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Inhalt
Vorwort iv
Teil I: "Pax Nipponica? Die Japanisierung der Welt 50 Jahre nach dem Untergang des japanischen
Reichs"
1. "Pax Nipponica?" Die Japanisierung der Welt 50 Jahre nach dem Untergang des japanischen Reichs
Hartwig Hummel, Braunschweig 1
2. Blaupausen für das 21. Jahrhundert - Zukunftsdiskussion mit Hilfe japanischer "Denkfabriken" zwischen
Forschung, motivierender Vision und Fiktion Helmar Krupp, Weingarten 6
3. Japanische Hegemonie in der Weltgesellschaft? Die Hegemoniedebatte und Japan Ulrich Menzel,
Braunschweig 18
4. Die Last der Geschichte. Die historische Grenzen einer japanischen Hegemonialpolitik Wolfgang Schwentker,
Düsseldorf 29
5. Japanisierung der Weltwirtschaft: regionaler Wirtschaftsblock oder globale wirtschaftliche Supermacht?
Detlef Lorenz, Berlin 37
6. Japans globale Umweltpolitik: Merkmale und Perspektiven
Helmut Weidner, Berlin 46
7. Japans Einfluß in Ost- und Südostasien am Beispiel populärkultureller Elemente Uwe Hohmann, Heidelberg
62
8. Japan als internationaler Akteur: das Instrument der multilateralen Entwicklungshilfe Paul Kevenhörster,
Münster 73
9. Japan und das System der Vereinten Nationen
Frank Bauer, Berlin 88
10. Die Reaktion der Weltgesellschaft auf die Japanisierung: 'Japan-Bashing' und Revisionismusdebatte
Reinhard Drifte, Newcastle 100
Teil II: Workshop Geschlechterforschung zu Japan "Japan: Eine andere Moderne? Bedeutung der
Modernisierung für die Frauen in der Männergesellschaft"
1. Einleitung zum Workshop
Michiko Mae, Düsseldorf 107
2. Verliererinnen des Fortschritts? - Einige Überlegungen zu den Auswirkungen der Taika- und Meiji-Reformen
auf Frauen Ingrid Getreuer-Kargl, Wien 110
3. Women and Sexism in Japanese Buddhism Aiko Ôgoshi 131
4. Lila Revolution? Madonna-Boom? - Zur Situation von Frauen in der japanischen Politik Kerstin Katharina
Vogel, Trier 138
5. Diskussionsbeitrag zum Buch "The Japanese Woman: Traditional Image and Changing Reality" von Iwao
Sumiko Claudia Weber, Tübingen 144
6. Illegitimität im Wandel der Zeit: Vom tetenashigo zum hichakushutsushi
Karina Kleiber, Wien 148
7. Die japanische Fernsehfamilien zwischen Tradition und Moderne Hilaria Gössmann, Tôkyô 154
8. Bye Bye Corporate Warriors: The Formation of a Corporate Centered Society and Gender-Biased Social
Policies in Japan
Mari Osawa, Tôkyô. 163
Vorwort
Gerne nahmen wir das Angebot der Evangelischen Akademie Bad Boll an, dort die Jahrestagung 1994
der Vereinigung für sozialwissenschaftliche Japanforschung zu veranstalten. Zwei Jahre zuvor war es in der
Evangelischen Akademie in Loccum um die "Internationalisierung Japans" gegangen. Angeregt durch diese
Tagung entstand die Idee, nicht nur die Folgen der Wirtschaftsexpansion Japans für die japanische Gesellschaft
selbst zu diskutieren, sondern die Perspektive zu wechseln und nach einer "Japanisierung" der Weltgesellschaft
zu fragen.
Zur Diskussion stand die provokativ gemeinte Frage, ob eine "Japanisierung" der Weltgesellschaft auch
zu einem größeren politischen Einfluß japanischer Akteure führt, vielleicht sogar bis hin zu einer "Pax
Nipponica", zu einer japanischen Hegemonie ähnlich der "Pax Britannica" oder "Pax Americana". Einige
Publikationen v.a. in den USA zeichnen durchaus solche bedrohlichen Bilder einer japanischen Weltmachtrolle.
Die 10 Referenten aus unterschiedlichen Fachdisziplinen, die zum Tagungsthema eingeladen wurden, kamen
hingegen übereinstimmend, allerdings mit unterschiedlicher Begründung, zum Schluß, daß mit einer "Pax
Nipponica" nicht zu rechnen sei.
Die Manuskripte der mündlichen Vorträge der Tagung wurden von den Referenten für den
vorliegenden Tagungsband noch einmal überarbeitet und von den Herausgebern stilistisch und formell an den
Gesamtband angepaßt. Die Evangelische Akademie Bad Boll stellte für die Veröffentlichung
dankenswerterweise ihren "Protokolldienst" zur Verfügung.
Vor der Haupttagung fanden außerdem zwei japanbezogene Workshops statt, einer zur
Geschlechterforschung ("Japan: Eine andere Moderne? Bedeutung der Modernisierung für die Frauen in der
Männergesellschaft") und ein weiterer zum Thema "Zeitlichkeit". In beiden Workshops wurden intensive und
fruchtbare Diskussionen geführt. Die Beiträge des erstgenannten Workshops zur Geschlechterforschung, die
bereits in ausgearbeiteter Form vorlagen, konnten ebenfalls in diesen Tagungsreader aufgenommen werden.
Dieser Teil wurde von Ilse Lenz und Michiko Mae, den beiden Organisatorinnen des Workshops, betreut.
Abschließend möchten wir uns noch einmal ganz herzlich bei der Evangelischen Akademie Bad Boll
für die Gastfreundschaft und vor allem bei Herrn Klaus Hirsch für die angenehme Zusammenarbeit und seinen
außerordentlichen Einsatz für diese Tagung bedanken. Wir hoffen, daß wir unsererseits auch die Akademie zur
weiteren Beschäftigung mit dem Thema Japan anregen konnten.
Hartwig Hummel
Braunschweig
Reinhard Drifte
Newcastle
2
Teil I: Pax Nipponica? Die Japanisierung der Welt
50 Jahre nach dem Untergang des japanischen Reichs
1. Pax Nipponica? Die Japanisierung der Welt 50 Jahre
nach dem Untergang des japanischen Reichs
Hartwig Hummel, Braunschweig
Die "Nachkriegszeit" Japans als ökonomischer Aufstieg
Im Jahre 1945 endete der japanische Versuch, durch Krieg ein Imperium zu errichten, in einem Desaster: Ganz
Ostasien lag verwüstet da. Japan war außenpolitisch isoliert und diskreditiert. Die japanische Gesellschaft war
zerrüttet, die Wirtschaft lag am Boden und das militaristische politische System hatte jegliche Legitimation verloren.
Doch aus den Ruinen des Zweiten Weltkriegs entwikelte sich Japan in den folgenden 50 Jahren zur zweitgrößten
Ökonomie der Welt, eine Position, die Japan auch in der gerade zu Ende gehenden Rezession festigen konnte.
Viele Statistiken werden angeführt, um den wirtschaftlichen Aufstieg Japans zu belegen: Beispielsweise ist
1
2
Japan statistisch gesehen die zweitgrößte Ökonomie und die drittgrößte Handelsnationen der Welt, sowie das
3
größte Geberland staatlicher Entwicklungshilfe und als größte Kapitalexporteur seit den 80er Jahre auch der neue
4
"Weltfinanzier" . Von den 50 größten Industriekonzernen stammen immerhin 13 aus Japan, verglichen mit 15 aus
5
den USA und 19 aus Westeuropa , und von der Kapitalsumme der Weltbörsen entfällt etwa ein Viertel auf japani6
sche Börsen . Andere Zahlen zeigen Japan als Kern der asiatisch-pazifischen Region, eine Region, die zum neuen
Motor und neuen Cockpit der Weltwirtschaft wird. Man mag im einzelnen auf diese Zahlen vertrauen oder ihre Aussagekraft anzweifeln; kaum jemand wird aber den wirtschaftliche Aufstieg Japans an die Weltspitze bestreiten.
Das Tagungskonzept: Von der "Internationalisierung Japans" zur "Japanisierung der Welt"
Die Konsequenzen des wirtschaftlichen Aufstiegs Japans sind Thema dieser Tagung. Eine dieser Folgen ist die
"Internationalisierung Japans", die Thema der vorletzten Jahrestagung 1992 in der Akademie in Loccum war.
Darauf möchte ich zunächst noch einmal kurz eingehen. Anschließend werde ich die Themenstellung dieser Tagung
skizzieren, die "Japanisierung der Welt", sozusagen eine Umkehrung der Themenstellung von 1992. Ich werde
dabei drei unterschiedliche Betrachtungsweisen bzw. Interpretationsmöglichkeiten dieses Themas vorstellen.
Schließen möchte ich mit einigen Hinweisen auf den zeitlichen Bezugsrahmen dieser Tagung, das Jahr 1995,
Erinnerung an das 50 Jahre zurückliegende Ende des Zweiten Weltkriegs und Anlaß, einen Ausblick in die Zukunft
zu unternehmen.
Die Jahrestagung 1992 stand unter dem Titel: "Die Internationalisierung Japans im Spannungsfeld zwischen
ökonomischer und sozialer Dynamik". Dabei analysierten wir die Folgen der wirtschaftlichen Expansion Japans für
Japan selbst. Die Perspektive war also im Grunde eine innerjapanische. Einerseits ging es um die reaktive
1
"Von der globalen Wertschöpfung entfielen um 1990 (nach Berechnungen des 'Internationalen Währungsfonds') folgende
Anteile auf die einzelnen Ländergruppen (jeweils auf der Basis einer Umrechnung des nationalen BSP in US $/umgerechnet
entsprechend der Kaufkraft unter Berücksichtigung des 'informellen Sektors' ... Japan 15% / 8% ..." (Fischer Weltalmanach
1995, Sp. 897).
2
etwa 10% des Weltexports 1993, Fischer Weltalmanach 1995, Sp. 1027ff.
3
über 11 Mrd. US $ 1993, Nikkei Weekly 1.8.94
4
Hauskrecht (1993: 225)
5
Fortune vom 25.7.94
Anpassung der japanischen Gesellschaft an diesen Prozeß, andererseits behandelten die Referate die aktive
Gestaltung des Internationalisierungsprozesses durch Wirtschaft und Staat. Stichworte zur Anpassung der japanischen Gesellschaft waren beispielsweise "gaiatsu" - also außenpolitischer Druck -, Globalisierung der Wirtschaft,
Arbeitsmigrantion nach Japan und Veränderung des Lebensstils in Japan. Themen der aktiven Gestaltung des
Internationalisierungsprozesses waren unter anderem: die regionale Integration in Asien-Pazifik, die Durchsetzung
"japanischer" Managementmethoden in ausländischen Tochterfirmen japanischer Unternehmen, die Kultur-,
Bildungs- und Außenpolitik. Wichtig fand ich damals vor allem die These von Wolfgang Seifert, hinter der
(damaligen) Regierungsrhetorik von Internationalisierung und Interdependenz verberge sich im Grunde eine nationalistische Politik. Wolfgang Seifert schrieb im Tagungsreader, dieser Politik gehe es letztlich unter dem
Deckmantel der "Internationalisierung" um die Festigung der nationalen Identität, d.h. die Betonung des Gemeinsamen und Besonderen der japanischen Gesellschaft, ein Unterfangen, das damit auf "Leugnung jeglicher
7
Spaltungen in der Gesellschaft" gerichtet sei. Das Tagungsthema hätte also vielleicht noch zugespitzt werden
können: "Die Internationalisierung Japans: versteckter Nationalismus?" Vielleicht wäre es lohnend, sich auf einer
der nächsten Tagungen mehr mit diesen Spaltungen auseinanderzusetzen, also mit Widerständen und Alternativen in
Japan im Hinblick auf die rein konzernorientierte Internationalisierung: beispielsweise mit der Kritik der Gewerkschaften und Verbraucher, mit sozialen Bewegungen für ein anderes Japan oder der Frage politischer Reformen und
Veränderungen im Zuge der Regierungswechsel.
Kaum angesprochen wurde damals auch eine andere Konsequenz der japanischen Wirtschaftsexpansion, die nun
Thema dieser Tagung ist: die Folgen des wirtschaftlichen Aufstiegs Japans für die Welt insgesamt. Auch hier bieten
sich zwei Frageperspektiven an: die durch die japanische Wirtschaftsexpansion bewirkte Veränderung der
Weltgesellschaft und die politische Gestaltung einer neuen Weltordnung.
Was die Veränderungen in der Weltgesellschaft angeht, so haben wir uns bei der Auswahl der Vortragsthemen
für diese Tagung bemüht, zunächst die empirischen Fakten zu klären: Kann die japanische Ökonomie ihre weltweite
Expansion fortsetzen oder muß sie sich angesicht drohender Handelskriege auf einen regionalen Wirtschaftsraum
beschränken? Wie sieht es mit dem japanischen Einfluß oder gar einer japanischen Prägung aus beispielsweise bei
der globalen Umweltpolitik, der Alltagskultur in der Weltgesellschaft, der multilateralen Entwicklungspolitik oder
der Politik in den Vereinten Nationen? Lassen sich in allen diesen Bereichen Hinweise finden auf eine qualitative
Veränderung der Weltgesellschaft durch den wirtschaftlichen Aufstieg Japans?
Hegemoniezyklen und Pax Nipponica
Die andere Frageperspektive betrifft die Konturen der "Neuen Weltordnung", angesprochen im Tagungstitel mit
der Frage nach einer Pax Nipponica. Ezra Vogel, Soziologie-Professor an der Harvard University, hat diesen
8
Ausdruck in einem 1986 veröffentlichten Aufsatz in der renommierten Zeitschrift Foreign Affairs populär gemacht.
Vogel stellt in diesem Aufsatz ebenfalls den wirtschaftlichen Aufstieg Japans zur Weltspitze fest. Ganz aus der Sicht
der US-Eliten hält er es für wichtig, daß der relative ökonomische Abstieg der USA aufgehalten, das Handelsungleichgewicht zwischen Japan und den USA beseitigt und die wirtschaftliche Öffnung Japans durchgesetzt wird. Um
9
das zu erreichen, müsse die freie Wirtschaft durch "kartellartige Vereinbarungen" und staatliche Regulierung
eingeschränkt werden. Eigentlich sollten sich die USA um eine solche neomerkantilistische Weltwirtschaftsordnung
kümmern. Da die USA jedoch durch interne politische und wirtschaftliche Schwächen in nächster Zeit dazu nicht in
der Lage seien, werde es wohl kurzfristig zu einer Pax Nipponica kommen, zu einer durch Japan geprägten
Weltwirtschaftsordnung.
In der Literatur, die sich mit der globalen Bedeutung des wirtschaftlichen Aufstiegs Japans beschäftigt, wird Pax
6
Gesamt z.Z. ca. 13,5 Bill. US $, davon Japan: 24 %, USA 34 %, Westeuropa: 26 % (Fortune 27.6.94).
Seifert (1993: 31)
8
Vogel (1989)
9
Vogel (1989: 215)
7
4
Nipponica oft in einem noch weiter gefaßten historischen Rahmen verwendet. Es wird erwartet, daß Japan dem
British Empire des 19. Jahrhunderts oder der Supermacht USA nach 1945 folgt und sein ökonomisches Potential in
10
eine auch politisch-militärische und ideologisch-kulturelle "Hegemonie", in eine Pax Nipponica also, verwandelt.
Diese Unterstellung eines quasi natürlichen Drangs Japans zur Weltmacht läßt sich auch nicht dadurch beirren, daß
in Japan ein politischer Wille zur militärische Umsetzung des ökonomischen Potentials nicht erkennbar ist und
Japan auch nicht als lautstarker Propagandist seines Systems oder "Modells" auftritt. Dem wird entgegengehalten,
daß Japan zunächst eine eher subtile Interessenpolitik im Hintergrund verfolgt und vorerst in den modellschaffenden
Charakter des japanischen Wirtschaftssystems vertraut, langfristig aber auf eine Pax Nipponica hinarbeitet. Der
Japan unterstellte Drang zur Weltherrschaft dient dann einigen westlichen Autoren dazu, Japan als neues Feindbild
aufzubauen, gegen das sich der Westen rüsten müsse.
Samuel Huntington beispielsweise, Politikwissenschaftler und wie Ezra Vogel an der Harvard Universität tätig,
hat in einem weit beachteten Aufsatz für die bereits erwähnte Zeitschrift Foreign Affairs die These aufgestellt, die
Weltpolitik der Zukunft werde durch den "clash of civilizations", den Zusammenprall der Kulturen also geprägt
sein. Der Westen, wozu Huntington Japan ausdrücklich nicht rechnet, werde durch den "Nichtwesten" bedroht, die
westlichen Grundwerte der Demokratie und Marktwirtschaft durch islamischen Fundamentalismus und
konfuzianische Wirtschaftslenkung in Frage gestellt. Wolle der Westen seine Dominanz und seine Lebensweise verteidigen, müsse er sich militärisch gegen diese Bedrohungen rüsten. Ein solches Denken halte ich für äußerst
gefährlich. Wenn es um sich greift, wenn Japan v.a. als kulturell fremdartig und bedrohlich empfunden wird, dann
werden auch in Japan die nationalistischen Poliker vom Schlage eines Ishihara Aufwind bekommen, der Japan zur
weltbeherrschenden Techno-Supermacht machen will, die sogar - ganz internationalisiert - auch mal auf englisch
11
"no" sagen kann. Aus friedenspolitischer Sicht wäre eine solche Entwicklung aber verheerend.
Ende der Geschichte, Handelsstaat und Eine Welt
Die hegemonieorientierte Sichtweise muß sich nicht nur empirischer, sondern auch grundsätzlicher Kritik
12
stellen: Ist nach dem Ende des Kalten Kriegs nicht auch das "Ende der Geschichte" erreicht, wie Francis Fukuyama vom Planungsstab des US-Außenministeriums schreibt? Damit meint er, daß der Liberalismus den Endpunkt der
ideologischen Evolution der Menschheit markiere und die liberale Marktwirtschaft und die liberale Demokratie nun
die universell gültigen gesellschaftlichen Ordnungsmuster darstellten. Die beiden einzigen ernsthaften Konkurrenten, Faschismus und Sozialismus, hätten sich geschichtlich überlebt. Ist tatsächlich der Liberalismus nicht weiter
verbesserbar, dann würde eine Hegemonie der USA oder Japans oder einer anderen Macht letztlich nichts
Wesentliches ändern, denn jede Weltordnung würde sich letztlich auf den Liberalismus stützen. Langfristig wünschenswert und wahrscheinlich wäre daher eher eine Pax Consortis als eine Pax Nipponica, wie der japanische
13
Politikwissenschaftler Inoguchi schreibt. Damit meint er ein Netzwerk von internationalen Regimen, Abmachungen und Regulierungen, wobei kein einzelner Akteur das Gesamtsystem dominiert. Dieses Szenario
14
entspricht der "Handelswelt", deren Zeit Richard Rosecrance gekommen sieht. Zukünftig könne keine Gesellschaft mehr für sich alleine existieren, alle seien aufeinander angewiesen. Die Einsicht in den allgemeinen Nutzen
von internationalem Handel und Arbeitsteilung würde sich ebenso breit machen wie die Erkenntnis gegenseitiger
Abhängigkeit und Verwundbarkeit moderner Gesellschaften. Krieg, Militär und territorialer Machtpolitik erwiesen
sich zunehmend als dysfunktional. Rosecrance vertritt allerdings keine pazifistische Position, sondern geht von der
Koexistenz von Handels- und Militärlogik aus. Nach seiner Ansicht muß in der Handelswelt eine residuale
militärische Abschreckung der verbündeten Handelsstaaten aufrechterhalten bleiben, um sich gegen die
10
ein Klassiker der Hegemoniedebatte ist Kennedy (1987).
Ishihara (1991)
12
Fukuyama (1989)
13
Inoguchi (1991)
14
Rosecrance (1986)
11
verbliebenen Militärstaaten zu schützen.
Auf eine ganz andere Dimension der Universalisierung weist die Ökologiedebatte hin: Verbreitet sich nicht das
Bewußtsein, in der "Einen Welt", dem Raumschiff Erde, zu leben? Ist angesichts dessen das Denken in Kategorien
von Hegemoniezyklen und konkret in Kategorien von japanischer Hegemonie und Weltmacht nicht ein "altes
Denken" in geschichtlich überholten Konzepten? Wäre daher für unsere Diskussion der Begriff "Globalisierung"
nicht angemessener als der Begriff "Japanisierung"?
Zweifel an Verallgemeinerbarkeit und Nachhaltigkeit der japanischen Wirtschaftsexpansion
Aber auch diese Kritikpunkte gehen noch nicht weit genug. Bleibt nicht die expandierende japanische Wirtschaft
und der Handelsstaat Japan existentiell auf ein reibungsloses Funktionieren der Weltwirtschaftsordnung angewiesen,
um billig Rohstoffe importieren zu können, um genügend Absatzmärkte für japanische Produkte zur Verfügung zu
haben und um Kapital profitabel anlegen zu können? Krisen der Weltwirtschaft, wie z.B. die Ölpreisschocks von
1973 und 1979, die weltweite Rezession zu Beginn der 90er Jahre oder die plötzlichen Schankungen des YenKurses Ende der 80er Jahre und im Jahr 1994 beeinträchtigen doch ganz offensichtlich nicht nur die japanische
Privatwirtschaft, sondern auch die Staatsfinanzen und die gesellschaftliche und politische Stabilität Japans bis hin
zum Regierungswechsel.
Ist nicht die japanische Ökonomie - wie die anderer Industrieländer auch - immer noch auf ökologischen
Raubbau gegründet? Kann die japanische Wirtschaft und Lebensweise in der bestehenden Weise, z.B. mit dem derzeitigen Energie- und Ressourcenverbrauch oder Verschmutzungs- und Gefährdungspotential, überhaupt nachhaltig
betrieben werden? Ein Beispiel: Während weltweit auf etwa 8 Menschen ein Auto kommt, teilen sich in Japan 2
15
Menschen ein Auto. Wollte man die japanische Automobilisierungsrate weltweit einführen, müßte die Zahl der
Toyotas, Fords, VWs etc. weltweit vervierfacht werden; ein Riesengeschäft vielleicht, aber auch ein Horrorszenario.
Vervierfachen würde sich dann nämlich auch die Luftverschmutzung durch Autoabgase, der Energieverbrauch
durch Benzin und der Landschaftsverbrauch durch Straßenbau. Ein anderes Beispiel: weltweit gibt es z.Z. 428
Kernkraftwerksblöke. Davon stehen in Japan 48. Während unter dem Eindruck der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl und angesichts der ungelösten Entsorgungsfrage über den Ausstieg aus der Kernenergie diskutiert wird, wurden
1993 weltweit 13 neue KKW-Blöcke in Betrieb genommen, davon 6 in Japan!
Lange Zeit konnte Japan davon profitieren, daß die USA und die von ihr initiierten internationalen
Organisationen die Sicherung der diesem Wirtschaftsmodell entsprechenden Weltwirtschaftsordnung übernahmen.
Mit der wachsenden ökonomischen Präsenz Japans und der relativ zurückgehenden Bedeutung der USA in der
Weltwirtschaft sieht sich die japanische Außenpolitik aber jetzt zunehmend selbst in die Pflicht genommen. Die
japanische Wirtschaftsexpansion ist also letztlich auf die Aufrechterhaltung der "neuen Weltordnung" angewiesen,
einer Weltordnung, die nach wie vor auf asymmetrischen Machtverhältnissen und Lebenschancen beruht. Wäre
16
daher nicht der Begriff der "strukturellen Gewalt" geeignet, diese Situation zu beschreiben ? Der norwegische
Fridensforscher Johan Galtung bezeichnet es als strukturelle Gewalt, wenn Menschen Lebenschancen vorenthalten
werden, wenn Menschen beispielsweise an Hunger sterben, obwohl weltweit genügend Lebensmittel produziert
werden, oder - so könnte man heuete ergänzen - wenn das Leben zukünftiger Generationen kurzfristigen
Profitinteressen weniger geopfert wird. Ist - um auf Wolfgang Seiferts Argument zur Loccumer Tagung zurückzukommen - die Pax Nipponica also genauso eine Verschleierung von Unfrieden wie die "Internationalisierung" eine
Verschleierung von "Nationalismus" darstellt? Stellt die Japanisierung als Teil der Globalisierung nicht letztlich nur
eine andere Form der Herrschaft des reichen Nordens über den Süden dar, trotz aller Differenzen innerhalb des
Nordens? Ist das japanische Wirtschaftsmodell angesichts weltweit begrenzter Ressourcen und
Veschmutzungspotentials eigentlich nicht genauso wenig "nachhaltig" und "universalisierbar" wie der "American
15
16
Eigene Berechnung nach Zahlen des Fischer Weltalmanach 1995.
Galtung (1969)
6
Way of Life" oder die soziale Marktwirtschaft Made in Germany ? Ist daher die Frage nach einer eventuellen
Japanisierung nicht zweitrangig?
Vergangenheit und Zukunft
1995 jähren sich zum fünfzigsten Mal der Zusammenbruch des japanischen Imperiums und gleichzeitig die
Gründung der Vereinten Nationen. Dieses Datum sollte genügend Anlaß bieten, uns mit Geschichte auseinanderzusetzen.
Was folgt heute aus dem historischen Erbe Japans für die zukünftige Rolle Japans? Wird der historische
japanische Militarismus und Imperialismus zur Untermauerung des Feindbilds Japan herhalten müssen? Oder wird
das Jubiläum der UNO zum Anlaß genommen, die alten Feinde Japan und Deutschland endgültig für rehabilitiert zu
erklären und zusammen mit ihnen eine neue Weltordnung aufzubauen?
Und allgemeiner: Wiederholt sich im Hegemoniezyklus Pax Britannica, Pax Americana, Pax Nipponica nur die
Geschichte wieder einmal? Oder sind mit der Pax Americana die nun weltweit unbestrittenen, universalen Werte
Demokratie und Marktwirtschaft das "Ende der Geschichte" bereits erreicht worden, so daß sich durch den Aufstieg
Japans letztlich nichts mehr ändern wird? Oder steht uns der unvermeidliche ökologische und soziale
Zusammenbruch der kapitalistischen Industriegesellschaften bevor, den die japanische Wirtschaftsexpansion
vielleicht nur beschleunigt? Antworten auf diese und andere damit zusammenhängende Fragen versuchen die
Tagungsbeiträge zu geben.
Literatur:
Fukuyama, Francis: The End of History?, in: National Interest 16(1989)summer, 3-18.
Galtung, Johan: Violence, Peace and Peace Research, in: Journal of Peace Research 6 (1969), 167-191.
Hauskrecht, Andreas: Finanzen, in: Globale Trends 93/94. Frankfurt/M., 1993, 217-235.
Inoguchi, Takashi: Japan's International Relations. London, Boulder, 1991.
Ishihara, Shintarô: The Japan That Can Say "No". The New U.S.-Japan Relations. New York, 1991. (deutsch: Wir
sind die Weltmacht. Warum Japan die Zukunft gehört. Bergisch Gladbach: Lübbe, 1992)
Kennedy, Paul: The Rise and Fall of the Great Powers. New York: Random House, 1987 (deutsch: Der Aufstieg
und Fall der Großen Mächte. Ökonomischer Wandel und militärischer Konflikt von 1500 bis 2000.
Frankfurt/M., 1991)
Rosecrance, Richard: The Rise of the Trading State. Commerce and Conquest in the Modern World. New York,
1986. (deutsch: Der neue Handelsstaat. Frankfurt/M., 1987)
Seifert, Wolfgang. Zwischen Gaiatsu und Nationalismus: Japanische Positionen zur Internationalisierung, in:
Pascha, Werner/ Seifert, Wolfgang/ Striegnitz, Meinfried (Hg.): Die Internationalisierung Japans im Spannungsfeld zwischen ökonomischer und sozialer Dynamik. Loccum: Loccumer Protokolle 57/92, 1993.
Vogel, Ezra: Pax Nipponica?, in: Foreign Affairs 64(1986)4, 752-767 (deutsch in: Menzel, Ulrich (Hg.): Im
Schatten des Siegers: Japan. Band 4: Weltwirtschaft und Weltpolitik. Frankfurt/M., 1989, 197-216).
2. Blaupausen für das 21. Jahrhundert - Zukunftsdiskussionen mit Hilfe japanischer Denkfabriken
zwischen Forschung, motivierender Vision und Fiktion
Helmar Krupp, Weingarten
Schumpeter-Dynamik: Ein systemtheoretisches Modell der gesellschaftlichen Entwicklung17
Da in diesem Aufsatz nicht nur japanische Besonderheiten beschrieben sind, sondern Japan als globaler
Mitspieler gesehen wird, und da japanische und damit globale Zukünfte zur Debatte stehen, beginne ich mit der
Skizze einer soziologischen Modellkonstruktion.
1. Ausgangspunkt ist die These – siehe Bild 1, daß vier nach Luhmanns Theorie strukturierte Systeme
Hauptbestandteil dessen sind, was die gesellschaftliche Entwicklung antreibt. Diese sind die Wirtschaft, die Politik,
die Technik und die Konsumwelt. Wesentliches Charakteristikum dieser vier Konstituentien des Systems der
Schumpeter-Dynamik ist ihre Innenbezogenheit (introvertierte Autonomie) aufgrund ihrer spezifischen Kodierung
gemäß Zahlung/Nichtzahlung, Macht/Opposition, Know-how-Zuwachs oder nicht, beziehungsweise Wohlbefindlichkeit oder nicht. Was hier nicht hineinpaßt, zum Beispiel die Moral, kann das betreffende System nicht
bearbeiten.
2. Diese vier Systeme - innerhalb der Schumpeter-Dynamik sind sie Subsysteme - befinden sich trotz ihrer
introvertierten Autonomie in enger struktureller Kopplung und bilden zusammen eine Synergetik. Politik kann nicht
ohne Wirtschaftserfolge reussieren, Wirtschaft und Politik brauchen Technik, Technik ist auf deren Finanzen
angewiesen und so weiter. Diese Synergetik ist zur herrschenden Ideologie der Industrieländer und der Länder, die
es werden wollen, geworden. Die Folge sind Massenparteien, die sich im Regierungshandeln praktisch nicht mehr
unterscheiden, wie zum Beispiel CDU und SPD. Die Schumpeter-Dynamik befindet sich in hochgradiger
systemischer Selbstbenommenheit.
3. Durch technische, organisatorische und andere gesellschaftliche Innovationen befinden sich die vier
Subsystme und ihre Wechselwirkungen in laufendem Wandel. Diese Innovationen wirken in Richtung höherer
Effizienz und Leistung nach spezifischen subsystemischen Kriterien und Programmen wie Wirtschaftserfolg,
politische Stabilität, technischer "Fortschritt" und menschliches Wohlbefinden. Diejenigen Länder sind am
stabilsten, in denen diese Schumpeter-Dynamik am stärksten ausgebildet ist. Länder mit Einseitigkeiten wie staatlich
dominierte Wirtschaft (ehemaliger Ostblock) oder Militärdiktatur (früher in Südamerika) erweisen sich als weniger
kohärent.
4. Schumpeter-dynamische Systeme neigen zu weltweiter Ausbreitung. Dies manifestiert sich in expandierenden
wirtschaftlichen, politischen, technischen und konsumptorischen Netzwerken. Organisationen und Institutionen, in
denen sich diese Tendenz zur Weltgesellschaft verkörpert, sind zum Beispiel übernationale Unternehmen,
Weltbank, Vereinte Nationen, GATT, Blöcke wie NAFTA, APEC, Europäische Union, sowie internationale und
bilaterale Entwicklungshilfe.
Das Modell der Schumpeter-Dynamik liefert folgende Heuristik:
n Der innersystemische Eigensinn führt zu externen Kosten, zum Beispiel Langfristarbeitslosigkeit, kurze
Entscheidungshorizonte zu Lasten langfristiger mit der Folge ökologischer Zerstörungen, universelle Kommerzialisierung und Technisierung des Lebens, globale Konvergenz der gesellschaftlichen Entwicklungsrichtungen
unter Aufgabe historisch gewachsener Besonderheiten.
n Nationalstaaten verlieren ihre Steuerungszentren. Im kommunistischen Manifest schreibt Karl Marx: "Die
moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuß, der die gemeinschaftlichen Geschäfte . . . verwaltet." Politik, Wirtschaft,
17
Krupp (1995), darin auch weitere Literaturangaben.
8
Technik oder Konsumwelt haben keine einseitige Dominanz.
n Gesellschaftliche Entwicklung ist eher in systemischer Evolution als in selbstreflektierendem Entscheiden
verankert. Entscheidungen und Innovationen haben Überlebenschancen, wenn sie sich in die Evolution einfügen,
obwohl Evolution gleichzeitig die Resultierende von Handlungen und Entscheidungen ist. Systeme wirken als Filter,
bleiben aber durch Innovationen nicht unbeeinflußt. Die Schumpeter-Dynamik ist rekursiv.
Japans säkularer Entwicklungsboom mit im Jahresmittel knapp 5 % Wirtschaftswachstum - siehe Bild 2 - ist ein
besonders erfolgreiches Beipiel von Schumpeter-Dynamik. Das mittlere Pro-Kopf-Wachstum beträgt etwa 3,5 %
pro Jahr. Schon in der Meji-Zeit herrschte Zukunftsbegeisterung, die sich besonders an westlichen Vorbildern
entzündete.
Gliederung und Inhalt der folgenden Ausführungen bauen auf dem vorgestellten Modell auf. Es erleichtert auch
internationale Vergleiche und vor allem Zukunftshypothesen.
Japanische Binnenkommunikation
Charakteristisch für die heutige japanische Binnenkommunikation ist eine fortlaufende intensive Selbstvergewisserung. Polemisch könnte man sagen: Japan verfügt über besonders gut ausgebildete Verfahren, die
systemische Selbstbenommenheit in der Schumpeter-Dynamik zu fördern. Zukunftsorientierte Status-quoBeschreibungen, Blaupausen und Zukunftsvisionen scheinen einen koordinativen Mechanismus darzustellen, der
tägliches Planen, Entscheiden und Handeln mit der Evolution vermittelt. Man "tut, was geschieht" (Robert Musil).
Gleichzeitig wird dadurch jenes sprichwörtliche Wir-Gefühl gefördert.
Eine wesentliche Quelle sind regierungsamtliche Weißbücher. Jährlich kommen etwa 30 heraus. Ihre Themen
reichen von Außenpolitik, Wirtschaft, Arbeit, Gesundheit, Wissenschaft, Bauwesen bis Tourismus. Jährliche
Übersichten und Zusammenfassungen liefert The Japan Institute of International Affairs. Aber darüber hinaus gibt
es eine große Zahl anderer Quellen japanischer Zukunftsentwürfe.
Nachfolgend werden nacheinander die Binnenkommunikationen von Wirtschaft, Politik, Technik und
Konsumwelt behandelt.
1. Besonders intensiv geschieht die Zukunftsdiskussion erwartungsgemäß im Teilsystem Wirtschaft. Maßgeblich
hierfür sind die hervorragenden Koordinationsleistungen des Ministeriums für Internationalen Handel und Industrie
18
(MITI) . Zwei von ihm verwendete Mechanismen sind folgende:
(a) MITI unterhält fortlaufend eine große Zahl von Ausschüssen, Kommissionen und Komitees. Deren
Mitglieder kommen aus Wirtschaft und Politik sowie aus Universitäten und außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Hinzugeladen werden Vertreter aus Medien und Verbraucherorganisationen. MITI stellt jeweiligs das
Sekretariat. Dieses akquiriert auch Beiträge von think tanks (Vertragsforschungsinstituten). Erstentwürfe der
Sekretariate werden offiziell in den Gremien und inoffiziell in zahlreichen informellen Hintergrundgesprächen (zum
Beispiel abendliche Telefonate in Old-boy-Netzwerken) diskutiert. Zwischenfassungen gehen in betroffene
Verbände und Parallelkommissionen, in die MITI-Hierarachie, werden interministeriell abgestimmt und erhalten
schließlich ihre Endform. Das Ergebnis ist in der Regel ein weicher Kompromiß, den man in Japan Konsens nennt.
Gelegentlich melden sich einzelne Gremienmitglieder mit abweichenden Minoritätsmeinungen in der Öffentlichkeit
zu Wort.
(b) Ein ganz anderes, aber mit (a) vernetztes Vorgehen besteht darin, zu jedem aufkommenden gesellschaftlichen, potentiell MITI-relevanten Thema eine spezifisch zuständige Gesellschaft zu gründen, sei es einen
Branchen-, Warengruppen- oder Handelsverband, eine Berufsvereinigung (zum Beispiel der Patentanwälte) oder
andere Interessenvertretungen (zum Beispiel Forum genannt). In der Regel veranlaßt MITI den Industrieverband
Keidanren, sich an den Kosten zu beteiligen, so daß die Gesellschaft privaten, faktisch halbstaatlichen Charakter
18
Ein besonders nachhaltiges Mißverständnis gegenüber Japan besteht in der Annahme, MITI habe und nütze gesetzlich
verankerte Steuerungsgewalt. In Wirklichkeit besteht MITIs wichtigste Leistung, von ersten Nachkriegesjahren abgesehen, darin,
für breite und inhaltlich tiefe Kommunikation zwischen allen wirtschaftsrelevanten Gesellschaftsbereichen zu sorgen.
erhält. Ein rezentes Beispiel ist die Gründung der Japan Environment Corporation, eine Dachorganisation von
grünen Bewegungen. Registrierung in dieser Gesellschaft verschafft ihnen einen günstigen Steuerstatus. Manche
Bewegungen schließen sich nicht an, da sie ihrer Meinung nach dadurch an Unabhängigkeit verlören.
Die Funktion des Kommunikationsnetzes des MITI geht weit über informative Leistungen hinaus. MITI
versucht zwischen diversen Interessen konstruktiv zu vermitteln. Der von den oft hochrangigen Kommunikationsnetz-Betreibern zu erbringende Aufwand ist groß.
Ein besonderes Gewicht hat in diesem Zusammenhang der Industriestrukturrat des MITI, der mehrere
sachspezifische Untergruppierungen (zum Beispiel für Energie) enthält. Er entwikelt insbesondere auch im Ausland
viel gelesene Dekadenvisionen. Diese fassen die vielfältigen Entwicklungslinien unter griffigen Schlagworten
zusammen und projizieren sie oft kühn in die Zukunft. Beispiele sind:
n "Mechatronics", ein in Japan schon in den 50er Jahren geprägtes Schlagwort, das das Zusammenwachsen von
Mechanik und Elektronik in automatischen Handhabungs-, Fertigungs- und Montageeinrichtungen signalisierte.
Bild 3 zeigt, daß in Japan schon früh eine diesbezügliche Förderungspolitik implementiert wurde, lange vor
Deutschland.
n Später hieß es: "Von der hard- zur software", um auf die wachsende Bedeutung von automatisierten technischen
und nicht-technischen Dienstleistungen hinzuweisen.
n In den 70er Jahren verlagerte sich das Interesse der Arbeit und Produktion auf mehr "Lebensqualität", zumal
Japan auch heute noch erhebliche Rückstände in physischer und sozialer Infrastruktur zu bewältigen hat.
n Das Schlagwort dieser Jahre ist "Internationalisierung" - in der vielfältigen Bedeutung dieses Begriffs.
Was als Beratungsergebnis schließlich in den Medien und auf dem Büchermarkt erscheint, hat folgende
Funktionen:
n Status-quo- und zukunftsrelevante Information, die sich wegen der dichten innergesellschaftlichen Vernetzungen
an potentiell sehr viele mögliche Interessenten wendet; nicht nur an unmittelbar Betroffene, die in der Regel
ausreichend Bescheid wissen sollten, sondern zum Beispiel auch an Stadt- und Regionalplaner, die
Zukunftsinvestitionen im Lichte solcher Ergebnisse überdenken können.
n Wunschdenken der Hauptbeteiligten, insbesondere aus Wirtschaft und Politik, und damit eine besonders direkte
Art von administrative guidance (gy_seishid_).
n Anregungen, Motivationshilfe und schließlich auch Regierungspropaganda.
Die innerjapanische Autorität der Ergebnisse beruht auf der fachlichen Qualität der involvierten Beamten und
Bearbeiter, den historischen MITI-Erfolgen (trotz aller wohlfeilen Kritik), der erzielten jeweiligen
Komplexitätsreduktion in einer so vielgestaltigen Wirklichkeit und der tendenziell gewonnnen Interessenkoordination. Im Ausland sind derartige Visionen öfters als Planungen mißverstanden und mit großem Ernst kolportiert
worden. Dies geschah auch durch Interessen geleitet, um durch Konkurrenzfurcht stimulierte
Regierungssubventionen zu ergattern. Alle Ministerien, nicht nur das MITI, betreiben Beratungsgremien,
insbesondere diejenigen für Postwesen, Bau, Verkehr, Wissenschaft. Die Ministerien versuchen dadurch auch, ihre
Prestigeposition gegenüber dem Finanzministerium und der Öffentlichkeit zu stärken, um ihre jährlichen
Budgeterhöhungen zu sichern.
Es gibt vielfältige private Beiträge der Bauindustrie zur Visionsbildung. Nach anfänglichen Entwürfen für
600 m hohe Gebäude hat die Firma Taisei Anfang der 90er Jahre eine 4.000 m hohe Rekonstruktion des Fujisan als
Wohngebäude vorgeschlagen, das einen ganzen Stadtteil aufnehmen könnte. Die einzelnen Wohnblöcke sind durch
um wenige Grad geneigte Röhren verbunden, in denen man mit dem Fahrrad "bergab" fahren kann. Fahrstühle
helfen beim Rückweg. Die größte technische Schwierigkeit bei diesem Höchsthausbau besteht darin, statische
Festigkeit gegenüber dem in größeren Höhen extremen Winddruck zu erzielen. Durch Erdbeben erzeugte
Schwingungen sollen durch die Elastizität und Dämpfung der Pyramidenkonstruktion abgefangen werden.
Ende der 80er Jahre nutzte die Bauindustrie die staatlich angefachte Weltraumbegeisterung (es ging darum, aus
großem Rückstand die USA und Europa einzuholen), um Reklame für künftigen honeymoon on the moon zu
machen. Hotelkomplexe auf dem Mond würden für das nötige Wohlbefinden der Traumpaare sorgen - weit
10
oberhalb bisheriger shintoistischer und christlicher Ausstaffierung. Auf meine in technische Fachargumente
gekleideten insistierenden Fragen an einen für Weltraumtechnik zuständigen MITI-Beamten hin holte sich dieser
zuerst von seinem Vorgesetzten die Genehmigung, antworten zu dürfen, und sprach dann von Träumen (yume). Es
sind Zweckträume, denn es ging damals darum, das Budget für japanische Weltraumtechnik innerhalb weniger
Jahre dem europäischen anzugleichen, obwohl nur nationaler Prestigedruck und kein erkennbar technischwirtschaftlicher Nutzen dahinter stand. In Japan herrscht ein geistiges Klima, auf jeden Fall mit dem Westen mitzuhalten, zumal man nie vorher wissen könne, welcher spätere Nutzen aus gegenwärtig noch unplausiblen Projekten
erwachsen könne. Grundsätzlich wird in Japan zur Zeit noch jede international vagabundierende Projektidee
aufgegriffen.
Handfester orientiert, entwerfen mittlere Hochschulsemester Projekte, wonach auf dem Mond automatisch
arbeitende Fabriken viele Quadratkilometer große Photovoltaik-Paneele herstellen, die auf satellitengestützten
Kraftwerken montiert werden sollen. Dieses Beispiel zeigt, wie japanischer Futurismus schon früh an die junge Elite
herangetragen wird. Nintendo, Cyberspace-Ausstellungen, das US-Kino tun ihr übriges.
Einem ernsthaften Deutschen mag das nur als absurde Weltraumflugpropaganda erscheinen, als Budget- und
Akquisitionshilfe für einschlägige Behörden, Laboratorien und Unternehmen. In japanischen Augen stehen dahinter
auch:
n Verlaß auf die leichtfertige Großzügigkeit des allgemeinen Medienbenutzers, der manches einfach nicht so ernst
nimmt
n der Hinweis auf die besondere technische Qualifikation der Projektautoren (corporate identity), die Eindruck
machen soll bei Behörden, die große Bauprojekte vergeben oder die Finanzmittel zu bewilligen haben, und guten
Hochschulabgängern, die man als Mitarbeiter gewinnen möchte.
Wegen der besonders engen strukturellen Kopplungen zwischen Wirtschaft und Politik decken die genannten
Berichte gleichzeitig große Politikbereiche ab. Selbst politische Ressorts wie Entwicklungshilfe, Verteidigung,
Gesundheit und Soziales sowie Tourismus sind von Wirtschaftsanliegen nicht zu trennen und werden auch
besonders in Japan so wahrgenommen. Diese Berichte enthalten in der Regel ausführliches statistisches Material.
Ein besonderes Anliegen ist es oft, aus Vergangenheits- und Status-quo-Analysen Zukunftsextrapolationen
anzufertigen, deren Darstellung und Kommentierung wesentliche Komponenten für die Visionen liefern. Die
letztlichen Handlungsempfehlungen dienen der Implementierung der Visionen.
2. Vergleichweise originell ist die Art, wie die politische Administration in Japan einen Teil der Selbstreflexion
der Technik gestaltet. Das Verfahren stammt aus den USA, ist aber nur in Japan seit über 20 Jahren regierungsseitig
konsequent im Gebrauch. Es handelt sich um periodische Delphi-Befragungen. Aus sorgfältig entworfenen und
vorher getesteten Fragebögen werden die technischen Zukunftserwartungen einschlägiger Fachleute detailliert abgefragt. Die Fragen zielen darauf, welche neue Technik voraussichtlich in wieviel Jahren anwendungsreif werden
könnte. Die Befragungsergebnisse werden aggregiert und an die Befragten zurückgemeldet, woraufhin diese eine
zweite Schätzung vornehmen. Die zweifache Iterierung engt die Streubreite der Erstergebnisse ein. Diese
19
technischen Zukunftserwartungen erarbeitet das NISTEP .
Kurz einige Anmerkungen zum Charakter solcher Delphi-Berichte: Da sie auf den Aussagen technischer
Fachleute beruhen, sind sie international relativ einheitlich. Denn die technische Kommunikation ist global stark
integriert. Ihr Tenor ist der der gegenwärtig herrschenden Schumpeter-Dynamik, die so tut, als könne sie sich
analytisch in die fernere Zukunft fortsetzen. Die gravierenden Probleme im Zusammenhang mit Umweltzerstörung,
Nord/Süd-Disparitäten, großtechnischen Gefahren, insbesondere durch Kernenergie und nicht-medizinische
Gentechnik, finden kaum einen Niederschlag. Die Delphi-Berichte signalisieren überwiegend hoffnungsfrohes
business as usual.
19
National Institute for Science and Technology Policy. Es gehört zur Science and Technology Agency (STA), die direkt dem
Amt des Premierministers unterstellt ist. Neuerdings hat das Fraunhofer-Institut für Systemtechnik und Innovationsforschung
(ISI) in Karlsruhe eine deutsche Delphi-Befragung aufgrund des gleichen Fragebogens durchgeführt und die Ergebnisse im
japanisch-deutschen Vergleich veröffentlicht.
3. Während insbesondere die technik- und wirtschaftsorientierten Zukunftsprojektionen Japans vergleichsweise
qualifiziert sind, hinkt die Umweltberichterstattung der dortigen Umweltagentur den Berichten des Deutschen
Bundesumweltamtes und des Sachverständigenrates für Umweltfragen hinterher. Meßnetze, Datenbasis,
Auswertung und Diskussion sind dürftig. Diesem Sachverhalt entspricht, daß nach den hohen
Umweltschutzinvestitionen insbesondere der 70er Jahre, eine Folge der vorangegangenen japanischen Umweltdramen, die jetzige Umweltdiskussion in Japan schwach ist. Technik und Wirtschaft haben auf diesem Gebiet einen,
international gesehen, ganz guten Stand erreicht. Aber die privaten Umweltschutzinvestitionen sind inzwischen
niedrig. Die der öffentlichen Hand zielen primär darauf, den infrastrukturellen Rückstand Japans aufzuholen
(Abwasserreinigung, Trinkwasseraufbereitung, Bodenschutz, Müllbeseitigung) und dienen weniger dem
Umweltschutzinteresse, obwohl sich beides vermengt.
4. Die Konsumwelt artikuliert sich jährlich vor allem in den Berichten des Wirtschaftsplanungsamtes. Deren
englischer Titel lautet "Annual Report on the National Life for Fiscal 19..". Der jeweilige visionäre Schwerpunkt
wird in einem Untertitel angedeutet. Beispielsweise hieß dieser 1986: "Auf der Suche nach einer weltoffenen
Wohlstandsgesellschaft"; 1992 dann "Leben in einer kinderarmen Gesellschaft".
Diese Berichte enthalten reiches statistisches Material über die unterschiedlichsten Aspekte der Konsumwelt.
Deren zusammenfassende Deutung, die gezogenen Schlüsse, die Zukunftsextrapolationen und schließlich die
Handlungsempfehlungen sind Beiträge zu den Blaupausen für die nächsten Jahrzehnte, und zwar im Sinne einer
solchen Fortschreibung der Entwicklungstendenzen, wie sie das Amt und seine Gremien am liebsten realisiert sehen
würden. Aus japanischem Wir-Gefühl heraus könnte man sagen: Die Kommentare und Empfehlungen der Berichte
zeigen, welche Zukunft "Japan" gerne hätte.
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch die Tätigkeit des Amtes des Premierministers, das häufig
eigene zukunftsorientierte Befragungsergebnisse veröffentlicht. Sie präzisieren, was das "Wir Japaner" beinhalten
möge. Andererseits haben viele Japaner bemerkt, daß die zahlreichen Befragungen, insbesondere durch Medien
oder im Auftrag von einzelnen Unternehmen oder Verbänden, vielfältige Partikularzwecke verfolgen, häufig
einseitige Geschäftsinteressen. In diesen Zusammenhang gehören die systematischen Versuche, ausländische
Waren, insbesondere Lebensmittel, als inferior, ja gesundheitsschädlich hinzustellen.
Weitere Quellen von Blaupausen, Projektionen, Visionen oder deren Förderung sind Industrieverbände, Banken,
Wertpapierhändler (Nomura), think tanks (es gibt über einhundert), private (zum Beispiel Toyota, Sony) und
halbstaatliche (National Institute for Research Advancement NIRA) Stiftungen. Die Qualität streut.
Im nächsten Abschnitt folgt ein spektakuläres Fallbeispiel, das den kühnen Zugriff auf die Zukunft in Japan
illustriert.
Neue Erde 21
20
1991 veröffentlichte das MITI die Vision "Neue Erde 21" . Im Lichte der gegenwärtigen Schumpeter-Dynamik
und polemisch formuliert, kann man sie als Versuch sehen, den Teufel der bisher ungehemmt weitergehenden
21
Umweltzerstörung mit dem Beelzebub Gigatechnik auszutreiben. Ähnliche Projekte sind auch in anderen Ländern
vorgeschlagen worden; in Japan insbesondere auch von Kei Takeuchi und Tetsuo Noya aus dem Research Center
for Advanced Science and Technology der Tokyo-Universität. Bild 4 nennt einige Projektstichworte. Exemplarisch
möchte ich auf deren zum Teil hochgradig riskanten Charakter verweisen.
n Satelliten-Kraftwerke würden die Atmosphäre ionisieren und damit nicht leitungsgestützte Telekomunnikationen
stören. Auch können sie im Falle selbst geringfügiger Defokussierung starke Gefährdungen für Menschen auslösen.
Der Sternhimmel wäre nicht mehr wiederzuerkennen.
22
n Kontinente übergreifende Sonnenschirme , die von vielen Raketen aktiv gespannt gehalten und lokalisiert werden
20
Von dem damals zuständigen MITI-Abteilungsleiter dargestellt in: Krupp (1992: 335-348).
Jedes Projekt würde jährlich mehrstellige Millarden DM-Beträge erfordern.
22
Dieser Vorschlag stammt aus dem Vereinigten Königreich.
21
12
müßten, sollen gewünschte Spektralbereiche durchlassen, aber insbesondere erderwärmende Bereiche abschirmen.
Die Wirkungen auf irdisches Leben wäre unvorhersehbar, aber vermutlich profund.
n Massenweise CO2-Deponie in den Weltmeeren wäre wegen großräumiger Meereskonvektion nicht dauerhaft.
n Wüstenbegrünung sowie massenweise Erzeugung von Energierohstoffen mit Hilfe voraussichtlich genetisch
manipulierter Monokulturen würden vor allem in unseren Breiten einen weiteren Umweltzerstörungsschub auslösen.
n Kernfusion ist der Größenordnung nach gleichermaßen gefährlich wie Kernspaltung. Geringerem Inventar bei der
Kernfusion stünde um Zehnerpotenzen größere sekundäre Radioaktivität der Strukturmaterialien gegenüber.
23
Kerntransmutation würde eine neue Größenordnung radioaktiver Belastung der Erde darstellen.
n Tetsuo Noya schlägt eine 6.000 m lange, in den "Himmel" gerichtete, mit Linearmotoren betriebene Startrampe
vor, die Transport in den Weltraum im Vergleich zu Raketenkosten erheblich verbilligen soll. Dadurch sollen
chemische Fabriken in den Weltraum verlagert werden, wo deren Schadstoffe nicht störten.
Im Vergleich mit deutschen Verhältnissen bemerkenswert ist, daß solche Entwürfe mit hochrangigen Vertretern
der Wirtschaft diskutiert werden. Dies geschieht zum Beispiel im Rahmen von Veranstaltungen der 1990
gegründeten, aber schon seit 1977 diskutierten Global Infrastructure Fund Research Foundation Japan (GIF), die
vom Mitsubishi Research Institute ins Leben gerufen wurde und betrieben wird. Die Liste von Präsidenten, Direktoren und Aufsichtsräten enthält die Namen führender Vertreter von Wirtschaftsverbänden, Großunternehmen,
Banken und Universitäten. Im Faltblatt heißt es unter anderem: Zu den "Hauptaktivitäten" gehören "Entwicklung
und Verbesserung der globalen Infrastruktur zugunsten eines ausgewogenen Managements der Weltgemeinschaft".
Im einzelnen werden folgende Projekte genannt: "Wüstenbegrünung und Erhalt der tropischen Regenwälder;
Entwicklung von Wasser- und Sonnenenergie, Wellengeneratoren und DT-Kraftwerke; Ausdehnung menschlicher
Wohngebiete durch Überschwemmungssicherung, Bewässerung und Umweltverbesserung . . .", also typische
Projekte von "Neue Erde 21".
Bei Unternehmen wie Daimler werden solche Ideen auch gesammelt und erörtert, aber - wertfrei gesagt - eine
Publizität wie in Japan gewinnen sie nicht.
Tun, was geschieht
Die Selbstdarstellungen deutscher Wirtschaft und Politik versuchen den Eindruck zu erwecken, daß einzelne
Handlungen, Projekte und Programme die Zukunft autonom, durch eigene Wertvorstellungen geleitet, herstellen.
Die japanischen Verfahrensweisen bei der Blaupausenproduktion und der sie begleitenden Semantik sind eher
derart, daß man sich auf herrschende Tendenzen bezieht, ihren Nutzen betont und behauptet, daß man alles nur
mögliche tun müsse, um sie geschehen zu lassen. Widerständiges oder Kritisches wird dadurch abgewertet, daß es
als nicht tendenzgemäß hingestellt wird. Dieses Verfahren wird dadurch verstärkt und erleichtert, daß Japan seine
Orientierungen nach wie vor überwiegend aus dem Westen bezieht. Der Verweis auf westliche Vorbilder bringt
jeweilige Kritiker zum Einlenken.
Dies gilt insbesondere für größere Entwicklungsstrategien. In Teilbereichen, in denen westliche Vorbilder nicht
zur Verfügung stehen, erfolgt die Konsensbildung über intensive Diskussionen aller denkbaren Optionen. Hierfür
gibt es in Japan besonders gut ausgebildete Diskussionsmuster, die alle Meinungen unabhängig von
Hierarchiestufen mit einbeziehen.
Bewertung und Vergleich
In Japan herrscht als Folge der beschriebenen Kommunikationsprozesse ein hoher Informationsgrad darüber,
was in Wirtschaft, Politik, Technik und Lebenswelt offiziös gedacht und mehrheitlich gewollt wird. Das Ergebnis ist
eine recht starke zukunftsorientierte Motivation. Befürchtungen, zum Beispiel betreffend Umwelt und technische
23
Isotopenumwandlung durch Teilchenbestrahlung
Risiken, werden dadurch konterkariert, daß von Wirtschaft, Politik und Technik in Entwürfen bis zu
Jahrhundertvisionen demonstriert wird, die Zukunft sei nicht nur im Blick, sondern vorgeblich auch im Griff. Gegenwärtig ist die japanische Medienlandschaft nicht dazu in der Lage, eine kritisch-ernsthafte Diskussion über die
Visionen zu führen. Die Presse verfügt nicht über Fachredakteure, die entweder selbst tiefer Stellung nehmen oder
mindestens qualifiziert weiterrecherchieren könnten. In den behördenspezifischen Pressezirkeln erhalten die Medien
die offizielle Information, die sie nur mehr oder weniger qualifiziert weitergeben. Bestenfalls wird ein Sprecher der
einschlägigen oppositionellen Bürgerinitiative telefonisch befragt. Seine Gegenmeinung füllt dann wenige Zeilen am
Ende des aus offiziellen Quellen gespeisten Hauptberichts. Das Fernsehen ist in dieser Hinsicht nicht besser.
In den 70er Jahren hat eine vom MITI berufene Kommission mehrere Jahre über Technikfolgen-Abschätzung
und -Bewertung (TA) beraten und sehr weitgehende Empfehlungen verabschiedet. Eine Art Technikrat sollte vor
jeder Einführung einer neuen Technik um sein Plazet befragt werden. Daraufhin hat MITI 1980 TA in seinem
Zugriffsbereich untersagt. In einigen wenigen think tanks und Universitäten wird westliches TA rezipiert und
fallweise an Ministerien weitergegeben. Für tiefergehende eigene Bewertung fehlt ausreichende Kapazität. TA ist in
Japan zu projektförderlicher Begleitmusik entartet. Auch in Deutschland dient TA inzwischen eher als Kritikventil
denn als ernst genommene amtliche Entscheidungshilfe. Angesichts der Konstruktion der Schumpeter-Dynamik
kann es eine mehr als nur inkrementell wirksame Urteilsinstanz auch nicht geben. Mindestens so wichtig ist die
Beobachtung, daß TA nicht konvergieren kann. Die Vielfalt von Interessen innerhalb der globalen SchumpeterDynamik kann, wie zum Beispiel der "Umweltgipfel" in Rio de Janeiro 1992 gezeigt hat, in der Regel nicht zum
24
Kompromiß geführt werden. Aus deutscher Sicht formuliert, gibt sich Japan aktiv der globalen Evolutionhin, paßt
sich antizipativ an herrschende Tendenzen an. Die Visionen erzeugen evolutionsgerichtete Motivation. Die
Diskussion über Für und Wider bleibt flach und schwach.
In Deutschland findet zum Teil qualifizierte TA statt. Die Ergebnisse sind für die Öffentlichkeit zugänglich, sie
werden zum Teil auch diskutiert. Die deutschen Medien sind hierfür teilweise besser gerüstet. Allerdings reduzieren
sich die kontroversen Ergebnisse, auch wegen der in der Regel unvermeidlichen Materialfülle, zu einem für den
Außenbeobachter undurchdringlichen weißen Rauschen, so daß in der Regel keine Handlungsimpulse entstehen. TA
hat diese Ratlosigkeit gegenüber der unübersichtlichen riskanten Entwicklung mehr gefördert, als daß sie zu
bemerkenswerten Gegenmeinungen geführt hätte. Japans "Tun, was geschieht" führt zu gleichen Ergebnissen wie
deutscher vermeintlicher Aktivismus. Die global konvergierende Schumpeter-Dynamik läßt dies auch erwarten.
Langfristige Zukünfte Japans und der Welt
Voraussichtlich würde eine analytische Fortsetzung der gegenwärtigen Schumpeter-Dynamik in der zweiten
Hälfte des nächsten Jahrhunderts zur globalen Potenzierung von Umweltschäden führen. Zu den möglichen
Sekundärfolgen gehören erhöhter Meeresspiegel und Überschwemmung von Inseln und Landstrichen, verstärkte
Naturkatastrophen, Massenwanderungsbewegungen, Seuchen sowie Konflikte um sich erschöpfende Ressourcen.
Die Schumpeter-Dynamik versucht, Immunreaktionen hiergegen zu entwickeln, vor allem Erhöhung der
Ressourcenproduktivität (mehr Bruttoinlandsprodukt pro Einheit beanspruchter natürlicher Ressourcen) sowie
Erschließung zusätzlicher Ressourcenquellen. Japan ist an allen diesen Entwicklungen beteiligt, in der Regel mit an
vorderer Front, zum Beispiel in der Energietechnik.
Es herrscht unter Fachleuten weitreichender Konsens, daß die Probleme allein mit technischen Mitteln nicht zu
lösen sind. Wichtigste Konsequenz wäre Wachstumsbeschränkung. Diese würde jedoch der jetzigen
innovatorischen und expansiven Schumpeter-Dynamik grundlegend widersprechen. In der Zukunft würde es also
einer Transformation der Schumpeter-Dynamikbedürfen. Jetzige Strukturveränderungen reichen nicht aus, wie zum
Beispiel die Entwicklung einer Entsorgungswirtschaft oder Erweiterung wirtschaftlicher und administrativer Stäbe
durch Umweltressorts. Die Erfahrung im Gefolge der japanischen Dramen Minamata und Yokkaichi zeigt, daß der
24
Das FCKW-Abkommen ist starken Großchemieinteressen der OECD-Welt zu verdanken und daher kein Gegenbeispiel.
14
ökologische Leidensdruckerheblich steigen muß, um die Schumpeter-Dynamik zu einer tieferreichenden
Selbsttransformation zu bewegen. Bevölkerungsreiche Entwicklungsländer werden wohl am stärksten betroffen
sein. Aber zum Beispiel wird Japan unmittelbar von chinesischen Luftverunreinigungen erreicht, so daß globales
Umweltmanagement erforderlich sein wird.
Am ehesten anschlußfähig an die gegenwärtige Entwicklung scheint folgendes Szenario: Die Industrieländer und
ihre geographischen Umgebungen bilden konkurrierende, aber dennoch stark vernetzte Blöcke wie zur Zeit in
Ansätzen die Triade Europa, NAFTA (Amerika) und APEC (Ostasien). Sie überziehen die Erde mit einem
effizienten Netz globalen Ressourcenmanagements. Tendenziell wäre hiermit auch konzertierbare politische und
militärische Macht verbunden. Ergebnis könnte eine relativ stabile Weltordnung sein, zunächst zwischen den
Vertretern einer starken Schumpeter-Dynamik. Sie könnte zwei wichtige Leistungen erbringen:
1. In ökologischer Hinsicht wären die Blöcke hoch interessierte, also adäquate Partner, um globale ÖkoKompromisse auszuhandeln, was zum Beispiel im Rahmen der Vereinten Nationen in ihrer jetzigen Konstruktion
nicht möglich erscheint. Wirtschaftsblöcke befinden sich wegen der Vernetzungen und Konkurrenz in
Spielsituationen, die im Falle halbwegs rationalen Verhaltens Verhandlungsergebnisse ermöglichen könnten, bei
denen alle Partner gewinnen. Demgegenüber sind Verhandlungssysteme wie innerhalb der Vereinten Nationen
vergleichsweise zu amorph.
2. Solche auf Schumpeter-Dynamik gestützten Verhandlungssysteme könnten als globales Ordnungs- und
Kohäsionsnetzdienen, um über ihre Selbstrettung hinaus eine Fülle von zu erwartenden Problemen anzugehen:
- Umsiedlung von Opfern der Meeresspiegelerhöhung und sonstiger Klima-Katastrophen
- Eindämmung von chaotischen Nord/Süd-Massenwanderungen
- Beherrschung von regionalen Kriegen, "Fundamentalismen", interethnischen Auseinandersetzungen, organisiertem
Verbrechen.
Falls die sich jetzt abzeichnende Bevölkerungsverminderung im 22. Jahrhundert tatsächlich eintritt, würden sich
mindestens die ökologischen Probleme vermindern können, falls die vorher gelernte Selbstbeschränkung der
Schumpeter-Dynamik beibehalten wird. Mit anderen Worten: Der langfristige Öko-Tod der Menschheit ist
keineswegs unabwendbar. Im Vergleich zu anderen wirtschaftsstarken Ländern hat Japan eine besonders gut
ausgebildete Binnenkommunikation und hohe innere Kompromißfähigkeit. Daher könnte Japan zu den ersten
Ländern gehören, die die zukunftssichernde Selbsttransformation ihrer Schumpeter-Dynamik zustande bringen.
Seine kommunikative Flexibilität verschafft Japan Vorteile, so daß dies Land auch in Zukunft mit an der Spitze der
globalen Evolution zu finden sein könnte, wenn auch nicht als Erster.
Literatur:
Krupp, Helmar: Japan, Entwicklungsland und Weltmacht - Werden und Wandel der globalen Schumpeter-Dynamik.
Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt. In Vorbereitung (1995).
Krupp, Helmar (Hrsg.): Energy Politics and Schumpeter Dynamics - Japanese Policy between Short-Term Wealth
and Long-Term Global Welfare. Tokyo: Springer Verlag, 1992, 335-348.
Nachtrag
Ich hoffe, es sprengt nicht den gesetzten Rahmen, wenn ich in diesem Nachtrag den erst nach der Tagung
erhaltenen Beitrag von Reinhard Drifte kommentiere.
1. Japan hat sich 1868 in die durch die westliche Industrielle Revolution ausgelöste "Modernisierung"
eingeklinkt. Die meisten bisherigen Modernisierungsdebatten gehen davon aus, daß dieses westliche Entwicklungsmodell auch zukünftige globale Meßlatte sein könnte. Längs dieser Meßlatte war Japan noch bis in die
Nachkriegsjahrzente hinein rückständig, zum Beispiel in Bezug auf öffentliche Infrastruktur auch heute noch. Aber
Japans technisch-wirtschaftliche Erfolge beruhen nicht nur auf Nachahmung, sondern auch auf japanischen
Besonderheiten, angefangen bei individuellen Arbeitstugenden bis zu der in diesem Aufsatz beschriebenen
motivierenden und integrierenden Binnenkommunikation. Daher kam es zunehmend auch zu Ost/West-Transfers,
insbesondere in Technik und Arbeitsorganisation. Inzwischen ist aber der herkömmliche Modernisierungsbegriff
fragwürdig geworden. Modernisierung nach alter Vorstellung ist Fortsetzung, wenn nicht Potenzierung der jetzigen
Schumpeter-Dynamik. Künftige Modernisierung wird zwangsläufig eine grundlegende Transformation der
Schumpeter-Dynamik beinhalten müssen. Westliche, durch Individualismus geprägte Leitbilder wie sie in den
Begriffen freies Unternehmertum, universelle Liberalisierung und Privatisierung, einzelwirtschaftliche Nutzung aller
physischen und nicht-physischen Ressourcen der Erde, Konkurrenzkampf und dergleichen zum Ausdruck kommen,
können nicht mehr maßgebend bleiben. Im Gegenteil, es sind Gemeinschaftstugenden erforderlich, die letztlich zu
Globalkompromissen führen müssen. Solidarische Wachstumszurückhaltung und Ressourcenumverteilung,
insbesondere zugunsten armer Länder, werden sich aufzwingen. Gegenwärtig erfolgt eine globale Konvergenz auf
das alte westliche Muster der Schumpeter-Dynamik. Nach deren unvermeidlicher Transformation wird ein neues
Konvergenzziel entstehen müssen, bei dem Japan dank einiger traditioneller Binnentugenden eher eine führende
Rolle spielen könnte. Diese sind etwa Gemeinschaft, Frugalität, Zurückhaltung und dergleichen.
