Eine trifft die vierzehnjährige Tochter Hannas, Zamira. Sie soll einen der Vettern Aleksanders, den Schäfer,
ermordet haben: «Eine ihrer Huren war es.» Das Urteil ist eindeutig und es wird
im Dorf als Beginn des Kampfes gegen die Albaner gedeutet: «Ich wünsch dir einen
angenehmen Krieg», sagt einer zum Fotografen. «Mach schöne Bilder.» Als Zamira
sich vor den Verfolgern durch Flucht zu retten versucht, scheint sich der Kreis der
drei Episoden zu schließen; Zamira läuft auf jenes Kloster zu, in dem sie der Mönch
Kiril vor ihren Verfolgern schützen wird. Aleksander selbst kommt zuvor bei dem
Versuch, Zamira vor der aufgebrachten Dorfbevölkerung zu schützen, ums Leben;
unter den Tätern finden sich auch seine eigenen Verwandten, darunter sein Vetter
Mittre, der den eignen Bruder rächen will. So sterben beide Opfer, Alex wie Zamira,
durch die Tat von engsten Verwandten, nicht durch die dämonisierte Gegenseite.
Das Rondo wird durchbrochen von dem Foto, das Anne in London, in der Bildagentur, betrachtet. Der Kreis, den der Zuschauer zu seiner Überraschung meint
erleben zu können, erhält einen Sprung. Manchevski illustriert also nicht Nietzsches ewige Wiederkehr des Gleichen, sondern er inszeniert geschickt den Bruch,
59 Filmdaten – Titel: Vor dem Regen (Before the Rain). GB, F, MK 1994 – 113 Min. Drama. Verleih: Pandora; Arthaus (Video). Erstaufführung: 28.9.1995 / 28.5.1996 Premiere / 4.3.1996 Video.
Fd-Nummer 31531. Produktionsfirma: Ami/Noé/Vardar. Produktion: Judy Counihan, Cedomir
Kolar, Samuel Taylor, Cat Villiers. Regie: Milcho Manchevski. Buch: Milcho Manchevski. Kamera:
Manuel Teran. Musik: Anastasia. Schnitt: Nicolas Gaster. Darsteller: Katrin Cartlidge (Anne), Rade
Šerbedzija (Aleksander), Grégoire Colin (Kiril), Labina Mitevska (Zamira), Jay Villiers (Nick).
63
1. Text und Bild
der verhindert, dass Ende und Anfang ineinander münden.60 Beschwörend taucht
die Formel dreimal auf, die unterstreichen soll, was der Film der Form nach und
als Ganzes meint: «Die Zeit stirbt nie, der Kreis ist nicht vollendet.» Dieser durchbrochene Zyklus markiert zugleich und nicht zufällig die Selbstreflexion des Fotografen. Das Foto der Erschießung hätte nicht aufgenommen werden können, weil
derjenige, der es geschossen haben muss, sich engagiert hatte. Zwischen der ersten
und der letzten Szene, die sich scheinbar identisch wiederholen, liegt eben jener
Kriegsfotograf, der die Tochter seiner einstigen Liebe, Zamira, in Schutz nimmt,
und dafür mit dem Leben zahlt. Er negiert also das Bild, von dem man suggestiv
denken soll, dass er es eingangs aufgenommen und nach London gebracht haben
wird.61 In der zweiten Variante der Erschießung glaubt man, könne es keinen Fotografen mehr geben; damit aber auch nicht das Foto, das in der ersten Variante in
Annes Hände gelangte. Diese scheinbare Korrektur nimmt sowohl das eine Fotos
als auch den Kriegsfotografen und seine vorigen Handlungen zurück.
