Der Werra-Meißner-Kreis 3.0 - Verein für Regionalentwicklung

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Der Werra-Meißner-Kreis 3.0 - Verein für Regionalentwicklung
KurzgeschichtenWettbewerb
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(im Ja
Die besten Geschichten
aus der Region
Inhalt
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Jubiläum in Gefahr
- Freundschaften, die (nicht)
die Welt verändern
Sarah Grosser
42
9
In Herzen Deutschlands
- der Werra-Meißner-Kreis
Michael vor dem Berge
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Ich träume …
Peter Klebe
49
Endlich Zuhause
Marie Wilhelm
51
Wir schreiben das Jahr
2025 in Laudenbach im
Werra-Meißner-Kreis
Burkhard Burschel
53
Preisträger
Mathilde
Sabine Dürschel-König
Preisträger
Rote Boote
Martin Große
Preisträger
15. März 2025 oder
Von geschenkten und
verpassten Chancen
Andrea Römer
16
Preisträger
Das Warten
Finn Seifert
22
Preisträger
2025
Carsten Werner
24
Seine Schuld
Anna-Lena Möller
58
Die neue Zeit - WMK 2025
Erich Böck
31
Hamburg
Leonard Weber
60
Mein Freund Fred 2025
Heidi Brundig
35
In Grebendorf 2025
Sabine Groß
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Zwischen gestern und morgen
Larissa Knapmeyer
37
Zeiten ändern sich
Philipp Hohmann
65
Rückblick
Salome Belling
39
Wo der Himmel die Erde küsst
Hanna Wallbraun
68
KurzgeschichtenWettbewerb
Der Werra-Meißner-Kreis 3.0
- Wie sieht das Leben im Jahre 2025
in der Region aus?
Liebe Leserin, lieber Leser,
der Verein für Regionalentwicklung Werra-Meißner e.V. hat 2014
den Kurzgeschichten-Wettbewerb mit Ideen für die Zukunft unserer
Region ausgeschrieben.
Wir wollten wissen:
• Wie sieht das Leben im Jahre 2025 in unserer Region aus?
Die Jury hat sich nach intensiven Diskussionen
für folgende fünf Preisträger entschieden:
Mathilde!
von Sabine Dürschel-König
Rote Boote
von Martin Große
15. März 2025 oder Von geschenkten
und verpassten Chancen
von Andrea Römer
Das Warten
von Finn Seifert
2025
von Carsten Werner
• Was ist das Besondere in unserer Region?
• Worauf sind die Bewohner besonders stolz?
• Welche Themen spielen für die Zukunft eine bedeutende Rolle
(Schule, Freizeit, Vereine, Ausbildung, Arbeit, Mobilität,
Tourismus, Nahversorgung, ..)?
• Wie will ich im Jahre 2025 hier leben?
Insgesamt wurden über 40 Beiträge für den Wettbewerb eingereicht.
Alle Beiträge wurden der Jury mit Sandra Ehrenberg, Autorin aus
Witzenhausen, Uwe Heinemann, Buchhändler aus Eschwege, Helga
Kawe, Vorsitzende des Vereins für Regionalentwicklung Werra-Meißner e.V. aus Hebenshausen, Ralph Nowag, Autor aus Eschwege und
Dieter Salzmann, Journalist aus Eschwege, vorgelegt.
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Wir gratulieren den Preisträgern ganz herzlich
zu dieser Auszeichnung!
Darüber hinaus wurden 14 Beiträge für die Ausgabe des READERs
sowie der Kurzgeschichten-Broschüre ausgewählt. Alle weiteren Kurzgeschichten finden sie im Internet unter: www.vfr-werra-meissner.de. Die
eingereichten Geschichten mit ihren Ideen zur Zukunft unserer Region
werden ebenfalls bei der Bearbeitung des regionalen Entwicklungskonzeptes Werra-Meißner 2014-2020 berücksichtigt. Dazu werden Leitbilder, Handlungsfelder, Ziele und Projekte für die Zukunft erarbeitet.
Wir wünschen Ihnen viel Spaß beim Lesen
Ihre Helga Kawe
Vorsitzende des Vereins für Regionalentwicklung Werra-Meißner e.V.
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Mathilde
von Sabine Dürschel-König
„Mathilde!“
Lieschen ist ungehalten.
„Mathilde! Wo steckst du denn?“
Ärgerlich stellt Lieschen ihre Teetasse klirrend zurück auf den kleinen
Beistelltisch, der neben ihrem Ohrensessel steht. Das Sonnenlicht spiegelt sich in der Glasplatte des Tisches und in den zahlreichen Silberrahmen, die auf ihm stehen.
Erinnerungen steigen in Lieschen auf, Erinnerungen an die Zeit, als lachende Kinderaugen in die Kamera blickten. Durch einen Klick festgehalten für die Ewigkeit. Ewigkeit?
Lieschen kehrt aus ihren Gedanken zurück und ruft wieder: „Mathilde!!!“
Endlich surrt es aus dem Flur und leise rollend erscheint Mathilde im
Wohnzimmer.
„Mathilde! Ich habe keine Sahne mehr zum Tee. Was ist denn los? Du
bist heute auch so langsam!?“
»Datenstau, Frau Liesbeth. Nur Datenstau.»
„Nicht schon wieder, Mathilde. So allmählich macht das keinen Spaß
mehr!“
»Soll ich...?»
„Nein, lass nur, ich mach das schon nachher... wir hatten ja schon lange
keinen Neustart...“
»Und die Sahne?»
„Geh und hol mir wenigstens Milch. Um die Sahne kannst du dich dann
später kümmern.“ Mathilde wendet und rollt surrend durch die Tür.
Lieschen sieht ihr nach. Komisch, da sitz ich nun hier und rede mit meiner
elektronischen Haushaltshilfe. Früher, ja früher konnte ich selber noch...
Doch seit dem Unfall ist alles anders. Ich blieb allein zurück. Ich sitze
fest, den ganzen Tag und mein Leben besteht aus Erinnerungen... und
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Gesprächen mit Mathilde.
Ich hab noch gut vor Augen, als die Kinder mit ihr ankamen. »Hier,
Mama, damit du nicht so allein bist.» Als wenn ein Roboter das Alleinsein erträglicher machen würde.
Doch irgendwie erleichtert Mathilde, so hab ich dieses technische Etwas
genannt, mein Leben zugegebenermaßen wirklich.
Früher, ja früher bin ich selbst einkaufen gegangen, nein mit meinem
neuen Elektrorad gefahren! Den Berg runter ins Dorf und hab mir meine
Sahne zum Tee gekauft. Und beim Bäcker ein Stück Kuchen dazu. Doch
was ist jetzt? Gibt es den Bäcker überhaupt noch?
Na, jedenfalls sage ich Mathilde jetzt, was ich brauche. Sie wandelt
meine Worte in elektrische Impulse, leitet diese selbstständig samt ihrer
Erkennungsdaten an irgendeinen Großrechner, der in irgendeiner
Großstadt steht. Der schickt diese Daten zurück an den Laden im Ort,
der vor 10 Jahren noch einfach Supermarkt hieß und dort packt ein
gesteuerter Greifarm meine Sahne; die rollt über Förderbänder zu dem
bereitstehenden Mini... ja.. Auto? Motorrad? E-Rolly. Der öffnet selbst
seine Ladeklappe, die Sahne wird eingeladen und E-Rolly setzt sich in
Bewegung.
Durch Mathildes Eckdaten weiß das Ding, wo es hinrollen soll.
Nach Grebendorf. Die Straße nach Neuerode hoch. Komisch, die Dörfer haben noch ihren Namen, nur zusätzlich ihre Erkennungszahlenkombination.
Also E-Rolly macht sich auf den Weg, langsam aber stetig. Wenn er
knapp vor meiner Haustür steht, sendet er ein Signal an Mathilde und
die rollt zum Treppenlift, fährt aus dem ersten Stock mit ihm runter zur
Haustür, die sich automatisch öffnet. E-Rolly dreht sein Hinterteil... äh...
seine Ladeluke zur Mathilde, die greift sich das Sahne- töpfchen, wieder
den Treppenlift hoch und ich krieg endlich meine Sahne.
Toll, was?
Und das ist nur so umfangreich, weil ich mich weigere, Mathilde ein irgendwie nach Sahne schmeckendes Mix- Etwas zusammenrühren zu
lassen. Ich möchte schon etwas noch halbwegs Natürliches zu mir nehmen. Es gibt heutzutage Künstliches genug.
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Nur wenn Mathilde einen Datenstau hat oder wenn die ganze dörfliche
Atmosphäre voll mit Einkaufsdaten, Orientierungsdaten, Gesprächsdaten... was auch immer Daten voll ist... tja dann muss ich meinen Tee ohne
Sahne trinken.
Rote Boote
von Martin Große
Vielleicht sollte ich Mathilde doch mit meinem Superkühlschrank vernetzen, dann muss sie nicht jeden Tag mühsam abscannen, was noch vorrätig ist und kriegt gleich die entsprechende Order, etwas Fehlendes zu
bestellen. Aber vorher genehmige ich ihr noch einen Neustart!
Der Taxifahrer bekam auf seine Frage nur ein knappes „Hamburg“ erwidert. Die Antwort auf die
zweite Frage, die nach dem Grund des Besuches seines Fahrgastes
forschte, fiel ebenso knapp und abweisend aus und war mit „geschäftlich“ nur nebulös beantwortet. Der recht kurze Fahrweg! zwischen
dem Reichensächser Bahnhof und Eschwege war ohnehin zu kurz um
tiefgreifende Gespräche zu führen. Dann eben nicht, dachte der Taxifahrer.
Der Fahrgast hieß Henning Kappes.
„Mathilde? Mathilde!“
Es gibt viele Möglichkeiten sich Eschwege zu nähern. Die Erstaunlichste
ist zweifellos das Befahren der Straße, die der Taxifahrer mit seinem
wortkargen, in sich gekehrten Fahrgast nahm, die von Reichensachsen
aus über eine gut ausgebaute Schnellstraße führt, und in breiten, gefälligen Schwüngen die Hügelkette südlich von Eschwege erklimmt. Oben
angekommen eröffnet sich dem Betrachter ein geradezu fantastischer
Blick auf die nordhessische Stadt und die umliegenden, dicht bewaldeten Höhenzüge und Berge.
Diese Straße befuhr Henning Kappes in jungen Jahren unzählige Mal.
Großmutter lebte in einem Reichensächser Altenheim und der kleine
Henning mit seinen Eltern in einem stattlichen Fachwerkhaus mitten in
Eschwege, bis zu dem Zeitpunkt, als ihm der Vater erklärte, dass die Familie umzöge. Nach Hamburg. Denn Vater war ein junger, aufstrebender Ingenieur und in Hamburg wurden Flugzeuge gebaut.
Umgezogen wurde dann schnell und chaotisch. Die ersten Jahre in
Hamburg waren aufreibend und unruhig. Es folgte das Abitur im Heisenberg Gymnasium und ein leidenschaftliches Studium am Hamburger
Konservatorium.
Und jetzt saß Henning Kappes in einem Taxi, unterwegs von Reichen8
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sachsen nach Eschwege und kramte in den verborgenen Nischen seiner
Erinnerungen und fand vieles wieder, wenn auch die Bilder der Erinnerung sich als größer darstellten, als aus der Sicht eines erwachsenen
Mannes.
„Können Sie bitte da oben rechts rausfahren und kurz anhalten?“ Henning Kappes wies auf die vor ihnen liegende Anhöhe, von der man diesen ganz besonderen Blick über Eschwege hatte. Der Taxifahrer tat es,
und als das Fahrzeug zum Stehen gebracht wurde stiegen beide aus.
Es war ein warmer, wolkenloser Spätsommertag zur Mittagszeit. Das
Rotbraun der Dächer durchsetzt mit modernen in den Himmel ragenden
Gebäuden bildeten eine optische Symbiose, die sich weit vom Westen
bis tief in den Osten an die Hänge des Leuchtbergs erstreckte.
Henning zeigte Richtung Osten, wo der Leuchtberg den Werratalsee zu
berühren schien. „Die Baukräne da im See, … stehen die im Wasser?“
„Nein, nein“, antwortete der Taxifahrer, „die stehen auf einer Insel. Sie
meinen die Seebühnen- Baustelle?“
„Seebühne?“ Henning legte die Stirn in Falten.
Der Fahrer erzählte Henning von einer im Bau befindlichen Freilichtbühne im Werratalsee, genau in der Bucht der östlichen Insel und einer
2000 Besucher fassenden, modernen halbrunden Arena, die die Bucht
ganz ausfüllen würde und einem außergewöhnlichen Fährdienst zum
Erreichen der Insel, der allein schon den Besuch der Bühne zum Erlebnis
machte und vom Mittelpunkt Europas, in dem sich Eschwege nun einfach
mal befände.
„Einen Spitznamen haben die Eschweger dem Bau auch schon verpasst.
Hessisches Bregenz!“ Der Taxifahrer fühlte sich sichtlich wohl.
Die Zeit drängte.
Sie stiegen ein und fuhren weiter.
Die doppelspurige Straße setzte sich als Allee fort und führte zielstrebig,
bergab nach Eschwege hinein, vorbei an großen Parkflächen, die mit
einer Vielzahl unterschiedlichster Busse bevölkert waren. Um die Busse
herum schwirrten, quirlige Menschen wie bepackte Bienen um einen
Bienenstock.
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„Unsere asiatischen Gäste fluten wieder Eschwege.“ Der Taxifahrer war
amüsiert.
Eschweges Innenstadt war für Fahrzeug mit Verbrennungsmotor schon
seit Jahren gesperrt. Die Touristen die noch mit alten Bussen Eschwege
besuchten, mussten also umsteigen. Dazu stand eine Armada von blauweißen Mini-E-Bussen bereit. Das Ziel der Besucher war zumeist Brückenhausen.
Lohgerber City wurde es treffend genannt und hatte schon seit Jahren
seinen Ruf, der weit über die Grenzen Deutschlands reichte ausbauen
können. In Lohgerber-City konnte man das Flair einer mittelalterlichen,
deutschen Stadt hautnah erleben. Ein authentischer Genuss, aufgepeppt
durch neueste Erlebniskommunikation, dem sich Gäste aus der ganzen
Welt gern hingaben.
Brückenhausen wurde das Aushängeschild der Region.
Der Taxifahrer öffnete nach dem Passieren des Ortsschildes lautlos das
Panoramadach seines E-Taxis, und Henning musterte die vorbei huschenden Fassaden. Weit geöffnete Fenster, wehende Gardinen, Musik,
Grün in allen Facetten und all’ die dazugehörigen bunten Bilder und
Laute einer geschäftigen, quirligen Stadt. Der Weg führte weiter an der
alten Post vorbei zum Schlossplatz. Hier drängte sich Straßencafé an
Straßencafé, dicht bevölkert von Menschen die es nach Sonne, Kaffee,
menschlicher Nähe und anderen Genüssen dürstete. Schwarz gekleidete Kellner mühten sich, große Tabletts jonglierend, den Wünschen
der Gäste nachzukommen. Ein irgendwo verborgener Straßenmusiker
war zu hören, dessen Spiel fast überdeckt wurde von den lebhaften Geräuschen der Cafés.
Und dann sah er es.
Mitten über dem Schloßplatz schwebte ein Holobanner. Transparent,
leicht und feenhaft verkündete es seine Botschaft in grünen, blauen und
weißen Schriftzügen:
The Planets / Holst, präsentiert vom Sinfonieorchester Hamburg auf dem
Marktplatz zu Eschwege, am heutigen Tag im Jahr 2025, nach Sonnenuntergang.
Der Taxifahrer spürte die ungeteilte Aufmerksamkeit die sein Fahrgast
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dem Banner schenkte.
„Sie sind Musiker. Sie gehören dazu!“
Henning zögerte mit der Antwort.
„Ich gehöre dazu, bin aber kein Musiker.“
„Dann sind sie der Dirigent ?“
Tatsächlich war Henning Kappes weder Musiker der Hamburger Symphoniker, auch wenn er es vielleicht gern gewesen wäre und schon gar
nicht Dirigent.
Henning war Konzertorganisator. Er war Teilhaber der renommierten
Konzertgesellschaft C-Conzerts-Hamburg, die Musikveranstaltungen der
besten Orchester Europas plante, vermittelte und organisierte.
Henning lächelte und schüttelte den Kopf.
Der Taxifahrer bewegte das Auto mittlerweile im Schrittmodus und steuerte in Richtung Werrapromenade. Der Fluss war von vielen kleinen
Booten belebt, und am anderen Ufer der Werra konnte man die ersten
Gebäude von Brückenhausen erkennen. Das bunte Leben des Schlossplatzes setzte sich an der Werrapromenade fort.
„Wir sind gleich da ,“ verkündete der Taxifahrer und steuerte sein Taxi
mit aller Vorsicht durch die flanierenden Menschen am Stad vorbei, der
einen Einblick in das innerstädtische Eschweger Leben gewährte. Vor
einem Fachwerkhaus „Unter dem Berg“ hielt der Fahrer. Henning Kappes
stieg aus und stand vor einer Dependance des Eschwege Stadthotels.
Henning öffnete mit seiner Chipkarte die Eingangstür und wurde unmittelbar nach dem Eintreten in den hellen, luftigen Empfangsraum von
einer freundlichen Frauenstimme und der dazugehörigen Holographie
begrüßt.
„Herzlich Willkommen im Stadthotel Eschwege.“
Das Stadthotel Eschwege bestand aus 26 kleinen und großen Fachwerkhäusern, die sich über das gesamte Altstadtgebiet Eschweges verteilten und über 200 Betten verfügte. Jedes dieser Häuser war modern
und sehr individuell gestaltet und den Bedürfnissen eines zeitgemäßen
Hotelbetriebes angepasst.