2. Ein Japanisierung des Westens, zum Beispiel in Form höherer Arbeitsproduktivität und -intensität, ist bisher
nicht in Sicht. Erstens ist die japanische Arbeitsproduktivität in den meisten volkswirtschaftlichen Bereichen
deutlich kleiner als in den wirtschaftsstarken westlichen Ländern. Zweitens werden die westlichen
Produktivitätserhöhungen allein schon durch Konkurrenz zwischen den westlichen Wirtschaftsmächten erzwungen.
Japan liefert nur in Teilbereichen merkliche Beiträge hierzu. Drittens findet insbesondere in jüngeren Generationen
in Japan eine starke Verwestlichung statt, die den Ost/West-Unterschied hinsichtlich Arbeitsmotivation vermindert.
Auch Arbeitsministerium und Wirtschaftsverbände drängen in Japan auf Arbeitsintensitätsverminderung.
3. Ein merklicher Teil der in den Abschnitten Reaktion und Revisionismus von Reinhard Drifte beschriebenen
Erscheinungen entstammt dem Tagesjournalismus und ist für eine wissenschaftliche Debatte nur bedingt geeignet.
Die gegenseitigen globalen Abhängigkeiten sind so groß, daß eine nationalistische Hegemonialrolle Japans nicht zu
befürchten ist. Auch zeigen zum Beispiel die bilateralen Verhandlungen zwischen Japan einerseits und den USA
und Europa andererseits, daß ein japanisches Vorpreschen jederzeit durch Embargomaßnahmen gestoppt werden
könnte. Ferner ignoriert die diesbezügliche Diskussion oft, daß die japanische Exportbedrohung nur spezielle
Wirtschaftsbereiche berührt und daß sich die japanischen Direktinvestitionen in international üblichen Grenzen
halten. Schließlich erscheint das japanische Exportvolumen durch die Überbewertung des Yen besonders groß.
Dennoch muß sich westliche Forschung, Entwicklung und Innovation bemühen, japanischer Innovationseffizienz
auch in Zukunft standzuhalten. Die Wirksamkeit von industrial policy ist vermutlich geringer, als in machen
Debatten unterstellt wird. Das zeigt zum Beispiel die OECD-weite Nicht-Korrelation zwischen der Intensität
nationaler industrial policies und dem Wirtschaftserfolg. Ein weiteres Defizit einschlägiger Debatten ist die
unzureichende Datenbasis, auf der sie z.T. geführt wird.
16
Bild 1:
Schematische Darstellung des
Systemmodells der SchumpeterDynamik. Diese stellt den gegenwärtigen Motor der gesellschaftlichen Entwicklung der Industrieländer dar. Auch Entwicklungsländer konvergieren (mindestens
längerfristig) auf eine solche
Schumpeter-Dynamik hin.
Bild 2:
Anstieg von Bruttoinlandsprodukt
und Bevölkerungszahl in Japan.
Quelle: Economic Planning Agency
(1983) Japan in the year 2000. The
Japan Times
Bild 3: Japanische Gesetze zur Technikentwicklung – frühes Erkennen
der Bedeutung von Mechatronic und Mikroelektronik in Japan
18
Bild 4: In OECD-Ländern und besonders in Japan erwogene Gigaprojekte eines globalen High-Tech Öko-Engineering
ATMOSPHÄRE
GEN-TECHNIK
chemische Reinigung
Wüstenbegrünung
Satellitenkraftwerke
Energierohstoffe
Produktion im Weltraum
BIO-H2
Sonneschirm
Nutz- und Zierpflanzen
OZEANE
CO2-Deponien
Nutztiere
KERNENERGIE
Meeresdüngung
Spaltung
D T-Kraftwerke
Fusion
Transmutation
3. Japanische Hegemonie in der Weltgesellschaft? Die Hegemoniedebatte und Japan
Ulrich Menzel, Braunschweig
1. Die Hegemoniedebatte
Der wirtschaftliche Niedergang der USA und die darauf gegründete These vom amerikanischen Machtverfall
bzw. der wirtschaftliche Aufstieg Japans und ein daraus möglicherweise resultierender Machtzuwachs waren
wesentliche Anlässe der sogenannten Hegemoniedebatte, die etwa seit Mitte der 1970er Jahre vor allem unter
25
amerikanischen Politikwissenschaftlern geführt wurde. Dieser Debatte lag die in der realistischen Tradition der
Lehre von den internationalen Beziehungen stehende Auffassung zugrunde, daß die Staatenwelt sich aufgrund des
fehlenden internationalen Machtmonopols prinzipiell im Zustand der Anarchie befindet. Staaten als die
maßgeblichen Akteure des internationalen Systems vermögen ihre Interessen, seien sie sicherheitspolitischer oder
außenwirtschaftlicher Natur, nur wahrzunehmen, wenn sie über ein entsprechendes Machtpotential zur
Durchsetzung dieser Interessen verfügen. Macht im internationalen System resultiert, so die konventionelle Sicht
des Realismus, in erster Linie aus harten Faktoren wie militärischer Stärke, Kontrolle von Territorien und Seerouten
sowie wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit. Militärische Stärke hängt letztendlich von der Fähigkeit ab, die zu ihrem
Unterhalt notwendigen finanziellen und technologischen Ressourcen mobilisieren zu können.
Eine mögliche Lösung der Anarchieproblematik besteht darin, ein internationales Quasi-Gewaltenmonopol zu
errichten. Dieses ist immer dann möglich, wenn ein Staat ein solches Machtpotential zu entfalten vermag, daß nicht
nur von relativer, sondern sogar von absoluter Dominanz bzw. von Hegemonie (etwa im Sinne der Pax Romana)
gesprochen werden kann. Besitzt ein Staat eine derartige Hegemonialposition, ist er in der Lage, analog zu den
klassischen Staatsfunktionen im Innern auch für die Ordnung des internationalen Systems zu sorgen. Diese
Ordnungsfunktion drückt sich insbesondere darin aus, daß der Hegemon in der Lage ist, internationale öffentliche
Güter wie militärische Sicherheit oder stabile weltwirtschaftliche Rahmenbedingungen bereitzustellen. Beispiele
wären etwa der Schutz seiner Alliierten vor nuklearen Angriffen, die Sicherung der internationalen Ölversorgung,
die Etablierung eines Systems von festen Wechselkursen, die Bereitstellung des Weltgeldes oder die Garantie der
Freiheit der Meere. Der Hegemon ist willens und in der Lage, entsprechende Organisation oder Abkommen zu
konzipieren, politisch durchzusetzen, den notwendigen finanziellen Aufwand zu tragen und mögliche Verletzungen
dieser Ordnungen zu sanktionieren. Alle übrigen Staaten kommen als sogenannte free rider mehr oder weniger
kostenlos in den Genuß der genannten internationalen öffentlichen Güter.
Im Sinne dieser so skizzierten Theorie der hegemonialen Stabilität wurde den USA seit Anfang der 1940er
Jahre die Rolle eines solchen Hegemons bescheinigt, da sie nicht nur über das Potential verfügten, zwei Kriege
gegen Deutschland und Japan gleichzeitig zu führen und zu gewinnen, wobei sie ihre wesentlichen Alliierten
Großbritannien, Sowjetunion und China in erheblichem Maße durch Waffenlieferungen und Kredite zu unterstützen
vermochten, sondern sie auch in der Lage waren, die internationale Nachkriegsordnung maßgeblich zu gestalten.
Genannt seien nur das System der Vereinten Nationen, die diversen Militärbündnisse in Europa und Asien, die
Programme zur Demokratisierung der ehemaligen Kriegsgegner, die weltweite Entkolonialisierung, die Leistungen
für den wirtschaftlichen Wiederaufbau in Europa, aber auch die Gründung von IMF, Weltbank und GATT. Damit
waren Voraussetzungen geschaffen für die welthistorisch beispiellose Phase eines langanhaltenden Wachstums und
relativen Friedens, soweit man unter Frieden die Abwesenheit globaler militärischer Auseinandersetzungen versteht.
Ausgelöst durch das Ende des Bretton Woods-Systems der Jahre 1971/73 und verstärkt durch die amerikanische
25
Dem empirischen und theoretischen Hintergrund der nachfolgenden Überlegungen bildet Albert et al. (1995). Der
zugehörige umfangreiche Datensatz ist auch auf Diskette verfügbar.
20
Niederlage im Vietnam-Krieg setzte allerdings in den USA eine Diskussion ein, die die Frage aufwarf, ob die USA
weiterhin in der Lage sein würden, die Rolle des Hegemons auszufüllen. Begründet wurden diese Zweifel mit der
These vom Niedergang der USA, der sich im wesentlichen an drei Problembereichen exemplifizieren ließ:
1. am Verlust der militärischen Überlegenheit gegenüber der Sowjetunion insbesondere bei der Nuklearbewaffnung und den entsprechenden Trägersystemen;
2. am relativen weltwirtschaftlichen Positionsverlust, ausgedrückt in abnehmenden Anteilen am Welt-BSP, am
Welthandel, an den Weltwährungsreserven etc.;
3. an der Sklerose der amerikanischen Gesellschaft, die u.a. in der rückläufigen Alphabetisierung, der
Verwahrlosung amerikanischer Großstädte oder dem Rückgang der Sparquote ihren Ausdruck fand.
Insbesondere das in den 1980er Jahren astronomische Ausmaße annehmende amerikanische Doppeldefizit von
Haushalt und Handelsbilanz wurde als Ausdruck dieses Niedergangs interpretiert. Begründet wurde der Niedergang
im wesentlichen mit den folgenden Argumenten: mit der imperialen Überdehnung, also dem Unterhalt eines
Militärapparats, dessen Kosten die finanziellen Möglichkeiten der USA überträfen; durch den
Verdrängungswettbewerb aus Fernost, zunächst von seiten Japans, später aber auch von seiten anderer asiatischer
Schwellenländer inklusive Chinas; sowie mit dem allgemeinen Werteverfall der amerikanischen Gesellschaft. Nur
am Rande sei hier bemerkt, daß diese Argumente sich mehr oder weniger auch für den Zusammenbruch der
ehemaligen Sowjetunion mit den dort sehr viel katastrophaleren Konsequenzen anführen lassen.
2. Mögliche Konsequenzen aus dem amerikanischen Hegemonieverlust
Soweit man sich für den Augenblick einer solchen Argumentation anschließt, ergeben sich theorieimmanent eine
Reihe von Konsequenzen:
1. Macht ist ein relatives Gut. Machtverlust und Machtgewinn sind ein Nullsummenspiel. Was der eine gewinnt,
muß ein anderer verlieren. Wenn also ein amerikanischer (bzw. sowjetischer) Machtverlust zu konstatieren ist, muß
er mit einem Machtgewinn anderer Akteure, also etwa Japans (oder der VR China) korrespondieren. Analog muß
der relative wirtschaftliche Niedergang der USA (bzw. der Sowjetunion) mit dem relativen wirtschaftlichen
Aufstieg, also etwa wieder Japans (oder der VR China) korrespondieren.
2. Der hegemoniale Verfall der USA müßte also über kurz oder lang dazu führen, daß sie ihre internationale
Ordnungsfunktion nicht mehr in ausreichendem Maße wahrnehmen können. Indikatoren für diese These sind der
Verfall des Bretton Woods-Systems, die abnehmende Bedeutung des US-Dollars als Weltgeld oder die
nachlassende Gestaltungsmacht im Hinblick auf neue internationalen Probleme etwa im Bereich des internationalen
Handels mit Dienstleistungen, des Schutzes von geistigem Eigentum, der internationalen Finanzspekulation oder der
Umweltproblematik.
3. Da aber weiterhin ein Bedarf nach internationaler Verregelung alter oder neuer Politikfelder besteht, muß eine
Konstellation geschaffen werden, die diesem Bedarf Rechnung trägt. Im Sinne der Theorie der hegemonialen
Stabilität hieße das, daß ein neuer Hegomon, also eine aufsteigende Macht, an die Stelle der absteigenden Macht
USA zu treten hätte. Der einzige ernstzunehmende Kandidat für eine solche Aufgabe wäre aufgrund seines Status
als zweitgrößter Wirtschaftsmacht Japan, wie etwa im Schlußkapitel von Paul Kennedys Buch über den Aufstieg
und Niedergang der großen Mächte angedeutet wird. Diese These verlangt allerdings die Prüfung, ob Japan
tatsächlich in absehbarer Zeit über die notwendigen machtpolitischen Ressourcen verfügt und ob es auch politisch
bereit ist, diese Ressourcen entsprechend einzusetzen, also etwa von einem Handelsstaat zu einem Waffenstaat zu
mutieren. Eine Alternative zur hegemonialen Lösung wäre, wie von den neorealistischen Teilnehmern der Debatte
vorgeschlagen, eine kooperative Strategie, also das Zusammenwirken einiger Mächte zur Verregelung der
anstehenden Probleme. Diese Variante wird unter Rückgriff auf spieltheoretische Überlegungen als der
wahrscheinliche und wünschenswerte Ausweg angesehen.
4. Kommt es allerdings weder zu einer neuen Hegemonialsituation noch zu einer kooperativen Lösung, muß sich
das anarchische Prinzip des internationalen Systems wieder durchsetzen. Jeder Akteur wird, so gut er kann,
versuchen, seine Interessen auf eigene Faust durchzusetzen. Wachsende Konflikte zwischen den großen
Nationalstaaten wären dann die Folge. Als empirischer Beleg für diese Denkmöglichkeit lassen sich etwa die
Handelskonflikte zwischen den USA und Japan, mittlerweile aber auch zwischen den USA und anderen asiatischen
Ländern, namentlich der VR China, anführen. Am Ende stände dann in Analogie zur Situation der 1930er Jahre, als
nicht zuletzt auch wirtschaftliche Konflikte zur Vorgeschichte des Pazifischen Kriegs gehörten, ein neuerlicher
umfassender Konflikt zwischen Japan bzw. anderen asiatischen Schwellenländern und den USA um die Rohstoffe
und Märkte in der asiatisch-pazifischen Region. Eine Variante dieses Szenarios wird von Samuel Huntington
vertreten, der den aufziehenden Zusammenprall der Zivilisationen, insbesondere der konfuzianischen und
islamischen Welt mit der christlichen Welt, an die Wand malt.
5. Eine weitere Denkmöglichkeit wäre schließlich, wieder analog zu den 1930er Jahren, der Zerfall des einen
Weltsystems in gegeneinander abgeschottete Wirtschaftsblöcke und regionale Einflußzonen. Diese ständen dann
unter der Suprematie einer nur noch regionalen Führungsmacht, die ihre Ordnungsfunktion folglich nur noch mit
regionaler Reichweite wahrnimmt. Zu denken wäre etwa an einen westeuropäischen, einen nordamerikanischen und
einen ost- und südostasiatischen Block. An die Stelle von GATT träten Handelsabkommen mit regionaler
Reichweite, an die Stelle des Dollars regionale Leitwährungen, an die Stelle des UN-Sicherheitssystems oder der
US-Nukleargarantie regionale Sicherheitssysteme. Die faktischen und institutionellen Regionalisierungsprozesse in
allen drei Regionen (EU, NAFTA, APEC) ließen sich als erster Beleg für diese These interpretieren, ebenso wie die
diversen innenpolitischen Diskussionen in Japan oder der BRD über neue militärische Optionen über die reine
Landesverteilung im Rahmen der bestehenden Bündnissysteme hinaus. Auch hierzu gibt es bereits eine breite und
sehr kontroverse Literatur.
3. Gibt es überhaupt einen amerikanischen Niedergang bzw. einen japanischen Aufstieg?
Das gesamte realistische bzw. neorealistische Argumentationsgebäude steht und fällt allerdings mit der Frage, ob
es tatsächlich einen amerikanischen Niedergang bzw. analog einen japanischen Aufstieg (bzw. den anderer Mächte)
gibt. Diese Frage zu beantworten, hängt wiederum sehr stark von der Auswahl und Interpretation der Indikatoren ab,
mit denen Aufstieg und Niedergang gemessen werden können. Welche Tendenzen sind aus solchen Indikatoren,
soweit man Zeitreihen aufstellt, ablesbar? Welche Ausprägungen der Indikatoren sind als kritische Werte für
Machtgewinn oder Machtverlust anzusehen? Wie verhält es sich mit ihrem absoluten bzw. relativen Gewicht im
Verhältnis zu anderen Indikatoren bzw. zu den Indikatoren der Vergleichsländer?
Die Tabelle 1 bietet eine Zusammenstellung herkömmlicher Indikatoren, mittels derer die wirtschaftliche
Leistungsfähigkeit der USA und Japans, die relative Position beider Länder zueinander sowie die relative und
26
absolute Veränderung dieser Variablen über den Zeitraum von 1960 bis 1992 gemessen werden. Herkömmliche
Indikatoren heißt, daß es sich um solche handelt, die in der skizzierten Diskussion besonders gerne verwendet
werden.
26
Weitere Länder, also etwa die drittstärkste Wirtschaftsmacht BRD, in den Vergleich einzubeziehen, macht wenig Sinn, da die
Abstände zum amerikanisch-japanischen Führungsduo zu groß sind.
22
Tabelle 1:
Indikatoren zum Positionsvergleich zwischen Japan und den USA im stofflichen Bereich
Japan
BIP in Mrd. US$
Anteil am Welt-BIP in %
BSP/Kopf in US$
Sekundärprodukt in Mrd. US$
Exporte in Mrd. US$
Anteil am Weltexport in %
Anteil von Elektrotechnik/ Maschinenbau/ Fahrzeugbau
am Import in %
Anteil von Elektrotechnik/ Maschinenbau/ Fahrzeugbau
am Export in %
Leistungsbilanzsaldo in Mrd. US$
Direktinvestitionen (Bestandswerte) in Mrd. US$
Direktinvestitionen (Flußgrößen) in Mrd. US$
Entwicklungshilfe in Mrd US$
USA
Relation
1960
42,5
515,3
1:12,1
1970
203,7
1.011,6
1: 5,0
1992
3.671,0
5.920,2
1: 1,6
1970
7,3
36,0
1992
15,9
25,7
1976
4.910
7.890
1:1,6
1992
28.190
23.240
1:0,8
1970
95,8
343,9
1:3,6
1992
1.541,8
1.184,0
1:0,8
1970
67,2
113,3
1:1,7
1992
339,5
420,8
1:1,2
1960
3,2
16,1
1970
6,2
13,8
1980
6,5
10,9
1988
9,4
11,4
1970
11
28
1992
16
41
1970
41
42
1992
67
48
1970
1,2
2,3
1992
117,6
- 66,4
1980
36,5
215,4
1:5,9
1990
310,8
421,5
1:1,4
1976
8,4
49,1
1:5,8
1990
29,1
20,3
1:0,7
1970
0,5
3,2
1:6,4
1992
11,0
11,3
1:1,0
Quelle: Weltbank: Weltentwicklungsbericht, diverse Jahrgänge.; Albert et al. (1995): Band 2: Datensatz.
Die präsentierten Daten machen deutlich, daß Japan bezüglich des Sozialprodukts, des zentralen Sammelindikators überhaupt, zwischen 1960 und 1992 dramatisch gegenüber den USA aufgeholt hat. Obwohl das BIP der
USA sich in diesem Zeitraum fast verzwölffacht hat, war das japanische Wachstum so beträchtlich, daß sich die
Relation von 12 : 1 auf nur noch 1,6 : 1 zugunsten der USA verringert hat. Analog hat der japanische Anteil am
Welt-BSP von 7,3 auf 15,9 % zugenommen, während der amerikanische Anteil von 36,0 auf 25,7 % abgenommen
hat. Beim BSP pro Kopf hat Japan die USA bereits deutlich überholt. Separiert man statistisch das Sekundärprodukt
beider Länder, also den Beitrag der Verarbeitenden Industrie zum Sozialprodukt, ergibt sich sogar die verblüffende
Feststellung, daß die industrielle Wertschöpfung in Japan mit 1,54 Bill. US-Dollar mittlerweile beträchtlich über der
amerikanischen mit 1,18 Bill. US-Dollar liegt. Japan ist mithin, obwohl es gemessen am gesamten
Wirtschaftspotential die kleinere Volkswirtschaft ist, sehr viel stärker industriell als die USA geprägt.
Der andere klassische Vergleichssektor ist der Außenhandel, wobei die Exporte gleichzeitig als Indikator für
internationale Wettbewerbsfähigkeit angesehen werden. Demnach hat Japan auch hier gewaltig aufgeholt, seinen
Weltmarktanteil von 3,2 auf 9,4 % zu steigern vermocht, während der amerikanische von 16,1 auf 11,4 %
zurückgegangen ist. Berücksichtigt man ferner, daß der amerikanische Exportwarenkorb zu einem erheblichen Teil
aus Primärgütern landwirtschaftlicher oder mineralischer Art besteht, dürfte der japanische Fertigwarenexport den
amerikanischen ebenfalls bereits übertroffen haben. Die nachlassende internationale Wettbewerbsfähigkeit bzw. das
Ausmaß der Deindustrialisierung in den USA werden noch deutlicher, wenn man die Zusammensetzung der Exporte
und Importe beider Länder vergleicht. Während Japan im Hinblick auf die drei industriellen Kernbranchen, nämlich
Elektrotechnik, Maschinenbau und Fahrzeugbau, nur geringe Importe, aber hohe Exporte zu verzeichnen hat, ist es
in den USA fast umgekehrt. Ferner ist der Leistungsbilanzsaldo in Japan - hier liegt der krasseste Unterschied zu
den USA - zwischen 1970 und 1992 auf eine Rekordhöhe gestiegen, während er in den USA im gleichen Zeitraum
dramatisch ins Minus gesunken ist. Daran haben auch die erhebliche und sich bis heute immer noch weiter
fortsetzende Aufwertung des Yen gegenüber dem US-Dollar im Anschluß an das Plaza-Abkommen des Jahres 1985
nichts ändern können.
Nun ließe sich allerdings argumentieren, daß die Verschlechterung der amerikanischen Position im Export auf
den substituierenden Effekt ihrer Direktinvestitionen zurückzuführen ist. Aber auch der Vergleich der
Direktinvestitionen beider Länder zeigt die bereits bekannte Tendenz. Japan hat bei den Bestandswerten gegenüber
den USA deutlich aufgeholt, obwohl die amerikanischen Direktinvestitionen sehr viel früher, nämlich bereits in den
1920er Jahren eingesetzt haben, und nicht wie die japanischen 1945 zwangsweise liquidiert worden sind. Bei den
Flußgrößen, also den aktuellen Transfers, hat Japan die USA bereits übertroffen. Das ist auch nicht verwunderlich,
da das Anwachsen der japanischen Direktinvestitionen mühelos aus den hohen Überschüssen in der Leistungsbilanz
finanziert werden konnte. Schließlich zeigt auch ein Vergleich der Entwicklungshilfe beider Länder, daß Japan
selbst auf diesem Feld die USA bereits eingeholt hat.
Das vorläufige Fazit des Vergleichs dieser herkömmlichen Indikatoren lautet mithin: der internationale
Positionsverlust der USA ist beträchtlich, von einer weltwirtschaftlichen Dominanz wie in den 1950er oder 1960er
Jahren kann keine Rede mehr sein. Umgekehrt ist der japanische Positionsgewinn auf allen Feldern erheblich, wenn
auch noch keineswegs so ausgeprägt, daß Japan wie die USA nach 1945 eine absolute internationale Dominanz
erreicht hätte. Das liegt nicht zuletzt daran, daß auch andere Länder zu Lasten der USA ihre internationale Position
haben verbessern können. Immerhin läßt sich aber argumentieren, daß bei einer Fortschreibung der aufgezeigten
Tendenzen Japan in etwa zehn bis zwanzig Jahren die Position eines weltwirtschaftlichen Hegemons einnehmen
könnte. Damit ist allerdings noch nichts darüber ausgesagt, ob es auch bereit ist, die entsprechende weltpolitische
Rolle zu übernehmen.
4. Der Strukturwandel der Weltwirtschaft seit Mitte der 1980er Jahre und die politischen Umbrüche der
Jahre 1989 ff.
24
Aber diese Auswahl und Interpretation der Indikatoren entspricht nur einer herkömmlichen Sicht der Dinge, da
sie den seit Mitte der 1980er Jahre sich beschleunigenden Strukturwandel der Weltwirtschaft ebensowenig
berücksichtigt wie die Konsequenzen der weltpolitischen Umbrüche der Jahre 1989 ff. Zur Illustration des
Arguments seien nur die wichtigsten Trends und Ereignisse genannt.
1. Die seit Ende der 1970er Jahre wachsenden Handelsbilanzungleichgewichte zwischen den wichtigsten
weltwirtschaftlichen Akteuren sollten über ein radikales Revirement der Wechselkurse und die damit verbundene
Beeinflussung der Wettbewerbsposition der betroffenen Länder zum Ausgleich gebracht werden. Das PlazaAbkommen vom September 1985 führte zwar zu einer erheblichen Abwertung von US-Dollar und Britischem Pfund
bzw. zu einer entsprechenden Aufwertung von DM, Yen sowie der südkoreanischen, der taiwanesischen und der
chinesischen Währung, die erhoffte Wirkung auf die internationalen Handelsströme ließ sich aber nicht feststellen.
Das Gegenteil war eher der Fall. Eingestellt hat sich stattdessen ein ganz anderer Effekt. Kehrseite der exorbitanten
Überschüsse in der Handelsbilanz einiger Länder in Verbindung mit der Abwertung von Dollar und Pfund war
nämlich die regelrechte Explosion der Kapitalexporte in all ihren Dimensionen. Davon betroffen waren nicht nur,
wie bereits erwähnt, die Direktinvestitionen, sondern mehr noch die Portfolioinvestitionen (also Staatsanleihen und
andere Kredite) sowie die rein spekulativen Kapitalbewegungen auf den Devisen-, Warentermin-, Zins- und anderen
Options- und Future-Märkten. Während die Direktinvestitionen seit Beginn der 1990er Jahre schon wieder
rückläufig sind, wachsen bis heute die übrigen Kapitalexporte unvermindert weiter an. Zielländer sind vor allem die
USA, Großbritannien und diverse Offshore-Märkte. Resultat ist, daß auch die Erträge aus dem Kapitalexport (die
sogenannten Faktoreinkommen) explodiert sind und im Vergleich zu den Einkommen aus dem Warenexport nicht
nur absolut sondern auch relativ zugenommen haben. Mit anderen Worten, das internationale Finanzwesen,
ursprünglich in seinem Volumen an den Warenhandel gekoppelt, hat sich verselbständigt und ist zur
Einkommensquelle ganz eigener Art geworden.
2. Neben Japan ist in Ost- und Südostasien eine erste und zweite Generation von Schwellenländern getreten, die
nicht nur den Verdrängungswettbewerb aus der Region erheblich verstärkt haben, sondern auch Marktsegmente
erobern, die ursprünglich nur von Japan besetzt waren. Also ist mittlerweile auch Japan selber Opfer eines
Verdrängungswettbewerbs geworden, der nun von Südkorea, Taiwan, der VR China und einigen ASEAN-Ländern
ausgeht. Konsequenz ist nicht nur eine wachsende Arbeitsteilung innerhalb des asiatischen Raums; die Länder des
asiatischen Raums sind vielmehr als Folge der auch dort wachsenden Einkommen selber zu einem wichtigen
Absatzmarkt für Investitionsgüter und dauerhafte Konsumgüter geworden. Der beschleunigte nachholende
Regionalisierungsprozeß in Ost- und Südostasien findet hier seine Erklärung. Damit wird auch ein möglicher
Protektionismus der USA, immer noch wichtigster Absatzmarkt der asiatischen Exportnationen, zu einer stumpfer
werdenden Waffe, zumal protektionistische Hürden durch Produktionsverlagerungen in die USA oder die Länder
der Dollar-Zone wie Mexiko bereits unterlaufen worden sind.
3. Der technologische Wandel im Bereich der Mikroelektronik, Optoelektronik und Telekommunikation sowie
die internationale Vernetzung der Finanzplätze dieser Welt hat das Umschlagtempo des internationalen
Kapitaleinsatzes in kaum glaublichem Maße erhöht. Dieser sogenannte Casinokapitalismus hat nicht nur viele neue
Akteure auf den Plan gerufen - neben den Brockerhäuser und Banken auch Industriekonzerne, die über große
Summen liquiden Kapitals verfügen, ferner Versicherungen, Pensionsfonds und Investment-Gesellschaften -, mit
den sogenannten Derivaten sind auch ganz neue Finanzinstrumente entstanden. Insbesondere der rein spekulative
Handel mit Optionen und Terminen auf Waren, Wechselkurse, Zinsen und Aktienindices hat eine kaum noch
nachvollziehbare Dimension angenommen.
4. Die alten Industrieländer, allen voran die USA, sind in Wirklichkeit keine Industriegesellschaften mehr,
sondern Dienstleistungsgesellschaften in einem fortgeschrittenen Stadium, weil der Beitrag des Tertiären Sektors in
manchen Ländern bereits eine Größenordnung von 60 bis 70 % des BSP angenommen hat. Gleiches gilt übrigens
auch für die Verlagerung der Beschäftigung. Es läßt sich sogar die These aufstellen, daß das Wachstum der letzten
10 Jahre im wesentlichen auf das Wachstum des Tertiären Sektors zurückzuführen ist. Innerhalb des Tertiären
Sektors wierderum ist insbesondere der Subsektor "Banken, Versicherungen, Immobilien und professionelle
Dienstleistungen" gewachsen, der z.B. in den USA eine höhere Wertschöpfung als die gesamte Verarbeitende
Industrie erwirtschaftet. Auf diese Weise erklärt sich, warum in etlichen Ländern die relative Bedeutung des
Warenexports im Vergleich zum BSP stagnierend oder gar rückläufig ist, da dieser lediglich aus den Aktivitäten des
primären und sekundären Sektors resultiert. Dieser Trend zur Verlagerung der volkswirtschaftlichen Schwerpunkte
hat mittlerweile sogar die erste Generation der Schwellenländer in Asien erfaßt, die mithin ebenfalls den Zenit ihrer
Industrialisierung bereits überschritten haben.
5. Bemerkenswert ist auch, daß der Abschluß der Uruguay-Runde zur Fortentwicklung des GATT nur erreicht
werden konnte, weil wichtige Segmente des unsichtbaren Handels mit Dienstleistungen, insbesondere mit
Finanzdienstleistungen, oder der Schutz des geistigen Eigentums und damit der Handel mit Computerprogrammen,
Videos und Disketten aller Art ausgeklammert wurde. Hierbei stellt sich die Frage, ob die Verregelung dieser neuen
Segmente der Weltwirtschaft deshalb nicht möglich war, weil es unüberbrückbare Interessendivergenzen zwischen
den Verhandlungspartnern gab, weil die USA anders als in der Gründungsphase des GATT nicht mehr die Macht
haben, solche Regelungen durchzusetzen, oder weil diese neue unsichtbare Dimension der Weltwirtschaft
grundsätzlich nur schwer, wenn überhaupt, verregelbar ist.
6. Schließlich war der Zusammenbruch des Sozialismus, die Auflösung der Sowjetunion, die Preisgabe ihres
Imperiums in Osteuropa und das Ende des Ost-West-Konflikts von Relevanz für die Hegemoniedebatte. Denkbar
sind zwei Konsequenzen. Entweder: Die USA sind jetzt in der Lage, ihre alte Hegemonialposition
zurückzugewinnen. Befreit von dem doppelten Druck, einerseits den militärischen Wettlauf mit der Sowjetunion
auszutragen und sich andererseits der wirtschaftlichen Konkurrenz von seiten Japans zu erwehren, können sie sich
nun ganz auf den zivilen Sektor konzentrieren, vorher militärisch gebundene Ressourcen umschichten und so
verlorenes Terrain zurückgewinnen. Oder: Aufgrund ihres fortgeschrittenen Deindustrialisierungsprozesses ist es
dafür bereits zu spät. Im Gegenteil, die innerwestlichen Konflikte, die durch die Ost-West-Konfrontation immer
wieder gezügelt wurden, werden jetzt erst so richtig aufbrechen. Das amerikanische Trumpf-As, die auch für Japan
bestehende Nukleargarantie, hat folglich an Wirkung eingebüßt.
Der zweite Golfkrieg lieferte für beide Sichtweisen Argumente. Einerseits waren die USA in der Lage, die Rolle
des Weltpolizisten erfolgreich zu exekutieren, d.h. die Intervention gegen den Irak weltweit politisch abzusichern,
ihn militärisch in seine Schranken zu verweisen und eine mögliche Beeinträchtigung der internationalen
Ölversorgung abzuwehren. Andererseits waren die USA angesichts der immensen Kosten des Unternehmens darauf
angewiesen, dessen Finanzierung ihren wichtigsten Alliierten, allen voran Japan und der Bundesrepublik, aber auch
den übrigen Golfstaaten und sogar Südkorea und Taiwan, aufzubürden, so daß sie am Ende wie eine international
finanzierte Söldnertruppe erschienen. Auf jeden Fall gab der Zusammenbruch der Sowjetunion Anlaß zum
Wiederauflebenlassen der alten Decline-Debatte unter umgekehrten Vorzeichen, da jetzt die Gegner der These des
amerikanischen Niedergang argumentativ in die Offensive gehen konnten.
5. Aufstieg und Niedergang aus postmoderner Perspektive
Wenn man die unter 1 bis 6 genannten Punkte zusammenfaßt, drängt sich eine ganz neue Sichtweise im Hinblick
auf die Hegemoniedebatte auf. Sie wurde ursprünglich aus einer modernen Perspektive geführt, d.h. es ging um
Positionsveränderungen wichtiger weltwirtschaftlicher Akteure, wobei diese Positionsveränderungen mit Hilfe von
Indikatoren gemessen wurden, die dem stofflichen Bereich der Weltwirtschaft zuzurechnen sind.
Tabelle 2:
Indikatoren zum Positionsvergleich zwischen Japan und den USA im nichtstofflichen Bereich
Japan
Tertiarisierungsgrad in %
USA
Welt
1970
48,8
63,1
53,6
1989
59,3
73,1
64,0
80,0
68,0
1994 (geschätzt)
26
Tertiärprodukt in Mrd. US$
Anteil am Welttertiärprodukt in %
Anteil Finanzwesen/Immobilien/ professionelle
Dienstleistungen am Sozialprodukt in %
Relation Außenhandel/Kredite
von Geschäftsbanken
Portfoliokapitalverkehr (Export +
Import) in Mrd. US
Bestand an Auslandsguthaben in Mrd. US$
Relation Faktoreinkommen/ Warenexport in %
Anteil am Weltfaktoreinkommen in %
Anteil am Welthandel mit Dienstleistungen
Direktinvestitionen im Tertiären Sektor (Bestandswerte in Mrd. US$)
Direktinvestitionen im Finanzwesen (Bestandswerte in Mrd. US$)
Direktinvestititionen im Finanzsektor in % aller
Direktinvestitionen
Quelle: wie Tabelle 1
1970
95,8
637,3
1989
2055,7
4617,8
1970
8
53
1989
20
44
1970
12,3
18,5
14,8
1989
16,9
27,0
21,2
1976
0,38
0,58
0,77
1990
3,65
1,52
2,06
1976-80 (Jahresdurchschnitt)
8,5
10,5
46,9
1986-90 (Jahresdurchschnitt)
112,8
58,3
369,6
1991
189,6
96,2
648,6
1992
42,6
113,6
546,5
1982
227
999
1986
726
1.308
1991
2.005
1.868
1970
4
33
1990
45
37
1970
3
48
1990
18
21
1970
7
20
1990
10
18
1982
15,0
61,0
1990
131,0
180,0
1982
3,8
28,9
1990
65,3
120,3
1982
7,2
13,9
1990
21,0
24,3
Macht ist demzufolge der Ausfluß von Industriepotential, der Kontrolle von Räumen, insbesondere wenn sie
geostrategisch von Bedeutung sind, der Kontrolle von Rohstoffen, Seerouten, Meerengen etc. Aus einer
postmodernen Perspektive, in der die nichtstoffliche Ökonomie des tertiären Sektors eine zunehmende Bedeutung
erlangt, wird, so die neue These, nicht mehr die Beherrschung des Raumes sondern die Meisterung der
Geschwindigkeit zu entscheidenden Machtressource. An die Stelle der Geopolitik tritt die Chronopolitik. Folglich
ist es notwendig, auch ganz andere Indikatoren auszuwählen, die den skizzierten Strukturveränderungen der
Weltwirtschaft Rechnung tragen.
Tabelle 2 unternimmt diesen Versuch, wobei wieder die USA und Japan miteinander verglichen werden, ohne
zunächst die herkömmliche Fragestellung nach möglichen Positionsveränderungen aus den Augen zu lassen. Die
verwendeten Indikatoren nichtstofflicher Art sind folglich im Bereich des tertiären statt des sekundären Sektors, im
Bereich des internationalen Finanzwesens statt im Bereich des Warenhandels angesiedelt.
Bereits auf den ersten Blick ergibt sich bei der zweiten Indikatorenauswahl ein ganz anderes Bild als in Tabelle
1. Aus der Perspektive einer durch den tertiären Sektor gepägten Ökonomie erscheinen nämlich die USA als
avantgardistisch, Japan als eher rückständig. Es ist sicherlich unbestritten, daß eine Industriegesellschaft gegenüber
einer Agrargesellschaft als die modernere, fortschrittlichere anzusehen ist. Warum soll nicht analog eine
Dienstleistungsgesellschaft gegenüber einer Industriegesellschaft als die fortschrittlichere, aber nicht mehr als die
modernere, sondern als die ausgeprägter postmoderne erscheinen?
Folglich muß der Tertiärisierungsgrad, also der Anteil der Dienstleistungen am Sozialprodukt, als zentraler
Indikator angesehen werden. Demnach entfielen in den USA 1994 bereits geschätzte 80 % auf diesen Sektor, in
Japan kaum mehr als 60 %, auch wenn dieser Anteil unbestritten bereits ein beträchtlicher Wert ist. Immerhin liegen
die USA damit weit über dem weltweiten Durchschnitt, Japan hingegen deutlich darunter. Entsprechend ist auch das
Tertiärprodukt der USA weit mehr als doppelt so groß als das japanische. Gleiches gilt für die Anteile beider Länder
am Welttertiärprodukt. Aus einer solchen Perspektive kann also, wie in den 1950er Jahren im Hinblick auf die
Industrieproduktion, immer noch von einer absoluten amerikanischen Dominanz in der Weltwirtschaft gesprochen
werden, selbst wenn man konzediert, daß Japan auch im Bereich der Dienstleistungen aufgeholt hat.
Noch deutlicher wird die Aussage, wenn man den eigentlich dynamischen Subsektor innerhalb der Dienstleistungen, nämlich Finanzwesen, Immobilien und professionelle Dienstleistungen, vergleicht. Hier war die relative
Zunahme in den USA im Zeitraum von 1970 bis 1989 dramatisch, in Japan hingegen war sie viel weniger
eindrucksvoll. Die USA liegen deutlich über dem Weltdurchschnitt und Japan ebenso eindeutig darunter. Aus einer
postmodernen Perspektive erscheint Japan, das ist die eigentlich neue Aussage, da es noch sehr stark (wie übrigens
auch die BRD) industriell geprägt ist, als ausgesprochen rückständig. Ähnlich argumentiert auch eine jüngste Studie
der amerikanischen Regierung. Japan (wie die BRD) hat sich demzufolge zu lange auf die klassischen
Industriebranchen konzentriert und den Wechsel in die neuen Technologien und darauf aufbauenden
"nichtstofflichen" Sektoren zu wenig konsequent betrieben.
Bei den Indikatoren, die die Position beider Länder im internationalen Finanzwesen messen, ist das Bild
allerdings weniger eindeutig. Als Folge der hohen und über viele Jahre erzielten Handelsbilanzüberschüsse hat hier
Japan mehr oder weniger mit den USA gleichgezogen. Der langfristige Export und Import von Kapital (ohne
Direktinvestitionen) ist in Japan zwischen 1986 und 1991 regelrecht explodiert, erst 1992 haben sich die USA
wieder an die Spitze setzen können. Entsprechend verkehrt hat sich auch der Bestand an Auslandsguthaben beider
Länder. Während das Verhältnis im Jahr 1982 noch etwa 1 : 4 zugunsten der USA betrug und auch 1986 noch fast 1
: 2, hat mittlerweile der japanische Bestand den amerikanischen übertroffen. Resultat ist auch, daß die Erträge aus
den Kapitalanlagen im Ausland (Faktoreinkommen) relativ im Vergleich zum Warenexport für Japan eine größere
Bedeutung als für die USA gewonnen haben. Bezogen auf die Weltfaktoreinkommen besitzen die USA allerdings
noch eine leichte Führungsposition, die allerdings auch in wenigen Jahren verloren sein dürfte.
Anders sieht es wiederum bei den Anteilen am Welthandel mit Dienstleistungen aus, wobei hier allerdings
aufgrund der unzureichenden Erfassungsmethoden ein beträchtlicher Unsicherheitsfaktor in Rechnung zu stellen ist.
Dennoch hat sich das amerikanische Übergewicht zwischen 1970 und 1990 nur unwesentlich verringert. Damit
28
korrespondieren auch die Daten im Bereich der Direktinvestitionen, die in den Tertiären Sektor fließen. Sowohl bei
den Bestandswerten insgesamt als auch bei den Bestandswerten, die nur im Subsektor "Finanzwesen" getätigt
worden sind, liegen die amerikanischen Werte deutlich höher, wenn auch, wie überall, Japan hier ebenfalls kräftig
aufgeholt hat.
Wenden wir uns schließlich dem rein spekulativen Bereich zu, wo allerdings aufgrund der Globalisierung dieses
Teils des internationalen Finanzwesens sinnvollerweise keine Länder, allenfalls noch Börsenplätze, miteinander
verglichen werden können, ohne daß damit eine Aussage getroffen werden kann, wer eigentlich die Akteure an
diesen Börsenplätzen sind.
Tabelle 3:
Indikatoren zur spekulativen Dimension der internationalen Finanzbeziehungen
gesamt
Devisenumsätze in
Mrd. US$ (Tagesdurchschnitte)
New York
London
April
1989
667
115
129
187
April
1992
1.000
128
192
300
börslich
Handel mit Derivaten
(in Mrd. US$)
Tokyo
Zinsfutures
Zinsoptionen
außerbörslich
1988
1.306
895
279
-
1991
3.523
2.157
1.073
3.450
1993
7.839
4.960
2.362
5.345
Quelle: wie Tabelle 1
Demnach ist etwa beim Devisenhandel weder Tokyo noch New York, sondern London der mit Abstand
wichtigste Platz, wobei New York aber immerhin deutlich vor Tokyo rangiert. Bei diesem Indikator ist zweierlei
von Bedeutung: Erstens sind die Devisenumsätze gerade in den letzten Jahren mit einer exponentiellen Funktion
gewachsen, und zweitens stehen sie in keinem Verhältnis mehr zum Warenhandel. Lediglich zwei Prozent sind noch
auf die Abwicklung des Außenhandels zurückzuführen. Ein deutlicherer Beleg, wie sehr sich die Finanzwelt von der
Warenwelt bereits abgelöst hat bzw. wieweit die Entstofflichung der Weltwirtschaft bereits fortgeschritten ist, ist
kaum noch denkbar.
Noch extremer wird das Bild, wenn man den Handel mit Derivaten einbezieht. Allein der Handel mit ZinsFutures und Zins-Options hat zwischen 1988 und 1993 ein kaum mehr vorstellbares Wachstum erfahren, wobei die
Kontrakte, die über die Börse abgewickelt werden, durch gleichermaßen erhebliche Beträge ergänzt werden, die
außerbörslich (OTC = over the counter) gehandelt werden und damit jeglicher Kontrolle nationaler Behörden
entzogen sind. Hinzu kommen weitere Derivate, also die Spekulation auf Warentermine oder Aktienindices. Die
umsatzstärksten Börsen in diesem Segment befinden sich übrigens in Chicago mit weitem Abstand vor London,
New York und Frankfurt. An dieser Stelle wird die Logik einer ländervergleichenden Tabelle endgültig gesprengt,
da es bei dieser Art von Finanztransaktionen, die in Sekundenschnelle und in Milliardenhöhe rund um den Erdball
geschleust werden, aus einer nationalstaatlichen Perspektive nichts mehr zu vergleichen gibt.
Das Fazit der Tabelle 2 ist ein doppeltes. Aus einer postmodernen Perspektive muß die These vom
amerikanischen Niedergang gleichermaßen relativiert werden wie die These vom japanischen Aufstieg, wenngleich
auch hier Japan deutlich aufgeholt hat. Dennoch, Japan ist im Kern noch sehr viel stärker industriell geprägt als die
USA, während der Übergang zur Dienstleistungs-, genauer zur Finanzdienstleistungsgesellschaft, in den USA
bereits mit aller Konsequenz vollzogen wurde. Aus dieser Sicht der Dinge erscheinen Reaganomics (oder auch
Thatcherismus) als der adäquate Ausdruck des globalen Trends, während die Industriepolitik à la MITI eher
antiquiert anmutet. Es ist allerdings nicht auszuschließen, daß sich auch auf diesem Feld, nicht zuletzt aufgrund des
Konkurrenzdrucks der asiatischen Schwellenländer, auch in Japan ein beschleunigter Wandel vollziehen wird. Aus
einer Perspektive, die Positionsveränderungen in der Weltwirtschaft in den Blick faßt, bilden die USA die
Avantgarde, hängt Japan zurück.
Vielleicht ist aber diese ganze Sichtweise bereits überholt. Positionsveränderungen lassen sich nur konstatieren
aus der Sicht von Nationalstaaten, Volkwirtschaftlichen Gesamtrechnungen, Zahlungsbilanzstatistiken. In
Wirklichkeit geht es aber, das suggeriert insbesondere die Tabelle 3, um Strukturveränderungen in der
Weltwirtschaft vom Warenhandel zum Finanzwesen, von der stofflichen zur nichtstofflichen Ökonomie, vom
Transport über Entfernungen zum sekundenschnellen Umschlag von Derivaten, die zwar von realen Preisnotierungen abgeleitet sind, denen aber keine realen Transfers mehr zugrunde liegen. Aus einer solchen Perspektive
haben alle staatlichen Akteure Positionen verloren. Sie haben Souveränität und damit auch Macht eingebüßt an den
Markt, auf dem sich die Logik des Kapitals in seiner reinsten Form durchgesetzt hat. Insofern muß auch die
Hegemoniedebatte ganz neu aufgerollt werden.
Literatur:
Albert, Mathias /Brock, Lothar /Hessler, Stephan /Menzel, Ulrich /Neyer, Jürgen: Strukturveränderungen in der
Weltwirtschaft seit den 1960er Jahren und ihre Konsequenz für die internationale Ordnung. Forschungsbericht
Universität Frankfurt 1995. 3 Bände.
30
4. Die Last der Geschichte. Die historische Grenzen einer japanischen Hegemonialpolitik
Wolfgang Schwentker, Düsseldorf
I.
Man schreibt den Japanern gemeinhin ein besonderes Traditionsbewußtsein und einen ausgeprägten Stolz auf
das eigene kulturelle Erbe und die historische Vergangenheit zu. Fünfzig Jahre nach dem Zusammenbruch des
japanischen Imperialismus und semi-totalitären Militarismus wird man jedoch sagen dürfen: An die fünfzig Jahre
vor dieser Zeit, genau genommen die Zeit zwischen dem für Japan siegreich gewesenen chinesisch-japanischen
27
Krieg 1894/95 und dem Ende des Pazifischen Krieges, denkt man eher mit gemischten Gefühlen. Besonders für
die Zeit zwischen dem Einfall in die Mandschurei und dem Austritt aus dem Völkerbund 1931/33 und der
endgültigen Niederlage 1945 erscheint die japanische Geschichte, bei Historikern wie im allgemeinen Bewußtsein,
weniger als positives Erbe, denn als Last: eine Vergangenheit, die vergehen soll, aber nicht vergehen will.
Wie stark das Thema politisch und emotional belastet ist, haben verschiedene Skandale in jüngerer Zeit gezeigt,
die zu Rücktritten von Kabinettsmitgliedern und erheblichen diplomatischen Verstimmungen geführt haben. Den
Anfang machte im Mai 1994 Justizminister Nagano Shigeto mit der Behauptung, das Massaker des japanischen
Militärs an chinesischen Zivilisten in Nanking im Winter 1937/38 sei eine Erfindung. Dieser Vorwurf, gerichtet an
die Intellektuellen und kritischen Historiker im eigenen Land und an ausländische Beobachter des japanischen
Umgangs mit der Vergangenheit, ist nicht neu; seit den Urteilen in den T_ky_ter Kriegsverbrecherprozessen von
1948 wird er von rechtsgerichteten und revanchistischen Kreisen im politischen Establishment Japans immer wieder
aufgeworfen. Jedenfalls beschuldigte man die japanische Regierung Hata, den Geist des japanischen Militarismus
wiederzubeleben. Den Äußerungen Naganos folgten im August des Jahres 1994, kurz vor dem 49. Jahrestag der
japanischen Kapitulation, entsprechende Bemerkungen des japanischen Umweltministers Sakurai Shin, der die
Auffassung vertreten hatte, Japan habe nicht die Absicht gehabt, einen Angriffskrieg zu entfesseln. Im Gegenteil, die
asiatischen Nationen hätten es Japan zu verdanken, daß sie sich vom Joch des europäisch-amerikanischen
Imperialismus befreien konnten. Dem japanischen Einfluß in Asien vor 1945 sei es zu verdanken, daß bei den
asiatischen Nachbarn Japans das Bildungsniveau jetzt höher sei als bei den afrikanischen, von den europäischen
Kolonialmächten beherrschten Ländern. Nach einer diplomatischen Intervention Chinas und Südkoreas wegen der
offenkundigen Verzerrung historischer Tatsachen war der Minister im neuen Koalitionskabinett Murayama nicht
mehr zu halten. Und erst kürzlich sorgte auch der Minister für Internationalen Handel und Industrie, Hashimoto,
einer der mächtigsten Männer in der LDP, mit ähnlich gearteten Äußerungen für einen weiteren Skandal. Weitere
Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit ließen sich leicht anfügen.
Der offenkundige Revanchismus in Teilen der politisch-wirtschaftlichen Elite und der öffentlichen Meinung läßt
die Nachbarn Japans zurecht aufhorchen und behindert die Normalisierung der Beziehungen Japans zu den Ländern
Ost- und Südostasiens. In der japanischen Presse wurde der Regierung sogar nahegelegt, wegen der genannten
Skandale auf die Forderung nach einem ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zu verzichten. Das
sieht man nicht nur in Japan so. Deshalb kann von einer endgültigen Rehabilitierung Japans als Verlierernation des
Zweiten Weltkriegs auf internationalem Parkett auch noch keine Rede sein. Die Bundesrepublik Deutschland steht
als Mitglied der Europäischen Union und der westlichen Allianz im Gegensatz zu Japan etwas besser dar.
Ein gewichtiger Grund dafür ist, daß man sich in Japan selbst einer umfassenden Aufarbeitung der eigenen
Verantwortung für den Krieg in Ostasien nie wirklich gestellt hat; im Gegenteil, Versuche von Wissenschaftlern und
kritischen Journalisten, sich mit den Kriegsursachen, den Kriegszielen und der Kriegführung Japans zwischen 1931
27
Form und Stil des Vortrags werden im folgenden beibehalten. Sachliche Ergänzungen und Verbesserungen sowie
Anmerkungen beschränken sich auf das Nötigste. Für den jüngsten Stand der Diskussion dieses Themas vgl. die Beiträge im
Sonderheft von Sekai 591 (1994), Nr.2, mit dem Titel: Nihon no sens_ sekinin (Japans Verantwortung für den Krieg).
und 1945 zu beschäftigen, wurden behindert. Einen "Historikerstreit", wie wir ihn jüngst in der deutschen
Geschichtswissenschaft erlebten, hat es in Japan nie gegeben. Die offene und unvoreingenommene
Auseinandersetzung und Aufarbeitung der Schattenseiten der jüngsten japanischen Geschichte steht noch aus. Mit
Bezug auf das Thema unserer Tagung vertrete ich in meinem Beitrag die These, daß einer Japanisierung Asiens
(und zumal der Welt) aus historischen Gründen, die vorwiegend mit der Rolle Japans im Pazifischen Krieg zu tun
haben, enge Grenzen gesetzt sind. Historiker sind nicht für Prognosen zuständig, aber soviel wird man sagen dürfen:
eine Pax Nipponica im 21. Jahrhundert ist aus historischen Gründen sehr unwahrscheinlich.
Ich möchte diese These im folgenden anhand von drei Fragestellungen systematisch entwickeln und präzisieren:
1. Um welche historischen Altlasten geht es eigentlich genau? Auf welche historischen Tatsachen hat man sich in
der japanischen und internationalen Forschung bislang verständigt. Dies ist der genuin historische Teil meines
Vortrags.
2. Wie ist man in Japan bis heute mit der Aufarbeitung der politischen Verantwortlichkeiten umgegangen? Wo
liegen die Reibungsflächen zwischen historischer Forschung einerseits und politischer Bewußtseinsbildung andererseits?
3. Auf welche Weise hat der Umgang mit dem "Erbe der Geschichte" die Beziehungen Japans zu den asiatischen
Nachbarn und zu den USA tangiert? Wo also genau - damit komme ich zum Untertitel meines Vortrags - liegen die
Grenzen für eine Japanisierung der "Welt"?
Die globale Perspektive geht mir allerdings etwas zu weit, denn als Europäer haben wir mit japanischem
Hegemoniestreben sicherlich weniger Probleme als die asiatischen Nachbarländer. Als Deutsche haben wir
mittlerweile für Fragen der Vergangenheitsbewältigung eine besondere Sensibilität entwickelt. Das neueste Buch
Ian Burumas, der die Organisation kollektiver Erinnerung in Deutschland und Japan, die Verzahnung von
Geschichte und Politik, von Auschwitz und Nanking, von Pearl Harbor und Hiroshima eindrucksvoll beschreibt,
28
stieß deshalb hier auf eine durchweg positive Resonanz. In diesem Zusammenhang muß eines klar herausgestellt
werden: an der Singularität von Auschwitz darf es keinen Zweifel geben. Die Verantwortung für einen systematisch
betriebenen Völkermord hat Japan nie auf sich geladen. Andererseits sollte die Opferrolle, die sich Japan nach
Hiroshima und Nagasaki zuschrieb, Fragen nach den Ursachen des politischen und militärischen Zusammenbruchs
von 1945 nicht verdecken. Aufrechnen lassen sich Schuld und Leiden nicht, und vor Vergleichen des
schlechterdings Unvergleichbaren muß gewarnt werden. Die Pläne eines "Hiroshima-Auschwitz-Komitees" für ein
Museum, in dem den Juden und Japanern als den beiden großen Opfergruppen des 20. Jahrhunderts gedacht werden
29
sollte, sind glücklicherweise vom Tisch.
II.
Damit komme ich zu meinem ersten Punkt. In einem kleinen Bändchen Asien in der Neuzeit hat der
Chinahistoriker Jürgen Osterhammel kürzlich die These vertreten:
"Der japanische Imperialismus der Jahre zwischen 1894 und 1945 ist in macher Hinsicht die politikgeschichtlich
folgenreichste Erscheinung im Asien der ersten Jahrhunderthälfte gewesen. Er hat den Sieg der kommunistischen Revolution in China ermöglicht, die europäischen Kolonialsysteme in Südostasien unwiderruflich
erschüttert, vorübergehend sogar die britische Position in Indien in Frage gestellt und die bis dahin eher
distanzierten USA massiv in die asiatische Politik hineingezogen. Er hat paradoxerweise auch die
Entmilitarisierung Japans bewirkt und damit manche der Voraussetzungen für die Konzentration der Energien
dieser Nation auf das Wirtschaftliche geschaffen. Sucht man das Schlüsselereignis in der asiatischen Geschichte
des 20. Jahrhunderts, so spricht vieles für den japanischen Überfall auf die amerikanische Pazifikflotte in Pearl
30
Harbor am 7. Dezember 1941."
In der Tat belastet der japanische Angriff auf den US-Flottenstützpunkt in Hawaii die amerikanisch-japanischen
28
Siehe Buruma (1993)
The Economist (Aug. 6, 1994): "Goodbye to Hiroshima-Auschwitz".
30
Vgl. Osterhammel (1994: 24f.)
29
32
Beziehungen bis heute, da er noch vor Übergabe der offiziellen Kriegserklärung erfolgte. Für die Amerikaner bleibt
dieser Tag bis heute "a day of infamy" (Roosevelt); dem fünfzigsten Jahrestag des japanischen Angriffs wurde in
Amerika 1991 in diesem Sinne gedacht. Auch wenn die Forschung die diplomatischen Vorgänge mittlerweile
aufgeklärt hat, so tut sich die japanische Seite bis heute mit dem Eingeständnis einer völkerrechtlichen Verfehlung
schwer. So war erst dieser Tage zu lesen, daß das japanische Außenministerium die Schuld für das Fehlen einer
offiziellen Kriegserklärung jetzt der japanischen Botschaft in Washington gibt. Die Tatsache, daß man für diese
Feststellung mehr als 50 Jahre brauchte, spricht für sich.
Pearl Harbor war der Höhepunkt einer Kette von politischen Verwicklungen und Fehlern, für die die japanische
Regierung damals die Verantwortung trug. Die Gründe für das bis heute von der Vergangenheit belastete Verhältnis
Japans zu seinen asiatischen Nachbarn liegen jedoch in den Kriegszielen und vor allem den Methoden der
Kriegführung der japanischen Militärs zwischen 1931 und 1945. Unter aufgeklärten Historikern in Ost und West ist
unstrittig, daß die Geschehnisse vom Einfall in die Mandschurei 1931 bis zum Ende des 2. Weltkriegs in einem
historischen Zusammenhang stehen. So spricht man denn heute auch eher vom "Pazifischen Krieg" (Taiheiyõ sens_)
31
oder vom "Fünfzehnjährigen Krieg" (J_gonen sens_) als vom "Großen Ostasiatischen Krieg" (Dai T_a sens_).
Dieser Begriff war die offizielle Bezeichnung für den Krieg bis 1945 und wurde im Dezember 1945 zeitweilig
verboten. Man folgte damit den Vorgaben der amerikanischen Besatzungsmacht, die den aggressiven
Expansionismus Japans seit 1931 bis zum Zusammenbruch als einen zusammenhängenden Komplex betrachtete.
Das "Internationale Militärgericht für den Fernen Osten" folgte dieser Auffassung und urteilte auch über
Kriegsverbrechen, die von japanischen Militärs in China und Korea schon in den 1930er Jahren begangen wurden.
Diese
Vorkommnisse
und
ihre
bis
heute
ungelösten
Folgeprobleme
(Reparationen
und
Wiedergutmachungsansprüche der Opfer oder ihrer Nachkommen) sind es auch, die die Beziehungen Japans zu den
Staaten Asiens immer wieder belasten.
Das japanische Engagement auf dem asiatischen Kontinent begann, abgesehen von den gescheiterten, aber nicht
vergessenen Versuchen zur Eroberung Koreas im 16. Jahrhundert und nach der Meiji-Restauration, mit Siegen in
den Kriegen gegen China 1894/95 und Rußland 1904/05, die Japan mit Taiwan eine in der Folgezeit sehr
ertragreiche Kolonie und Stützpunkte sowie Handelsrechte in China und Korea bescherten. Dem folgte 1910 die
formelle Annektierung und wirtschaftliche Ausbeutung Koreas, das bis zum Ende der 1920er Jahre 50 % der
Reisproduktion nach Japan ausführen mußte. Gegen die aus der chinesischen Revolution hervorgegangene
Nationalbewegung unter Jiang Kaishek, die den Einfluß der westlichen Mächte und Japans in China zunichte
machen wollte, mobilisierte die japanische Kwangtung-Armee, der der Schutz der südmandschurischen Eisenbahn
aufgetragen war, seit Mitte der 1920er Jahre Widerstand. Vor diesem historischen Hintergrund kam es im
September 1931 zu einem von den Militärs der Kwangtung-Armee initiierten "Zwischenfall", dem sog. "Mansh_
jihen", und nachfolgend zur Etablierung Mandschukuos als eines japanischen Marionettenstaates. Ein größerer
militärischer Konflikt mit der chinesischen Nationalregierung und der immer stärker werdenen kommunistischen
Bewegung war damit vorprogrammiert. Nach einem Scharmützel an der Marco-Polo-Brücke bei Beijing brach der
Krieg zwischen Japan und China im Sommer 1937, in diesem Fall mit Billigung T_ky_s, offen aus. In den ersten
Monaten gelang es der japanischen Armee, die Truppen Jiang Kaisheks zunächst zurückzuwerfen und bis nach
Zentralchina vorzudringen. Im Dezember/Januar 1937/38 kam es zu der bereits erwähnten Eroberung Nankings und
zur bestialischen Ermordung unzähliger Menschen: Die Zahl der Opfer liegt je nach japanischen bzw. chinesischen
Angaben zwischen 50.000 und 300.000 Toten. Die Weltöffentlichkeit war alarmiert. Ausländische Zeugen, meist
32
Missionare, schätzten die Zahl der Opfer auf 150.000; die Forschung hält diese Zahlen heute für plausibel. In den
japanischen Schulbüchern werden sie nach wie vor unterschlagen oder kaschiert.
Bei allem war Nanking erst der Auftakt einer großangelegten militärischen Offensive, die sich, einmal
begonnen, nicht mehr ohne weiteres aufhalten ließ und eine verhängnisvolle Eigendynamik entwickelte. Dabei war
31
32
Siehe etwa It_ (1989)
Fujimura (1991: 182f)
es für die japanische Armee natürlich völlig unmöglich, China auch nur zu Teilen wirklich zu beherrschen. Man
mußte sich mit der Kontrolle wichtiger Städte, Verkehrsknotenpunkte und -verbindungen beschränken. Die
Mißhandlungen der einheimischen Bevölkerung durch japanische Truppen trugen dazu bei, der nationalen
Guomindang-Armee unter Jiang Kaishek und den Kommunisten, die ein fragiles Bündnis gegen die Japaner
geschlossen hatten, zu helfen, ihren Widerstand gegen die ungerufenen Besatzer zu forcieren. Die japanische
Regierung reagierte darauf mit einer völlig verfehlten Strategie, indem sie den Raum, den sie kontrollieren wollte,
immer mehr nach Südchina und schließlich nach Südostasien ausweitete. Der europäische Krieg und die Siege des
nationalsozialistischen Deutschland in Westeuropa kamen ihr dabei zu Hilfe. Das vom Dritten Reich abhängige
Vichy-Regime mußte im September 1940 einwilligen, japanische Truppen nach Französisch-Indochina, das heutige
Vietnam, einmarschieren zu lassen. Im darauffolgenden Jahr folgte der japanische Vormarsch nach NiederländischOstindien und Malaysia, nach Thailand, Burma und auf die Philippinen.
Gerechtfertigt wurde dies vom japanischen Ministerpräsidenten Konoe Fumimaro und seinem Außenminister
Matsuoka Y_suke mit dem Plan, eine "Groß-Ostasiatische Wohlstandssphäre" (Dait_a ky_eiken) zu etablieren, die
Japan und seine chinesischen und koreanischen Besitzungen zusammen mit den südostasiatischen Ländern zu einem
autarken politischen und ökonomischen Verbundsystem zusammenfaßte, natürlich unter der Führung Japans. Ein
weiteres Argument für den weiteren Vorstoß Japans nach Südchina und Südostasien war das sog. Dekolonialisierungs-Argument, das, auf eine Formel gebracht, "Asien den Asiaten" versprach und dem europäischamerikanischen Imperialismus in Asien ein Ende machen wollte. Aber das waren nur ideologische Phrasen. Am
ersten Testfall, nämlich dem annektierten Korea, wurde schnell klar, daß die Japaner es mit der Dekolonialisierung
nicht wirklich ernst meinten, sondern lediglich ein imperialistisches System durch ein neues ersetzt hatten. Seit 1939
wurden Koreaner gezwungen, japanische Zunamen anzunehmen und, was besonders verhaßt war, dem Shint_ zu
huldigen. Tausende wurden zur Zwangsarbeit verpflichtet und nach Japan deportiert.
Es waren aber nicht nur der japanische Imperialismus als solcher und die japanischen Kriegsziele, die heute
einem stärkeren politischen Engagement Japans in dieser Region entgegenstehen. Es waren im besonderen Maße die
33
Formen der japanischen Kriegführung, die noch heute in Asien unvergessen sind. Dazu gehören vor allem die
Mißhandlungen von Zivilisten und Kriegsgefangenen in allen Kriegsgebieten. Weiter zählen dazu die
Verschleppung von Tausenden koreanischer und chinesischer Frauen in japanische Militärbordelle. Genannt werden
muß ferner die Produktion von Giftgas mit Zwangsarbeitern auf der Insel Okunoshima in der Inlandsee, die während
der Kriegsjahre zeitweilig von den japanischen Landkarten verschwand, und die bakteriologische Kriegführung in
der Mandschurei, bei der in den letzten Kriegsjahren von der berüchtigten Einheit 731 medizinische Experimente an
Tausenden von chinesischen Kriegsgefangenen durchgeführt wurden. Die meisten Beweise für diese Greueltaten
wurden von den japanischen Truppen nach dem Eintritt der UdSSR in den Krieg am 8. August 1945 vernichtet. Die
Rückführung dieser Einheit nach Japan hatte absolute Priorität.
III.
Die Anerkennung und Aufarbeitung der Schuld Japans an Ausbruch und Verlauf des Krieges in Ostasien ist
34
bislang nur schleppend verlaufen. Sie war das Werk weniger Einzelgänger wie Ienaga Sabur_. Die wechselvolle
Geschichte des unfreiwilligen Umgangs mit der Kriegsschuldfrage in Japan muß erst noch systematisch
aufgearbeitet werden, wenngleich die Debatte seit dem Tode Sh_wa Tenn_s neu in Gang gekommen ist (daüber
gleich mehr). Gehen wir zunächst noch einmal ins Jahr 1945 zurück.