Aleksander Kirkov hat seinen anerkannten, sogar mit dem Pulitzerpreis geehrten Beruf aufgegeben,62 weil er selbst schuldig geworden ist. «Ich hab getötet», sagt
er, im Taxi unterwegs, ohne weite Erklärung zu Anne. Das ist der zweite Grund
seiner Heimkehr. Der Film entwickelt diese Motivation später und beinahe zufällig,
ohne filmische Bilder, die dem Vorgang entsprechen. In einem Gefangenenlager in
Bosnien hatte er sich beklagt, es geschehe dort nichts, worauf ein Wärter für ihn,
für seine Augen und für seinen Fotoapparat einen Gefangenen erschießt. «Meine
Kamera hat einen Menschen getötet», schreibt Alex an Anne, in seinem Heimatdorf, allein in seinem weitgehend zerstörten Haus, in sein elektronisches Notebook.
Nur zwischengeschnitten sieht man die schwarzweißen Fotografien, die Aleksander sich erinnernd vor Augen hält (Abb. 29).
60 Rainer Gansera schreibt hingegen in seiner Rezension Vor dem Regen. In: epd Film 12 (1995),
Heft 10, S. 28 f., hier 29: «Gewalt, die ‹Blutmühle der Geschichte›, ist eine Spirale, die immer wieder in sich zurückläuft, eine Schleife der Verwüstung.»
61 Für diesen fälschlichen Eindruck ist mehr die Montage der Szenen in der Bildagentur als die
Konstruktion der Narration zuständig; denn letztere betont ja ausdrücklich, Kirkov komme aus
Bosnien, nicht aus Mazedonien. Sechzehn Jahre sei Aleksander nicht mehr dort gewesen und vor
vierundzwanzig Jahren bereits fortgegangen nach London.
62 Robert Capa und Horst Faas, die Vietnam-Veteranen und Pulitzer-Preisträger, oder der gegenwärtig bekannteste Kriegsfotograf, James Nachtwey, mögen hier Pate gestanden haben für die Idealisierung des Typus. Der Film Warphotographer von Christian Frei, CH 2001, 96 Min., wurde
für den Oscar nominiert (74th Academy Awards) als beste Dokumentation. Nachtwey selbst spricht
dort mit Freunden und Kollegen über seine Arbeit und wird über zwei Jahre an unterschiedlichen
Kriegsschauplätzen vom Regisseur begleitet. Vgl. über Faas, der inzwischen in London am «War
desk» von AP die Bilder aus dem Zweiten Irak-Krieg begutachtet, das Porträt von Christopher Keil:
Lieber da draußen sein. In: Süddeutsche Zeitung vom 2.4.2003. Zu Nachtwey und dem Film Warphotographer siehe http://www.war-photographer.com, ebenso http://www.frif.com/new2002/
warp.html und Geoff Foster: War Photographer [Review]. In: http://www.showbusinessweekly.
com. Vgl. auch (über eine Ausstellung der Fotografien von Nachtwey im Münchner Literaturhaus)
Alex Rühle: Tausendundeine Nachtaufnahme. In: Süddeutsche Zeitung vom 5./6.4.2003.