Die freundliche Frauenstimme teilte Henning wichtige organisatorische
und technische Einzelheiten mit. Die Liste der zur Verfügung stehenden
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Restaurants, die für das leibliche Wohl der Hotelgäste verantwortlich
zeichnete war lang und ließ keine Wünsche offen.
Henning registriert die helle und großzügige Einrichtung nur am Rande
und stieg sofort über eine breite Treppe in den ersten Stock. Er schob
die weißen, leichten und bodenlangen Vorhänge zurück und öffnete
die Tür zum Balkon. Würzig warme Luft schlug ihm entgegen. Er trat
vor, stütze sich auf das Balkongeländer und ließ sich von der ihn umgebende Silhouette umarmen.
Die Werra reflektierte glitzernd das Sonnenlicht, kleine Wellen schlugen
an den Kiesstrand der Uferpromenade. Das gegenüberliegend Ufer
war üppig begrünt. Der scheinbar ewige Bismarckturm, der immer noch
als Spitze auf dem Leuchtberg thronte und mit einer riesigen blau- weißen Fahne beflaggt war, rundete das Bild nach Osten hin ab.
Henning ließ sich in die bereit stehende Liege fallen und genoss den
Anblick.
Henning Kappes besuchte nur selten die von seiner Agentur organisierten Veranstaltungen.
Dazu gab es ein spezielles Visitor-Team. Als er jedoch vor einigen Monaten den Namen „Eschwege“ in seiner Customer-List aufblitzen sah,
beschloss er sich selbst auf den Weg zu machen.
Und so lag er entspannt und mit geschlossenen Augen auf einer Liege
über der Werra. Die Geräusche der vorbei schlendernden Menschen
drangen nur gedämpft zu ihm. Wärme und ein tiefes Wohlbefinden umgaben ihn …
Und dann erblickte er es. Ein rotes U-Boot zog gemächlich aber kraftvoll
Werra-aufwärts. Eine leichte, schneeweiße Welle umspielte den Bug
des riesigen, beeindruckenden Bootes. Auf der stolz erhobenen Brücke
stand eine in weißer Uniform gekleidete, lachende Person und winkte
in weit ausholenden Bewegungen Henning Kappes zu …
Henning erwachte.
Er registrierte sofort dass die Zeit drängte. Die tief stehende Sonne vergoss schon ihr verschwenderisches Rot.
Mit geübten Handgriffen brachte Henning sein Aussehen auf den Stand,
der einem abendlichen Kulturevent unter freiem Himmel angemessen
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war und machte sich auf den Weg. Die engen Gassen, die zum Marktplatz führten, waren ihm noch vertraut, und so fand er schnell den richtigen Weg, indem er sich geschickt durch die Menschenmenge
manövrierte. Trotz seiner Eile fiel ihm auf, dass den einst dem Verfall
preisgegebenen Fachwerkhäusern neues, komfortables Leben eingehaucht wurde. Viele Bauherrn und leidenschaftliche Architekten mussten
sich mit Erfolg dem historischen Eschwege gewidmet haben. Trotz alter
Mauern, erstrahlten die Gassen in ein jugendlich, modernen Gewand.
Dieser Eindruck bestätigte sich ebenso beim Erreichen des Marktplatzes.
Eine riesenhafte Bühne, die den optischen Mittelpunkt des Marktplatzes
bildete, lehnte sich an das stolze Fachwerk-Rathaus im Westen. Sie
wurde überspannt von einem riesigen Dach, wäre es nicht in einem
leuchtenden weiß gehalten, an einen Fledermausflügel erinnert hätte.
Unzählige Reihen von rot-braun gepolsterten Stühlen bauten sich vor
der Bühne in Reih und Glied auf, von denen schon eine ganze Anzahl
von Konzertbesuchern besetzt waren.
Die weit geöffneten und mit Publikum bevölkerten Fenster des den Platz
umschließenden Häuserensembles ließen Henning an das Globe-Theater zu London denken.
Auf dem Marktplatz wurde es hektisch. Sektgläser wurden leer getrunken, noch schnell ein paar Hände geschüttelt um dann zügig die reservierten Plätze einzunehmen. Die Scheinwerfer konkurrierten mit dem
Restlicht der untergegangenen Sonne, als auf der Bühne der Kulturbeauftragte der Stadt erschien und die Besucher und Musiker des Sinfonieorchesters Hamburg mit warmen Worten begrüßte , die daraufhin die
Bühne unter anhaltendem Applaus der Konzertbesucher in Besitz nahm.
Und dann wurde es ganz still.
Und noch bevor der Dirigent unter Jubelstürmen sein Pult betrat schaute
sich Henning Kappes noch einmal um, betrachtete die Szenerie aus der
Sicht eines Konzertbesuchers und war mit sich und der Welt tief zufrieden.
Es war ein rauschender Konzertabend.
Die Magie des Ortes verband sich mit dem monumentalen, vollendeten
Klang des Orchesters, gleich einer Orgie aus Licht und Tönen, die sich
anschickte den Himmel über den Dächern der Stadt zu erobern.
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Überschwänglicher Applaus.
Zugabe.
Frenetischer Jubel.
Zugabe
Am nächsten Morgen, es mag wohl gegen 10 Uhr gewesen sein,
summte ein Handy.
Henning Kappes lag schon eine geraume Zeit wach, geweckt durch
das beständige Schlagen der weißen, leichten und bodenlangen Vorhänge.
„Hallo, … Henning Kappes.“ Obwohl er wusste wer der Gesprächspartner sein würde, meldete er sich förmlich.
„Henning wo bist du? Wir warten auf dich, … seit über einer Stunde.“
Die drängende Stimme seines Geschäftspartners war deutlich zu hören.
Henning suchte nach geeigneten Worten.
„Ich bin noch hier am Konzertort.“
Pause.
„Es ist etwas dazwischen gekommen.“
Die folgende Pause war länger und angefüllt mit knisternder Spannung.
„Henning, wie du weißt haben wir seit einer Stunde eine wichtigen Konferenz, was um alles in der Welt ist …
dazwischen gekommen?“
„Ein rotes U-Boot … .“
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15. März 2025 oder Von geschenkten
und verpassten Chancen
von Andrea Römer
Ich sitze in meiner Penthousewohnung, schaue auf die Skyline der Großstadt, während irgendeiner der 468 empfangbaren Sender an die
Wand projiziert wird. Grandiose Bildqualität, neueste Technik – nur das
Programm ist konstant schlechter geworden. Nach meinem täglichen
Dienst in einer der weltweit modernsten Kliniken mit der neuesten technischen Ausstattung – die halbe arabische Welt kommt zu uns - fühle
ich mich leer und einsam. Essen beim besten Italiener der Stadt, Training
im teuersten Fitnessstudio mit anschließender Hot-Stone-Massage und
Ayurvedabad, Logenplatz in der Oper… alles nicht schlecht, aber wirklich glücklich macht es mich auch nicht. Am Wochenende habe ich nach
10 Jahren endlich alte Freunde in Eschwege besucht. Und seitdem bereue ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Entscheidung. Aber das
konnte ja keiner wissen. Hätte ich es gewusst- …
Für mich sah damals alles so aus, als würden sie sich zwischen „Wir
sind vom Land“- Minderwertigkeitskomplex, „Aber wir haben die Ahle
Worscht“- Verbohrtheit und „Wenn wir uns nur anstrengen kommen wir
schon hinterher“-Mentalität endgültig ins Abseits schießen. Ich will nicht
ungerecht sein - sie haben sich alle Mühe gegeben. Über Kitaplätze,
Nahversorgung, seniorengerechtes Wohnen, „Tu‘s hier“ und Marktplatzgestaltung bis zu Ehrenamtsstärkung, Kulturförderung und neuem
Stadtbahnhof, sie haben sich wirklich angestrengt. Hunderte von Arbeitskreisen hatten sich damit beschäftigt, wie man den Werra-MeißnerKreis attraktiv gestalten kann, wie man den demografischen Wandel
konstruktiv nutzen kann, wie Inklusion umgesetzt werden sollte. Aber
hinter allen „Wir können stolz auf uns sein“- Bekundungen schlummerte
die alte Angst, die so lange geschürt worden war. Die jahrzehntelange
Kopfwäsche war auch in den letzten Winkel gedrungen und hatte sich
festgesetzt. Bei den Worten „Arbeitslosigkeit“, „Schulden“ oder „Leerstand“, überfiel ein kollektives Heulen und Zähneklappern den Land16
kreis, das jeden traf, selbst die erklärten Optimisten. Die sogar am meisten. Heimlich. Egal welche Slogans man sich ausdachte, die Verknüpfungen saßen felsenfest in den Köpfen: Arbeit = Geld = Wachstum =
Fortschritt = Wohlstand = erstrebenswerter Zustand. Schließlich gab ich
meine Hoffnung auf wirklich neue Wege frustriert auf und ging zurück
in die Großstadt.
Das Paradigma von Arbeit, Wachstum und Wohlstand war natürlich
nicht nur im WMK so lange unumstößlich. Deshalb dauerte es auch
ewig, bis man sich endlich aus rein finanziellen Gründen zum längst fälligen bedingungslosen Grundeinkommen durchgerungen hatte. Statt
Rente, Arbeitslosengeld, Sozialhilfe, Kindergeld, Bafög und all den anderen staatlichen Zuschüssen und Einkommensformen die es gab,
bekam ab 2018 jeder Mensch regelmäßig ohne Antragstellung so viel
Geld, das niemand mehr existenziell bedroht war. Wohnen und gesund
Essen konnte jetzt jeder, Lernen und Kultur waren kein Luxus mehr. Das
führte überall dazu, dass immer mehr Menschen das taten, was ihnen
Spaß machte und was sie besonders gut konnten. Im WMK wirkte sich
genau das als „Katapult“ aus. Jetzt zahlte sich aus, dass der Kreis nicht,
wie so viele andere, alles verkauft hatte. Es gab genügend Möglichkeiten, das kreative Potenzial der idealistischen Osthessen setzte ungeahnte Fähigkeiten frei und sorgte in kürzester Zeit für ein neues
Selbstbewusstsein. Nach dem Vorbild der Wanfrieder Rentnertruppe,
die schon seit Jahren alte Häuser renoviert und verkauft hatte, wurden
jetzt im gesamten Kreis leer stehende Gebäude renoviert. Angeleitet
von tatkräftigen RentnerInnen und gelernten HandwerkerInnen, unterstützt von ehemals Langzeitarbeitslosen, unzufriedenen BeamtInnen und
Schulklassen glich die Aktivität tatsächlich einer Epidemie. In unglaublichem Tempo strahlte ein Haus nach dem anderen neuen Charme aus
und inspirierte weitere unentdeckte Talente, die sich jetzt zeigen konnten. Pfiffige Heizsysteme, langlebige Möbel, unkonventionelle Gartengestaltung und umweltschonende Reinigungsmethoden wurden gebaut
und umgesetzt und jede Neuerung wurde stolz präsentiert und weitergegeben. Das gemeinsame Arbeiten und Lernen motivierte nicht nur
alle Beteiligen, sondern auch die NachbarInnen. Und jetzt zahlte sich
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die „Überalterung“ tatsächlich aus. Gerade die Ältesten hatten Kniffs
und Tricks und längst vergessenes Wissen, das sich als wahre Goldgrube erwies. Reparieren, ausbessern, Ressourcen optimal nutzen, dass
alles war ja lange nicht gefragt. Die Wirtschaft sollte durch immer mehr
Produktion angekurbelt werden, und um die meist überflüssigen Produkte an den Mann oder an die Frau zu bringen mussten sie möglichst
kurzlebig sein. Diesem Zwang unterlagen die neuen Interessengemeinschaften nicht, zu groß war die Freude an dem, was da unter ihren Händen entstand und zu zufrieden waren sie mit ihrer neuen Freiheit. Sie
bauten und schafften, holten sich Anregungen aus der Umgebung und
verfolgten, wie ihre Werke genutzt wurden. Groß und klein, alt und jung,
die neuen Räume boten sich neuen Lebensformen an. In der ebenerdigen Villa ließ sich eine Wohngemeinschaft aus vier Generationen nieder, in dem verwinkelten Fachwerkhaus eine Gruppe aus KünstlerInnen
und HandwerkerInnen, auf dem renovierten Bauernhof Tier- und Gartenliebhaber und im Fabrikgelände eine bunte Mischung aus allen, die
besonders die Gemeinschaft pflegen und Raum für individuelle Entwicklungen fördern wollte. Jede Stadt und jeder Ortsteil konnte sich wieder
einen Kindergarten und eine Grundschule leisten, die Räume waren da
und die Personalkosten weggefallen. Mit engagierten ErzieherInnen
und Lehrkräften, angeregt durch die Aktivität vor Ort, lernten schon die
Kleinsten ihre Begabungen und Fähigkeiten zu erkennen und zu nutzen.
Überall führte das neue Handeln auch zu neuem Denken. Wieso sollte
man die Marmelade im Supermarkt, den Kuchen im Backshop und den
Grillrost im Obi kaufen? Als man noch im Arbeits- und Freizeitstress zwischen Auto, Büro und Fitnessstudio gefangen war, ging es vielleicht nicht
anders, aber jetzt? Ehemalige Erzieherinnen, vordem schlecht bezahlte
Küchenhilfen und MetallarbeiterInnen die ihren Ein-Euro-Jobs entflohen
waren genossen das Köcheln und Backen, das Schweißen und Werkeln
und die glücklichen Gesichter satter MitbewohnerInnen und FreundInnen. Während die einen sägten, hämmerten und anstrichen, vergnügten
sich andere an Ofen und Herd, gaben ihr Wissen in nichteuklidischer
Geometrie an wirklich interessierte SchülerInnen weiter oder erfreuten
mit ihrem A-Capella-Gesang Haus und Hof. Auch die ortsansässigen
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HändlerInnen hatten sich inzwischen darauf eingestellt. Kleine mittelständische Unternehmen, Familienbetriebe und Kollektive bedienten
die Wünsche nach solidem Werkzeug, heimischen Baumaterialien,
sinnvoller ökonomischer Technik, ökologischen Lebensmitteln und
handgefertigten Textilien. Motivierte und begabte Auszubildende gab
es im Überfluss. Befreit vom Druck guter Zeugnisse aus schlechten
Schulen bewarben sie sich mit ihrem Talent und ihrer Geschicklichkeit,
mit dem Wunsch etwas zu lernen. Und weil kein Betrieb dadurch Kosten hatte, nahmen sie alle, die echtes Interesse hatten und wurden
immer besser. Kaum eine große Marktkette hatte sich unter dem Qualitätsdruck gehalten.
Die Katastrophenorakel waren vergessen. Vorm Fernsehgerät auf dem
Sofa hielt es fast niemand mehr aus, wo man doch an jeder Ecke Respekt und Wertschätzung bekam für das was man konnte. Keiner verlangte mehr, dass man als Baggerfahrer Kranke pflegte, als Erzieher
Wurst verkaufte oder hunderte von Bewerbungsschreiben anfertigte.
Auch hier erwies sich ein lange als Nachteil empfundener Zustand als
Vorteil: der hohe Anteil an ehemaligen Arbeitslosen und sogenannten
„schlecht Qualifizierten“ war so zufrieden mit dem sicheren Lebensstandard, dass sie gerne ihre Fähigkeiten da einsetzten, wo sie gebraucht wurden. Auch die ehemals „Behinderten“, entwickelten
ungeahnte Ressourcen, nachdem sie nicht mehr ständig ihre Bedürftigkeit beweisen mussten, um überleben zu können. In den wirklich existenziell wichtigen Lebensbereichen die mit Nahrung, Hygiene und
Pflege zu tun haben, sind sie inzwischen fast überrepräsentiert und genießen entsprechendes Ansehen. Die Annahme, dass keiner mehr arbeiten wolle wenn es nicht notwendig wäre, erwies sich schnell als
Trugschluss. Im Gegenteil, teilweise wurde es geradezu ein Privileg, an
einer bestimmten Stelle arbeiten zu dürfen. In der Schule zum Beispiel
oder im Krankenhaus. Selbst der Landrat und viele der BürgermeisterInnen blieben in ihrem Job, weil sie ihn wirklich gerne machten. Beim Landrat gab vor allem die Möglichkeit wieder als Schiedsrichter aktiv zu sein
den Ausschlag, trotz Gehaltseinbußen das Amt weiter zu führen. Viele
Besuche, Reden und Sitzungen waren überflüssig geworden, weil die
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Menschen sich ihres Wertes und ihrer Wirksamkeit bewusst waren. Ein
gut gepfiffenes Spiel war wichtiger geworden als eine ausgefeilte Rede.