Am 28. August gab Higashikuni Narahiko, Premier des Übergangs vom Krieg zur Besatzung, einer Gruppe von
Journalisten ein Interview, in dem er der Militärführung, der Regierungsbürokratie und dem gesamten Volk dazu
riet, über die Geschehnisse der vergangenen Jahre nachzudenken und diese zu bereuen. Es war das erste Mal, daß
33
Vgl. dazu Ienaga (1978: 181 ff)
Vgl. etwa Ienaga (1985), in dem Ienaga den Methoden der japanischen Kriegführung und den Verantwortlichkeiten, die sich
daraus ergeben, in den einzelnen ostasiatischen und südostasiatischen Ländern detailliert nachgeht.
34
34
nach dem verlorenen Krieg die Frage der Verantwortung für den Krieg (sens_ sekinin) öffentlich zur Sprache
35
gebracht wurde.
Die Formel von der "kollektiven Schuld von 100 Millionen" machte in den folgenden Jahren die Runde, wobei
umstritten blieb, wer wirklich für Ausbruch und Verlauf des Krieges verantwortlich war. Kritische Stimmen kamen
vor allem aus den unteren Schichten der Gesellschaft. Arbeiter meldeten sich in Leserbriefen an die großen
Zeitungen zu Wort und wiesen auf ihre geringen Einwirkungsmöglichkeiten in politischen Belangen unter dem alten
System hin. Sie wurden darin von kritischen Intellektuellen in den Universitäten und Zeitungsredaktionen
unterstützt. Diese richteten ihre Kritik an die alten (und neuen) Eliten, die sie vor allem in der hohen Bürokratie und
Diplomatie und im Militärapparat vermuteten. Sie seien für den Angriffskrieg verantwortlich zu machen und müßten
deshalb politisch und sozial entmachtet werden. In diesem Sinne hatte die Frage der Verantwortung für den Krieg
unmittelbar nach 1945 auch einen direkten Einfluß auf die Diskussion über die Neuordnung Japans nach 1945 und
wurde vor allem auf der Linken politisch instrumentalisiert und mit der Kritik am Tenn_-System verknüpft.
Ganz anders geartet waren die Reaktionen der Trägergruppen des alten Regimes. Zwar kam es unter Mitgliedern
des militärischen Apparats und in rechtsradikalen Kreisen zu zahlreichen Selbstmorden, etwa 1000 an der Zahl; sie
aber waren eher Verneigung und Entschuldigung vor dem Tenn_ wegen des militärischen Mißerfolgs und dürfen
nicht als politisches Schuldeingeständnis gewertet werden. Andere Repräsentanten der alten Eliten versuchten
hingegen, sich von jeder Verantwortung freizusprechen, wie etwa General Minami Jir_, der zur Zeit des Mansh_
jihen Heeresminister war, oder man schob sich gegenseitig die Verantwortung zu. Diese Debatten setzten sich in
den kommenden Monaten fort, bis am 1. Dezember 1945 Premierminister Shidehara vor Mitgliedern des
Oberhauses die sehr moderate Auffassung vertrat, daß diejenigen, die für den Krieg verantwortlich waren, keine
schlechten Absichten gehabt hätten. Man solle tolerant sein, denn es seien die Verbrechen, die Verachtung
verdienten, nicht die Menschen. Im übrigen verfüge man in Japan zur Zeit nicht über die juristischen Instrumente,
die Verantwortlichen zu bestrafen. Wie eine Umfrage von Asahi Shimbun im November 1945 zeigte, stimmten
dieser dilatorischen Handhabung der Kriegsschuldfrage nur rund ein Drittel der Bevölkerung zu, mit dem
Argument, man müsse jetzt nach vorne schauen und solle mit der ganzen Debatte aufhören: also mit einer Strategie
des mizu ni nagasu die ungelösten Fragen am besten dem Vergessen zu überantworten. Etwa 30 % der Befragten
forderte dagegen die Hinrichtung der verantwortlichen Politiker und Militärs, ein anderes Drittel hielt lediglich die
36
Militärs für schuldig.
Im Zusammenhang dieser Diskussionen stellte sich natürlich recht bald die Frage nach der Verantwortung
Hirohitos für den Krieg. Während sie in Japan selbst unmittelbar nach dem Kriege nur auf seiten der Marxisten
geäußert wurde, stieß sie im Ausland, vor allem in Großbritannien und in China, auf immer breitere Resonanz. Es
besteht heute gar kein Zweifel mehr daran, daß der Sh_wa Tenn_ in die politischen Entscheidungen involviert und
über das militärische Vorgehen auf dem Kontinent auch im Detail informiert war und sich dazu auch geäußert hat.
Er war keinesfalls nur eine Marionette in den Händen seiner Berater. Die Aufzeichnungen über Gespräche des
Tenn_ mit engsten Beratern über die Ereignisse in den 1930er und 1940er Jahren unmittelbar nach dem Kriege, die
im Dezember 1990 im Magazin Bungei Shunju veröffentlicht wurden, stützen eine solche Interpretation
37
zweifelsfrei.
Im Winter 1945/46 steckte in dieser Frage politischer Zündstoff. Es war der Oberkommandierende der alliierten
Streitkräfte, General MacArthur, der der öffentlichen Meinung in den Siegerstaaten nach einer Unterredung mit
Hirohito widerstand und entschied, diesen nicht vor ein Militärtribunal zu bringen. In seinen Memoiren lesen wir
dazu: "I believed that if the Emperor were indicted, and perhaps hanged, as a war criminal, military government
38
would have to be instituted throughout all Japan, and guerilla warfare would probably break out."
Dieser Auffassung schlossen sich in den folgende Monaten zahlreiche japanische Politiker an. Und auch in der
35
Siehe dazu Iritani (1991: 215ff)
Vgl. Asahi Shimbun, 14. Dez. 1945.
37
Bungei Shunju, Dez. 1990: "Sh_wa Tenn_ no dokuhaku hachijikan"( Der achtstündige Monolog Sh_wa Tenn_s), S. 100.
38
Vgl. MacArthur (1964: 288)
36
Bevölkerung fand eine Fortsetzung der kaiserlichen Herrschaft breite Zustimmung. Andere Stimmen, wie die
Nambara Shigerus, damals Präsident der T_ky_ Universität, die eine Abdankung des Tenn_ forderten, waren in der
Minderzahl. Hirohito selbst scheint zeitweilig eine Abdankung erwogen zu haben, ließ sich aber von engen Beratern
und den amerikanischen Besatzern davon überzeugen, daß ein Verbleiben an der Spitze des Staates für den
politischen Wiederaufbau Japans förderlicher sei.
Anfang der 1950er Jahre, vor dem Hintergrund der Verabschiedung einer neuen Verfassung, die die alte Macht
des Tenn_ zwar beschnitt, ihn aber als obersten Repräsentanten des Staates ausdrücklich weiter vorsah, kam die
Debatte über die Verantwortung des Tenn_ für den Krieg fürs erste zum Stillstand. Erst in den 1970er Jahren erhielt
sie auch in der internationalen Diskussion wieder Gewicht. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an eine
Europareise des Tenn_ im Herbst 1971, bei der der Kaiser auf die Frage eines Reporters der Londoner Times nach
der Kriegsschuld Japans erwiderte, er habe die Literatur zu diesem Thema noch nicht ausreichend studiert, was
wiederum bei den ehemaligen Kriegsgegnern Japans zu einem Aufschrei der Empörung führte. In der offiziösen
Politik war das Thema seitdem tabuisiert. Historiker wie Ienaga Sabur_, der dieses Thema in seinen Büchern darunter "Taiheiy_ sens_" (1968) und "Sens_ sekinin" (1985) - angesprochen und die japanischen Schulbücher
wegen ihrer Auslassungen und Verzerrungen scharf kritisiert hatte, mußten jahrzehntelang mit wechselndem Erfolg
Prozesse gegen die zuständige Ministerialbürokratie führen und blieben in der Zunft isoliert. Der Bürgermeister von
Nagasaki, der die Verantwortung des Tenn_ für den Krieg im Herbst 1988 kurz vor dessen Tod öffentlich zur
Sprache brachte, wurde von rechten Kreisen des Verrats bezichtigt und überlebte einen Attentatsversuch schwerverletzt. Das Thema machte nicht nur im Ausland Schlagzeilen, sondern ist seitdem auch in Japan wieder auf der
Tagesordnung.
Die Schwierigkeiten der Japaner im Umgang mit der jüngsten Geschichte, im Vergleich zur Behandlung des
Problems in Deutschland nach 1945, sieht Takahashi Hikohito in seinem Buch "Minsh_ no gawa no sens_ sekinin"
im wesentlich durch vier Gründe bedingt:
1. die Immunität des Tenn_ und die Kriegsverantwortung der Alliierten,
2. die Hinrichtung der Hauptkriegsverbrecher, mit der Japan für den Krieg gesühnt habe,
3. die Opferrolle, in der sich die Mehrheit der Bevölkerung sieht (ein scharfer Kontrast zum historisch-politischen
Bewußtsein in Deutschland),
4. die fehlende Möglichkeit, sich in angemessener Form für die Kriegsgreuel zu entschuldigen.
Die Zahl derjenigen, die politisch zur Verantwortung gezogen wurden, war im Vergleich zur Situation in
39
Deutschland beschränkt.
IV.
Damit komme ich zu meinem dritten Punkt und zu der Frage, wie der japanische Umgang mit dem "Erbe der
Geschichte" das Verhältnis Japans zu den ehemaligen Kriegsgegnern, also den anderen asiatischen Staaten und den
USA, geprägt hat. Die Beziehungen Japans zu seinen unmittelbaren Nachbarn und zu den USA als ihrem
wichtigsten Verbündeten seit dem Korea-Krieg waren nach den Erfahrungen mit dem japanischen Imperialismus
von einem doppelten Sicherheitsaspekt bestimmt. Wie der Politologe Reinhard Rode kürzlich in der Beilage der
Wochenzeitung "Das Parlament" schrieb, ging es den einen um Sicherheit für Japan und den anderen um Sicherheit
40
vor Japan.
Für die Sicherheit für Japan fühlten sie nach 1945 die Amerikaner zuständig. Politisch-strategische
Eigeninteressen hatten dabei mit Aufkommen des Kalten Kriegs und seit dem Ausbruch des Korea-Kriegs ein
immer stärkeres Gewicht. Das Bündnis mit Japan und die amerikanischen Garantien für die japanische Sicherheit
erwiesen sich für beide Seiten in den kommenden Jahren als ertragreich. Japan konnte seine fiskalischen Mittel auf
39
40
Siehe Takahashi (1989: 24ff)
Vgl. Rode (1994)
36
den wirtschaftlichen Wiederaufbau konzentrieren; die USA behielten ihre militärischen Stützpunkte und etablierten
sich als westliche Weltmacht auch in Ostasien. Dabei war das bilaterale Verhältnis aus historischen Gründen nicht
frei von Ressentiments. Noch heute macht sich in der Presse im Zusammenhang der Diskussion über das
amerikanische Handelsbilanzdefizit gegenüber Japan schnell eine sog. "Pearl Harbor-Stimmung" breit, und in Japan
lebt ungeachtet der "Amerikanisierung" der Lebensverhältnisse ein latenter Anti-Amerikanismus fort. Bis zum Ende
des Zeitalters der Ost-West-Konfrontation wurden diese bilateralen Probleme von einem gemeinsamen militärischstrategischen Interesse überlagert.
An Sicherheit vor Japan war vor allem den asiatischen Ländern zu einem Zeitpunkt gelegen, als sich der neue
wirtschaftliche Erfolg Japans abzuzeichnen begann und das Land in die Rolle einer ökonomischen Weltmacht
hineinwuchs. Der Umgang mit dem Erbe der Geschichte in Japan wird seitdem in Ost- und Südostasien wieder mit
besonderer Sensibilität beobachtet. Als 1979 im Yasukuni Schrein eine Gedenkfeier für die Toten des Krieges,
darunter 14 Kriegsverbrecher der ersten Kategorie, abgehalten wurde, schrieb die in Singapur erscheinende Seish_
News:
"As Asian people, who had been infringed upon by Japanese forces before, and who were forced to have bitter
experiences directly and indirectly during the Second World War caused by Japanese forces, on what grounds
41
can we believe that the Japanese people of today have abandoned their intention of invasion?"
Ein anderes Beispiel für die reservierte Haltung der asiatischen Nachbarn sind die heftigen Reaktionen in
Südkorea auf Regierungspläne vom Frühjahr 1994, die gesetzlichen Restriktionen gegenüber dem Import von
Produkten der japanischen Kulturindustrie abzubauen. Was man dort, und nicht nur dort, fürchtet, ist eine
Neuauflage der Pläne für eine "Großasiatische Wohlstandssphäre", jetzt unter der Ägide japanischer Großunternehmen. Dann nämlich wäre der Krieg gegen Japan aus der Sicht der damaligen Kriegsgegner doch noch verloren.
Zwar kann heute an einer ökonomischen Durchdringung des asiatischen Raums durch die japanische Industrie kein
Zweifel bestehen. Die jüngsten Zahlen über die Investitionssteigerungen Japans in China und Vietnam sprechen für
sich. Ob dies aber automatisch auch auf eine Hegemonie hinauslaufen wird, ist noch nicht absehbar. Aus
historischen und politischen Gründen ist eine solche Entwicklung eher unwahrscheinlich. Es steht zu erwarten, daß
sich die asiatischen Nachbarn Japans, allen voran China und die beiden Korea, dagegen mit allen Mitteln zur Wehr
setzen werden.
V.
Für die japanische Außenpolitik ergeben sich daraus jedenfalls vielschichtige Probleme. Joseph Nye hat kürzlich
in der Zeitschrift Foreign Policy vier Hauptoptionen für eine japanische Weltpolitik formuliert:
1. die Strategie, sich unter Einschluß der technologisch-militärischen Möglichkeiten als normale Supermacht zu
etablieren;
2. die Fortsetzung einer nur ökonomischen Wachstumspolitik;
3. die regionalistische Perspektive im Sinne einer Reasiatisierung Japans;
42
4. die - natürlich von den Amerikanern favorisierte - Option einer globalen Zivilmacht.
Rode hat diesen Möglichkeiten noch eine fünfte hinzugefügt, die bei dem bekannten japanischen Sinn für
43
pragmatische Lösungen sehr wahrscheinlich scheint: ein Durchwursteln nach dem Motto "von allem etwas".
Wie immer man sich auch immer entscheiden wird: ohne eine systematische Aufarbeitung der politischen
Geschichte der 1930er und frühen vierziger Jahre, und zwar unter Einschluß möglicher Reparations- und
Wiedergutmachungsleistungen, wird eine japanische "Weltpolitik", die über einen rein ökonomisch stimulierten
Wachstumsoptimismus hinausgeht, keinen wirklichen Entfaltungsspielraum haben. Die emotional aufgeladenen
Auseinandersetzungen um die Entsendung japanischer UNO-Truppen nach Kambodscha in Japan und in den
41
Zitiert nach Iritani (1991: 240)
Nye (1992/93)
43
Rode (1994: 24)
42
Ländern Asiens haben die Grenzen einer Japanisierung Asiens jüngst wieder aufgezeigt. Jede Form einer wie auch
immer gearteten japanischen Außenpolitik - das hat sie mit der deutschen gemeinsam - hat auch heute noch, fünfzig
Jahre nach dem Zusammenbruch, mit den langen Schatten der Vergangenheit zu rechnen und sie in die politischen
Planspiele für das 21. Jahrhundert miteinzubeziehen.
Literatur:
Buruma, Ian: The Wages of Guilt, London 1993 (deutsch: Die Erbschaft der Schuld. Vergangenheitsbewältigung in
Deutschland und Japan. München, 1994.
Fujimura, Michio: Nihon Gendaishi (Neuere Geschichte Japans), 6. Aufl. T_ky_, 1991, 182f.
Ienaga, Sabur_: The Pacific War, 1931-1945. A Critical Perspective on Japan's Role in World War II. New York,
1978, 181 ff.
Ienaga, Sabur_: Sens_ sekinin (Die Verantwortung für den Krieg). T_ky_, 1985.
Iritani, Toshio: Group Psychology of the Japanese in Wartime. London, 1991.
It_, Takashi: J_gonen sens_ (Der fünfzehnjährige Krieg). 8. Aufl. T_ky_, 1989.
MacArthur, Douglas: Reminiscenses. New York, 1964.
Nye, Joseph: Coping with Japan, in: Foreign Policy, 89 (1992/93).
Osterhammel, Jürgen: Einleitung, in: Osterhammel, Jürgen (Hrsg.): Asien in der Neuzeit. Sieben historische
Stationen. Frankfurt/M., 1994.
Rode, Reinhard: Die USA und Japan, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (Beilage zu "Das Parlament"), (1994)9, 4.
März 1994, 22-29.
Takahashi, Hikohito, Minsh_ no gawa no sens_ sekinin (Die Verantwortung für den Krieg auf Seiten des Volkes).
T_ky_, 1989, S. 24ff.
38
5. Japanisierung der Weltwirtschaft: Regionaler Wirtschaftsblock
oder globale wirtschaftliche Supermacht?
Detlef Lorenz, Berlin
"Perhaps no state has grown so rich so fast and has confused everyone including the Japanese."
(Meeks 1993: 46)
"Americans (and Asians) have trouble agreeing whether they want Japan to do more or to do less."
(Frankel/Kahler 1993: 13).
I.
Wie die beiden vorangestellten Zitate erläutern, ist das Fragezeichen der Themenstellung sicher berechtigt.
Hinzu kommt, daß die drei Begriffe des Themas vieles offen lassen. Japanisierung der Weltwirtschaft bedeutet nicht
notwendig Hegemonie im Sinne einer Pax Nipponica. Deutliche, erfolgreiche Aufholprozesse, wie sie durch Japans
wirtschaftlichen Aufstieg der letzten fünzig Jahre weithin bekannt geworden sind, belegen schon für sich eine
stärker japanisch geprägte Weltwirtschaft. Eine Position als globale wirtschaftliche Supermacht schließt zudem
andere Supermächte nicht aus, die zusammen mit Japan - oder wegen Japan - eine "collective leadership" zu
etablieren versuchen. Und schließlich sollten Regionalisierungsprozesse in der Weltwirtschaft auch als Ausdruck
"natürlicher" weltwirtschaftlicher Entwicklungen und nicht vorschnell als (institutionelle) Blockbildung interpretiert
werden.
Im Sinne dieser Relativierungen wird in den folgenden Ausführungen die These vertreten, daß das aktuelle
ökonomische Japan-Phänomen angemessen im Rahmen eines neuen, durch Regionalisierung geprägten
Trilateralismus analysiert werden kann. Bevor im Abschnitt IV detaillierter auf die regionale Komponente
eingegangen wird, sollen in den Abschnitten II und III einige Aspekte der globalen Komponente des Themas kurz
angesprochen werden.
II.
Japan kann in dreierlei Hinsicht als globale wirtschaftliche Supermacht interpretiert werden:
Erstens ist der seit einiger Zeit im Vordergrund stehende Disput über das bilaterale Verhältnis USA-Japan zu
nennen, der vielleicht am schärfsten in dem Buch von Nester polarisiert wird, und zwar als Sieg des agressiven und
egoistischen, neomerkantilistischen Japans über den liberalen Toren, über die verfallende ökonomische Macht des
44
nach dem Zweiten Weltkrieg unbestrittenen Hegemons USA (Pax Americana). Das ist sicher eine sehr polemischpolarisierende Interpretation. Das eigentliche Problem besteht vielmehr in der beiderseitigen Anpassung an die
bilaterale Machtverschiebung im Wege der Kooperation, wenn man nicht die gesamte Geschäftsbasis der Zeit nach
45
1945 sowie unter den neuen weltpolitischen Gegebenheiten ab 1989 prinzipiell aufgeben will .
Zweitens stellt sich die Frage nach der Führungsrolle Japans, speziell der Umsetzung seines wirtschaftlichen
Machtpotentials in eine klar artikulierte japanische Interessenpolitik. Hier gibt es Zweifel an der Führungsrolle
außerhalb und innerhalb Japans. Vom japanischen Standpunkt aus erscheint eine Position Japans nur als "Nummer
46
2" sogar taktisch klüger, nachdem die Rolle des sogenannten Trittbrettfahrers (free rider) soviel eingebracht hat.
Außerdem: wird Japan tatsächlich zur alleinigen wirtschaftspolitischen Supermacht, zur Hegemonie, zur Pax
44
Nester (1993)
Zum Verhältnis Japan/USA vgl. außerdem die wichtigen Beiträge von Inoguchi in Frankel/Kahler (1993: 382-389) und M.
Feldstein in Frankel/Kahler (1993: 449-457).
46
Akaha/Langdon (1993: 274-276)
45
47
48
Nipponica vorstoßen können und wollen? Handelt es sich hier etwa um eine Art "leading from behind"? Oder
wäre es angemessen, von "shared", "collective" oder "joint leadership" im Rahmen der "G 2" zu sprechen? Handelt
49
es sich um "supportive leadership" oder "competitive interdependence"? Beschränkt sich die japanische Position
50
auf den regionalen leader oder nur auf den globalen Zahlmeister? Die Diskussion darüber ist offen.
Damit gelangt man dann drittens zu der scheinbar weniger aufregenden Frage, ob es nicht "nur" um eine neue
Interpretation des "Konsortiums" der altbekannten Trilateralisten geht. Diese Ansicht wird in einem Gutachen der
Trilateralen Kommission vom Januar 1992 vertreten. Dort lautet die These: Trotz der weltpolitischen Umwälzungen
51
seit 1989 "erinnern die Trends der 90er Jahre an die Frühzeit des Trilateralismus". Zur Begründung gehören
einmal eine gemäßigte Interpretation des "Niedergangs" der USA anhand weltwirtschaftlicher Indikatoren, zum
zweiten die Betonung der weiter bestehenden Notwendigkeit einer sicherheitspolitischen Rolle der USA sowie
schließlich drittens die Bekräftigung der in erhöhtem Maße erforderlichen internationalen Kooperation. Diese ist
notwendig, um eine Fragmentierung bzw. Blockbildung der interdependenten Weltwirtschaft zu verhindern,
darüberhinaus jedoch vor allem, um Japan als "Mitglied des Westens" zu erhalten und stärker auf seine größere
52
Rolle der "joint leadership" vorzubereiten. Unter dem Blickwinkel dieses Beitrages bemerkenswert ist der
Hinweis, daß "ironischerweise wahrscheinlich nur ein dem Westen eng verbundenes Japan für Asien als Partner
53
akzeptabel" sei.
Sicher kann man der Meinung sein, daß die trilaterale Zusammenarbeit in der Vergangenheit nicht besonders
viel bewegt hat - siehe etwa gerade das Verhältnis USA-Japan. Es sollte auch nicht nur ganz allgemein von
54
"Ausbreitung von Macht" gesprochen werden, die eine Zusammenarbeit zwar erschwert, aber erst recht dringend
notwendig macht. Hinter der "Ausbreitung von Macht" verbirgt sich nämlich bei allen drei Trilateralisten auch eine
Nord-Süd-Komponente also die Regionalisierung, die nicht nur für die Europäische Union, sondern vor allem für
55
Ostasien zur vermutlich entscheidenden neuen Komponente im weltweiten Kräftespiel wird. Die um
Schwellenländer (NIEs) erweiterten Gravitationsräume - der Euröpäische Wirtschaftsraum, die NAFTA in Amerika
und die verschiedenen in Ostasien bzw. dem Pazifikbecken entstehenden Wirtschaftsräume - sind somit zu den
global wie regional bestimmenden weltwirtschaftlichen Kraftfeldern geworden.
III.
Globale Machtverhältnisse können freilich unterschiedlich interpretiert werden, ganz abgesehen davon, ob die
Frage nach einer globalen wirtschaftlichen Supermacht überhaupt isoliert von der politisch-militärischen Ebene
analysiert werden kann oder analysiert werden sollte. Sind wir wirklich am "Ende der Geschichte" angelangt - wie
es Fukuyama formulierte - und ist mit der Auflösung der militärisch-gesellschaftspolitischen Ost-West-Konflikte
alles nur noch Gegenstand marktwirtschaftlicher Spieltheorien und ökonomischer Interessengegensätze geworden?
Relativiert wird die weltwirtschaftliche Macht Japans auch durch zweierlei: Zum einen ist Japan vor allem
sektoral stark, d.h. besonders in einer Reihe strategischer Bereiche, auf die "man" (MITI?!) sich erfolgreich
56
konzentriert hatte . Spezielle Bedeutung kommt hier dem Finanzsektor und dem bilateralen Verhältnis zwischen
47
Vogel (1986)
Rix (1993: 82)
49
Bergsten/Noland (1993: 233 ff)
50
vgl. Frankel/Kahler (1993: 14-17)
51
Trilaterale Kommission (1992: 8)
52
Trilaterale Kommission (1992: 36f)
53
Trilaterale Kommission (1992: 34)
54
Trilaterale Kommission (1992: XVI)
55
"The political and diplomatic dynamics surrounding trade in the region are growing more complex, and, whether they like it
or not, the Asian countries are slowly being dragged into the three-way pattern of tension over trade issues between Japan, the
United States and Europe." (Sasaki/Shimane 1994: 52)
56
Ein japanischer "Block" "...would be sectoral rather than territorial in scope: integration of the electronics or automobile
industries throughout the region rather than all of economic activities in Pacific Asia." (Frankel/Kahler 1993: 6). Vgl. außerdem
48
40
57
den USA und Japan bei der Finanzierung des amerikanischen Haushaltsdefizits zu. Zum anderen existiert Japan
als globale wirtschaftliche Supermacht nicht in gleicher Weise herausgehoben in der Weltwirtschaft wie Großbritannien (Pax Britannica) oder die USA (Pax Americana), und zwar nicht nur wegen der "checks and balances" durch
andere "Rest-Supermächte" wie etwa die USA (NAFTA) oder die EU bzw. den europäischen Wirtschaftsraum,
58
sondern auch nicht zuletzt im Hinblick auf die intraregionale Konkurrenz aus dem asiatischen Wirtschaftsraum.
Das gilt erst recht für den chinesischen Wirtschaftsraum, auf den später zurückzukommen sein wird.
Eine simple lineare Extrapolation der Dinge scheint generell ebenso fehl am Platze wie ein dogmatischer
entwicklungsgeschichtlicher Determinismus. Auch der Grand Design einer kollektiven Führung der G 2 wird abgesehen von allen internen Widrigkeiten - sicher besser als kontrollierter Wettbewerb ("restrained competition")
gekennzeichnet. Demnach ist die Vorstellung einer Japanisierung der Weltwirtschaft bzw. von Japan als
Supermacht vornehmlich in dem Sinne zu rechtfertigen, daß Japan notwendigerweise aufholen und einen
signifikanten Anteil an der Weltwirtschaft erhalten mußte, da die Weltwirtschaft weder 1914 (Pax Britannica) noch
1945 (Pax Americana) voll entwickelt war. Dabei sind Regionalisierungsmomente in letzter Zeit wieder
entscheidend dynamisiert worden und verändert in Erscheinung getreten. Dem soll in den folgenden Abschnitten
nachgegangen werden. Es geht also nicht um eine generelle Japanisierung, sondern um die konkretere Frage, ob
eine partielle Japanisierung der Weltwirtschaft im Sinne einer Japanisierung der Region Ostasien vorliegt.
IV.
59
Das Problem einer Globalisierung oder Regionalisierung der Weltwirtschaft ist unabhängig von der
japanischen Frage zu einem der wichtigsten Themen in der weltwirtschaftlichen Debatte der letzten Jahren
geworden. Dabei zeichnet sich bemerkenswerterweise die Einsicht ab, daß es weniger um ein entweder/oder,
60
sondern um ein sowohl/als auch geht . Die "Ismus-Debatte" und der schnelle Rückgriff auf die dreißiger Jahre
scheint ein Holzweg zu sein. Die Weltwirtschaft als ein Entwicklungsphänomen ihrer Teilbereiche (Regionen) zu
61
analysieren, ist analytisch und wissenschaftlich ergiebiger als eine ideologische Verkrustung der Debatte. Insofern
wäre auch das oder zwischen global und regional im Thema zu streichen.
Dies ist umso naheliegender, als es in Ostasien weniger um Blockbildung im Sinne institutioneller Isolierung
oder Verfestigung (Festungsdebatte) geht, sondern es sich eher um die entwicklungsbedingte Herausbildung einer
bedeutsamen regionalen Verflechtung in "Fernost" handelt, die zugleich Einfluß auf die globalen Konstellationen
der Weltwirtschaft hat, als Stolperstein oder als Baustein einer liberalen Weltwirtschaftsordnung, wie es griffig
62
formuliert worden ist.
Blockbildung versus "natürliche Regionalisierung"
Wie steht es nun mit der regionalen Wirtschaftsblockbildung? Davon kann man in Ostasien sicher nicht
sprechen, wenn rein institutionelle Aspekte gemeint sind. Es gibt keine diskriminierende, institutionelle Integration,
63
sondern es herrscht die vielzitierte "funktionelle" Integration vermittelt durch die Marktkräfte eindeutig vor . Bis
auf ASEAN war der ostasiatisch-pazifische Raum blockfrei. Aber auch bei ASEAN handelt es sich nicht um
die "Sektorstudie" von Bergsten/ Nolan (1993), v.a. Kap.4.
57
vgl. M. Feldstein in Frankel/Kahler (1993: 454f)
58
"Understandably the ASEAN governments have no desire to award Japanese investors or the Japanese government the
bargaining leverage of a monopolist" (Frankel/Kahler 1993: 7).
59
Diesen Termini sollte der Vorzug vor der Gegenüberstellung der Begriffe Universalismus(Multilateralismus) und Regionalismus gegeben werden.
60
Vgl. dazu neuerdings insbesondere Oman (1994) und die HWWA-Studie (Borrmann et al. 1993) sowie bereits Lorenz
(1991).
61
Lorenz (1992)
62
Lawrence (1991)
63
vgl. dazu die besonders typische Argumentation bei Garnaut (1994).
Diskriminierungspolitik üblicher Art, die für Blockbildung letztlich als konstituierend in dem Sinne angesehen wird,
64
daß "without discrimination, the assertions of a bloc-in-formation lose much of their meaning". Allerdings gibt es
im Rahmen der APEC eine zunehmende Diskussion um institutionelle "Streben", die für die regionale Kooperation
eingezogen werden sollen, freilich mehr im Bereich technischer und informeller Zusammenarbeit sowie in der Form
konsensual abgestimmter nationaler Politik.
Zunächst ist davon auszugehen, daß in Ostasien das Phänomen der "natürlichen", der "market-driven" Regionalisierung im Vordergrund der Aufmerksamkeit steht. Demgemäß wird dem "harten" Regionalismus etwa
der 30er Jahre oder auch gegenwärtig der EU der weiche, informelle oder offene Regionalismus, wie er de facto in
65
Ostasien herrscht, gegenübergestellt. Hierbei bilden sich natürliche Wirtschaftsräume im Sinne von
Verdichtungen der ökonomischen Beziehungen zwischen geographisch benachbarten Ländern, die zugleich auch
66
eine Reihe anderer ökonomischer und politischer Gemeinsamkeiten aufweisen oder anstreben.
Absolut höhere und relativ zunehmende Handelsströme und Direktinvestitionen, die die Entwicklung einer
Region im Kern und in der Peripherie ohnehin raumwirtschaftlich prägen, sind jedoch nicht zuletzt in Abhängigkeit
von der erfolgreichen Einkommens- und Sozialproduktsteigerung in der ostasiatischen Region, dem ostasiatischen
"Binnenmarkt", zu sehen. Freilich hat dazu das sogenannte exportgeleitete Wachstum über die Erschließung extraregionaler, global orientierter Wachstumspotentiale wesentlich beigetragen. Die Entwicklung des ostasiatischen
Binnemarkts wurde und wird weiterhin unterstützt durch die flankierende und deutlich auf die ostasiatische Region
ausgerichtete Politik des Kernlandes, zum Beispiel durch die umstrittene Auslandshilfe Japans. Dazu kommt nicht
zuletzt auch noch die Vorbildfunktion des Entwicklungsmodells und des Wirtschaftssystems Japans, ausgedrückt in
den Begriffen wie "look east" oder "asiatischer Kapitalismus". In einem solchen erweiterten, extensiv interpretierten
flying geese-Modell ergeben sich aus der Entwicklungslogik heraus quasi-natürliche Beziehungen zwischen der
67
"Leitgans" und dem Gefolge , die Asymmetrien und hegemoniale Aspekte mehr oder weniger überdecken
68
können.
Sicher können die diese natürliche Regionalisierung konstituierenden Elemente politisch unterlegt und
mißbraucht werden, wie die Ereignisse der 30er Jahre in Ostasien und Europa zeigen. Die ökonomischen Kosten
und Konsequenzen einer derartigen reinen Machtpolitik werden nach allgemeiner Einschätzung gegenwärtig in
Ostasien (und anderswo!) bei rationalem Kalkül als entschieden zu hoch eingeschätzt. Erst wenn man diese Kosten
tragen wollte, könnte aus einer weichen eine harte Regionalisierung werden, würde aus der informellen
Regionalisierung ein Block werden.
Bemerkenswerter als dieser machtpolitische ist ein anderer Aspekt, nämlich eine gewisse externe Unterstützung
der Regionalisierungstendenzen z.B. durch die vielbeachtete Yen-Aufwertung, die einen bereits strukturierten
Regionalisierungsprozeß wohl unbeabsichtigt erheblich unterstützt bzw. vorangetrieben hat. Die USA haben hier
eine ähnlich paradoxe Situation gefördert und damit ihre Führungsposition geschmälert wie bei der von ihnen
geforderten Ausweitung der Auslandshilfe Japans. In beiden Fällen scheinen die USA der eigentliche Verursacher
gewesen zu sein: das Herabreden des überbewerteten Dollars durch das Plaza-Abkommen bedeutete ökonomisch
die Aufwertung des Yen; das Drängen auf Übernahme internationaler Führungsrollen durch Japan beförderte die
69
erhebliche Steigerung der japanischen Wirtschaftshilfe.
Freilich kann man hier noch einen Schritt weiter gehen und die exogene Regionalisierungsbeihilfe wieder
64
Frankel/Kahler (1993: 7)
Vgl. Frankel/Kahler (1993: 2-4); Lorenz (1993a: 377f).
66
Ausführlich belegt wird dies aus unterschiedlicher Sicht z. B. bei Petri (1993), Lorenz (1993b), Sasaki/Shimane (1994) und
der HWWA-Studie (Borrmann et al. 1993).
67
Villacorta (1994: 85-87)
68
Auf die Erweiterung des Japanmodells durch eigene Transformationsaktivitäten der anderen ostasiatischen Länder machen
besonders Sasaki/Shimane (1994: 69 ff) aufmerksam.
69
In die gleiche Richtung geht die Interpretation des US-Protektionismus durch Doner (1993: 188): "Increased protectionism in
the United States, while not negating the importance of the American market, did encourage the Japanese to look to Asia as a
way of correcting an over-reliance on Washington. This extended to an explicit recognition, at least by MITI, of the need to
65
42
internalisieren. Beide Ereignisse hängen nämlich wiederum eng mit den vorangegangenen strukturellen
Überschüssen Japans in der Handelsbilanz zusammen. Die genannten Reaktionen dienten ja aus Sicht der
Trilateralisten (Industrieländer) gerade dem Abbau bzw. der Verwendung dieser Überschüsse, so daß den Japanern
nicht die ganze Schuld an der ihnen mitunter unterstellten regionalen "Hegemonialpolitik" in die Schuhe geschoben
werden kann. Daß sie diese exogenen Anstösse regional umsetzten und damit allerdings nicht nur japanischen
70
Interessen, sondern auch wichtigen Interessen der Partner in Südostasien (ASEAN) entsprachen, sollte man nicht
vorschnell als Blockpolitik interpretieren, sondern eher als überlegte und anpassungsfähige Ausnutzung von
Weltmarktchancen. Das ist ja gerade die Kunst des Möglichen, die Japan seit langem zur viel beachteten und
kritisierten Vollendung entwickelt hat, wobei die strategisch günstige Position des aufholenden Landes eine nicht
unbeachtliche Rolle gespielt hat. Eine Verwechselung solcher "Anregungen zur leadership" mit Hegemonialpolitik
71
ist vielleicht naheliegend, aber nicht gerechtfertigt. Zu bestreiten ist natürlich nicht, daß diese ökonomischen
Faktoren ganz andere reaktionäre politische Konstellationen in Japan unfreiwillig beeinflussen oder unterstützen
mögen.
Japan-Plus oder ostasiatische Netzwerke?
Als japanische Hegemonialpolitik kann auch eine andere Entwicklung in Ostasien nicht ohne weiteres
interpretiert werden, nämlich die seit Mitte der 80er Jahre forcierte regionale Verflechtung Japans - sozusagen das
72
Wachstum des Gänseflugverbands -, die zur Konzeption eines "Japan-Plus-Modells" beigetragen hat. Aus
ökonomischer Sicht stellt diese Entwicklung nichts außergewöhnliches dar, kann sie doch im Rahmen der
Entstehung von Wirtschafträumen oder Gravitationsfeldern - nicht nur in Ostasien - gesehen werden.
Doch auch bei dieser bescheideneren ökonomischen Interpretation kann natürlich die Fortschreibung des
strukturellen Japan-Modells mit seinen bekannten Ungleichgewichten extra- und intra-regionaler Art mit einer
73
Erhöhung des Konfliktpotentials verbunden sein , dies insbesondere dann, wenn man die These hinzufügt, daß
Japan die seit 1985 auffällige Regionalisierung für seine Zwecke offensiv genutzt hat. Nimmt man weiter bereits
auch für die Vergangenheit an, daß "...das Engagement für Multilateralismus und universalen Freihandel auf
74
egoistischem Interesse an offenen Märkten für die eigenen Exporte gegründet war" , dann kann eine breitangelegte
Analyse der Entwicklungen in der ostasiatischen Region zu folgenden Feststellungen gelangen:
"Die Regionalisierung in Pazifik-Asien in Form einer wachsenden wirtschaftlichen Verflechtung und einer
zunehmenden industriellen Arbeitsteilung vollzieht sich, obwohl alle Staaten dort in allererster Linie globale
Wirtschaftsinteressen hegen. Regionale Arbeitsteilung dient vor allem dem Zweck, in dem härter gewordenen
Weltwirtschaftsklima auch weiterhin erfolgreich expandieren und insbesondere exportieren zu können. Die
engere wirtschaftliche Verflechtung in Pazifik-Asien ist somit kein selbständiges wirtschaftspolitisches Ziel der
beteiligten Staaten, sondern vielmehr ein "Nebeneffekt" der jeweiligen nationalen Außenwirtschaftsstrategien.
Die Regionalisierung soll demnach bislang keineswegs dem Zweck dienen, Druck aus dem überstrapazierten
multilateralen Weltwirtschaftssystem zu nehmen und die globalen Ungleichgewichte, an denen die pazifischasiatische Region erheblichen Anteil hat, auf einen tolerierbaren Level zurückzuschrauben, indem die extreme
extra-regionale Orientierung der asiatischen Exportnationen zugunsten einer stärker auf die eigene Region
gerichteten Ausrichtung abgebaut wird. Statt dessen erhöht die Arbeitsteilung die Wettbewerbskraft und wird
deshalb bei einer Beibehaltung der derzeitigen Exportstrategien Abwehrmaßnahmen in den hauptsächlichen
Zielländern in Nordamerika und Europa provozieren, so daß die bestehende, vom GATT gestützte multilaterale
75
Weltwirtschaftsordnung droht, weiter ausgehöhlt zu werden."
develop a horizontal division of labour between itself and its Asian neighbours."
70
z.B. Dobson (1993: 67-68)
71
vgl. M. Feldstein in Frankel/Kahler (1993: 452)
72
Siems (1992)
73
vgl. besonders Sasaki/Shimane (1994: 75 ff)
74
Hilpert in Lorenz (1993a: 380)
75
Siems (1992: 226); vgl. dazu auch folgende Bemerkung im Gutachten der Trilaterale Kommission (1992:3): "Das
Als These möchte ich dem entgegenstellen, daß diese Konstellation sich in zweierlei Hinsicht varieren bzw.
entschärfen läßt. Zum einen können die fortschreitende Entwicklung des regionalen "Binnenmarkts" und die
unilateralen Liberalisierungsprozesse in Japan und Ostasien entschiedener in den 90er als in den 80er Jahren
vorankommen und damit den Auswüchsen bzw. globalen Ungleichgewichten einer extra-regionalen Strategie die
76
Spitze nehmen. Der globale Nord-Süd-Konflikt wird quasi durch regionale Ostasien-Kooperation entschärft.
Zum anderen sollte die Entwicklung in Ostasien nicht ausschließlich unter einem polarisierenden Japan-Plus
Aspekt gesehen werden. Dies ist prinzipiell dann nicht der Fall, wenn wiederum einer weiteren "natürlichen",
entwicklungsbedingten Regionalisierungstendenz Rechnung getragen wird: nämlich der Netzwerkbildung
(production linkages) im Rahmen mikroökonomischer Strategien des intraindustriellen und Intra-Firmenhandels und
77
von Direktinvestitionspolitiken, die eine differenzierte horizontale Arbeitsteilung in der Region etablieren. Dabei
spielt nicht nur die erhebliche japanische Auslandshilfe eine Rolle, sondern dies wird auch durch die auf
komparativen Kostenvorteilen und Netzwerk-Arbeitsteilung fußenden Firmenstrategien im Rahmen der Eigenheiten
78
der japanischen industriellen Organisation geprägt und gefördert. Das induziert naheliegenderweise BlockInterpretationen und Asymmetrievorstellungen. Wichtig erscheinen in diesem Zusammenhang Anzeichen dafür, daß
die Exklusivität japanischer Multi-Netzwerke immer stärker der Konvergenzkraft des Marktwettbewerbs und vor
allem der Wirtschaftspolitik der Gastländer in ASEAN ausgesetzt ist und daher im Entwicklungsprozeß
79
abzunehmen scheint.
"Blockbildung" oder Regionalisierung in einem evolutionären und institutionalisierten Wirtschaftsraum
Bis vor kurzem waren die Thesen zur regionalen Blockbildung oder die Analysen der Regionalisierung in
Ostasien fast ausschließlich auf Japan als Kern und insbesondere auf Südostasien als Peripherie gerichtet. Das
80
mußte sich mit der zunehmenden Ausdehnung und Differenzierung des ostasiatischen Wirtschaftsraums ändern.
Drei nicht-institutionelle Tendenzen sind zunächst zu nennen.
Zum einen - mit tatkräftiger Unterstützung Japans - die Ausdehnung ASEANs nach Norden, d.h. nach Indochina
und Burma. Hier besteht weiterhin eine Affinität zum Japan-Plus-Modell, wenn auch mit mehr Gewicht von Seiten
ASEANs. Zum anderen ist sowohl die Entwicklung kleinerer Wachstumsdreiecke zur weiteren Erschließung des
regionalen "Binnenmarkt"-Potentials als auch die Herauskristallisierung eines sogenannten chinesischen
Wirtschaftsraums von eminenter Bedeutung. Wie unterschiedlich dieser Wirtschaftsraum auch definiert und
beschaffen sein mag, dahinter steht ohne Zweifel das Entstehen eines zweiten Gravitationsfeldes, über dessen
Beziehungen zum Japan-Plus-Feld zur Zeit weitgehend nur spekuliert werden kann. Aber mit der Volksrepublik
China und der Chinese community als eigenständiger Kraft ist zu rechnen, und Thesen bezüglich einer Hegemonie
Japans sind demgemäß zu überprüfen.
Ganz gleich, ob Japan also willig war und ist, die Rolle des Hegemons in Ostasien zu übernehmen, wird seine
81
Fähigkeit dazu in Zukunft wesentlich eingeschränkt sein. Die jüngsten Entwicklungen in Nordostasien enthüllen
"... the moves that are afoot by Japan's neighbours to prevent Japan from assuming such a position. There can be no
82
autarchic regional order without the consent of China, least of all a Japanese-led one"
dramatische Wirtschaftswachstum Ostasiens zum Beispiel, das generell als positive Entwicklung gilt, wird von bedeutenden
Teilen der Öffentlichkeit Nordamerikas und Europas als Bedrohung für Arbeitsplätze und nationale Identität angesehen.
Gleichzeitig akzeptieren die durch Protektionismus geschützten Teile der japanische Wirtschaft nur zögerlich die mit der
internationalen Interdependenz verbundenen schmerzhaften Veränderungen."
76
Lorenz (1993a: 380-381)
77
vgl. Dobson (1993) und Doner (1993)
78
"Japanese style institutions"; "Japan's organized capitalism", z. B. Doner (1993: 190 ff).
79
Dobson (1993: 57)
80
siehe auch Sasaki/Shimane (1994)
81
vgl. den oben genannten Begriff der "restrained competition"
82
Woo in Frankel/Kahler (1993: 244-248)
44
Welche Rückwirkungen die Neuformierung des ostasiatischen Wirtschaftsraums einschließlich eines Greater
China sowohl auf das bilaterale Verhältnis USA-Japan als auch auf das bilaterale Verhältnis Japan-ASEAN haben
wird und wie davon schließlich auch die plurilateralen Beziehungen ASEAN-China in Konkurrenz oder
83
Kooperation zu Japan betroffen werden, muß hier unerörtert bleiben. Stattdessen soll den beginnenden
institutionellen Veränderungen im Rahmen der aktuellen APEC-Diskussion abschließend Aufmerksamkeit
gewidmet werden.
Die Bemühungen, in Ostasien bzw. dem Pazifik eine Kooperationsgemeinschaft in der einen oder anderen Form
zu schaffen, weisen eine lange und ermüdende "Dogmengeschichte" auf. Auch die 1989 gegründete APECOrganisation schien da zunächst keine Ausnahme zu machen. Mit der erwähnten Dynamisierung und strukturellen
Veränderung insbesondere des ostasiatischen Wirtschaftsraums hat sich jedoch zu Beginn der 90er Jahre das Blatt
gewendet.
Da ist zunächst das zunehmende Interesse der USA zu nennen, APEC als GATT-Ersatz für die Uruguay-Runde
und die WTO zu benutzen und damit gleichzeitig das beschädigte Ansehen in Sachen multilaterales Welthandelssystem zu verbessern. APEC kann aber auch als Umarmungsstrategie für Japans Ostasienpolitik interpretiert
werden, womit zugleich neue und alte Bedenken und Aversionen von vielen Ländern Ostasiens gegenüber Japan
ebenso wie ihren Interessen an einem Verbleiben der USA im Pazifikverbund Rechnung getragen wird.
Japan hat andererseits in seiner typischen Manier des "leading from behind" mit dem verwaschenen, aber
dennoch wirksamen Konzept des "offenen Regionalismus" bzw. einer "Open Economic Association" (OEA) im
84
Pazifik die APEC-Strategie zu bestimmen versucht. In der Frage einer absoluten Nicht-Diskriminierung gegenüber
Drittländern, sprich Europa, oder einer Liberalisierungspolitik in der Region mit Reziprozitätsansprüchen gegenüber
Drittländern unterscheiden sich Japan und die USA. Dabei scheint Japan in der allerjünsten APEC-Diskussion die
Sympathie der ostasiatischen Länder zu gewinnen, wenn es sich die meisten Optionen, globale wie regionale,
offenhält - einschließlich eines kleinen (?) gemeinsamen APEC-Nenners mit den USA.
Nicht zu vergessen ist schließlich, daß ähnlich wie in Europa die Regionalisierung in Fernost auch durch
überlappende Interessengruppen bzw. Kreise gekennzeichnet ist, die sich deutlich als Anti-Hegemonial- bzw. AntiBlock-Tendenzen niederschlagen. Bezeichnend ist weiter, daß sowohl ASEAN als auch Malaysia mit dem
Vorschlag einer rein ostasiatischen Kooperation (EAEC) nicht nur mehr Autonomie gewinnen bzw. Einfluß auf
APEC ausgeübt haben, sondern daß es konsensual möglich gewesen ist, zumindest vorerst beide Subregionen in die
große "APEC-Puppe" zu integrieren. Auch damit erhält die mehrfach in diesem Referat geäußerte These, daß den
Begriffen "global" und "regional" nicht nur für Japan, sondern generell im wissenschaftlichen und ökonomischen
Verständnis ein komplementäres und kein substitutives Verhältnis zukommt, eine abschließende Bestätigung.
Literatur:
Akaha, T./Langdon, F. (ed.): Japan in the Posthegemonic World. London, 1993.
Bergsten, F./ Noland, M.: Reconcilable Differences? United States - Japan Economic Conflict. Washington, 1993.
Borrmann, A. u.a.: Regionalismustendenzen im Welthandel. Hamburg, 1993 (HWWA-Report Nr. 131).
83
Das jüngste Heft des ASEAN-Bulletin enthält dazu Überlegungen und Anregungen (Tan/Sudo), die im Rahmen dieses
Beitrages nicht näher diskutiert werden können. Zur älteren" Situation vgl. ausführlich die Arbeit von Siems (1992). Zur neueren
Entwicklung die spekulative Bemerkung bei Sasaki/Shimane (1994: 75): "Recently, the Chinese economy has begun to take on
the role of engine for the Asian economy as a whole, so that Vice Principal Shi Min of the Chinese Academy of Social Science
has suggested replacing the "flying geese" model for the Asian economy with a "twin engine" model in which the Japanese and
Chinese economies provide the momentum for the Asian economy. However, if the growth of the Japanese economy falls any
lower, Japan will no longer be able to fill the role of engine and the Asian economy may become a "single engine" model."
84
Zum OEA-Vorschlag vgl. Villacorta (1994). Vgl. außerdem zum "offenen Regionalismus" Garnaut (1994: 33ff) sowie den
zweiten Bericht der "Eminent Persons Group" vom August 1994: "Achieving the APEC Vision". Zu den Konfliktpotentialen
siehe speziell Sasaki/Shimane (1994: 84-87).
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Vogel, Ezra: Pax Nipponica?, in: Foreign Affairs 64(1986)4, 752-767.
46
6. Japans globale Umweltpolitik: Merkmale und Perspektiven85
Helmut Weidner, Berlin
1. Einleitung
Im Aktionsprogramm der japanischen Regierung von 1990 gegen die globale Erwärmung heißt es, daß Japan
mit seiner fortschrittlichen Technologie und reichen Erfahrung im Umweltschutz besonders verpflichtet sei, eine
Führungsrolle bei globalen Umweltschutzanstrengungen zu übernehmen. Im Vorfeld der sogenannten RioKonferenz 1992 (UN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro) ist dieses Ziel mehrfach
bekräftigt worden.
Das löste bei vielen skeptisches Erstaunen aus: galt Japan in der Meinung der Weltöffentlichkeit doch gemeinhin
als Paradebeispiel einer Industrienation, die aus ökonomischem Eigennutz die globale Umwelt in großem Ausmaß
belastete und die bislang in der internationalen Umweltpolitik häufig eine bremsende Rolle gespielt hatte. Im großen
und ganzen traf diese Einschätzung zu, doch war etlichen Beobachtern entgangen, daß in Japan schon einige Jahre
zuvor ein Prozeß der Thematisierung und Stimulierung globaler Umweltpolitik angestoßen worden war, der auch
auf eine Dynamisierung der Umweltpolitik im Land abzielte. So spielte Japan beispielsweise schon bei der
Gründung und Finanzierung der sogenannten Brundtland-Kommission im Jahre 1984 (UN-Weltkomitee für Umwelt
und Entwicklung) eine prominente Rolle. Die Veröffentlichungen dieser Kommission (Endbericht "Our Common
Future") und die Propagierung der Entwicklungsstrategie des nachhaltigen Wachstums (sustainable development)
prägten fortan die internationale Umweltdiskussion entscheidend. Japan hatte an der belebung dieser Debatte also
einen erheblichen Anteil gehabt.
Die Entwicklung hin zu einer aktiveren Rolle im internationalen Umweltkontext fand in einer Phase der
umweltpolitischen Stagnation statt. Nach einer Klassifizierung, die ich einmal vorgenommen habe, ist das die vierte
Phase im umweltpolitischen Entwicklungsprozeß Japans seit Ende des 2. Weltkriegs. Im folgenden werde ich diese
Entwicklungsphasen kurz charakterisieren. Hierdurch können die Kapazitäten für die angestrebte Führungsrolle in
der globalen Umweltpolitik und ihre Kontur besser eingeschätzt werden.
1.1 Phase der ökologischen Ignoranz
Die japanische Industriepolitik wurde nach dem 2. Weltkrieg (im internationalen Vergleich zu anderen
demokratischen Industrienationen) mit einer wohl einzigartigen Nichtachtung gesundheitlicher und ökologischer
Erfordernisse betrieben. Das führte in der Folgezeit zur Zerstörung weiter Naturflächen, zur Verseuchung vieler
Gewässer, einem dramatischen Anstieg der Luftbelastung und schließlich zu schweren Gesundheitsschäden von
teilweise epidemischem Ausmaß. Weltweites Aufsehen erregten dabei die Minamata- und die Itai-Itai-Krankheit,
beide verursacht durch Schwermetalleinleitungen (Methylquecksilber, Cadmium) von Industriebetrieben in
Gewässer sowie das Yokkaichi-Asthma, eine Folge hoher Luftverschmutzung durch Industrieabgase. Auf die
Umweltprobleme reagierte die konservative Regierung des Landes in unterschiedlicher Weise, wobei sich bislang
fünf Entwicklungsphasen relativ klar voneinander abgrenzen lassen. In der Phase der ökologischen Ignoranz, die
etwa bis Mitte der sechziger Jahre dauerte, blieben Regierung und zuständige Behörden trotz nachweislicher
Schädigung von Gesundheit und Eigentum durch gewerbliche Schadstoffemissionen weitgehend untätig. Die
Unternehmen widersetzten sich erfolgreich dem Verlangen der Geschädigten nach Kompensation und
85
Wesentliche Informationen dieses Beitrags beruhen auf schriftlichen und mündlichen Befragungen, die der Autor zum
Thema "Globale Umweltpolitik" in Japan im Zeitraum Dezember 1993 bis März 1994 durchgeführt hat, sowie auf einer
unveröffentlichten Studie von 1994 zu Japans Klimapolitik im Auftrag des Wuppertal Instituts für Klima - Umwelt - Energie. In
der Literaturliste sind die Veröffentlichungen genannt, die für den vorliegenden Beitrag relevant waren.
Umweltschutzmaßnahmen. Die Regierung verließ diesen Pfad einer ökologisch ignoranten Industriepolitik erst, als
die Umweltkonflikte eine landesweite Dimension annahmen und es einigen Bürgerinitiativen gelungen war, die
Realisierung wirtschaftsstrategisch zentraler industrieller Großprojekte und öffentlicher Infrastrukturmaßnahmen zu
verhindern. Ein Schock für Regierung, Ministerialbürokratie und Unternehmensverbände war insbesondere der
erfolgreiche Widerstand gegen den Bau eines gigantischen Industriekombinats im Gebiet der Kommunen Mishima,
Numazu und Shimazu im Jahr 1964.
1.2 Phase der symbolischen Umweltpolitik
In der Ende der sechziger Jahre einsetzenden Phase einer lediglich symbolischen Umweltpolitik wurden zwar im
Wortlaut strenge, in der Praxis aber dann nicht vollzogene Gesetze erlassen. Dazu gehört das Umweltbasisgesetz
von 1967, weltweit eines der ersten allgemeinen Umweltgesetze. Die Umweltbelastungen stiegen dementsprechend
weiter an. In der Bevölkerung, zunehmend auch unter Kommunalpolitikern, nahm der Widerstand gegen umweltund gesundheitsschädigende Vorhaben und Aktivitäten zu. Selbst Bewohner ländlicher Gebiete, die noch wenig
früher industrielle Neuansiedlungen aller Art begrüßt hätten, sperrten sich nun dagegen. Im Unternehmensbereich
mehrten sich die Stimmen zugunsten eines Konfliktabbaus durch effektive Umweltschutzmaßnahmen. Die Zahl der
Bürgerinitiativen stieg rapide an, und in den Medien wurde fast täglich über Umweltprobleme und -skandale
berichtet. Selbst in ihren ländlichen Wählerhochburgen verlor die Regierungspartei stetig Stimmen an
Konkurrenzparteien, die den Umweltschutz ins Zentrum ihrer Wahlversprechen gerückt hatten. Im Ausland wurde
Japans Regierung gezieltes "Umwelt-Dumping" als Kernbestandteil ihrer Weltwirtschaftspolitik vorgeworfen. Vier
große gerichtsverfahren gegen industrielle Umweltverschmutzer nahmen einen für die Geschädigten günstigen
Verlauf.
1.3 Phase der aktiv-technokratischen Umweltpolitik
Auf diese bedrohliche Entwicklung (Wählerverluste, Blockierung der Industriepolitik, Kritik aus dem Ausland,
erfolgreiche Schadenersatzklagen) reagierte die Regierung mit einem nachgerade radikalen umweltpolitischen
Kurswechsel, der die Phase einer technokratisch-aktiven Umweltpolitik einleitete. In dieser Phase, die mit einem
parlamentarischen Kraftakt einsetzte - auf einer Sondersitzung des Parlaments 1970 wurden 14
Umweltschutzgesetze und -verordnungen erlassen -, erhielten rasch spürbare Maßnahmen zur Senkung
gesundheitsschädlicher Schadstoffemissionen den Vorrang. Im Jahr 1971 wurde das staatliche Umweltamt
gegründet. Die Kommunen erhielten größere Spielräume zur Entwicklung und Durchführung von Umweltpolitiken.
In Kraftfahrzeugen, Industrieanlagen und Kraftwerken wurden neueste Umwelttechniken installiert. Hierdurch
wurden relativ schnell Erfolge in den Hauptproblembereichen erzielt. Das Umweltthema verlor dadurch seine
gesellschaftspolitische Brisanz, und es wuchs das Vertrauen in Problemlösungskapazität und -willen von Politik,
Verwaltung und Wirtschaft. Gleichzeitig wuchs das Interesse im Ausland an den technischen, rechtlichen und
organisatorischen Maßnahmen der japanischen Umweltpolitik - und manches davon wurde kopiert. In der Bundesrepublik Deutschland etwa war der Einfluß auf die Luftreinhaltepolitik besonders stark.
1.4 Phase der umweltpolitischen Stagnation
Durch den nachlassenden politischen Handlungsdruck und aufgrund wirtschaftlicher Problementwicklungen,
insbesondere nach der zweiten Erdölpreiskrise, verlor das Umweltthema an Priorität unter den Staatszielen. Ab
Ende der siebziger Jahre fanden keine im internationalen Vergleich herausragenden umweltpolitischen Aktivitäten
mehr statt. Es wurde auch kein umfassendes ökologisch orientiertes Gesamtkonzept entwickelt, der kurativ-selektive
und technokratische Ansatz dominierte auch in der späteren wirtschaftlichen Hochkonjunktur, in den Jahren der
sogenannten bubble economy.
48
1.5 Phase der Redynamisierung und Globalisierung
Zum Ende der achtziger Jahre, als Japan zunehmend von der internationalen Gemeinschaft wegen seiner
umweltbeeinträchtigenden Außenaktivitäten kritisiert wurde, nahm die Debatte globaler Umweltprobleme an
Intensität zu - in Politik-, Verwaltungs- und Wirtschaftskreisen offensichtlich stärker als in der Bevölkerung, in der,
wie auch Meinungserhebungen zeigen, ein "globales Umweltbewußtsein" nur schwach ausgeprägt ist. Seitdem wird,
primär wegen des Drucks "von außen", staatlicherseits wieder verstärkt an umweltpolitischen Programmen
gearbeitet, und 1993 wurde ein neues Umweltschutzgesetz verabschiedet. Die Globalisierung der Umweltpolitik
steht zudem in einem engen Zusammenhang mit der Internationalisierung der japanischen Politik.
Von besonderem Interesse ist für das hier behandelte Thema die Phase der technokratischen Umweltpolitik. In
einem relativ kurzen Zeitraum war es Japans Wirtschaft in enger Kooperation mit dem Staat gelungen,
Umweltschutztechniken zu entwickeln, die zu einer raschen Entlastung in den Hauptproblembereichen führten.
Seitdem sind die Techniken weiterentwickelt worden. Japan gehört inzwischen zu den größten Exportländern von
Umwelttechnik. Aber auch die damals entwickelten umweltpolitischen Regelungsinstrumente stoßen auf steigendes
Interesse. Sie sind vor allem für Länder attraktiv, die eine pragmatisch-konsensorientierte, flexible und
unbürokratische Umweltpolitik bevorzugen und eine rechtliche "Überregelung" vermeiden wollen. Japan hat der
Welt also einiges an Hard- und Software zur Lösung von Umweltproblemen zu bieten; insoweit besteht eine gute
Ausgangsposition für globales Umweltengagement.
Im folgenden werde ich der Frage nachgehen, ob und inwieweit die seit Beginn der neunziger Jahre geradezu
emphatischen Bekenntnisse zur globalen Umweltverantwortung, die aus dem politisch-administrativen System, aber
auch von vielen Unternehmen und einigen Unternehmensverbänden zu hören waren, mehr sind als bloße
Reaktionen einer symbolischen Politik auf die teilweise scharfe Kritik des Auslands an Japans Umgang mit den
globalen Ressourcen, ob nicht sogar mit einer herausragenden Rolle Japans in der Gestaltung und Umsetzung
globaler Umweltpolitik gerechnet werden muß, zumindest mit einem prägenden Einfluß auf den Umweltschutz im
asiatischen Raum. Hierzu werde ich zunächst Japans Beitrag zur globalen Umweltproblematik und die Programme
und Maßnahmen der Regierung zum globalen Umweltschutz darstellen. Darauf folgt eine Analyse der wichtigsten
Akteure und Faktoren in dieser Umweltpolitikarena. Das soll eine Einschätzung der Kapazitäten und Restriktionen
und der Art des Politikkonzepts zur Lösung globaler Umweltprobleme erlauben. Abschließend werde ich kurz über
zukünftige Entwicklungen, insbesondere im asiatischen Raum spekulieren.
2. Japans Beitrag zur globalen Umweltproblematik
Japan gehört zu den Ländern, die direkt und indirekt in einem erheblichen Maß zu globalen Umweltproblemen
beitragen und außerdem eine über lange Zeit passive, teilweise bremsende Rolle in der internationalen
Umweltpolitik gespielt haben. In offiziellen Publikationen der japanischen Regierung wird inzwischen selbstkritisch
86
auf diese Versäumnisse hingewiesen.
Japans in Teilbereichen großer Anteil an der weltweiten Umweltbelastung entsteht direkt und indirekt dadurch,
daß Japan als zweitgrößte Industrienation der Welt einen großen Anteil am weltweiten Energie- und sonstigen
Ressourcenverbrauch hat. Über 80 % der Energieerzeugung beruhen auf Importen von Primärenergieträgern,
ebenso wird ein Großteil der industriellen Grundstoffe importiert. In den Herkunftsländern wird durch den
Ressourcenabbau häufig die Umwelt beeinträchtigt, und der Transport nach Japan wie auch die wirtschaftlichen und
konsumtiven Tätigkeiten im Lande selbst verursachen Umweltbelastungen von globaler Dimension. Auch die
Nahrungsmittelimporte steigen seit Jahren kontinuierlich an. Dies hat negative ökologische Konsequenzen in den
Erzeugerländern, die ihre Landwirtschaft (manchmal mit japanischer Unterstützung) intensivieren und
86
Vgl. nur die Umweltweißbücher ("Quality of the Environment in Japan") der letzten Jahre ab 1986.
87
industrialisieren.
Mit rund 24 % hat Japan einen großen Anteil am weltweiten Import von Rundhölzern; sein Anteil an den
weltweit exportierten Tropenhölzern beträgt 46 %. Als größter Importeur von Tropenhölzern trägt das Land
erheblich zur Abholzung tropischer Wälder bei. Wildtiere und Pflanzen werden ebenfalls in größerem Ausmaß
importiert. Selbst einige Tier- und Pflanzenarten, die durch internationale Konventionen - denen Japan in aller Regel
später als andere Länder beigetreten ist - geschützt werden, sind nicht von den Importen ausgenommen oder werden
weiterhin gejagt bzw. gesammelt. Schließlich stieß die extensive Treibnetzfischerei auf heftige Kritik; nicht zuletzt
deshalb wurde sie weitgehend eingestellt.
Japan ist das Land mit dem vierthöchsten Energieverbrauch in der Welt. Mit der Energieerzeugung geht ein
88
großer CO2-Ausstoß einher: Nach den USA, GUS und China liegt Japan an vierter Stelle im weltweiten Vergleich.
Auch der Verbrauch von FCKW, die die Ozonschutzschicht angreifen, war bis vor kurzem sehr groß. An der
Meeresverschmutzung ist Japan aufgrund der Verklappung von Abfällen ebenfalls nicht unerheblich beteiligt. Der
Beitrag zum sauren Regen dagegen ist dank der in den siebziger Jahren durchgesetzten strengen Maßnahmen gegen
SO2- und NO2-Emissionen sehr gering. Offiziell findet zwar kein Abfallexport statt, jedoch ist bekannt, daß
Problemmüll als Wirtschaftsgut deklariert in asiatische Staaten exportiert wird.
Japans ausländische Direktinvestitionen tragen ebenfalls zur weltweiten Umweltbelastung bei. Anfang der
siebziger Jahre wurde Japan kritisiert, als es einige besonders verschmutzungsintensive Unternehmen in andere
Länder, vorwiegend in den südostasiatischen Raum, auslagerte. Bei späteren Investitionen zeigte sich - nach
Untersuchungen von MITI, Keidanren und der Japan Overseas Enterprise Association -, daß der Einbau von
Umweltschutztechniken bei Auslandsinvestitionen teilweise stark vernachlässigt wurde, in aller Regel weit unter
dem Niveau im Heimatland lag. Einige japanische Unternehmen sind in weltweit bekannte "Umweltbelastungsskandale" (so etwa in Südkorea, Indonesien, Malaysia) verwickelt gewesen.
89
Der "ökologische Schatten" der japanischen Wirtschaftstätigkeit ist also riesengroß. Er allein rechtfertigt,
richtiger: verlangt, ein starkes globales Umweltengagement. Wiedergutmachung oder Begleitkompensation
laufender Aktivitäten waren jedoch nicht die wesentlichen Motive für Japans globales Umweltengagement, wie
noch gezeigt wird.
3. Programme und Maßnahmen
Mitte der achtziger Jahre leitete die japanische Regierung eine zunächst überwiegend deklaratorische Wende in
ihrer Politik gegenüber globalen Umweltproblemen ein, indem sie den Zielen eines globalen Umweltschutzes
größere Priorität gab und diesbezügliche Aktivitäten ankündigte. Im Gefolge der "programmatischen Wende" sind
dann auch Taten gefolgt. So initiierte die japanische Regierung die Gründung des UN-World Committee on
Environment and Development (WCED), das unter anderem eine langfristige Strategie zur Erreichung eines
umweltschonenden, nachhaltigen (sustainable) Wachstums entwickeln sollte. Sie trug auch am meisten zur
Finanzierung des Komitees bei.