64
1.2 Tödliche Blicke
Um diese Fotos der Erschießung im Gefangenenlager rückgängig zu machen, als Anerkennung
der eigenen Schuld, ging
Kirkov in die Heimat, und
er wird dort neuerlich enttäuscht durch die Feindbilder, mit denen ein Zusammenleben der verschiedenen Volksgruppen unmög29
lich scheint. Unmittelbar
anschließend sieht man eine Szene, die metaphorisch das Vorige aufgreift wie das
dann Folgende vorausnimmt. Kirkov sieht den ermordeten toten Vetter, den Schäfer, aufgebahrt, formt, eher zufällig, mit der rechten Hand einen Fotoapparat und
drückt mit einem Finger imaginär ab. Die Tonspur gibt ein Verschlussgeräusch;
die Jagd nach der angeblich schuldigen «Hure» beginnt. Nur mit dem Einsatz des
Lebens entgeht der Fotograf dem Zirkel, für dessen Weiterlauf auch seine Bilder
verantwortlich waren. Die Kritik, die intendiert ist, versteckt sich in der geschickten Komposition des Filmes, in der Leerstelle, die der Rezipient erst (re-)konstruieren muss.63
Geschichte als Mediensimulation: Underground
Anders als Manchevski handelt Emir Kusturica nicht nur vom momentanen Zerfall Jugoslawiens, sondern auch von dessen Vorgeschichte. In den Feuilletons, vor
allem in Frankreich, etwa durch Alain Finkielkraut, warf man dem Film eine nationalistische, proserbische oder jugophile Tendenz vor,64 was sicherlich unzulässig
verkürzt. Kusturicas Film von 1995, Underground, ist vielmehr eine vielschichtige politische Allegorie, die zwar den Verfall des Vielvölkerstaates unumwunden
63 Frank Klubertz hingegen kritisiert die «(Über-)Dosierung der Effekte», die er auf Manchevskis
«bisherige Regieerfahrungen bei der Herstellung von Videoclips für die Musikindustrie» zurückführt. Vor dem Regen [Rezension]. In: film-dienst 48 (1995), Heft 19, S. 22. Fd-Nummer 31531.
Ähnlich die Kurzkritik in: Lexikon des Internationalen Films. Filmjahr 1995. Hg. vom Katholischen Institut für Medieninformation (KIM) und der Katholischen Filmkommission für Deutschland. Reinbek: Rowohlt 1996, S. 355.
64 Vgl. die Darstellung bei Peter Handke: Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa
und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996, S. 22–28, 130. Auch Claus
Löser hält den «Patriotismus» des Films für einen «A-priori-Zustand, der über seine Behauptung
hinaus keinerlei Motivation bedarf». In: film-dienst 48 (1995), Heft 24, S. 26 f., hier 26. Fd-Nummer 31644.
65
1. Text und Bild
bedauert, in seinen ästhetischen Mitteln allerdings, in seiner Ironie und verspielten Ambitioniertheit jede einseitige Parteinahme untergräbt.65 Der Film66 setzt
1941 ein, im Krieg gegen die Deutschen. Marko (Miki Manojlović), ein gerissener
Schwarzmarktkönig und Waffenschieber, findet seinen Weg nach oben, bis an die
Seite Titos. Zu diesem Zweck, und um sich die schöne Natalija (Mirjana Jaković)
nicht mit dem Rivalen teilen zu müssen, versteckt er den Kontrahenten Blacky und
eine Reihe anderer Gleichgesinnter in einem großen unterirdischen Lager, das für
Nachschub in der Waffenproduktion sorgen soll.
Anlass für dieses Leben im Untergrund ist eine Affekthandlung Blackys, der den
dritten Rivalen um Natalija, den deutschen Offizier Franz (Ernst Stötzner), von der
offenen Bühne herab im Zuschauerraum erschießt. Diese (wie sich später herausstellt misslungene) Ermordung fügt sich ein als Spiel im Spiel; sie passt zunächst in
die Handlung und fällt so erst auf, als die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum überschritten wird und der Täter fliehen muss. Das Theater ist das erste
Medium, im Gang der Handlung wie in der Mediengeschichte, das mit fiktionalen
Mitteln Wirklichkeiten glaubhaft konstruiert, repräsentiert und damit täuscht.