Die Finanzierungsfrage des Grundeinkommens hatte sich natürlich, wie
von Fachleuten längst berechnet, erledigt. Die Ersparnisse an staatlichen Hilfen und Unterstützungen und die Stelleneinsparungen bei den
bearbeitenden Ämtern waren erwartet worden. Die Einbußen an Vermögens-, Gewerbe- und Einkommensteuer trafen die strukturschwachen
Gegenden deutlich weniger als die großen Ballungsgebiete. Auch hier
profitierte der WMK von einem lange bestehenden Nachteil, der sich
plötzlich als Vorteil erwies. Dazu kam, dass durch die schnelle Umstrukturierung im Kreis eine Exportwelle hochwertiger einheimischer Güter
erfolgte, die unerwartete Steuereinnahmen brachte. Die mit dem Grundeinkommen eingeführte Mehrwertsteuer von 50% auf alle nicht lebensnotwenigen Produkte erwies sich als wahrer Segen. Auch der Tourismus
boomte. Als der WMK 2020 als „Innovative Vorbildregion Europas“
ausgezeichnet wurde, kamen Neugierige aus der ganzen Welt. Die vielen neu renovierten Häuser, die außergewöhnlichen kulturellen Angebote und die traumhafte abgeschiedene Landschaft, dazu fast überall
hochwertiges regionales Essen, ungewöhnliche und wertvolle einheimische Produkte und Kunstwerke boten den Gästen eine einmalige Vielfalt
neuer Erfahrungen. Bestärkt durch dieses internationale Interesse, die
planbaren Einnahmen und vor allem durch die damit verbundene Bestärkung des eingeschlagenen Weges handelte man bedächtig. Der Erhalt des Erreichten und die Wahrung der gemeinsamen Güter wurden
von allen als höchste Priorität gesehen. Keine externe Firma baute Hotels oder Feriendörfer, kein Hotelier wurde angeworben, keine neue
Straße gebaut und erst recht kein Flugplatz. Die Häuser, die noch leer
standen, durften so bleiben, sie bestärkten den Charme der Gegend
wie die verfallenen Ruinen in Rom. Fast alle hatten inzwischen erkannt
und erlebt, dass Wachstum nicht das Allheilmittel war und ihr Wohlbefinden nicht vom Geld abhing. Mit diesem neuen Selbstbewusstsein bekannten sie sich gerne zu ihren „Schwächen“, die sich endlich als
Stärken erwiesen hatten. Hier sollte zuallererst jeder seinen Platz und
seine Wertschätzung behalten, das war die wahre Wertschöpfung. Das
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Potenzial des Kreises bestand in der Vielfalt und Kreativität seiner BewohnerInnen und seiner Landschaft. Das galt es zu erhalten. Alles andere, wie Steuereinnahmen, Export, Tourismus, war Luxus, war
nachrangig. Und machte alleine nicht glücklich.
Und so sitze ich hier in meiner schönen teuren Luxuswohnung und bin
nicht glücklich. Ich bereue meine Entscheidung von damals. Mit ein bisschen mehr Geduld hätte ich auch teilhaben können, würde in einem der
schönen Häuser mit netten MitbewohnerInnen kochen und singen, hätte
fröhliche Kinder um mich und könnte von der Weisheit alter Menschen
profitieren. Ich wanderte auf dem Meissner und führe Rad an der
Werra, statt im Fitnessstudio auf dem Laufband zu traben. Ich könnte
den Luxus meines Grundeinkommens und meiner Freiheit schätzen, der
abgebrochene Fuß meines Schreibtisches würde von Otto repariert und
ich käme gar nicht auf die Idee, mir von meinem üppigen Zusatzgehalt
einen neuen zu kaufen. Ich würde nur noch an drei Tagen in der Woche
im Krankenhaus arbeiten, einen Tag in der Kita und einen Tag im Garten. Und Theater spielen. Und zweimal im Jahr nähme ich mir einen
Monat frei zum Schreiben und Malen. Was würde ich schon vermissen?
Das Fernsehprogramm? Die teuren Bilder an der Wand? Den BMW?
Den Urlaub auf den Malediven? Den Urlaub vielleicht, alles andere definitiv nicht. Und den Urlaub wahrscheinlich auch nicht, weil ich gar
keine „Auszeit“ mehr brauchen werde. Was hält mich also? Ist es am
Ende die eingebrannte Verknüpfung Arbeit = Geld = Wachstum = Fortschritt = Wohlstand = erstrebenswerter Zustand?
Dann sollte ich mich mal schnellstens von der Kopfwäsche befreien. Am
besten in Osthessen. Vielleicht kann ich von denen was lernen. Wahrscheinlich sogar.
Morgen ziehe ich um.
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Das Warten
von Finn Seifert
Eschwege im Jahr 2025. Sie wartet. Voller Aufregung erwartet sie den
nahenden Zug. Er steigt aus, sieht sich kurz um und schon fällt sie ihm
um den Hals. Glücklich gehen sie zusammen nach Hause. In vielen Teilen der Welt herrschen Kriege um Wasser. Der Kampf der Nationen
um natürliche Ressourcen hat fast jeden Winkel der Erde erreicht. Der
Werra- Meißner- Kreis schafft für das junge Paar eine Insel des Friedens. Zwei Jahre später steht sie zur selben Zeit am Bahnsteig und wartet. Langsamer werdend kommt der kurze, blaue Zug schließlich zum
Stehen. Sie umarmt den austeigenden Mann, es ist ihr Verlobter. Sie
fühlt sich sicher. Glücklich gehen sie zusammen nach Hause. Die USA
sind keine Weltmacht mehr. China und Indien beherrschen die Finanzmärkte der Erde. Die Krisen kommen und gehen. Wieder zwei Jahre
später steht sie am gleichen Ort und wartet. Geduldig wartet sie auf
die Ankunft des Zuges. Schließlich kommt die Lock zum Stehen, die
Türen öffnen sich und der Mann, der aussteigt, ist ihr Ehemann. Als Ehepaar gehen sie glücklicher als je zuvor nach Hause. Die Veränderungen weltweit vollziehen sich immer schneller. Regierungen werden
gestürzt und durch neue ersetzt. Doch die Zeit im Werra-Meißner-Kreis
scheint stehenzubleiben. Alles scheint so geblieben zu sein, wie es
schon zu ihrer Kindheit war. Stehend wartet sie am Bahnhof. Vier weitere Jahre sind vergangen. Sie hat ein Kind auf dem Arm. Der Zug
kommt langsam in den Bahnhof gefahren und die kleine Familie ist wieder vereint. Zum ersten Mal gehen sie zu dritt nach Hause. Die Pole
schmelzen, die Menschen in den Großstädten leiden unter extremer
Luftverschmutzung, doch die Menschen im Norden Hessens bleiben
davon unberührt. So wie sie es bereits seit 30 Jahren kennen, werden
die Felder bestellt, die Wälder genutzt und der Stolz auf die Natur und
Artenvielfalt ist größer denn je. Zwei Jahre später steht ein kleiner Junge
mit seiner Mutter am Bahnhof und wartet. Seine Mutter hat ein Kleinkind
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auf dem Arm und ersehnt die Rückkehr ihres Mannes. Dieser kommt
mit dem ankommenden Zug herangefahren. Als er aussteigt, wird er
innig von seinem Sohn und seiner Ehefrau begrüßt. Seine kürzlich geborene Tochter erkennt ihn noch nicht. Die Zeit, in der die Familie voneinander getrennt ist, kommt ihnen viel länger vor als die gemeinsame.
Doch er muss immer weg, um das Geld zu verdienen. Umso mehr genießt die Familie die kurzen Aufenthalte des Vaters. Auf dem Weg
nach Hause denkt er darüber nach, wie schön er es doch eigentlich
hier hat. Trotz seines durchschnittlichen Gehalts kann er bereits mit jungen Jahren in einem eigenen Haus wohnen. Wie oft sehnt er sich nach
seiner Heimat wenn, er weit entfernt in der Stadt arbeitet. Die Ruhe und
der Platz fehlen ihm. Die Lebensweise ist eine andere als in der Stadt
und er ist glücklich mit seinem Leben auf dem Land. Trinkwasser ist mancherorts wertvoller als Öl, obwohl die Quellen bald erschöpft sind.
Autos, die noch Benzin oder Diesel verbrennen, gelten als rückständig
und werden von der Gesellschaft geächtet. Zwanzig Jahre später steht
sie wieder am Bahnhof und wartet. Die beiden Kinder sind aus dem
Haus. Studieren und arbeiten in fremden Ländern. Die Ankunft ihres
Mannes wird für sie immer etwas Besonderes sein. Man kann sich an
so Etwas nicht gewöhnen. Sie sieht ihn schon durch die Scheiben des
Waggons, ehe dieser zum Stehen kommt. Es fühlt sich an wie damals.
Für das Ehepaar könnte es ewig so weiter gehen. Doch die Zeit bleibt
auch im Werra- Meißner- Kreis nicht stehen. Mit der weiterlaufenden
Uhr altern Körper und Geist. Das Haar ergraut langsam und die Falten
im Gesicht vertiefen sich. Doch das Gefühl bleibt dasselbe. Die Welt
ist automatisiert, Computer bestimmen nahezu jeden Moment des Lebens. Die künstliche Intelligenz ist das Lieblingsthema der Wissenschaftler geworden. Kriege werden schon lange nicht mehr auf dem
Schlachtfeld sondern im Internet gewonnen. Eschwege im Jahr 2090.
Sie wartet. Erfüllt von Trauer erwartet sie den nahenden Zug. Doch
diesmal steigt niemand aus. Niemand nimmt sie in die Arme und bringt
sie nach Hause. Sie bleibt alleine stehen und sieht wie der Zug wieder
abfährt. Eigentlich ist alles gleich geblieben und doch wird es nie wieder so sein wie zuvor.
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2025
von Carsten Werner
Die Smart Watch Uhr am Handgelenk signalisiert Simon Berg den Eingang einer neuen Nachricht auf dem Tablet vor ihm am Sitz. Er befindet
sich gerade auf dem Weg von der Hauptstadt Berlin zurück nach Nordhessen. Im Flugzeug hat er noch einen Fensterplatz ergattert die first
buisness class ist sonst immer schnell ausgebucht und nur das Blinken
seiner Uhr stört ihn nun bei seinem Blick von oben auf das nordhessische
Bergland, welches neben den vielen grünen Wäldern nun auch Heimat
unzähliger Ungetüme mit drei Rotorblättern den sogenannten Windrädern mit einer Höhe von 200 m ist. Immerhin die Energiewende ist geschafft und alle Atomkraftwerke wenn auch nur in Deutschland gehören
der Vergangenheit an zumindest was die Energieerzeugung betrifft. Die
Entsorgung und der Rückbau: Dies steht auf einen anderen Blatt Papier…
Nordhessen und vor allem der Werra-Meißner hat sich zur Energieregion entwickelt seitdem findige ortsansässige Ingenieure das Problem
mit der Speicherung des erzeugten Wind- und Solarstroms erfolgreich
gelöst haben.
Simon Berg hält seine Smart Uhr an das Tablet, Daten werden ausgetauscht und folgende Nachricht erscheint auf dem Bildschirm direkt
vor ihm:
„Hallo Simon, Meeting um 14:00 Uhr im Schloss. Ich hoffe du hast gute
Nachrichten dabei. Bis dann Ben.“
Ein Teil des District Managements Werra Meißner auch kurz DMWM
genannt, wie die ehemalige Kreisverwaltung nun heißt befindet sich mittlerweile im umgebauten alten Schlosshotel in Eschwege. Das altehrwürdige Landgrafenschloss gegenüber – im Laufe der letzten Jahre
ebenfalls aufwändig saniert – und das direkt zum Schlosshotel benachbarte Verwaltungsgebäude gehört gleichfalls zu den Liegenschaften.
Simon Berg ist als Außendienstmitarbeiter des DMWM ständig auf
Achse und spätestens wenn das Dietemannlied vom Turm glockenklar
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aufgrund der aktuellen digitalen Klangtechnik mit 3D Sound über den
Schlossplatz hallt kommt so etwas wie ein Heimatgefühl auf. Nur gut
dass der Dietemann kein Slalom auf dem Turm fahren muss damit er die
unzähligen Solarplatten auf dem neu gedeckten Dach umkurven kann.
„Fasten your seat belts, please. Wir setzen demnächst zur Landung an!“
verkündet die Stimme an Bord. Der Mittelstreckenairbus, das neueste
Modell in Sachen Energieeffizienz durch seinen Hybrid aus 80% Windturbine und 20% Düsenantrieb aus Kerosin ist auf dem vor kurzem eröffneten Hauptstadtflughafen Berlin gestartet und befindet sich im
Landeanflug auf den wohl wichtigsten Flughafen im Herzen von
Deutschland: Kassel-Calden. Regionalflughafen Erfurt, Regionalflughafen Paderborn-Lippstadt? Längst stillgelegt. Die Wahnsinnssummen des
Flughafens BER nach erneuten Umbau und dem Abriss eines kompletten
Terminals haben die Bundesregierung zum Umdenken bewogen und
ein Konzept entwickelt, was die Flughafenstruktur gehörig durcheinander gewirbelt hat. Als Sieger ist der einst bei „Wer wird Millionär?“ so
unrühmlich belächelte Airport Calden hervorgegangen auch aufgrund
seiner hervorragenden Lage genau im Mittelpunkt von Deutschland.
Berg angelt sich inzwischen seinen Trolley vom Gepäckband und
quetscht sich durch die Menschenmassen des mittlerweile viel zu kleinen
Abfertigungsgebäudes. Der Flughafen kann sich vor Passagieren kaum
retten und platzt aus allen Nähten. Und just in diesem Moment ertönt
unverkennbar die Melodie von „I will always love“ im Original von
Whitney Houston jetzt etwas verunglimpft durch die unterlegten Dancefloor Beats der „Disco Boys“ aus den unsichtbaren Lautsprechern von
Bergs Smartphone. Dies kann nur eins bedeuten:
„Hallo Schatzi, wie geht’s dir und wann kommst du endlich nach
Hause?“ vernimmt Simon die aufgeweckte Stimme seiner Frau Hanna,
die jetzt Mittagspause hat und ansonsten in der Friedrich Wilhelm
Schule dem einzigen Gymnasium in Eschwege unterrichtet.
„Hallo Liebes. Ich bin gerade gelandet und…ah warte mal!“ Jemand
hat ihn angerempelt und dabei ist seine Aktentasche runtergefallen.
„So, Mann Oh Mann! Also…Ich habe ein Meeting um 14:00 Uhr und
komme dann nach Hause.“
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Die Familie Berg bewohnt in Eschwege ein kleines aufwendig renoviertes Fachwerkgebäude in der Altstadt. Nordhessen und natürlich der
Werra Meißner sind Simons Heimat und er fühlt sich wohl hier. Er liebt
die Mittelgebirge und den Werratalsee in Eschwege, auf dem seine
bildhübsche fünfzehnjährige Tochter Lea am liebsten in ihrer Freizeit
dem Wakebordfahren nachgeht.
Jetzt in den Sommermonaten werden wieder im Verein die Meisterschaften ausgetragen, die gilt es schließlich zu verteidigen in ihrer Altersklasse. Na, ja im Winter bei ausreichend Schnee muss der Meißner als
Überbrückung mit Snowboardfahren Trost spenden. Viele betrachten es
zwar als Raubbau an der Natur aber letztendlich konnte dann doch
der Skilift bis nach Vockerode errichtet werden wobei dieser dazu beiträgt die Ferienregion Werra Meißner noch beliebter zu machen. Gott
sei Dank ist die Rutschung am Hang zum Erliegen gekommen und das
Schwalbenthal - mittlerweile zum Hotel umgebaut - ist seinem eigentlich
schon besiegelten Schicksal in Form von Rückbau durch eine unerklärliche Laune der Natur nochmal davon gekommen.
Doch als seien die Gittermasten nicht schon genug Rache für abgesackte Straßen und Bergbewegungen, die Sommerrodelbahn hat ein
kluger Investor ebenfalls realisieren können. Hoffentlich rächt sich der
Meißner nicht noch in anderer Form. Wie wär`s mit einem Vulkanausbruch? Doch der ist zum Glück längst erloschen und war Ursache für
den jahrelangen Basaltsteinabbau.
Unglaublich was mit dem technischen Fortschritt alles möglich ist: Erst
jahrelange Entwicklungs- und Forschungsarbeit, horrende Kosten für die
Umsetzung einer Strecke vom Flughafen Franz-Josef Strauß nach München-Stadt, Unfall auf der Teststrecke im Emsland und dann Einstellung
aller Arbeiten und Verkauf der Technologie nach China. Und von dort
zurück in Rekordbauzeit von nur 3 Jahren und vor allem ohne Kostenexplosion wie bei der Hamburger Elbphilharmonie direkt vor die Haustür
des einstigen Erbauers TyssenKrupp: Die Magnetschwebebahn vom Flughafen Calden über den Fernbahnhof Kassel Wilhelmhöhe zur Tank- und
Rastanlage Kassel Nord an der A7 ein Megaparkplatz mit seinen 500
LKW und 1.000 PKW Stellplätzen. Einen davon hat Bergs Elektroauto
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belegt, welches sich mittlerweile fast geräuschlos der Anschlussstelle
Kassel-Ost nähert.
Der Bildschirm in der Mittelkonsole zeigt den Weg in Form einer Karte
mit noch gut 10 km über die ehemalige B7 jetzt trassengleich umgewidmet als A44. Eine freundliche Stimme aus dem Navigationsgerät gespeist mit Daten aus den in Höhe von 5.000 m um die Erde kreisenden
EU Satelliten weist zusätzlich akustisch den Weg. Was diese Erdtrabanten aber nicht wissen bzw. uns Autofahrer nicht preisgeben ist die Tatsache, dass diese unheimliche Planungs- und später dann auch
Baugeschichte der A44 nach fast 100 Jahren endlich im letzten Jahr
eine Ende gefunden hat mit der feierlichen Eröffnung der Werratalbrücke, welche das Reichensächser Tal in 35 m Höhe überspannt und die
beiden Tunnel Trimberg und Spitzenberg verbindet.
Plötzlich verschwindet die Kartendarstellung und ein wohl bekanntes
Gesicht erscheint nun auf dem Flatscreen nachdem Simon den Kommunikationsannahmebutton am Lenkstick (früher hieß dies mal Lenkrad und
war noch rund) gedrückt hat:
„High, Simon, wollte nur mal sehen ob alles klappt oder ob du im Stau
stehst!“ Lautes Gelächter auf beiden Seiten. Ben Müller, sein Vorgesetzter, ist in diesem Moment mit wohl rasierten Gesicht und einer leicht
gebräunten Haut dank der Übermittlung via Skype auf dem Bildschirm
in Bergs Elektroauto in Ultra High Definition 3D Auflösung bestens zu
erkennen. Was aber auch nicht immer Vorteile mit sich bringt, denn auf
der anderen Seite im Büro von Müller werden wohl einige Bartstoppeln
von Simon gekonnt in Szene gesetzt.