Auf staatlicher Ebene war schon 1977 eine globaler Umweltrat als unabhängiges Beratungsorgan des staatlichen
Umweltamtes eingerichtet worden. Auf dessen Anregungen in seinem zweiten Bericht von 1982 hatte Japan die
Initiative zur Gründung des WCED ergriffen. Die im WCED-Abschlußbericht von 1987 ("Our Common Future")
entwickelte Strategie des "sustainable development" nahm der globale Umweltrat zum Anlaß, in einem Bericht an
die Regierung relativ fortschrittliche Vorschläge zur zukünftigen Rolle Japans in der globalen Umweltpolitik zu
87
vgl. Quality of the Environment in Japan (1986); NGO Forum Japan (1992).
In relativer Hinsicht steht Japan allerdings viel besser da. Aufgrund der erfolgreichen Politik zur Energieeffizienzsteigerung
hat Japan die weltweit beste Relation zwischen Wirtschaftsleistung und CO2-Ausstoß. Das Bruttosozialprodukt stieg 1973-1988
um rund 80 % real, der Energiebedarf nur um 16 %.
89
So hat es McNeill genannt, gelesen habe ich es bei Maull (1992: 362).
88
50
machen. Sie führten unter anderem ab 1988 zu einigen organisatorischen Änderungen auf Regierungsebene, durch
die Anliegen des globalen Umweltschutzes im politisch-administrativen System institutionalisiert wurden. Im Juli
1990 beispielsweise wurde eine neue Abteilung des Umweltamtes, die globale Umweltabteilung, geschaffen. Japan
gehört dadurch zu den ersten OECD-Ländern, die auf der Regierungsebene organisatorische Einheiten speziell für
Aufgaben der globalen Umweltpolitik geschaffen haben.
Im Oktober 1990 wurde durch den interministeriellen Rat für globalen Umweltschutz das "Action Program to
Arrest Global Warming" beschlossen. Im Mai 1991 wurde das Japan-Komitee für globale Umweltpolitik in Form
eines pluralistisch zusammengesetzten Gremiums gegründet, das für eine aktive, international konzertierte globale
Umweltpolitik Sorge tragen sowie landesweite Aktionen zur Förderung eines globalen Umweltbewußtseins
durchführen soll. Den regen organisatorischen und konzeptionellen Aktivitäten entsprechend, gaben die Umweltweißbücher der japanischen Regierung ab Ende der achtziger Jahre globalen Umweltthemen großen Raum. In der
unmittelbaren Zeit vor und nach der "Rio-Konferenz" von 1992 steigerte die Regierung ihre Öffentlichkeitsarbeit in
starkem Maße, um das Thema im Lande zu vermitteln und wohl auch um öffentliche Akzeptanz für die dabei
eingegangenen großen finanziellen Verpflichtungen zu schaffen. Nach der "Rio-Konferenz" nahmen globale
Umweltthemen in allen wichtigeren konzeptionellen und programmatischen Aktivitäten und Publikationen des
staatlichen Umweltamtes eine zentrale Stellung ein; in den Umweltweißbüchern (das sind die nationalen Umweltberichte, die jährlich veröffentlicht werden) wurden sie beispielsweise in ähnlichem Umfang wie die nationale
Umweltsituation berücksichtigt.
Mit Beginn der neunziger Jahre stiegen die faktischen Anstrengungen der japanischen Regierung deutlich an, um
den schlechten Ruf in der internationalen Umweltgemeinschaft zu verbessern. Hierzu gehören neben verschiedenen
Zugeständnissen (Moratorium für Elfenbeinimporte, modifizierte Fischereipraktiken, Erweiterung der
Artenschutzliste etc.), vielfältigen Finanzhilfen und einer zunehmend positiven Rolle bei internationalen
Konventionen, der Gründung von Expertenkommissionen und Forschungsinstitutionen sowie der Ausrichtung
internationaler Kongresse und Unterstützung internationaler Organisationen auch etliche symbolische Aktivitäten,
wie etwa breit angelegte PR-Kampagnen und Veranstaltungen zu globalen Themen. In der ersten Koalitionsregierung nach dem Ende der Herrschaft der Liberal-Demokratischen Partei wurden die Grundkonzepte der
Regierungspolitik beschrieben als Deregulation, konsumentenorientierte Politik und Dezentralisation. Hohe Priorität
wurde ebenfalls der Verbesserung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen eingeräumt; hiermit verbunden wurde
wesentlich stärkerer Nachdruck als in zurückliegenden Zeiten auf Umweltprobleme und -maßnahmen gelegt.
Von dem im November 1993 verabschiedeten Umweltschutzbasisgesetz erhoffen Umweltadministratoren und
japanische Experten, daß hierdurch die globale Umweltpolitik effektiver und progressiver gestaltet werden kann.
Die aktive Förderung des globalen Umweltschutzes bekam im Gesetz (§ 5) den Stellenwert eines "Basisprinzips".
Zu ökonomischen Instrumenten wurden - besonders aufgrund der Interventionen des Wirtschaftsministeriums
(MITI) - keine konkreten Aussagen gemacht; es gibt nur die sehr vage Formulierung (§ 22), daß ökonomische
Instrumente bei Bedarf wichtiger Teil zukünftiger Umweltpolitik sein sollten. Es ist aber bekannt, daß das staatliche
Umweltamt sehr stark den Einsatz von Umweltabgaben und -steuern präferiert, auch das Finanzministerium
signalisierte im November 1991 gewisse Sympathien für eine CO2-Steuer. Bislang opponiert am stärksten das
Wirtschaftsministerium gegen eine CO2- oder allgemeine Energiesteuer. Es beruft sich hierbei unter anderem auf
Studien, die im Falle der Einführung solcher Steuern eine Abwanderung von Teilen der japanischen Industrie ins
Ausland sowie stark negative Auswirkungen auf die internationale Konkurrenzfähigkeit prognostizieren. Das
Wirtschaftsministerium befürchtet aber auch, so die Einschätzung einiger Experten, daß ein CO2-Steueraufkommen
vom Umweltamt verwaltet werden, und dadurch zu dessen Machtsteigerung beitragen sowie gleichzeitig zu einer
weiteren Senkung der allgemeinen Energiesteuer führen könnte, deren Aufkommen vom Wirtschaftsministerium
verwaltet wird. Experten prognostizieren, daß in zwei bis fünf Jahren eine Energiesteuer oder CO2-Abgabe
eingeführt wird; das hänge auch von diesbezüglichen Entscheidungen der anderen großen Industrienationen ab.
Obwohl das neue Umweltbasisgesetz sich in diesem Punkt sehr vage sei, habe es in einer prinzipiellen Weise die
Tür aufgestoßen für die Einführung ökonomischer Instrumente.
Es soll hier nur kurz erwähnt werden, daß etliche größere Kommunen das globale Umweltthema schon seit
längerem aufgegriffen und entsprechende politisch-administrative Aktivitäten eingeleitet haben, so zum Beispiel die
Entwicklung von global orientierten Umweltprogrammen (Local Agenda 21). Das erste globale Umweltprogramm
wurde von der Präfektur Kanagawa vorgelegt. Als ein Beispiel für eine anspruchsvolle Zielsetzung wird der
Umweltbasisplan der Stadt Kawasaki vom Juli 1993 genannt. Der Plan reicht bis zum Jahr 2010 und enthält elf
umweltschutz- und energiebezogene Projekte. Für die CO2-Emissionen der Stadt wird das Ziel formuliert, sie bis
zum Jahr 2000 unter den Stand von 1990 zu bringen.
Verschiedene Ministerien haben Spezialprogramme zum globalen Umweltschutz entwickelt und etliche neue
Institutionen gegründet. Eine herausragende Rolle spielt hierbei das Wirtschaftsministerium. Zu nennen sind
insbesondere das "Erde-Erneuerungsprogramm" des Wirtschaftsministeriums von 1992 (New Earth 21), das als
zentrale Maßnahmen die Förderung der Umwelttechnologie, Nutzung verschmutzungsfreier Energien, Techniken
zur Absorption von CO2, die Entwicklung neuer Energiequellen sowie den Technologietransfer in Entwicklungsländer vorsieht. Insgesamt handelt es sich um ein vom Anspruch her gigantisches Technologieentwicklungsprogramm mit einer Perspektive von hundert Jahren; es unterstreicht die Einstellung des Wirtschaftsministeriums, daß das Problem der globalen Erwärmung nicht so sehr durch begrenzende Maßnahmen,
sondern hauptsächlich durch das Anstreben technologischer Durchbrüche gelöst werden sollte.
Der "Green Aid Plan" dient der Unterstützung von Entwicklungsländern in Umweltfragen, wobei hierunter die
Kooperation in den Bereichen Energie und Umweltschutz gefördert wird, Expertenausbildung von Ausländern in
Japan stattfindet, japanische Experten für Hilfen vor Ort zur Verfügung gestellt und Energie- und
Umweltschutzzentren im Ausland errichtet werden sowie (auch in Form gemeinsamer Forschungsprojekte) der
F&E-Bereich gefördert wird.
Primärenergiebezogene Programme ("New Sunshine Project", im März 1993 neu und großdimensioniert
aufgelegt; "Moonshine Project") dienen der Förderung nicht-fossiler Energiequellen sowie der Energieeinsparung.
Das Bauministerium hat unter anderem ein "Eco-City Project" aufgelegt, in dessen Rahmen energieverträgliche
Urbanisierung gefördert werden soll, die auch zur Vermeidung global relevanter Umwelteffekte führt. Das
Verkehrsministerium (wie auch andere Ministerien) fördert die Entwicklung emissionsarmer oder -freier
Verkehrsmittel, ebenfalls mit Bezug zur globalen Umweltproblematik.
Im Zusammenhang mit dem Programm "New Earth 21" wurde das Research Institute of Innovative Technology
for the Earth (RITE) im Juli 1990 gegründet. Es arbeitet auf der Basis von "Mischfinanzierung" (Staat, Wirtschaft,
Kommunen) und ist für Forscher aus dem Ausland offen. Das 1993 gegründete International Center for
Environmental Technology Transfer hat die Aufgabe des Umwelttechnologietransfers in Entwicklungsländer, die
Japan Overseas Cooperation of Volunteers (JOVC) hat spezielle Projekte zur "green cooperation"; die New Energy
Development Organization (NEDO) fördert unter anderem die Entwicklung und Anwendung von "sauberen"
Energietechniken. Teile des internationalen Zentrums der UNEP (United Nations Environment Programme) für
Umwelttechnologie werden auf Einladung und mit finanzieller und organisatorischer Unterstützung Japans in Japan
errichtet.
Die Budgets für Aufgaben der globalen Umweltpolitik wurden in den neunziger Jahren teilweise erheblich
erhöht. Auch die Finanzprogramme für Umweltschutz sind Ende der achtziger Jahre stark gewachsen; schon auf
dem Weltwirtschaftsgipfel in Paris 1989 soll der damalige Premierminister Takeshita ein stärkeres globales
Umweltengagement und eine wesentliche Erhöhung der Finanzhilfen zugesagt haben. Der Anteil von Umweltfinanzhilfen an der gesamten Entwicklungshilfe (ODA, Official Development Assistance) stieg von 4,8 %
(1986) auf 12,4 % (1990). Auf der "Rio-Konferenz" 1992 verpflichtete sich Japan zu einer Umweltfinanzhilfe von
900 bis 1.000 Milliarden Yen für einen Fünfjahreszeitraum. Hinsichtlich der absoluten Beträge ist Japan hierdurch
zum internationalen Spitzenreiter in der globalen Umweltschutzfinanzhilfe geworden.
Auch im Bereich bilateraler Umweltaktivitäten ist Japan hochaktiv: So gibt es teilweise hohe Finanzhilfen,
erhebliche technische Unterstützungsmaßnahmen bis hin zum Aufbau von Umweltinstitutionen vor Ort u.a.,
besonders im asiatischen Raum (China, Thailand, Malaysia, Indonesien), aber auch in Mexiko, verschiedenen
52
osteuropäischen und afrikanischen Staaten.
Zentral für die staatlichen globalen Umweltaktivitäten ist das "Aktionsprogramm zur Begrenzung der globalen
Erwärmung" vom Oktober 1990. Es ist in einem aufwendigen Konsensbildungsprozeß, an dem 15 Ministerien und
Ämter beteiligt waren, entstanden. Bezüglich der CO2-Zielsetzungen enthält es sozusagen einen Doppelbeschluß,
der einen Kompromiß zwischen dem Wirtschaftsministerium und dem Umweltamt widerspiegelt: Zum einen sollen
die CO2-Emissionen pro Kopf im Jahr 2000 (und darüber hinaus) auf dem Niveau von 1990 stabilisiert werden, zum
anderen soll die Stabilisierung der CO2-Gesamtemissionsmenge bis zum Jahr 2000 (Basis ebenfalls 1990) erreicht
werden.
Im Regierungsbericht "Japan's Response to Global Warming" vom August 1993 wird ein detaillierter Überblick
zu den eingeleiteten und vorgesehenen Maßnahmen sowie zu dem bisher Erreichten geben. Dabei wird unter
anderem deutlich, daß die oben genannten CO2-Stabilisierungsziele mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht erreicht
werden, da die CO2-Emissionen in den letzten Jahren zugenommen haben und voraussichtlich - besonders dann,
wenn ein Wirtschaftsaufschwung einsetzen sollte - weiterhin ansteigen werden.
Zusammenfassend kann gesagt werden, daß Japan zwar ein Nachzüglerland in der globalen Umweltpolitik ist,
doch ist es ihm innerhalb weniger Jahre gelungen, eine eindrucksvolle Palette von Programmen und organisatorischinstitutionellen Maßnahmen zu entwickeln, die mit denen anderer großer Industrieländer durchaus mithalten
können. Einige Länder haben in Einzelbereichen anspruchsvollere Zielsetzungen, Japan leistet dafür den höchsten
finanziellen Beitrag für globale Umweltschutzmaßnahmen.
4. Kapazitäten und Restriktionen
Betrachtet man die Rahmenbedingungen und den Erfahrungsunterbau der japanischen Umweltpolitik, dann wird
man - selbst unter Berücksichtigung der noch verbliebenen, teils erheblichen Umweltprobleme im Lande - von einer
recht hohen Problemlösungskapazität auch für globale Umweltprobleme ausgehen müssen. Im rechtlichen und
administrativ-organisatorischen Bereich sowie aus praxeologischer Sicht sind, vor allem seit Verabschiedung des
Umweltbasisgesetzes 1993, jedenfalls keine größeren strukturellen Restriktionen für die Durchführung effektiver
globaler Umweltschutzmaßnahmen zu erkennen, es bestehen hierfür eher günstige Voraussetzungen. Dasselbe gilt
für den technisch-wissenschaftlichen Unterbau der japanischen Umweltpolitik: Japan hat im internationalen
Vergleich einen sehr hohen Standard im technischen Umweltschutz erreicht. Dafür sprechen auch das Wachstum
des "öko-industriellen Komplexes" und das Exportvolumen von umwelttechnischer Hard- und Software. Besonders
hoch ist das wissenschaftlich-technische Know-how in Bereichen, die gerade für globale Umweltfragen relevant
sind: im Energiesektor und auf dem Gebiet der Luftreinhaltung. Auf meßtechnisch-informationellem Gebiet hat
Japan ebenfalls höchste Standards erreicht. Dasselbe gilt grosso modo für die wissenschaftliche Umweltforschung
und die diesbezügliche Infrastruktur. Auf dem Gebiet der klimarelevanten Forschung ist Japan allerdings ein
Nachzüglerland, seit Mitte der achtziger Jahre jedoch sind die Forschungsanstrengungen hierzu stark gesteigert
worden.
Trotz des kräftigen Konjunktureinbruchs in den letzten Jahren ist Japan immer noch ein reiches Land. Die
Dynamik moderner Industriezweige ist recht groß, und die Umweltbelastungsintensität der Industriestruktur ist in
aller Regel geringer als in vielen anderen Industrieländern. Japan war im weltweiten Vergleich mit am
erfolgreichsten, Energieverbrauch und Wirtschaftswachstum zu entkoppeln. Aus ökonomischer und technischer
Sicht sind deshalb insgesamt immer noch relativ günstige Voraussetzungen für einen japanischen Beitrag zu einer
effektiven globalen Umweltpolitik gegeben, problematisch sind in diesem Zusammenhang dagegen der seit einigen
Jahren anwachsende Energieverbrauch (vor allem im Herstellungs-, Transport- und Privatsektor), verbunden mit
steigenden CO2-Emissionen, dessen Ursache vor allem in bestimmten Konsumtrends (vermehrter Einsatz von
elektrischen Haushaltsgeräten, Einbau von Klimaanlagen, Kauf größerer Wagen) und sinkenden Energiepreisen zu
sehen ist.
Als wesentliche Restriktionen für ein tiefgehendes, die internationale Diskussion, Programmatik und Strategie
prägendes globales Umweltengagement Japans können vor allem politische und soziale Faktoren gelten. Die
Konkurrenz verschiedener Ministerien um die Kompetenzführerschaft in Fragen der globalen Umweltpolitik führt
teilweise zu gegenseitigen Blockaden, die eigentlich mögliche effektive Maßnahmen behindern (etwa im Falle von
Energiesteuern). Die innenpolitischen Turbulenzen seit dem Machtverlust der Liberal-Demokratischen Partei
binden politisch-administrative Kapazitäten, die für langfristige globale Umweltplanungen dringend benötigt
würden. Von der Bevölkerung selbst geht kaum ein relevanter Druck auf die politischen Institutionen aus, die
vorhandenen Problemlösungskapazitäten tatsächlich für einen Beitrag zur Lösung globaler Umweltprobleme zu
mobilisieren; in der japanischen Bevölkerung mangelt es an Enthusiasmus für "selbstlose" globalpolitische
Aktivitäten weitgehend. Bis vor kurzem war auch das Bewußtsein über die Relevanz der wirtschaftlichen und
ökologischen Entwicklung außerhalb Japans für die eigene Entfaltungsmöglichkeit und Stabilität nur schwach
entwickelt. Organisations- und durchsetzungsfähige gesellschaftliche Institutionen mit globalem Umweltengagement
haben eher Seltenheitswert, und ein dichtes Netzwerk umweltpolitisch hochmotivierter Wissenschaftler hat sich ganz im Unterschied etwa zu den USA, Deutschland und einigen anderen europäischen Ländern - in Japan bisher
nicht herausgebildet.
Angesichts dieser Lage stellt sich die Frage, welche Faktoren ausschlaggebend dafür gewesen waren, daß es
überhaupt zu dem im internationalen Vergleich recht hohen globalen Umweltschutzengagement gekommen ist.
5. Erklärungsfaktoren für Japans Engagement in der globalen Umweltpolitik
Im folgenden werden in gebotener Kürze die Faktoren diskutiert, die üblicherweise zur Analyse und
Interpretation umweltpolitischer Entwicklungsveränderungen oder gar Paradigmenwechsel herangezogen werden.
5.1 Altruistische Motive/"Wiedergutmachung"
Die programmatischen Äußerungen aller relevanten Akteure in der japanischen Umweltpolitikarena sowie
bekannte Charakteristika der politischen Kultur lassen es als sehr unwahrscheinlich erscheinen, daß die globale
Umweltpolitik ihren Anstoß durch altruistische Motive (umweltpolitische Entwicklungshilfe aus selbstloser
Überzeugung) oder aufgrund eines ökologischen Schuldeingeständnisses in Verbindung mit dem aktiven Bestreben,
das globale "Umweltschuldenkonto" nunmehr abzutragen, erhalten hätte.
5.2 Ökologisches Selbstschutzmotiv
Befürchtungen, daß die globalen Umweltprobleme größere negative Auswirkungen für Japan selbst haben
könnten, wenn nicht massive Gegenmaßnahmen ergriffen werden, spielen in der japanischen Diskussion keine
relevante Rolle. Die Stichhaltigkeit bisheriger Prognosen zu negativen Umwelttrends und ihren Folgen wird in der
japanischen Administration häufig angezweifelt, und auch im japanischen Wissenschaftssystem ist man eher
skeptisch hinsichtlich apokalyptischer Visionen. Eine Zunahme von Hautkrebserkrankungen infolge einer
Vergrößerung des Ozonlochs wird in Japan kaum erwartet. Dramatische Auswirkungen durch Klimaveränderungen
ebenfalls nicht. Letzteres ist eher überraschend, wenn man beispielsweise bedenkt, wieviel Menschen in Küstennähe
leben und daß etliche Landesteile durch kontinuierliche Bodenabsenkungen unter dem Meeresspiegel liegen.
Jedenfalls haben die diversen Impact-Studien, die die japanische Regierung in Auftrag gegeben hat, insgesamt
ergeben, daß für Japan nur geringe sozio-ökonomische Kosten aufgrund des prognostizierten Klimawandels zu
erwarten seien. In einer vom deutschen Umweltbundesamt zitierten Studie wird dagegen prognostiziert, daß bei
einem Meeresspiegelanstieg von einem Meter (der für die nächsten hundert Jahre für möglich gehalten wird) in
Japan eine Fläche von 1.700 km² mit 4 Millionen Einwohnern betroffen wäre.
Im Lande selbst würden Maßnahmen im Rahmen der globalen Umweltpolitik, wie etwa zur Energieeinsparung,
Umstellung auf emissionsarme Techniken, Waldpflege, Recycling, sich natürlich positiv auf die Umweltqualität
54
auswirken. Aber insgesamt wären durch Konzentration der Maßnahmen auf eher konventionelle Problembereiche
aus japanischer Problemsicht ("wo sie selbst der Schuh drückt") schneller und preiswerter spürbare Entlastungen zu
erzielen. Ähnliches gilt für die großzügige finanzielle und technische Unterstützung von Umweltmaßnahmen in
anderen Ländern, insbesondere in Anrainerstaaten. Direkt belastet, verbunden mit der Aussicht einer zukünftigen
Belastungszunahme, wird Japan primär durch Luftschadstofftransfers aus Südchina und Südkorea sowie durch die
Meeresverschmutzung (vorwiegend durch das Dumping von radioaktivem Abfall). Hier erzielte man mit
konventionellen Maßnahmen ebenfalls schnellere Effekte als etwa mit umfassenden Maßnahmeprogrammen zur
Eindämmung der Treibhaus- und ozonschichtschädigenden Gase. Es ist also relativ unwahrscheinlich, daß die
blanken Umwelteigeninteressen ein wichtiges Motiv für die globale Umweltpolitikwende Japans gewesen waren.
5.3 Umweltpolitischer Druck durch verschiedene Akteursgruppen
Einen umweltpolitischen Druck aus der Bevölkerung, dem sich die Regierung nicht hätte entziehen können, hat
es nicht gegeben. Bezüglich des allgemeinen Bewußtseins haben repräsentative Befragungen gezeigt, daß das in den
sechziger und siebziger Jahren sehr hohe Umweltbewußtsein - die Lösung von Umweltproblemen hatte klare
Prioritäten vor anderen gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Problemthemen - bereits Ende der
siebziger Jahre, besonders aber in den achtziger Jahren, sehr stark zurückgegangen war. Ab Mitte der achtziger
Jahre ist allerdings eine leicht ansteigende Tendenz zu verzeichnen, doch liegt das Niveau noch erheblich unter dem
der früheren Zeit. Das Problembewußtsein und die Zustimmung zu Fragen, ob mehr zum globalen Umweltschutz
getan werden müsse, stiegen Ende der achtziger Jahre um einiges an. Eine Umfrage des Premierministeramtes von
1990 ergab, daß rund 60 % aller Befragten von allen weltweiten Problemen dem globalen Umweltschutz höchste
Priorität einräumten; zwei Jahre zuvor waren es nur 20 % gewesen. In den Monaten vor und nach der "RioKonferenz" ergaben Meinungsbefragungen, daß ein sehr hohes Interesse an globalen Umweltschutzthemen bestand,
daß Abhilfe- und Präventionsmaßnahmen mehrheitlich begrüßt würden, auch wenn dies negative Folgen für das
japanische Wirtschaftswachstums hätte und daß insgesamt ein grundlegender Wandel im Lebensstil notwendig sei.
Eine Repräsentativumfrage zur Prioritätensetzung im Jahr 1993 ergab dagegen nur eine mittlere Priorität von globalen Umweltproblemen, unter zehn genannten Problembereichen nahm zum Beispiel die Klimafrage im Schnitt Platz
5 ein.
Eine relativ große Differenz zwischen Einstellung und Verhalten ist eine nicht nur für Japan typische
Konstellation, wie verhaltensbezogene Umweltbewußtseinsstudien in anderen Ländern gezeigt haben. Für die
japanische Situation führte das staatliche Umweltamt folgendes aus:
"While there is active awareness regarding protection of the environment in general terms, when it comes to
making choice on concrete problems, the need to protect the environment is not necessarily given the higher
priority. ... In situations where a choice between environment protection and economic benefit is forced, there is
a tendency to place more emphasis on economic benefit among both Japanese people and business
90
enterprises."
Jüngere Meinungsumfragen zeigen überdies, daß die besonders seit 1993 aufgetretenen politischen Turbulenzen
sowie der wirtschaftliche Konjunktureinbruch zu einem Rückgang des Interesses an der globalen Umweltpolitikdebatte und an diesbezüglichem Engagement geführt hat. Es ist auch feststellbar, daß in Japans
Bevölkerung eine größere Furcht vor den Risiken durch den geplanten Ausbau der Kernenergie als vor den Folgen
der Zunahme klimarelevanter Gase besteht; in diesem Zusammenhang befürchtet man auch, daß die Klimadebatte
benutzt werden könnte, um einen Ausbau der Kernenergie zu rechtfertigen. Das Interesse an globalen
Umweltschutzproblemen, so kann man insgesamt feststellen, hatte in Japans Bevölkerung erst ein relevantes
Ausmaß angenommen, als die Regierung sich schon für ein stärkeres Engagement entschieden hatte.
90
Environment Agency: Quality of the Environment in Japan 1992.
Die organisierte Umweltbewegung hat sich ebenfalls erst stärker für globale Umweltfragen interessiert, als die
politischen Weichenstellungen schon erfolgt waren. Die japanischen Umwelt- und Naturschutzorganisationen
unterstützen in aller Regel Maßnahmen zum globalen Umweltschutz. Von ihrer Bedeutung her ist aber zu
berücksichtigen, daß die meisten Organisationen und Gruppen nur regionale oder lokale Bedeutung haben. Es gibt
nur sehr wenige mit landesweitem Aktionsbereich, diese haben - gemessen an den Standards in anderen Industrieländern - eine recht kleine Mitgliederbasis. Eine wichtige Rolle spielten und spielen hingegen verschiedene große
internationale Umweltorganisationen, die Stützpunkte in Japan eingerichtet haben (etwa WWF, Friends of the Earth,
Greenpeace). Ihr Hauptaktivitätsbereich ist der globale Umweltschutz. Sie haben nur wenige Mitglieder, trotzdem
ist ihre internationale Sichtbarkeit recht hoch aufgrund ihrer effizienten Informationspolitik. Es gibt auch eine starke
Unterstützung durch die "Mutterverbände", und in allen japanischen "Filialen" sind ausländische Mitglieder führend
an der Arbeit der Organisation beteiligt. Man kann davon ausgehen, daß sie durch gezielte Informationskampagnen
und Informationstransfer an ausländische Medien einen erheblichen Beitrag zur Kritik im Ausland an Japans
globalen ökologischen Versäumnissen geleistet haben.
Bezüglich des Wissenschaftssystems sind keine relevanten Anstöße zur Stimulierung globaler Umweltpolitik
feststellbar. Das gilt für das "etablierte" Wissenschaftssystem genauso wie für die sogenannten kritischen
Wissenschaftler. Im etablierten Wissenschaftssystem setzte eine systematische Beschäftigung mit globalen
Umweltproblemen erst ein, als die Verhandlungen und Diskussionen auf internationaler Ebene (insbesondere zum
Ozonabbau und zum Treibhauseffekt) schon relativ weit vorangeschritten waren. Die Wissenschaftler, die sich
ansonsten sehr kritisch mit der japanischen Umweltpolitik auseinandersetzten, forderten zwar üblicherweise eine
stärkere Berücksichtigung ökologischer Kriterien bei japanischen Auslandsinvestitionen (und Wiedergutmachung
verursachter Schäden), starteten jedoch keine Initiativen zur Stimulierung einer allgemeinen globalen
Umweltdebatte. Die Zurückhaltung in diesem Bereich liegt großenteils daran, daß viele von ihnen die These
vertreten, Politik und Ministerialverwaltung würden das Thema globale Umweltpolitik hauptsächlich dazu nutzen
wollen, um von hausgemachten nationalen Umweltproblemen abzulenken. Es wurde aber auch vermutet, daß
beispielsweise die FCKW-Diskussion bewußt hochgespielt worden war, um dem US-Unternehmen Dupont neue
Märkte für ein von ihm entwickeltes Ersatzprodukt zu schaffen; die CO2-Diskussion dagegen, um den Bau von
Atomkraftwerken zu fördern. Es wurde auch argumentiert, daß andere Schadstoffe als FCKW und CO2 für eine
internationale Regelung wichtiger wären (beispielsweise Stickoxide) und daß es in den Entwicklungsländern viel
dringlichere nationale Umweltprobleme gebe, die mit internationaler Hilfe sofort angegangen werden sollten.
Die Medien hatten in der Hochzeit der japanischen Umweltpolitik (sechziger/siebziger Jahre) eine zentrale Rolle
gespielt. Nahezu täglich erschienen kritische Umweltberichte. Die Berichterstattung zeichnete sich teilweise durch
ein großes Engagement für die von Umweltbelastungen Betroffenen aus. Japanische Experten sind der Meinung,
daß
die
intensive
und
kritische
Medienberichterstattung
(vor
allem zu
den
größeren
Umweltschutzgerichtsprozessen) einen erheblichen Einfluß auf den Umweltpolitikwandel ausgeübt hat, der von der
Phase der symbolischen Umweltpolitik zur Phase der technokratisch-aktiven Umweltpolitik überleitete. Anfang der
achtziger Jahre ging das Interesse der Medien am Umweltschutzthema jedoch sehr stark zurück. Das zeigt sich auch
darin, daß der "Presseclub" im staatlichen Umweltamt kaum noch besucht wurde. Über globale Umweltprobleme
wurde lange Zeit ohnehin nur sehr sporadisch berichtet, sofern hierbei auch die japanische Regierungspolitik
fokussiert wurde, handelte es sich überwiegend um Ereignisse, die in Verbindung mit japanischen Investitionen im
asiatischen Raum standen. Insgesamt war die Presseberichterstattung bezüglich der globalen Umweltpolitik der
japanischen Regierung nicht sonderlich kritisch ausgerichtet. Es ist daher eher unwahrscheinlich, daß hiervon eine
stimulierende Wirkung ausgegangen sein könnte. Im Gefolge der "Rio-Konferenz" änderte sich die Situation nahezu
schlagartig. Die japanischen Medien berichteten in großem Umfang über globale Umweltprobleme, allerdings auch
dann eher selten mit kritischer Tendenz gegenüber den Aktivitäten der eigenen Regierung. Teilweise haben
Regierungsstellen die Medienberichterstattung "stimuliert", um das Verständnis in der allgemeinen Bevölkerung
dafür zu erhöhen, daß Japan seine globalen Umweltpolitikaktivitäten (vor allem damit verbundene Finanzhilfen)
verstärkte. Nach der "Rio-Konferenz" ging die Medienberichterstattung wieder stark zurück. Insgesamt bewerten
56
die japanischen Medien das globale Umweltpolitikengagement der Regierung positiv. Es wird als eine notwendige
Folge sinnvoller Akzentuierung der allgemeinen Internationalisierung der japanischen Politik und Wirtschaft
gesehen. Anders verhält es sich mit den ausländischen Medien. Sie berichten schon seit Jahren kritisch über Japan
im Zusammenhang mit globalen Umweltfragen; durch die "Rio-Konferenz" hat die Kritik stark zugenommen. Sie
räumen auch den kritischen Stellungnahmen internationaler Umweltorganisationen breiten Raum ein. In Anbetracht
der bekannten Empfindlichkeiten der japanischen Regierung und Administration hinsichtlich (substantiierter) Kritik
im Ausland an ihren Praktiken kann in diesem Fall gefolgert werden, daß durch die ausländische
Medienberichterstattung ein stimulierender Effekt auf den globalen Umweltpolitikwandel ausgegangen ist.
5.4 Ökonomische Eigeninteressen
Ökonomische Rationalitäten begünstigten teilweise, und zwar direkt und indirekt, ein verstärktes globales
Umweltengagement. Im politisch-administrativen und im Wirtschaftssystem wurde zunehmend die Gefahr gesehen,
daß ein weltweit negatives Umweltimage mittel- und langfristig erhebliche Nachteile für Japans weltweite
Wirtschaftsaktivitäten bringen könnte, sei es durch organisierte Boykotts japanischer Produkte, durch
umweltmotivierte Behinderungen japanischer Direktinvestitionen oder durch vielfältige andere Maßnahmen
internationaler Organisationen, Umweltverbände und staatlicher Stellen. Andererseits werden positive wirtschaftliche Effekte durch verstärkte globale Umweltaktivitäten erwartet, insbesondere die Möglichkeit, den (schon
jetzt recht großen) Exportmarkt für Umwelt- und Energiespartechniken stark auszubauen. Im asiatisch-pazifischen
Raum, aber auch in Osteuropa, Lateinamerika, Australien und in westlichen Industrieländern werden Märkte mit
großen Wachstumspotentialen gesehen. Verschiedene Marktanalysen (zum Beispiel von der OECD und dem
Nomura Research Institute) stützen diese Einschätzungen; eine US-Studie von 1994 kommt zu dem Ergebnis, daß
Asien der am schnellsten wachsende Markt für Umwelttechniken sei. Aufgrund dieses wirtschaftlichen Interesses ist
es in einer gewissen Weise auch "rational", daß Japan in seiner globalen Umweltpolitikprogrammatik die Akzente
sehr stark auf technikorientierte Lösungsansätze setzt.
Im Wirtschaftsbereich ist jedenfalls keine massive generelle Opposition gegen verstärkte globale Umweltpolitikaktivitäten festzustellen. Industriezweige allerdings, für die klimarelevante Gase bedeutsam sind oder die
an Abbau, Import und Verarbeitung tropischer Hölzer beteiligt sind, versuchen über ihre Interessenverbände
Ministerialbürokratie und Politik zu einem möglichst vagen Klimapolitikprogramm zu bewegen. Die Rolle der
Energieversorgungsunternehmen in diesem Spiel ist ambivalent, da sie politisch-gesellschaftliche Unterstützung für
einen verstärkten Ausbau der Kernenergie erhoffen, andererseits weiterhin an fallenden Energiepreisen interessiert
sind. Die einflußreichste Interessenorganisation der Wirtschaft, der Dachverband der Unternehmensverbände
Keidanren, ansonsten und vor allem früher ein heftiger Gegner fortschrittlicher umweltpolitischer Maßnahmen auf
nationaler Ebene, nimmt bezüglich der globalen Umweltpolitik in Einzelbereichen eine moderate, teilweise
stimulierende Position ein. So hat er beispielsweise im April 1990 "10 Umweltrichtlinien für japanische
Unternehmen im Ausland" und im April 1991 eine "Globale Umweltcharta" verabschiedet, worin unter anderem
japanische Unternehmen dazu aufgefordert werden, im Ausland japanische Standards bezüglich gefährlicher Stoffe
einzuhalten, die Nachbarschaft regelmäßig über Umweltmaßnahmen zu informieren und eine umfassende
Umweltverträglichkeitsprüfung durchzuführen. Und wie bereits erwähnt, gibt es im Wirtschaftssystem auch Zweige
und Unternehmen, die ein ausgesprochenes Interesse an einer dynamisierten nationalen und einer effektiveren
globalen Umweltpolitik haben. Sie gehören zum sogenannten öko-industriellen Komplex, der in Japan vergleichbar
bedeutsam ist wie in den USA und in Deutschland. In verschiedenen Prognosen werden drei Bereiche aufgrund
vorliegender Indizien sowie angelaufener und geplanter Unterstützungen durch die Regierungspolitik als besonders
aussichtsreiche Umweltschutzmärkte bezeichnet: Energieeinsparung, Transportsektor, Abfallbereich. Hiervon wird
der Energiemarkt als der vermutlich zukünftig am meisten prosperierende Umwelttechnikmarkt bezeichnet. Alle
drei Bereiche sind für die globale Umweltpolitik sehr relevant, insofern besteht hier eine positive Korrelation
zwischen dem Wachstum dieser Umwelttechnikmärkte und einer Verstärkung der globalen Umweltpolitik.
Insgesamt kann man davon ausgehen, daß ökonomische Rationalitäten (und entsprechende ökonomische
Interessengruppen) eine eher begünstigende, zumindest keine restriktive Rolle im Prozeß der Formierung der
japanischen globalen Umweltpolitik gespielt haben.
5.5 Motive im politisch-administrativen System
In der Umweltpolitikarena sind in aller Regel folgende Ministerien anzutreffen: das staatliche Umweltamt, das
Gesundheits- und Wohlfahrtsministerium, das Verkehrsministerium, das Bauministerium, das Finanzministerium,
das Wirtschaftsministerium (MITI) sowie, im Falle der globalen Umweltpolitik, das Außenministerium. In dieser
Gruppe ist das staatliche Umweltamt hinsichtlich der Macht- und Konfliktressourcen die schwächste Institution, als
Bündnispartner kommt häufig nur das Gesundheitsministerium in Frage.
Nach einem kurzen, aber kräftigen Einflußverlust (Ende der sechziger/Anfang der siebziger Jahre) hat das
Wirtschaftsministerium seinen Einfluß auf die Umweltpolitik wieder kräftig ausbauen können. Das staatliche
Umweltamt hingegen hat seit Ende der siebziger Jahre an Einfluß verloren. Davon zeugen einige verlorene
Schlachten um Umweltpolitikinstrumente, mit denen das Umweltamt seinen Einflußbereich erweitern wollte
(exemplarisch: die gescheiterte Gesetzesinitiative für eine national geregelte Umweltverträglichkeitsprüfung). Auch
hat es die angestrebte Promotion zu einem vollwertigen Ministerium nicht erreicht.
Die globale Umweltdiskussion haben das Wirtschaftsministerium und das staatliche Umweltamt intensiv zur
Stärkung ihrer inneradministrativen Position zu nutzen versucht;3 beide beanspruchten die Kompetenzführerschaft
in diesem Bereich. In diesem Fall hat sich das Umweltamt weitgehend durchsetzen können; sein Generaldirektor
wurde beispielsweise zum Minister für globale Umweltpolitikfragen ernannt. Auch im Fall der hochstrittigen CO2Politik konnte das Umweltamt ein weitergehendes Konzept, als vom Wirtschaftsministerium präferiert, durchsetzen.
An diesem Erfolg hatte die Unterstützung durch das Verkehrsministerium, das spezifische Interessen hinsichtlich
des Ausbaus des öffentlichen Nahverkehrs und des Gütertransports verfolgt, einen wesentlichen Anteil. Hinsichtlich
der Rolle der anderen Ministerien ergibt sich kein einheitliches Bild; massive Interventionen zur Verhinderung einer
aktiveren globalen Umweltpolitik sind zumindest nicht bekannt. Das Außenministerium wirkt eher unterstützend.
Unter den Politikern haben sich nur wenige auf globale Umweltfragen spezialisiert, darunter aber einige sehr
einflußreiche. So hatte sich innerhalb der Liberal-Demokratischen Partei im Verlauf der achtziger Jahre eine Gruppe
einflußreicher Politiker zusammengefunden, die eine Dynamisierung der globalen Umweltpolitik anstrebte. Das
geschah auch deshalb, weil eine stärkere weltpolitische Rolle Japans langfristig für unvermeidbar gehalten wurde
und globale Umwelt- und Ressourcenfragen als politisch (aber auch ökonomisch) günstige Bereiche hierfür gesehen
wurden.
Insgesamt kann man sagen, daß die politisch-administrativen Rahmenbedingungen sich in den letzten Jahren
zugunsten von Akteursgruppen geändert haben, die eine Neuorientierung und Wiederbelebung der nationalen
Umweltpolitik sowie eine effektivere globale Umweltpolitik anstreben. Und im großen Unterschied zu früheren
umweltpolitischen Konfliktkonstellationen haben diesmal Proponenten aus dem politisch-administrativen System
wesentlich dazu beigetragen, einen umweltpolitischen Dynamisierungsprozeß in Gang zu setzen. Zu diesen
Proponenten gehörten insbesondere einzelne Politiker und das staatliche Umweltamt, aber auch das Wirtschaftsministerium hat sich diesmal "pro-aktiv" verhalten - wohl auch, wie in Wirtschaftskreisen befürchtet wird, um
verlorenes Einflußterrain im Wirtschaftsbereich über die globale Umweltpolitik, die ja eine intensive staatliche
Konzertierung notwendig macht, zurückzuerobern.
5.6 "Außendruck"
Umweltpolitischer "Außendruck" durch ausländische Regierungen, Medien, wissenschaftliche Institutionen und
internationale Organisationen hat einen hochwirksamen Einfluß auf den Wandel der globalen Umweltpolitik gehabt.
Akteure im politisch-administrativen System und im Wirtschaftssystem hielten es für realistisch, daß dieser sich
58
über die Jahre verstärken und Japan, sofern es nicht reagierte, in eine international diskriminierte ökologische
Sündenbock- und Außenseiterrolle drängen würde, mit langfristig nachteiligen Wirkungen für Japans internationale
Wirtschaftsaktivitäten.
6. Ausblick: Japans globale Umweltstrategie
Japan hat erst spät damit begonnen, die globalen ökologischen Auswirkungen seiner wirtschaftlichen Aktivitäten
zu reflektieren. Im Vorfeld der "Rio-Konferenz" 1992 und danach hat die japanische Regierung große Schritte
unternommen, um den Anschluß an andere große Industrieländer zu finden und um, wie es offizielles Ziel ist, eine
führende Position in der globalen Umweltpolitik zu erreichen.
Es sind umfassende Umweltprogramme erstellt worden, Teile davon werden bereits umgesetzt. Es fanden
Reorganisationen im politisch-administrativen System statt, die eine effektivere Umweltpolitik gewährleisten
können. Das alte Spannungsverhältnis zwischen Wirtschaftsministerium und Umweltamt ist geblieben, das
Grundmuster hat sich jedoch geändert: Das Umweltamt hat seit Ende der achtziger Jahre an Einfluß dazugewonnen,
das Wirtschaftsministerium ist im Vergleich zu früheren Zeiten im Umweltbereich wesentlich aktiver, hat allerdings
längerfristige Realisierungsperspektiven, als das Umweltamt für notwendig hält, und auch ein anderes
Lösungskonzept: Es basiert primär auf technologischen ("Super"-)Innovationen, während das Umweltamt auch,
aber nicht nur, auf grundlegende Veränderungen des Konsums und des Lebensstils drängt.
Die bisher ergriffenen Maßnahmen zum globalen Umweltschutz haben bislang in einiegn wichtigen Bereichen
nur geringe Effekte erzielt: die Holzimporte steigen weiterhin, der Anteil an Tropenholz hieran geht allerdings
zurück; die CO2-Emissionen steigen ebenfalls. Im September 1993 erklärte die japanische Regierung offiziell, daß
das Ziel einer Stabilisierung der CO2-Emissionen bis zum Jahr 2000 voraussichtlich nicht erreicht werden könne. Im
Zeitraum 1990-1992 war es zu einem Anstieg der Gesamtemissionen um 3,1 % (2,3 % Anstieg pro Kopf)
gekommen - trotz wirtschaftlicher Rezession. Bei einer Fortsetzung dieser Wachstumsrate würden die CO2-Gesamtemissionen im Jahr 2000 um 13,8 % über dem Wert von 1990 liegen. Effektiver sind die vielfältigen
wissenschaftlichen, technischen, organisatorischen und finanziellen Unterstützungsmaßnahmen im asiatischen Raum
und darüber hinaus. Die finanzielle Unterstützung internationaler Umweltinstitutionen ist stark erhöht worden,
teilweise ist sie die höchste aller großen Industrieländern.
Die technologischen Programme und Visionen zur Eindämmung der globalen Umweltprobleme, die vor allem
das Wirtschaftsministerium und seine assoziierten Institutionen im Rahmen des "Earth 21"-Konzepts entwickelt
haben, sind weltweit ohne Beispiel. Etliche Vorhaben wirken von der Dimension her so gigantisch und von der
technologischen Seite her so futuristisch, daß sie wie unrealistische Gedankenspiele anmuten. Japans technologische
Zukunftszielformulierungen darf man aber nicht wörtlich nehmen. Sie sind primär Leitvisionen, die im
Implementationsprozeß pragmatisch-modifizierend abgearbeitet werden. Vielleicht kann man dies als "visionären
Pragmatismus" bezeichnen. Dennoch meinen etliche Experten, daß Japan prinzipiell die politisch-administrativen
und ökonomischen Voraussetzungen habe, um einige der angestrebten Super-Innovationen zu realisieren, wenn
auch vermutlich später und in anderer Form als geplant. Auch in den siebziger Jahren ist es sozusagen im HauruckVerfahren gelungen, Umwelttechniken in großem Maßstab zu entwickeln und praktikabel zu machen - meist
schneller, als es anderen Ländern gelungen ist.
Die Expertenmeinungen gehen allerdings weit auseinander in der Einschätzung der Frage, ob die globalen
Umweltprobleme tatsächlich nachhaltig mit technischen Super-Innovationen in Verbindung mit weiterem, eher
konventionellem Wirtschaftswachstum zu lösen sind. Das Umweltamt befürwortet stärker einen ökologischen
Umbau der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen. Die bisherigen Maßnahmen belegen aber eindeutig,
daß das MITI-Konzept dominiert. Es ist auch für Japans Wirtschaftskreise das attraktivere. Erhofft wird mit seiner
Realisierung auch ein starkes weiteres Anwachsen der ohnehin schon recht großen Exporte von Umwelttechniken
und umwelttechnischen Serviceleistungen. "Green Technology" und "Global Eco-Engineering" sind die
Botschaften, die im Wirtschaftsbereich gut ankommen. Insgesamt kann man wohl sagen, daß in Japan die "globale
Umweltherausforderung" primär als eine ökonomische Chance gesehen wird, das große technisch-wissenschaftliche
Innovationspotential in vermarktungsfähige Umwelttechniken umzusetzen.
Es ist zu beobachten, daß Entwicklungsländer und die neuen industriellen Wachstumsländer (Südkorea,
Thailand, Malaysia, Indonesien, China, Brasilien etc.) eher dem japanischen Modell folgen, als auf ökologische
Ratschläge und Warnungen aus westlichen Industrieländern und von internationalen Organisationen zu hören, die
auf die Sackgassen technokratischer Ansätze verweisen, insbesondere wenn sie auf nachgeschalteten Techniken
beruhen und direkte und indirekte Problemverlagerungen zur Folge haben. In diesen Ländern ist die japanische
Umweltschutz- und Entwicklungsstrategie, die von Japan aus immer massiver (und begleitet mit vielfältigen
praktischen Hilfeleistungen) "exportiert" wird, offensichtlich attraktiver als generelle Warnungen vor ökologischen
Langzeitfolgen. So gingen beispielsweise 52 % des Gesamtvolumens des Umwelttechnikexports Japans im Jahr
1993 nach Südostasien. Auch die schlechten Erfahrungen, die Japan nachweislich mit seiner Entwicklungsstrategie
vor den siebziger Jahren gemacht hat - manche hatten ja ein ökologisches Harakiri befürchtet - haben offensichtlich
keine abschreckende Wirkung. Statt dessen gilt Japan als ein Beispiel dafür, daß es prinzipiell möglich ist, massivste
Umweltprobleme zu lösen, ohne einen steilen ökonomischen Wachstumspfad zu verlassen. Der japanische Weg:
91
"Getting dirty, getting rich, cleaning up" scheint der heimliche wirtschaftspolitische Masterplan zahlreicher
Entwicklungs- und Schwellenländer zu sein.
Insofern halte ich die Prognose für realistisch, daß der Einfluß Japans auf die Art und Weise, wie Umweltschutz
und Wirtschaftsentwicklung in einem großen Teil der Welt miteinander verknüpft werden, sich zukünftig noch
ausweiten wird. Es wäre nicht das erste Mal, daß Japan weit über seine Grenzen hinaus Einfluß auf die Formen von
Umweltpolitik genommen hätte; in den Bereichen Umweltinformationssysteme, Umwelthaftung,
Kompensationssysteme, Umwelttechniken bei Kraftwerken und Kraftfahrzeugen sowie flexible Verhandlungslösungen hat Japan stimulierend auf die Umweltpolitik anderer Industrieländer gewirkt.
Neuere empirische Untersuchungen stützen solche Prognosen. In einem Zwischenbericht zu einem noch
laufenden Forschungsprojekt über Umweltschutzaktivitäten in diversen Branchen entwickeln und plausibilisieren
Cope et al. die These: "Japan is developing an 'Asian' model of environmental action which may be compatible with
92
(minimally defined) sustainability and more attractive to developing nations than Western approaches". Das wird,
kurz zusammengefaßt, wie folgt begründet: Bislang dominierten die internationale Debatte über "sustainable
development" westliche Problemsichten sowie Wert- und Zielvorstellungen, die allerdings kaum kulturelle,
institutionelle, politisch-ökonomische etc. Entsprechungen im asiatischen Raum hätten. Japan hingegen habe zu
diesen Kulturen und Werten eine viel größere Affinität, welche es diesem Land besser ermögliche,
umwelttechnische und -institutionelle Problemlösungen im Rahmen eines kulturangepaßten Umweltschutzkonzepts
zu entwickeln und zu transferieren. Von strategischem Vorteil in diesem Zusammenhang sei insbesondere Japans
konsensorientierter (statt polarisierender), pragmatisch-technokratischer (statt moralisch-puristischer),
anthropozentrischer (statt öko-rigoristischer) und wirtschaftsfreundlicher (statt industrie- und konsumkritischer bis feindlicher) Umweltpolitikansatz. Darüber hinaus besitze Japan schon allein aufgrund seiner geographischen Lage,
seiner intensiven Wirtschaftsbeziehungen, seiner allgemeinen Entwicklungshilfeaktivitäten, seiner robusten und
preiswettbewerbsfähigen Umwelttechniken und der bereits seit langem bestehendem vielfältigen Umweltkooperationen mit ASEAN-Staaten große komparative Vorteile im asiatischen Raum gegenüber seinen
93
Hauptkonkurrenten USA und Deutschland. Insgesamt kommen die Autoren deshalb zur Schlußfolgerung:
"Japan may be developing an alternative model of environmental action for Asian and middle income nations
generally. ... This may not be to the taste of individualistic Westerners but could be welcomed in other parts of
the world. As ex-Prime Minister Miyazawa predicted, Japan may indeed become a 'lifestyle superpower', with an
91
Peter Hills, zitiert in Cope et al. (1994: 19).
Cope et al (1994:1)
93
Japan dominiert jetzt schon im asiatischen Umweltmarkt, wie anläßlich des Asian Environmental Trade Workshop vom
14.9.1994 hervorgehoben wurde; zudem habe der asiatische Umweltmarkt die höchsten Wachstumsraten (vgl. International
Environment Reporter vom 21.9.94).
92
60
economic and social model which captures the hearts, minds and wallets of first Asia and then much of the Third
94
World over coming decades."
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Japan. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 1994, 125-133.
Weidner, H.: Reduction of SO2 and NO2 Emissions from Stationary Sources in Japan, in: Jänicke, M./ Weidner, H.
(eds.): Successful Environmental Policy. A Critical Evaluation of 24 Cases. Berlin: edition sigma, 1995, 146172.
94
Cope et al (1994: 19f.)
7. Japans Einfluß in Ost- und Südostasien am Beispiel populärkultureller Elemente
Uwe Hohmann, Heidelberg
I.
Das Thema dieser Tagung "Pax Nipponica? Die Japanisierung der Welt nach dem Untergang des japanischen
Reiches" könnte mit Bezug auf mein Thema "Japans Einfluß in Ost- und Südostasien am Beispiel 'kultureller'
Elemente" die Idee einer kulturellen Japanisierung der asiatischen Region nahelegen. In der Tat läßt sich die
wachsende Präsenz auch populärkultureller Güter japanischer Provenienz in Ost- und Südostasien nicht länger
übersehen. Aber bedeutet dies zugleich eine Japanisierung, oder auch nur die Möglichkeit, Einfluß auf politische
und ökonomische Entscheidungen zu nehmen? Karel van Wolferen hat jüngst die These vertreten, daß
"the Greater East Asia Co-Prosperity Sphere, which Tokyo failed to establish by military conquest, is now
becoming a reality as significant economic decisions for the countries in Southeast Asia are made by Japanese
95
economic institutions."
Da die Großostasiatische Wohlstandssphäre explizit die kulturelle Japanisierung der Region zum Gegenstand
hatte, liegt die Frage nahe, ob van Wolferens These auch auf den kulturellen Bereich zutrifft, ob die japanische
Kultur im allgemeinen heute eine dominante Stellung in Ost- und Südostasien hat einnehmen können.
Ich möchte die Beantwortung dieser Frage zunächst mit einigen kurzen theoretischen Erwägungen angehen,
dann auf die sich wandelnde Konzeption eines Selbstverständnis der Ost- und Südostasiaten für die eigene Rolle in
der Welt zu sprechen kommen und schließlich die Präsenz der populärkulturellen Güter Japans in Ost- und
Südostasien thematisieren.
95
van Wolferen (1993: 85).
62
II.
Die Schnittstelle zwischen Kultur und Industrie ist die Kulturindustrie. Theodor W. Adorno definierte diese in
96
einem Vortrag vom 28. März 1963 als die "willentliche Integration ihrer Abnehmer von oben". Damals hatte er
die Verbreitung der US-amerikanischen Massenkultur im Sinn, die hohe und niedere Kunst zusammenzwinge und
das Immergleiche als das Neue offeriere. Der von Adorno damals mit Bedacht gewählte Begriff der Kulturindustrie
verweist auf einen nicht auflösbaren Zusammenhang von Kulturproduktion und ökonomischem Interesse in
fortgeschrittenen Industriestaaten kapitalistischer Prägung - einst orientiert am Vorbild der USA. Der industrielle
Herstellungsprozeß und die Logik des Marktes kreierten die beliebig reproduzierbare, geschichtslose kulturelle
Ware, die ihrerseits auf die Produktions- und Absatzformen zurückwirkt. Walter Benjamin charakterisierte diesen
Vorgang in seinem berühmten Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit als "die
97
Liquidierung des Traditionswertes am Kulturerbe", die der Auslöschung des Eigenen Vorschub leiste. Diese
kulturelle Ware muß heute im Zusammenhang mit der Logik der internationalen Märkte und der internationalen
Arbeitsteilung, der globalen Informations-Vernetzung und der totalen Gesichtslosigkeit des Produktes analysiert
werden. Sie kämpft - genau wie der Walkman, der PKW und das Herrenunterhemd - um Marktanteile und
Gewinnmargen, versucht andere vom Markt zu verdrängen und Einfluß zu gewinnen. Kulturelle Waren werden aber
nicht nur gekauft, sie werden auch konsumiert; sie prägen langfristig Kaufverhalten, Geschmacksorientierungen und
Moden, sie verändern den Lebensstil, produzieren Tagträume und verheißen symbolische Authentizität.
Kulturwaren sind daher nicht nur als ein ökonomisches Produkt zu betrachten, sondern sie stellen gleichermaßen ein
98
Kapital im Kampf um Märkte und Einfluß dar. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat für diesen
Sachverhalt den Begriff des "Kraftfeldes" geprägt, das kulturell, sozial, politisch und ökonomisch charakterisiert
wird. Die in diesem Feld wirkenden Kräfte können als investierte Kapitalien der Akteure bestimmt werden, die im
Wechselspiel miteinander die Möglichkeiten zur Einflußnahme bereit stellen.
Auch historisch betrachtet gingen kulturelle Vorrechte zumeist einher mit ökonomischer, politischer oder
militärischer Dominanz. Es ist diese Wechselbeziehung zwischen der offenen Durchdringung einer Nation oder
Region und den subtilen, langfristigen Veränderungen in der Wahrnehmung der Rezipienten, die die kulturelle
Ware aus machttechnischer Perspektive interessant erscheinen ließ, denn selbst wenn der Faden des produzierenden
Gewerbes riß, wirkte die kulturelle Abhängigkeit meist nach. Der politisch-ideologische Rahmen verschaffte dem
Wirkungsfeld der kulturellen Waren einen zusätzlichen Resonanzkörper und bot ihnen eine Legitimationsbasis. Die
so verstandene Doppelnatur der kulturellen Ware, ihre hohe Umschlagfrequenz als konsumierbares Produkt auf der
einen, und ihre langfristig auch sinnstiftende Funktion für die Konsumenten auf der anderen Seite bezeichnet den
Unterschied zum (nur fast) beliebigen Autoreifen.
Die weltweite Konsumkultur der Gegenwart ist ihrer Herkunft nach ein US-amerikanischer Ableger. Diese
einstige Anbindung an die Bezugsgröße des Nationalen ist inzwischen hinfällig geworden. Es geht nicht mehr
darum, daß eine einzelne Nation vermittelt über ihre militärische oder wirtschaftliche Macht möglicherweise einer
anderen die eigene Kultur aufzwingen könnte. Vielmehr erleben wir gegenwärtig die von multinationalen
Unternehmen forcierte globale Durchsetzung eines einzigen Produktions- und Konsumtionsprinzips, das auch den
kulturellen Waren zugrunde liegt. Allerdings, und hier sind wir mit einer neuen Entwicklung konfrontiert, haben die
Hauptträger dieser fortgesetzten Modernisierung in den sich nun industrialisierenden Ländern gewechselt. Das
ökonomische Kapital ist nicht mehr rein US-amerikanischen oder westeuropäischen Ursprungs und infolgedessen
wandelt sich auch die "Schale" der kulturellen Massenprodukte, obgleich die Botschaft erhalten bleibt. Ebenso neu
ist die regionale Verschiebung des geographischen Raumes, in dem diese Kapitalien primär wirken. Große Bereiche
Ost- und Südostasiens sind bevorzugtes Objekt der Marktkräfte geworden, die sich dort im Zusammenspiel mit
96
Adorno (1967: 60).
Benjamin (1963: 14).
98
vgl. Bourdieu (1992), darin insbesondere den Aufsatz "Ökonomisches Kapital - Kulturelles Kapital - Soziales Kapital", S.
49-79.
97
autoritären Regierungsbürokratien und einer politisch verordneten, "asiatischen Selbstfindung" entfalten.
III.
Im folgenden geht es um die Beziehungen zwischen Japan und den Ländern dieses "Kraftfelds" Ost- und
Südostasien aus der Perspektive des kulturellen Einflusses Japans und der Möglichkeit, diese zu einer Machtposition auszubauen. Ich ordne hierbei der Macht kein aktiv planendes Zentrum zu: weder eine politische Größe, die
bewußt lenkt, noch ein Gremium bestehend aus Vertretern des Finanzkapitals oder irgendein anderes dominantes
Organ. Vielmehr gilt mein Interesse der Vielfältigkeit von schwankenden Kraftverhältnissen und den wechselnden
Beziehungen, die ein Gebiet, sei es ein soziales, ein ökonomisches oder ein kulturelles, organisieren. Man sollte
99
versuchen, "die Macht ohne den König zu denken" und dennoch nicht den ideologischen Rahmen, der die verbale
Rationalisierung zum Markt-Geschehen liefert, außer Acht zu lassen. Ich möchte zwei Bereiche behandeln, die auf
den ersten Blick nicht viel gemeinsam haben mögen, aber doch zusammen gedacht werden müssen: einerseits über
einen in Teilen Ost- und Südostasiens zur Zeit geführten ideologischen Diskurs zum Neo-Asianismus und
andererseits über die wachsende Bedeutung der japanischen kulturellen Waren in derselben Region.
Japanische multinationale Unternehmen haben US-amerikanische als Hauptträger in der Durchsetzung einer
globalen Produktions- und Konsumtionsstruktur in Ost- und Südostasien abgelöst. Japan ist inzwischen für die
Mehrzahl der Staaten Ost- und Südostasiens der wichtigste Lieferant von hochwertigen Industrieprodukten, der
wichtigste Absatzmarkt für Primärgüter und Fertigwaren einfacherer Art, der bedeutendste Direktinvestor, der
herausragende Partner für den Technologietransfer, der größte Entwicklungshilfegeber und Kapitalversorger.
Obgleich die zunehmende innere Verflechtung der ost- und südostasiatischen Ökonomien oft als reziprokes
Verhältnis gleichwertiger Volkswirtschaften kommentiert wird, handelt es sich gegenwärtig um eine einseitig auf
Japan ausgerichtete Produktions-, Handels- und Organisationsstruktur. Das Ausmaß dieser räumlichen
Hierarchisierung unter vorwiegend ökonomischen Vorzeichen, die vermutlich ein zeitlich gebundenes Phänomen
ist, läßt sich anhand von empirischem Datenmaterial nachzeichnen und soll hier nicht weiter berücksichtigt
100
werden. Sie ist aber das Fundament der massenhaften Verbreitung japanischer kultureller Produkte und sollte
daher nicht unerwähnt bleiben. Die tatsächliche Dimension der Umgestaltung in den Beziehungen zwischen Japan
und den anderen Staaten Ost- und Südostasiens läßt sich allein auf der Grundlage der Dominanz des ökonomischen
Kapitals nicht erfassen. Die einseitige Ausrichtung auf das Ökonomische muß diesbezüglich genauso durchbrochen
werden, wie die zeitliche Beschränkung des Blicks auf die letzten 15-20 Jahre relativiert werden muß. So wenig wie
die ökonomisch herausragende Rolle Japans für die Staaten Ost- und Südostasiens erstmals mit dem Beginn der
sogenannten exportorientierten Industrialisierungsstrategie der asiatischen Schwellenländer begann, so abwegig
wäre es, den kulturellen Streuungsradius Japans auf die achtziger und neunziger Jahre des 20 Jh. begrenzen zu
wollen.
Seit Mitte der achtziger Jahre, verstärkt mit den Beginn der neunziger, können wir in Japan wie in beinahe ganz
Ost- und Südostasien einen Versuch zur Neudefinition der eigenen Stellung in der Welt verfolgen. In Form einer
101
Anknüpfung an Okakura Tenshins berühmtes Diktum "Ganz Asien ist eins" formuliert Funabashi Yoichi, der
Leiter des Washingtoner Büros der Asahi Shinbun, unter der Überschrift The Asianization of Asia: "Asia has at long
102
started to define itself". Eine neue asiatische Identität impliziere soziale, kulturelle, ökonomische und politische
Faktoren. In Ost- und Südostasien beginne beispielsweise die japanische Unternehmenskultur ihre egalitaristischen
Effekte umzusetzen. (Gemeint ist, daß in Neu-Delhi Manager und einfache Arbeiter in einem gemeinsamen Raum
99
Foucault (1983: 112ff).
Vgl. z. B. Nester (1990).
101
Okakura Tenshin (auch: Okakura Kakuz_; 1862-1913). Kunsthistoriker und Gründer der "Kunstakademie Japan". Setzte
sich für eine Wiederbelebung japanischer Kunst ein. Stark beeinflußt von dem US-Amerikaner Ernest Fenollosa. Die zitierte
Stelle eröffnet seine 1903 unter dem Titel The ideals of the East with special reference to the art of Japan in New York
erschienene Schrift, die als Die Ideale des Ostens auch auf Deutsch vorliegt (Leipzig 1922).
102
siehe: Funabashi (1993: 75ff).
100
64
essen.) Er erkennt eine neues regionales Bewußtsein in Asien und begreift die Suche nach einem exklusiv
asiatischen Wirtschaftsverbund weniger als ein strategisches Konzept denn als eine defensive Reaktion auf die
Bewegungen in den anderen Teilen der Welt. In Hongkong stünde japanische Pop-Musik obenan, in beinahe ganz
Asien erfreuten sich japanische Fernsehproduktionen großer Beliebtheit, und Raubkopien japanischer Manga seien
die Top-seller in Vietnam und Thailand.
Die Asianisierung Asiens über die rein ökonomische Verknüpfung hinaus durchzieht als Leitthema seit vielen
Monaten die japanische Presse sowie die Medienlandschaft in Ost- und Südostasien insgesamt. Die Asahi Shinbun
103
berichtete jüngst über einen Boom der modernen asiatischen Kunst in Japan, die Zeitschrift Social Science Japan
weiß von einem Asienboom in der japanischen Verlagswelt zu berichten, der einen Trend zum "Neo-Asianismus"
104
aufweise. Eine Akzentverschiebung in der Debatte um das neue asiatische Bewußtsein hat Hisamizu Hiroyuki in
der Japan Times Weekly vorgenommen. Unter dem Titel The time is right for Japan to 'Asianize'fordert er eine
"entirely new attitude of the Japanese, who have followed a policy of Westernization ever since the Meiji Era.
105
Now we should break with the past and pursue a policy of Asianization."
In Anspielung auf Fukuzawa Yukichis aus der Meiji-Zeit stammenden berühmten Aufruf zur Abkoppelung
106
Japans von Asien (datsua-ron) wird hier in einem Umkehrschluß die enge Verbindung an den Westen historisiert,
mithin als eine historische, bereits abgeschlossene Epoche begriffen. Ogura Kazuo wiederum, Leiter der Abteilung
für Wirtschaftsangelegenheiten im Außenministerium, fordert ein neues Asien-Konzept, das die Geburt eines
wirklichen Asien ermögliche. Der bemerkenswerte wirtschaftliche Aufschwung in Japan und den anderen Länder
der Region müsse von einem Umdenken begleitet werden. In kulturellen Angelegenheiten habe eine
Werteverschiebung zugunsten der Wertschätzung asiatischer Werte stattgefunden, die er zusammen mit weiteren,
noch zu erforschenden asiatischen Werten der Welt als universell präsentieren möchte. Hierbei könnten der bereits
107
erwähnte Okakura Tenshin, sowie Nitobe Inaz_ und andere Personen aus nicht-japanischen asiatischen Ländern
als Vorbilder dienen. Heute fänden bereits erste "Versuche statt, einen eigenen Markt für asiatische Musik zu
108
schaffen, von dem aus die Stimme Asiens erklingen kann." Der jüngst verstorbene Professor für Philosophie an
der Universität T_ky_, Hiromatsu Wataru, forderte angesichts des Niedergangs der USA und Europas eine völlig
109
neue Ordnung in Ostasien, bei der Japan und die VR China die Achse bilden sollten.
Die Wortwahl und die zitierten Vorbilder knüpfen nicht zufällig an den historischen Asianismus an. Denn
obgleich in diesen Positionen vielfach unterstellt wird, Japan befände sich nach über 100 Jahren ausschließlicher
Westorientierung im Ungleichgewicht gegenüber seiner durch die Herkunft bedingten natürlichen Ausrichtung und
müsse sich endlich seiner Herkunft besinnen, sehen wir uns bereits mit seiner dritten Asien-Hinwendung seit der
110
Meiji-Restauration konfrontiert.
Mit dem Einsetzen der Industrialisierung Japans, verstärkt seit der Kolonialisierung Koreas und Taiwans und der
Expansion Japans auf dem asiatischen Festland sowie nach Südostasien war eine Kultur-Politik und -Ideologie
fester Bestandteil der japanischen Herrschaftsstrategie. Die einst noch aus Expansionisten und utopischen
103
Siehe den Artikel "Ajia gendai bijutsu b_mu" in der Asahi Shinbun vom 5. 10. 1994.