Als zweites Medium setzt Kusturica die Tonaufzeichnung und den Hörfunk
ein. Die Partisanen müssen nun im Glauben belassen werden, permanent von den
Deutschen bedroht zu sein. Diese Situation versteht Marko auch über das Ende des
Krieges hinaus aufrecht zu erhalten, indem er die Radiomeldungen über angebliche deutsche Angriffe simuliert. Er beschallt den Keller mit Fliegerwarnungen,
mit Reden Hitlers und Sirenengeheul oder dem Sehnsuchtslied deutscher Wehrmachtssoldaten, Lili Marleen: «Vor der Kaserne, vor dem großen Tor...» Mehr braucht
es nicht, um die Verschlossenen weiter unter Verschluss zu halten (Abb. 30).67
65 Das sieht Gansera anders, der den überzogenen «Karnevalismus» des Films als «Souvlaki-Vitalismus» und «bloßen Kraftakt» denunziert, der immer wieder abrutsche «ins Banale, Anbiedernde,
Pseudopoetische». Rainer Gansera: Underground [Rezension]. In: epd Film 12 (1995), Heft 12,
S. 42 f., hier 43. Nicht so drastisch urteilt Claus Löser in seiner Besprechung von Underground
(Anm. 64), hier 27: «Dem Film mangelt es letztlich sowohl an epischer Größe als auch an dramatischer Dichte.» In diesem Sinne auch die Kurzkritik in: Lexikon des Internationalen Films 1995
(Anm. 63), 340.
66 Filmdaten – Titel: Underground (Underground). F, D, H 1995 – 170 (TV: 300) Min. – Scope.
Drama. Verleih: Pandora; Arthaus (Video). Erstaufführung: 23.11.1995 /2.9.1996 Video /15.5.1998
arte. Fd-Nummer 31644. Produktionsfirma: Ciby 2000 /Pandora /Novo. Produktion: Pierre Spengler, Karl Baumgartner. Regie: Emir Kusturica. Buch: Dusan Kovacević, Emir Kusturica. Kamera:
Vilko Filac. Musik: Goran Bregović. Schnitt: Branca Ceperac. Darsteller: Miki Manojlović
(Marko), Lazar Ristovski (Blacky), Mirjana Joković (Natalija), Slavko Stimac (Ivan), Ernst Stötzner
(Franz), Srdan Todorović, Hark Bohm, Emir Kusturica, Pierre Spengler.
67 Auf den ebenso trivialen wie ‹langlebigen Mythos› Lili Marleen geht der Artikel von Andreas
Wilink: Wunschkonzert, ein, mit Bezug auf eine Ausstellung im Bonner Haus der Geschichte. In:
Süddeutsche Zeitung vom 28.12.2001. Für Jugoslawien hatte das Lied (klassische Interpretationen
von Lale Andersen und Marlene Dietrich, letztere für die Gegenseite) allerdings eine besondere
Bedeutung: «Nach der Kapitulation [...] im April 1941 übernahmen die Deutschen den Sender
66
1.2 Tödliche Blicke
Marko steigt auf zum
großen Agitator, zum
Funktionär und Helden
des Volkes, während die
Partisanen weiter knechten
und selbst einen Panzer
bauen mit ihren bescheidenen Mitteln. Ausgerechnet ein Schuss aus diesem
Panzer durchschlägt die
simulierte
Wirklichkeit 30
der Kellergewölbe. Als die
Untergrundgemeinschaft den Schritt in die Gegenwart wagt, vermischen sich deren
Wahrnehmungen mit der Verfilmung des Weltkrieges zu einer surrealen Szenerie.
Blacky, eigentlich Petar Popara (Lazar Ristoviski), gerät in eine filmische Huldigung
über ihn selbst, den angeblich toten Patrioten. Das dritte Simulationsmedium des
Films Underground ist der Film. Fiktion und Wirklichkeit, lange Zeit bewusst
einander überlagernd und im Tonmedium inszeniert, lassen sich in der Begegnung
mit dieser neuen medialen Wirklichkeit nicht mehr trennen. Jetzt ist es der Drehort, der Blacky vorgaukelt, immer in der einen und einzigen Wirklichkeit gelebt zu
haben, in einem nichtendenwollenden Zweiten Weltkrieg. Der Regisseur des Films
im Film ist in Blackys Wahrnehmung, bezeichnenderweise, ein Kollaborateur der
Nazis, aggressiver fast als jeder General.