„Nein, alles okay. Ich werde pünktlich da sein!“ Das Lachen hat dem
Umstand gegolten, dass Hessen mit der Aktion „Staufrei 2015“ dieses
Problem in Form von Verkehrsbeeinflussungsanlagen und Seitenstreifenfreigabe wirkungsvoll bekämpft hat. Doch wie es viele Verkehrs-Prognosen schon prophezeit haben, lässt der Verkehr auf der A44 zwischen
dem Abschnitt Kassel und Wommen an der A4 Anschlussstelle nun nicht
gerade darauf schließen sich auf einer Autobahn zu befinden. Wenigstens die Anwohner der Ortschaften wie Bischhausen und Hoheneiche
sind wirkungsvoll vor Lärm geschützt gerade auch weil sich die Trasse
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häufig im Einschnitt oder unter Tage im Tunnel befindet.
Die Ursache dafür, dass nur annähernd 20.000 Fahrzeuge pro Tag
sich auf dieser Autobahn von Ost nach West und umgekehrt bewegen
liegt wohl daran, dass die Einnahmen aus der LKW und PKW Maut in
schwindelerregende Höhen gestiegen sind und die schwarz grüne Bundesregierung nicht weiß wohin mit dem ganzen Geld. Also eher wusste
bis der ehemalige hessische und nun Bundesverkehrsminister Tarek al
Wazir alte „urgrüne“ Grundsatzprogramme wieder ins Gespräch gebracht hat und nun werden Container im Güterverkehrszentrum in Kassel
auf Züge verladen und per reaktivierter Strecke Kassel-Eschwege dort
eben wieder umgeladen auf LKW. Der Transport auf der leider immer
noch mehr als versalzenen Werra mit dem Bau eines entsprechenden
Hafens in Eschwege ist dann doch mangels EU Fördergelder erst einmal
auf Eis gelegt. Als Abhilfe weitere Erhöhung der Mineralölsteuer? Abwarten oder besser gleich E-Auto fahren, denn die Akkus dieser Fortbewegungsmittel können momentan kostenlos an jeder der im Werra
Meißner Kreis gut 500 vorhandenen „Tankstellen“ aufgeladenen werden. Stromenergie aus Windkraft-, Wasserkraft oder Sonne ist hier nahezu unbegrenzt vorhanden und die zuvor bereits erwähnten Speicher
haben noch eine begrenzte Kapazität.
Doch sein Vorgesetzter ließ sich nicht so leicht abschütteln und bleibt
immer noch auf dem Flatscreen sichtbar: „Nun sag schon, warst du erfolgreich in Berlin?“
„Du kannst dich auf mich verlassen. Näheres gleich im Meeting!“ Damit
drückte er das Gespräch weg und schaltete in den Modus Musik.
„Stones!“ redet Berg scheinbar mit einem Unsichtbaren. Die Musikanlage spielt nun wie gewünscht die neuesten Songs der Rock Opas der
Rolling Stones um den Frontmann Mick Jagger und dem Gitarristen Keith
Richards, der eigentlich schon vor 10 Jahren mausetot sein sollte und
sich immer noch allerbester Gesundheit erfreut.
„Hey Jude, don t bring me down…“ Die Stones haben sich auf ihre alten
Tage tatsächlich dazu hinreißen lassen Beatles Songs zu covern…
Mit Berieselung gleitet also Berg gemütlich auf der A 44 mit dem festgelegten Tempolimit von 80 km/h vollkommen LKW frei dahin bis zur
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Anschlussstelle Eschwege, die er nach Fahrtantritt vor ca. einer halben
Stunde nach gut 40 Autobahnkilometer erreicht. Von jetzt an führt der
Weg auf der Verflechtungsstrecke zur B 27 um Reichensachsen als Umgehungsstraße vorbei. Seine Gedanken schweifen ab und er denkt an
seine Familie und wie gut es ihnen hier geht.
Einige seiner früheren Schulfreunde sind nach dem Studium weggezogen in Großstädte wie Stuttgart oder München. Sie haben Arbeit bei
dem größten Automobilkonzern der Welt der Mercedes-BMW AG gefunden. Doch während er hier für sein Häuschen mit Kauf und den
Umbau in ein verbrauchsarmes Fachwerkgebäude nahezu nur
100.000,- € bezahlt hat wird dieser Betrag in den beiden zuvor genannten Landeshauptstädten als Miete fällig und zwar lediglich für
einen Stellplatz in einer Tiefgarage von den Wohnmieten ganz zu
schweigen.
Anstatt Betonklötze und Wohnhochhäuser ist die heimische Natur reich
an Nadel- und Laubwälder, in denen sich wiederum eine Vielzahl von
ehemals bedrohten Tierarten wohlfühlen wie Luchse und Wölfe um nur
einige zu nennen. In den Betonwüsten der Millionenstädte (ja auch Stuttgart hat diese eine Million Grenze nun geknackt während München
schon an der 2 arbeitet) fühlen sich eher Spezies der Art Bankmanager
und Vorstandsvorsitzender wohl.
Da geht es in Eschwege schon beschaulicher zu. Doch auch diese Stadt
boomt und hat entgegen den Erwartungen annähernd 30.000 Einwohner. Dies hängt sicherlich auch mit dem Ankauf des immer noch Weltmarktführers SMA auf dem Bereich der Wechselrichterherstellung der
ehemaligen Wölm Gebäude zusammen. Mehrere 1.000 Arbeitsplätze
sind so entstanden und haben die Einwohnerzahl nach oben steigen
lassen entgegen aller Prognosen.
Negativer Beigeschmack der Verlagerung der Güter auf die Schiene
hingegen ist gewesen, dass einige Logistikstandorte wie Amazon ihre
Lager wie in Bad Hersfeld aufgegeben und näher an große Umschlagbahnhöfe wie Frankfurt am Main gebaut haben. Pläne für den Umbau
der riesigen Hallen in der Kurstadt als Reparaturhangar für den Eurocargolifter liegen noch beim Bürgermeister in der Schublade.
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Was für ein Glück noch ein Parkplatz frei in der neuen Tiefgarage unter
dem ehemaligen Schlosshotel aber es gibt schließlich ja auch nur ein
Fahrzeug mit dem Kennzeichen WMK-DM-111 und dies hat seinen angestammten Platz.
Simon Berg betritt das Besprechungszimmer und wird von seinen Arbeitskollegen freundlich begrüßt. Nach den einleitenden Worten seines Vorgesetzten steht der Tagungspunkt „Förderanträge Berlin“ zur Diskussion.
Berg berichtet ausführlich über seinen Besuch in der Bundeshauptstadt
beim Bundeswirtschaftsministerium.
„Der Herr Minister hat zugesagt uns für die Verzahnung der Innenstadt
Eschwege mit der Werra und die damit einhergehende Umnutzung der
alten Speichergebäude entlang des Flusses in ein neues Stadthotel mit
Restaurant Fördergelder in Höhe von 500.000,- € zur Verfügung zu
stellen unter der Bedingung noch nächstes Jahr mit den Bauarbeiten zu
beginnen!“
„Gute Arbeit, Herr Berg! Nun denn lasst uns mit den Planungen beginnen, damit wir unsere Region weiter voranbringen!“
Die Neue Zeit
von Erich Böck
Lange noch saßen einige der Mitglieder aus den verschiedenen Regionalgruppen, sowie interessierte Bewohner, am Lagerfeuer zusammen
und sprachen darüber, wie alles begann ... damals im Jahr 2013.
Der Kreis Werra-Meißner hat sich in den letzen 20 Jahren sehr entwickelt ...zum Positiven. Damals, als die Region noch mit Abwanderung,
Bevölkerungsrückgang und immer geringer werdender Infrastruktur,
sowie großen Jobverlusten zu kämpfen hatte, tat sich eine Gruppe
Visionäre zusammen, um diesem Treiben nicht weiter zuzuschauen.
Die meisten Altbewohner waren eng verbunden mit ihrer Heimat und
die wenigen neu zugezogenen waren begeistert, was sie im WerraMeißner Kreis alles erleben durften. Sie fanden hier eine wunderschöne
Landschaft, idyllisch gelegen in der Mitte Deutschlands mit Seen, Wäldern, Fluß und Wiesen. Das alles eingebettet in ein, an die sanften
Hügel der Toskana erinnernden Landschaft. Es erwartete die Neubürger
eine Herzlichkeit und Hilfsbereitschaft der Einwohner, die sich manchmal
kaum in Worte fassen ließ.
Auch heute, im Jahr 2025 ist an diesen Eigenschaften der Bewohner
sogar noch eine stetige Steigerung erkennbar. Es kamen noch einige
Eigenschaften mehr dazu, nämlich Zufriedenheit, Ausgeglichenheit und
Lebensfreude.
Wodurch dies alles erreicht wurde? Nun, daran erinnern sich unsere
Freunde am Lagerfeuer gerne.
Die Visionäre, die sich damals zusammen mit Bürgermeistern, Landräten
und Ortsvorstehern an einen Tisch setzten, hatten alle ihre Ideen und Pläne
bis ins Detail ausgearbeitet. Im Gepäck hatten sie Pläne, die Viele zu dieser Zeit noch belächelten. Doch aus dem einstigen Belächeln wurde
schnell ein AHA-Effekt. Die Visionäre wussten, von was sie sprachen.
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Auch wenn sich vieles damals wie Utopie anhörte, so hatte es dennoch
einen realen Hintergrund. Alles, was damals noch nach Zukunftsmusik
klang, wurde bereits getestet und war größtenteils schon auf dem freien
Markt erhältlich. Natürlich nicht im großen Stil, denn damit wären sie einigen Lobbyisten wohl ziemlich stark auf die Füße getreten.
So kam es, dass sich die ersten Ideen mit finanzieller Unterstützung von
Staat, der EU sowie privater Investoren sehr schnell umsetzen ließen.
Seitdem wird der vor Ort durch Solar, Wind und Wasser gewonnene
Strom in der eigenen Region verbraucht und das ganz ohne Schadstoffe
zu produzieren. Durch diese Art der Stromgewinnung sind seitdem viel
mehr Elektroautos auf den Strassen zu sehen. Egal ob Handwerker, Privatleute oder gar Autovermieter, die Nachfrage nach Elektroautos und
E-Bikes stieg seither rasant an.
Dies kam sogar einem regional tätigen Elektroauto Hersteller sehr gelegen. Auch er schreibt inzwischen schwarze Zahlen und schuf dadurch
in Verbindung mit seinen Zulieferern viele zusätzliche Arbeitsplätze.
Das Modell des Carsharing ist inzwischen auch sehr verbreitet. Nicht
jeder, der ein Auto hat, nutzt es auch den ganzen Tag. In Zeiten in
denen es nicht selbst genutzt wird, steht es einem regional agierendem
Carpool zur Verfügung. Dort registriert, kann sich jedes Mitglied für
wenig Geld ein Fahrzeug ausleihen und muss somit nicht die ganzen
anfallenden Kosten, inklusive Wertverlust, alleine tragen.
Durch diese Art der Fahrzeugvermietung kam auch der Tourismus in
Schwung. Die Gegend rund um den hohen Meißner und das Werratal
lassen sich mit E-Bikes locker und gemütlich erkunden. Auch die Zahl
der Übernachtungen stieg wieder stark an.
Durch die Idee, ökologische Baustoffe zu benutzen und neue Wege in
alternative Bauweisen einzuschlagen, entstanden ganze Ferienhaus
Siedlungen mit Strohballenhäusern und andere Naturbauten, die sich
autark mit allem Benötigtem versorgen.
Durch die überwiegend positiven Presseberichte und Medienauftritte
über die Entwicklung des Kreises, stieg das Interesse daran in ganz
Deutschland. Sogar aus dem Ausland kamen Delegationen, um sich
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hier Anregungen für die eigenen Länder zu holen, um dem demografischen Wandel entgegen zu wirken.
Die Lebensmittel werden selbstverständlich auch wieder überwiegend
regional angebaut. Dies geschieht durch Gewächshäuser, die sich das
ganze Jahr über selbst mit Strom versorgen und somit ein dauerhaftes
Wachstum, auch exotischer Pflanzen, garantieren können.
Landwirte, Gärtnereien und auch viele Hobbygärtner nutzen inzwischen
die alten Anbaumethoden, ergänzt mit neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen, wie man ganz ohne künstliche Dünger, oder gar Gentechnik, eine ertragreiche und gesunde Ernte einfahren kann.
Verkauft werden die regional erzeugten Lebensmittel täglisch frisch auf
Märkten und in Geschäften, die sich auf Regionalprodukte spezialisiert
haben. Da durch eigene Gewächshäuser, die sich selbst mit Strom versorgen, die Preise für die Herstellung der Lebensmittel relativ gering ist,
gibt es auch fast keine Discounter mehr, die ihre Ware teilweise durch
ganz Europa und die Welt heran schaffen müssen. Die Bevölkerung hat
längst erkannt, dass dies völlig unnötig und sehr umweltschädlich ist und
kauft daher die benötigten Artikel lieber als regional erzeugte Produkte.
Somit stärken sie die örtliche Infrastruktur und sichern sich dadurch ihre
eigenen Arbeitsplätze.
Beim Thema Arbeitsplätze hat sich auch sehr viel getan in der Entwicklung des Kreises. Inzwischen gibt es ein sogenanntes Grundeinkommen,
das sich testweise in unserer Region etabliert hat.
Jedem Bürger steht ein monatlich festes Einkommen zu, das sich durch
Einsparung von Ämtern, Bürokratie und weiterer Kosten finanziert. Obwohl sich die Mehrwertsteuer zur Mitfinanzierung dieses Einkommens erhöht hat, bleibt den Menschen dennoch mehr Geld übrig als vorher. Viele
müssen nicht mehr für viel zu geringe Einkommen zur Arbeit gehen, denn
durch das Grundeinkommen sind die wichtigsten Ausgaben zum leben
bereits gedeckt. Somit arbeiten viele nur noch in Teilzeit. Das schaffte zusätzliche Arbeitsplätze und die Menschen sind viel motivierter bei der Arbeit, da sie sich nebenbei noch um eigene Interessen und Hobbys, sowie
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natürlich auch der Familie widmen können. Auch haben viele Menschen
sich mit ihrem „Hobby“ nebenbei selbständig gemacht und sorgen so mit
weiteren Steuern dazu, das Grundeinkommen zu stützen. Die Lebensqualität der Bewohner hat sich somit um ein Vielfaches gesteigert.
Mein Freund Fred 2025
von Heidi Brundig
Durch diese gesteigerte Lebensqualität, haben die Menschen ein viel
tieferes Verständnis und Empfinden für Natur, Tiere und ihre Mitmenschen entwickelt. Man trifft sich wieder mehr mit Freunden, Nachbarn
und Familie und sorgt somit für ein besseres soziales Umfeld.
Alte Menschen werden nicht mehr in Heime abgeschoben, denn die
Kinder haben nun wieder mehr Zeit, um sich um die „Alten“ zu kümmern. Man nimmt gerne wieder deren Können und Wissen an, welches
sonst verloren gegangen wäre.
Mehrgenerationen Wohn- & Lebensprojekte gibt es inzwischen in fast
jedem, noch so kleinen Ort.
Fred ist immer freundlich und niemals schlecht gelaunt. Ohne ihn könnte
ich nicht mehr alleine in meiner Wohnung sein. Er ist rund um die Uhr
für mich da. Zugegeben, ein guter Gesellschafter ist er nicht. Aber zum
Ausgleich skype ich mindestens einmal die Woche mit meinen Freunden.
Die sind im ganzen Bundesgebiet verteilt. Im Zeichen der Globalisierung ist jeder irgendwo anders gelandet und eben hängen geblieben.
Bei unseren virtuellen Treffen haben wir viel Spaß und man verliert sich
nicht aus den Augen. Natürlich sprechen wir auch unsere Probleme an
und geben uns gegenseitig Tipps.
Auch für die Kinder wurden neue Projektschulen ins Leben gerufen. Die
Schulen sind in ihrer Art ganz anders, viel praxisorientierter, geworden. Die
Kinder haben kein so großes Lernpensum mehr zu tragen, sondern sind
durch praktische Unterrichtsstunden viel mehr naturverbunden. Das Lernen
macht nun wieder Spaß, da die Kinder hier wieder Kind sein dürfen.
Über vieles der Wandlung des Kreises liesse sich noch berichten, doch
das Lagerfeuer ist schon längst nur noch eine Glut. Die Menschen in
dieser Runde wurden nicht müde, sich über diesen Wandel, der sich in
all den Jahren vollzogen hat, auszutauschen.
Eile hat hier niemand mehr, die Zeiten der Hetze und des Stress sind
lange vorbei. Die Bewohner sind entspannter geworden, was auch teilweise durch das Grundeinkommen geschehen ist. Dies hatte Vielen eine
große Last von den Schultern genommen und das Selbstwertgefühl der
Menschen gestärkt.
Bis zur Morgendämmerung saßen sie noch zusammen und machten
neue Pläne, was sich noch alles zur Steigerung der Lebensqualität im
Werra-Meißner Kreis tun läßt.
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Daher weiß ich auch unsere kleine Stadt im Werra-Meißner-Kreis zu
schätzen. Es ist alles vorhanden, was man zum Leben braucht und das
auf engstem Raum. Mein Vater hatte das vor einem guten Jahrzehnt
schon festgestellt und zog im Alter von immerhin 92 Jahren von Mannheim nach Witzenhausen. Er wurde über 100 Jahre alt und hat seine
Entscheidung nie bereut.