Hiraishi (1994); siehe auch den Artikel "'Ajiahon' no shuppan j_ky_" in der Asahi Shinbun vom 17. 9. 1994.
105
Siehe: The Japan Times Weekly International Edition, August 1-7, 1994.
106
Fukuzawa Yukichi (1835-1901); Fukuzawa hatte in einem Essay, abgedruckt am 16. März 1885 in der Tageszeitung Jiji
shinp_, für eine Abkoppelung Japans von Asien plädiert und stattdessen die Übernahme aller westlich- zivilisatorischen
Errungenschaften gefordert.
107
Nitobe Inaz_ (1862-1933); Verfasser der weithin bekannten Schrift Bushido: The Soul of Japan (1899), die die besonderen
kulturellen Leistungen der Japaner vor dem Hintergrund des Ehrenkodex einer Kriegerkaste herauszustellen versucht.
108
Ogura (1993)
109
Siehe den Artikel "T_hoku Ajia ga rekishi no shuyaku ni - _bei ch_shin no sekaikan wa h_kai e" in der Asahi Shinbun vom
16. 3. 1994.
110
Siehe den Artikel "Ajia Shinshimin shakai o mezashi, kokuren rentaigata kaikei o ima, sandome ny_aron, daga nokoru
senzen no datsua ishiki" von Kim Yon-ho in der Asashi Shinbun vom 8. 5. 1994.
104
Sozialisten bestehende pan-asianistische Bewegung der Meiji-Zeit wurde in den dreißiger und vierziger Jahren
durch die japanische Regierung einseitig instrumentalisiert und prägte nach der Vereinnahmung für den
Expansionismus die Stichworte für die vorgeblich kulturelle Gleichschaltung der Ostasiaten. "Gleiche Rasse Gleiche Schrift", "Die acht Ecken der Welt unter einem Dach", "Gemeinsam gegen den westlichen Materialismus"
und eine Vielzahl ähnlicher Slogans lieferten die Hohlformeln für eine aggressive Politik der Ausbreitung des
sogenannten japanischen Geistes, und der Errichtung einer "Großostasiatischen Wohlstandssphäre" unter Führung
Japans. Ein wesentlicher Faktor war damals die Vermittlung der japanischen Sprache in Schulen sowie in eigens
hierfür gegründeten Institutionen, um den Boden für die Verbreitung japanischsprachiger Zeitungen, Kinofilme und
allgemeiner Druckerzeugnisse zu gewährleisten. Japanisch sollte die lingua franca werden, wie ein Artikel in der
von dem bekannten Schriftssteller Ibuse Masuji in Singapur herausgebrachten Syonan Times vom 28. Feb. 1942
111
verkündete.
Neben den Japanisierungsprogrammen vor Ort waren auch in Japan selbst Maßnahmen für besonders
vielversprechende Einzelpersonen eingeleitet worden. Im Rahmen dieser besonders geförderten Aktionen kamen
Studenten aus Ost- und Südostasien nach Japan und erhielten eine universitäre Ausbildung. Auch nach 1945 blieben
einige von diesen zuächst noch weiter in Japan, um ihr Studium zu beenden und anschließend in ihre Heimatländer
zurückzukehren. Unter ihnen befanden sich beispielsweise der spätere geschäftsführende Direktor der malaysischen
Einwanderungsbehörde, ein leitender Angestellter in der Einwanderungsbehörde Singapurs, der Vizekanzler der
Universität Malaya wie auch Konstrukteur der malaysischen "Look East Policy" unter Premierminister Mohamed
Mahathir, die gegenwärtig allesamt als Interessenvertreter einer Strategie des auf sich selbst bezogenen Asien
112
auftreten.
Die anfängliche Nachkriegsentwicklung ließ eine Neuauflage des Asianismus - in welcher Form auch immer völlig abwegig erscheinen. Die offene Ablehnung Japans in fast allen Ländern der Region war der Garant für die
Vormachtstellung der USA. Doch dieses Anti-Japanische existiert als Apriori nicht mehr. Das politische enfant
terrible Südostasiens, der malaysische Premierminister Mohamed Mahathir, schreckt in regelmäßigen Abständen
die gesamte westliche Welt auf und kann dabei auf klammheimliche Unterstützung anderer asiatischer Nationen
113
114
setzen. Die 1981 ins Leben gerufene und erst kürzlich bestätigte "Look East Policy", der Versuch, einen
exklusiv asiatischen Wirtschaftsverbund zu gründen, die schroffe Ablehnung der westlichen
115
Menschenrechtskonzeption, und die jüngste Bemerkung Mahathirs vom 27. August gegenüber dem japanischen
Premierminister Murayama, er könne nicht verstehen, warum Japan sich nach wie vor für Kriegsverbrechen ent116
schuldige, die vor 50 Jahren begangen worden seien, finden zunehmend eine Form der passiven Unterstützung in
einigen Ländern Südostasiens, und zwar sowohl innerhalb der politischen Eliten wie auch innerhalb der vor allem
jungen Bevölkerungsgruppen.
Es ist die Generation der heute Zwanzig- bis Dreißigjährigen, deren Eltern sich an die Schrecken des Krieges
zwar noch gut erinnern, aber oft selbst nicht mehr unmittelbar erlebt haben, die das veränderte Japan-Bild in sich
trägt. Aus ihnen heraus wächst der erstmals entstehende Mittelstand, der zumeist in städtischen Metropolen lebt und
die Entwicklung in Europa und in den USA auch mithilfe der Kennziffern für Wirtschaftswachstum und Kriminalität mißt.
111
Yoji (1991).
Yoji (1991: 168ff)
113
Jüngstes Beispiel des malaysischen Konfrontationskurses war die Ankündigung eines Embargos gegen die britische
Industrie als Reaktion auf einen Bericht der Sunday Times, britische Unternehmen seien bereit gewesen, an den malaysischen
Premier Bestechungsgelder zu zahlen. Siehe hierzu den Artikel "Das Embargo macht den Briten Sorgen" in der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung vom 22. 3. 1994.
114
Vgl.: "Malaysia still looks East to Japan model", in: The Japan Times Weekly International Edition, 29.8.-4.9.1994.
115
Vgl. beispielsweise: "Ob verhauen hilft?", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.6.1994 sowie "Kampf dem 'Trojanischen
Pferde des westlichen Imperialismus'", in: Frankfurter Rundschau, 3.9.1993.
116
Vgl. den Artikel: "Forgive and Forget", in: Far Eastern Economic Review, 8. Sept. 1994.
112
66
Die Besinnung auf die asiatischen Werte, wie immer sie auch von Fall zu Fall definiert sein mögen, findet in
vielen Ländern Ost- und Südostasiens Widerhall, wird von der politischen Elite wie von weiten Teilen der
Bevölkerung gutgeheißen. Die "neue" Dichotomisierung ist die schon hinlänglich bekannte: Der Osten gegen den
Westen, die organische Gemeinschaft gegen die mechanische Gesellschaft, so als habe in Ost- und Südostasien nie
eine Modernisierung stattgefunden.
Wirklich neu hingegen ist die Reziprozität des Diskurses, nämlich die sowohl in Japan wie auch in Teilen Ostund Südostasiens geforderte Asianisierung Asiens, die eben - je nach politischem Standpunkt - auch als die
Asianisierung Japans oder Japanisierung Asiens propagiert wird, sowie der Bruch mit den Mitteln zur
Durchsetzung dieser Ziele. Nicht eine militärische Expansion und die zentral geplante kulturelle Assimilation
bestimmen die Überlegungen - wie eben noch in den dreißiger und vierziger Jahren, sondern pragmatische
Erwägungen zur Absicherung des ökonomischen Erfolgs. Dieser seit Mitte der achtziger Jahre gewandelte,
historisch erstmalige Topos begleitet wohlwollend die Verbreitung japanischer Kulturprodukte in Ost- und
Südostasien sowie in entgegengesetzter Richtung deren Waren in Japan.
IV.
Wie dominant sind die japanischen kulturellen Produkte in diesem Kraftfeld? Welche gibt es, und warum
entfachen sie die Begehrlichkeiten der Ost- und Südostasiaten?
Es ist außerordentlich schwierig, zuverlässige Informationen über den Export oder über die Verbreitung
japanischer kultureller Waren nach Ost- und Südostasien zu erhalten. Es existieren keine zentralen Erfassungsstellen, keine so fein differenzierten Statistiken. In den Staaten Ost- und Südostasiens fällt dem Betrachter zunächst
die Präsenz japanischer Massenkultur optisch und akustisch auf: Fernsehsendungen, die oft nur untertitelt werden,
Manga, von denen man den Eindruck gewinnt, ihre Klappdeckel schon einmal in Japan gesehen zu haben, in den
Radios Pop-Songs, die auf japanisch von der ewigen Liebe handeln, Kleidung, die von zumeist in Paris lebenden
Japanern entworfen wurde, Romane aus der Feder japanischer Vielschreiber. Im Nissan-Taxi zur Musik von
Miyazwa Rie aus einem Panasonic-Radio zunächst in die Sushi- und anschließend in die Karaoke-Bar - das ist
bereits ein Stück Realität in Singapur, in Hong Kong und anderswo.
In einem Artikel über die neuen Vorlieben der Jugend in Taiwan heißt es in der taiwanesischen Tageszeitung
117
Zhongyang Ribao vom 12. Mai 1993, daß die weiblichen Teenager über die jüngsten Moden im T_ky_ter
Stadtviertel Shinjuku besser Bescheid wüßten, als über die einheimischen Traditionen. Als besonders schick gelte
es, japanische Begriffe ins Chinesische einzuflechten.
Im September 1994 hob die südkoreanische Regierung das seit Jahrzehnten bestehende kulturelle Embargo
118
gegenüber Japan teilweise auf und sanktioniert damit, was ohnehin ein seit Jahren bekanntes Phänomen ist,
nämlich die stetig anwachsende Beliebtheit japanischer Massenkultur in Südkorea trotz strenger Verbote, die u. a.
das Singen japanischer Lieder unter Strafe stellten. Auf einem in T_ky_ im November 1991 durchgeführten Symposium stellte der südkoreanische Assistenzprofessor Kim Kwang Ok fest, daß trotz des Verbots, japanisches
Fernsehen zu schauen, etwa 300.000 Südkoreaner regelmäßig eben dies doch tun, ein Sachverhalt, der zunächst zu
erheblichen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Regierungen führte, inzwischen aber teilweise legalisiert
119
worden ist und zu einem regelrechten Boom der nach Japan ausgerichteten Parabolantennen geführt hat. Einer
Meinungsumfrage unter jungen Leuten in Südkorea zufolge, gilt Japan als das Land, von dem man am ehesten
120
lernen und mit dem man besonders vertraut umgehen sollte.
117
Siehe den Artikel "Xinrenlei nuxing lianai fangchengshi" in der Zhongyang Ribao vom 12. 5. 1993.
Vgl. den Artikel: "'Nihon bunka' ni nao keikaikan" in der Asahi Shinbun vom 26. 9. 1994.
119
Siehe "Symposium warns of 'cultural invasion'", in: The Japan Times Weekly International Edition, November 25 December 1, 1991.
120
Siehe "South Korea softens on cultural embargo", in der Asahi Evening News vom 25.9.1994, sowie ausführlicher den
Beitrag "8. 15. Hannichi bangumi ga kieta" in der Asahi Shinbun vom 30.8.1994.
118
Besonders auffällig in Ost- und Südostasien ist die Verbreitung japanischer Comics als Lizenzausgaben. Die
japanischen Verlage Sh_eisha, Shogakkan und K_dansha zeigen enormes Interesse an der Lizenvergabe, seit in den
letzten Jahren in vielen Ländern Ost- uns Südostasiens die internationalen Copyright-Gesetze zunehmend befolgt
werden und Lizenzen somit zu einem gewinnträchtigen Geschäft geworden sind. Der größte japanische Verlag,
K_dansha, hat an Taiwan, Thailand, Hong Kong, VR China, Malaysia, Indonesien und Südkorea zahlreiche
121
Lizenzen für seine ertragsstärkste Sparte, für Manga vergeben. Wöchentlich erscheinen in Taiwan bis zu 5
verschiedene japanische Comics des K_dansha-Verlags in chinesischer Übersetzung mit einer Auflage von jeweils
etwa 80.000 Heften. Zusätzlich werden 4 unterschiedliche Monatshefte in einer jeweiligen Auflage von etwa 40.000
verkauft. Monatlich werden insgesamt also ca. 1.7 Millionen Comics aus japanischer Lizenz eines einzigen
japanischen Verlags in Taiwan konsumiert. Da die Auflagen der zwei weiteren bedeutenden Lizenzgeber ähnlich
hoch sind, ergibt sich eine monatliche Auflagenstärke von etwa 4.5 Millionen Heften. Zielgruppe sind vor allem
junge Angestellte, männliche Studenten und Kinder. In Thailand sind die Gesamtauflagen der K_danshaLizenzausgaben ähnlich hoch, wobei hier junge Frauen als eine weitere wesentliche Zielgruppe betrachtet werden.
In Indonesien und Malaysia wiederum erscheinen monatlich bis zu 100 Comic-Taschenbuchausgaben in Auflagen
bis zu jeweils 40.000, in denen japanische Comics weiter zergliedert und in Fortsetzungsserien angeboten werden.
Die chinesische Ausgabe des von der Japanerin Seimon Fumi verfaßten Comics T_ky_ rabu st_r_ steht seit zwei
Jahren unter den ersten 10 der meistverkauften Comics in Hongkong, stellt damit aber keineswegs ein singuläres
122
Phänomen dar. Die auf diesem Comic beruhende Fernsehserie gleichnamigen Titels wird von der in Hongkong
angesiedelten Fernsehgesellschaft TV Star nach ganz Asien ausgestrahlt und erzielt höchste Einschaltquoten.
In Form einer medialen Arbeitsteilung hat TV Star die Ausstrahlung japanischer Fernsehsoftware über Satellit
nach Ost- und Südostasien übernommen. Hierbei erfreuen sich insbesondere japanische Dramen, aber auch
123
Nachrichtensendungen, Naturreportagen und dergleichen großer Beliebtheit. Das vom NHK produzierte Drama
Oshin hat in fast ganz Asien große Berühmtheit erlangt. Nach den Angaben eines im letzen Jahr vom NHK
veranstalteten Symposiums mit dem Titel Sekai wa Oshin o d_ mita ka ("Wie wurde Oshin in der Welt
aufgenommen?") hat die Serie in Thailand seit Beginn der Ausstrahlung 1984 Einschaltquoten von 81.6% erreicht
124
und ging einher mit einem Rückgang Japan-kritischer Berichterstattung in der thailändischen Presse. Star TV
plant desweiteren, die Ausstrahlung japanischer Software um die Sparten Sport, Unterhaltung und Zeichentrickfilm
zu ergänzen bzw. deutlich auszubauen.
Die Musikindustrie stellt den zweiten großen Bereich im Bemühen um die Vermarktung japanischer
Kulturwaren in Ost- und Südostasien dar. Der Musik- und Kulturkritiker Hosokawa Shuhei, zugleich Assistenzprofessor an der Tokyo National University of Fine Arts and Music, skizziert die Entwicklung in den späten
achtziger Jahren auf folgende Weise:
"In the 1980's, the music scene in Taiwan and Hong Kong was swamped with Japanese hit songs. Here groups
appeared which imitated Japanese bands (e.g., bands of young boys imitating Hikaru Genji or Shonen-tai, or
duos of young girls imitating Wink. Television shows or live performances mimicking Japanese examples could
be seen as well. Many Japanese singers, entirely unknown in Europe and the United States, were higly popular in
Southeast Asia. (...) The Japanese music industry thus spills over into neighboring Asian nations. Important
125
factors in this process are the push of business into Asian markets and the development of the media web."
Die japanischen Pop-Gruppen werden über das bereits erwähnte Satellitenfernsehen der Star-TV sowie über das
von japanischen Unternehmen forciert errichtete Warenhaus-Netz in der gesamten Region popularisiert. Sazan _ru
Sut_zu, Sakai Noriko, Miyazawa Rie, Hikari Genji und zahlreiche andere Stars der jüngeren japanischen Light-Pop121
Diese und folgende Informationen gehen auf mehrere Interviews mit Angestellten des K_dansha-Verlags zurück.
Vgl. Honda (1994).
123
siehe Kumamoto (1993)
124
Siehe die Beiträge der Artikelserie zur Rolle Japans in Asien "Ajiahatsu Nippon" in der Asahi Shinbun vom 1. 9. 1994.
125
aus: Hosokawa (1994: 13)
122
68
126
Generation finden sich in vielen asiatischen Hitlisten. Die japanische Sängerin Chiba Mika hat ihren Schwerpunkt
völlig nach Taiwan verlagert und zielt von dort aus mithilfe einer professionellen Vermarktungsstrategie einer
Marketing-Agentur auf die Verbreitung ihrer Musik nach Südostasien. Einheimische Pop-Gruppen wiederum
covern japanische Originale und tragen auf diese Weise zu einem weiteren Umlauf japanischer Pop-Software bei.
127
Als Ergänzung zu dieser Tendenz ist der Karaoke-Boom in Asien zu nennen. Erst 1972 im japanischen K_be
erfunden, wird Karaoke heute weltweit mit Japan assoziiert. Seit der Entwicklung des Video- und Laser-DiskVerfahrens in den achtziger Jahren erfährt Karaoke eine rasante Popularisierung. Den Hauptmarkt sehen die vier
großen japanischen Hersteller, u. a. Pioneer und Victor, in Asien. Von bis 1991 weltweit verkauften 260.000
Pioneer-Geräten ging der größte Teil nach Asien; allein 22.100 Geräte wurden zu kommerziellen Zwecken an Bars,
Clubs, Diskotheken und dergleichen nach Südostasien verkauft. Die Umsatzentwicklung der anderen großen
Herstellerfirmen sieht ähnlich aus.
Innerhalb der Region findet Karaoke insbesondere in Südkorea, Taiwan, Hongkong und Singapur großen
Anklang. Nach Angaben der Steuerbehörde Südkoreas existierten im Mai 1992 in Südkorea lediglich 590
sogenannter Karaoke-Boxen, wohingegen es im Juli desselben Jahres bereits 6.200 gewesen seien. In Taiwan
wiederum scheint die Verbreitung der Karaoke-Boxen noch schneller voranzuschreiten als in Japan selbst. Allein
für Taibei wird eine Anzahl von über 2.000 Karaoke-Boxen im Jahre 1992 genannt. Für die VR China wird eine
offizielle Zahl von etwa 200.000 mit Karaoke ausgestatten Bars und Lokalen angegeben, denen die chinesische
Regierung den Kauf einer CD mit 55 sogenannten patriotischen Liedern verordnet hat, um die sozialistischen
128
Errungenschaften Chinas zu preisen. Das japanische Unternehmen Sega plant für das nächste Jahr die Einrichtung
eines die USA, Ost- und Südostasien umspannenden sogenannten Karaoke-Netzwerks, bei der über Telefonnetze
129
aktuellste Software zur Verfügung gestellt werden kann. Man wählt in Bangkok also eine Telefonnummer und
bekommet den neuesten Hit aus der zentralen Datenbank in T_ky_ über eine Datenautobahn zugespielt. In
Abgrenzung zur Soft-Pop-Sparte, die auf die jungen Leute als Konsument zielt, trägt der Karaoke-Boom zusätzlich
zur Verbreitung der japanischen enka bei, die unter älteren Leute ihre meisten Anhänger findet.
V.
Die zunehmende Popularisierung japanischer Massenkultur in Ost- und Südostasien läßt sich weder auf ein
einziges Motiv, beispielsweise auf eine konzertierte Aktion der japanischen Industrie zur kulturellen Durchdringung
der Region, reduzieren, noch handelt es sich um eine einseitig von Japan ausgehende Tendenz. Wie bereits
angedeutet, findet auch in Japan selbst eine selektive, ethnozentrische Perzeption der Kulturen Ost- und
Südostasiens statt, die ihren Ausdruck in sogenannten Ethnic-food Restaurants, Ethnic-Kleidung, Reiseberichten
und von großen Kaufhäusern finanzierten Ausstellungen findet. Getragen wird dieses Phänomen allerdings von
Japanern selbst. Sie sind in der Regel die Investoren, organisieren die Auswahl und den Absatz der Produkte allein.
An dem Umschlag von kulturellem Kapital in ökonomisches sind die Ursprungsländer daher nur geringfügig
beteiligt. Dies unterscheidet die beiden Austauschbewegungen kultureller Produkte grundlegend.
Die wirtschaftliche Entwicklung der südostasiatischen Region, die Modernisierung ihrer Gesellschaften über den
rein ökonomischen Bereich hinaus, die politisch forcierte Frontstellung zum Westen, die ideologisch als die
Asianisierung Asiens umhüllt wird, hat eine neue Schicht hervorgebracht: die in der Großstadt lebenden
Jugendlichen, Arbeiter und Angestellten, die sich in ihrem Lebensgefühl den Japanern in T_ky_ oft näher fühlen
dürften als den eigenen Landsleuten auf dem Lande. Die Popularität japanischer Kulturprodukte steht für eine
fortschreitende Konvergenz der Gesellschaften, des Geschmacks und des Siegeszugs einer globalen Konsumkultur.
Die als Folge der Industrialisierung und Modernisierung aufgebrochenen traditionellen Lebensformen und
126
Ich stütze mich hier auf den Artikel von Honda (1994).
Vergleiche hierzu Kawasaki (1993) sowie den Artikel "Heisei Nihon wa karaoke darake", in: AERA, 19.9. 1994, S. 60-62.
128
Siehe den Artikel "Karaoke in China: Patriotische Lieder für Nachtclubs" in der Tageszeitung (TAZ) vom 23.11.1994.
129
Siehe den Artikel "Nichibei Ajia musubi karaoke netto" in der Asahi Shinbun vom 24. 5. 1994.
127
verlorengegangenen Gewißheiten werden in Ost- und Südostasien - wie in anderen industrialisierten Staaten auch durch völlig veränderte Kommunikations- und Konsumtionsformen ersetzt. In diesem Sinne findet derzeit keine
Popularisierung genuin japanischer Massenkultur statt, die es im strengen Sinn nicht gibt, sondern die Integration
Ost- und Südostasiens in ein weltweites Produktions- und Konsumtionsnetz, bei der Japan die Rolle einer
Relaisstation für die Vermittlung der US-amerikanischen Populärkultur im japanischen Gewande übernommen hat.
Vermittelt über die ökonomische Vormachtstellung Japans in der Region, die überhaupt erst die Infrastruktur für die
Versorgung mit kulturellen Waren der spätkapitalistischen Länder geschaffen hat, kommt Japan die Rolle einer
Erschließungsagentur zu, die nun das dort entstandene Sinn-Vakuum füllt.
Die neuen Technologien erlauben dabei die aus ökonomischer Perspektive besonderes reizvolle Mehrfachverwertung der Basis-Software. Der Comic wird zur Fernsehserie und anschließend zum Computer-Spiel, die
Titelmusik zum Karaoke-Hit und zur Discman-CD, ergänzt wird das Ganze mit der Zeitschrift für die
Hintergrundinformationen über das Leben der auftretenden Stars. Als Beschleuniger dieses Prozeses ist das
kommerziell betriebene Satellitenfernsehen zu nennen, das keine nationalen Grenzen kennt und das adäquate
Pendant zu den multinationalen Unternehmen darstellt.
Die wachsende Vorliebe für japanische kulturelle Produkte geht zum einen auf die Sehnsucht vieler Ost- und
Südostasiaten nach der Realisierung ihres "amerikanischen Traums" in der asiatischen Hülle, zum anderen auf die
Thematisierung gemeinsamer Erfahrungen zurück. Der amerikanische Traum, das moderne westliche Leben, stellt
zwar die Projektionsfläche für die eigene erhoffte Zukunft dar, steht aber sowohl im Widerspruch zu der einst
erfahrenen historischen und kulturellen Demütigung durch die "weißen Ausländer" als auch zur offiziellen
politischen Maxime, das Heil in Asien selbst und nicht im Westen zu suchen. Japan, als asiatisches Land, hilft über
diese Schwelle, Westliches aus nicht westlicher Hand gereicht bekommen zu wollen, hinweg und verfügt darüber
130
hinaus über das größe symbolische Prestige. So erklärt sich die Beliebtheit des japanischen Disneylands, der
Konsumtempel Shinjuku und Akihabara unter asiatischen Touristen in Japan, die in krassem Gegensatz steht zum
kulturellen Exotismus vieler westlicher Besucher, die in Japan vor allem das Traditionelle suchen.
In der Thematisierung gemeinsamer Erfahrungen wiederum erkennen sich die Menschen in den großen Städten
Ost- und Südostasiens am ehesten wieder. Die rapide Modernisierung, das Auslöschen gewohnter Lebensformen,
der Arbeitsalltag, die bisher unbekannte Vereinzelung in den Metropolen und andere Folgen der entfesselten
Industrialisierung sind eben auch Gegenstand der japanischen Software. In dem Schicksal des Protagonisten der
Serie Oshin, der aus einem ärmlichen Dorf stammt und in das großstädtische Leben hineingezogen wird, glauben
131
viele Südostasiaten, sich wiedererkennen zu können. In diesem Sinne hält Japan den anderen Staaten einen in
zweierlei Richtung gewendeten Spiegel vor - in die Vergangenheit als Remineszenz an das unwiderruflich verloren
Gegangene, in die Zukunft als Ahnung für das noch Bevorstehende. Die einst authentische Kultur lebt indessen fort
als Folklore für die Massen und als Original für die Finanzkräftigen. Dieser Prozeß wird sich fortsetzen, auch wenn
das ökonomische Kapital Japans noch einmal den Schauplatz wechseln sollte.
Die Popularisierung japanischer Massenkulturgüter - zu nennen wären zudem die hier nur am Rande gestreiften
Bereiche der Mode und der Massenliteratur - steht in diesem Sinne nicht für eine wirkliche Japanisierung der ostund südostasiatischen Region, sondern für die fortgesetzte Integration von geographischen Räumen in ein
Weltsystem über das rein Ökonomische hinaus, die von Japan mit nationübergreifenden Mitteln betrieben wird.
Diese Sichtweise schließt die Möglichkeit einer japanischen Einflußnahme auf das weitere politische und
ökonomische Geschehen in Ost- und Südostasien, also einer Verschiebung der verschiedenen "investierten"
Kapitalien im Kraftfeld Ost- und Südostasien zugunsten Japans nicht aus. Diese Verschiebung Japans ergibt sich
aber gerade aus dem Wechselspiel der ökonomischen, sozialen und kulturellen Faktoren, die allein für sich
genommen nur Teilbereiche des in Frage kommenden Feldes im Bourdieuschen Sinne dominieren können, in ihrer
Wechselwirkung aber eine zweifellos beherrschende Stellung erlangen. Es kann und wird nicht folgenlos bleiben,
130
131
Vgl. Bourdieu, Zur Soziologie der symbolischen Formen (1970: 57ff; 1986).
Siehe die Beiträge der Artikelserie zur Rolle Japans in Asien "Ajiahatsu Nippon" in der Asahi Shinbun vom 1. 9. 1994.
70
wenn - neben der herausragenden ökonomischen Bedeutung Japans in der Region - die Mehrzahl der Konsumenten
japanischer Massengüter des kulturellen Sektors Kinder, junge Leute und Angestellte mittleren Alters sind, also
diejenigen, die die zukünftige Entwicklung der Staaten mitbestimmen werden.
Der besondere Charakter der japanischen Massenkulturgüter, sofern man davon überhaupt sprechen kann, liegt
aber nicht etwa in dem versteckten Versuch einer Indoktrination oder einer direkten Beeinflussung zugunsten der
eigenen Vorstellungen und Absichten, und auch nicht in den "Gambare!" (Durchhalte)-Losungen", die die
unterschiedlichen Manga gemeinhin bestimmen, sondern in ihrer Beliebigkeit und Ahistorizität, also in einer Art
historischer Nihilismus, der das gesamte Leben auf das Hier und Jetzt reduziert. In diesem Punkt irren sowohl
Adorno, der die Integration von oben als willentlich bezeichnte, als auch van Wolferen, der die gegenwärtige Lage
als eine schlichte Verlängerung der einst von Japanern geplanten Großostasiatischen Wohlstandssphäre zu
betrachten scheint. Es bleibt gleichwohl offen, wie sie, die Konsumenten, die Spannung zwischen der schleichenden
tatsächlichen Konvergenz der Gesellschaften und einer gleichzeitig von einem politisch-repressiven System
eingeforderten Ablösung vom westlichen Wertekanon ausgleichen werden.
VI.
Zum Schluß sollte noch kurz auf die Frage nach der subversiven Wirkung von Populärkultur eingegangen
werden. Obgleich in westlichen Staaten die populärkulturelle Verweigerungshaltung mehr als Entertainment, denn
als Angriff auf das Etablierte verstanden wird, und der Spätkapitalismus am Tabubruch vermutlich besser verdiente
als am Althergebrachten, soll das erfrischend Unberechenbare westlicher Jugend- und Anti-Kultur nicht als
beliebiges Einerlei verunglimpft werden. Bevor dieses Element des Unberechenbaren allerdings in Japan und
schließlich in Ost- und Südostasien ankommt, steht zumeist schon Sony oder New Culture darauf - ein sicheres
Zeichen dafür, daß die multinationalen Maschinen ihre Arbeit aufgenommen haben und solange keine Ruhe geben
werden, bis vom Ursprung nichts mehr zu erkennen ist. Die Sisyphos-Arbeit der jungen Generation schafft aber
zumindest zeitweise Gegenwelten, auch in Japan. Es bleibt zu hoffen, daß es den jüngeren Generationen in Ost- und
Südostasien gelingt, sich die Freiräume für ihre Gegenwelten zu erstreiten - einiges spricht dafür.
Literatur:
Adorno, Theodor W., Résumé über Kulturindustrie, in: Ohne Leitbild. Parva Aesthetica, Frankfurt/M. 1967.
Benjamin, Walter, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt/M. 1963.
Bourdieu, Pierre: Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt/M, 1970.
Bourdieu, Pierre: Der Kampf um die symbolische Ordnung. Pierre Bourdieu im Gespräch mit Axel Honneth,
Hermann Kocyba und Bernd Schwibs, in: Ästhetik und Kommunikatik, 16(1986)61/62.
Bourdieu, Pierre: Die verborgenen Mechanismen der Macht, Hamburg 1992.
Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen, Frankfurt/M. 1983.
Funabashi, Yoichi The Asianization of Asia, in: Foreign Affairs, 72(1993)5, 75-85.
Heisei Nihon wa karaoke darake, in: AERA, (19. Sept. 1994), 60-62.
Hiraishi, Naoaki: The Asia Boom in Japanese Publishing, in: Social Science Japan, (1994)7.
Honda, Shir_: Higashi Ajia ni hirogaru Nihon no popy_r_ bunka, in: Gaiko Forum, (1994)9.
Hosokawa, Syuhei: Performing Arts in Japan Now, in: The Japan Foundation, 1994, 13.
Kawasaki, Ken'ichi: Nihon no hatsugen suru popy_r_ bunka to wa, in: Sekai (1993)12.
Kumamoto, Shin'ichi: Nihon no 'mediaryoku' o d_ hirogeru ka, in: Sekai, (1993)12.
Nester, William R.: Japan's growing power over East Asia and the world economy. London, 1990.
Nitobe Inaz_: Bushido: The Soul of Japan. 1899.
Ogura, Kazuo, Für ein neues Asien-Konzept, in: Japan Echo, 20(1993)3, 44-52.
Okakura, Tenshin: The ideals of the East with special reference to the art of Japan, New York, 1903 (deutsche
Übersetzung: Die Ideale des Ostens. Leipzig, 1922).
Wolferen, Karel van: Wrong on Japan, in: National Interest, (1993)fall.
Yoji, Akashi: Japanese Cultural Policy in Malaya and Singapore, in: Godman, Grant K. (ed.), Japanese Cultural
Policies in Southeast Asia during the World War 2. New York 1991.
72
8. Japan als internationaler Akteur: das Instrument der multilateralen Entwicklungshilfe
Paul Kevenhörster, Münster
Die internationale Politik wird in wachsendem Umfang durch grenzüberschreitende Probleme globalen
Ausmaßes herausgefordert: Bevölkerungswachstum, Umweltschutz, Wanderungsbewegungen, Drogen,
Kriminalität. Sie muß sich fragen, ob der bestehende Rahmen multilateraler Zusammenarbeit diesen Herausforderungen noch gewachsen ist. Auch die japanische Außenpolitik sieht sich inzwischen Problemen gegenüber, die
132
ihren traditionellen geographischen Aktionsrahmen weit überschreiten und globale Ausmaße angenommen haben.
Japan ist zu einem gewichtigen internationalen Akteur geworden. Welchen Beitrag leistet die multilaterale Hilfe
dieses Landes zur Bewältigung der drängenden globalen Probleme?
Zur Beantwortung dieser Frage sollen die Ausgangsbedingungen der japanischen Entwicklungspolitik durch
133
zwei Hypothesen umrissen werden:
1. Die multilaterale Entwicklungshilfe ist Instrument einer Außenpolitik der Interdependenz, mit der Japan dem
Strukturwandel des internationalen Systems zu entsprechen sucht.
2. Das multilaterale entwicklungspolitische Engagement ist Ausdruck einer internen Interessenkonstellation, mit
der die politische Führung ökonomische, strategische und außenpolitische Interessen in mittelfristige Konzepte
umsetzt.
Struktur, Stellenwert und Wirkung der multilateralen Entwicklungspolitik sind nur dann zu verstehen, wenn die
Kompatibilität dieser Politik mit den Anforderungen des internationalen Systems und ihr politisches Konsensniveau
beachtet werden.
1. Bestandsaufnahme
Die Rolle Japans als internationaler Akteur zu bestimmen, heißt, den außenpolitischen Stellenwert der
Entwicklungspolitik zu prüfen und Gewichtsverlagerungen innerhalb der internationalen Gebergemeinschaft zu
134
berücksichtigen. Seit 1989 führt Japan die Liste der Geber Öffentlicher Entwicklungshilfe (ODA) an. Umfang
und Struktur dieser Hilfe zeigen jedoch, daß Japan in der internationalen Gebergemeinschaft eine Sonderstellung
135
einnimmt. Zwar fühlt sich die japanische Regierung an die international akzeptierten Vorgaben des Development
Assistance Committee (DAC) der OECD gebunden, hat die Entwicklungshilfe aber stets vorrangig als Instrument
"internationaler wirtschaftlicher Zusammenarbeit" (kokusai keizai ky_ryoku) verstanden.
Grundlegende Motive der japanischen Entwicklungshilfe waren von Anfang an die Erschließung neuer Märkte
und die Sicherung einer stabilen Rohstoffversorgung. Die japanische Regierung hat daher die Integration des
Landes in die Institutionen des internationalen Handels mit Nachdruck vorangetrieben: Im August 1952 trat Japan
der Weltbank und dem Internationalen Währungsfond (International Monetary Fund; IMF) bei. Darauf folgten die
136
Beitritte zum Welthandelsabkommen GATT im Jahre 1955 und zur OECD im Jahre 1964.
Wirtschaftliches Eigeninteresse war auch erkennbar, als Japan Ende der 50er Jahre mit der Vergabe
zinsgünstiger, aber vollständig gebundener Yen-Kredite begann und sich verstärkt an internationalen Hilfekon132
Gaimush_ 1994a: 54; Murata 1993.
Inoguchi (1991: 103-124); Inoguchi (1993: 139-145).
134
Kevenhörster (1993: 116). Allerdings sind die Berechnungsmodalitäten der ODA zwischen den führenden
Entwicklungshilfegebern nicht unumstritten. Dies gilt vor allem für die ODA-Anrechnung von Schuldenerleichterungen für
Kredite, die nicht für Entwicklungsvorhaben, sondern für andere Zwecke (Waffenkäufe etc.) verwendet werden.
135
Berghorn (1994)
136
Komiya/ Itoh (1988)
133
sortien beteiligte. Regionaler Schwerpunkt dieses Engagements war Südostasien. In den 80er Jahren versuchte
Japan, Anschluß an die internationale Grundsatzdebatte in der Entwicklungspolitik zu finden, und erklärte - auch
unter dem Eindruck massiver Kritik des Development Assistance Committee der OECD, der Vereinigten Staaten
und anderer Geber -, seine Hilfeleistungen stärker an den Grundbedürfnissen (basic human needs) der Partnerländer
auszurichten. In die gleiche Richtung zielten Überlegungen, die sich in den Begriffen "Internationalisierung"
(kokusaika) und in einer stärkeren Beteiligung am internationalen "burden sharing" niederschlugen. Wegen der
starken innenpolitischen Widerstände gegen jeden Ausbau des Militärhaushaltes über 1 Prozent des Bruttosozialproduktes hinaus legte diese Perspektive eine starke Expansion der Öffentlichen Entwicklungshilfe nahe.
Die "Initiative für Internationale Zusammenarbeit" der Regierung Takeshita im Jahre 1988 sah daher drei Ziele
vor, die das internationale Engagement Japans im Kern bis heute bestimmen: 1. Verstärkung des internationalen
Kulturaustausches, 2. größere nichtmilitärische Beiträge zu friedenssichernden und humanitären Maßnahmen der
UN und 3. eine entsprechende Erhöhung der Öffentlichen Entwicklungshilfe. In der Tat hat Japan in der Folgezeit
seine Entwicklungshilfe stark ausgebaut und Mittel und Personal für Friedenssicherungsmaßnahmen der Vereinten
137
Nationen von Kambodscha bis Zypern zur Verfügung gestellt.
Nach einer Phase der Ernüchterung über die Wirkungen der Öffentlichen Entwicklungshilfe und der Zusage
umfassender Hilfeleistungen an die Staaten Osteuropas sind die Erwartungen der westlichen Geber und der
Entwicklungsländer an die Entwicklungshilfe Japans groß. Vor diesem Hintergrund hat die japanische Regierung
am 30. Juni 1992 eine "Charta der Öffentlichen Entwicklungshilfe" verabschiedet, die Grundsätze japanischer
138
Hilfeleistungen festlegt. Auf dieser Grundlage sind 1993 mittelfristige Ziele der Entwicklungspolitik deklariert
worden: der Vorrang von Umweltschutzprojekten und des Aufbaus einer Umweltverwaltung in den Partnerländern,
die Verbesserung der Qualität der Projekte, die Steigerung des im Vergleich zu anderen Gebern niedrigen
Schenkungsanteils (grant element) der Hilfe und die Intensivierung des Politikdialogs im Interesse
entwicklungsfördernder politischer, administrativer und wirtschaftlicher Rahmenbedingungen. Diese Grundsätze
sind - soweit sie in die Praxis der Entwicklungszusammenarbeit umgesetzt werden - schon deshalb von erheblicher
Bedeutung für die internationale Zusammenarbeit, weil Japan inzwischen 18 Prozent der weltweit vergebenen
Öffentlichen Entwicklungshilfe finanziert (11,5 von 61,4 Mrd. US $ im Jahre 1992).
2. Das Instrumentarium der multilateralen Hilfe
Die Öffentliche Entwicklungshilfe Japans umfaßt bilaterale Zuschüsse, bilaterale Kredite und Zuschüsse an
139
internationale Organisationen. Zur ersten Gruppe bilateraler Hilfeleistungen zählen Zuschüsse (grant aid) für den
Aufbau des Bildungs- und Gesundheitssystems, Landwirtschaft und Fischerei, für Aufgaben der Katastrophen- und
Nahrungsmittelhilfe und Projekte technischer Zusammenarbeit. Für Nahrungsmittelhilfe und technische Zusammenarbeit ist die Japan International Cooperation Agency (JICA) und für die Kredite im Rahmen der finanziellen
Zusammenarbeit der Overseas Economic Cooperation Fund (OECF) in Abstimmung mit dem Außen-, Finanz-, dem
Außenhandels- und Industrieministerium (MITI) und der Economic Planning Agency zuständig. Während die
Projekte der technischen und finanziellen Zusammenarbeit Gegenstand regelmäßiger Evaluierungen und Objekte
nachdrücklicher Kritik von Medien, Wissenschaftlern und Partnerorganisationen sind, führt die multilaterale Hilfe
in Medien und Wissenschaft nahezu ein Schattendasein.
140
Japans multilaterale Hilfe läßt sich in drei Kategorien aufteilen:
• Zuwendungen an Organisationen der Vereinten Nationen (z. B. UNDP),
• Zuwendungen an Institutionen der internationalen finanziellen Zusammenarbeit (Weltbank, regionale Entwick137
Akaha/Langdon (1993b); Curtis (1993), hier insbesondere der Beitrag von Ueki.
Japan. Ministry of Foreign Affairs, Japan's Official Development Assistance Charter, Tokyo, 30. Juni 1992; Söderberg
(1993).
139
Japan International Cooperation Agency (1993: 12); Association for Promotion of International Cooperation (1990: 2).
140
Association for Promotion of International Cooperation (o.J.: 89); Sanpon/Terada/Maruyama (1994).
138
74
lungsbanken),
• Zuwendungen an Nicht-UN-Organisationen wie an die Internationale Konsultativgruppe für Agrarforschung
(CGIAR) und die Asian Productivity Organization.
Die Zuständigkeiten für die multilaterale Hilfe als (neben finanzieller und technischer Zusammenarbeit) dritter
Säule der Entwicklungszusammenarbeit sind auf zwei Ressorts verteilt. Das Außenministerium verwaltet die
Beiträge an Organisationen der Vereinten Nationen: das United Nations Development Programme (UNDP), den
United Nations Population Fund (UNPF), die Asian Productivity Organization und weitere Sonderorganisationen.
Demgegenüber ist das Finanzministerium für die Beiträge an die Weltbank, die IDA (International Development
Association), die Asian Development Bank und andere regionale Entwicklungsbanken und Finanzie141
rungsorganisationen zuständig.
Nach der Takeshita-Initiative baute Japan sein Engagement in den Institutionen der internationalen Zu142
sammenarbeit zügig aus. Nachdem die multilaterale Hilfe noch in den 70er Jahren nur 15 % des ODA-Haushalts
ausgemacht hatte, erhöhte sich dieser Anteil in den 80er Jahren auf 25-30 %, um sich Anfang der 90er Jahre bei
143
rund 25 % zu stabilisieren. Damit wurde Japan nach den Vereinigten Staaten der zweitgrößte Geber multilateraler
Entwicklungshilfe (und der größte Geber bilateraler Hilfe). Ein Viertel der japanischen Mittel in diesem Bereich
kommt den UN-Organisationen wie dem United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR), der UNOrganisation zur Unterstützung palästinensischer Flüchtlinge (UNRWA) und dem Welternährungsprogramm
(WFP) zugute. Drei Viertel der multilateralen Hilfe fließen an die Weltbank-Gruppe: die Weltbank, die
International Development Association (IDA), die International Finance Corporation (IFC) und an regionale
144
Entwicklungsbanken.
Die Motive dieses Engagements sind Gegenstand vielfältiger Spekulation: Das Streben nach internationalem
Prestige verbindet sich mit einer Strategie, die äußeren Druck entwicklungspolitisch umsetzt und die internationale
wirtschaftliche Macht dadurch außenpolitisch abzusichern sucht. Der Ausbau des finanziellen und personellen
Engagements in den Vereinten Nationen und der Asiatischen Entwicklungsbank (ADB) verleiht andererseits der
Forderung nach größerer internationaler Mitsprache wie nach einem ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten
145
Nationen zusätzliches Gewicht. Die japanische Regierung selbst sieht sich der Forderung der internationalen
Staatengemeinschaft gegenüber, in der Entwicklungspolitik und in der Mitarbeit in den UN "entschlossene
146
Führung" (sekkyokuteki r_d_shipu) zu übernehmen.
Der Ausbau der japanischen Entwicklungshilfe ist noch in den 80er Jahren überwiegend der bilateralen Hilfe
zugutegekommen. Die japanische Regierung wählte diesen Kurs, weil sie in der bilateralen Hilfe ein wirksameres
147
Instrument der eigenen Interessendurchsetzung sieht. Schließlich ist die Wahrnehmung der außenwirtschaftlichen
Interessen des Landes über diese Form der Hilfe leichter möglich als auf dem weit komplizierteren Weg der
Beeinflussung internationaler Organisationen. Japans Engagement in diesen Institutionen ist daher zwiespältig:
Höhere Zuwendungen und das Beharren auf entsprechenden Mitspracherechten haben Japan zwar zum
zweitwichtigsten Beitragszahler dieser Organisationen werden lassen, aber eine schmale personelle Präsenz
untergräbt die damit verbundenen Mitwirkungschancen.
Im Internationalen Währungsfond besitzt Japan wie Deutschland mit jeweils 5,65 % den zweithöchsten
Stimmrechtsanteil nach den USA (18,9 %). In der Weltbank beträgt der japanische Kapitalanteil 7,43 % und der
141
Zur Rolle von Weltbank und IMF aus der Sicht japanischer Experten siehe u. a. Ohama (1991a und b); Akizuki (1994).
Yasutomo (1993a); Möllers (1992); May (1989).
143
Von 1986 bis 1990 stieg der Umfang der multilateralen Leistungen Japans zwar von 1,79 auf 2,28 Mrd. US $ an, sein Anteil
am Gesamtvolumen der Öffentlichen Entwicklungshilfe verringerte sich aber von 31,7 % auf 24,7 %, vgl. Japan. Ministry of
Foreign Affairs/Economic Cooperation Bureau (1992: 43).
144
So ist Japan etwa im Jahre 1992 der größte bilaterale Kreditgeber der Interamerikanischen Entwicklungsbank (IDB)
gewesen, vgl. World Bank (1993: 149).
145
J_ninri iri 'shiji' k_ru (Rufe nach 'Unterstützung' des Eintritts in den Kreis der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates), in:
Asahi Shimbun, 10. September 1994, S. 1.
146
Gaimush_ (1993: 197).
142
Stimmrechtsanteil 7,22 % (zum Vergleich: USA 17,9 % bzw. 17,37 %; Deutschland 5,74 % bzw. 5,58 %, Groß148
britannien 5,5 % bzw. 5,35 %). In der International Development Association (IDA) betragen die entsprechenden
Anteile für Japan 21,04 % bzw. 9,97 %, für die USA 25,91 %/16,22 %, für Deutschland 11,97 %/6,87 % und für
Großbritannien 8,38 %/5,39 %. Das kontinuierliche Streben der japanischen Regierung nach höheren
Stimmrechtsanteilen dokumentiert den Wunsch nach einer Verbesserung des internationalen Status wie nach
größerer faktischer Mitwirkung. Dies wird von den anderen Geberstaaten aber schon deshalb mit grundsätzlicher
Skepsis betrachtet, weil die japanische Regierung sich sonst noch mehr für die Finanzierung großer Infrastrukturprojekte und die Interessen der eigenen Wirtschaft einsetzen könnte.
Dies geschieht jedoch schon jetzt über die japanische Beteiligung an der Kofinanzierung von Entwicklungsprojekten, die von den internationalen Organisationen gefördert werden. Bei den kofinanzierten Weltbankprojekten beispielsweise stellt Japan nach Schätzungen mehr als die Hälfte des zusätzlichen Betrages zur
149
Verfügung, bei den kofinanzierten Projekten der Asiatischen Entwicklungsbank etwa ein Drittel. Auf diesem
Wege kann die japanische Regierung die komplexe Stimmrechtsstruktur der internationalen Organisationen
wirksam unterlaufen und dem kofinanzierten Projektbereich durch bilaterale Verhandlungen mit dem betreffenden
Partnerland ihren Stempel aufdrücken.
Den stetig gewachsenen Kapital- und Stimmrechtsanteilen Japans an den großen internationalen Institutionen
steht eine zwar stetig zunehmende, aber insgesamt unzulängliche personelle Präsenz gegenüber. So stellt die
japanische Regierung nach Schätzungen nur 1,3 % der gesamten Mitarbeiterschaft von Weltbank und IMF. Im
150
einzelnen nehmen Japaner in den internationalen Organisationen folgende Positionen ein : UN Assistant Secretary
General im Department of Administration and Management (Yukio Takasu, zuständig für Verwaltung und
Rechnungsprüfung); Assistant Administrator im United Nations Development Programm (UNDP) (Toshiyuki Niwa,
zuständig für Verwaltung und Haushalt); Stellvertretender Direktor des UN Population Fund (Hirofumi Ando,
zuständig für Politik und Verwaltung); UN High Commissioner for Refugees (UNHCR) (Sadako Ogata); UNSonderbeauftragter für Bosnien (Yasushi Akashi); Director General der World Health Organization (WHO)
(Hiroshi Nakajima); Präsident der Asien Development Bank (ADB) (Mitsuo Sato), ferner ein Mitglied des zwölfköpfigen Board of Directors (Susumu Fujimoto). In den Vereinten Nationen stellt Japan deutlich weniger
Mitarbeiter als Großbritannien, Frankreich, Deutschland, China und auch die Schweitz und schöpft so nicht einmal
151
die Hälfte der ihm zustehenden Stellenquote aus. Lediglich das personelle Engagement in der Asiatischen
Entwicklungsbank macht hier eine Ausnahme. Die Ursache dieses Defizits ist in der "insulare Psychologie" und der
ministeriellen Karrierepolitik zu suchen. Eine Auslandsentsendung stößt auf große emotionale Vorbehalte und zahlt
sich beruflich für Ministerialbeamte nicht aus. Folglich fällt es der japanischen Regierung schwer, die eigenen
Beamten an internationale Organisationen zu entsenden.
Das multilaterale Engagement Japans spiegelt sich auch in der Entscheidung der Regierung wieder, sich am
Aufbau der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) zu beteiligen. Nach den Vereinigten
Staaten hält Japan an dieser Bank mit Großbritannien, Frankreich, Italien und Deutschland den zweithöchsten
Kapitalanteil in Höhe von 8,5 Prozent. Zusätzlich finanziert die japanische Regierung den "Kooperationsfond
Japan-Europa", der in den Ländern Osteuropas die Auswahl geeigneter Projekte der Zusammenarbeit und von
Programmen der Aus- und Fortbildung von Fachkräften ermöglichen soll. Ein zwei Milliarden US $ umfassendes
Hilfsprogramm für Polen und Ungarn dient allerdings im Ergebnis der Absicherung japanischer Exporte.
Im Haushaltsjahr 1993/94 zahlte die japanische Regierung 3,309 Milliarden US $ an internationale
Organisationen. Hierbei handelte es sich um zweckgebundene Zuschüsse (z_yo) und um Beitragsleistungen
(shusshi). Der Betrag setzte sich folgendermaßen zusammen:
147
Lincoln (1993: 115 ff).
_kurash_ (1993: 447).
149
Lincoln (1993: 137 f).
150
United Nations Handbook (1993: 167ff, 251); Asian Development Bank (1994: 2).
151
Selbst in dem von Sadako Ogata geleiteten Weltflüchtlingskommissariat besetzen japanische Mitarbeiter nur 30 von 2000
148
76
Tab. 1: Die multilaterale Entwicklungshilfe Japans (1993/94) 152
Millionen US $
1. Zuschüsse zu internationalen Organisationen
657,7
- UN-Organisationen
593,2
- andere Organisationen
64,5
2. Beitragsleistungen an internationale Organisationen
2.652,0
- Weltbankgruppe
1.603,3
- andere Organisationen
1.048,7
Gesamtbetrag
3.309,7
ODA-Anteil
(28,8 %)
Das japanische Hilfevolumen hat im Haushaltsjahr 1993/94 11,26 Mrd. US $ erreicht. Die multilaterale Hilfe
153
machte 3,31 Mrd. US $ aus. Gegenüber dem Vorjahr sank der ODA-Anteil am Bruttosozialprodukt von 0,30 auf
0,26. In ihre Haushaltsplanung hat die Regierung für den Zeitraum 1993-1997 einen Betrag von 70-75 Mrd. US $
154
eingestellt. Ob sie diese Steigerung auch tatsächlich politisch und administrativ umsetzen kann, bleibt angesichts
fortbestehender innenpolitischer Instabilität, haushaltspolitischer Engpässe und eines schon jetzt überlasteten Durchführungsapparats abzuwarten.
In ihrem Kabinettsbeschluß vom Juni 1994 umreißt die Regierung zugleich die Richtung ihres künftigen weltweiten Engagements auf der Grundlage der entwicklungspolitischen Grundsätze des Jahres 1992: Um die Effizienz
der internationalen Organisationen zu stärken, will sie deren Haushaltsgrundlagen verbreitern und ihre eigenen
personellen und konzeptionellen Beiträge verstärken. Der Politikdialog mit den Partnerländern soll intensiviert
werden. Die Vergabe der Entwicklungshilfe soll dabei auch künftig in einer "organischen Verbindung" (y_kiteki
kanren) mit den japanischen Direktinvestitionen und dem Außenhandel erfolgen. Um Wirksamkeit und Effizienz
der Öffentlichen Entwicklungshilfe zu steigern, seien das Entwicklungshilfepersonal zu vergrößern, die
Vorbereitung von Entwicklungsprojekten durch regionale und sektorale Bedarfsanalysen zu verbessern und die
Qualität der Entwicklungszusammenarbeit durch kontinuierliche Evaluierungen zu steigern.
Zugunsten ihres multilateralen Engagements führt die japanische Regierung an, sie könne durch ihre
multilaterale Hilfe von Erfahrung und Sachverstand internationaler Organisationen profitieren; ihr komme ferner
deren internationales Netzwerk zugute; sie könne sich auf diesem Wege besser auf transnationale
Herausforderungen (Flüchtlinge, Drogenbekämpfung) einstellen und Informations- und Koordinationsprobleme der
155
eigenen Außenvertretungen so besser bewältigen.
Japan sieht sich zunehmend mit der Forderung der anderen Geber konfrontiert, auch in den internationalen
Organisationen Führungsaufgaben zu übernehmen. Im Januar 1991 wurde Sadako Ogata, eine japanische
Diplomatin und Professorin der Sophia-Universität, United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR).
Dem entsprach zugleich ein umfassendes Hilfsprogramm Japans für die internationalen Flüchtlingsorganisationen.
Stellen.
152
Wagakuni no seifu kaihatsuenjo no jisshi j_ky_ (93 nendo) ni kansuru nenji h_koku (Jahresbericht über die Vergabe
Öffentlicher Entwicklungshilfe im Jahr 1993), Tokyo, 28. Juni 1994.
153
Wagakuni no seifu kaihatsu enjo no jisshi j_ky_ (93 nendo) ni kansuru nenji h_koku (1994: 66, 64, 41, 6).
154
Gaimush_ (1994b: 45).
155
Japan. Ministry of Foreign Affairs (1993: 143).
Tab. 2: Japans Hilfeleistungen an internationale Flüchtlingsorganisationen (1992/93)156
Millionen US$
United High Commissioner for Refugees (UNHCR)
1.192,41
United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees (UNRWA)
19,00
World Food Programme (WFP)
92,85
United Nations Border Relief Operation (UNBRO)
157
4,30
Zusätzlich zu dieser institutionellen Förderung beteiligte sich die japanische Regierung an Programmen der
internationalen Flüchtlingshilfe zugunsten
• der Indochina-Flüchtlingshilfe mit dem international größten Hilfebeitrag (29,3 Mill. US $ im Jahre 1992),
• der Myanmar-Flüchtlinge in Bangladesh (1 Mill. US $),
• der Palästina-Flüchtlinge (13 Mill. US $),
• der Flüchtlinge in Afrika (Äthiopien, Somalia, Sudan, Kenia) mit 14,5 Mill. US $ und
• der Flüchtlinge im früheren Jugoslawien über das internationale Rote Kreuz, UNICEF, UNHCR, die Internationale
Migrationsorganisation IOM und das Welternährungsprogramm WFP (53,3 Mill. US $).
Japan ist darüber hinaus nach den USA der zweitstärkste Finanzier der Weltbankgruppe: der Weltbank (IBRD),
der International Development Association (IDA), der International Finance Corporation (IFC) und der Multilateral
Investment Guarantee Agency (MIGA). Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) erhält 12,24 % ihrer Mittel von
158
Japan, der UNHCR 14,3 %, der Weltbevölkerungsfond 25,37 % und UNDP 8,66 %. Bei der Kofinanzierung von
Weltbankprojekten ist Japan durch die Export-Import-Bank und den Overseas Economic Cooperation Fund zum
größten Kreditgeber aufgestiegen: Im Haushaltsjahr 1992 haben diese beiden Organisationen 31 Weltbankprojekte
159
mit 1,38 Mrd. US $ unterstützt. Dieser Betrag machte 37 Prozent der gesamten bilateralen Kofinanzierung von
Projekten aus, zu der als weitere Geldgeber die USA 675 Mill. US $ und Deutschland 379 Mill. US $ beisteuerten.
Der von Weltbank und IDA getragene Policy and Human Resource Development Fund (PHRD) ist auf japanische Initiative eingerichtet worden und wird überwiegend von Japan finanziert (im Haushaltsjahr 1993 mit 127,5
Mill. US $). Eine führende Rolle spielt Japan ferner bei der Finanzierung des Weltbankprogramms für einkommensschwache und stark verschuldete Länder in Afrika südlich der Sahara sowie bei der Finanzierung regionaler
Entwicklungsbanken. Zusammen mit den USA ist Japan zudem mit einem Beitragssatz von 13,5 % größter
Kapitalgeber der Asiatischen Entwicklungsbank, bei deren laufenden Programmen zugunsten der ärmsten Länder
Asiens es auch größter Beitragszahler ist. Zweitgrößter Geldgeber ist Japan im Multilateralen Investment-Fond, der
Investitionen in Lateinamerika und in der Karibik fördert, und - zusammen mit Großbritannien, Frankreich, Italien
und Deutschland - in der Europäischen Entwicklungsbank (EBRD).
Um die bi- und multilaterale Hilfe besser aufeinander abzustimmen, strebt Japan ein kombiniertes System
160
(maruti-baienjo) an: Die Arbeit der internationalen Organisationen und bilateralen Geber soll durch Austausch
von Information, Personal, Know-how und finanziellen Mitteln harmonisiert werden. Beispiele für diesen Kooperationsansatz sind die Zusammenarbeit mit IDA zugunsten der Länder Afrikas südlich der Sahara, jährliche
Arbeitssitzungen mit den Vertretern von UNDP und die Durchführung von Kooperationsprojekten in Regionen und
Sektoren mit entwicklungspolitischer Schlüsselfunktion: wie etwa in Nepal (Wassergewinnung), auf den Malediven
(Managementschulung) und in Kambodscha (Wahlvorbereitung und Wahlmanagement).
Seit den 80er Jahren hat die japanische Regierung die Mitarbeit in den Arbeitsgruppen der Vereinten Nationen
156
Japan. Ministry of Foreign Affairs (1993: 144).
Das Programm unterstützt kambodschanische Flüchtlinge im Grenzgebiet von Thailand und Kambodscha.
158
Gaimush_ (1993: 391-399).
159
World Bank (1993: 75, 80).
160
Gaimush_ (1994b: 201).
157
78
und des GATT forciert, die Zusammenarbeit mit UNDP bei der Planung und Durchführung bilateraler Projekte
161
vorangetrieben und darüber hinaus finanziell und personell folgende internationale Organisationen am stärksten
162
unterstützt : UN Center for Regional Development (UNCRD), UN Statistical Institute for Asia and the Pacific, die
Universität der Vereinten Nationen, Asian Productivity Organization,
UN Economic and Social Commission for Asia and the Pacific (Bangkok), Asian and Pacific Development Center
(Kuala Lumpur), Regional Center for Mineral Explorations and Research (Bandung).
In diesen Einrichtungen sind japanische Mitarbeiter auch auf der Leitungsebene tätig. In den internationalen
Organisationen außerhalb Asiens aber ist das personelle Engagement deutlich geringer. In der Weltbank, in der die
meisten Entscheidungen durch langwierige Beratungen einvernehmlich gefällt werden (ein durchaus "japanisches"
163
Verfahren), hat dies einen relativ geringen japanischen Einfluß auf das Alltagsgeschäft der Bank zur Folge.
Zudem stellt Japan der Weltbank weniger als andere große Geberländer entwicklungspolitische Expertisen von
Nichtregierungsorganisationen, Instituten und Universitäten zur Verfügung. Mit anderen Worten: personeller
Einsatz und entwicklungspolitischer Wissensstand entsprechen keineswegs dem finanziellen Engagement.
Allerdings gibt es auch Anzeichen für ein verstärktes japanisches Engagement in der Weltbank zugunsten
entwicklungsfördernder politischer und administrativer Rahmenbedingungen in den Partnerländern.
Die japanische Regierung wird die Lücke zwischen ihrem finanziellen und ihrem personellen Einsatz nur
schließen können, wenn sie ihre Universitäten stärker zum Aufbau entwicklungspolitischer Forschungskapazität
ermuntert, Consultingunternehmen für Beratungsaufgaben der Weltbank mobilisiert und Karriereanreize für Beamte
schafft, für einen mittleren Zeitraum Positionen in der Weltbank oder anderen internationalen Organisationen zu
übernehmen. Der japanische Regierungsapparat kann den eigenen außen- und entwicklungspolitischen Anspruch
nur einlösen, wenn er darüber hinaus seine Verhandlungskapazität in allen Fragen der Politikkoordinierung mit
164
anderen Gebern und des Politikdialogs mit den Partnerländern weiter ausbaut.
3. Die Asiatische Entwicklungsbank
Wie in einem Brennspiegel lassen sich die Facetten der multilateralen Entwicklungshilfepolitik Japans am
165
Beispiel des Engagements in der Asiatischen Entwicklungsbank (ADB) in Manila nachzeichnen. Hier zeigen sich
- wie in der gesamten Außenpolitik Japans - erneut die bekannten Widersprüche zwischen einem reaktiven,
wirtschaftsorientierten und auf Asien zentrierten Vorgehen einerseits und den neuen, globalen Anforderungen an
eine aktivere, von den Vereinigten Staaten weniger abhängige internationale Rolle andererseits. Inzwischen besitzt
Japan 16,43 % des Kapitals und 13,52 der Stimmrechte der Asiatischen Entwicklungsbank (USA: 15,89 % und
166
13,9 %, Deutschland: 4,55 % und 4,02 %). In den Fragen der Bankpolitik und ihres Bankmanagements verhält
sich die japanische Regierung durchaus konservativ. Andererseits hat sie in den letzten Jahren zentrale
entwicklungspolitische Ziele (Schuldenerleichterung, Abbau des Protektionismus, Öffnung der Bank gegenüber
China und Vietnam) in den Mittelpunkt ihres Engagements gerückt und darüber hinaus neue Fonds zur Verfügung
gestellt. Eine außenpolitische Konkurrenzsituation mit den USA entsteht in der Leitung und Politik der Bank. Das
Engagement in dieser Bank ist für die japanische Regierung seit jeher eine zentrale Prestigefrage, zugleich aber
167
auch eine Frage ihres Einsatzes für die Interessen der japanischen Wirtschaft.
In der ADB sind die entscheidenden Führungspositionen in japanischer Hand: außer dem Präsidium und dem
161
Im Jahre 1992 war Japan mit einem Betrag von 92,1 Mill. US $ nach Schweden (122,9) und den USA (107,4) der
drittgrößte Beitragszahler von UNDP, vgl. Tsush_sangyosh_ (1994: 764).
162
Hirono (1991: 171-181).
163
Stern (1991)
164
Rix (1993: 120); Abe (1991: 19ff); Ensign (1992: 179f).
165
Yasutomo (1983, 1993a); Behrendt (1992).
166
Asian Development Bank (1994: 3).
167
Im Zeitraum von 1988 bis 1991 flossen von den Projektausgaben der Bank in Höhe von insgesamt 21 Mrd. US $ 3,8 Mrd.
US $ als Auftrage an japanische Unternehmen zurück, vgl. Rowley (1992).
Direktorium die Strategic Planning Unit im Präsidentenbüro, das Programs Department East, Programs Deparment
West, Pakistan Resident Office, Indonesia Resident Office, Budget, Personnel and Management Systems
168
Department und das Treasurer's Department. Die Identifikation der Regierung in Tokyo mit der Bank in Manila
ist so stark, daß Kritiker die Asiatische Entwicklungsbank als "Japans Internationale Entwicklungsbank" ("JDB")
169
bezeichnen. In jedem Fall ist die japanische Bindung an diese Institution seit ihrer Gründung im Jahre 1966 die
stärkste und intensivste unter allen multilateralen Entwicklungshilfeorganisationen. Daher läßt sich auch der Wandel
des konzeptionellen Selbstverständnisses der japanischen Entwicklungspolitik am Beispiel des japanischen ADBEngagements illustrieren. Verstand sich diese Politik in den 60er und 70er Jahren im Unterschied zu der der
Vereinigten Staaten als eher reaktiv und unpolitisch - für Mittelbewilligungen galt stets das Bedarfs-Prinzip (y_seishugi), und der pragmatische Selbsthilfeansatz erschien tragfähiger als alle Versuche einer politischen Konditionierung der Hilfe -, so versucht die japanische Regierung seit den 80er Jahren, ihre multilaterale Hilfe in einen
außenpolitischen Rahmen zu integrieren und als Instrument ihres internationalen Prestiges einzusetzen.
Nicht nur in der Asiatischen Entwicklungsbank, sondern auch in der Weltbank und der Europäischen Bank für
Wiederaufbau und Entwicklung hat Japan seine einstmals defensive Position aufgegeben und eine offensivere,
aktive Rolle übernommen, die nachhaltigen Einfluß auf Tagesordnung und Machtstruktur dieser Institutionen
170
nimmt. Hier kann die japanische Diplomatie die nichtmilitärischen Instrumente ihrer Politik im globalen Rahmen
anwenden. Diese Politisierung der multilateralen Hilfe schlägt sich in einer globalen Ausrichtung, in größerem
Einfluß auf Themen und Institutionen und in internationalen Prestigegewinnen nieder, ohne daß die regionale
Konzentration auf Asien und den Pazifik gefährdet würde.
168
Asian Development Bank (1994: 222-224).
Asian Development Bank (1994: 307).
170
Yasutomo (1993b: 333 ff).
169
80
Abb. 1: Der Anteil der multilateralen Hilfe
und der Hilfeleistungen an Niedrigeinkommensländer171
4. Die multilaterale Hilfe im internationalen Vergleich
Die Öffentliche Entwicklungshilfe Japans weist nach den Berechnungen des Development Assistance
Committee der OECD seit 1989 eine Spitzenposition unter allen Gebern auf. Die Hilfeleistungen der USA rücken
hierbei nur dann an die erste Stelle, wenn zu den eigentlichen Entwicklungshilfeleistungen (ODA) der Schulden172
nachlaß für nicht aus Entwicklungshilfemitteln finanzierte Kredite hinzugerechnet wird. In der internationalen
Rangordnung des ODA-Anteils am Bruttosozialprodukt steht Japan mit 0,26 % allerdings erst an 15. Stelle
(Norwegen, Schweden und Dänemark nehmen die Spitzenplätze ein, während die Vereinigten Staaten mit einem
Anteil von 0,20 % unter den großen Gebernationen das Schlußlicht bilden). Diese Quoten der wichtigsten DACMitglieder sind zudem seit mehreren Jahren rückläufig.