Wenn die Simulation das einzig Erfahrbare ist, dann eben ist dieses Erfahrene
real. In dieser Realität wurde, wenn auch im Keller, gearbeitet und gelebt, geboren
und gestorben, gefeiert und getrauert. Seinem dort geborenen Sohn wird Blacky erst
erklären müssen, was den Mond, den er eben sieht, von der Sonne unterscheidet, die
er nie zu Gesicht bekommen hat. Das Sehen allein schafft noch keine Gewissheit.
Poetischer könnte man keine Medienkritik schreiben. «Denn was weiß man», sagt
Handke, «wo eine Beteiligung beinah immer nur eine (Fern-)Sehbeteiligung ist?
Was weiß man, wo man vor lauter Vernetzung und Online nur Wissensbesitz hat,
ohne jedes tatsächliche Wissen, welches allein durch Lernen, Schauen und Lernen,
entstehen kann?»68 Blacky weiß nichts und metzelt alles nieder, reißt Schauspieler
Belgrad für die Truppenbetreuung. [...] Lili Marleen [...] war so beliebt, dass von August 1941 an
die Hörerpost-Sendung jeden Abend kurz vor 22 Uhr mit dem wehmütigen Lied beendet wurde.»
68Handke, Eine winterliche Reise (Anm. 64), 30. Handke ließ einen zweiten Reisebericht folgen: Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996. Das Theaterstück
Handkes: Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg, Frankfurt/M.: Suhrkamp
1999, verarbeitet die Unmöglichkeit der Kriegsrepräsentation erneut. Die beiden Filmregisseure
geben am Ende, S. 122 f., ihre Vorhaben auf: «Wir werden den Film zum Krieg nicht machen»,
sagt Machado. O’Hara erwidert: «Ich weiß so wenig von hier wie am Anfang. Aber nicht deswegen
sage ich den Film ab: so ein Nicht-Wissen ist filmreif. Ich sage den Film ab, weil mir scheint, daß es
67
1. Text und Bild
und Helfer des Films in ein Blutbad. Was er sieht, ist Täuschung, und gerade die
erlebt er real. Er tötet die Deutschen, auch wenn es nur deutsche Schauspieler sind.
Die von Handke beklagte Partialisierung wird so im Medium des Films selbst
thematisch. Und sie spinnt sich weiter fort. Nach einem Zeitsprung ins Jahr 1992
sieht man beide Helden, merklich gealtert nun und wieder im Krieg; die Ellipse
zeigt eigentlich dessen Kontinuität an über die Jahrzehnte. Der Bürgerkrieg setzt
fort, was der Weltkrieg an Verwüstungen im Land hinterlassen hat. Und dann wird,
wie so oft in diesem komischen, sarkastischen und zugleich traurigen Film,69 wieder gefeiert, bis im Schlussbild ein Stück Land abreißt und wegtreibt als Insel, von
Wasser umgeben: Auf dieser Insel sieht man die Festgesellschaft, als Tote alle wieder vereint, alle jung wie früher, alle lustig aber unversöhnt wie zuvor. So ist der
Trennungsschmerz über ein zerrissenes Land, den schon Manchevski illustrierte
mit seinem Film, zum Tableau geronnen.
Weiße Leinwand: Der Blick des Odysseus
Film lebt von der simulierten Wirklichkeit. Dass er sie vorgaukeln kann, macht seit
seinen Anfängen den spezifischen Reiz aus.70 Andererseits versteht es gerade der
Film, das Materielle der Welt, die äußerliche Wirklichkeit, einzufangen wie kein
anderes Medium. Er bildet ab, ohne in der Abbildung bereits bedeuten zu müssen. Er kann einen Fluss des Lebens malen, ohne ein Ziel zu kennen. Kracauer hat
dieser Realitätsverhaftung eine quasi religiöse Errettungsfunktion zugeschrieben.71
Der Film wäre dann eine zeitgemäße Schule des Sehens, dessen Wirkung noch auf
die rein elektronischen Medien und die digitalisierte Welt ausstrahlen könnte. Diebei der Geschichte hier für einen Film noch zu früh ist [...], für diese Geschichte muß ein anderer
Atem her als der eines Films. [...] die Geschichte hier ist eine Tragödie. Und Film und Tragödie
gehen bei mir nicht zusammen.»