Die Menschen hier sind vernetzt und man kennt sich. Egal ob wir zum
Einkaufen, Bummeln oder zu einem Treffen in die Innenstadt wollen,
alles ist in Kürze zu erreichen. Auf der anderen Seite ist man ebenso
schnell in herrlicher Natur.
Durch die Uni sind viele Mensche aus fremden Ländern hier sesshaft
geworden. Wir müssen nicht in die Welt hinaus, die Welt ist zu uns gekommen.
In den Generationshäusern, ist die Betreuung der Senioren gut organisiert. Die Zentren werden ähnlich wie Hotels geführt. In den Seniorenzimmern wird gepflegt, Freunde und Bekannte können sich ebenso
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besuchsweise einmieten, aber auch junge Menschen, meist Studenten,
wohnen in einem Trakt.
Wenn mir Freds Hilfe nicht mehr ausreicht, ziehe ich gleichfalls in ein
Generationshaus. Natürlich sind die Kosten hierfür teurer wie meine derzeitigen Aufwendungen. Aber auch das haben meine Freunde schon
festgestellt: hier lässt es sich nicht nur gut leben, sondern obendrein vergleichsweise preiswert.
Selbst die gesundheitliche Versorgung ist super gelöst. Im Bedarfsfall
übermittelt Fred alle relevanten Daten, wie z.B. Blutdruck, Blutwerte und
welche Beschwerden aufgetreten sind. Falls nötig macht er einen Termin
aus und in den so genannten Arztmobilen wird vor Ort praktiziert.
Der nächste Montag ist wieder ein schlimmer Tag. Fred muss zur Inspektion. Zweimal jährlich werden die Pflegeroboter überprüft und die Programme den veränderten Ansprüchen angepasst. Manches mal hat er
danach auch wieder ein paar neue Wörter auf Lager. Na, ja auch ein
Roboter kann einem ans Herz wachsen. Falls er mich doch einmal nervt,
schalte ich die Sprachwiedergabe ab oder schicke ihn an seine Ladestation.
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Zwischen gestern und morgen
von Larissa Knapmeyer
„Wuaaaah!“ Die Personen springen erschrocken auseinander. Das
kleine Mädchen kommt als Erste neugierig näher. „B-b-b-bleib weg von
mir!“, hallt der angsterfüllte Schrei durch die Burg. Das Skelett springt
einen Schritt zurück: „Dein Monster kann mir nichts anhaben.“ Das Mädchen guckt erstaunt an sich runter: „Meinst du Hello Kitty? Die ist doch
nur aufgedruckt!“ Ein erzwungenes Lachen ertönt. „Na gut, wenn du
diese Meinung vertrittst.“ Er wird gemustert: „Ich kenn dich. Dein Bild
hängt im Gang. Du warst mal der Herrscher der Burg.“ „Das stimmt, ich
bin Hugo. Mit wem habe ich das Vergnügen?“ „Apple.“ „Zu meiner
Zeit gab es einen solchen Namen nicht, aber die liegt ja auch schon
ein paar Jahrhunderte zurück.“ „Ah ja“, sie guckt etwas skeptisch. Sein
Blick schweift zum Fenster. „Was sind das für Lichter?“, er guckt verwirrt,
„Befindet sich eine Wäscheleine über den Gewässern?“ „Häh? Was
für Gewässer?“ Apple versteht nichts. „Na, die blauen Fluten, die sich
unter uns langschlängeln.“ „Du meinst die Werra mit dem See. Deine
Wäscheleine ist eine Seilbahn, damit kannst du über den ganzen See
fahren. Der Strand ist ein beliebter Treffpunkt für alle. Die Lichter gehören zur Jugendherberge. Kennst du das Johannisfest?“ „Natürlich! Zu
meiner Zeit war es sehr beliebt.“ Apple guckt ungläubig: „Okay, das
und das Open Flair ziehen immer Massen von Besuchern an. Es sind
immer alle Jugendherbergen voll, deswegen wurde die neue in
Schwebda gegründet.“ Hugo guckt verwirrt: „Zu meiner Zeit war alles
viel kleiner.“ „Sagen meine Eltern auch immer. Es sind viel mehr Leute
hierhergezogen. Vor allem Alte. Das liegt wohl an der schönen Natur
und der Ruhe.“ Sie guckt kritisch. „Und was sollen diese grauen hohen
Monster an Betonmassen verkörpern?“ Sie lacht:
„Hochhäuser mit Wellnessbereich. Danach fühlt sich jeder wie neugeboren. Musst du mal ausprobieren.“ „Ich? Ich glaube nicht.“ Sie
grinst. „Kennst du Burg Hanstein?“ „Natürlich, mein ehemaliger Erzfeind
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wollt mich mit seinen Festen ausstechen.“ „Heute könnte er dir das Essen
liefern. Die Burg ist ein 5- Sterne- Hotel. Nur für gehobene Gäste wenn
du verstehst, trotzdem immer voll belegt.“ „Ich versteh nicht ganz, aber
wieso hast du eigentlich Zutritt zu meiner Burg?“ „Deine Burg dient gemeinnützigen Zwecken. Viel cooler als so ein Nobelhotel.“ „Gemeinhutzig?“ „Gemeinnützig! Gruppen können hier für niedrige Preise Lager
veranstalten.“ „Das klingt nicht schlecht.“ Er guckt zu den Sternen. „Wie
die Welt sich verändert hat.“
Apple reißt ihre Augen auf. Was für ein Traum. Vielleicht war der Besuch
heute im Kerker doch etwas zu viel.
Rückblick
von Salome Belling
„Wie sieht es draußen aus?“, fragte sie.
„Es ist kalt“, antwortete ich, während ich meine Schuhe von meinen
Füßen zog und sie unter die Heizung schob.
„Das beantwortet nicht meine Frage“.
Die Stimme kam aus der hinteren Ecke des Raumes. Dort, wo das alte
schwarze Ledersofa stand, auf dem sie immer saß.
Ich schwieg.
„Wieso hast du so lang gebraucht?“, fragte sie mit einem hässlichen
Unterton in der Stimme, der während der letzten Monate ihr Freund geworden war.
„Das Auto ist nicht angesprungen, ich musste das Fahrrad nehmen“,
sagte ich.
Seitdem alle Läden in nächster Nähe zugemacht hatten, brauchte man
mit dem Fahrrad eine halbe bis zu einer Stunde zum Lebensmittelladen.
Je nachdem wo man sich gerade befand.
Das Vorankommen mit dem Bus schien gänzlich unmöglich. Tagsüber
kamen die Busse unregelmäßig und nach Einbruch der Dunkelheit fielen
die öffentlichen Verkehrsmittel oft komplett aus.
„Pack den Einkauf in den Kühlschrank und setz dich dann zu mir, ich
habe uns Kaffee gemacht.“
Sie wollte nie in ein Altersheim und sie hasste es, nichts tun zu können.
–Das tat sie schon immer.
Aber nachdem meine Eltern zurück nach Berlin gezogen waren, weil
mein Vater dort wieder ein Jobangebot bekam, musste sie sich damit
abfinden.
Ich selbst hatte nach meinem Studium einen Arbeitsplatz eine Stunde
entfernt von hier gefunden.
So oft ich konnte kam ich sie besuchen.
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Ich setzte mich zu ihr.
„Sie haben mir wieder meine Rente gekürzt.“
„Ich weiß“, sagte ich. „Ich weiß.“
„Ausbeuter sind das.“
Ich schwieg.
„Würde dein Großvater sehen, wo ich gelandet bin, er würde es nicht
glauben.“
Ihre Hand zitterte stark, als sie nach der Tasse griff.
Sie hatte sich lange gehalten, das gefiel mir an ihr. Doch in den letzten
Jahren war auch sie alt geworden und ihr Gesicht war gekennzeichnet
durch Falten an den Schläfen und um die Mundwinkel herum. Ich
schloss für einen Moment meine Augen und nahm einen Schluck von
dem Kaffee.
Während mir der bittersüße Geschmack auf der Zunge zerfloss, ging
ich in meinen Gedanken zurück.
Ich sehnte mich sehr, nach meiner alten Umgebung. Zwar war sie noch
dieselbe, wie vor 10 Jahren, doch hatte sich viel getan.
„Wie geht es deinen Geschwistern?“
„Gut, denke ich.“
„Sie melden sich kaum bei mir“, sagte sie und legte ihre Stirn in Kraus.
„Sie haben viel zu tun.“
Umso trauriger, dass es offensichtlich kaum jemand geschafft hat hier
zu bleiben.
„Du hörst mir gar nicht zu!“
„Doch, doch.“
„Sie wollen meinen Lieblingsladen zumachen.“
Noch einer weniger.
„Ich hab’s gelesen. Es tut mir leid.“
„Du kannst ja nichts dafür.“
„Ich bring dir demnächst etwas Schönes aus der Stadt mit“, sagte ich.
Sie verstand nicht, wie es so weit kommen konnte. Ich konnte es ebenso
kaum begreifen.
Rückblickend auf das, was ich erlebt hatte, und auf das, was ich mit diesem Ort verband, schien diese Wandlung unmöglich zu sein. Doch sie
war da und sie hatte nicht vor sobald wieder zu gehen.
Die meisten öffentlichen Plätze für Jugendliche, die ich früher oft genutzt
hatte, sind heute nicht mehr vorhanden. Die Frage, die sich mir aufdrängte war jene, ob diese Umgebung veraltet ist, weil die Jugendlichen
alle in die Großstädte zogen, oder ob die Jugendlichen in die Großstädte zogen, weil die Umgebung veraltete.
Ich denke zurück, an die Tage, die wir bei schönem Wetter am See verbrachten.
Sobald die ersten Sonnenstrahlen rauskamen, waren wir die Ersten, die
sich in Gruppen an den See setzen und darüber redeten, wie glücklich
wir uns eigentlich schätzen konnten, hier aufzuwachsen.
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Jubiläum in Gefahr
Freundschaften, die (nicht) die Welt verändern.
von Sarah Grosser
Es ist eine schöne Woche für die 18-Jährige Ursula-Maria Meyer. Denn
sie zieht vom Wohnheim für Behinderte Kinder & Jugendliche in Reichensachsen ins Betreute Wohnen nach Eschwege. Das ist auch für sie
näher an dem Übungsraum von ihrem Fanfarenzug dran, in dem sie
Fanfare spielt. Sie macht auch mehrfach die Woche Sport & liebt es
auch zu singen. Sie ist eine erwachsene Frau wie jede andere auch.
Nur sie ist geistig Behindert. Das heißt: sie hat z.b. leichte Probleme
beim lernen. Oder sie hatte als kleines Baby elliptische Anfälle gehabt.
Das sind Anfälle die über das Gehirn entstehen können. Diese können
sehr verschieden aussehen. Man sieht & merkt diese Behinderung kaum.
Es ist halt so wie es ist. Jetzt ist sie gerade im betreuten Wohnen angekommen. „Wo ist denn das Apartment in dem ich einziehen soll?“
„Komm mit ich zeige es dir gerne.“ Sagt der Betreuer. „ok danke das
sie es mir gezeigt haben.“ Sagte Ursula als sie in das Apartment rein
kommen. „gern geschehen. Wenn du was wissen möchtest musst du nur
fragen.“ „ja mache ich.“ Der Betreuer ging aus dem Apartment. „so
jetzt erst mal die Taschen auspacken.“ Dachte Ursula sich & machte
sich an die Arbeit. Jetzt klingelt auch ihr Handy. Ihre beste Freundin
Marie ruft an. „Hallo Marie.“ Sagt Ursula fröhlich wie immer. Doch was
sie da hörte war nicht gerade schön. Denn Marie liegt mit einem gebrochenen Bein im Krankenhaus. „Hallo Ursula. Hier ist die Mama von
Marie. Sie wurde gerade mit einem gebrochenen Bein ins Krankenhaus
gebracht. & sie hat sich gewünscht, dass du sie besuchen kommst. “
„Soll ich wenn ich mit allem fertig bin zum Krankenhaus kommen?“ „nein
ich hole dich dann ab.“ „ok danke das sie mich abholen. Ich rufe sie
dann zurück wenn alles getan ist.“ „ja ist gut Tschüss.“ „Tschüss bis später.“ Jetzt muss es aber schnell gehen. Denn sie möchte unbedingt ihre
beste Freundin sehen. Marie ist eine der Freundinnen die Ursula trotz
ihrer geistigen Behinderung mögen. sie und die anderen kamen sie
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gerne im Wohnheim besuchen. Marie & Ursula kennen sich durch ein
Fußballspiel ihren gemeinsamen Lieblingsfußballverein (dem Adler Weidenhausen) im Kreis. Darauf waren sie schon als 7 jährige besonders
stolz das es hier viele Fußball- Handball & Musikvereine gibt, auch auf
die Werraland Werkstätten & auch auf die Sänger, Sängerinnen &
Bands hier im Kreis. Sie haben sich von Anfang an echt super verstanden. Wenn es mal streit gab redeten sie drüber und versöhnten sich
auch wieder. Während sie ihre Taschen auspackte & ihr Apartment so
langsam wie sie es sich wünschte wurde, kam Riccardo einer ihrer Mitbewohner zu ihr & fragte „na du bist bestimmt die Ursula-Maria Meyer.
Oder?“ „ja die bin ich. & wer bist du?“ „oh ich habe vergessen mich
vorzustellen. Ich heiße Riccardo Lehmann. Ich bin hier im Heimbeirat.
Du kannst immer wenn du Sorgen oder reden möchtest zu mir kommen.“
„Oh cool danke. Behältst du auch die Sachen die man dir erzählt für
dich?“ „Ja klar. Aber ich würde jetzt gerne alleine sein.“ „ok dann bis
dann“ „bis dann“. Riccardo geht aus ihrem Apartment. Jetzt ist sie endlich fertig & dann jetzt Maries Mama wegen abholen anrufen. „Hallo
hier ist Ursula. Ich wollte nur sagen das ich jetzt fertig bin mit allem.“
„ok ich bin in 5 Minuten da. Bist du gut angekommen?“„ja bin gut angekommen.“ „wo wohnst du denn jetzt?“ „Ich wohne da wo das Amtsgericht in der Straße ist.“ „ok bis gleich“ „bis gleich Tschüß“. 5 Minuten
später war die Mama von Marie da. „danke noch mal, dass sie mich
mitnehmen.“ „Nix zudanken“ „sag mal auf was warst du 2014 hier in
der Region besonders stolz?“ „da wurde Inklusion schon gelebt. & auch
das hier viel grün ist.“ „mehr als in Kassel?“ „ja genau“ „ok“. Jetzt sind
sie beim Krankenhaus angekommen. „Da ist ja Marie schon.“ sagte Ursula als sie ihre beste Freundin im Rollstuhl erkannte. „hallo Marie. Wie
geht es dir denn?“ „Hallo Ursula. den Umständen entsprechend bescheiden.“ „ja ich sehe es dir an.“ „Freue mich auch dich zusehen.“ „ja
aber du weißt ja wie ich es meine.“ „gut genug“. „Was hast du denn
angestellt?“ „Ich möchte nicht drüber reden.“ „Ok wollte nur fragen.“
„ich weiß.“ Sie redeten lange zusammen. Leider musste Ursula wieder
zurück. Marie & Ursula verabschieden sich von einander. Als Ursula
wieder im betreuten Wohnen ankam wurde sie von den anderen Be43
wohnern einmal so richtig aufgenommen. „Danke für die Willkommensparty. „Das ist eine sehr nette Begrüßung. Das habt ihr auch schön organisiert. Habe mich sehr drüber gefreut.“ Sagte sie als sie etwas sagen
sollte. Als die Party fertig war redete sie mit Riccardo. „Freut mich, dass
die Willkommensparty dir gefallen hat Ursula.“ Riccardo geht jetzt aus
Ursulas Apartment. Am nächsten Tag ging Ursula wieder zu Marie. Da
bekommen die beiden Freundinnen gesagt, dass Marie in 2 Tagen
wenn alles gut läuft aus dem Krankenhaus entlassen wird. Da sind die
beiden natürlich sehr froh drüber. „Da freue ich mich schon sehr darauf.“
Sagte Ursula als die beiden Freundinnen im Zimmer von Marie waren.
„und ich mich erst.“ freute sich Marie. „Sag mal Ursula, kommst du auch
zum Fußballspiel von Eschwege 07 gegen unsere Freunde hier in
Eschwege?“ „so weit ich weiß komme ich.“ „na dann ist es ja gut. Dann
können wir ja unser 10-jähriges Freundschafts-Jubiläum nachfeiern.
Oder? Denn das wollten wir letztes Jahr schon immer machen. Es hat
aber nie geklappt.“ „Na klar da wäre ich dabei. Nur was wollen wir
noch machen? Außer dem Fußballspiel anschauen?“ „Wir könnten ja
zum Kletterwald und klettern gehen. Was hältst du davon?“ „na das ist
ja mal eine gute Idee Marie. Auf die Idee wäre ich jetzt nicht gekommen.“ „du kommst auch auf gute Ideen.“ „ich weiß.“. So kam es auch.