Dem entspricht, daß der Anteil der multilateralen Hilfe am gesamten Entwicklungshilfeaufkommen insgesamt
ebenfalls zurückgeht: Während die DAC-Mitglieder 1981/82 32,3 % ihrer Entwicklungshilfe an internationale
Organisationen zahlten, sank dieser Anteil im folgenden Jahrzehnt auf 29,9 %. Lediglich die kleineren Geber
verwenden nach wie vor einen großen Teil ihrer Mittel auf multilaterale Hilfe. Ebenso ist in diesem Zeitraum der
Anteil der Zuwendungen an das Entwicklungshilfeprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) zurückgegangen,
während die Zahlungen an die internationalen Flüchtlingshilfswerke zugenommen haben. Der international
rückläufige Anteil der multilateralen Hilfe ist entwicklungspolitisch schon deswegen problematisch, weil 41 % der
171
nach: OECD/DAC (1994: 91); die Angaben zu Japan wurden entsprechend den Zahlen des Entwicklungspolitischen
Weißbuchs 1994 korrigiert.
172
OECD/DAC (1993: 81ff).
173
multilateralen Hilfe, aber nur 20,4 % der bilateralen Hilfe den ärmsten Entwicklungsländern zugutekommen.
Versucht man, die japanische Entwicklungshilfepolitik hinsichtlich des Gewichts der multilateralen Hilfe und
des an Niedrigeinkommensländer (LIC mit einem BSP pro Kopf von weniger als 675 US $) fließenden ODA-Anteils im Koordinationssystem der internationalen Gebergemeinschaft einzuordnen, so zeigt sich, daß Japan
hinsichtlich beider Quoten fast die gleiche Position wie die USA einnimmt, und daß seine Plazierung nicht weit von
174
der Frankreichs, Australiens, der Schweiz und Österreichs entfernt ist (Abb. 1). Die unterdurchschnittlichen
Anteile der multilateralen Hilfe Japans, der USA und Frankreichs spiegeln im übrigen die Tatsache wider, daß diese
drei Länder seit langem starke regionale Schwerpunkte ihrer Entwicklungspolitik gesetzt haben (Japan: Asien; USA:
Lateinamerika, Israel, Afrika; Frankreich: frankophones Afrika).
Der Entwicklungshilfeausschuß der OECD hat sich in seinem Prüfungsbericht anerkennend über die Ausweitung
der japanischen Entwicklungshilfe geäußert, aber zugleich bemängelt, daß deren Anteil am Bruttosozialprodukt den
internationalen Vorgaben nicht entspreche. Zwar seien qualitative Fortschritte bei der Verbesserung der
Tragfähigkeit (sustainability) der Hilfe unverkennbar, aber Projektprogrammierung und -verwaltung seien ebenso
verbesserungsbedürftig wie Japans Beteiligung an der internationalen Geberkoordination und die Maßnahmen des
175
Politikdialogs.
Diese Forderung erscheint um so einleuchtender, als die globalen Herausforderungen der
kommenden Jahre (Umwelt, Bevölkerungsentwicklung, Migration, Flüchtlinge, Drogenbekämpfung,
Friedenssicherungsmaßnahmen) einen stärkeren Einsatz internationaler Organisationen und damit ein größeres
176
Volumen multilateraler Hilfe erzwingen.
Die neueste Entwicklung ergibt folgendes Bild: 1993 machte Japans ODA unter Einschluß der Leistungen an die
Länder Osteuropas 11,473 Mrd. US $ aus. Der ODA-Anteil am Bruttosozialprodukt ging um 0,04 Prozentpunkte
auf 0,27 % zurück. Während sich das Gesamtvolumen der Hilfe 1993 gegenüber dem Vorjahr nur um 1,2 %
177
erhöhte, nahmen die technische Zusammenarbeit um 22,0 % und die multilaterale Hilfe um 16,2 % zu. Von
11,473 Mrd. US $ entfielen somit 3,31 Mrd. auf multilaterale Leistungen. Damit hat sich der Anteil dieser Hilfe am
gesamten japanischen ODA-Volumen wieder auf 28,8 % erhöht und gegenüber den Vorjahren (1990: 22,8 %; 1991:
178
21,6 %; 1992: 28,5 %) nochmals gesteigert.
Die kleinen Geberstaaten, die wie insbesondere die skandinavischen Länder einen höheren ODA-Anteil am
Bruttosozialprodukt aufweisen, haben von Anfang an ihre Hilfe in überdurchschnittlichem Umfang an internationale
Organisationen geleistet. Während sich in diesen Ländern ein Trend zu multilateraler Hilfe durchgesetzt hat, haben
die großen Geber stets Vorbehalte gegen einen höheren Anteil dieser Hilfe zu Lasten der bilateralen Entwicklungshilfe erkennen lassen. Eine international vergleichende Untersuchung hat gezeigt, daß die bilaterale Hilfe aller
179
Staaten einen deutlich geringeren Grad an Bedürfnisorientierung aufweist als die multilaterale Hilfe. Anders
gesagt: Während die bilaterale Hilfe in allen Entwicklungsdekaden immer in erheblichem Umfang wirtschaftliche,
außenpolitische und strategische Eigeninteressen der Geber widerspiegelt, orientiert sich die Tätigkeit der internationalen Organisationen in größerem Umfang an ihrem Beitrag zur Befriedigung von Grundbedürfnissen.
Die Motivations- und Interessenlage der Geber bleibt gleichwohl komplex. Während die kleineren Geber auch
deswegen einen hohen ODA-Anteil an internationale Organisationen zahlen, weil die multilaterale Hilfe die eigene
Administration entlastet, internationale Organisationen im Rahmen der Kofinanzierung auch als Durchfüh173
Im Falle Japans kommt 14,7 % der gesamten bilateralen Entwicklungshilfe den ärmsten entwicklungsländern (LLDC)
zugute und 46 % den Niedrigeinkommensländern (LIC) mit einem BSP pro Kopf von weniger als 676 US $, vgl. Gaimush_
(1994b: 120).
174
Einen relativ hohen Anteil multilateraler Hilfe weist unter den führenden Industriestaaten nur Großbritannien mit 45 % auf,
vgl. British Overseas Aid, Annual Review 1993, S. 22. Demgegenüber strebt die Bundesregierung eine Reduzierung des Anteils
multilateraler Hilfe in Höhe von derzeit 35 % auf 30 % an und führt zur Begründung die "mangelnde Effizienz" der
multilateralen Hilfe sowie die geringe Sichtbarkeit des deutschen Anteils an, vgl. E+Z, 35(1994)9, S. 238.
175
OECD/DAC (1994: 119).
176
vgl. hierzu auch Thränhardt (1992: 219-234).
177
Tsush_sangy_sh_ (1994: 23).
178
Ministry of International Trade and Industry (o.J.: 37); Gaimush_ (1994b: 196).
179
Cusack/Kaufman (1994: 5, 12f).
82
rungsorganisationen für die eigene Hilfe in Anspruch genommen werden und die multilaterale Hilfe die bilaterale
zudem regional und sektoral ergänzt, zeigen sich die großen Geber an multilateralen Leistungen vor allem wegen
der Steigerung der Auftragsvergabe (return flows) und eines hohen Personalanteils (Frankreich, Großbritannien)
180
interessiert. Die früheren Kolonialmächte versuchen ferner, auch über multilaterale Institutionen jene Länder
besonders zu fördern, zu denen sie traditionell enge Beziehungen unterhalten. Das gleiche gilt für Japans Stellung in
Asien und im Pazifik.
5. Innenpolitische Akzeptanz und außenpolitische Perspektiven
Ein kontinuierlicher Ausbau der japanischen Entwicklungshilfe wird von der Öffentlichkeit zwar nicht
enthusiastisch, aber wohlwollend bewertet. Zwar halten 45,6 % der Befragten den derzeitigen Umfang der
Öffentlichen Entwicklungshilfe für ausreichend, aber immerhin jeder Dritte wünscht einen Ausbau der Hilfe. Die
Erhaltung des Weltfriedens, die Förderung der Stabilität in den Entwicklungsländern, der Einsatz japanischer
Technologie für Aufgaben des Umweltschutzes, moralische Verpflichtung und außenpolitische Erwägungen sind
181
die erklärten Gründe.
Die künftige internationale Rolle Japans wird vorrangig in Beiträgen zur globalen
182
Umweltpolitik, zur Gesundung der Weltwirtschaft und zur Beilegung regionaler Konflikte gesehen. Im Rahmen
der Beiträge zur Förderung internationaler Zusammenarbeit wird die Entwicklungshilfe allerdings nach Maßnahmen
183
der Friedenssicherung und des Umweltschutzes erst an dritter Stelle genannt.
Die Umfragen weisen aber zugleich eine rückläufige Tendenz der Intensität öffentlicher Unterstützung für
184
Entwicklungshilfe aus : Der Anteil derjenigen Befragten, die sich "entschieden" (sekkyokuteki) für einen Ausbau
dieser Hilfe aussprechen, hat sich im Zeitraum von 1972 bis 1993 kontinuierlich von 42,7 % auf 32,6 % verringert,
während der Anteil derjenigen, die für eine Beibehaltung im bisherigen Umfang eintreten, von 33,8 % auf 45,6 %
angestiegen ist. Damit ist die politisch-psychologische Resonanzbasis einer weiteren Dynamisierung der Entwicklungshilfe schmaler geworden.
Sieht man die Schwerpunkte der bi- und multilateralen Hilfe Japans im Zusammenhang, so wird deutlich, daß
Japan mit beiden Formen des Engagements seine dominierende wirtschaftliche Stellung in Asien und im Pazifik
185
untermauert. Darin ist zugleich ein Hebel für regionale Kooperationsformen - etwa im Rahmen der APEC - zu
sehen. Zugleich sieht sich Japan nach den programmatischen Erklärungen seiner Regierung auch künftig als Wachstumsmotor dieser Region. Außenpolitisch setzt Japan darauf, daß sich die Hilfeleistung in einer Unterstützung der
Partnerländer bei der Frage der ständigen Mitgliedschaft im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen niederschlagen
186
wird.
Im trilateralen Kräftefeld USA-Europa-Japan erhöht die multilaterale Entwicklungshilfe Japans internationale
Durchsetzungsfähigkeit und erweitert seinen außenpolitischen Aktionsspielraum. Mit ihrem multilateralen
Engagement trägt die japanische Regierung in der Debatte zwischen Realisten und Globalisten um die Struktur der
internationalen Beziehungen der Erkenntnis Rechnung, daß vor dem Hintergrund zunehmender internationaler Interdependenz eine an globalen Partnerschaftsbeziehungen und leistungsfähigen internationalen Regimen orientierte
187
Politik (taigaiseisaku) die klassische, nationalstaatliche Außenpolitik (gaik_seisaku) ergänzen wird. Sieht man
das erhebliche wirtschaftliche, organisatorische und personelle Potential, das die wirtschaftliche Supermacht Japan
angesichts drängender globaler Probleme in die internationalen Organisationen einbringen kann, und stellt man
zugleich die wachsenden Anforderungen an das Konfliktmanagement dieser Organisationen in Rechnung, ist ein
180
Claus et al. (1989: 88f).
S_rifu-k_h_shitsu (1994: 20); Japan. Prime Minister's Office (1994).
182
S_rifu-k_h_shitsu (1994: 7, 9).
183
vgl. auch _kurash_ Insatsukyoku (1993: 12-14).
184
S_rifu-k_h_shitsu (1994: 20).
185
Foreign Press Center (1994: 6); Kosai/ Matsuyoma (1991: 63).
186
Premier to offer 60 bil. Yen in ODA for Vietnam, in: The Daily Yomiuri, 22. August 1994, S. 1.
187
Sat_ (1989: 5); vgl. hierzu auch die Konzeption des Shinseit_-Generalsekretärs Ozawa (1994, 135 ff).
181
Ausbau der multilateralen Hilfe durch ein hohes Maß an Kompatibilität mit den Erfordernissen der internationalen
Politik geprägt. Fraglich bleibt jedoch, ob sich diese Dynamisierung in Zeiten hoher innenpolitischer Instabilität
188
auch weiterhin auf einen entsprechenden Konsens der innenpolitischen Akteure stützen kann. Ohne stabile
politische Entscheidungsstrukturen erscheint dieser Konsens nur schwer vorstellbar. In einer Phase des politischen
Umbruchs tut sich die politische Führungsschicht aber schwer, eine konsistente Außenpolitik globaler
189
Verantwortung zu entwerfen.
Die multilaterale Entwicklungspolitik eröffnet Japan die Möglichkeit, im trilateralen Rahmen des internationalen
Systems eine größere Rolle zu spielen und sich mit Nachdruck für eine Reform der Vereinten Nationen
190
einzusetzen. Das Maß an Unabhängigkeit, das die fernöstliche Wirtschaftssupermacht durch ihre Mitwirkung in
der Weltbank, den regionalen Entwicklungsbanken und den UN-Organisationen gewinnt, macht es ihr leichter, als
191
trilateraler Partner aufzutreten und das Image des "Trittbrettfahrers" internationaler Beziehungen abzustreifen.
Das Gewicht dieser Institutionen für die internationale Politik hat nach dem Ende des "Kalten Krieges"
zugenommen. Japans multilaterales Engagement könnte zugleich dabei als Ausgangspunkt einer weiterreichenden
globalen Arbeitsteilung dienen.
Ein Ausbau der multilateralen Entwicklungshilfe würde sich gut in eine neue außenpolitische Strategie einfügen,
wie sie Y_ichi Funabashi mit vier Stichworten charakterisiert: 1. Japan als "globale zivile Macht", 2.
Mehrdimensionale Außenpolitik, 3. Gleichberechtigte Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten und 4. "Pazifischer
192
Globalismus". Schrittweise könnte Japan danach in die Rolle einer "zivilen Weltmacht" hineinwachsen, deren
Gestaltungschancen auf ihren wirtschaftlichen, technologischen und organisatorischen Potentialen beruhen und die
diese für Aufgaben der Entwicklungshilfe, der Förderung von Demokratie und Menschenrechten, der
Friedenssicherung und des Schutzes der globalen Umwelt einsetzt. Die Förderung der wirtschaftlichen
Zusammenarbeit, des internationalen Handels und Friedenssicherung sind zwar globale Aufgaben, sollten von Japan
aber schwerpunktartig in Asien und im Pazifik weiterverfolgt werden.
Der internationalen Erwartung eines stärkeren multilateralen Engagements Japans und einer aktiveren
Außenpolitik dürfte zugutekommen, daß Japan im Zeitraum von 1995 bis 1997 seinen gegenwärtigen Anteil am
Budget der Vereinten Nationen in Höhe von 12,45 % auf 15,65 % steigern und damit den Abstand zum größten
193
Beitragszahler, den USA (25 %), deutlich verringern wird. Dieses Wachstum wird es der japanischen Regierung
nahelegen, die vorhandenen entwicklungspolitischen Ansätze weiterzuentwickeln und in ein außenpolitisches
Konzept einzubinden. Hierzu sind drei Perspektiven vorstellbar.
1. Das stärkere Engagement für globale Fragen des Umweltschutzes, der Migration usw. legt einen absoluten
und relativen Ausbau der multilateralen Hilfe nahe. Dazu wird die Öffentliche Entwicklungshilfe in eine andere
194
Größenordnung hineinwachsen müssen. Wenn Japan auch künftig darauf beharrt, den Umfang seines Verteidigungshaushaltes nicht über 1 % des Bruttosozialproduktes ansteigen zu lassen, wird es den Forderungen seiner
Partner nach einer angemessenen Lastenteilung am ehesten entsprechen können, indem es Öffentliche
Entwicklungshilfe und auswärtige Kulturpolitik einem Vorschlag des früheren Premierministers Fukuda
entsprechend dynamisiert und auf Dauer drei Prozent des Bruttosozialprodukts auf internationale Beiträge
verwendet: 1 % Verteidigungsaufgaben, 1 % Öffentliche Entwicklungshilfe und 1 % Auswärtige Kulturpolitik. Von
einer solchen Dynamik ist allerdings die gegenwärtige Haushaltspolitik noch um Lichtjahre entfernt.
2. Während die politischen Zuständigkeiten gegenwärtig auf insgesamt 18 Ministerien und Ämter verteilt
188
Hanrieder (1967)
hierzu auch Drifte (1990: 109).
190
Gaimush_ (1994a: 54f).
191
vgl. hierzu auch die Vorstellung des ODA-Jahresberichts 1984 in den Medien: "ODA shud_koku ni" (Zum führenden Staat
Öffentlicher Entwicklungshilfe), in: Asahi Shimbun, 30. September 1994, S. 1.
192
Funabashi (1993, 1994).
193
The Japan Times, 13. September 1994, S. 5; Gaimush_ (1994b: 197).
194
Kunugi (1994: 6); Hirono (1993: 6f).
189
84
195
sind, erscheint eine politische und administrative Koordination durch ein Ressort geboten, das die Perspektiven
der internationalen Zusammenarbeit mit größerem Nachdruck verfolgt. Dazu ist die Einrichtung eines
"Ministeriums für internationale Zusammenarbeit" geboten.
3. Japan wird im Interesse seiner auswärtigen Politik eine personalpolitische Kurskorrektur vornehmen müssen,
wenn es den ihm durch seine Beiträge zu internationalen Organisationen eröffneten Gestaltungsspielraum nutzen
will. Gegenwärtig besetzt die japanische Regierung nur einen Bruchteil der ihr bei den Vereinten Nationen und in
196
der Weltbankgruppe zustehenden Stellen.
Die zunehmende globale Interdependenz - die besonders vom Brandt-Bericht und der Brundtland-Kommission
betonte multidimensionale, gegenseitige Abhängigkeit zwischen dem Norden und dem Süden - deutet darauf hin,
daß die Anforderungen an das internationale Krisenmanagement und das Leistungsvermögen internationaler Organi197
sationen steigen. Die Industriestaaten müssen sich fragen, ob Umfang und Perspektiven ihrer multilateralen Hilfe
dieser Herausforderung gerecht werden. Dabei bietet sich Japan die Chance, die Vereinten Nationen insbesondere
durch den Ausbau der Wahlprüfung und Wahlberichterstattung, die Stärkung der Electoral Assistance Unit, die
Unterstützung des Hochkommissariats für Menschenrechte und die Verbesserung der Koordination zwischen den
198
UN-Organisationen leistungsfähiger zu machen.
Japan ist mit dem Ausbau seiner Entwicklungshilfe für Umweltschutz und Flüchtlingshilfswerke einen Schritt in
die richtige Richtung gegangen. Zum "burden sharing" gehört aber auch das "power sharing". Mitwirkung erfordert
199
auch Mitsprache. Als internationaler Akteur wird Japan einen langen Atem und mehr Entscheidungsfreude beim
Ausbau der internationalen Organisationen zeigen müssen. Sonst bleibt die "Internationalisierung" der Außenpolitik
ein Torso.
Literatur:
Abe, Tadahiro: Foreign Aid Policy. Japan and the U.S.. Cambridge/MA, 1991.
Akaha, Tsuneo/ Langdon, Frank (Hrsg.), 1993a: Japan in the Posthegenomic World. Boulder, London, 1993.
Akaha, Tsuneo/ Langdon, Frank, 1993b: Introduction: Japan and the Posthegemonic World, in: Akaha, Tsuneo/
Langdon, Frank (Hrsg.): Japan in the Posthegenomic World. Boulder, London, 1993.
Akizuki, Mitsuko: Sekai Gink_ to Kokuren kaihatsu keikaku (Die Weltbank und das Entwicklungshilfeprogramm
der Vereinten Nationen), in: Kokusai Mondai (International Affairs), No. 414, (1994) September, 41-53.
Asian Development Bank: Annual Report 1993, Hongkong 1994.
Association for Promotion of International Cooperation (APIC): A Look at ODA and International Cooperation,
Tokyo 1990.
Association for Promotion of International Cooperation (APIC): A Guide to Japan's Aid, Tokyo o. J..
Behrendt, Jens Reiner: Die Asiatische Entwicklungsbank. Organisation, Funktionsbedingungen, entwicklungspolitische Schwerpunkte, in: Mitteilungen des Instituts für Asienkunde Hamburg, Nr. 205, Hamburg, 1992.
Berghorn, Hans-Heinrich: Die Entwicklungspolitik Japans - von der "Ressourcen-Diplomatie" zu globaler
Entwicklungshilfe, Münster 1994, Magister-Arbeit, Institut für Politikwissenschaft der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster.
Claus, Burghard/ Hofmann, Michael/ Lembke, Hans H./ Zehender, Wolfgang: Koordinierung der Entwicklungszusammenarbeit wichtiger OECD-Geberländer. Berlin: Deutsches Institut für Entwicklungspolitik, 1989.
Curtis, Gerald L. (Hrsg.): Japan#s Foreign Policy after the Cold War. Coping with Change. New York, London
1993.
195
OECD (1993: 37). Vier Ressorts verwalten 95 % der ODA-Haushaltsmittel, 14 weitere Ministerien und Ämter die restlichen
5 %.
196
Japan underrepresented at international organizations, in: The Daily Yomiuri, 14. Mai 1994, S. 3.
197
vgl. hierzu das Interview der Tageszeitung Yomiuri mit dem UNDP-Direktor James Gustave Speth: Kakuya Ishida, U. N.
official calls for prevention aid, in: The Daily Yomiuri, 11. Dezember 1993, S. 3.
198
Kakizawa (1994).
199
Murata (1993: 584f).
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339 f.
9. Japan und das System der Vereinten Nationen
Frank Bauer, Berlin
Japans hat sein Engagement im System der Vereinten Nationen in jüngerer Zeit verstärkt. Entsprechend wächst
weltweit die diesbezügliche Aufmerksamkeit. Die Spannbreite in der Bewertung reicht von unverhohlener Kritik bis
zu uneingeschränkter Bewunderung, von Warnungen vor erneuten ostasiatischen Eroberungsplänen bis zur
Pauschalisierung als ein Musterbeispiel reaktiver Politik. Was liegt nun aber dem aktuellen Engagement zugrunde
und welche Rolle spielt es in der japanischen Politik? Sind solche Aktivitäten eine neue Erscheinung, oder kann
man von einer kontinuierlichen Entwicklung japanischer VN-Politik sprechen? Und schließlich, wie können die
aktuellen Aktivitäten bewertet werden? Lassen sich hierzu Lehren aus der Vergangenheit ziehen? Zur Beantwortung
dieser Fragen beizutragen, hat sich der folgende Text zum Ziel gesetzt.
Japan im Völkerbund
Obgleich historische Prozesse niemals völlig deckungsgleich ablaufen, kann Vergangenes dennoch Aufschluß
liefern für das Verständnis aktueller Probleme, und hier insbesondere hinsichtlich des Verhältnisses von Integration
und Isolation. Daher soll im folgenden Abschnitt kurz auf Japans Rolle im Völkerbund eingegangen werden.
Japan hatte sich unter dem Druck der Westmächte, mit dem Bedürfnis, einer Kolonialisierung zu entgehen, ab
etwa Mitte des 19. Jahrhunderts schnellen und tiefgreifenden sozialökonomischen Wandlungen unterzogen. Zu
Beginn des 20. Jahrhunderts sah es sich als aufstrebende Industrienation genötigt, eigene Interessen stärker in die
eines sich verändernden internationalen Gefüges zu integrieren. Es gelang jedoch nicht, die hierzu notwendige
innen- und außenpolitische Stabilität durch ein Gleichgewicht der verschiedenen alten und neuen Interessengruppen
herzustellen bzw. zu wahren. Japan geriet angesichts der Aktivitäten der anderen Großmächte jener Zeit trotz
wachsender wirtschaftlicher Stärke immer mehr in ein politisches Abseits.
Der Völkerbund war 1920 v.a. auf der Basis der Vereinbarungen auf der Konferenz der Siegermächte des Ersten
Weltkrieges in Versailles entstanden. Japan hatte sich nur wenig an den Vorbereitungen zur Schaffung des Bundes
beteiligt. Als Siegermacht gehörte es dennoch zu den Gründungsmitgliedern, und war neben den USA,
Großbritannien, Frankreich und Italien ständiges Ratsmitglied. Ebenso wie die anderen einflußreichen Nationen
jener Zeit hatte Japan das Recht, an allen Versammlungen des Rates, den Treffen der Spezialkomitees und
internationalen Konferenzen teilzunehmen. Es war Mitglied des Exekutivrates der Völkerversammlung, entsandte
Richter an den Internationalen Gerichtshof und wurde Ratsmitglied in der ILO (International Labour Organization).
Mehrfach besetzten Japaner in dieser Zeit führende Positionen des Bundes, so u.a. des Stellvertretenden
Generalsekretärs, des Leiters des Internationalen Bureaus, und des Direktors für Politische Angelegenheiten. In
einigen Phasen seiner Mitgliedschaft gelang es Japan, durch seine relative Unabhängigkeit zur Arbeit des Bundes
konstruktiv beizutragen, auch in Bezug auf Probleme der anderen Siegermächte untereinander. Der Völkerbund
200
selbst begann jedoch im Laufe der Zeit unter regionaler Unausgewogenheit und der Abwesenheit bzw. dem
Rückzug einflußreicher Nationen zu leiden. Gehalt und Wirksamkeit seiner Aktivitäten ließen nach.
Japan war im Ergebnis seiner seit dem Ende des 19. Jahrhunderts betriebenen Politik der sogenannten Sicherung
der Nation durch Expansion vom Inselstaat zur Kontinentalmacht geworden. In der instabilen politischen Situation
gegen Ende des ersten Drittels unseres Jahrhunderts hatte sich in vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens des
Landes ein wachsender Einfluß des Militärs, gestärkt durch teilweise außerordentlich enge Beziehungen zu
200
Von den 32 Mitgliedern gehörten beispielsweise nur China, Indien, Japan und Siam zur asiatischen Region.
88
Wirtschaft und Politik, herausgebildet.
Problematisch aus japanischer Sicht und somit Ursache für ein Anwachsen latent vorhandener Spannungen mit
der internationalen Umwelt waren u.a. Fragen der Absicherung wirtschaftlicher und politischer Einflußsphären, die
Einschränkung seiner militärischen Möglichkeiten durch das Londoner Flottenabkommen, die materiell-technische
Unterstützung des Völkerbundes für China angesichts der japanische Aktivitäten im Norden des Landes, und die
von der japanischen Delegation abgelehnte Einsetzung der Lytton-Kommission durch den Völkerbund zur
Untersuchung der von japanischem Militär am 18.10.1931 im heutigen Shenyang provozierten Zwischenfälle. Nach
Abschluß ihrer Untersuchungen bewertete die Kommission die japanischen Aktivitäten Anfang Oktober 1932 als
Aggression. Der Bund nahm den entsprechenden Bericht im Februar des darauffolgenden Jahres an, ergriff zwar
keine direkten Sanktionen, verurteilte die japanischen Maßnahmen jedoch als völkerrechtswidrige Aktion und
verweigerte dem von Japan geschaffenen Marionettenstaat Mandschukuo die Anerkennung. Die japanische
Delgation stimmte gegen diesen Beschluß und verließ unter Protest die Versammlung. Am 27.03.1933 unterrichtete
die Regierung Japans den Völkerbund über den Austritt aus der Organisation und berief ihre Delegation ab. Das
Integrationspotential des Bundes war überfordert. Die Interessen der wesentlichen Machtgruppierungen einzelner
Mitgliedsländer überwogen den Willen und die Fähigkeit zur friedlichen politischen Konfliktlösung. Das Ergebnis
war selbstgewählte elitäre oder erzwungene Isolation, die zu nationaler Selbstüberschätzung und Irrtümern führte
und schließlich in den Krieg mündeten. Zur formalen Auflösung des Bundes kam es übrigens erst am 18.04.1946.
Phasen der japanischen VN-Politik
Die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges schufen 1945 das System der Vereinten Nationen. Japan gehörte
diesmal nicht zu den Gründungsmitgliedern, sondern fiel unter die sogenannte Feindstaatenklausel der VN-Charta.
Im folgenden soll ein chronologisch gegliederter Rückblick auf die Entwicklung der Position Japans zum bzw. im
System der VN erfolgen, um Aufschlüsse darüber zu erhalten, ob, inwieweit und mit welchen Mitteln Japan bemüht
war, den Makel eines Feindstaates der internationalen Völkergemeinschaft abzustreifen.
Dies geschieht vor dem Hintergrund der Veränderungen, denen die Organisation der VN selbst seit ihrer
Entstehung unterworfen war. Dazu gehören neben der von anfangs 51 bis heute auf mehr als das Dreifache
gestiegenen Mitgliederzahl auch eine im Vergleich zur Anfangsphase der VN bedeutende absolute und relative
regionale Umverteilung der Mehrheitsverhältnisse zugunsten Asiens und Afrikas. Damit entstanden neue
Aufgabenbereiche, einhergehend mit einem Bedarf nach entsprechenden organisatorischen Veränderungen. Diese
wiederum führten zu einer veränderten Gewichtung innerhalb der Strukturen des Systems, so z.B. im Verhältnis
zwischen Sicherheitsrat und Generalversammlung. Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts rücken Probleme des
Verhältnisses zwischen mehr oder weniger weit entwickelten Nationen und deren Folgen erneut in den Mittelpunkt
der Aufmerksamkeit. Die Situation ist gekennzeichnet durch die Notwendigkeit der Schaffung komplexer
Regelsysteme, die unter gleichberechtigter Einbeziehung aller Beteiligten wirksamer als die vor einem halben
Jahrhundert von den Begründern der VN geschaffenen Strukturen heutigen und zukünftigen Anforderungen gerecht
werden können.
In der Entwicklung der Position Japans zum System der Vereinten Nationen lassen sich verschiedene Phasen
erkennen. Diese Phasen stehen in teilweise auffälliger Beziehung zu anderen, vor allem sozialökonomischen
Prozessen sowohl innerhalb als auch außerhalb Japans.
Die erste Phase beginnt mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges bzw. des Pazifischen Krieges und der
Kapitulation Japans im Jahre 1945 und reicht bis zu seiner Aufnahme in die VN 1956. Diese zehn Jahre sind
gekennzeichnet durch die Beseitigung des wirtschaftlichen Nachkriegschaos über eine Stabilisierung der Produktion
bis hin zum Erreichen und Überschreiten des Vorkriegsniveaus.
Die zweite Phase reicht von der Aufnahme Japans in die VN bis zur erneuten Etablierung als internationale
Wirtschaftsmacht über die Zeit des sogenannten hochgradigen wirtschaftlichen Wachstums und umfaßt etwa die
Jahre 1956 bis 1970.
Die dritte Phase beinhaltet die Zeit der Krisenbewältigung als außenpolitisch relativ schwache wirtschaftliche
Großmacht bis zur schrittweisen wirtschaftlichen Erholung und dem Eintritt Japans in das "langsame Wachstum"
der Jahre 1970 bis 1980.
Die vierte und vorerst letzte Phase ist geprägt von weltweiten wirtschaftlichen Aktivitäten Japans unter den
Bedingungen der Ausprägung, Beendigung und des Abklingens der sogenannten bubble economy, bei verstärkten
Bemühungen um ein Engagement in der internationalen Politik. Diese Phase begann etwa 1980 und dauert bis in die
Gegenwart an.
Erste Phase (1945 - 1956)
Das Inkrafttreten des Friedensvertrages von San Francisco am 28.04.1952 hatte zu einer Unterordnung Japans
unter die Prinzipien der VN geführt. Wegen der mittlerweile bedeutend weitgehender als seinerzeit interpretierten
Bestimmungen des Artikels 9 seiner Verfassung darf Japan keine Streitkräfte unterhalten und verzichtet auf das
Recht zur Kriegführung. Japan wurde damit abhängig vom Sicherheitssystem der VN bzw. der USA. Die Regierung
bemühte sich bereits am 23.06.1952 erstmalig um eine Mitgliedschaft Japans in den VN, nachdem sie am
04.06.1952 hierzu die Zustimmung des Parlamentes erhalten hatte. Dieser erste Antrag scheiterte am 18.09.1952 am
Veto der UdSSR. Im Anschluß stellte die 7. Generalversammlung aber fest, daß Japan die Bedingungen für eine
Mitgliedschaft nach § 4 der VN-Charta erfülle. Schließlich bewarben sich im Anschluß an die Konferenz von
Bandung im April 1955 und das Gipfeltreffen in Genf drei Monate später auch alle diejenigen Nationen um die
Mitgliedschaft in den VN, deren Aufnahme bis dahin immer wieder zurückgestellt worden war. Die
Generalversammlung billigte am 08.07.1955 die Anträge auf gemeinsame Aufnahme. Doch am 13.07.1955 legte
China sein Veto gegen die Aufnahme der Mongolei ein, und die UdSSR machte ihrerseits ihr Veto gegen die
Aufnahme Japans geltend, so daß beide Staaten nicht aufgenommen werden konnten.
Erst im Anschluß an die gemeinsame sowjetisch-japanische Erklärung vom 19.10.1956, die den Kriegszustand
zwischen beiden Staaten beendete, die diplomatischen Beziehungen wiederherstellte, die Haltung beider Staaten
zueinander sowie im Verhältnis zu den VN definierte, sowie Japans Aufnahme in die VN empfahl, befürwortete der
Sicherheitsrat am 12.12.1956 die Aufnahme Japans in die VN. Daraufhin wurde es von der Vollversammlung am
18.12.1956 einstimmig als 80. Mitglied in die VN aufgenommen.
Schon zuvor war Japan Mitglied einiger Spezialorganisationen der VN geworden, so der FAO (Food and
Agricultural Organization of the United Nations), der ILO (International Labour Organization), der UNESCO
(United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization), der WHO (World Health Organization), des
IMF (International Monetary Fund), der IBRD (International Bank for Reconstruction and Development), der ICAO
(International Civil Aviation Organization), der WMO (World Meteorological Organization), des GATT (General
Agreement on Tariffs and Trade) und der IFC (International Finance Corporation). Bereits aus dem letzten Drittel
des 19. Jahrhunderts datiert Japans Mitgliedschaft in der ITU (International Telecommunication Union) und der
UPU (Universal Postal Union).
Zweite Phase (1956 - 1970)
Anläßlich der Aufnahme in die VN um eine verbale Formulierung ihres künftigen außenpolitischen Kurses
bemüht, erklärte die japanische Regierung die sogenannten drei Grundprinzipien ihrer Außenpolitik. Diese
bestanden zum ersten in der Betonung einer Zusammenarbeit mit den Staaten der sogenannten Freien Welt, zum
zweiten in einer Bewahrung der Zugehörigkeit Japans zum Kreis der asiatischen Nationen und zum dritten
schließlich in einer zentralen Ausrichtung der Außenpolitik auf die VN. Bereits bei der Formulierung wurde
deutlich, daß diese Prinzipien durchaus nicht immer miteinander zu vereinbaren sein würden.
Japans Rolle in den VN zeichnete sich in dieser Zeit vor allem dadurch aus, daß man, in enger politischer
Anlehnung an die USA (in Bezug auf die VN ersichtlich beispielsweise aus einer bis zu 80 %igen Übereinstimmung
90
des Stimmverhaltens beider Delegationen in der Generalversammlung), vor allem um internationale Anerkennung
sowie Repräsentation in internationalen Foren bemüht war. Besondere Aufmerksamkeit schenkte man in jener Zeit
der asiatischen Region.
Japans Aktivitäten auf dem Gebiet der offiziellen Entwicklungshilfe waren in dieser Phase gekennzeichnet durch
die Vergabe gebundener Kredite zur Absicherung und Förderung eigener Exporte bzw. Rohstoff-Importe im
wesentlichen in die asiatische Region, und hierbei oft für umfangreiche Infrastruktur-Projekte. 1962 wurde die
Agentur für Technische Zusammenarbeit in Übersee [OTCA] gegründet.
In dieser zweiten Phase gehörte Japan jeweils zu den Mitbegründern der IAEA (International Atomic Energy
Agency), der IMO (International Maritime Organization), der IDA (International Development Organization) und
der UNIDO (United Nations Industrial Development Organization).
Japans Aktivitäten in der Weltorganisation schwächten sich jedoch gegen Ende dieser Phase ab, was sowohl auf
die wachsende Komplexität internationaler Beziehungen als auch eine gewisse Ineffektivität der VN hinweist oder anders formuliert - Ausdruck dafür ist, daß das stark von den USA abhängige Japan keine effektive eigenständige
Rolle im Sinne einer Positionsbestimmung mit Hilfe eines multilateralen Gremiums zu spielen vermochte.
Dritte Phase (1970 - 1980)
In den 70er Jahren hatten sich durch den wachsenden Einfluß der Entwicklungsländer in den VN neue
Kräftekonstellationen ergeben. Verstärkte Bestrebungen um Unabhängigkeit und ein Ende der politischen
Kolonialisierung stellten die Weltorganisation vor neue Aufgaben. Zur ursprünglichen Funktion der Gewährleistung
internationaler Sicherheit, basierend auf dem status quo von 1945, kam die Bewältigung sozialökonomischer
Probleme weniger entwickelter Teile der Welt.
Hauptanliegen der japanischen Außenpolitik jener Jahre war aufgrund der Abhängigkeit des Landes von
Rohstoff-Importen und Exportmärkten die Schaffung und Aufrechterhaltung guter Beziehungen zu allen relevanten
Rohstoffproduzenten und -lieferanten sowie zu den jeweiligen Exportmärkten. Die damals vorherrschende Politik
wird daher auch in Japan selbst zuweilen als Rohstoff-Außenpolitik bezeichnet. Über die Vergabe seiner offiziellen
Entwicklungshilfe bemühte sich Japan um die Absicherung seiner Energie- und Rohstoff-Importe und um die
Schaffung weiterer Grundlagen für sein wirtschaftliches Wachstum. Die Ölkrise führte so gewissermaßen zu einer
stärkeren Internationalisierung der japanischen Aktivitäten. Besonders die Kreditvergabe an Staaten des Nahen
Ostens und Afrikas wurde umfangreicher. Die bereits genannte OTCA ging 1974 bei deren Gründung in die
Japanische Agentur für Internationale Zusammenarbeit [JICA] auf.
Bereits zu Beginn der Dekade hatte sich Japan an dem auf einen Vorschlag aus dem Jahr 1969 zurückgehenden
Projekt der Schaffung einer VN-Universität beteiligt. 1975 wurde dann mit Unterstützung der Regierung, die für
den Aufbau der Universität Anfang der 70er Jahre 100 Mill. US $ zur Verfügung gestellt hatte, das Hauptquartier
der Universität in Tôkyô dem Betrieb übergeben. Die Universität ist allerdings keine Lehreinrichtung im
herkömmlichen Sinne, sondern eher vergleichbar einem internationalen Forschungs- und Beratungsnetzwerk.
Inhaltliche Schwerpunkte zu Beginn ihrer Arbeit waren Fragen der Ernährung, der humanitären und sozialen
Entwicklung, sowie Rohstoff- und Umweltprobleme.
In den Auseinandersetzungen jener Zeit um die Schaffung einer neuen Weltwirtschaftsordnung sowie einer
Charta wirtschaftlicher Rechte und Pflichten von Staaten bezog Japan im Verhältnis der industriell entwickelten
Staaten und der Entwicklungsländer durchaus nicht immer eine klare Position. Ein erneuter Blick auf das
seinerzeitige japanischen Abstimmungsverhalten deutet darauf hin, daß Japan, in wachsender Distanz zu den
Ansichten der USA, bei Abstimmungen in den VN international mehrheitlich bestehende Auffassungen für seine
eigene Entscheidungsfindung berücksichtigte, insbesondere hinsichtlich seiner Sicherheits- und Entwicklungspolitik.
Augenfällig wurde das anhand der Notwendigkeit, angesichts der Ölkrise eine Verbesserung der Beziehungen zu
den ölfördernden Staaten im Nahen Osten zu erreichen. Dort versuchte Japan, mit einer Anpassung seiner Politik beispielsweise über eine Unterstützung der PLO und der Bemühungen um palästinensische Selbstbestimmung - zu
reagieren, ohne dabei Grundsatz-Positionen der entwickelten Industriestaaten aufzugeben. Auf diese Weise gelang
es Japan allerdings kaum, eine Basis für eine inhaltlich ausgereifte VN-Politik zu entwickeln, was schließlich darauf
hinauslief, daß man aus primär wirtschaftlichen Erwägungen heraus den Gedanken, als eine Art Bindeglied
zwischen unterschiedlichen Positionen und Systemen fungieren zu wollen, trotz seiner Verschwommenheit als
allgemeine inhaltliche politische Zielstellung ausgab.
In jener Zeit wurde Japan Mitglied der WIPO (World Intellectual Property Organization) und des IFAD
(International Fund for Agricultural Development) und ist somit in allen heutigen VN-Spezialorganisationen
vertreten. Seit Ende der 70er Jahre stellt Japan einen von 15 Richtern am Internationalen Gerichtshof.
Vierte Phase (seit 1980)
Japan hat seinen Anspruch auf aktive Beteiligung an der Errichtung einer neuen Weltordnung seit etwa Anfang
der 80er Jahre deutlich gemacht. Sein offiziell erklärtes Ziel besteht dabei gegenwärtig in der Schaffung einer
"freien, reichen und demokratischen Gesellschaft in internationaler Harmonie". Die Formulierung verweist auf das
Bewußtsein einer starken wechselseitige Beziehung zwischen nationalen Sicherheitsinteressen - in umfassendem
Sinne - und internationalen Faktoren. Die Hauptaufgabe japanischer (Außen-) Politik liegt also in der
Gewährleistung eines für die Durchsetzung japanischer Interessen nützlichen, ausgewogenen Verhältnisses zur
internationalen Umwelt mit den ihr hierfür zur Verfügung stehenden Mitteln. Japan nutzt hierbei wirtschaftliche,
finanzielle, politische oder auch kulturelle Mittel und unternimmt in diesem Kontext Anstrengungen für eine
verstärkte Einbindung in das VN-System.
Zu den wesentlichen Aufgabengebieten der VN in der Gegenwart gehören: Friedenserhaltung, Abrüstung,
Rüstungskontrolle, vertrauensbildende Maßnahmen, Maßnahmen zur Wahrung bzw. Durchsetzung grundlegender
Menschenrechte, zur Schaffung und praktischen Umsetzung internationaler Gesetzgebung, zur Bekämpfung von
Armut und damit zusammenhängender Probleme, Umweltschutz und Erhaltung bzw. sinnvolle Nutzung globaler
Ressourcen, Lösung bzw. Milderung der Schuldenprobleme der Entwicklungsländer usw. sowie eine für diese
Zwecke geeignete Anpassung des VN-Systems selbst an die sich verändernden Dimensionen der zu lösenden
Probleme.
Der Strukturwandel innerhalb der VN als ein Bestandteil der erforderlichen Anpassungen soll nach Auffassung
japanischer Verantwortlicher zugunsten verstärkter Einflußmöglichkeiten für Japan dahingehend ausfallen, daß
seine politischen Möglichkeiten den wirtschaftlichen und politischen Interessen und Potenzen angepaßt werden.
Hinsichtlich damit verbundener Pflichten gibt es jedoch noch unterschiedliche Auffassungen bei den an der
Entscheidungsfindung beteiligten Seiten. Hierbei bleibt ebenfalls abzuwarten, ob und inwieweit bei einer weiteren
Konsolidierung der asiatischen Region (Stichworte: ASEAN, APEC) auch eine Schaffung ähnlich komplexer
Strukturen wie in Europa angestrebt und durchgesetzt wird, und welche Position Japan innerhalb derartiger
Strukturen zukommt. Ausgeprägtere regionale Strukturen können sowohl zu einer Stärkung der VN durch
verbesserte Möglichkeiten für eine regionalspezifische Umsetzung entsprechender Beschlüsse bzw. Programme als
auch zu einer Schwächung der VN durch eine Überbetonung regionaler Interessen in multilateralen Systemen
beitragen.
Natürlich werden nicht alle außenpolitischen Beziehungen Japans über ein multilaterales Gremium wie die VN
geregelt werden können. Bilaterale zwischenstaatliche bzw. regionale Kontakte und Strukturen werden weiterhin,
auch bei der Umsetzung von VN-Initiativen, eine wichtige - möglicherweise sogar wachsende - Rolle spielen. Es
wäre daher übertrieben, in den seit einiger Zeit verstärkt zu beobachtenden japanischen VN-Aktivitäten mehr als nur
eine, wenngleich bedeutsame Option japanischer Außenpolitik zu sehen. Die Vergangenheit zeigt gleichermaßen,
daß diese Option bislang stets mit Aufmerksamkeit behandelt und - auch bei zeitweiser Vernachlässigung oder
angesichts anstehender Schwierigkeiten - nie ganz aufgegeben wurde.
Die oben beschriebene Orientierung führte für Japan nahezu zwangsläufig zu einer Art Wiederentdeckung der
VN im Sinne einer prinzipiellen Ausrichtung seiner Außenpolitik auf die Weltorganisation. Man begann, größere
92
Initiativen zu unternehmen. Insbesondere die USA, aber auch einige andere Staaten, hatten die Linie verfolgt, auf
den relativen Verfall ihres Einflusses in der Weltorganisation mit einer Einschränkung oder Zurückhaltung ihrer
finanziellen Unterstützung bzw. einem Rückzug aus bestimmten VN-Organisationen zu reagieren und damit Druck
auf die Weltorganisation bzw. deren Mitglieder auszuüben. Hierdurch entstanden neben einigen der erwähnten
Reformzwänge auch Freiräume, die Japan - selbst auf eine Erweiterung seiner Aktivitäten angesprochen - seinerseits
nutzte, um im eigenen Interesse wirksam zu werden. Stichworte in diesem Zusammenhang sind die Bemühungen um
eine administrative und finanzielle Reform der VN, um eine Reform des Sicherheitsrates und um die Beseitigung
der sogenannten Feindesklauseln aus der VN-Charta.
Die erwähnten Zielsetzungen Japans, die im wesentlichen über das Außenministerium an die Öffentlichkeit
gebracht werden, erfordern angesichts einer sich verändernden nationalen und internationalen Umwelt neue
Herangehensweisen und Organisationsformen im Lande selbst.
Mit der Intensivierung der Aktivitäten im VN-System war die Zahl der in Japan in diesen Prozeß involvierten
Stellen gewachsen deren bisher tradierte Form der Zusammenarbeit so vor neuen Anforderungen stand und steht.
Zur Befriedigung des wachsenden Bedarfs an geeignetem Personal schuf das Außenministerium vor einiger Zeit ein
Zentrum für die Rekrutierung und Ausbildung von Personal zur Vorbereitung auf eine Tätigkeit in Internationalen
Organisationen. Das Ministerium selbst wird auch weiterhin als zentrale Planungs- und Koordinierungsstelle der
japanischen VN-Aktivitäten fungieren.
Ein weiterer Hinweis auf die Bedeutung, die man in Japan den VN zumißt, ist die Tätigkeit einer Anzahl von
Zweigstellen von VN-Organisationen, zu deren Unterstützung auch parlamentarische Gruppen geschaffen wurden,
die sich mit Fragen der Bevölkerungsentwicklung, Umwelt, Drogen, Abrüstung, und der Situation der Frauen
beschäftigen. 1986 wurde eine überparteiliche Parlamentariergruppe zur Unterstützung der VN ins Leben gerufen.
Unterlegt wird dieses Interesse an den VN auch durch die Existenz mehrerer, die Arbeit der VN unterstützender
Nichtregierungs-Organisationen [NGO]. Unter diesen finden die Japanische Rot-Kreuz-Gesellschaft, die Nationale
Japanische UNESCO-Föderation und das Japanische UNICEF-Komitee die größte Unterstützung; außerdem gibt es
eine in der japanischen Öffentlichkeit allerdings kaum bekannte japanische Gesellschaft für die Vereinten Nationen.
Es bedarf aber noch intensiver Arbeit der japanischen Führung bei der Vermittlung ihrer Positionen zu den VN der
eigenen Bevölkerung gegenüber, vorausgesetzt, politischer Wille hierzu und notwendiges Faktenwissen für eine
breite Diskussion der Thematik in der Öffentlichkeit sind überhaupt vorhanden. Die VN sind in der japanischen
Bevölkerung zwar dem Namen nach bekannt und werden grundsätzlich in ihren Aktivitäten positiv gesehen,
insbesondere was die Tätigkeit für den Weltfrieden und die Lösung globaler Menschheitsprobleme angeht.
Genaueres Nachfragen jedoch läßt oft eher unklare bzw. einseitige Vorstellungen in der Bevölkerung zum Thema
VN erkennen, und die Entsendung von Angehörigen der Streitkräfte stößt weiterhin auf ausgesprochen
unterschiedliche Reaktionen.
Einzelbereiche der japanischen VN-Politik
Finanzielle und personelle Beiträge
Seinen Anspruch auf eine beachtete, einflußreiche Stellung in den VN unterlegt Japan durch große
wirtschaftliche und finanzielle Leistungen. Seine finanzielle Unterstützung für die VN - sowohl was den Beitrag
zum regulären Budget der VN als auch freiwillige Zahlungen betraf - wuchs stetig: von 2 % im Jahr 1957 bis hin zu
12,45 % Anteil für die Jahre 1992 bis 1993 (1992: 122,6 Mill. US $), womit es an zweiter Stelle hinter den USA
rangierte. Für die Zukunft ist eine Beteiligung zwischen 15 und 16 % vorgesehen.
Entwicklung des japanischen Anteils am regulären Budget der VN
1957
2,00 %
1968
3,80 %
1974
7,20 %
1977
8,66 %
1980-82
9,58 %
1983-85
10,32 %
1986-88
10,84 %
1989-91
11,38 %
1992-93
12,45 %
1994
ca. 15,50 %
Bereits 1981 hatte Japan den zweiten Platz hinter den USA bei den freiwilligen Beiträgen zu den VN erreicht.
Wesentliche Teile der Unterstützung gingen hierbei an FAO, UNDP und UNIDO. Seit 1984 ist es zweitstärkster
Beitragszahler der IBRD und seit 1990 auch zweitstärkster Beitragszahler der IMF-Quoten. Hier muß angefügt
werden, daß die Stimmkraft eines Landes in diesen Organisationen von der jeweiligen Höhe seines finanziellen
Beitrages abhängt. Nicht vergessen werden soll auch, daß der größte private Spender für die VN aus Japan stammt
und daß die Regierung die finanzielle Unterstützung japanischer NGO weiter verstärkt, was in einem bestimmten
Umfang einer indirekten Finanzierung von VN-Aktivitäten gleichkommt.
Ungeachtet der einflußreichen finanziellen Rolle Japans gibt es generell jedoch auch Stimmen, die sich dafür
aussprechen, daß kein Land mehr als 10 % zum Budget der VN beitragen sollte, um auf diese Weise Situationen
auszuschließen, in denen die Weltorganisation, wie in der Vergangenheit geschehen, nicht nur in Bezug auf
vernünftige Sparmaßnahmen, sondern auch für eine Erhaltung ihrer bloßen Funktionsfähigkeit unter den finanziell
untermauerten politischen Druck übermächtiger Beitragszahler geraten könnte.
Neben der beständigen Erweiterung seines finanziellen Einflusses auf die VN bemüht sich Japan ebenso um eine
Besetzung in diesem Zusammenhang relevanter Stellen. Hierbei wird häufig auf eine relative Unterbesetzung im
Hinblick auf absolute Zahlen verwiesen. Diese Argumentationsweise erscheint angesichts der relativen Vielzahl
japanisch besetzter hochrangiger Stellen auf Entscheidungsebene, insbesondere in den Strukturen finanziell
einflussreicher VN-Spezialorganisationen zwar quantitativ bis zu einem gewissen Grade verständlich, qualitativ ist
sie jedoch nicht unbedingt schlüssig.
Sicherheitspolitik
Der Begriff nationale Sicherheit wird in Japan offiziell umfassend verstanden. Neben politischen, militärischen
und wirtschaftlichen Themen gehören dazu auch soziale und kulturelle Aspekte. In diesen Bereichen soll nach
Auffassung japanischer Regierungsstellen die Zusammenarbeit zwischen den entwickelten Industriestaaten so
gestaltet werden, daß der hohe Grad gegenseitiger ökonomischer Abhängigkeit reflektiert wird.
Die veränderte internationale Lage und die gewachsenen wirtschaftlichen und politischen Möglichkeiten Japans
verliehen dem bereits erwähnten Bestandteil der ursprünglichen außenpolitischen Grundaussage aus den 50er
Jahren, eine auf die VN bezogene Politik betreiben zu wollen, neuen Inhalte. Im Vergleich zur damaligen Zeit, als
eine solche, zentral auf die VN ausgerichtete Politik wegen der engen sicherheitspolitischen Beziehungen zu den
USA kaum anderes als nahezu ausschließliche Einbindung in das System US-amerikanischer Interessen bedeutete,
stellt dieses Konzept für Japan heute auch sicherheitspolitisch eine interessante Option dar: dies wäre ein Beitrag zur
Konsolidierung einer in drei wirtschaftliche Groß-Regionen geteilten Welt, damit einhergehender Probleme
zwischen wirtschaftlich entwickelten und weniger entwickelten Nationen und Sub-Regionen innerhalb dieser GroßRegionen, sowie der daraus resultierenden gegenseitigen Abhängigkeiten, umso mehr, als einige Akteure nur noch
eingeschränkt in der Lage zu sein scheinen, unterschiedliche wirtschaftliche, politische und sozio-kulturelle Werte
94
und Interessen vernünftig abzustimmen - geschweige denn für die Zukunft zu akzeptieren oder zu adaptieren.
Neben wirtschaftlichen und kulturpolitischen Instrumenten setzt Japan in letzter Zeit in puncto Sicherheit jedoch
verstärkt auf das Militär, wobei die Priorität bislang auf der Sicherung regionaler Interessen im asiatisch-pazifischen
Raum zu liegen scheint. Einhergehend mit einer über die Jahre parallel zur Entwicklung des Bruttoszialproduktes
einhergehenden substantiellen Steigerung des eigenen Militärbudgets wuchs auch der von Japan zu erbringende
Anteil an den Stationierungskosten der US-Streitkräfte in Japan, allein von 1981 bis 1991 von 228,7 Mrd. ¥ auf
477,1 Mrd. ¥, also auf mehr als das Doppelte.
Aufmerksam verfolgt man in Japan die Entwicklung in China, insbesondere die Bemühungen um militärische
Stärkung, und die Entwicklung von Territorial- und anderen Disputen im Lande bzw. in Südostasien. Vorgeschichte
und schließliche Beteiligung an der VN-Mission in Kampuchea können ebenso als deutliches Zeichen japanischen
Interesses an den Entwicklungen in dieser von einer Vielzahl zu klärender Probleme bestimmten Region gewertet
werden.
Als Zukunftsperspektive diskutieren japanische Experten bereits seit einiger Zeit über eine präventive
Friedenspolitik und die Beteiligung Japans auch an sogenannten friedensschaffenden Maßnahmen der VN darunter auch eine entsprechende Abänderung der Verfassung. Das Problem wird unter dem nachhaltigen Eindruck
der unterschiedlichen Auslegung des Verhältnisses von japanischer Verfassung und VN-Charta, die bei der
Diskussion um das Gesetz zur Beteiligung an friedenserhaltenden Missionen der VN deutlich geworden ist, mit
Vorsicht behandelt, Außerdem gilt es, auf US-amerikanische Positionen und die Haltung anderer asiatischer
Nationen Rücksicht zu nehmen, aber auch, den Eindruck zu vermeiden, bei der Wahrnehmung der Rechte und
Pflichten eines Mitglieds der VN ginge es um Rechtfertigungsversuchen für kollektive Vorne-Verteidigung.
Tatsache bleibt jedoch: Nach längerer Pause im Anschluß an die Niederlage im Pazifischen Krieg ist erneut
militärisches Engagement Japans in einer Anfangsphase zu beobachten. Die Beteiligung an der UNTAC in
Kampuchea stellte dabei die erste, durch ein neues Gesetz abgesicherte Beteiligung japanischer Streikräfte an VNMaßnahmen außerhalb des japanischen Territoriums und somit eine neue Qualität seiner internationalen Aktivitäten
dar. Im übrigen war die offizielle Beteiligung Japans an VN-Operationen zur Friedenssicherung bereits im Vorfeld
der Beratungen zum diesbezüglichen Gesetzentwurf im japanischen Parlament stillschweigend Realität geworden,
allerdings ohne die Entsendung größerer Einheiten der Streitkräfte. Im November 1989 an UNTAG (Namibia vom
01.04.1989 - 31.03.1990) mit der Entsendung von 27 zivilen Wahlbeobachtern u.a. aus regionalen öffentlichen
Körperschaften, und im Februar 1990 an ONUVEN (Nicaragua vom 21.08.1989-28.02.1990) mit 6 Wahlbeobachtern, die als Privatpersonen ausgewählt worden waren. Zu UNIIMOG (Iran/Irak vom 20.08.1988 - 28.02.1991),
UNGOMAP (Afghanistan/Pakistan vom 15.05.1989 - 15.03.1990), und UNIKOM (Irak/Kuweit seit 13.04.1991)
wurde jeweils ein Regierungsbeamter entsandt. UNGOMAP war von Japan als Starthilfe mit 5 Mill. US $
unterstützt worden, UNIIMOG mit 10 Mill. US $. Für UNTAG stellte Japan als freiwilligen Beitrag 14 Mill. US $
zur Verfügung und im August 1989 zahlte es 2,5 Mill. US $ in den Treuhandfonds zur Unterstützung der Anfangsphase von friedenserhaltenden Operationen.
In diesem Kontext verdient auch Erwähnung, daß VN-Einsätze seit Beginn der 90er Jahre im Vergleich zu
früher weitaus häufiger und vor allem aufwendiger geworden sind. Während es von 1948 bis 1991 insgesamt
weltweit nur 13 VN-Missionen gegeben hatte, befanden sich allein 1992 etwa 50.000 Soldaten in 12 Missionen der
VN mit einem geschätzten Gesamtfinanzbedarf von etwa 5 Mrd. US $ im Einsatz. Ebenso wie die ständigen
Mitglieder des Sicherheitsrates stellt Japan seit längerem für die sogenannten friedenserhaltenden und -schaffenden
Maßnahmen der VN anteilig mindestens genausoviel an finanziellen Mitteln zur Verfügung, wie es ins reguläre VNBudget einbringt, meist jedoch mehr.
Mitgliedschaft im Sicherheitsrat und VN-Reform
Japan bemüht sich nicht nur um die Erweiterung der eigenen Aktivitäten im bestehenden VN-System, sondern
hat sich in letzter Zeit im Rahmen seiner Forderungen nach Reformen des Systems auch aktiv um einen ständigen
Sitz im Sicherheitsrat der VN beworben, zuletzt mit einem öffentlichen Vorstoß im Herbst 1994. Nach japanischer
Ansicht ist die gegenwärtige Struktur des Sicherheitsrates verbesserungsbedürftig, sowohl was die Sicherheit
entwickelter Industrienationen als auch die der gesamten internationalen Völkergemeinschaft betrifft. Die Position
der Mehrzahl der derzeitigen ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates gegenüber den Wünschen Japans nach einer
ständigen Mitgliedschaft läßt jedoch eine Realisierung solcher Vorschläge für die unmittelbare Zukunft
unwahrscheinlich erscheinen. Dennoch scheint, wie im gegen Ende des Abschnittes zum Völkerbund bereits
angedeutet, eine sinnvolle Einbindung Japans in vorhandene Strukturen nötig, was im übrigen auch durch die
Tatsache unterlegt wird, daß Japan sechs mal und damit öfter als andere asiatische Staaten als nicht-ständiges
201
Mitglied im Sicherheitsrat vertreten war.
Parallel zu Bestrebungen nach Veränderungen im Sicherheitsrat war Japan seit längerem auch um Abänderung
der VN-Charta bemüht und zielte hierbei, wie bereits erwähnt, besonders auf die sogenannten Feindesklauseln ab die Artikel 53 und 107 der VN-Charta, bezogen auf die ehemaligen Achsenmächte Deutschland, Italien und Japan.
Die Aussagen der betreffenden Artikel sind japanischer Ansicht nach für die heutige Zeit obsolet, da sie ein
überkommenes Kräfteverhältnis von 1945 repräsentierten. Sie gehörten deshalb anläßlich der fälligen Reform der
VN und der damit einhergehenden Erneuerung der Charta verändert bzw. abgeschafft. Entsprechende Beschlüsse
wurden im Herbst 1994 dann auch gefaßt.
Menschenrechte
Ein Gebiet, dem Japan im Vergleich zu anderen entwickelten Nationen erst relativ spät seine Aufmerksamkeit
zuzuwenden begann, ist die Wahrung der Menschenrechte. Seit 1982 ist Japan Mitglied der Menschenrechtskommission, und kurz darauf wurde ein japanischer Vetreter in eine der Unterkommissionen gewählt. Seit
Anfang der 90er Jahre begann Japan, gefördert durch die Besetzung der Stelle des VN-Flüchtlings-Hochkommissars
[UNHCR] mit Sadako Ogata, einer japanischen Professorin, die ab 1985 erst drei Jahre lang die Vertreterin Japans
in der Menschenrechtskonferenz und dann zwei Jahre lang UNICEF-Vorsitzende war, zu einer der Hauptstützen des
VN-Flüchtlingsprogramms zu werden. Dennoch bleibt zu konstatieren, daß Japan selbst erst 7 der bislang 25
Konventionen zu Menschenrechtsfragen der VN umgesetzt hat.
Bei der praktischen Umsetzung der Menschenrechte im eigenen Land ist Japan zuweilen noch mit Problemen
konfrontiert, die unter anderem in der ungleichmäßigen Entwicklung innerhalb der asiatischen Region selbst
begründet sind und die eine Durchsetzung universeller Kontrollmechanismen schwierig machen. Da es kein
gemeinsames System in Bezug auf Menschenrechte in Asien gibt und so die Vergleichbarkeit erschwert ist, besteht
das Problem für Japan als relativ fortgeschrittenem Land in der Gewährleistung einer gewissen Ausgewogenheit.
Teilweise berechtigte bürokratische Sorgen um die eigene Repräsentation in einschlägigen Statistiken in Bezug auf
Anzeige bzw. Kontrolle von Menschenrechtsverletzungen können jedoch letztendlich kein hinreichender
Hinderungsgrund für die Garantie grundlegender Menschenrechte für alle auf japanischem Territorium lebenden
Personen sein. Die Gleichberechtigung der Frau steht hier ebenso weiterhin auf der Tagesordnung wie Fragen der
Rechte ausländischer Personen und Gruppen in Japan bzw. im Ausland lebender Kinder aus gemischten
Beziehungen und der restriktiven Vergabe der japanischen Staatsbürgerschaft. Bis in die 90er Jahre hinein hat Japan
auch die internationale Konvention über die Abschaffung aller Formen von Rassendiskriminierung nicht ratifiziert.
Wiederholten japanischen Reaktionen auf Kritik zu Menschenrechtsfragen ist zu entnehmen, daß man sich aus
historischen und traditionellen Gründen nicht bzw. nur ungern in innere Angelegenheiten anderer Staaten
einmischen möchte. Obgleich diese Haltung in der asiatischen Region durchaus deutlich zu sein scheint, steht eine
Überprüfung der Stichhaltigkeit der Argumentation angesichts des massiven wirtschaftlichen Engagements und
Einflusses japanischer Interessen auf die jeweilige gesellschaftliche Situation der einzelnen Staaten noch aus.
201
Lediglich 1978 hatten sich die Staaten der Region für Bangladesh ausgesprochen.
96
Humanitäre und Entwicklungshilfe
Das Verhältnis Japans zum Thema Entwicklungshilfe ist insofern interessant, als es ihm gelang, innerhalb von
reichlich zwei Jahrzehnten vom - nach Indien - zweitgrößten Kreditnehmer der IBRD zum weltgrößten Geberland
für öffentliche Entwicklungshilfe [ODA] zu avancieren. Ausgehend von seinen in den 60er und 70er Jahren
gemachten Erfahrungen begann Japan 1977 auf Grundlage langfristiger Planung mit der Erhöhung seiner ODA und
steigerte sie von etwa 1,5 Mrd. US $ im Jahre 1977 auf 8,9 Mrd. US $ 1989, was einem Anteil von fast 20 % an der
gesamten ODA aller 18 Mitglieder des DAC entsprach.
Es kam jedoch nicht nur zu einer quantitativen Steigerung der ODA, sondern speziell die zweite Ölkrise führte
auch zu einer weiteren qualitativen Differenzierung. Der japanische Fiananzbeitrag für die Arbeit von UNDP und
UNFPA beträgt nun bis zu einem Drittel des jeweiligen Gesamtbudgets. Gleiches gilt für die Beteiligung an
Aktivitäten von UNICEF, UNESCO, WFP, und der WHO, deren Generaldirektor ebenfalls ein Japaner ist. Ein
Blick auf die BSP/ODA-Rate Japans im Vergleich zu anderen entwickelten Industriestaaten macht aber deutlich,
daß es noch aktiver sein könnte. Gleiches gilt auch für das Verhältnis von multilateraler und bilateraler
Entwicklungshilfe, deren Programme sich zudem hin und wieder inhaltlich überschneiden.
Die traditionelle Konzentration seiner ODA auf die asiatische Region - etwa zwei Drittel der gesamten ODA
gehen derzeit nach Südostasien, und in letzter Zeit spielt auch China eine wachsende Rolle - brachte Japan bei der
Festigung seiner wirtschaftlichen Position auch ein gutes Stück voran, auch bei der Unterstützung der Schaffung der
angestrebten asiatischen Wohlstandssphäre. Doch auch hier besteht für Japan die Möglichkeit, mit einer
Verdeutlichung politischer Zielstellungen mehr Klarheit zu schaffen und so Vorwürfen zu begegnen, humanitäre
Argumente würden als propagandistische Verschleierung ökonomischer und politischer Ziele gebraucht und die
ausführlichen Berichte japanischen Personals aus den jeweiligen Ländern dienten hauptsächlich der Befriedigung
anderweitiger Informationsbedürfnisse.
Weitere Aktivitäten
Auch die offizielle Beschäftigung mit internationalem Umwelt- und Naturschutz ist in Japan in jüngerer Zeit
intensiver geworden. International herrscht dennoch gegenüber den neueren Initiativen Japans Zurückhaltung, da
Japan bislang eher für seine Beiträge zur internationalen Umweltproblematik als für ausgiebige Umweltschutzmaßnahmen bekannt ist. Die aktuellen Initiativen scheinen wohl auch weniger auf ethische oder ökologische
Motive zurückzuführen sind als auf wirtschaftliche, finanzielle und politisch-administrative Interessen. Bei der
Beurteilung derartiger Probleme müssen allerdings verschiedene Faktoren und die Interessen aller Beteiligten
berücksichtigt werden, so daß pauschale Vorverurteilungen, wie sie zum Teil bekannt sind - auch angesichts der
Tatsache, daß Hilfen an Entwicklungsländer in umweltpoltischen Angelegenheiten durchaus mit ökonomischen
Interessen verbunden sind - nicht immer zu einer tatsächlichen Verbesserung der Situation beitragen.