69 Vgl. Handke, Eine winterliche Reise (Anm. 64), 22 f., insb. 24: «Underground kommt, ist gemacht,
besteht und wirkt, ich sah es, allein aus Kummer und Schmerz und einer kräftigen Liebe; und
selbst seine Grobheiten und Lautstärken sind Teil davon». Siehe auch die geradezu euphorische
Kritik im: Fischer Film Almanach 1996. Filme, Festivals, Tendenzen. Hg. von Horst Schäfer und
Walter Schobert. Frankfurt/M.: Fischer 1996, S. 385 f., hier 386: «Ein Antikriegsfilm wie kein
anderer [...]. Überwältigendes Kino».
70 Das gilt bereits für die ersten Stopptricks. Georges Méliès hat sie schon 1896 effektvoll eingesetzt.
Heute werden künstliche Welten bekanntlich nicht mehr allein durch optische oder mechanische
Verfahren, sondern primär elektronisch erzeugt. Vgl. die Beiträge von Rolf Giesen: Geheimnisvolle Inseln und phantastische Irrfahrten, sowie von Gundolf S. Freyermuth: Synthetische Realitäten. Beide in: Filmmuseum Berlin. Hg. von Wolfgang Jacobsen, Hans Helmut Prinzler und Werner
Sudendorf. Berlin: Nicolai 2000, S. 295–314, bzw. 315–328. Siehe auch Kittler, Grammophon, Film,
Typewriter (Anm. 2), 10, 177 f.
71Siegfried Kracauer: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit [1960]. Übers. aus d.
am. Engl. von Friedrich Walter und Ruth Zellschan. Hg. von Karsten Witte. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985, passim.
68
1.2 Tödliche Blicke
ses alte Konzept, meine ich, deckt sich mit den Arbeiten von Theo Angelopoulos, so
sehr auch seine Bilder symbolisch überhöht sein mögen.72
Angelopoulos fängt die äußere Wirklichkeit ein und wendet sie zugleich selbstreferenziell auf das Medium Film zurück. Er macht den Blick als solchen spürbar.
Das angehaltene Bild im Film, etwa bei Spottiswoode, ist bereits für diese Rückführung auf den Akt der Wahrnehmung gut. Angelopoulos aber nutzt das leere
Zeichen, indem er es als das Medium selbst ausstellt und negativ konnotiert. Es ist
die weiße Leinwand, die sich über das definiert, was abwesend ist. Jene Opfer, die
man nicht mehr sehen kann, sind anwesend als ausradierte. Die Gewalt des Lichtes
lässt sie verschwinden; anders gesagt: die darstellende Kraft des Mediums, das vor
allem mit Licht die Simulation des Wirklichen erreicht.
In seinem Film Der Blick des Odysseus von 199573 arbeitet Angelopoulos dieses Zeichen einer Abwesenheit, dieses ausradierte, negativ konnotierte Weiß, in beiden Strängen der Handlung heraus. Wir sehen Harvey Keitel als Alter Ego des Regisseurs, ein später Nachfahre des rastlosen Odysseus, der nach Jahren im Ausland
(wie bei Manchevski) in seine Heimat zurückkehrt. Zwischengeschnitten werden
Dorffrauen gezeigt, die spinnen und weben und Zeit haben; ein Dokumentarfilm
von 1905, der einerseits den Mythos evoziert (man denkt an die zuhause gebliebene
Penelope, die unermüdlich webt und auftrennt, um sich die Freier vom Halse zu halten und auf den Gatten zu warten).74 Andererseits verweisen diese frühen Bilder auf
den Grund der Reise: die Suche nach den verlorenen Filmrollen der Brüder Manakis, den Pionieren des Films in Griechenland. Von Filmarchiv zu Filmarchiv führt
die Recherche, immer tiefer hinein in eine durch Krieg verwüstete Welt: Nordgriechenland, Albanien, Rumänien, Serbien, Bosnien. In Sarajevo schließlich endet die
Narration; das belichtete, noch nicht entwickelte Filmmaterial ist endlich gefunden.