Der Tag des Fußballspieles von Eschwege 07 & dem Adler Weidenhausen die Ursula & Marie „ihre Freunde“ nennen beginnt. Ursula &
Marie treffen sich am Eingang zur Torwiese hier lernten sich die beiden
Freundinnen kennen und freundeten sich auch gleich an. und die beiden
Freundinnen freuten sich auch dass ihre „Freunde“ das Spiel auch 3:1
gewonnen haben. „so jetzt können wir ja im Kletterwald so richtig unser
10 Jähriges nachfeiern.“ Sagte Ursula. „ähm Ursula. Das geht schlecht
mit meinem Bein.“ Sagte Marie. „schade aber wir könnten ins Kino
gehen. & dann anschließend an den Werratalsee.“ „ja das ist eine gute
Idee. Wenn es für dich ok ist würde ich den Eintritt bezahlen & das du
das Popcorn bezahlst.“ „Da wäre ich dabei.“. Beim Kino angekommen
entschieden sich die beiden das sie sich „die ewige Freundschaft“ mit
Til Schweiger anschauen möchten da dies für die beiden passend zum
10. Jubiläum ihrer Freundschaft fanden. Marie bezahlte den Eintritt und
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Ursula eine große Tüte Popcorn. Gut das Marie nur noch Krücken
braucht, denn für einen Rollstuhl gibt es zwar eine Rampe, aber Marie
mag es lieber wenn sich frei bewegen kann. Das hat sie jetzt durch die
Verletzung im Bein gelernt. Sie gehen in den Saal wo der Film laufen
soll. Als der Film fertig war gingen Ursula & Marie erst mal zum Werratalsee, danach zum Betreuten Wohnen & Ursula zeige Marie ihr Apartment. „wow das hast du dir aber schön eingerichtet.“ Sagte Marie als
sie sich umgesehen hatte. „danke soll ich deine Mama anrufen das sie
dich abholt?“ „ja gerne.“ Dies tat Ursula auch. 5 Minuten später kam
Maries Mama auch. „Freut mich, das euer Jubiläum so gut ablief.“
Sagte sie als Ursula & Marie ihr von ihrem Tag erzählten. Danach verabschieden sie sich & Marie & ihre Mama fuhren weg. Ursula machte
sich Bettfertig, packte ihre Tasche für die Arbeit am nächsten Tag, Sie
sagte sich: „Das war ein schöner Tag heute. Aber ich bin auch froh das
er auch rum ist.“ und legte sich schlafen. Auch wenn die beiden Freundinnen nicht wie geplant in den Kletterwald konnten. Aber sie sind auch
froh dass das Freibad in Eschwege wieder aufgemacht hat. Vielleicht
gehen sie da das nächste Mal rein wenn es auf hat. Es war wirklich
trotzdem ein schöner Tag. Als Maries Bein wieder richtig gesund war
gingen Ursula und Marie ins Freibad. Da wurde das Jubiläum erst mal
so richtig gefeiert. Denn die beiden Freundinnen hatten Ursulas Vereinskollegen & Mitbewohner & Maries Ärzte die sie während dem Beinbruch betreut hatten eingeladen. Es gab auch im Betreutem Wohnen
auch eine Überraschung für die beiden: der Adler Weidenhausen kam
zu besuch um den beiden Freundinnen zum Jubiläum persönlich zu gratulieren. Das war eine sehr schöne Überraschung für die beiden. Dieser
schöne Tag ging für die beiden viel zu schnell vorbei.
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In Herzen Deutschlands - der Werra-Meissner-Kreis
von Michael vor dem Berge
Wir schreiben das Jahr 2025. Ich sitze am Bootssteg des Meinharder
Skipper Clubs in Jestädt. Immer wieder ziehen Sportboote vorbei, deren
Besatzung freundlich herüber grüßt.
Wer hätte das damals im Jahr 2014 gedacht. Kurz nach der Wende
(Wiedervereinigung der beiden Deutschen Länder) ist es im WMK still
geworden. Industriebetriebe waren abgewandert, Arbeitsplätze gingen
verloren, die Bevölkerung hatte abgenommen. Viele Gemeinden waren
verschuldet und unter den hessischen Rettungsschirm geschlüpft.
Das hatte zur Erhöhung der Abgaben in den Gemeinden geführt,
Grundsteuer, Hundesteuer und vieles mehr. Das machte vor allem älteren Menschen, Rentnern und Pensioären Schwierigkeiten. Junge Menschen wanderten ab in Gebiete, wo Arbeitsplätze und höherer Verdienst
locken. Die Gesellschaft im WMK überalterte. Tourismus lief nur
schwach und ungleichmäßig. Warum?
Durch die Abwanderung waren die Immobilienpreise gesunken, es gab
kaum noch Neubauprojekte. Warum nur und was konnte man tun?
Der WMK liegt im Herzen Deutschlands, in einem landschaftlich super
attraktiven Gebiet, mit Wasser, Bergen, Burgen ausgedehnten Wäldern
und Spazierwegen.
Einfach so hinnehmen, resignieren oder was?
Das Jahr 2014 brachte die Wende, im Denken und im Handeln.
Blicken wir zurück:
Die Bürgermeister aller Städte und Gemeinden treffen sich zu einem
Meeting auf dem Hohen Meissner. Ideen und Ablehnung treffen hart
aufeinander. Die eine Seite findet neue Ideen ganz toll, andere halten
Ideen für Spinnerei und ein großer Teil hält das alles für überhaupt nicht
finanzierbar – also unmöglich.
Dann kommt ein guter Vorschlag. Man könnte es vielleicht doch versuchen, mit den Erfahrungen, Wissen und Zeit der Pensionäre und Rentner.
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Diese Leute müssen nicht angestellt, also keine neuen Planstellen geschaffen werden. Die geringe Kostenerstattung kann sich jede Gemeinde leicht leisten.
In einem zweiten Meeting kommt es zu einer Entscheidung. Mit sofortiger Wirkung stellt jede Stadt 2 Rentner und jede Gemeinde 1 Rentner
an, die eine Arbeitsgruppe bilden. Jeden 1. Montag im Monat trifft sich
diese Arbeitsgruppe und erarbeitet neue Vorschläge, startet Projekte
und überwacht diese.
Da Industrie nicht so leicht zurück zu bringen ist, beginnt man mit der
Förderung des Tourismus. Mit sanftem Tourismus, der mit der Natur im
Einklang steht. Bald ist auch die EU überzeugt und steigt mit in die Finanzierung ein. Das Radwegenetz wird weiter ausgebaut und, wo notwendig, restauriert. Und was ist mit der Werra? Eine ungenutzte
Attraktion. Dabei handelt es sich um eine Bundeswasserstraße. Schnell
kommt es zu Verhandlungen mit dem Wasser- und Schifffahrtsamt in
Hann. Münden. Es wird beschlossen die seit Jahren defekte Schleuse
vor Hann .Münden wieder instand zu setzen und Hindernisse im Flußbett zu entfernen. Somit ist die Werra für Sportboote bis Wanfried wieder befahrbar.
Inzwischen ist die Autobahn von Kassel bis Reichensachsen fertig gestellt. Reisende aus Kassel erreichen nun den WMK in nur 30 Minuten.
Der WMK ist per Bahn, mit dem Auto und dem Boot leicht erreichbar.
Entlang der Werra wurden in Witzenhausen, Bad Sooden, Eschwege
und Wanfried kleine Häfen für die Sportboote angelegt. Dadurch bildeten sich schnell neue Gastronomiebetriebe an den Häfen und weiteren Bootsstegen. Wo nun wieder Verkehr ist, braucht man auch
Tankstellen, Service-Betriebe und Zubehörhändler. Ein pfiffiger Ausflugsbootbetreiber aus Hann. Münden hat von der neuen Möglichkeit
erfahren und richtet eine regelmäßige Schiffsverbindung bis Wanfried
ein, auf der auch Fahrräder mitgenommen werden können. Jetzt können
Radtouristen – und ihre Zahl ist enorm gestiegen, nachdem die Kraftstoffpreise inzwischen auf 4,00 € je Liter gestiegen sind – mit dem Rad
das Werratal rauf fahren und nach einer Übernachtung mit dem Schiff
zurück fahren. Ein Busunternehmer aus Eschwege richtet eine Busver47
bindung mit Fahrradanhänger von Kassel über Melsungen, Eschwege
bis Bad Sooden ein. (2x täglich am Wochenende)
Gezielte Direktwerbung bei Firmen wie VW in Kassel oder B. Braun in
Melsungen lässt die Zahl der Besucher ständig wachsen.
Inzwischen haben die Gemeinden und deren Bürgermeister umgedacht
und locken die Interessenten mit besonders günstigen Steuersätzen und
niedrigen Gebühren. Kleine dezentrale Windkraftanlagen in Neuerode,
bei Wanfried und bei Jestädt sorgen in Kombination mit Solaranlagen
und Wasserkraft für eine preisgünstige und sichere Stromversorgung.
Das alles bleibt den Einwohnern von Göttingen, Hersfeld, Melsungen
und Kassel (man ist ja Internet vernetzt) nicht verborgen und auf Grund
der guten Verkehrsanbindung suchen nun wieder viele eine Immobilie
oder mindestens ein Ferienhaus im WMK. Die Bürgermeister der Gemeinden nutzen das und bieten entsprechende Baugelände für Eigenheime und Feriensiedlungen an, ähnlich wie an der Müritzer Seenplatte
nach der Wende.
Schon seit 2011 hatte der Wanfrieder Bürgermeister mit einer ähnlichen
Aktion einige Holländer in sein Gemeinegebiet geholt.
Jetzt kommen noch viele Weitere, da die Werra ja wieder mit dem Boot
befahren werden kann.
Der sehr aktive Bürgermeister von Eschwege erkennt das Potenzial und
setzt sich nun endlich für noch mehr Attraktivität seiner zentral gelegenen
Stadt ein und eröffnet am Rande von Eschwege einen Sportflugplatz für
1 und 2 motorige Sportflugzeuge, Leichtflugzeuge sowie Hubschrauber.
Bereits seit dem Jahr 2020 erholt sich das Herz der Region in der Mitte
Deutschlands wieder sehr schnell. Durch die vielen Bauprojekte geht
es Handwerkern und den mittelständischen Betrieben wieder gut, sie suchen Arbeitskräfte aus Nah und Fern und damit ist Zuzug aus anderen
Gegenden Deutschlands und Europas gewährleistet.
Wo die Wirtschaft gut läuft lässt auch die Industrie nicht lange auf sich
warten und siedelt Zweigbetriebe und Niederlassungen an.
Ja, wer hätte das damals 2014 gedacht, von der kränkelnden Ente zum
stolzen Schwan – der Werra Meissner Kreis.
Ich bin froh, dass ich hier leben darf – im Herzen Deutschlands.
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Ich träumte …
von Peter Klebe
Ich träumte, wir sitzen auf der Terrasse, die Sonne scheint warm
Schon im Februar, ich hab Dich im Arm,
Wir blicken Richtung Leuchtberg, genießen die Zeit,
die uns bleibt, ganz entspannt zu zweit.
Morgen fahren wir nach Eschwege, gehen in die Stadt,
die viele, kleine Fachgeschäfte hat,
dann in die Schloss Galerie, mit Rolltreppen drin,
und ins Café Wolf, wo ich manchmal zum Frühstücken bin.
Wir stöbern in den Läden und kaufen auf dem Markt,
was wir brauchen, und haben sogar noch gespart,
weil wir nur kaufen, was auf dem Einkaufszettel steht,
und weil s nicht nur um Schnäppchenjagd geht.
Ich träumte, das wir gemeinsam auf eine Radtour geh´n,
durchs Werratal, vorbei an den See´n,
Flussabwärts zur Perle, vorbei am Ludwigstein,
im Hof Kindvatter in Witzenhausen kehren wir ein.
Da gibt s kleine Gerichte, feinen Kuchen vom Buffet,
Wasser, Apfelschorle und Kaffee oder Tee,
frisch gestärkt geht s zurück, das Wetter ist schön,
obwohl wir fast 70 sind, ist das kein Problem.
Ich träumte, in Eschwege gibt s keine Ampeln mehr,
die wurden alle ersetzt durch den Kreisverkehr,
und die Autos gleiten vorbei fast lautlos und still,
und die Luft ist sauber, ein tolles Gefühl.
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Ich träumte, dass McDonalds 10.000 neue Stellen schafft,
den Artikel hat die neue Werra Rundschau gebracht,
Ende März 2025 ist Abgabeschluß,
für Bewerbungen, die man bis dahin abgeben muss.
Endlich Zuhause
von Marie Wilhelm
Denn ab Mai tritt ein neues Gesetz in Kraft,
das diese neuen Arbeitsplätze schafft,
jede Filiale braucht dann ein Müllbeseitigungs-Team,
die zum Müllsammeln am Morgen über die Parkplätze zieh´n.
Der Zug hält. Sie steigt aus. Der Bahnhof ist leer, nur ihre Mutter steht
an ihrem Auto und wartet auf sie. Sie läuft auf ihre Mutter zu und umarmt
sie zur Begrüßung. „Na endlich!" ,sagt ihre Mutter, „ich habe mich
schon die ganze Woche darauf gefreut, dass du heute nach Hause
kommst". „Ich mich auch", lügt sie und lächelt ihre Mutter an. Es war
ihre schon immer alles zu klein hier gewesen, hier war einfach nichts
los. Sie wollte schon immer in einer großen Stadt wohnen. Ihre Mutter
lädt ihre Taschen in das Auto und sie steigen beide ein.
Ich träumte, man denkt über neue Bahnstrecken nach,
eine über Wanfried und Treffurt nach Eisenach.
Und eine die Eschwege mit dem Flugplatz Kassel Calden verbindet,
wo man problemlos Flüge nach ganz Europa findet.
So fängt dann der Urlaub schon auf dem Eschweger Stadtbahnhof an,
weil man dann ganz bequem mit dem Cantus starten kann,
Eine Stunde später steht man am Flugplatz und checkt ein,
und genießt den Kaffee vor dem Abflug, so schön kann Urlaub sein.
Doch jeder Traum endet irgendwann,
das Leben holt mich ein, doch mir wird klar,
wenn man nur fest genug daran glauben kann,
weiß ich, werden Träume wahr...
Ihre Mutter fährt los. Sie hatte ihr immer geraten in der Heimat zu bleiben, wo sie einen Ausbildungsplatz im Reisebüro ihrer Tante sicher gehabt hätte und immer nah bei ihren Schulfreundinnen und ihrer Familie
gewesen wäre. Aber sie hatte sich gegen den Willen ihrer Mutter dagegen entschieden, war von zu Hause weggezogen, um in einer großen Stadt glücklich zu werden.
„Guck mal, deine alte Schule!", sagt ihre Mutter. Sie schreckt auf. Sie
betrachtet das alte Gebäude im Vorbeifahren und denkt über ihre Schulzeit nach. Sie hatte immer viel Spaß gehabt mit ihren Freundinnen. Nach
dem Unterricht waren sie oft zusammen zum Schwimmen gegangen.
Im Winter ins Eschweger Hallenbad und im Sommer an den See.
Sie hatte ihre Freundinnen, seit sie von hier weg gegangen war, nur
selten gesehen, obwohl viele noch hier wohnten oder zurück, gekommen waren. In der Großstadt hatte sie sich, anders als sie erwartet hatte,
schwer getan, neue Freunde zu finden. Anders als hier, wo sie immer
jemanden getroffen hatte, sobald sie aus dem Hause ging, fühlte sie
sich in der großen Stadt oft einsam.
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Ihre Mutter biegt ab auf die Werrabrücke und sie denkt, wie schön
Eschwege doch eigentlich aussah mit seinen Fachwerkhäusern, verglichen zu den Hochhäusern aus ihrem Wohnblock in der Stadt. Der ist
ihr so vertraut. Sie hatte in den letzten Monaten Schwierigkeiten gehabt,
Geld für die Miete ihrer Wohnung aufzubringen. In ihrer Beziehung lief
es auch nicht mehr so gut.
Ihre Mutter biegt in die Straße ein, wo ihr Elternhaus steht. „Gleich sind
wir da“, sagt ihre Mutter.
„Endlich zu Hause", denkt sie.
Wir schreiben das Jahr 2025 in Laudenbach
im Werra-Meißner-Kreis
von Burkhard Burschel
Wir haben es richtig gemacht. Wir haben in de n 70iger Jahren die
richtigen Weichen gestellt.
Den Wahnsinn der Zentralisation haben wir nicht mit gemacht.
Die Grundlage unseres Erfolges war die Übernahme der Bahnstrecken.
Wir haben die kleinen Bahnstrecke n als Lebensadern ausgebaut. Es
kam billiger, als die Züge durch dutzende Busse zu ersetzen. Wir haben
die Bahnhöfe unter gewissen Auflagen günstig verkauft. Die neuen Besitzer haben sich verpflichtet, die unteren Räume als Bahnshop, Warteraum mit Toilette und Kiosk zu betreiben. Eine ideale Stelle für die
"Hausfrau". Wenn nichts los ist, kann sie private Sachen erledigen und
wird nur bei Bedarf durch eine Klingel gerufen. Die Lagerschuppen fungieren als Verteilerzentrale für sämtliche Läden und Firmen in unserem
Dorf. Dafür wurde eine Vollzeitstelle geschaffen.
Da wir hier nur kurze Strecken zu bewältigen müssen, sind die Transporter alles Elektrofahrzeuge. Die längste Strecke beträgt ca. 3 km bis
zur weitesten Abladestelle.
Jeden Tag kommt ein oder mehrere Waggons mit Post und Waren für
unser Dorf. Wir haben ca. 1400 Einwohner. Im Dorf gibt es mehrere
kleine Lebensmittelgeschäfte auf das Gemeindegebiet verteilen, eine Apotheke, einen Zahnarzt, einen Praktischen Arzt, eine Gärtnerei, mehrere
Gaststätten, eine Disco, ein Elektrogeschäft und ein Bekleidungsgeschäft.
Es sind keine großen Märkte wie Aldi oder Lidl, aber dafür eben mehr
Menschen davon. Und was nicht vorrätig ist, wird bestellt und ist am
nächsten Tag da.
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Wir haben die Infrastruktur, die unsere Väter und Großväter mit der Eisenbahn in Jahrzehnten aufgebaut haben nicht totgemacht, sondern
ausgebaut.