Als weiteres Hauptinstrument japanischer Außenpolitik, auch innerhalb der VN, werden immer wieder
verstärkte kulturelle Aktivitäten genannt. Dafür stellte Japan in der letzten Zeit erhebliche Mittel für die
Unterstützung der Arbeit der UNESCO zur Verfügung. Nachdem es Mitte der 70er Jahre begonnen hatte,
finanzielle Unterstützung an Entwicklungsländer für kulturelle Zwecke zu vergeben, hatte die Gesamtsumme der bis
1990 für insgesamt 527 Projekte ausgegebenen Mittel 20,3 Mrd. US $ erreicht. Für eine tatsächliche Vermittlung
von Kultur ist, wenn berechtigterweise auf einem von den Nationen Europas und Amerikas verschiedenen soziokulturellen Hintergrund bestanden wird, ein nicht nur quantitativ verstärktes sondern auch differenzierteres
Herangehen unter Beachtung des vorhandenen und erwünschten Grades von Akzeptanz bei potenziellen Partnern
nötig, um die Ziele und Wertvorstellungen der eigenen Gesellschaft, die für diesen Zweck auch sprachlich definiert
werden müssen, zu vermitteln. Die Auseinandersetzung verschiedener tradierter Wertesysteme Asiens und der
sogenannten westlichen Welt haben gerade erst begonnen. Die angestrebte verstärkte äußere Internationalisierung
Japans macht auch innere Reformen unumgänglich - auch hierzu kann die Arbeit der VN beitragen.
Der japanische Beitrag zum Budget der VN-Universität betrug für die Jahre 1990 und 1991 61,5 Mill. US $.
Der gesamte Jahresetat für 1990 betrug 210 Mill. US $ und wurde von insgesamt 48 Ländern aufgebracht wurden.
Neben der weiteren Bearbeitung der seit den 70er Jahren verfolgten Forschungsziele mußte in letzter Zeit auch
verstärkt über tatsächlich vorhandene Möglichkeiten einer praktischen Umsetzung gewonnener Erkenntnisse
nachgedacht werden. Daß Reformen nötig sind, um eine effektive Funktion des sich erweiternden Netzwerkes zu
gewährleisten, wurde auch für die VN-Universität selbst erkannt. Das grundsätzlich noch zu lösende Problem der
Universität ist, sinnvoll als Schnittstelle von Wissenschaft und Politik zu wirken, zumal die Aktivitäten
regierungsunabhängig sein und über nationale oder regionale Interessen hinausgehen sollen.
Zusammenfassung
Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß vor dem Hintergrund der bisherigen Geschichte des japanischen
Verhältnisses zu den VN die qualitative und quantitative Ausrichtung seiner aktuellen Aktivitäten im VN-System
auf ein erweitertes Interesse Japans an den VN mit der Zielstellung einer aktiven Teilnahme an der Gestaltung der
Welt schließen läßt. Es ist daher nicht übertrieben, für die Zukunft weitere diesbezügliche Initiativen von
japanischer Seite zu erwarten. Doch nicht nur die aktive Beteiligung an der internationalen Arbeit der VN verdient
Interesse - auch national wird die intensivere Einbindung Japans in internationale Prozesse zu Veränderungen
führen.
Die These einer "Japanisierung" der Welt in Bezug auf das System der VN kann also nicht unterstützt werden,
selbst wenn man den wachsenden politischer Einfluß Japans im System der VN in Rechnung stellt oder die
Verwirklichung bestimmter personeller Optionen diskutiert. Auch der Terminus "Asiatisierung" scheint angesichts
der Vielfalt asiatischer Kulturen und ihrer - im Vergleich zu Europa - stärkeren gegenseitigen Isoliertheit derzeit
unangebracht.
Japan wird sowohl in der tendenziell in Europa immer noch unterschätzten asiatischen Region, als auch global
eine in ihrer Bedeutung wachsende Funktion in vielen Bereichen wahrnehmen. Die sich gegenwärtig in der Welt
vollziehenden Prozesse werden jedoch Entwicklungen mit sich bringen, die nicht nur Europa und die USA
veranlassen werden, ihre bisherigen Wertesysteme zu relativieren. Auch Japan selbst wird sich den daraus
resultierenden Wechselwirkungen stellen müssen.
Materialien:
Arbeitspapiere zur Internationalen Politik (Serie), Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Internationale
Politik e.V., Bonn.
Asahi Shimbun 1991-1993.
Asien - Deutsche Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und Kultur, Deutsche Gesellschaft für Asienkunde [DGA], 19901992.
Berliner Zeitung, 1991-1993.
Die Internationale Politik (Serie), R. Oldenbourg Verlag.
Japan Review of International Affairs, The Japan Institute of International Affairs [JIIA], 1991-1993.
JIN-data-network.
Nihon Keizai Shimbun, 1991-1993.
Süddeutsche Zeitung, 1991-1993.
Yomiuri Shimbun, 1991-1993.
Literatur:
Akashi, Yasushi: Kokusai Reng_, T_ky_: Iwanami Shinsho, 1985.
Gaimush_/ _kurash_: Gaik_ seisho - wagakuni no gaik_ kinky_. T_ky_: Gaimush_, _kurash_, 1990-1991.
98
Gaimush_: Kokusai ky_ryoku - kory_ NGO dantai meikan. T_ky_: Nihon Gaik_ Hy_kai, 1991.
Maul, Heinz Eberhard (Hg.): Militärmacht Japan ? Sicherheitspolitik und Streitkräfte. München: iudicium, 1991.
Nihon Kokusai Reng_ Ky_kai (Hg.): Charter of the United Nations - Kokusai Reng_ Kensh_. T_ky_: Nihon Kokusai Reng_ Ky_kai, 1986.
The Role of the United Nations in the 1990s, in: Publication of the Japanese-German Center Berlin No. 4, 1991.
10. Die Reaktion der Weltgesellschaft auf die Japanisierung:
"Japan Bashing" und die Revisionismusdebatte
Reinhard Drifte
Einführung
In den Vorträgen dieser Tagung wurde "Japanisierung" von den verschiedensten Perspektiven angegangen. Die
Gefahr ist bei solchen Diskussionen immer, daß man zu sehr die Begrenzungen oder Andersartigkeit sieht, sich zu
sehr an den Meßleisten der Vergangenheit orientiert wie es z.B. die Diskussion um die Angemessenheit der Begriffe
Hegemonie oder Blockbildung zeigte, und dabei alles relativiert. Auf diese Weise schien manchmal das
Hauptinteresse des provokativen Tagungsthemas unterzugehen, nämlich die Frage nach dem Einfluß "Japans" auf
andere, ob nun als Staat, privates Unternehmen oder als Japan Inc. verstanden.
Die Veranstalter dieser Tagung haben den Ausdruck "Japanisierung der Weltgesellschaft" eher als Herausforderung an unser Verständnis von Japan aufgefaßt denn als akzeptierten Begriff der Japanwissenschaften obwohl
der Begriff desöfteren verwendet wird, besonders in der Diskussion um den Einfluß japanischer Unternehmens- und
202
Managementstrategien auf andere Länder. Ich definiere den Begriff "Japanisierung" als den wachsenden Einfluß
Japans auf die Perzeptionen, Wertvorstellungen, Absichten, materiellen Umstände, Optionen und Verhandlungsmacht anderer Länder und Akteure. Auf der Tagung vor zwei Jahren habe ich diese Art Einfluß auch als
203
Machtausübung bezeichnet. Jeder Staat und jeder größere Akteur kann solchen Einfluß ausüben, basierend auf
wirtschaftlicher, politischer, militärischer oder kultureller Macht. Die Frage der Japanisierung ist besonders relevant,
da Japan in relativ kurzer Zeit eine einflußreiche Position erreichte, diese Position zumindest in Einzelbereichen
und/oder regional als besonders stark empfunden wird und dieser Einfluß durch eine besonders effektive
Kooperation zwischen privaten Akteuren und staatlichen Organen verstärkt wird. Oft ist aber ein Akteur oder ein
Wille gar nicht auszumachen, und wir sehen nur Resultate, die für was man japanische Interessen nennen könnte
nützlich sind und zumindest von den wichtigsten japanischen Akteuren nicht bekämpft werden. Diese Beeinflussung
findet auf globalen als auch regionalen Ebenen statt, und ich glaube daher, daß der Begriff "Japanisierung" in
diesem Sinne nicht durch "Globaliserung" ersetzt werden kann, wie das hier an einer Stelle vorgeschlagen wurde.
Das Problem der Intention von "Japanisierung" kam in verschiedenen Beiträgen vor. Ich glaube, daß Helmar
Krupps Hauptaussage nicht ganz verstanden wurde, nämlich: Es gibt keine Blaupausen, keine genaue Planung,
sondern verschiedene staatliche und private Akteure verstehen sich als Fazilitatoren der Schumpeterischen
Dynamik. Sie wollen möglichst viele Entwicklungslawinen lostreten, damit es weiter- und vorangeht. Es gibt
allgemeine und sektorale Intentionen (z.B. Fortschritt einerseits und Beherrschung des Computermarktes
andererseits), aber auch die Dynamik selbst ist agenda setting. Durch die strukturelle Kopplung der verschiedenen
Akteure und Gesellschaftsbereiche entsteht Synergistik, die die Entwicklung vorantreibt und globalisiert.
Das Besorgniserregende an diesem dynamischen Prozeß ist die unaufhaltsame Dynamik und der Glaube, daß
dadurch geschaffene Probleme und Widersprüche durch weitere und neue technologische Maßnahmen beseitigt
werden könnnen. Durch dieses Lostreten von Entwicklungslawinen werden jedoch die Perzeptionen, Wertvorstellungen, Absichten, materiellen Umstände, Optionen und Verhandlungsmacht anderer Länder und Akteure
beeinflußt: Denn wir müssen auf diese Entwicklungen reagieren, wir müssen mit der dadurch geschaffenen
wirtschaftlichen Dynamik mithalten, und für einige bedeutet es sogar, daß sie Japanisch lernen müssen. Ob das gut
oder schlecht ist, ist eine andere Frage.
202
203
Siehe z.B. Bretton (1992); Oliver/Wilkinson (1988).
Drifte (1993)
100
Uwe Homan kam in seinem Beitrag bezüglich einer eventuellen Intention der kulturellen Japanisierung
Südostasiens zu einem ähnlichen Resultat. Es liegt in der Tat keine konzertierte Aktion der japanischen Industrie
vor, doch die Perzeptionen, Wertvorstellungen, materiellen Umstände, Optionen und das Konsumverhalten
anderswo in Asien werden beeinflußt, und sie werden mehr beeinflußt, als die der Japaner. Ich kann daher wie Uwe
Homan auch nicht ganz den Schlußfolgerungen von Wolfgang Schwentker zustimmen, der zu sehr von den durch
die japanische Art der Vergangenheitsbewältigung hervorgerufenen Begrenzungen japanischer Möglichkeiten in
Ostasien sprach und dabei nicht genügend wahrzunehmen schien, daß Japan trotzdem in Südostasien "japanisieren"
kann und sich nicht nur wirtschaftlich, sondern auch kulturell in diesem Raum entfaltet. Man sollte daher in diesem
Zusammenhang nicht nur die Grenzen sehen, sondern auch, wie gering die Grenzen sind, gemessen an der
Monströsität japanischer Aktionen in der Vergangenheit in dieser Region.
Der Beitrag von Ulrich Menzel beleuchtete sehr überzeugend den Paradigmawechsel in der "Decline"
Diskussion und in der Art, wie anders wirtschaftliche Leistung in zunehmenden Maße gemessen werden muß.
Dieser Beitrag als auch der von Detlef Lorenz zeigte viel überzeugender die wahren Grenzen der "Japanisierung".
Jedoch meine ich, die reduzierte Rolle von Staaten aufgrund der grenzüberschreitenden wenn nicht gar grenzenzerstörenden Aktivitäten von Firmen zu betonen, hieße, den wichtigen Unterschied im Grad der Verbindung zwischen
staatlichen und privaten Akteuren in Japan und anderen Ländern zu übersehen. Zwar nimmt die Intensität dieser
Verbindungen auch in Japan ab, aber eben langsamer als in anderen Ländern. Das macht Japan weniger erfolgreich
in vielen Gebieten der von der Tertiarisierung betroffenen postmodernen Wirtschaft, aber japanische Akteure sind
dadurch auch weniger Risiken ausgesetzt und bewahren mehr staatliche Kontrolle und Vorhersehbarkeit
wirtschaftlicher Aktivitäten. Das ist auch für Japan ein wichtiges Gegengewicht zu der wachsenden Abhängigkeit
vom Ausland durch steigenden Außenhandel und Auslandsinvestitionen. Die Frage ist letztlich, ob "Japanisierung"
sehr schnell und weitreichend oder langsam, dafür aber stetig und auf sicherem Fundament erfolgt.
Bevor ich auf die Revisionismusdiskussion eingehe, möchte ich ein bestimmtes Resultat der "Japanisierung"
noch besonders hervorheben, damit die Reaktion der Revisionisten besser verständlich wird. "Japanisierung"
bedeutet u.a. die Übernahme von erfolgreichen Elementen japanischer sozialer und wirtschaftlicher Strategien und
die Schaffung einer wesentlich kompetitiveren internationalen Umwelt, die auf der Ideologie des "Survival of the
fittest" beruht. Je weiter die internationale Umwelt sich in diese Richtung entwickelt, desto schwieriger wird eine
Umkehr oder Einschränkung. Diese Richtung wird besonders durch Großbritannien und die USA verfolgt, sei es
durch Privatisierung, Deregulierung oder Lockerung von sozialpolitischen Verpflichtungen. Die Ironie besteht
darin, daß die dahinterstehende Konzeption in den angelsächsischen Ländern von der siegreichen Kraft befreiter
Wirtschaftskräfte ausgeht, Japan und andere weniger "befreite" und deregulierte ostasiatische Ökonomien aber am
ehesten in der Lage sind, die Vorteile einer solchen neuen Umwelt wahrnehmen können.
Nun könnte man einwerfen, daß es sich hierbei um eine Konvergenzbewegung verschiedener politikökonomischer Systeme handelt, und nicht um "Japanisierung", die eine eher einseitige lineare Bewegung zu
implizieren scheint. Dieser Punkt der Konvergenz wurde auch von Uwe Homann angesprochen. In der Tat
übernehmen Japan wie auch die westlichen Industrieländer Strategien und Prozesse voneinander, oder eben auch
Kulturelemente. Noch nie zuvor war die Zusammenarbeit zwischen westlichen und japanischen Firmen so eng. Um
eine fruchtlose Diskussion um die Abgrenzung von Konvergenz und "Japanisierung" zu vermeiden, habe ich daher
am Anfang eine wesentlich breitere Definition der "Japanisierung" vorgeschlagen. Wenn wir zum Beispiel auf die
Möglichkeit einer "Japanisierung" unseres Wertesystems als eines besonders empfindlichen Gebiets schauen, wird
es klarer, was gemeint ist, und man kann sich dann darauf konzentrieren, ob wir einen solchen Einfluß für
wünschenswert, unvermeidlich oder inakzeptabel halten.
Ein solcher Bereich ist die Rolle der Arbeit in unserem Leben, seien es Berufschancen, Länge von Arbeitszeit
und Aufwand an Kraft am Arbeitsplatz. Diese Faktoren werden nämlich beeinflußt, egal ob wir nun die japanische
Herausforderung als Aufforderung zum Wandel in unseren Gesellschaften sehen oder als verdammenswerten,
unfairen Wettbewerb. Die Übernahme von erfolgreichen Elementen japanischer Strategien hat zur Einführung von
bestimmten japanischen Arbeitsplatzstrategien geführt, die jedoch nicht nur positiv sind, wie es in einem britischen
Bericht über die Auswirkungen von japanischen Firmen in Großbritannien heißt:
"There is much anecdotal evidence that Japanese companies outside of Japan and non-Japanese companies
trying to emulate them have introduced a faster speed at working sites. Practices which are necessary in order to
introduce much acclaimed Total Quality Management, the Just-in-Time system, teamworking, flexibility, etc
204
could be damaging to health."
Reaktionen
Ich komme nun zu den Reaktionen der Weltgesellschaft auf das, was wir mit dem Begriff "Japanisierung" zu
umschreiben versuchten und ich im vorhergehenden deutlicher machen wollte. Die Reaktionen reichen vom
Positiven zum Negativen, und man könnte sie folgendermaßen schematisieren:
n uneingeschränkte Bewunderung des "Modells" Japan: Dahinter steht die Annahme, wenn nicht sogar die
Empfehlung, daß "wir" (z.B. Europa oder die USA) unsere Wirtschaft genauso organisieren sollten und/oder uns
auf unsere komparativen Stärken beschränken sollten. Diese positive Einstellung führte Herbert Stein, Vorsitzender
des Council of Economic Advisors während der Reagan Administration zu folgender Aussage : "If the most
efficient way for the US to get steel is to produce tapes of "Dallas" and sell them to the Japanese, then producing
205
tapes of "Dallas" is our basic industry".
n eingeschränkte Bewunderung und daraus resultierende Empfehlung, einzelne politische und wirtschaftliche
Ansätze zu übernehmen. Diese Haltung beruht auf der Annahme, daß das ganze "Modell" Japan nicht positiv ist,
schwer zu übertragen ist und/oder mit grundsätzlichen Werten des eigenen Landes kollidiert
n "Positiver Revisionismus": Japan ist anders, es ist wirtschaftlich erfolgreich, weil sein System Nationalismus
positiv einsetzen konnte und sich auf die Schaffung von Prosperität konzentrierte. Wir können von Japan lernen,
daß eine vollkommene Übernahme der Ideologie des freien Marktes falsch ist. Wichtigstes Ziel sei heute das
Bestehen im internationalen wirtschaftlichen Wettbewerb. Ein Vertreter dieser Richtung ist David Williams mit
seinem Buch "Japan: Beyond the end of history" (1994), das versucht, die politkökonomischen Erklärungsversuche
206
zu Japan weiterzuführen.
n Revisionismus: Ihr Begründer ist Chalmers Johnson mit dem Buch "MITI and the Japanese Miracle" (1982),
der die enge Zusammenarbeit von Privatwirtschaft und Zentralbürokratie unter weitgehender Beschränkung des
207
politischen Bereiches als "capitalist developmental state" beschreibt.
Das Buch führte Johnson dazu, die
Annahme vieler amerikanischer Politiker, besonders unter den Republikaner, zu kritisieren, daß Japans wirtschaftliches System wie das der USA auf Freihandel und Kapitalismus beruhe. Nur eine Übernahme von "industrial policy"
und eine Beschränkung amerikanischer außenpolitischer Ziele (z.B. militärischer Rückzug aus Korea) böte den
USA eine Chance, mit Japan mitzuhalten.
204
Milsome (1993: 117)
Zitiert in Wade (1992: 320).
206
Williams (1994)
207
Johnson (1982)
205
102
n "Opfer-Revisionismus": Prominentester Vertreter dieser Richtung im angelsächsischen Bereich ist
wahrscheinlich Jon Woronoff, der schon Ende der 80er Jahre auf die Andersartigkeit von Japans Politik und
Wirtschaft und dabei vor allem auf die Opfer und Zukurzgekommenen in Japan hinwies (z.B. die Konsumenten, die
Frauen usw.). Zu den einhsclägigen Werken kann man auch Wolfgang Bobke und Manfred Lechers "Arbeitsstaat
208
Japan" (1990) zählen. Diesen "Opfer-Revisionisten" geht es vor allem um ein Korrektiv zu der von Reischauer
ausgelösten Japan-Euphorie. Ein frühes japanisches Werk aus den 70er Jahren der "Opfer-Revisionisten" verfaßte
209
Kamata Satoshi über das Automobilwerk Toyota. Die Argumente der "Opfer-Revisionisten" werden auch von
den Japan bashers eingesetzt, um zu zeigen, daß Japans Wettbewerb unfair und nur auf Kosten der eigenen
Bevölkerung möglich ist. Die amerikanische Administration benutzt dieses Argument, um die japanische Bevölkerung bei den andauernden Handelsverhandlungen auf ihre Seite zu bekommen und so negative Reaktionen wegen
des amerikanischen Drängens zu vermeiden.
n "Japan Bashing": "Japan Bashing" ist die radikalste Form der Kritik an Japan. Ein bekannter Vertreter, der
sich früher auf die Heraufbeschwörung eines angeblichen wiederaufstehenden Militarismus in Japan konzentrierte,
210
bevor die Kritik des Revisionismus ihm neue fruchtbare und wirkungsvolle Tore öffnete, ist Edwin Hoyt. Ein
früher Vertreter ist auch Theodore H. White, der Japans wirtschaftlichen Erfolg als Weiterführung des 2. Weltkriegs
gegen die USA beschrieb. In seinem Artikel "The danger from Japan" (1985) erinnert er an die Höhe amerikanischer Macht im Jahre 1945 und sinniert:"But if we did blunder in that fall season of 1945, the blunder stemmed
211
from mercy and generosity." Zum Schluß warnt er die Japaner, es mit ihrer wirtschaftlichen Expansion auf Kosten
der amerikanischen Wirtschaft nicht zu weit zu treiben, andernfalls sie die Konsequenz eines 2. amerikanischen
Gegenschlags wie nach Pearl Harbour riskierten. John Campbell führt Japan bashing auf das amerikanische Gefühl
zurück, daß die Japaner erfolgreicher seien, als ihnen im Hinblick auf Landesgröße, Ressourcen und der Niederlage
212
im 2. Weltkrieg zustünde. Er vergleicht die Motive des McCarthyism mit denen der Japan bashers. Seit dem
Niedergang der Sowjetunion habe Japan die frühere kommunistische Weltmacht als die größere Gefahr für
Amerikas Überleben ersetzt. Besonders der Toshiba-Skandal und das Aufkaufen amerikanischer Betriebe mit
möglichen rüstungspolitischen Implikationen verstärke diese Sorge um die "Gefahr" (threat) aus Japan und deren
Gleichsetzung mit der früheren sowjetischen Gefahr. Für uns als Japanwissenschaftler ist auch die von Campbell
beschriebene Einteilung der Japanbeobachter in Mitglieder des "Chrysanthemum Club" einerseits oder des
revisionistischen Lagers anderseits besorgniserregend und erinnert an die Hexenjagd unter McCarthy.
"Japan bashing" hat sich bisher aus drei Quellen genährt: Kritik an Japans wiederaufstehendem Militarismus
(besonders seit Nakasone Yasuhiro Anfang der 70er Jahre Direktor des Verteidigungsamtes war), Kritik an Japans
"free ride" in der internationalen Politik und Wirtschaft, aber vor allem die Kritik an Japans wirtschaftlichem
System und dem daraus entstandenen "Schaden" für die etablierten westlichen Industrieländer. Die bedeutendste
Nährquelle für den letzten Kritikpunkt ist der von Chalmers Johnson begründete Revisionismus, und ich möchte
mich im folgenden darauf konzentrieren.
Revisionismus
In der Revisionismusdebatte geht es den Revisionisten zuerst einmal darum festzustellen, daß Japans Politik und
Wirtschaft anders strukturiert und organisiert ist als die der anderen westlichen industrialisierten Länder. Japan
werden folgende Punkte vorgeworfen:
n Japan praktiziere "adversarial trade" (Peter Drucker) im Gegensatz zu "competitive trade"
n Japan sei kein auf Freihandel und Kapitalismus begründeter Staat, sondern ein "capitalist developmental state",
208
Bobke/ Lecher (1990)
Kamata (1976)
210
Hoyt (1991)
211
White (1985)
212
Campbell (1991: 2)
209
n nach Chalmers Johnson fällt Japan in die Reihe von Staaten, die "mehr produzieren wollen, nicht um mehr zu
verbrauchen, sondern um Macht über andere Länder zu gewinnen und um ihre eigene Sicherheit und Autonomie zu
213
stärken".
Dieses angebliche Mißverstehen der wahren Natur Japans führt die Revisionisten dazu, vom Versagen der
Sozialwissenschaften zu sprechen. Angesichts dieses Problems schrieb Chalmers Johnson 1989, daß "... Modern
East Asia is a junkyard for Western theories of economic development and political modernization, and it is wise to
remind ourselves of the area's profound exceptionalism whenever approaching a theory-intensive subject like
214
democracy". Van Wolferen schreibt "that Japan is outside the explanatory powers of political science" wenn es
215
um die Erklärung von Japans gesellschaftlichen Interessengruppen geht. Die Ironie besteht jedoch darin, daß eben
beide unter (korrekter und angemessener) Anwendung sozialwissenschaftlicher Methoden viel zur Erklärung der
japanischen Politikökonomie beigetragen haben.
Eine interessante Entwicklung in der Revisionismusdebatte ist die wachsende Zahl japanischer Meinungsführer,
die die Andersartigkeit des japanischen politikökonomischen Systems bestätigen, entweder aus Einsicht und Sorge
um Japans Zusammenleben mit den anderen Ländern oder/und als weitere Unterstützung des Nihonjinron mit seiner
Betonung der Einzigartigkeit Japans. DaneDies könnte auch eine stolze Feststellung und gewollte Festschreibung
des status quo sein, um eine Konvergenz durch Deregulation und Liberalisierung, wie sie jetzt offiziell auf dem
Programm wechselnder Regierungen in Tokyo steht, entgegenzuwirken. Diese Diskussion auf japanischer Seite
216
wurde von Morita Akio im Februar 1992 mit einem Artikel in Bungei Shunju begonnen.
Koexistenz mit Japan: wie?
Die Interpretation und Vorstellungen der Revisionisten scheinen mir deshalb besonders bedeutsam, weil sie
langfristig den größten Einfluß auf unsere Japanperzeptionen und Japanpolitiken haben werden. Viele ihrer
Erkenntnisse können nicht geleugnet werden und haben unser Wissen erweitert oder neue Ansatzpunkte zum
Verständnis Japans geliefert. Auf ihre Erkenntnisse berufen sich auch die anderen Japanbeobachter, wie die "Japan
bashers". Wegen unserer engen politischen und besonders wirtschaftlichen Verbindungen wenn nicht Abhängigkeiten von Japan halte ich den Einfluß der Japan bashers letztendlich nicht für so weitreichend. Es ist daher
ergiebiger zu untersuchen, welche Konsequenzen aus der Revisionismusdebatte bezüglich der Gestaltung unserer
Beziehungen zu Japan erfolgen. Ist Wettbewerb des "Westens" mit einem solchen inkompatiblen Partner möglich?
Es herrscht inzwischen ein weitgehender Konsens, daß Japan sich ändern muß, will es in Frieden mit seinen
Partnern leben. Ian Hall drückte es folgendermaßen aus:
"The point we need to make to our Japanese friends is that their country is being asked to change and bring
under mutual rules only those practices that papably impinge on others in a globally interdependent age - what
217
John Stuart Mill would have called 'other-regarding' behaviour - not to overturn their entire heritage."
Leider ist nicht klar, was "other-regarding behaviour" im einzelnen ist. Chalmers Johnson und andere
Revisionisten wie Karel van Wolferen fordern, daß sich Japan ändern müsse, da aber diese Forderung so schnell
nicht in Erfüllung gehen werde, sollten die westlichen Länder Abwehrmaßnahmen ergreifen. Johnson fordert eine
"industrial policy" als auch ein Zurückschrauben amerikanischer Sicherheitsleistungen an Japan und andere asiati218
sche Länder. Gianni Fodella fordert von Europa einen differenzierten Protektionismus an Stelle von Freihandel.
Er hält Freihandel für eine auf dem darwinistischen Prinzip des "Survival of the fittest" beruhende Ideologie, die nur
213
Johnson (1993)
Johnson (1989)
215
van Wolferen (1989: 5)
216
Morita (1992)
217
Hall (1992: 16)
218
Fodella (1992)
214
104
gegenwärtige Trends verstärke und die Reichen reicher, die Armen jedoch ärmer mache. Ansonsten könne Europa
im Wettbewerb mit Japan und Ostasien nicht mithalten. Van Wolferen behauptet sogar, daß eine Japanpolitik
westlicher Staaten von der Politik gegenüber anderen Staaten abweichen muß: "A Japan policy must necessarily
219
contain ingredients that diverge from accepted diplomatic practices between countries at peace." Konkret schlägt
er jedoch nur "freiwillige" Quoten vor, um eine unkontrollierbare Flut von protektionistischen
Vergeltungsmaßnahmen zu verhindern.
Das Problem der Zeitverschiebung ist in der Tat ein fundamentales Problem bei der Lösung des Handelskonflikts mit Japan. Auf den Vorwurf hin, daß der japanische Markt verschlossen sei, nichttariffäre Handelshemmnisse den Zugang von Ausländern verschlössen und Japans politikökonomisches System anders sei, antworten
japanische Wortführer, daß sie doch gerade dabei seien, Maßnahmen zur Lösung zu ergreifen, diese Veränderungen
aber leider nicht sofort wirksam würden. Das stimmt natürlich, und es wäre falsch, Japan vorzuwerfen, daß es sich
nicht ändere. Kaum ein anderes industrialisiertes Land ist so vielen Veränderungen in verschiedenen Bereichen
unterworfen wie Japan. Leider laufen die japanischen Einwände auf die implizite Forderung hinaus, daß wir
Nichtjapaner akzeptieren sollen, daß Japan bisher einen unfairen Vorteil genossen hat, wir uns aber trotzdem mit
"Aber wir haben gerade dieses oder jenes Hindernis abgeschafft" oder "Wir werden eine Änderung vornehmen"
trösten sollen.
Zudem ändern sich Perzeptionen langsamer als materielle oder formale Umstände (z.B. Vorschriften). Japan
muß einsehen, daß Europäer und Amerikaner Zeit brauchen, um zu sehen, daß die Dinge sich ändern, und daß der
Wandel langsamer sein wird als das Schrumpfen des japanischen Handelsüberschusses. Zudem ist der Wandel nicht
allumfassend und mag vielleicht nicht die Gebiete berühren, an denen ausländische Exporteure besonders
interessiert sind. Es dauert einige Zeit, bis der in der westlichen Perzeption angerichtete Schaden wiedergutgemacht
werden kann.
Die radikalste Konsequenz aus diesem Dilemma der Zeitverschiebung ist die Forderung nach Kompensationen,
die z.B. der Europäischen Industrie- und Handelskammer in Tokyo erhoben hat, als sie die japanische Regierung
aufforderte, nicht nur gewisse Handelshemmnisse zu beseitigen, sondern auch Kompensationen durch steuerliche
Ausnahmeregelungen für europäische Firmen zu leisten.
Fazit
Der Titel dieser Tagung spricht fragend von der Pax Nipponica, eine Frage, die auch in der Diskussion
aufgegriffen wurde. Wie einige andere Diskussionsteilnehmer kann ich mich mit diesem Begriff nicht anfreunden,
weil dieser Frieden doch (noch?) zu wenig von Japan geprägt wird. Es wird allerdings von großem Interesse sein zu
beobachten, ob Japans wirtschaftliche Expansion und das Vorantreiben wirtschaftlicher Entwicklung regional als
auch global den Frieden bewahren oder ob Konfliktstrukturen langfristig eher verstärken wird. Das wird besonders
interessant sein im Hinblick auf das japanische Verhältnis zu einem immer selbstbewußteren und eigensinnigeren
China und im Hinblick auf die ökologischen Konsequenzen japanischen Wirtschaftshandeln.
Wir haben gesehen, daß wir von "Japanisierung" als linearer, allumfassender und einseitiger Entwicklung nicht
reden können. Der Begriff steht in einem engen Verhältnis zum Begriff der Konvergenz, aber das sollte unseren
Blick auf den Einfluß Japans auf die verschiedensten Lebensbereiche anderer Länder und Akteure nicht verstellen.
Dieser Einfluß, so haben wir gesehen, ist schon groß genug, um die Revisionismusdebatte entstehen zu lassen und
die Japan bashers auf den Plan zu rufen. Beide Bewegungen sind auf einer weitaus größeren Skala von Reaktionen
zu sehen.
Unsere Aufgabe als Japanwissenschaftler sollte in diesem Zusammenhang sein, diesen Einfluß zu erkennen, zu
dokumentieren und auf seine globalen und regionalen Auswirkungen hinzuweisen. Japan unreflektiert als Gefahr
oder als Modell anzupreisen, ist nicht der richtige Weg.
219
van Wolferen (1989: 302)
Literatur:
Bobke, Manfred H. /Lecher, Wolfgang: Arbeitsstaat Japan. Arbeitsbeziehungen, Arbeitszeit und Arbeitsrecht. Köln:
Bund Verlag, 1990.
Bretton, John: Japanization at work. Management studies for the 1990s. London: Macmillan, 1992.
Campbell, John Creighton: Japan Bashing: A New McCarthyism?, in: The Japan Foundation Newsletter, March
1991.
Drifte, Reinhard: Manifestationen japanischer Macht in der internationalen Politik, in: Pascha, Werner/ Seifert,
Wolfgang/ Striegnitz, Meinfried (Hrsg.): Die Internationalisierung Japans im Spannungsfeld zwischen
ökonomischer und sozialer Dynamik. Loccum: Evangelische Akademie Loccum, 1993, 151-169.
Fodella, Gianni: Europe, Japan and a Borderless World, in: Japan Forum, 4(April 1992)1, 1-14.
Hall, Ivan P.: Samurai Legacies, American Illusions, in: National Interest, (Summer 1992), No.28, 14-25.
Hoyt, Edwin: The new Japanese. A complacent people in a corrupt society. London: Robert Hale, 1991.
Johnson, Chalmers: MITI and the Japanese Miracle. The Growth of Industrial Policy, 1925-1975. Stanford: Stanfod
University Press, 1982.
Johnson, Chalmers: South Korean Democratization: The Role of Economic Development, in: Pacific Review,
2(1989)1, 1-10.
Johnson, Chalmers: Comparative Capitalism: The Japanese Difference, in: California Management Review,
35(Summer 1993)4, 51-67.
Kamata, Satoshi: Toyota: l'usine du désespoir, Journal d'un ouvrier saisonnier. Paris: Les Éditions Ouvrières, 1976.
Milsome, Sue: The impact of Japanese firms on working and employment practices in British manufacturing
industry, in: Industrial Service, London, (March 1993).
Morita, Akio: A Critical Moment for Japanese Management, in: Japan Echo, 19(summer 1992)2, 8-14 (übersetzt
aus Bungei Shunj_, Februar 1992).
Oliver, Nick /Wilkinson, Barry: The Japanization of British industry. Oxford: Basil Blackwell, 1988.
Wade, Robert: East Asia's economic success. Conflicting perspectives, partial insights, shaky evidence, in: World
Politics, 44(1992)2, 270ff.
White, Theodore H.: The danger from Japan, in: The New York Times Magazine, 28 July 1985.
Williams, David: Japan: Beyond the end of history. London: Routledge, 1994.
Wolferen, Karel van: The Japan Problem, in: Foreign Affairs 65(1989)2, 288-303.
106
Teil II: Workshop "Japan: Eine andere Moderne?
Bedeutung der Modernisierung für die Frauen in der Männergesellschaft"
1. Einleitung zum Workshop
Michiko Mae, Düsseldorf
In den 70er Jahren entwickelte sich in Japan innerhalb der Forschung japanischer Frauengeschichte eine
kritische Geschichtsbetrachtung. Sie entdeckte im Modernisierungsprozeß nicht nur Elemente, die die Emanzipation
der Frauen förderten, sondern auch repressive Momente, die sich erst im Modernisierungsprozeß selbst
herauskristallisierten. Der Ansatz, den Modernisierungsprozeß als eine Geschichte der Befreiung zu betrachten, wie
er z.B. in dem kurz nach dem Zweiten Weltkrieg erschienenen Buch "Nihon-joseishi" von Inoue Kiyoshi zu
erkennen ist, ist insofern revisions- und ergänzungsbedürftig. Für die Erforschung des Feminismus und der
Frauenbewegung in Japan ist es wichtig, den Modernisierungsprozeß in seinem widersprüchlichen Charakter zu
betrachten. Die Geschichte der Modernisierung ist weder eine lineare Geschichte der Befreiung noch eine der
Unterdrückung, sondern sie ist beides; es ist notwendig, sie in einer Doppelperspektive zu betrachten.
Ist die Moderne für die Japaner und die Japanerinnen ein fremder "westlicher" und damit aufgezwungener
Entwicklungsprozeß oder wird sie als allgemeiner und universaler, auch für die Entwicklung Japans notwendiger
Prozeß verstanden? In den 80er Jahren wurde in Japan in der Diskussion über die "Postmoderne" der Standpunkt
vertreten, die japanische Gesellschaft sei eine "ursprünglich" postmoderne Gesellschaft und man müsse den
westlichen Modernisierungsprozeß für Japan als wesensfremd betrachten. Dieser konservative Standpunkt ist in
Japan latent schon immer vorhanden gewesen, je nach Zeitströmung immer wieder, einmal stärker, einmal
schwächer. Allerdings wird er in den 90er Jahren wegen der neuen Entwicklungen in der Welt, dem Ende des kalten
Krieges, der Demokratisierung in den ehemaligen Ostblockländern etc. nicht mehr so lautstark vertreten wie zuvor.
An dieser Stelle möchte ich einige Anmerkungen zum Begriff der Postmoderne machen, weil er für die
Frauenbewegung auch in Japan wichtig ist. Ich verstehe ihn weder als einen Hinweis auf das Ende oder die
Abgeschlossenheit der Moderne, noch auf das endgültige Scheitern des Projekts der Moderne. Vielmehr soll er auf
veränderte Bedingungen in der gegenwärtigen Phase der gesellschaftlichen Entwicklung hinweisen - vor allem die
zunehmende Komplexität und die Orientierungskrise - und er soll hinweisen auf Anzeichen eines grundlegenden
Wandels der Werte, Normen, Verhaltens- und Wahrnehmungsmuster, Institutionen etc. zu mehr Offenheit und
Vielfalt. Diese Phase im Modernisierungsprozeß ist geprägt durch Ambivalenz und Widersprüchlichkeit.
Auch in den gegenwärtigen Veränderungen in Japan mit ihrer Ambivalenz zwischen Verlust und Gewinn,
Gefahr und Chance, Auflösung und Suche nach neuen Lösungen etc. sehe ich gerade für die Frauen eine große
Gefahr, wenn so grundlegende Momente der Moderne wie das autonome Subjekt in Frage gestellt werden. Auf der
anderen Seite kann man in Japan gegenwärtig eine neue Offenheit für vielfältige Aktivitäten und Projekte
beobachten, die Ausdruck einer neu gewonnenen Autonomiefähigkeit, Entscheidungsfreiheit und Verantwortlichkeit
von Frauen als "wirklichen praktischen Subjekten" (Mona Singer) ist. Die Frauen nutzen damit die gesellschaftliche
Tendenz zu mehr Individualisierung und Pluralisierung der Lebensentwürfe und der Lebensführung, den
Wertewandel und die Suche nach neuen Beziehungs- und Lebensformen. Die Auflösung der Leitbilder,
Wahrnehmungsmuster und Institutionen, die für die Moderne konstitutiv waren - z.B. der modernen Familie könnte für die Frauen auch die Überwindung der nachteiligen Folgen bedeuten, die sich für sie im
Modernisierungsprozeß ergeben haben.
Der Modernisierungsprozeß in Japan brachte den Frauen zwar den Zugang zu Bildung, Berufstätigkeit und
Menschenrechten. Zuvor aber hatte er ihnen viele auf Gewohnheit beruhende Rechte, die sie im alten Japan hatten,
genommen und in nach westlichem Vorbild abgefaßten Kodifizierungen eine neue Rechtlosigkeit festgeschrieben.
Dadurch wurde ihre untergeordnete und abhängige Stellung zunächst sogar noch verschärft. Die Frauen wurden aus
dem öffentlichen Bereich der Politik ausgeschlossen, ihnen wurde Geschäft Geschäftsfähigkeit abgesprochen, ihre
rechtliche Stellung und ihr sozialer Status wurden geschwächt. Sie waren der Kontrolle des Familienoberhauptes
unterstellt, in das ie eingebunden und in die Doppelrolle als Ehefrau und Mutter eingezwängt. Die Einführung des
ie-seido (Familiensystem) in der Meiji-Zeit und die Konsequenzen, die sich daraus für die Frauen ergaben, sind ein
Beispiel für die Ambivalenz und Widersprüchlichkeit der Moderne. Während das ie-seido früher von der
Geschichtsschreibung als ein vormodernes feudalistisches Relikt angesehen wurde, versteht man es heute als eine
Erfindung der Meiji-Regierung, als moderne Familienform japanischer Prägung. Das patriarchalische ie-seido, das
die Frauen auf die Rolle der ry_sai-kenbo festlegte, wurde in dem Selektionsprozeß einer neuen "modernen"
Traditionsbildung als ein Element aus der japanischen Kulturtradition ausgewählt, für die Gründung des modernen
Staates neu definiert und zum konstitutiven Moment stilisiert.
Der Zugang zur Bildung eröffnete den Frauen zwar einerseits neue Lebens- und Berufsmöglichkeiten;
andererseits aber wurden durch die Einführung des Erziehungsprinzips und Weiblichkeitsmusters nach dem "ry_saikenbo"-Ideal im Bildungssystem die Frauen systematisch für die Übernahme der nach Geschlecht differenzierten
Rollen in der Gesellschaft vorbereitet. Auch die Arbeitskraft der Frauen wurde seit Beginn der Industrialisierung
genutzt; aber weil man ihre "eigentliche" Rolle in der Mutterschaft sah, wurden sie als niedrig bezahlte, einfache
und assistierende Arbeitskräfte eingestuft und dementsprechend behandelt. Das Modell einer
Funktionsdifferenzierung durch Arbeitsteilung und Machtungleichheit zwischen den Geschlechtern wurde im
Modernisierungsprozeß seit der Meiji-Zeit konsequent eingeführt und blieb bis heute aufrechterhalten. Die
Trennung der Lebenswelten, die sich aus der Zuspitzung der geschlechtlichen Differenzierung zweier Lebenswelten
ergibt (Männerwelt=Arbeit, Frauenwelt=Familie), zwingt die Frauen in eine abhängige Doppelrolle als Hausfrau
und Mutter.
In der Emanzipationsgeschichte der Frauen hat die Auseinandersetzung mit dem für die Moderne grundlegenden
Konzept des Individuums als autonomem Subjekt eine große Bedeutung. An diesem Beispiel kann man die
Ambivalenz und Widersprüchlichkeit im Modernisierungsprozeß ebenso zeigen wie die Schwierigkeiten, die nichtwestliche Gesellschaften und Kulturen mit der Modernisierung haben. Das Subjekt-Konzept ist deshalb so wichtig,
weil mit ihm die Menschenrechte, die Bildung, der Emanzipationsgedanke etc. unlösbar zusammenhängen. In der
Konstruktion des bürgerlichen Subjekts kann aber eine Widersprüchlichkeit enthalten sein: Wenn man das
bürgerliche Subjekt als autarkes Individuum versteht, dann können zwischenmenschliche Beziehungen und
gesellschaftliche Bedingungen, die durch Gegenseitigkeit und Abhängigkeit charakterisiert sind, nur schwer mit der
Identität, Autonomie und Integrität dieses modernen Individuums vereinbart werden. Dies kann für Frauen folgende
Konsequenz haben: Da Gegenseitigkeit und wechselseitige Abhängigkeit nicht mit der Integrität und Identität des
(autarken und autonomen) Individuums vereinbart werden können, kann eine Beziehung zwischen Mann und Frau
nur auf der Grundlage von Ungleichheit als möglich erachtet werden - den Frauen wird deshalb das Recht auf den
Subjektstatus verweigert und eine (vom Mann als Subjekt) abhängige und untergeordnete Position zugeteilt.
Eine andere Konsequenz für Frauen ist: In dem Maß, in dem man die Frauen als "Werkzeuge zur Erschaffung
von Individuen" ansah, wurden sie als Menschen mit eigenen Rechten disqualifiziert, d.h., es wurde ihnen der
220
Subjektstatus verweigert. Ein Grund dafür könnte sein - so vermute ich -, daß ein Widerspruch zwischen dem
Ausgeliefertsein an die Mutter und der damit verbundenen Abhängigkeit von ihr einerseits und der für das
Individuum notwendigen Autonomie, Eigenständigkeit und Integrität (Respektierung der Intimspähre etc.)
andererseits gesehen wird.
Diese Hinweise belegen, daß auch das für die Moderne zentrale Subjekt-Konzept für die Frauen nicht nur
emanzipatorische, sondern auch repressive Konsequenzen haben kann. Abschließend möchte ich noch zwei
Beispiele anführen, die zeigen, welche Konsequenzen sich ergeben, wenn das moderne Konzept der Menschenrechte zwar übernommen, aber nicht richtig erfaßt wird. In Japan werden die Menschenrechte meistens nur im
220
vgl. Rosenheft (1993:30)
108
Zusammenhang mit dem Problem der Buraku-min (d_wa-mondai) und der in Japan lebenden KoreanerInnen
behandelt. Aber viele Frauen haben in der Abtreibungsdebatte durch die Auseinandersetzung mit Behinderten ein
schärferes Bewußtsein für die Menschenrechte entwickelt. Eines der zentralen Ziele der neuen Frauenbewegung in
Japan war die Verhinderung des neuen Entwurfs zum Eugenik-Gesetzes, der 1972 und 1973 von der Regierung dem
Parlament vorgelegt wurde. Er sah die Streichung der Klausel vor, die Frauen "aus finanziellen Gründen" die
Abtreibung erlaubt. Außerdem sollte ein Zusatz eingefügt werden, der eine Abtreibung rechtfertigt, wenn
Anomalien am Embryo festgestellt werden, die zu Behinderungen führen. Die Frauen merkten, daß sie dadurch in
eine Mittäterschaft hineingezogen werden könnten, die darin bestünde, den Behinderten das Lebensrecht
abzusprechen. Sie erkannten, daß ihr Kampf um das Recht auf Abtreibung nicht die Verletzung des Lebensrechts
der behinderten Menschen bedeuten darf, und strebten die Veränderung dieser Gesellschaftsstruktur an, die Frauen
und Behinderte gleichermaßen diskriminiert.
In Japan war und ist durch das Eugenik-Gesetz die Abtreibungsfreiheit de facto gegeben. (De jure ist die
Abtreibung strafbar.) Doch schon in dieser Abtreibungsdebatte verengte sich die Sicht der japanischen
Feministinnen dadurch, daß sie sich auf die Frage des Eugenik-Gesetzes konzentrierten, wie auch Iwamoto Misako
kritisch feststellt. Während es sich in den Abtreibungsdebatten in europäischen und nordamerikanischen Ländern
um den unlösbaren Menschenrechtskonflikt zwischen dem Recht der Ungeborenen auf Leben und dem Recht der
Frauen auf Selbstbestimmung handelt, wurde in den japanischen Diskussionen das Recht der Frauen auf
Selbstbestimmung über ihren eigenen Körper zu wenig beachtet und nicht als eines der Menschenrechte begriffen
und behandelt .
Als Konsequenz dieser Verengung in der Sicht der japanischen Feministinnen kann auch die Selbstbestimmung
der Frau in den Fragen der sexuellen Belästigung und Gewalt nicht umfassend als Menschenrecht erkannt und
anerkannt werden. Diese Themen werden in den letzten Jahren in Japan intensiv diskutiert. Aber weil man die
Bedeutung der Menschenrechte nicht umfassend begreift, scheinen die sexuelle Belästigung und Gewalt nur als auf
Frauen bezogene Randprobleme betrachtet zu werden. Das Bewußtsein muß erst entstehen, daß sowohl physische
221
wie auch psychische, auf Sexualität beruhende Gewalt gegen Frauen eine Menschenrechtsverletzung ist.
Ich wollte mit diesen Beispielen einige kurze Hinweise auf die doppelte Problematik des Modernisierungsprozesses für die Frauen geben: die Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten in den grundlegenden
Konzepten der Moderne selbst und die Schwierigkeiten, die entstehen, wenn diese Konzepte in nicht-westlichen
Gesellschaften und Kulturen aufgenommen werden; in dieser doppelten Problematik liegt, so glaube ich, genug
Diskussionsstoff für unseren Workshop.
Literatur:
Iwamoto, Misako: Y_sei-hogoh_ o meguru seiji-katei. In: "H_ no kagaku", 1994, Nr. 3.
Rosenheft, Eve: Aufklärung und Geschlecht: Bürgerlichkeit, Weiblichkeit, Subjektivität, in: Reese, Dagmar et al.
(Hrsg.): Rationale Beziehungen? Geschlechterverhältnisse im Rationalisierungsprozeß. Frankfurt a.M., 1993,
19-37.
221
Im November 1994 erschien ein Buch mit Beiträgen, die genau diesen Zusammenhang behandeln: Watanabe Kazuko
(Hrsg.): Josei, b_ryoku, jinken. [Frauen, Gewalt und Menschenrechte.] Tokyo 1994.
2. Verliererinnen des Fortschritts? - Einige Überlegungen zu den Auswirkungen der Taika- und MeijiReformen auf Frauen
Ingrid Getreuer-Kargl
1. Einleitung
Iwao Sumiko behauptete 1993, Japan sei bis Beginn der Muromachi Zeit (1336) eine matriarchale Gesellschaft
gewesen und die japanischen Frauen in ihrer Gesamtheit hätten erst in der Meiji-Zeit, als die konfuzianistisch
geprägte Ordnung der Samurai in der ganzen Gesellschaft verbreitet wurde, ihre Macht und Gleichheit verloren und
222
seien somit erst kürzlich, besonders in den Städten, zu Konsumenten ohne Anstellung geworden. Es sei dahingestellt, ob Iwao mit dieser Aussage ihr eigenes historisches "Wissen" dokumentiert oder ob sie ihren Lesern einen
eklatanten Mangel an solchem unterstellt, jedenfalls reiht sie sich damit in die Menge der "Traditionalisten", die in
der Meiji-Restauration mit ihrer starken Orientierung am Westen eine Quelle heutiger Mißstände suchen.
Aussagen wie diese von einem Matriarchat in Japans Ur- und Frühgeschichte haben vor einiger Zeit mein
Interesse an dieser Epoche geweckt, weshalb es für mich naheliegend war, mit "Modernisierung" nicht nur die
Meiji-Reformen, sondern unwillkürlich auch die Taika-Reformen zu assoziieren. Tatsächlich zeigen sich bei
genauerer Betrachtung markante Ähnlichkeiten zwischen diesen beiden "Reformschüben", die großteils durch die
Bedürfnisse der Reformer bedingt und mitunter sogar beabsichtigt waren. Mein Anliegen ist, erstens nach einem
theoretisch-methodischen Konzept zu suchen, das sich für die Erfassung der Parallelen zwischen den Reformen der
Taika- und der Meiji-Zeit eignet, und zweitens dieses Konzept auch an beiden Epochen zu erproben. Im folgenden
fließen einige der Anregungen mit ein, die ich auf dem Workshop erhalten habe, doch bleibt der Charakter einer
vorläufigen Konzeptualisierung erhalten und ich möchte meine Überlegungen hiemit auch in schriftlicher Form zur
Diskussion stellen.
1.1 Zugang zum Thema
Die erste Frage bei der Suche nach einem methodisch-analytischen Fundament war die nach der - konventionellen und potentiellen - Bedeutung von "Modernisierung". Meine erste Interpretation ging von einem
alltagssprachlichem Verständnis aus, wie man es beispielsweise im Brockhaus nachlesen kann, nämlich als einer
223
"mit dem Fortschrittsbegriff verbundene[n] Bez[eichnung] für gezielte Veränderungen einer Gesellschaft" .
Bereits eine oberflächliche Beschäftigung mit dem wissenschaftlichen Diskurs über "Modernisierung" zeigt jedoch,
daß dieser Begriff in den Sozialwissenschaften zu sehr an bestimmte Inhalte gebunden ist, als noch ohne weiteres
eine alltagssprachlich-neutrale Verwendung zuzulassen.
Peter Wehlings kritischer Abrechnung mit Modernisierungstheorien zufolge entstammt die sozialwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Prozeß der "Modernisierung" dem politisch-hegemonialen Streben der
westlichen kapitalistischen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg, allen voran der USA, "unterentwickelte" Länder
224
zu stabilen Welthandelspartnern zu machen.
Dem Scheitern dieser frühen entwicklungstheoretischen
Modernisierungstheorien versuchte man durch verschiedene Revisionen zu begegnen, beispielsweise durch
historisch-komparative Modernisierungsforschungen, insbesondere aber durch bis heute relevante evolutions225
theoretische Begründungen der "Moderne", wie sie Parsons initiierte.
Die Modernisierung Japans wurde ab 1960 in die wissenschaftliche Auseinandersetzung miteinbezogen, als sich
222
Iwao (1993:5)
Brockhaus Enzyklopädie (1991:711)
224
Wehling (1992:107-117)
225
Wehling 1992:143)
223
110
westliche und japanische Wissenschaftler in Hakone zu einer Diskussion über Modernisierung trafen. Über die
grundlegenden Züge einer modernen Gesellschaft, die in Anlehnung an Almond und Coleman, Theoretikern der
ersten Modernisierungstheorien, formuliert worden waren, gab es im wesentlichen Übereinstimmung zwischen den
226
westlichen (amerikanischen) und japanischen Teilnehmern . Zwischen 1965 und 1971 erschienen insgesamt 6
Tagungsbände über die Modernisierung Japans, von denen die mittleren vier jeweils einem "Thema", das wohl nicht
zufällig Parsons' wirtschaftlichem (The state and economic enterprise in Japan, 1965), integrativem (Aspects of
social change in modern Japan, 1967), politischem (Political development in modern Japan, 1968) und kulturellem
(Tradition and modernization in Japanese culture, 1971) Subsystem entsprach, gewidmet waren. Zu Wort kam mit
Reinhard Bendix einer der führenden Vertreter der historisch-komparativen Modernisierungsforschung ebenso wie
Robert N. Bellah, den Wehling als einen der Mitbegründer des soziologischen Neo-Evolutionismus und der
227
evolutionstheoretischen Modernisierungstheorien sieht. Marion Levy wiederum, ein maßgeblicher Vertreter der
entwicklungstheoretischen Modernisierungstheorie, begegnet uns 1972 als Mitautor einer vergleichenden Studie
228
über die Modernisierung Japans und Rußlands.
Japan war als einziger nicht-westlicher moderner Staat
prädestiniert für den Versuch, die Parameter der Modernisierung aus konkreten historischen Prozessen
herauszufiltern, und in dem Maß, in dem es um Modernisierungstheorien insgesamt still wurde, schwand auch das
Interesse an Japans "Sonderweg". Eine neuere Veröffentlichung betont denn auch, daß die "westliche
Modernisierungstheorie, in welcher der englisch-amerikanische Industrialisierungsprozeß zur Meßlatte für die
Entwicklung aller anderer Länder erhoben wird" unangemessen sei, da "nur das Verständnis der jeweils eigenen
229
Geschichte [...] den Gang 'verspäteter Nationen' in die Moderne aufzuhellen [vermag]".
Die wissenschaftlichen Arbeiten darüber, was man(n) als "Modernisierung" definierte, seien sie theoretisch oder
japanbezogen, zeigen bei aller Unterschiedlichkeit eine folgenschwere Gemeinsamkeit: Frauen und ihre
spezifische(n) Lebenswelt(en) werden ignoriert. Die katastrophalen praktischen Auswirkungen dieser Vernachlässigung zeigen sich an den Folgen der einseitig aus Männerperspektive organisierten Entwicklungshilfeprojekte im Gefolge der entwicklungspolitischen Modernisierungstheorien, die theoretischen Implikationen
werden bis heute von den tonangebenden Modernisierungstheoretikern und -kritikern so gut wie nicht reflektiert
(auch nicht von dem oben zitierten Peter Wehling, der eine der führenden feministischen Theoretikerinnen der
Kritischen Theorie wenigstens in anderem Zusammenhang zitiert).
Eine feministischen Analyse, die mit dem Begriff "Modernisierung" operiert, müßte in meinen Augen zunächst
zwei Auspekte einer ausführlichen theoretischen Argumentation unterziehen: einerseits die evolutionstheoretische
Verankerung der neueren Modernisierungstheorien und andererseits die zentrale Bedeutung, die der
230
"Rationalisierung" beigemessen wird. Denkbar wären danach entweder eine Redefinition des Begriffs, sodaß
auch "weibliche" Aspekte Eingang finden, oder eine Beibehaltung des Konzepts und ein Aufzeigen der Folgen, die
"Modernisierung" für Frauen und Männer nach sich zieht.
Hinsichtlich der Evolutionstheorien wurde von feministischer Seite aufgezeigt, daß sie androzentrisch geprägt
231
sind
und daß "Darwins Androzentrismus [...] einen integralen und nicht in Frage gestellten Bestandteil
232
zeitgenössischer biologischer Theorien bildet". Nun wurzeln aber die gegenwärtigen allgemeinen soziologischen
Theorien der Moderne und Modernisierung in den soziologischen Evolutionstheorien, auf die Parsons
maßgeblichen Einfluß ausübte. Parsons überträgt für seine Theorie der gesellschaftlichen Evolution die
233
Erklärungsmodelle der biologischen Evolution direkt auf die Gesellschaft und unterliegt somit derselben einseitig
männlich-orientierten Sichtweise.
226
Hall (1965:15-19)
vgl. Wehling (1992:143-144, 152-162).
228
Black (1972)
229
Martin (1987:19)
230
vgl. Wehling (1992:71-74)
231
z.B. Harding (1990:97-107) oder Mauer (1993:193-198)
232
Hubbard (1989:311)
233
Wehling (1992:155)
227
Rationalisierung als zweiter Stützpfeiler von Überlegungen zur Moderne ist aus feministischer Sicht kaum
weniger problematisch. Das Gegensatzpaar "Rationalität/Emotionalität" kann als einer der "Grunddualismen", von
denen die westliche Philosophie geprägt ist und die mit der Geschlechterdifferenz in Zusammenhang stehen,
234
bezeichnet werden. Die Geschlechterstereotypisierung ordnet dabei die Rationalität dem Mann, die Emotionalität
235
der Frau zu. Sandra Harding kritisiert, daß soziologische Analysen, "die sich ausschließlich auf die Funktion der
Weberschen Rationalität konzentrieren, [...] dazu [neigen], die gesellschaftliche Rolle der Emotionen nahezu
236
vollständig auszublenden". In der Diskussion um die Moderne aber ist die "einseitige und selektive Verbindung
der Gesellschaftstheorie der Moderne mit der Soziologie Max Webers und dessen Konzept der Rationalisierung"
237
dominant : so greift Habermas in seiner Konzeption der Moderne auf Webers Theorie des "okzidentalen
238
239
Rationalismus" zurück. Auch wenn Kritik an der "Identifikation von Modernisierung und Rationalisierung"
geübt wird, wie es beispielsweise seitens der Kritischen Theorie geschieht, dominiert eine männerzentrierte
Sichtweise: mit der "strukturellen Geschlechterblindheit bei Habermas" korrespondiert eine "androzentrische
240
Patriarchatskritik der alten Frankfurter Schule", formulierte es eine feministische Sozialwissenschafterin.
Mein Interesse gilt nicht einer Modernisierung, für die es eine fortschreitende Differenzierung der Subsysteme
herauszuarbeiten gilt, sondern um bewußte und zielgerichtete Versuche, eine umfassende Veränderung der
Gesellschaft herbeizuführen. Genauer: Ziel ist nicht die Beschreibung eines einmaligen historischen Ereignisses,
sondern die Suche nach prinzipiell wiederholbaren Merkmalen und ihren Auswirkungen auf das
Geschlechterverhältnis. Aus dem Blickwinkel der konventionellen Modernisierungstheorien wäre ein Vergleich von
zwei Reformen, die durch mehr als ein Jahrtausend voneinander getrennt sind, kaum vorstellbar, zu eng ist
"Moderne" an die europäische Aufklärung und Industrialisierung gebunden.
Die zweite Frage, die sich mir stellte, war die nach einem theoretischen Rahmen für das Phänomen, daß sich
trotz einer de iure untergeordneten Stellung der Frauen in der Praxis zahlreiche Gegenbeispiele finden lassen bzw.
daß sich der tatsächliche Status der Frauen je nach Region oder Schicht erheblich unterscheidet. Es erschien mir,
trotz aller oben angeschnittenen Bedenken gegen Habermas, zumindest einen Versuch wert, die Umwälzungen der
Taika- und Meiji-Reformen an seiner Gegenüberstellung von "Lebenswelt" und "System" zu orientieren.
Habermas bezieht seinen Lebenswelt-Begriff auf Durkheims Begriff des Kollektivbewußtseins, verankert ihn
241
aber fest in phänomenologischen Lebensweltanalysen.
Lebenswelt kann als "ein Reservoir von Selbstver242
ständlichkeiten oder unerschütterlichen Überzeugungen" verstanden werden, das Handeln überhaupt erst möglich
macht. Allerdings ist "kommunikatives Handeln nicht nur ein Verständigungsprozeß", vielmehr nehmen "die
Aktoren, indem sie sich über etwas in einer Welt verständigen, zugleich an Interaktionen teil[...], wodurch sie ihre
Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen sowie ihre eigenen Identität ausbilden, bestätigen und erneuern. Kommunikative
Handlungen sind nicht nur Interpretationsvorgänge, bei denen kulturelles Wissen einem 'Test an der Welt'
243
ausgesetzt wird; sie bedeuten zugleich Vorgänge der sozialen Integration und der Vergesellschaftung."
Der hermeneutische Begriff der "Lebenswelt" soll hier in Verbindung gebracht werden mit der konkreten
Lebensgestaltung der Menschen in ihren regionalen, schichtspezifischen und individuellen Unterschieden. Die
"kulturellen Selbstverständlichkeiten" möchte ich aus der Beschreibung von Handlungen erschließen, die die
genannten Bedingungen erfüllen, nämlich Interpretationsvorgänge zu sein, bei denen kulturelles Wissen einem "Test
an der Welt" ausgesetzt wird, und zugleich Vorgänge der sozialen Integration und der Vergesellschaftung zu sein.
234
Klinger (1993:12)
vgl. z.B. Brück u.a. (1992:55-59) oder Harding (1990:62)
236
Harding (1990:89)
237
Wehling (1992:71)
238
Habermas (1988a:225-261)
239
Wehling (1992:70)
240
Kulke (1990:82)
241
Habermas (1988b:183)
242
Habermas (1988b:189)
243
Habermas (1988b:211)
235
112
Nach Habermas konstituiert sich die Lebenswelt aus Kultur, Gesellschaft und Persönlichkeit. Daran angelehnt und
auf die Perspektive "Frau" bezogen möchte ich bei der Darstellung der Lebenswelt diese drei Bereiche im
besonderen als (1) Traditionen und normative Vorstellungen, insbesondere in ihrer religiös-ethischer Fundierung,
wie sie das Verhältnis der Geschlechter regeln, (2) Verwandtschaftsorganisation, politische und wirtschaftliche
Partizipation und (3) Geschlechtsidentität verstehen.
Habermas' Systembegriff mit der starken Orientierung an Parsons hingegen erscheint mir als zu starr und zu
androzentrisch, um für meine Bedürfnisse geeignet zu sein. Ich möchte der Lebenswelt eher die leitenden Prinzipien
der Reformen gegenübersetzen, durch die die expliziten und verbindlichen Normen und Institutionen, die das Leben
der Menschen regeln (sollen), bewußt und zielgerichtet verändert wurden. Normen und Institutionen sollen ich
konkret auf die Bereiche Familie und Verwandtschaftsbeziehungen, Religion, Herrschaft und Verwaltung (Politik),
Recht sowie Produktion bezogen werden, womit ich zwar den Parsons'schen Subsystemen nahekomme, die sich
"anhand signifikanter Institutionen wie Unternehmung (Ökonomie), Staatsverwaltung (Politik), Recht (integratives
244
Subsystem), Kirche und Familie (Erhaltung kultureller Muster) illustrieren" lassen , aber weder die rigide
Vierteilung noch die Ausschließlichkeit dieser Systeme teile. Als "leitende Prinzipien" verstehe ich folgende
Aspekte, die nach meiner Ansicht beiden Reformen gemeinsam sind und die Lebenswelt der Frauen und Männer
nachhaltig veränderten:
(1) Zentralisierung der politischen Macht,
(2) Kodifizierung der (neuen) gesellschaftlichen Ordnung,
(3) Gezielte Eingriffe in das wirtschaftliche System zur Sicherung von Steuereinnahmen,
(4) Spirituelle ("sakrale") Legitimierung der neuen Ordnung, und
(5) Gezielte Übernahme von chinesischem bzw. westlichem Gedankengut.
1.2 Merkmale der Taika- und Meiji-Reformen
Sowohl der mit der Taika-Reform als auch der mit der Meiji-Restauration in Verbindung gebrachte
Strukturwandel wurde durch einen internen und einen externen Faktor ausgelöst. Den internen Faktor stellt eine
mächtige Gruppe dar, die die bestehende politisch-gesellschaftlich-symbolische Ordnung verändern will, den
externer Faktor eine militärisch-technisch-administrative Überlegenheit des Auslands verbunden mit einer realen
Bedrohung der japanischen Souveränität durch dieses Ausland. Für das 19. Jahrhundert sind diese Faktoren
wohlbekannt und müssen nicht weiter ausgeführt werden. Im 7. Jahrhundert bestand der interne Faktor aus dem
Tenno-Clan, der seine Hegemonie über die anderen mächtigen Clans endgültig abzusichern versuchte, während die
außenpolitische Situation geprägt war von der aggressiven Eroberungspolitik Sui und T'ang Dynastien in China, die
die koreanischen Königreiche Silla, Paekche und Koguryo unter Druck setzten und damit auch die japanischen
Machthaber in Angst und Schrecken versetzte. Die Ähnlichkeit zwischen diesen beiden Reformen stellte neben
vielen anderen auch der japanische Historiker Inoue Mitsusada fest: "Japan's history has been deeply marked by
reforms adopted during two long but widely separated periods of contact with expansive foreign cultures. The first
began around A.D. 587 when Soga no Umako seized control of Japan's central government, made an extensive use
of Chinese techniques for expanding state power, and supported the introduction and spread of Chinese learning.
The second came after the Meiji Restoration of 1868 when new leaders moved the country toward industrialization
245
and Western ways." "The imperial edict issued on the first day of the first month of 646 and referred to here as
the Four-Article Edict is comparable to the Five-Article Oath of 1868. Each was issued by an emperor at a time
when new leaders had decided to make bold and sweeping political changes - in the name of the current emperor 246
that would help the country to meet the threat of invasion by foreign powers, at first Chinese and then Western."