A., der Filmemacher, betrachtet erst ganz am Ende des Films die inzwischen entwickelten Streifen und sieht nichts als blendendes, mit Kratzern und Flimmern durchsetztes Weiß. Was der Film bewahren sollte gegen die Zeit, wird vernichtet durch
eine Überdosierung des Mittels, das erst die Aufzeichnung möglich macht: Licht.
72 Vgl. Thomas Koebner: Der Blick des Odysseus [Rezension]. In: film-dienst 48 (1995), Heft 24,
S. 24 f., hier 25.
73 Filmdaten – Titel: Der Blick des Odysseus (To vlemma tou Odyssea / Le regard d’Ulysse).
GR, F, I 1995 – 176 Min. Drama. Verleih: Concorde-Castle Rock / Turner. Erstaufführung:
7.9.1995/20.3.1997 Premiere. Fd-Nummer 31643. Produktionsfirma: Theo Angelopoulos Film
Prod. / Paradis / Basic Cinematografica. Produktion: Costas Lambropoulos, Giorgio Silvagni, Eric
Heumann. Regie: Theo Angelopoulos. Buch: Theo Angelopoulos, Tonino Guerra, Petros Markaris, Giorgio Silvagni. Kamera: Giorgos Arvanitis. Andreas Sinanos. Musik: Eleni Karaindrou.
Schnitt: Giannis Tsitsopoulos. Darsteller: Harvey Keitel (A., der Filmemacher), Maia Morgenstern
(die Frau, die ihm begegnet), Erland Josephson (S., Filmmuseums-Kurator), Thanassis Vengos
(Taxifahrer), Giorgos Michalakopoulos (Freund und Journalist), Dora Volanaki.
74Homer: Odyssee. XIX. Gesang. Verse 137–157. Vgl. XIV. Verse 89–98. Ausgabe z.B. nach ders.:
Werke in zwei Bänden. 1. Bd. Ilias; 2. Bd. Odyssee. Übers aus dem Gr. von Dietrich Ebener. 4. Aufl.
Berlin, Weimar: Aufbau 1992.
69
1. Text und Bild
Zuviel Licht gibt es auch in einer weiteren Szene, die für den Film zentral ist,
auf die hin er erzählt wird: beide spiegeln einander. Folgt man dem Regisseur A.
sonst durch nächtlich dunkle Straßenzüge, die vom Regen kalt abweisend glänzen,
so schmerzt die Helligkeit, die von dieser Einstellung ausgeht. Zu Recht hat man
hierin eine «der berührendsten und zugleich schockierendsten Sequenzen» des
Films ausgemacht.75 Die Szene ist wiederum Sarajevo; es herrscht dichter Nebel.
Durch die diffuse und in der Brechung überhelle Verteilung des Lichts lösen sich
Konturen und Gestalten auf, Einzelheiten sind kaum auszumachen. In dieser Helle
fühlen sich die allzeit in Angst lebenden Bewohner der Stadt sicher, gerade vor
den überall präsenten Heckenschützen. So füllen sich die Straßen, ein Orchester
spielt, es wird getanzt. In die zerstörte Stadt kehrt Leben zurück, weil sie sich der
Sichtbarkeit entzieht. Nicht allein durch den Nebel wirkt alles surreal überzeichnet,
auch die unverhoffte Ausgelassenheit scheint gespenstisch, zwischen Traum und
Alptraum angesiedelt.