Vor ca. 30 Jahren kam dann das Internet. Wir haben die Bahnstrecken
genutzt und an ihnen Glasfaserstrecken entlang gelegt und die Bahnhöfe als Knotenpunkte ausgebaut. Dadurch konnten wir unsere Dörfer
viel schneller als andere Kreise mit schnellem Internet versorgen.
Unsere Bürgersteige sind so konstruiert, dass wir immer wieder ohne
großen Aufwand Leitungen tauschen oder nachverlegen können. Dies
war am Anfang etwas teurer, aber auf Dauer gesehen, wesentlich billiger. Dies vorausschauende langfristige Denken haben wir von unseren
Eltern und Großeltern übernommen.
Kurzfristige Entscheidungen gibt es bei uns nicht.
Unser Dorfleben wurde durch das in den1980iger Jahren gebaute Bürgerhaus weiter gefördert. Schon beim Planen und auch bei den Bauarbeiten wurden die Bürger und die ansässigen Firmen mit einbezogen.
Es sollte kein Prachtbau werden, in dem sich ein geltungsbedürftiger Architekt verwirklichen will, sondern ein zweckmäßiger Bau, der leicht zu
pflegen ist und Jahrzehnte überdauert. Daher war von vorn herein auch
ein Flachdach indiskutabel.
Es wurde ein eckiges Gebäude mit schrägem Dach ohne Schnörkel,
von dem auch keine großen Folgekosten erwartet werden mussten.
Auf der in Saal integrierten Bühne feierten auch unsere Hoaderlumpen",
die Laienspielgruppe unseres Dorfes, jedes Jahr große Erfolge.
Das Dorfleben ist bei uns sehr ausgeprägt, da die meisten Einwohner
ihren Arbeitsplatz im Ort haben und dadurch meistens am Ort sind. Und
trotzdem sind wir über alles informiert und weltoffen.
Es wurden viele kleine Firmen gegründet, die ihre Geschäfte im Dorf
und übers Internet abwickeln. Deshalb haben wir auch in unserem Dorf
viele Arbeitsplätze geschaffen und erhalten. Dadurch schonen wir auch
die Erdölvorräte für unsere Nachfahren.
Und wir sind zufrieden und nicht gierig.
Auf unserem Bahnhof stehen auf den Abstellgleisen Waggons für Sperrmüll, den gelben Sack, Altpapier und Eisenschrott Der Bahnhofswärter
überwacht zu den Öffnungszeiten den abgesperrten Bereich, damit
auch getrennt gesammelt wird.
Dort wurden viele Sachen zentralisiert. Zum Beispiel wurden auf der grünen Wiese riesige Einkaufszentren errichtet, die man aber nur mit dem
Auto erreichen kann. Ältere Mitbürger müssen sehen, wo sie bleiben.
Ich habe gerade angefangen, einen Roman zu lesen, in dem eine Parallelweit beschrieben wird.
Über 80% des Gütertransportes erfolgen über die Straßen.
Wir haben auch unsere 2 Schulgebäude behalten und unterrichten dort
von der ersten bis zur zehnten Klasse. Das Internet macht es möglich.
Die Schüler müssen nicht ab der fünften Klasse durch die Gegend geschippert werden. Allein die Zeitersparnis ist für die Schüler und ihre
Freizeit ist enorm.
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Es sind überall riesige Hallen als Verteilerzentren gebaut worden. Die
Folge sind permanent verstopfte Straße, genervte Anlieger und ein riesiger Spritverbrauch.
Die Bundesbahn hat sich auf Schnellstrecken konzentriert. Wozu?
Warum muss man innerhalb kürzester Zeit irgendwo sein?
Es wurden Vorzeigeprachtbauten gebaut, die inzwischen marode sind
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und aus Kostengründen nicht renoviert werden können, und es daher
günstiger ist, sie abzureißen.
Für Neubauten ist aber auch kein Geld mehr da. Daher Schwimmbad
und Bürgerhaus ade.
Die schlimmsten Worte in dieser Welt sind Wirtschaftswachstum und
einsparen.
Warum muss die Wirtschaft immer mehr wachsen und wohin?
Wenn ich immer mehr wachse (z.B. mein Bauch) werde ich irgendwann
krank. Genauso geht es dort der Wirtschaft.
Es wird dort versucht, da der Markt mittlerweile gesättigt ist, über den
Preis noch mehr Waren zu verkaufen.
Dadurch sind große Handelsketten innerhalb kürzester Zeit Pleite gegangen.
Die Waren, die nicht verkauft werden können, werden entsorgt. Dadurch
werden Tausende Tonnen Lebensmittel vernichtet.
Einmal ist hier die Autoindustrie in Schieflage geraten. Die Regierung
führte eine Abwrackprämie für Autos ein. Jeder der sein altes Auto
abgab, und sich ein neues Auto kaufte, bekam 2.500,-- Euro dazu. Steuergelder! Eigentlich hätte die Autoindustrie, nachdem sich ihre Lage wieder stabilisiert hatte, das Geld zurückzahlen müssen. Weit gefehlt! Es
kam kein "Pfennig" zurück!
ln dieser Welt sinken die Löhne immer mehr. Dadurch sinken aber auch
die gezahlten Steuern, während die Warenkäufe und andere Sachen
immer teurer werden, wie z.B. die Energiekosten. Die Menschen arbeiten nur noch für ihre Wohnung, Energiekosten und Lebensmittel.
ln den großen Lebensmittelmärkten arbeiten meist nur 2-4 Verkäufer für
wenig Geld. Die Besitzer der Handelsketten aber sind Milliardäre.
Durch die Niedriglöhne können die Arbeitnehmer aber auch nicht viel
zur Kaufkraft beitragen und erst recht nicht für das Alter vorsorgen. Die
Rente deckt teilweise nicht die Lebenshaltungskosten. Als Alternative
bleibt oft nur der Weg zum Sozialamt Und woher kommen diese Gelder? Vom kleinen Steuerzahler, der schon kein Geld hat.
Da in dieser Welt ein riesiger Energiebedarf besteht, wird z.B. die Solartechnik subventioniert. Die Aktienkurse dieser Firmen sind anfangs
schnell gestiegen. Dann wurden aber weniger Solaranlagen verkauft
und die Firmen fingen an zu wanken. Der Erfolg der Firmen war fast nur
den Subventionen zu verdanken. Nur die Subventionen müssen ja auch
irgendwo herkommen.
Und das sind die kleinen Steuerzahler. Die großen Steuerzahler gehen
ins Ausland.
Und dann gibt es noch die Banken, die wild mit den Einlagen spekulieren. Dadurch gab es eine große Bankenkrise.
Welche Subventionen bekommt der kleine Steuerzahler? Die Strompreise sind kaum noch zu bezahlen.
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Seine Schuld
von Anna-Lena Möller
Er steht am Straßenrand. Diese Ruhe. Herrlich. "Eine Kleinstadt hat eben
doch seine Vorteile", denkt er sich und genießt die Sonne. In Eschwege
ist alles friedlich. Er sieht Kinder spielen, Erwachsene spazieren gehen,
alle genießen das schöne Wetter. Im nächsten Moment hört er etwas.
Bam! Was zur Hölle war das? Er ist verwirrt, weiß nicht recht, was zu
tun. Da, schon wieder. Geräusche, als würde ein riesiges Flugzeug über
seinen Kopf fliegen. Sein Blick wandert nach oben. "Wann ist es so dunkel geworden?", fragt er sich. Seine Gedanken wurden durch einen weiteren ohrenbetäubenden Knall unterbrochen. Langsam breitet sich Panik
in seiner Umgebung aus. Er hört Leute schreien. Wo ist die Idylle hin?
Alles um ihn herum scheint sich zu verändern. Die Stille wird durch zu
viele Geräusche ersetzt. Er zuckt zusammen, jedes Mal, wenn er ein anderes Geräusch wahrnimmt. Diese lauten schrillen Töne. So viele
Schreie. Er selbst bleibt still, da er gar nicht realisieren kann, was gerade
geschieht. Es ist, als würde sein Gehirn nicht arbeiten. Er versucht nachzudenken, doch es will ihm einfach nicht gelingen. Ein leeres Nichts.
Gedanken verirren sich. Alles nicht so, wie es sein soll. Aber was geht
hier vor sich? Warum alle schreien, alle in Panik sind, interessiert ihn
nicht. Er steht noch immer an derselben Stelle. Es spielt sich direkt vor
seinen Augen ein Horrorszenario ab, jedoch scheint er die Augen vor
der Realität zu verschließen. Versucht er sich einzureden, das alles geschieht nicht? Denkt er noch immer, es sei ein Traum? Er beginnt die
Hitze zu spüren. Leider kann er nicht darüber nachdenken, wo sie herkommt. Er steht noch immer an derselben Stelle. Erstarrt, gedankenlos.
Langsam kommt er zu Bewusstsein. Auf einmal schießen ihm tausend
Fragen durch den Kopf: Wieso die Panik? Wieso all die Schreie? Wieso
ist es so heiß um ihn herum? Wieso ist er alleine an der Straße? Wieso
fällt es ihm schwer, in die Ferne zu gucken? Das Schlimmste für ihn war,
zu realisieren, dass er die Antworten auf all diese Fragen ganz genau
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kannte. Er weiß, wieso das alles geschieht. Es war vorhersehbar, auch
wenn in ihm immer die Hoffnung schlummerte, es wäre nicht der Fall.
Die Hitze wird spürbar stärker. Es ist fast so warm wie im Hochsommer,
Tendenz steigend. Er blickt nach oben und zuckt zusammen. Noch ein
Knall. Deutlich lauter. Ohren schmerzen. Seine Augen können den Himmel nicht entdecken. Ist er verdeckt? Das bedrückende Grau über ihm.
Um ihn herum. Es ist überall. Die Luft ist schwer. Er kann kaum atmen.
Menschenschreie sind nur noch aus der Entfernung zu hören. Sind alle
geflohen? Er blickt sich um. Straßen sind leer, die Luft schwer, er ist still.
Noch immer scheint ihn die Situation nicht zu ergreifen. Die Angst, die
er verspüren sollte, ist einfach nicht da. Nichts. Ist es seine Schuld? Hätte
er es verhindern können? Er steht noch immer an derselben Stelle. Das
Sprechen fällt ihm mit jedem Moment schwerer. Zu viel Schmutz in der
Luft. Unrein. Grau. Das Atmen wird mehr und mehr zur Qual. Das Chaos
um ihn wird immer schwerer zu durchschauen. Er sieht Gesteins- brocken, die sich dem Boden nähern. Der Vulkan spuckt. Er steht immer
noch an derselben Stelle. Er setzt sich langsam auf den Boden. Er kann
kaum noch gucken, kaum noch atmen. Es ist seine Schuld und er weiß
es genau. Wäre seine Gier nach dem im Inneren des Meißner verborgenen Gold nicht zu groß gewesen, wäre dieser wohl nicht noch einmal
ausgebrochen. Es ist ihm offensichtlich erst zu spät bewusst geworden.
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Hamburg
von Leonard Weber
In Grebendorf 2025
von Sabine Groß
Die Prognosen stehen schlecht für Eschwege. Der Demographiewandel
scheint unaufhaltbar und auch die Wirtschaft geht dem sicheren Ende
zu. Allen voran prognostiziert Olaf, ein Mathematiker eine Bevölkerungszahl von 1000 im Werra- Meißner Kreis bis 2025. Er berechnet
sämtliche Faktoren und ist sich sehr sicher. Die Schulen werden zusammen geführt, Kitas geschlossen und für Fußballvereine Fahrgemeinschaften gebildet werden müssen. Als positiver Nebeneffekt werden die
Preise für Wohnungen und Häuser steil abfallen. Er ist sich sicher. „Traurig, aber wahr“, sagt er gerne. Noch einmal rechnet er auf Antrag und
ein wenig aus Schadenfreude die vorliegenden Daten durch. Er scheint
keinen Fehler gemacht zu haben. Er hat noch nie Fehler gemacht. Seine
Ehrenprofessuren an drei Universitäten hat er sich verdient.
Das hat ja mal wieder geklappt. Um kurz vor 10 Uhr treffe ich mich an
der Straße mit Frau Weller. „Hallo, wie geht’s?“ „Na, das war ein anstrengendes Wochenende. Wir mussten ja noch vom Angerfest alles aufräumen. Und im Heimatverein haben sie nicht genügend Leute, die da
noch mithelfen können.“ „Aber bei dem schönen Wetter war es wieder
einmal ein gelungenes Fest.“ Seit einem halben Jahr gehen wir dienstags
zur Gymnastik. Die findet im Schlosshof statt. Anfangs gab es da einige
Widerstände zu überwinden. „Wird es nicht die Arbeit in der Gemeindeverwaltung stören, wenn vom Hof im Dreivierteltakt Klänge aus der
Musikbox ertönen?“ So konnte man damals hören. Inzwischen wird die
halbe Stunde aber toleriert. Und gelegentlich macht auch einer von der
Verwaltung mit. Das ist möglich, seit die gleitende Arbeitszeit eingeführt
worden ist. Abgeguckt haben sich die Grebendörfer das mit der Gymnastik von den Jestädtern. Die haben schon seit zwei Jahren damit begonnen. Dort wollte man den Mehrgenerationenspielplatz aktivieren.
Und mit der Gymnastik ist das auch gelungen. Und nun haben einige
Jestädter, und nicht nur Omas, entdeckt, dass man sich an den Geräten
einen angenehmen Ausgleich für die Gartenarbeit schaffen kann.
An der Ecke zur Grubenstraße, wo früher einmal ein Brunnen stand, an
den noch immer ein Schwenkhahn erinnert, stoßen wir auf Frau Ziegel.
„Hallo, heute mit Rollator, was ist los?“ „Ich bin doch letzte Woche so
fürchterlich hingefallen. Mit Gartenarbeit ist es nun aus.“ „Was willst du
denn jetzt machen?“ „Ich habe mich entschlossen, einen Rasen anzulegen. Dann können die Enkel wenigstens Federball spielen. Nächste
Woche kommt der Willi vom Verein des Gemeindebetreuungsdienstes.
Mit einer kleinen Fräse wird er mein Land durcharbeiten.“
Im Schlosshof sind schon elf Frauen versammelt. Eine hat dieses Mal
ihren Mann mitgebracht. Er braucht, wie Frau Ziegel, einen Rollator.
Nachdem es sich herumgesprochen hat, dass es Übungen gibt, die man
2024 steht das Wasser zu hoch - Hamburg muss umgesiedelt werden.
Der Werra- Meißner-Kreis scheint die einzige Möglichkeit zu sein. Innerhalb von fünf Monaten steigt die Bevölkerung enorm an. Olaf war sich
sicher. Doch damit hatte er nicht gerechnet.
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auch sitzend auf dem Rollator mitmachen kann, wollte er das mal ausprobieren. Die Übungsleiterin, Frau Käse kommt gerade aus dem
Schloss mit einer Kabeltrommel für ihren Verstärker. Aber sie ist nicht alleine. Mit ihr kommen ein paar Frauen. Und die stellt sie uns auch gleich
vor. Es sind Eschwegerinnen vom Seniorenforum, die sich unsere Gymnastik anschauen wollen. Die überlegen nämlich, ob sie etwas Entsprechendes auf dem kleinen Brunnenplatz am Alten Steinweg einrichten
können.
Die Musik wird eingeschaltet. Wir bilden einen Kreis. Die Eschwegerinnen nehmen wir gleich hinein. Mit einer einfachen Schrittfolge stimmt
sich die Gruppe auf einander ein. In der Hauptsache sind es immer die
gleichen Übungen, die wir machen. So braucht nicht viel erklärt zu werden. Frau Käse korrigiert gelegentlich jemanden, ansonsten macht sie
alles vor.
Wir beenden die Gymnastik immer, wie wir sie begonnen haben. Es
wird ein Kreis gebildet. Und als kleines Ritual wird die Schrittfolge vom
Anfang wiederholt.
Gestern hatte Frau Luder Geburtstag. „Möchte jemand von dem übrig
gebliebenen Kuchen haben. Ich besitze leider keine Gefriertruhe. Und
alleine aufessen, das kann ich mir bei meiner Figur nun beim besten Willen nicht leisten.“. Frau Mette bietet ihr an, den Kuchen in ihrer Gefriertruhe aufzubewahren. Sie wohnt ja direkt gegenüber von Frau Luder.
„Bis zum Heimatfest habe ich Platz“. So sind sich die beiden schnell
einig. Wir sagen tschüss und wünschen den Eschwegerinnen viel Erfolg.
Als wir im März mit der Gymnastik angefangen hatten, konnte man
sehen, wie an den Fenstern des Schlosses das eine oder andere neugierige Gesicht auftauchte. Inzwischen hat man sich aber an uns gewöhnt. Leider muss bei Regen die Gymnastik ausfallen. Nur in den
Schulferien, da dürfen wir die Turnhalle besuchen. Dann kommen auch
hin und wieder Enkelkinder mit Die freuen sich, wenn sie erst mal durch
die Turnhalle rennen dürfen. Wenn aber die Omas mit ihren Übungen
anfangen, dann kommen die Kinder aus dem Kichern nicht mehr heraus.
Ich gehe nicht direkt nach Hause sondern mache noch einen kleinen
Umweg. Ich will am Informationskasten der Bürger vorbei gehen.
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Vielleicht hängen die Fotos von dem Angerfest schon aus. Frau Weller
schließt sich mir an. Der Weg zum Schaukasten ist zuzeit versperrt. Die
Straße musste aufgerissen werden für die Warmwasserleitung zum
Schloss. Im alten Schulgebäude am Friedhof steht das neue Blockheizkraftwerk, auf das Grebendorf zu Recht sehr stolz ist. Es wurde von der
Genossenschaft Bürgerenergie gebaut. Die Sporthalle mit dem Bürgerhaus und die Schule sind schon angeschlossen. Nun wird die Leitung
zum Schloss gebaut. Wir müssen also einen kleinen Umweg hinnehmen.