Dann geht man zum Fluss, die Kinder vorauseilend, A. ihnen, als letzter, hinterher. Alle verschwinden im Weiß des Nebels, entziehen sich dem Blick des Regisseurs, der Ihnen scheinbar
unbeteiligt folgt: ein Wanderer im Nebelmeer, dem
man, wie bei Caspar David
Friedrich, über die Schultern schaut.76 Plötzlich sind
Geräusche zu hören, vermutlich ein Jeep, Stimmen
werden laut, Schüsse fallen. Der Filmemacher, der
gewohnt ist, Gegebenes in
31
Bildern zu repräsentieren,
wird zurückgeworfen auf die Präsenz des Vorgestellten – so wie der Zuschauer, mit
dessen Blick er in dieser Szene verschmilzt. Der Schrecken spielt sich im Kopf ab,
nicht im Gezeigten.77 A. ‹liest› die Leere und erlebt darin das Grauen. Die Tonspur
ersetzt ihm gleichsam die Buchstaben, auf die sein Namenskürzel selbst verweist.
A. steht, selbstredend, für Angelopoulos, aber auch für den Anfang, den Anbeginn
der Schrift. Als er, viel zu spät, in die Szene stürzt, findet er nur noch Leichen vor
am Ufer (Abb. 31), während sich die Tat entzogen hatte: er selbst geschützt von der
weißen Wand, die er mit seinen Augen nicht durchdringen konnte.
75 So Koebner, Der Blick des Odysseus (Anm. 72), 25.
76 Vgl. Rainer Gansera: Der Blick des Odysseus [Rezension]. In: epd Film 12 (1995), Heft 12, S. 47.
77 Die Präsenz des Vorgestellten realisiert sich, nach der Rezeptionstheorie, im Vorgang des Lesens
– als Projektion des Lesers. Vgl. Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung
[1976]. 2. Aufl. München: Fink 1984, S. 219–256, insb. 280–315, über den Begriff der «Leerstelle».
70
1.2 Tödliche Blicke
Zurück in der Stadt – im Fortgang der filmischen Sukzession –, im Keller des
Filmarchivs betrachtet der Regisseur zum ersten Mal die oben erwähnten, lang
gesuchten historischen Aufnahmen jener Filmpioniere, denen die gesamte Reise,
vordergründig, gewidmet war. A. erhofft sich einen first gaze, die Unschuld im
Blick auf die Dinge, weil er dem Ursprung selbst entstammen soll: Wirklichkeit, die
noch für sich selbst steht und Film, der die Freude an physischer Präsenz ungebrochen spiegeln könnte. Dem Regisseur aber bieten sich nur jene weißen, flackernden Schemen dar: Kratzspuren, ein optisches Rauschen gewissermaßen über einer
durchgängigen hellen Leere. Das Material, verdorben über die Zeit, zerstört durch
zuviel Licht, gibt den ersten, aber nur scheinbar unverbrauchten Blick der Brüder
Manakis wieder. A. sieht, was er zuvor gesehen und zugleich nicht gesehen hat:
Die Gewalt der Zerstörung, das menschliche Leid, die Fassungslosigkeit – und ihr
Verschwinden im Medium selbst. Er sieht die Verweigerung der Repräsentation in
der Darstellung. Seine Reise ist zu Ende.78
78 Der Fischer Film Almanach 1996 (Anm. 69), 45 f., hier 46, kommentiert in seiner Rezension:
«Schon jetzt eines der großen Meisterwerke der Filmgeschichte. Der Blick des Odysseus, der nicht
unschuldig sein kann, sieht deshalb nichts, weil [...] [j]ede Besetzung des Filmmaterials mit realen
Zeichen [...] eine [...] oktroyierte Bedeutungszuweisung» wäre.
71