Der Informationskasten ist ein Projekt des Gemeindebetreuungsdiensts.
Als der sich vor 10 Jahren umstrukturierte, kam so richtig Schwung hinein. Der Heimatverein hat damals den Kasten gebaut und auch aufgestellt. Schließlich nutzt er ihn ja auch regelmäßig. Wenn man eine
Mitteilung machen möchte, wendet man sich an Frau Kloht vom Unterdorf. Die hat den Schlüssel zu dem Schaukasten.
Die Fotos vom Angerfest sind noch nicht ausgestellt Mein Blick fällt auf
ein Blatt der Meinhardschule. Sie sucht freiwillige Helfer, die sich jeweils
an einem Vormittag um den Milchausschank kümmern. Nachdem die
EU-Richtlinien geändert wurden, hat die Schule vom Gesundheitsamt
die Genehmigung bekommen, den Kindern frische Milch auszuteilen.
Der letzte Milchbauer in Grebendorf, der vor einigen Jahren auf Bio
umgestellt hat, bringt jeden Vormittag zwei große Kannen voll Milch.
Die kommt dann wirklich frisch von der Kuh.
Wenn ich auch enttäuscht bin dass die Fotos noch nicht da sind, nehme
ich eine andere Mitteilung mit Genugtuung auf: Mein Filmvorschlag im
Dorfkino wurde angenommen. Im ehemaligen Gasthof im Bernstal hat
sich schon vor 6-7 Jahren ein Kinoclub etabliert. Das ist kein Verein, sondern eine offene Gruppe. Da kann jeder mit machen, wie es ihm gefällt.
Kosten entstehen praktisch keine, gerade einmal im Winter die Heizkosten für den Raum und dann natürlich für die Beleuchtung. Dafür steht
ein Sparschwein auf dem Tisch. Jeder steckt nach Lust und Laune etwas
hinein. Mit Ablauf eines Jahres bekommen wir dann die Rückmeldung,
wie viel Geld zusammengekommen ist. Jede Woche wird ein Film gezeigt, und das zu einer normalen Uhrzeit. Es liegt dort eine lange Liste
aus, auf der die Filmtitel aufgeführt sind, von denen jemand eine DVD
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besitzt. Herr Kingel hat es übernommen, die Liste immer wieder zu aktualisieren. Nun freue ich mich auf „meinen“ Film; Alexis Sorbas.
„Kommst du auch?“ frage ich Frau Weller, „da wird der Sirtaki getanzt.“
„Weiß noch nicht, ich kriege Handwerker ins Haus“. „Na dann auf
jeden Fall bis nächsten Dienstag, Tschüss!“
Zeiten ändern sich
von Philipp Hohmann
Die Autobahn ist voll. Vom majestätischen Gleiten, so wie es in der Werbung seines Autos beschrieben wurde, merkt er nichts. Der Verkehr geht
nur schleppend voran. Er nimmt die erste Ausfahrt und fährt von der
überfüllten Autobahn auf die Bundesstraße in Richtung Reichensachsen.
Er wird langsamer und fährt fast im Schritttempo in die Ortschaft. Seine
Gesichtszüge entgleiten, als er das erste Hochhaus sieht. Er durchquert
die Ortschaft und verlässt sie wieder. Er blickt auf die Uhr.
9:30 Uhr. Wie die Zeit vergeht. Langsam fährt er die Scheiben seines
Wagens herunter und hält seinen Kopf aus dem Fenster. Schockiert zieht
er ihn schnell wieder ins Auto. Das, was er da gerade riecht, ist definitiv
nicht die gute Landluft, die er gewohnt war.
Das Ortsschild seines Heimatdorfes erscheint am Ende der Straße. Wenigstens das hat sich nicht verändert. Er parkt seinen Firmenwagen.
Langsam bewegt er seinen alten und korpulenten Körper aus dem
Wagen. Sofort strömt Landluft um ihn. Er nimmt einen Luftzug und beginnt zu husten. Verdammte Zigarren. Er nimmt seinen teuren Mantel
von der Rückbank und schließt den Wagen ab. Er holt ein weiteres Mal
Luft und bewegt sich vom Wagen weg.
Sein Blick schweift von Haus zu Haus. Er ist verblüfft. Nichts hat sich
verändert. Die Häuser stehen immer noch und die Hauptstraße führt mitten durch die Ortschaft. Samstagmorgen und das Surren einiger Kettensägen ist zu hören. Der bekannte Geruch von Kettensägenöl steigt in
seine Nase.
Er steht vor einem alten und großen Haus. Mit einem Mal wird er vom
durchdringenden Klingelton seines Smartphones aus seinen Erinnerungen
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gerissen. Er zieht dieses übermäßig große und unglaublich zerbrechliche Stück Metall aus seiner Manteltasche und starrt auf das Display.
Auf ihm steht der Name seiner Sekretärin. Er drückt auf den roten Hörer
und beendet das Gespräch, bevor es beginnen konnte. Es klingelt erneut, noch bevor er es zurück in die Manteltasche stecken kann. Er
drückt noch einmal mit seinem dicken Finger auf den roten Hörer und
stellt sein Telefon aus.
über die neusten Skandale im Dorf unterhalten. Selbst das ist noch geblieben. Mittlerweile ist er fast am Dorfende angelangt. Er setzt sich auf
eine Bank und denkt nach.
Er guckt auf die Uhr, 10:25 Uhr. Eine weitere Stunde seines freien Tages
ist verstrichen. Er geht weiter die Hauptstraße entlang und hört aus
einem Gebäude Volksmusik und einige Männerstimmen auf die Straße
hallen. Die alte Dorfkneipe. Er geht, so schnell es ihm sein Gewicht erlaubt, die paar Treppenstufen bis zur alten Eingangstür der Kneipe hoch,
öffnet die Tür und tritt ein.
Am Ende der Straße sieht er sein Auto. Sündhaft teuer und eine Spritschleuder, die seinesgleichen sucht.
Er steht von der Bank auf, auf der er die letzte halbe Stundeverbracht
hat und schlendert das Dorf erneut hinunter. Hier ist alles so ruhig und
unbeschwert.
Er zieht seinen Mantel aus, nimmt sein Smartphone heraus und schaltet
es ein. 123 neue E-Mails und 65 verpasste Anrufe. Am Rande seines
Handys starrt er auf die Zeit. 13:05 Uhr und die Frage ...
Der Geruch von Zigaretten und Bier steigt ihm in die Nase. Die Kneipe
hat sich nicht verändert.
Er rückt einen der dreibeinigen Barhocker vom Tresen ab und setzt sich
darauf. Der Mann hinterm Tresen, der bis jetzt pfeifend und die Biergläser spülend da stand und mit dem Fuß wippte, guckt auf. Er zieht die
Augenbrauen hoch „ Ein Bier bitte, aber `nen großes.“
Er nimmt den ersten Schluck und ist wie benebelt. Eschweger Klosterbräu, er wird diesen Namen nie vergessen. Ohne es abzusetzen, leert
er den halben Liter in einem Zug.
Er guckt auf die große Wanduhr hinter den Männern. 11:0 Uhr. Die
Zeit vergeht. Er legt einen Schein auf den Tresen, sagt „Stimmt so und
verlässt die Kneipe, ohne dass ihn jemand erkannt hat. Über ihn ziehen
einige Vögel. Er guckt auf die Uhr und geht weiter.
In Gedanken versunken bemerkt er kaum all die älteren Damen, welche
mit Rollator und Krückstock langsam an ihm vorbei schleichen und sich
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Wo der Himmel die Erde küsst
von Hanna Wallbraun
Liebe Moni,
weißt du noch? Am Parkplatz Schwalbenthal am Hohen Meißner mussten wir noch mal anhalten, du bist ausgestiegen und hast wortlos die
wundervolle Aussicht auf dich wirken lassen. Was wird dir dabei alles
durch den Kopf gegangen sein. Abschied und neugierige Erwartung,
Angst und Freude, Aufbruch in einen neuen Lebensabschnitt, alles wird
sich mit diesem Blick auf das vertraute Werratal vermischt haben.
Stolz hast du deinen Studienfreunden erzählt, dass der Werra-MeißnerKreis zu mehr als einem Drittel der Fläche aus Naturschutzgebieten besteht und dass kein anderer Kreis so viel wertvolle Natur zu bieten hat.
Du hast Recht, deine Heimat ist auch in geologischer Sicht eine Fundgrube. Fachleute verweisen gerne auf die Vielfalt und räumliche Nähe
der unterschiedlichsten Gesteine. Allein die Kuriositäten, dass am Hohen
Meißner seit Jahrhunderten unterirdisch selbst entzündete Kohle brennt
oder dass es eine Quelle dort gibt, deren Wasser auch im heißesten
Sommer nie mehr als ein bis drei Grad Celsius misst, sind doch sehr
staunenswert. Immerhin birgt der Meißner auch einen Kultplatz einer
vorchristlichen Muttergottheit und der Frau-Holle-Teich soll der Eingang
zu ihrem unterirdischen Reich sein. Die Region ist unheimlich reich an
Geschichten und Sagen. Das macht sie noch liebenswerter, stimmt‘s?
Es freut mich, dass du überlegst, ob du wieder hier leben möchtest.
In den vergangenen Jahren hat sich viel in der Region getan, was dich
freuen wird. Es kommen viele Besucher zum Wandern hierher. Der Kreis
hat sich durch die zwanzig zertifizierten Premium-Wanderwege und
guten Markierungen zu den schönsten Zielen zum erstklassigen Wanderparadies entwickelt. Die Infrastruktur wurde erheblich verbessert.
Man findet jetzt unterwegs gute Einkehrmöglichkeiten und Herbergen.
Durch die gute Resonanz können die Wirte ihre Öffnungszeiten kundenfreundlich nach den Bedürfnissen der Gäste ausrichten und sie sprechen
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sogar die Ruhetage untereinander ab. Stell dir vor, sie schulen sogar
ihr Personal im Hinblick darauf, was man in der Region alles erleben
kann. Endlich nutzen die Hotels auch die Möglichkeit, in ihre Angebote
geführte Wanderungen und Wanderwochen einzubeziehen und arbeiten mit dem Naturparkbüro zusammen. Kleinbusse fahren bis in den
Herbst hinein in vertretbarem Takt Stationen des Werra-Burgen-Steigs
Hessen an. Das macht die Wahl der Tagestour sehr variabel und erleichtert die Gepäckfrage. Einige der Premiumwege liegen wie an einer
Perlenschnur aufgereiht. Die lassen sich mit Busunterstützung nun auch
als Streckentouren nutzen.
Inzwischen haben die Gemeinden endlich damit aufgehört, nur für Angebote in den eigenen Gemeindegrenzen zu werben. Wer sich für
einen Urlaub hier interessiert, der bekommt auf einer einzigen Internetplattform mit guten Unterseiten nun Informationen zu allen Möglichkeiten der ganzen Region und auch noch Hinweise auf schöne Ziele in
Thüringen oder Niedersachsen.
Deutschlandweit ist die Mohnblüte in Germerode und den Nachbargemeinden bekannt geworden. Die Fotos, die ich dir mitschicke, sind vom
letzten Juli, als der Schlafmohn auf 25 Hektar nicht grellrot sondern pinkrosa blühte. Ein gigantisches Schauspiel für die Augen, das noch vom
Hellblau der Leinblüten und dem Weiß der Kamille und dem Blau der
Kornblumen ergänzt wird. Jedes Jahr kommen mehr Besucher und sie
reisen immer weiter an.
Vermutlich hat auch die Änderung der Dachmarke in „Werra-Bergland“
die Gäste überzeugt. So lange mit Werratal geworben wurde, kamen
immer wieder enttäuschte Rückmeldungen von Wandergruppen, die in
einem Tal nicht so große Höhenunterschiede vermutet haben. Analog
zum touristisch bekannten „Weser-Bergland“ wissen sie nun eher wo sie
dran sind und dass ein Flusstal auch Berge haben kann. Das bringt viele
Gäste hier her, denen die Alpen zu hoch und die Küsten zu flach sind.
Das „schnelle Internet“ ist auch in unserer Region kein Traum mehr.
Schon lange arbeiten Firmen von unterschiedlichen Städten aus vernetzt
miteinander. Du rufst eine Nummer in Kiel an und erfährst dann, dass
du mit einem Gesprächspartner in Gera verbunden bist. Das hast du si69
cher auch schon erlebt. In den Ballungsgebieten und Großstädten sind
die Geschäftsmieten inzwischen so hoch geworden, dass schon so manche Firma die noch bezahlbaren Preise in unserer Region entdeckt hat
und via Internet mit der Welt verhandelt. Es entstehen dezentrale Arbeitsplätze, die nicht mehr in der Großstadt liegen müssen. In vielen Fällen
arbeiten Angestellte komfortabel von zu Hause aus. Seitdem sind weniger Familien „abgewandert“. Wäre das auch etwas für dich? Und wenn
dann doch mal eine Reise nötig wird, ist es von erheblichem Vorteil, dass
wir verkehrsgünstig in der Mitte Deutschlands liegen. Die Autobahn ist
endlich fertig und auch der florierende Flughafen Kassel-Calden hat dazu
beigetragen, dass wir nun leichter zu erreichen sind.
Weltweit agierende Firmen umwerben die Schulabgänger und jungen
Leute, weil sie händeringend nach guten Arbeitskräften suchen. Du würdest sicher ganz schnell etwas Gutes finden. Es gibt auch genug Ausbildungsplätze. In den Schulen werden kleinere Klassen gebildet als es
noch zu deiner Zeit hier üblich war. Lehrer haben es dadurch leichter,
deshalb ist es auch kein Problem, die Stellen zu besetzen.
Hier im Werra-Meißner-Kreis ist der demografische Wandel besonders
spürbar. In den letzten 10 Jahren ist er um fast 20 % seiner Einwohner
geschrumpft. Doch es ist ihm gelungen, aus dem überaus hohen Anteil
an Senioren eine Tugend zu machen. Er hat sich optimal darauf eingestellt. Es gibt überdurchschnittlich viele Angebote für die Generation 66
Plus. Auch in sehr ländlichen Gebieten. Viele Senioren-Wohngemeinschaften wurden gegründet, die fachlich kompetent betreut werden.
Essen auf Rädern, Pflegeteams oder Alltagshilfen unterstützen die Seniorengruppen auf Wunsch. Der Kreis ist zum Mekka für Senioren geworden und so bleibt es nicht aus, dass immer mehr Ältere aus den
lauten Städten fliehen und die Beschaulichkeit des Landlebens hier für
die letzten Jahre vorziehen. Als Modellregion wundert es nicht, dass
sich wieder mehr Hausärzte hier niedergelassen haben.
Das Schöne ist, dass nebenbei auch noch Synergien entstehen, die Alleinstehenden oder Familien mit Kindern helfen. Es gibt In jedem kleinen
Ort einen gut funktionierenden Omi-Service, der Eltern entlastet und den
Omis viel Spaß macht. Die Eltern revanchieren sich, indem sie im Garten
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anpacken, mal den Rasen mähen oder Einkäufe mit erledigen. MehrGenerationen-Vereine haben sich auch schon gegründet, sie funktionieren wie Tauschbörsen.
Viele Häuser stehen auf dem Lande noch leer, aber das ist auch eine
Chance für die jungen Familien, weil der Wohnraum erschwinglich ist
und oft mit geringen Mitteln schon Eigentum gebildet werden kann. Und
deinen Schwager aus Berlin höre ich sagen: „Vergiss nicht, dass die
gute Luft bei euch unbezahlbar ist.“
Ach liebe Moni, vor 10 Jahren hat dich nichts hier halten können. „Ich
will dahin, wo der Himmel die Erde küsst“, hast du gesagt. Klar, den
Spruch hast du wohl irgendwo gelesen. Inzwischen bist du so weit
herum gekommen, hast fremde Länder bereist, bist zehn Mal umgezogen. Hast du den Ort gefunden?
Soll ich dir etwas verraten? Ich habe ihn entdeckt. Die Sonne schien
und es regnete auch ein bisschen. Hier, am Ende des Regenbogens –
das ist der Ort, wo der Himmel die Erde küsst.
Er ist da, wo man sich wohl fühlt, wo man zu Hause ist. Da wo man Heimat spürt und Ruhe findet. Wo die Familie wartet. Wo man sich jeden
Tag aufs Neue in die wundervolle Natur und Landschaft verliebt.
Wann kommst du?
Deine M.
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Da wir nicht alle Kurzgeschichten abdrucken konnten,
finden sie weitere Geschichten aus und über die Region
im Internet unter www.vfr-werra-meissner.de
Die Autoren sind:
Jorias Bach
Christoph Bayer
Heidi Brundig
Sonja Dau
Maria Sophie Degenhardt
Helga Fasshauer
Celine Fey
Torben Gayk
Niklas Gries
Clemens Gümpel
Ilona Gurtman
Pauline Haase
Marina Immke
Max Jahns
Brigitte Manß
Lukas Möckel
Sandra Oettel
Annika Prätorius
Maximilian Rohrbach
Janine Ruiz
Janosh Sagawe
Oliver Schöniger
Emily Simon
Charlotte Vaupel
Paulina Dingert
Lisa Weiner
Herausgeber: Verein für Regionalentwicklung Werra-Meißner e.V.
Niederhoner Straße 54, 37269 Eschwege, Tel.: 05651 70511
[email protected]
Layout und Druck: Jatho Design Meinhard
Der Wettbewerb wurde gefördert vom Werra-Meißner-Kreis, dem Land
Hessen, dem LEADER-Programm der Europäischen Union und der
Buchhandlung Heinemann, Eschwege.