244
Habermas (1988b:362-365)
Inoue/Brown (1993:163)
246
Inoue/Brown (1993:197)
245
Tatsächlich griffen die Meiji-Reformer bewußt auf die Ereignisse zu Beginn der überlieferten Geschichte Japans
zurück und übernahmen verschiedene Einrichtungen und Bestimmungen detailgetreu. Bekannt sind die Umbildung
der obersten Staatsorgane auf der Grundlage der Taih_-Gesetzgebung (Shingikan, Daj_kan, Sadaijin/Udaijin usw.),
die minuziöse Rangordnung der Regierungs- und Hofämter, aber auch die Übernahme des fünfgradigen Verwandtschaftssystems mit der Stellung z.B. von Konkubinen. Der Rechtswissenschaftler Guntram Rahn
beispielsweise konstatiert: "Die Restauration bezweckte nicht nur die Beendigung der zweieinhalb Jahrhunderte
alten Militärregierung des Hauses Tokugawa durch die Wiederherstellung der kaiserlichen Regierungsgewalt,
sondern darüber hinaus eine staatsorganisatiorische Rückkehr zu den Anfängen der japanischen Geschichte. In der
Kaiserlichen Restaurationsorder vom 3. Januar 1868 hieß es:
"Ihre Majestät hat die Restauration der alten Form kaiserlicher Regierung und die Grundlegung zur
Wiederherstellung des Ansehens des Landes beschlossen ... Alle Angelegenheiten sollen in dem durch Kaiser
247
Jimmu in alten Zeiten begonnenen Werk ihre Grundlage finden."
Zur Abwehr der externen Bedrohung war eine Konzentration der politischen Macht in einer dem jeweiligen
Ausland ähnlichen Staatsform ebenso unabdingbar wie die Regelung des gesellschaftlichen Zusammenlebens in
Form schriftlicher Straf- und Zivilkodizes, und das neue Staatssystems (einschließlich natürlich des Aufbaus und der
Erhaltung eines schlagkräftigen Militärs) mußte durch entsprechende Staatseinnahmen, also Steuern, gesichert
werden. Diese Notwendigkeiten deckten sich mit dem Anliegen der machthabenden Gruppe nach einer
Umgestaltung der bestehenden Verhältnisse zur Absicherung ihres Einflusses. Schließlich mußte der Bruch mit der
althergebrachten, bis dahin als "natürlich" oder "gottgegeben" angesehenen Ordnung des Staates und der
Gesellschaft legitimiert werden, was beide Male sowohl durch einen Rückgriff auf indigene, traditionelle
Wertsysteme und Vorstellungen als auch durch eine Übernahme von chinesischen bzw. westlichen Wertsystemen
und religiös-ethischen Vorstellungen geschah.
Sowohl in den Taika- als auch in den Meiji-Reformen wurden somit Normen und Institutionen zielgerichtet und
umfassend verändert, die zu einem plötzlichen oder allmählichen Wandel der Lebenswelt führten. Die
"Selbstverständlichkeiten" des Alltags, hier: des alltäglichen Umgangs und des Selbstverständnisses der
Geschlechter wurden dadurch thematisiert und nachhaltig und radikal umdefiniert.
2. Die Veränderungen im 7./8. Jahrhundert
Für die Zeit vor der Taika-Reform stellt sich beim Versuch einer Rekonstruktion der Lebenswelten vor den
Reformen als besondere Schwierigkeit dar, daß keine zeitgenössischen schriftlichen Überlieferungen erhalten sind.
Neben den einschlägigen Forschungsergebnissen werde ich daher auch auf schriftliche Zeugnisse zurückgreifen, die
Phänomene aus der Zeit nach den Reformen schildern, in der Annahme, daß sich dort, wo den neuen Normen zunächst noch zuwidergehandelt wird, besonders tief verwurzelte Tradition zeigen. Dabei kommt Berichten über
narazeitliche Frauen am Kaiserhof besondere Bedeutung zu, da diese einerseits ausführlich dokumentiert sind,
andererseits es ja der kaiserliche Clan war, der die neuen Normen verwirklicht sehen wollte.
2.1. Taika- und ritsury_-Reformen
Am ersten Tag des ersten Jahres 646 wurde unter K_toku Tenno der Kaiserliche Reform-Erlaß verkündet, dem
zufolge der Clan-Besitz an Land und Leuten abgeschafft, eine neue administrative Ordnung des Landes und der
Bevölkerung verkündet sowie eine neue Steuerregelung eingeführt wurde. Ihren Höhepunkt fanden die Reformen in
den Straf- und Verwaltungsgesetzen des Taih_- (701) bzw. Y_r_-Kodex (718).
Hervorstechendes Merkmal der Reformen ist die Zentralisierung der politischen Macht. Über die frühe
114
Clanstruktur und die Herausbildung der Hegemonie des Tenno-Clans gibt es noch keine gesicherten Erkenntnisse,
doch scheint bis zur Mitte des 5. Jahrhunderts das Verhältnis zwischen "König" und lokalen Oberhäuptern ein
248
egalitäres gewesen zu sein, das sich erst allmählich in ein hierarchisches wandelte. Gleichzeitig, so vermutet man,
249
konzentrierte sich im frühen 6. Jahrhundert die Königsmacht in der Region Yamato. Der König wurde vor der
250
Taika-Reform von einer Gruppe Vasallen gewählt, die dann bestimmte Ämter erhielten. Das System der ClanOberhäupter dürfte zwar tendenziell patriarchal gewesen sein, doch könnte es ursprünglich ein männlich-weibliches
Paar gewesen sein, das die Autorität des Oberhauptes innehatte, zumal sich aufgrund historischer Beispiele
nachweisen läßt, daß wenigstens die Vorstellung, daß Position und Charisma auch von Frauen geerbt werden
251
konnten, verbreitet war.
Aus dem primus inter pares, der sich allmählich die anderen Clan-Oberhäupter unterordnete, war mit der TaikaReform ein absoluter Herrscher geworden, der einen Treueschwur (645) abverlangen und die Herrschaft über das
gesamte Land und Volk beanspruchen konnte. Loyalität wurde durch entsprechend hohe Stellungen und Ränge
belohnt, wobei der kaiserlichen Familie eine Schlüsselrolle zukam: Tenmus Gemahlin, die spätere Jit_ Tenno,
252
wurde zur Hauptberaterin des Tenno erhoben, ihr Sohn Prinz Kusakabe zum Thronfolger ernannt.
Frauen wurden von den meisten Ämtern ausgeschlossen. 749 erging ein Erlaß von K_ken-Tenno, der besagte,
253
daß Frauen bei Regierungsämtern nicht erbberechtigt seien. Das ritsury_-System schloß Frauen von offziellen
Rängen aus, doch gab es in der Nähe des Kaisers einige zentrale Positionen, die Frauen in bestimmte Aspekte der
254
kaiserlichen Macht einbezogen, wie Beraterinnen oder Hüterinnen des kaiserlichen Siegels. Es gab vier Arten von
kaiserliche Gattinnen, die alle Inhaberinnen von Rängen (hon) waren, und zwar "Kaiserin" (k_g_), "kaiserliche
Gemahlin" (kisaki), "kaiserliche Ehefrau" (fujin), und "kaiserliche Konkubine" (hin). Eine zur Kaiserin ernannte
Gattin mußte aus dem kaiserlichen Clan stammen und konnte nach dem Tod des Tenno zur regierenden Kaiserin
255
werden. Nicht ganz geklärt ist die Funktion der uneme, der "Reisdamen" oder "Mundschenken", Hofdamen
niederen Ranges im 8. Jahrhundert, die sich aus dem Kreis der Schwestern oder Töchter der Territorialherren
rekrutierten. Sie könnten Teil der Unterwerfungsbezeugung der mächtigen Regionalfamilien oder aber kultischen
256
Ursprungs gewesen sein : die Religionswissenschaftlerin Okano Haruko nimmt ersteres an und meint: "So liegt
257
der Zentralisierung der politischen Mächte durch den Kaiser eben dieses Uneme-System zugrunde." Wie immer
man ihre Funktion beurteilt, für sie war jedenfalls die Clan-Zugehörigkeit ausschlaggebend, während für Männer
258
Fähigkeiten und erblicher Hofrang wichtig waren.
Neben dem Fortwirken des Clan-Systems wurde aber ein neues "Leistungsprinzip" aus China eingeführt. Es gab
Universitäten, die mit Staatsprüfungen abzuschließen waren und jungen männlichen Aristokraten den Zugang zu niederen - Hofämtern ermöglichen sollten. Die höchsten Staatsbeamten konnten ihre Ämter erblich an Söhne und
259
Enkelsöhne weitergeben und rekrutierten sich weiterhin aus den alten und mächtigen Clans. Nach den früheren
Taih_-Gesetzen (701) erbte der älteste Sohn des Inhabers eines Hofrangs vom Vater Haus und Sklaven sowie die
Hälfte des sonstigen Vermögens, der Rest sollte unter den Brüdern aufgeteilt werden. Etwas später bestimmte der
Y_r_-Kodex, daß der älteste Sohn nur mehr doppelt so viel wie ein anderer Bruder erbte sollte, außerdem wurde
247
Rahn (1990:60)
vgl. Takashima Hiroshi: Nihon kodai kokka to ky_shoku girei, in: Jinbun, jizen kagaku kenky_ 1(1989), 1-21, zit. nach Kit_
(1994:36).
249
Kawaguchi Katsuya: _kimi no shutsugen, in: Nihon no shakai-shi. Band 3. Iwanami Shoten 1987, 17-42, zit. nach Kit_
(1991:26-27).
250
vgl. Yoshimura Takehiko, Yamato _ken to kodai T_goku, in: Chiba shigaku 15(1989), 1-12, zit. nach Kit_ (1994:36)
251
vgl. Yoshida Takashi, Publikationen 1976-1983, zit. nach Nishimura (1991:166)
252
Naoki (1993:224-225)
253
Nishino (1990:17)
254
Josei-shi s_g_ kenky_-kai (1983:234)
255
Naoki (1993:249)
256
Josei-shi s_g_ kenky_-kai (1983:234)
257
Okano (1976:44)
258
Nishino (1990: 19)
259
Naoki (1993:236-237)
248
auch das Erbrecht der Töchter in Höhe des halben Anspruchs der Brüder anerkannt. Für Personen ohne Hofrang
260
wurden keine Bestimmungen erlassen.
Im Zuge der Zentralisierung wurden aber nicht nur die Zugänge zu politischen Funktionen einem straffen
hierarchischen Schema unterworfen, sondern die gesamte Bevölkerung. Das Volk wurde zum einen in Freie
(ry_min) und Unfreie (senmin) eingeteilt, wobei die Freien wiederum in Inhaber von Hofrängen und in andere (in
etwa: Herrschende und Beherrschte) unterschieden wurden, zum anderen in patrilinearen Haushalten (ko)
organisiert. Jeder Haushaltsvorstand war dem Staat gegenüber für Felder und Steuern verantwortlich und sollte nach
261
innen die Führung innehaben. Die Haushalte wurden registriert und sollten zu je fünfzig ein Dorf (sato) mit einem
Dorfoberhaupt (osa) bilden, der die Haushalte beaufsichtigen, Verbrechen verhüten und bestrafen und die Zahlung
262
von Steuern (etsuki) durchführen sollte. Damit erreichte der Staat in straff festgelegten Hierarchiestufen die
gesamte Bevölkerung.
Die Erhaltung dieses zentralisierten Staates bedurfte geregelter Steuereinnahmen, um die erforderlichen
finanziellen Mittel zur Umsetzung von Entscheidungen zu sichern. Durch die Taika-Reformen wurde einerseits die
Grundlage für Steuereinnahmen geschaffen, andererseits wurden die zu leistenden Abgaben im Detail festgelegt.
Zwei wichtige Maßnahmen, die Vereinigung des Landes in der Hand des Herrschers und die hierarchische
Strukturierung der Bevölkerung, wurden schon genannt. Nach chinesischem Vorbild wurde das Land an das Volk
verteilt, und zwar im Verhältnis drei zu zwei an Männer und Frauen über sechs Jahren, wobei Unfreie ein Drittel der
Menge für Freie erhielten. Ein wesentlicher Unterschied zu China lag darin, daß dort vor der T'ang-Zeit Land nur
verheirateten Frauen zugeteilt und eine Steuerpflicht explizit festgelegt worden war, während in der T'ang-Zeit
Frauen überhaupt kein Land mehr erhielten. In Japan hingegen hatten alle freien und unfreien Frauen, die älter als
263
sechs Jahre waren, Anspruch auf Felder, Steuerpflichten wurden nicht erwähnt.
Die Abgaben bestanden im wesentlichen aus Reis (ungefähr drei Prozent der Ernte), daneben auch aus
Naturalien- und Dienstleistungen. Die Einhebung von Reis erfolgte bis 680 vom Haushalt, danach vom
264
Individuum. An Dienstleistungen mußten unter anderem nicht nur Männer zur Landesverteidigung und für
Bauvorhaben gestellt werden, sondern auch eine "gutaussehende Schwester oder Tochter" (uneme) pro Beamten ab
dem Rang eines "assistant district supervisor", für deren standesgemäßen Unterhalt jeweils hundert Haushalte aufzu265
kommen hatten.
Um die kaiserliche Vormachtstellung nicht nur militärisch/administrativ und wirtschaftlich, sondern auch rituell
abzusichern, bedienten sich die Machthaber des einheimischen Kults, der nun ebenfalls zentralisiert wurde. Die
Clanoberhäupter verloren im Zuge ihrer Entmachtung die vormals in ihren Händen liegende Verantwortung für die
Verehrung der Schutzgottheiten. Die einzelnen Kulte wurden unter ein zentralistisches Organisationsdach
eingeordnet und dem Tenno, bzw. dem "Götterkultamt" (Jingi-kan) untergeordnet, das den Kult organisierte und die
Schreine verwaltete. Das Organisierungssystem der Schreine wurde zuerst in einigen Taika-Edikten umrissen und
im Y_r_-Kodex endgültig präzisiert. Die Kulte wurden von einer beamteten Priesterschaft vollzogen, die,
266
wenngleich mit vielerlei Ausnahmen, grundsätzlich männlich war. "In gewissem Sinne ist das Kultwesen ein
weniger spontanes antwortendes Handeln des religiösen Menschen als früher und vielmehr eine rationaliserte
267
Amtssache geworden."
Neben der Oberhoheit über den Kult griff Tenmu Tenno zur Absicherung seiner Stellung auf das probate Mittel
einer fiktiven Genealogie zurück, die ihn in direkter Folge von der Sonnengöttin Amaterasu abstammen ließ. Bald
nach seinem Sieg im Bürgerkrieg von 672 nahm er den Brauch wieder auf, eine kaiserliche Prinzessin in den
260
Torao (1993:430)
Nishino (1990:18)
262
Inoue/Brown (1993:199)
263
Torao (1993:419)
264
Naoki (1993:232)
265
Inoue/Brown (1993:199)
266
Okano (1976:45-46)
267
Okano (1976:14)
261
116
268
Großschrein von Ise zu entsenden, die an seiner Stelle die Sonnengöttin verehren sollte. Hier klingt nochmals das
für Japan als traditionell angenommene Prinzip einer Doppelherrschaft mit einem Mann an der Spitze der weltlichen
Macht und einer Frau als oberster Priesterin an, gleichzeitig wird aber durch die geographische Trennung des Kultes
von Hof und Götterkultamt der Grundstein für seine spätere (staatspolitische) Bedeutungslosigkeit gelegt. Mit dem
Anspruch auf göttliche Herkunft hatte der Tenno einerseits seine Vorrangstellung vor den anderen mächtigen
Clanoberhäuptern deutlich kundgetan und andererseits auch die chinesischen Herrscher übertrumpft, die auf keine
so hehre Abstammungslinie verweisen konnten. Um die Kaiserherrschaft zu legitieren und zu definieren wurden die
Reichsannalen Kojiki (712) und Nihongi (720) in Auftrag gegeben, wobei sich letzteres an der offiziellen
269
chinesischen Dynastiegeschichtsschreibung orientiert. Verfolgt man übrigens die Reihe der Herrscher(innen) in
diesen Reichsgeschichten, so zeigt sich als interessantes Phänomen, daß die rekonstruierten Kaiser allesamt
männlich sind. Dies, obwohl gerade in der unmittelbaren Vergangenheit und seinerzeitigen Gegenwart Kaiserinnen
keine Seltenheit waren und die erste ausführliche Beschreibung eines japanischen Staates in chinesischen Annalen
ebenfalls eine Frau an der Spitze des Gemeinwesens anführte. Es bleibt dahingestellt, ob man damit über den großen
Bruder am Festland auftrumpfen wollte, der ebenfalls Herrscherinnen gekannt, ein (allfälliges) Matriarchat aber
längst überwunden hatte oder ob die konzeptionelle Gleichsetzung von Herrschaft und Männlichkeit bereits so fest
verankert war, daß die zeitgenössischen Kaiserinnen als Abweichung von der Norm gesehen wurden.
Die Kodifizierung erstreckte sich, wie gezeigt, auf den politischen, den wirtschaftlichen, den religiösen und den
familiären Bereich: Hofämter und Hofränge sowie der Zugang zu ihnen wurden ebenso schriftlich festgelegt wie die
Verteilung der Felder, die Abgaben an die Zentralregierung und die dafür Verantwortlichen oder die Organisierung
des Volks in patrilinearen Haushalten oder schließlich die religiösen Ämter und Verantwortlichkeiten. Durch die
Zentralisierung der Macht waren, wenigstens potentiell, auch die Mittel vorhanden, diese schriftlich festgelegten
Bestimmungen durchzusetzen, und das bedeutete, daß erstmals alle Frauen in sämtlichen dem Kaiserhof
unterstehenden Gebieten davon betroffen waren. Mit der Kodifizierung wurde eine sachliche und nachvollziehbare
Grundlage geschaffen, die zwar de facto den Erfordernissen der Zeit untergeordnet war, jedoch unabhängig von der
jeweiligen Praxis bestehen blieb. Bei Bedarf konnte man auf das "Original" zurückgreifen und war nicht auf
Rekonstruktionen angewiesen, wo immer damit gerechnet werden mußte, daß die ursprüngliche Intention durch
abweichende Gepflogenheiten verfälscht wurde oder ganz in Vergessenheit geraten war.
Was den Einfluß von außen, von China, betrifft, so lehnte sich die gesamte Reorganisation des Staates, die
Zuteilung von Feldern an die Bevökerung ebenso an das große chinesische Vorbild an wie die Konzentration der
religiösen Autorität in den Händen des Kaisers. Das "neu eingeführte chinesische Rechtssystem, auf dem auch das
270
Priesteramt" [des einheimischen Kults] basiert, ist grundsätzlich pariarchalisch organisiert". China war zu dieser
Zeit eine patriarchalische Gesellschaft und im Bemühen, mit dem viel weiter fortgeschrittenen Nachbarn
aufzuholen, wurden neben all den anderen Errungenschaften auch die Vorstellung von der natürlichen
Vormachtstellung des Mannes übernommen. Mit der Einführung eines Beamtenstaates nach chinesischem Muster
war eine der wichtigen Geistesströmung Chinas, der Konfuzianismus fest in der japanischen Gesellschaft verankert
worden. Eine weitere, der Buddhismus, blieb in der Auseinandersetzung mit den Anhängern der einheimischen
Gottheiten siegreich und wurde zur staatstragenden Religion erhoben. Die neue Religion sollte vor allem den Schutz
des Landes gewährleisten; so erließ beispielsweise Sh_mu Tenno 740 ein Edikt, wonach jede Provinz zum Schutz
271
des Landes je ein Männer- und eine Frauenkloster zu errichten hatte.
2.2. Die Veränderung der Lebenswelten durch die Taika-Reform
Wie wurde die Lebenswelt durch diese Reformen verändert? Welche Traditionen erwiesen sich kurz- oder
268
Naoki (1993:227-228)
Goch (1981:395-396)
270
Okano (1976:46)
271
Naoki (1993:255)
269
langfristig stabil und welche Neuerungen griffen sofort um sich?
Der Frage der Stellung der Frau in der Familie wird im allgemeinen zentrale Bedeutung hinsichtlich ihrer
Stellung in der Gesellschaft schlechthin beigemessen. Das gilt vielleicht für Urgeschichte und Altertum in noch
höherem Maße, da in dieser Zeit die Familie bzw. der Clan noch wesentliche Produktions- aber auch politischen
Funktionen integrierte. Über die Familienorganisation vor den Taika-Reformen gibt es bisher keine gesicherten
Annahmen, jedoch ist unbestritten, daß es sich um keine durchgehend patriarchalische oder patrilineare
Familienstruktur gehandelt hat. Bekannt ist Takamure Itsues Postulat einer Matrilinearität im Altertum, doch muß
dem Argument, Patrilinearität sei wenigstens in Teilen der herrschenden Schicht bereits vor dem 7. Jahrhundert
272
etabliert gewesen, zumindest Gehör geschenkt werden. Besonderes Interesse kommt der These zu, wonach die
273
Deszendenz weder patri- noch matrilinear, sondern vielmehr kognatisch gewesen sei. Indiz für eine kognatische
Zuordnung könnte beispielsweise der Thronfolgestreit nach Mommu Tenno sein, im Zuge dessen sein Sohn Prinz
Obito aus der Verbindung mit einer Tochter Fujiwara no Fuhitos zunächst nicht zum Thronfolger ernannt werden
konnte, weil damit die fast ein Jahrhundert ungebrochene Tradition, wonach alle Throninhaber väterlicher- und
mütterlicherseits Nachkommen des kaiserlichen Clans waren, gebrochen worden wäre. Obito bestieg übrigens erst
274
nach Genmei Tenno, der Mutter Mommus, und Gensh_ Tenno, ihrer Tochter, als Sh_mu den Thron.
Dieses Prinzip der Deszendenz ändert sich auch nach den Reformen nur langsam. Unterschiede zwischen den
gesetzlichen Bestimmungen und der Realität werden besonders für die Familien- und Haushaltsformationen
festgestellt, aber auch für das Erbrecht. Der stark patrilineare Charakter der Familien im 8. Jahrhundert, der sich in
den Haushalts- und Steuerregistern zeigt, scheint wohl eher die Ausrichtung der Verfasser am Modell des
chinesischen Familiensystems widerzuspiegeln. Nach Yoshie Akiko bestand die Familie aus einer engen Mutter275
Kinder Gemeinschaft, die mit dem Ehemann zusammen wohnte. Besuchsehe, Beibehaltung ihres Namens oder
ihrer uji-Zugehörigkeit auch nach der Heirat oder Registrierung der Kinder unter dem uji-Namen des Vaters, aber
276
Zugehörigkeit zum Haushalt der Mutter lassen sich schwer mit einer Unterordnung der Frau unter ein männliches
Familienoberhaupt vereinbaren. Eine Untersuchung über die Haushalte von Provinzgouverneuren von Fukut_ Sanae
kommt zu dem Schluß, daß Eigentum und Haushaltsmanagement auf einer Ehefrau-Ehemann Einheit basierte und
daß das Prinzip der Abstammung, Nachfolge und Vererbung entlang der vertikalen Vater-Sohn Linie noch
277
unentwickelt war.
Steuern in der geforderten Höhe abliefern zu können war zu einer Voraussetzung für die Eigenständigkeit des
Haushalts geworden. Damit wurde Besitz an Feldern eminent bedeutsam. Die frühen Taih_-Gesetze hatten
überhaupt kein Erbrecht für Töchter vorgesehen, doch scheint diese Bestimmung so fern jeder japanischen Praxis
gewesen zu sein, daß nicht einmal zwei Jahrzehnte später ein, allerdings reduziertes, Erbrecht für Töchter anerkannt
worden war. Die durch die Taika-Reformen verfügten Beschränkungen der töchterlichen Erbfähigkeit dürfte nach
gegenwärtigem Wissensstand nur begrenzt Anwendung gefunden haben: wie seit altersher erbten Töchter ähnlich
278
wie Söhne. Hier erwiesen sich die Traditionen als stark. Erst im 11. Jahrhundert kommt es bei den lokalen
Machthabern (zaichi ry_shu) zu einer Bevorzugung der Männer in der Erbfolge, bei Bauern und Priestern hingegen
279
gilt noch während der ganzen Heian-Zeit gleiches Erbe für beide Geschlechter. Der individuelle Besitz von
Männern und Frauen in allen Schichten verhinderte die Etablierung der patriarchalen Familie als Eigentums-
272
Yoshikawa K_bunkan 1989, 99-146, zit. nach Kit_ (1994:35); Yoshida Takashi, Publikationen 1976-1983, zit. nach
Nishimura (1991:166).
273
vgl. z.B. Kit_ (1994:26-27) oder Aoki/Furuse (1990:38)
274
vgl. Naoki (1993:245)
275
Nishino (1990:16)
276
Torao (1993:429)
277
Aoki/Furuse (1990:54)
278
Nishino (1990:20)
279
Fukut_ (1980) sowie Heian jidai no josei no zaisanken: Toku ni s_zoku zaisan o ch_shin to shite", in: Ochanomizu Joshi
Daigaku, Josei Bunka Shiry_ Kan h_ (1981)2, 45-59, zit. nach Nishimura (1991:171)
118
280
Einheit.
Die Stellungen in der Bürokratie allerdings wurden auf der Basis der Ende des 7. Jahrhunderts reorganisierten
281
patrilinaren Clans in Form von erblichen Hofrängen (in'i) von Vater auf Sohn weitergegeben, doch wird sogar in
den tendenziell frauenunfreundlichen Quellen immer wieder von Frauen erzählt, die außerhalb der festgelegten
Ämter und Ränge erheblichen Einfluß ausübten. Vorerst blieben Verwandtschaft bzw. Zugehörigkeit zu einem Clan
wichtiger als Verdienste, die eine zweite, nur Männern zugängliche Schiene zur Macht eröffneten. Regierende
Kaiserin-Witwen waren im Gesetz vorgesehen und übten auch in der Realität erhebliche Macht aus. So hatten die
Auseinandersetzung zwischen Tachibana no Moroes Anhängern und den Fujiwara Mitte des 8. Jahrhunderts auch
den Aspekt einer "Konfrontation am Hof zwischen zwei von mächtigen Frauen angeführten Fraktionen: die
282
abgedankte Kaiserin Gensh_ war mit Moroe alliiert und Kaiserin K_my_ wurden von den Fujiwara unterstützt".
Das alte Prinzip der Abstammung wird allerdings zunehmend nachrangig bzw. gekoppelt an offizielle Funktionen,
von denen man Frauen ausgeschlossen hatte.
In der frühen ritsury_-Periode kam es zu einer massiven Landflucht vermutlich aufgrund von Hungersnöten und
283
Epidemien sowie aufgrund der Belastung durch die Hauptstadt-Errichtung in Nara (nach 710): Bauern verließen
ihr Land, da sie der Steuerlast nicht mehr gewachsen waren. Es gab viele Vazierende, die sich bei Institutionen
284
verdingten, die Neuland erschlossen, aber auch Bauern arbeiteten gegen Lohn, um ihr Einkommen zu verbessern.
Die aus Mutter und Kindern bestehende Familie war vor dem 7./8. Jahrhundert instabil und wirtschaftlich in die
Gemeinschaft eingebunden, im 8. und 9. Jahrhundert entwickelte sie einen stärkeren Zusammenhalt durch die
Etablierung des pater familias und zunehmende wirtschaftliche Unabhängigkeit. Da die Erschütterung der
285
Gemeinschaft viele drop-outs produzierte, vollzog sich diese Entwicklung durchaus mit Zustimmung der Frau.
Zumindest für die Frauen der herrschenden Schicht war der Ausschluß der Frauen aus Ämtern eine der wichtigsten
faktischen Ungleichheiten, die durch die Reformen geschaffen wurden und der auch keine Tradition entgegengesetzt
werden konnte: sie waren nunmehr darauf angewiesen, zu erben und konnten durch eigene Anstrengungen nur
schwer Vermögen erwerben. Damit war ein Grundstein für die Abhängigkeit der Frauen gelegt worden. Was
Eigentum an neu erschlossenen Felder im 8. und 9. Jahrhundert und Besitz von permanenten, erblichen
Feldbestellungsrechten bis Mitte des 10. Jahrhunderts betraf, so dürfte es weitgehend Gleichheit zwischen den
Geschlechtern gegeben haben, als aber ab dem 12. Jahrhundert Felder als my_-Einheiten registriert wurden, blieben
die Frauen zwar weiterhin Besteller und Besitzer der erblichen Feldbestellungsrechte, doch wurde es zur Regel, daß
die Felder im Namen eines Mannes, des my_shu, registriert wurden. Auch gibt es Fälle, wo das Eigentum der
Frauen im Namen des Mannes verkauft wurden: dies sind Anzeichen für beginnende patriarchale
286
Familienbeziehungen. Neben der Herausbildung eines männerzentrierten Systems unter chinesisch-koreanischem
Einfluß in der die hohen Beamten ausmachenden Aristokratie werden hier auch die wirtschaftlichen Umwälzungen
durch die Reformen als Faktor für einen Niedergang der Stellung der Frau innerhalb der Familie angeführt.
So läßt sich für die Lebenswelt "Verwandtschaftsorganisation, politische und wirtschaftliche Partizipation"
feststellen, daß sie gegen die normativen Veränderungsbestrebungen der Zentralmacht in ihren angestammten
Bereichen zunächst ziemlich resistent war. Es waren vor allem die neuen Einrichtungen, wie sie Hofämter und ränge in dieser Form darstellten, in denen sich die patrilinearen Normen durchsetzen konnten, wobei hier
dahingestellt sein soll, ob es tatsächlich zu einer Veränderung kam oder ob nicht nur die von einem Teil der herrschenden Schicht ohnedies bereits praktizierte Patrilinearität fortgesetzt wurde. Daneben waren es wirtschaftliche
Umstände, die mit den Reformen ursächlich zusammenhingen, die eine Aufweichung der üblichen
280
Sekiguchi Hiroko, "Kodai kazoku no kon'in keitai", in: K_za Nihon rekishi 2, T_ky_ Daigaku Shuppankai 1984, 287-327,
zit. nach Nishimura (1991:171).
281
Nishino (1990:19)
282
Naoki (1993:253)
283
Torao (1993:442)
284
Torao (1993:450)
285
Nishino (1990:16)
286
Nishimura (1982)
Familienorganisation nach sich zogen und so das Vakuum schufen, in das die durch die Reformen etablierten
Normen eindringen konnten.
Die Traditionen und normativen Vorstellungen zum Geschlechterverhältnis insbesondere in ihrer religiösethischen Fundierung lassen sich vielleicht am besten anhand der religiösen Stellung der Frau herausarbeiten. Okano
Haruko stellte fest, daß das religiöse Leben in frühen Zeiten spontan und persönlich im alltäglichen Leben, in der
Familie oder Sippe, erfahren wurde und es die Frau als Mutter, Ehefrau oder Geliebte (möglicherweise auch der
Mann als Vater?) war, die priesterliche Funktion ausübten. Erst nach und nach verlagert sich der Schwerpunkt
kultischer Handlungen in die Schreine. Entsprechend der Entwicklung im politischen Bereich kommt es dazu, daß
das ursprünglich in den Händen der Frau gelegene Priestertum auch auf das Clanoberhaupt überging, dem als
287
Hauptpriester an der Spitze eine enge weibliche Blutsverwandte als "heiliges Medium" diente.
Eine Verquickung von politischer und religiöser Führung wie bei Himiko, aber auch bei Jing_ K_g_, ist gut
belegt und läßt sich bis in historische Zeit verfolgen, wie Origuchi Shinobu zeigte, der auf den Schamanismus als
288
Merkmal der Herrscherinnen des 7. und 8. Jahrhunderts hinwies.
Für den Tenno-Clan selbst wird eine
nordasiatische Herkunft und patriarchalische Struktur angenommen, doch hatten die verschiedenen Clans
unterschiedlichen ethnischen Hintergrund und auch unterschiedliche Traditionen. Eine der Bruchlinien offenbarte
sich in der Auseinandersetzung um die Einführung des Buddhismus, wo die "Immigranten" unter den Clans sich von
der neuen Religion eine Stärkung ihres Oberhaupts erwarteten, während die "Bodenständigen" an der Verehrung der
Clan-Gottheiten durch das Clan-Oberhaupt festhielten. Der Sieg der Buddhismus-Proponenten beschleunigte die
Differenzierung von Religion und Politik, was für Frauen eine weitere Schwächung ihrer politischen Rolle
bedeutete. Ihre religiöse Bedeutung blieb vorerst intakt, so ist beispielsweise die kultische Funktion der Frauen, die
sie etwa als Priesterinnen des Ise-Schreins ausübten, unbestritten. Obwohl die Frauen im Buddhismus eine
289
untergeordnete Stellung einnahmen, "in gewissem Sinne allenthalben verachtet" wurden, bedurfte es doch der
vereinten Anstrengung beider Geschlechter, um das staatspolitische Ziel, den Schutz des Staates, zu erreichen.
Nonnen spielen eine wichtige Rolle, wie aus der Bestimmung, daß in jeder Provinz neben einem Männer- auch ein
Frauenkloster eingerichtet werden mußte, ersichtlich ist, und auch andere Regelungen räumen Frauen gleiche
Rechte ein. So durften nach Aufhebung des Verbots, das dem populären Prister Gy_ki (668-749) seine Lehren im
Volk zu verbreiten untersagte, sowohl alle männlichen Anhänger über 61 als auch alle weiblichen über 55 Priester
290
und Nonnen werden.
Frauen nahmen nach den Reformen wie früher direkt am Leben der Gemeinschaft teil und waren nicht durch
eine patriarchale Autorität beschränkt, doch fand der Konfuzianismus allmählich Eingang auch ins Volk. Anläßlich
des Frühlingsfests, zu dem sich Männer und Frauen in einer Halle, versammelten, um gute Ernte beteten und Sake
tranken, verkündeten die lokalen Machthaber (muraji) die Gesetze des Staates und verbreiteten die Altersordnung
291
des Konfuzianismus. Im Unterschied zu politischen Funktionen, von denen Frauen explizit ausgeschlossen
wurden, blieb ihre religiöse "Gleichberechtigung" aufrecht. In dem Maß aber, in dem der magisch-kultische Aspekt
hinter den staatsreligiösen zurücktritt und in dem eine bürokratische Organisation der religiösen Funktionäre
292
überhand nimmt, wurden Frauen auch im religiösen Bereich marginalisiert.
287
Okano (1976:19-22)
Josei-shi s_g_ kenky_-kai (1983:233)
289
Okano (1976:46)
290
Naoki (1993:250)
291
Nishino (1990:17)
292
Wie wichtig es ist, sich bei einer Erörterung der Stellung der Frau der bis heute einseitig verzerrenden Sicht der männlichen
Forscher bewußt zu sein, zeigt nachfolgende Gegenüberstellung der Beschreibung desselben Ereignisses, nämlich der Weihung
des Großen Buddha des T_dai-ji im Jahr 752 in ein und demselben Buch:
"Although Sh_mu had become a retired emperor by this time, he was present and accompanied by his famous empress
K_my_, his daughter Empress K_ken, seven thousand courtiers, and about ten thousand monks for what was probably the most
impressive ceremony ever staged by a Japanese sovereign." (Naoki 1993:257)
"The Shoku Nihongi describes K_ken's visit to T_dai-ji on this occasion. The empress was accompanied by her father
Sh_mu, who had ordered the making of the great Buddah statue, and by Ôga Morime, priestess of the Usa Grand Shrine. As a
288
120
Während für die Verwandtschaftsbeziehungen reichlich Forschungsergebnisse vorliegen und auch die religiös
begründeten Traditionen und normativen Vorstellungen gut erforscht sind, lassen sich zur Geschlechtsidentität nicht
sehr viele Aussagen machen.
Für die Selbstverständlichkeit, mit der Frauen ein Mitspracherecht in der Politik beanspruchten, lassen sich
zahlreiche Beispiele finden, under anderem ein Vorfall in ersten Monaten der Herrschaft von K_gyoku Tenno (642645), als der mächtige Soga no Iruka öffentlich von einer Schwester Prinz Yamashiros, eines Thronanwärters,
beschimpft wurde, er führe sich wie ein Kaiser auf und bereichere sich durch Zwangsarbeit. Der Beschuldigte ging
daraufhin mit Waffengewalt vor und trieb 23 Nachkommen von Sh_toku Taishi, einschließlich des Prinzen
293
Yamashiro, zum Selbstmord.
Frauen scheinen sich für das Wohlergehen ihrer Familie (ihres Clans) verantwortlich gefühlt zu haben und in
dieser Funktion auch von Männern bestätigt worden zu sein. Solange Politik im wesentlichen eine Sache der Clans
war, konnten (mußten? sollten?) Frauen sich zugunsten ihrer männlichen Familienmitglieder einmischen. Frauen
waren auch für die magischen Praktiken zuständig, die die Familie vor Schaden bewahren sollten, es oblag ihnen
also auch die Ausübung des Kultes. Immer wieder werden in der frühen Geschichte Japans in Krisensituationen
Frauen in politische Funktionen berufen: Himiko, Jing_ K_g_, aber auch die Einsetzung der Kultprinzessin in Ise
durch Kaiser Tenmu ließe sich so verstehen. Das weibliche Selbstverständnis als Behüterin der Familie könnte auch
erklären, warum es nicht zuletzt Frauen waren, die maßgeblich zur Propagierung von Bestimmungen beitrugen, die
zu einer Unterordnung der Frau unter den Mann führten oder wenigstens, vorsichtiger formuliert, eine solche
beschleunigten: Weibliche Solidarität, wie wir sie heute verstehen, gab es dazumal ganz sicherlich nicht - eine
solche hat sich ja erst durch das Bewußtsein einer Unterdrückung durch Männer entwickelt. Die
Frauenunfreundlichkeit von Bestimmungen wäre demnach irrelevant gewesen, ausschlaggebend wäre vielmehr
gewesen, ob eine Bestimmung als günstig für die eigene Familie/ den eigenen Clan/ das Land angesehen wurde.
3. Die Veränderungen im 19. Jahrhundert
Die Auswirkungen Umbrüche der Meiji-Zeit auf Frauen sind sehr viel besser erforscht und auch besser bekannt
als jene der Taika- und Ritsury_-Zeit. Sie werden daher im folgenden auch nur angerissen, soweit es für die
Problemstellung dieses Referats notwendig ist.
3.1. Meiji-Reformen
Vor der Meiji-Restauration präsentierte sich Japan wiederum als Staat mit diffuser Machtstruktur. Starke
Territorialherren verfügten über weitgehende Lokalautonomie, aufgrund ihrer zwangsweisen langen Abwesenheit
bildeten sich allerdings so gut wie keine lokalen Machtzentren aus. Die Bevölkerung war in vier Stände getrennt,
deren Grenzen zwar nicht undurchlässig aber doch sehr klar ausgeprägt waren. An der Spitze der politischen Macht
stand der Shogun, der seine Legitimation vom Tenno bezog. Diese duale Machtstrukur war zwar potentiell instabil
und konnte aber solange existieren, als es der Zentralmacht gelang, die Herausbildung mächtiger Gruppierung zu
294
verhindern, die daraus Kapital zu schlagen konnten. Im März 1868 erließ der Tenno einen Fünf-Artikel-Erlaß,
der, wie bereits ausgeführt, dem Kaiserliche Reform-Erlaß von 646 vergleichbar ist. Hatten aber die Tenno der
Taika-Reformen noch eine tendenziöse Reichsgeschichte in Auftrag geben müssen, um sich historisch zu
legitimieren, so konnte Kaiser Mutsuhito auf ein wohldokumentiertes Staatsgebilde verweisen und sich auf die
representative, perhaps, of Hachiman, the priestess was carried to the temple on a purple-colored palanquin. The empress had
fifty monks pay homage to the Buddha image and chant sutras, an various dances were performed in honor of the Buddha and of
Hachiman. Empress K_ken then bestowed the highest court rank on Hachiman." (Matsumae 1993:357)
293
Inoue/Brown (1993:190)
294
Es wäre übrigens ein reizvoller Gedanke, daß sich diese in der japanischen Geschichte sehr übliche Struktur deshalb so
lange behaupten konnte, weil es in Japan seit alters her eine Trennung in weltliche und sakrale Führung gab: dem Tenno würde
in dieser Konstellation jene sakrale Führung zugeordnet, die früher Frauen innegehabt hatten.
staatliche Organisation der Taika-Reformen berufen.
Wie schon bei der Taika-Reform wurde die politische Macht in einer Hand vereinigt, dem Kaiser an der Spitze
standen zunächst, bis zur Verkündigung der Meiji-Verfassung 1889, Staatsorgane zur Seite, die jenen der Taih_Gesetzgebung nachgebildet waren. Regierungs- und Hofämter waren jenen der Nara-Zeit nachempfunden und die
Einheit von Shint_ und Staat wurde wie ehdem im Shingikan symbolisiert. Land und Leute wurden aus den Fesseln
einer feudalen Ordnung entlassen und nach dem Motto "öffentliches Land, öffentliche Bevölkerung" (k_chi
295
k_min ) wie schon nach der Taika-Reform reorganisiert. Neben der Einführung einer straffen politischen
Hierarchie, die bis in die Dörfer reichte, zeigt sich als weitere Parallele zur ritsury_-Zeit der Zugang zu politischen
Funktionen. Wiederum wurde der Zugang "demokratisiert", also weiteren Bevölkerungsgruppen zugänglich
gemacht und wiederum war das Volk, sogar noch strenger als im Altertum, auf den männlichen Teil beschränkt.
Waren seinerzeit der männlichen Aristokratie vorbehaltene Hof- und Regierungsämter geschaffen worden, für die
man sich durch Geburt oder persönliche Leistungen (Staatsprüfung nach Universitätsabschluß) qualifizierte, so sah
die neue Verfassung gewählte Institutionen und Regierungsämter vor. Frauen waren vom aktiven wie passiven
Wahlrecht ausgeschlossen, andererseits blieb ihnen auch der Zugang zu Universitäten und damit die erforderliche
Voraussetzung für höhere Beamtenposten verwehrt.
Wie schon bei den Taika-Reformen wurde auch die Familienorganisation einer Zentralisierung unterworfen. Das
Ständesystem wurde abgeschafft und das Volk wurde nach offizieller Darstellung zu einer einzigen großen Familie
stilisiert, an deren Spitze der Kaiser quasi als pater familias stand. Die Haushalts- und Familienorganisation der
bushi wurde nunmehr für die gesamte Bevölkerung verbindlich, sodaß die patriarchale Familie mit entsprechender
Benachteiligung der Frauen zur Norm wurde. Das Bürgerliche Gesetzbuch von 1898 schaffte die Stände ab und
organisierte die gesamte Bevölkerung einheitlich in Haushalten (ko) mit dem Haushaltsvorstand als zentraler Figur,
von dem ausgehend die anderen Mitglieder ihren Platz in der Familienhierarchie zugewiesen bekamen. Die direkten
Vorfahren und Nachkommen des Haushaltsvorstands standen über den kollateralen Verwandten und natürlich auch
über der (eingeheirateten = fremden) Ehefrau. Dem Haushaltsvorstand kam dabei (wie schon bei den TaikaReformen) die Aufgabe zu, als entferntester Arm der Regierung, quasi als Teil der Bürokratie, den Lebensunterhalt
der Familie zu sichern. Er war der gesetzmäßige Nachfolger und damit im exklusiven Besitz des
296
Familieneigentums. Frauen hatten sich dem Haushaltsvorstand unterzuordnen, nur der Mutter des Vorstands kam
aufgrund der Seniorität gewisser Einfluß zu.
Die Änderungen des Familienrechts waren einschneidend. Rechte und Pflichten der Haushaltsmitglieder wurden
ebenso detailliert festgelegt wie die Zugehörigkeit zu einem Haushalt oder Ehe-, Scheidungs- und Erbrecht. Die
Meiji-Regierung verfügte aber nicht nur über legislative Macht, sondern mit Massenmedien, einem zentralisierten
Schulsystem und der starken Hierarchisierung der politischen Instanzen auch über effektive Mittel zur Durchsetzung
297
der neu etablierten Normen. 1873 wurde die allgemeine Schulpflicht für Buben und Mädchen eingeführt , auf
Männer gab es über die allgemeine Wehrpflicht (1873) noch einen weiteren staatlichen Zugriff. 1872 wurde der
Inhalt des Strafgesetzes veröffentlicht und das japanische Volk erfuhr erstmals in seiner Geschichte vollen Wortlaut
298
eines seine Verhältnisse regelnden Gesetzes".
Gesetzestexte werden damit kritisierbar und veränderbar.
Landesweit einheitliche Gesetze und Rechtssprechung waren eine Neuerung, denn die Rechtsprechung der
299
Tokugawa-Zeit beruhte im wesentlichen auf dem Gewohnheitsrecht.
Nunmehr unterlagen alle Frauen den
zentralstaatlichen Normen, die das Verhältnis der Geschlechter regelten.
Die neue Meiji-Regierung leitete umfassende wirtschaftliche Reformen ein, um die wirtschaftliche Basis für ein
international wettbewerbsfähiges Land zu schaffen, die man kurz unter Schlagwort "Industrialisierung"
zusammenfassen könnte. Die durch staatliche Initiative eingeleitete Industrialisierung wurde von den Steuerabgaben
295
vgl. z.B. Niwa (1978)
Toshitani (1994:67-68)
297
Nolte/Hastings (1991:153)
298
Rahn (1990:81)
299
Rahn (1990:87)
296
122
der Bauern getragen. Die Schlüsselrolle kam der Textilindustrie mit ihren großteils weiblichen Arbeitskräften zu.
Die Anerkennung der existierenden Eigentumsverhältnisse hatte für den Großteil der Bauern zur Folge, daß sie
zunehmend nicht mehr ihr eigenes Land bewirtschaften konnten, sondern Land von größeren Grundbesitzern
pachten mußten. Steuern werden in Geld abgeliefert, womit bezahlte Arbeit bedeutsam wird. Eine Bewertung der
Leistungen erfolgt nach ihrem Umrechnungswert in Geld und in der Folge wird unbezahlte (unbezahlbare) Arbeit
wie die typisch weibliche Hausarbeit und Kindererziehung vom wirtschaftlichen Geschehen im engeren Sinn
abgekoppelt und auf eher symbolischen Wert eingeschränkt.
Sowohl die politische Zentralisierung als auch die Haushaltsstruktur wurden ethisch-religiös untermauert. Der
Kaiser galt als direkter Nachkomme der Sonnengöttin und als Vater der Nation, die über ihn Anteil an der
Göttlichkeit hatte. Gelang es daher, die Familien entlang der gewünschten ideologischen Linien zu indoktrinieren,
so war der Gehorsam gegenüber dem Kaiser und seinen Statthaltern nicht nur eine politische Angelegenheit,
sondern vielmehr ethisch-moralisches Gebot. Diese Kombination von Staats-Shint_, der den Kaiser nicht über alle
anderen Untertanen erhob, sondern ihn auch zum Angelpunkt für die Zugehörigkeit zur japanischen Nation machte,
und Konfuzianismus, der die die sozialen Beziehungen aller in diesem System befindlichen Personen regelte, erwies
sich als genialer Schachzug von weitestreichender Konsequenz. Im Staats-Shint_ wurde das "Götterkultamt" wieder
als Zentralorganisation ins Leben gerufen und auch ein Schutzschrein wurde wieder bestimmt, allerdings ohne
Berufung der traditionellen Kultprinzessin. Frauen wurden aus der Priesterschaft ausgeschlossen, was als
konsequente Folge der religionspolitischen Intentionen der Regierung angesehen werden kann, die irrationale
magische und sogar religiöse Elemente möglichst zu beseitigen versuchte und den Staats-Shint_ zu einer Institution
für staatliche Zeremonien erklärte. Es wurden also gerade diejenigen Elemente des Shint_ eliminiert, die
300
hauptsächlich von Frauen getragen und tradiert wurden. Andererseits wurden die konfuzianischen Tugenden, die
bis dahin hauptsächlich für die Frauen des Kriegerstandes verbindlich gewesen waren, nunmehr auf alle Frauen
übertragen. Da den Frauen im Buddhismus ebenfalls nur eine untergeordnete Rolle zukam, waren sie mit diesen
Reformen auch effektiv aus den überregionalen religiösen Gemeinschaften und Institutionen ausgeschlossen.
Der Einfluß von außen, von Europa, ist für Frauen ambivalenter als der chinesische bei den Taika-Reformen.
Einerseits richtete sich die Meiji-Regierung in ihrer Gesetzgebung, in der Form der Zentralisierung der Staatsgewalt
aber auch bei der Industrialisierung nach westlichen Vorbildern, andererseits brachte die Öffnung des Landes auch
Ideen einer Gleichwertigkeit der Frau, wie sie das Christentum formal und die westliche Frauenbewegung real
propagierte, nach Japan. Die Emanzipationsbestrebungen der japanischen Frauen nahmen unter anderem ihren
Anfang in den Mädchenschulen, die im Zuge der Reformen eingerichtet werden konnten.
3.2. Die Veränderung der Lebenswelten durch die Meiji-Reformen
Vor den Reformen unterschied sich die Situation der Frauen je nach Stand ganz erheblich. In der Kriegerschicht
waren Familien streng patriarchalisch organisiert, mit dem Mann als Oberhaupt und der Frau, die von klein auf die
konfuzianischen Gehorsamspflichten vermittelt bekam, in untergeordneter Position. Keuschheit war für Frauen von
lebenswichtiger Bedeutung, da der Mann es seiner Ehre schuldete, eine ehebrüchige Frau samt Liebhaber zu töten,
allerdings belegen zahlreiche Beispiele in Belletristik und autobiographischen Erzählungen, daß dieser Pflicht nicht
immer Rechnung getragen wurde. Eingeheiratete Frauen hatten kein Recht auf ihre Kinder: mußten sie wegen
Scheidung oder Tod des Ehemannes die Familie verlassen, so blieben die Kinder in der Familie des Vater zurück.
Demgegenüber gibt es für Bauern unterschiedliche Berichte über die Stellung der Frau in der Familie. Die Palette
reicht von Töchtern, die verkauft wurden, um das Überleben des Haushalts zu sichern, bis hin zu (temporären)
Haushaltsvorständen, die auch im Dorfrat präsent waren. Anders als für die der Spitze der Machthierarchie näheren
bushi, für die es landesweit ähnliche Standesvorschriften gab, kamen "im Volk" unterschiedliche regionale
Traditionen ebenso zum Tragen wie persönliche Umstände, die dank der relativ geringen Regelungsdichte
300
Okano (1976:63-65)
individuellere Lösungen erlaubten.
Auch nach den Reformen war die Frau ihrem Mann untergeordnet und die Schwiegereltern waren eine
gewichtige Autorität, die es in allen Bereichen zu respektieren galt. Die sexuellen Freiheiten des Mannes waren zu
tolerieren, während sie im umgekehrten Fall einen Scheidungsgrund darstellten. All das ist schon aus der Zeit vor
den Reformen bekannt, neu daran ist, daß es sich nun auf alle Schichten der Bevölkerung erstreckte: formal
aufgrund des Gesetzestextes, im Alltag nicht zuletzt durch die Schulpflicht, die eine effiziente Verbreitung der
neuen Normen erlaubte. Die Nischen, die sich Frauen aufgrund von Traditionen oder Persönlichkeit in der
zersplitterten Gesellschaft vor den Reformen schaffen konnten, wurden durch die politische und "moralische"
Zentralisierung beseitigt.
Die Sicherung des Lebensunterhalts hatte für den Kriegerstand theoretisch keine ihre Normen und ihr
Selbstverständnis betreffende Bedeutung, aber selbstverständlich eine eminente praktische. Abgesehen vielleicht
von den Frauen der Daimyo, die als Geiseln in Edo blieben und von den reichen bushi war der unmittelbare
wirtschaftliche Beitrag der Frauen in allen Ständen ähnlich unerläßlich. In der verarmten Kriegerklasse sicherten die
Frauen durch die Haushaltsführung und die Sorge für Nahrung und Bekleidung, oftmals durch direkte Produktion
301
(Gemüse aus Gartenwirtschaft, Spinnen, Weben und Instandhaltung von Kleidung), den Bestand des ie.
Bäuerinnen trugen durch die Feldarbeit und gegebenenfalls durch die Verarbeitung der Produkte ebenso wie die
Frauen der Kaufleute im Familienbetrieb zentral zum Lebensunterhalt und zur Bildung von Ersparnissen bei.
Nebenbeschäftigungen, die in Notzeiten das Überleben sichern sollten, fanden sich ebenfalls in allen Schichten. Ein
Unterschied besteht darin, daß in der Kriegerklasse Frauen (neben dem Lebensunterhalt als solchem) für einen
ideologischen Wert, den Fortbestand des ie, an den die hauptsächlichen Einnahmen in Form eines Reisstipendiums
gebunden sind, arbeiteten, während in bäuerlichen Betrieben und in den Geschäften der Kaufleute der erzielte
Mehrwert unmittelbar greifbar und teilbar, damit auch vererbbar war. Die größere Nähe zu den Produktionsmitteln
erlaubte eine potentiell stärkere Kontrolle über die eigenen Existenzbedingungen.
Die wirtschaftlichen Veränderungen infolge der Reformen brachten teilweise gravierende Veränderungen des
täglichen Lebens und des gesellschaftlichen Verständnisses der respektiven Rollenverteilung im Arbeitsleben mit
sich. Für die Masse der Bevölkerung, die Bauern, änderte sich, was den Lebensunterhalt betraf, nicht viel. Sie
wurden weiterhin mit Steuern schwer belastet, ihre Arbeit blieb im wesentlichen gleich. Nachhaltige Änderungen
ergaben sich für die in der Verwaltung und in den neu entstehenden Industrien tätigen Menschen. In der Verwaltung
wurden Ämter nicht mehr vererbt, sondern an Leistungen und die Erfüllung formaler Voraussetzungen gebunden.
Damit wurde die Entlohnung an Personen gebunden und nicht mehr wie bisher an Familien. Die Reisstipendien der
bushi konnten gekürzt oder ausgesetzt werden, wenn Ereignisse in der Familie nicht den hohen Standards
entsprachen, zu denen dieser Stand verpflichtget wurde. Frauen hatten also durch ihre Haushaltsführung eine
verantwortliche Rolle für das Familieneinkommen. Das änderte sich. Gehaltsempfänger waren nach den Reformen
die Männer, die per Gesetz verpflichtet wurden, für den Lebensunterhalt der Familien aufzukommen, diesen
Lebensunterhalt nun aber eigenständig und alleinverantwortlich verdienten. Die Haushaltsführung durch Frauen
wurde einerseits zur privaten, wenngleich unersetzlichen, Dienstleistung an die Haushaltsmitglieder, andererseits
zum moralisch verpflichtenden Dienst für den Staat.
Besonders nachteilig bekamen die Arbeiterinnen in der Textilindustrie das neue Konzept der geschlechtlichen
Arbeitsteilung zu spüren. Die Produktion von Textilien war immer schon in weiblichen Händen gelegen, auch vor
den Reformen waren Frauen an den Spinnrädern und Webstühlen gesessen. Diese Arbeit, die ehemals für die
Familie (für den Eigenbedarf) oder als quasi selbständige Tätigkeit zur Sicherung oder Aufbesserung des
Lebensunterhalts verrichtet worden war, wurde nun "verstaatlicht" und in den Dienst der Industrialisierung gestellt.
Aus einer selbstbestimmten Arbeit entstand eine schlecht bezahlte Fabriksarbeit unter schlechtesten
Arbeitsbedingungen, auf die die Arbeiterinnen selbst keinen Einfluß mehr hatten. Die Arbeiterinnen hatten nicht die
Pflicht, einen Haushalt zu erhalten, weshalb der Lohn entsprechend gering ausfallen konnte. Die Arbeit in den neuen
301
vgl. z.B. Yamakawa (1992)
124
Fabriken könnte man vielmehr als befristeten "Arbeitsdienst" vor dem eigentlichen Beitrag zum gesellschaftlichen
Ganzen, nämlich der verantwortlichen Haushaltsführung, der Pflege von Alten, Jungen und Kranken und der
302
Erziehung der Kinder, ansehen.
Allerdings darf nicht übersehen werden, daß Frauen aufgrund der zunehmenden Trennung von Familie und
Produktionseinheit in die Lage versetzt wurden, eine der beschränkten Möglichkeiten zu weiblicher Erwerbsarbeit
wahrzunehmen und ein Leben unabhängig von der Familie und ihrer rigorosen Reglementierung der Beziehungen
ihrer Mitglieder zu führen oder es wenigstens zu versuchen.
Woran sich zunächst wenig änderte, war der Zugang zur institutionalisierten Macht, von dem Frauen während
der Tokugawa-Zeit prinzipiell ausgeschlossen waren, sieht man von der lokalen Ebene ab, wo sie mitunter formelles
Mitspracherecht in den politischen Gremien genossen. Das bedeutete aber nicht, daß sie überhaupt keinen Einfluß
geltend machen konnten. Heiratspolitik, also Anknüpfung oder Festigung von besonderen Beziehungen zwischen
zwei Familien zwecks Ausbau oder Stabilisierung politisch-wirtschaftlicher Interessen, bedurfte immer auch eines
weiblichen Heiratspartners. Als Ehefrauen einflußreicher Männer waren sie Machtinstrumente mit unsicherem und
nicht vorgesehenem Eigenleben. Je weiter oben sie sich in der Machthierarchie befanden, desto mehr Einfluß konnte
sie einerseits aufgrund persönlicher Konstellationen ausüben, desto stärker war aber andererseits ihre formelle
Partizipation an der Macht beschnitten. Auf lokaler Ebene war die Kontrollmöglichkeit des Staates gering, sodaß
die Herausbildung von Gewohnheiten, die Frauen weniger stark beschränkten, durchaus möglich war.
Charakteristisch ist aber insgesamt eine starke Fremdbestimmung, die durch schlecht vorhersehbare Öffnungen für
eigenständige Mitbestimmung gemildert wurde.
Die Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen wurden den Frauen zunächst auch nach den Reformen
verwehrt und auch politischen Organisationen durften sie vorgeblich wegen der Gefährdung ihrer Person oder
wegen ihrer Gefährlichkeit nicht beitreten. Als wichtigsten Grund führen Nolte/Hastings an, daß der Staat Frauen
quasi als Beamte ansah, deren Aufgabenbereich so wichtig war, daß eine Beteiligung an politischen Auseinanderset303
zungen unangemessen war. Den Frauen wurde nunmehr auf allen Ebenen das Mitspracherecht entzogen und sie
mußten mit den Regelungen leben, die Männer auch für sie aufstellten. Die gesetzlichen Bestimmungen galten
ausnahmslos, sodaß im Unterschied zu früher auch die der Machtspitze fernsten Kreise von ihnen erfaßt wurden.
Gleichzeitig war mit der allgemeinen Schulbildung und der unterschiedslosen formalen Benachteiligung der
Frauen auch die Saat für weibliche Solidarisierung und Proteste gelegt. Das neue Idealbild der Frau vereinte zwar
die Kardinaltugenden der verschiedenen Stände: Bescheidenheit, Tapferkeit, Genügsamkeit, Belesenheit,
Arbeitsamkeit und Produktivität, und die Meiji-Regierung verfügte im Unterschied zu ihren Vorgängern auch über
304
die entsprechenden Mittel, diese Geschlechterasymetrie durchzusetzen , doch waren den Frauen nicht zuletzt
durch die Möglichkeit eines Vergleichs mit dem Ausland auch die Mittel gegeben, sich von diesem Idealbild zu
distanzieren.
4. Diskussion
Ich möchte nun abschließend die Resultate der vorliegenden Arbeit kurz in Hinblick auf die Ergebnisse, die sich
unter Anwendung dieses Rahmens ergaben, und auf den eingangs vorgestellten theoretischen Rahmen erörtern.
4.1. Ergebnisse
Die Reaktion auf Umwälzungen, wie sie bei den Taika- und Meiji-Reformen auftraten, kann unterschiedlich
sein, doch diffundieren die "neuen" Normen allmählich ins Allgemeinbewußtsein und bilden neues Alltagsverständnis, eine neue Lebenswelt.
302
vgl. Nolte/Hastings (1991:152)
Nolte/Hastings (1991:157)
304
vgl. Nolte/Hastings (1991:153, 172)
303
Zentralisierung bedeutet die Anstrengung, eine eingipfelige Machtpyramide zu etablieren, der sich alle anderen
Hierarchieebenen unterzuordnen haben. Bei der Taika-Reform lag das Augenmerk auf der Unterordnung der
lokalen Machthaber, um die verschiedenen Herrschaftsgebiete unter einer starken Zentralmacht zu vereinigen.
Abweichende Lebensformen blieben möglich und konnten nach dem baldigen Zerfall der zentralen Gewalt wieder
Aufschwung nehmen. Bei der Meiji-Restauration hingegen handelte es sich nach offizieller zeitgenössischer
Interpretation um eine Wiedereinsetzung des Tenno als Zentralmacht und die lokale Autonomie konnte als
unrechtmäßige Abweichung vom Normzustand gebrandmarkt werden. Zentralisierung bedeutete eher, daß die
Bevölkerung zu den Zielen der (neuen) Zentralmacht mobilisiert werden sollte. Die neuen Vorschriften und Gesetze
griffen sehr viel tiefer in das Leben der Bevölkerung ein und waren explizit darauf angelegt, unerwünschte
Traditionen zu zerstören. Abweichende Lebensformen wurden kaum mehr toleriert. Andererseits konnte aber gerade
diese Zentralisierung von Frauen zur Veränderung ihrer Situation instrumentalisiert werden, wenn es gelang, eine
Verbesserung der Situation der Frau von der Spitze der Hierarchie ausgehend zu erreichen.
Ähnlich verhält es sich mit der Kodifizierung. Im 7. und 8. Jahrhundert wurden erstmals schriftliche Gesetze
erlassen, Normen also für alle verbindlich und allgemeingültig gemacht. Gegenüber mündlichen Überlieferungen
hieß das, daß bei Bedarf auf sie rekurriert werden konnte (und bei den Meiji-Reformen auch wurde). Historische
Veränderungen und Weiterentwicklungen können ignoriert werden und eventuelle Uminterpretation jederzeit
rückgängig gemacht werden. Dies ist bei mündlichen Überlieferungen meist nicht mehr möglich, da ihr Ursprung
selten noch zweifelsfrei erschließbar ist. Die Gesetze der Taika-Reformen hatten nachhaltige Auswirkungen,
wenngleich nur allmählich und durch die mangelnde Durchsetzungskraft des Staates gemildert. Umgekehrt verfügte
die Meiji-Regierung über effektive Durchsetzungsinstrumente, doch waren Gesetze nach den neuen
staatspolitischen Vorstellungen durch gewählte Volksvertreter veränderbar. Frauen konnten also ihren Einfluß
geltend machen und Gesetze zu ihren Gunsten verändern. In den ersten Jahrzehnten nach den Meiji-Reformen
richteten sich Zentralisierung und Kodifizierung gegen die Frauen, doch wurde ihnen damit sowohl ein Motiv für
gemeinsames Vorgehen als auch ein Mittel, die Situation "der Frau" zu verändern, in die Hand gegeben.
Durch das Bemühen, Steuereinnahmen zu sichern, kommt es zu massiven Veränderungen der wirtschaftlichen
Verhältnisse. In der Anpassung der Bevölkerung an die Bedürfnisse des Staates kam es nach den Taika-Reformen
zu schwerwiegenden Folgen für Frauen und Männer, da der Eingriff in traditionelle Produktionsformen zu
"Arbeitslosigkeit" und wirtschaftlicher Unsicherheit führte. Die Auswirkungen der Industrialisierung auf den Status
der Frau sind einer Dissertation von Kusano zufolge nicht eindeutig. Ich würde zwar die möglichen Vorteile, die
Kusano in seiner Arbeit anführt, aus historischer Perspektive eher als ein Rückerobern verlorenen Terrains ansehen:
Entwicklung und Verbesserung von Ausrüstungen oder Einrichtungen, die Haushaltsarbeit und andere traditionell
weibliche Tätigkeiten erleichtern, breiterer Zugang zu Berufstätigkeiten, soziale Anerkennung ihrer allgemeinen
Fähigkeit und Wichtigkeit als wesentliche Mitarbeiter (contributors) am Arbeitsmarkt; sowie damit in
Zusammenhang stehende gesetzliche Änderungen, die den Status der Frau verbessern, wie Wahlrecht,
305
Eigentumsrechte, Staatsbürgerschaft oder Zugang zu öffentlichen Ämtern.
Beide Reformen standen auch unter dem Ziel eines "Aufholens mit dem Ausland". Während der TaikaReformen wurden vor allem Konfuzianismus, Buddhismus und der Beamtenstaat nach chinesischem Muster
"importiert". Der Status der Frauen war in China zu dieser Zeit sicher niedriger und sie genossen weniger Rechte als
in Japan. Der westliche Einfluß nach der Meiji-Restauration brachte westlich-aufklärerisches und christliches
Gedankengut, das ich in summa eher als positiv ansehen würde, während sich die Industrialisierung aus meiner
subjektiven Sicht eher negativ auswirkte.
Es bleibt die religiös-philosophische Legitimierung der neuen Ordnungen. Die politische Führung strukturierte
beide Male den religiösen Bereich um, sodaß sie ihn sich dienstbar machen konnte. Dabei wurden jene Elemente an
den Rand gedrängt oder eliminiert, die in erster Linie durch Frauen repräsentiert wurden. Die Entdifferenzierung
von Politik und Religion und besonders jene dieser beiden "Subsysteme" von der Familien- und Clanorganisation
305
Kusano (1973:209-211)
126
trug wesentlich dazu bei, daß Frauen im "öffentlichen" Leben an Einfluß verloren. Politik und Religion, die vormals
in einer Familie oder Person vereinigt waren, trennen sich und etablieren sich gleichzeitig als gegenseitiges
Legitimierungssystem. Magisch-kultische Elemente, die primär von Frauen wahrgenommen wurden, wurden
ausgegrenzt und zur "Volksreligion" degradiert. Dies gilt auch für die Veränderungen im 19. Jahrhundert.
Die Verdrängung der Frauen erfolgte insbesondere durch ihren Ausschluß aus neugeschaffenen beziehungsweise
umdefinierten Institutionen (Ämter), die zentrale Bedeutung erlangten. Etwas stutzig gemacht hat mich, daß sich
eine wunderbare Linie von der Frühgeschichte bis zur Gegenwart ziehen läßt, was die Verbindung Frau und
Familie, betrifft. Ich habe angedeutet, daß Frauen primär für die Familie verantwortlich waren und in diesem Sinne
auch zumindest in der Frühgeschichte religiös und politisch aktiv waren. Ohne genauere Forschungen möchte ich
diese Zuschreibung mit Vorsicht betrachten, doch könnte es durchaus sein, daß sich die untergeordnete Stellung der
Frau aus einer Verlagerung der Entscheidungszentren von der Familie hin zu immer abstrakteren Institutionen
ergeben hat. Die Entmachtung der Frau in der Familie war nie so vollkommen, wie sie es den herrschenden Normen
zufolge zeit- und schichtweise hätte sein sollen, was möglicherweise daher rührt, daß Frauen nie aufgehört haben,
die Familie als ihr ureigenstes Wirkungsgebiet anzusehen, für das sie sich auch primär verantwortlich fühlten.
4.2. Brauchbarkeit des vorgestellten theoretischen Rahmens
Der Ansatz, prinzipiell wiederholbare Charakteristika (Zentralisierung, Kodifizierung, Sicherung der
Steuereinnahmen, spirituelle (religiös-philosophische) Legitimierung, Einfluß, besser: Druck von außen) von
umwälzenden Reformen zu konstatieren und ihre Auswirkungen auf Frauen zu untersuchen, hat sich nach meiner
Ansicht bei einem ersten Versuch als brauchbar erwiesen. Die etablierten Prinzipien finden historisch zu allen
Zeiten Anwendung und für Frauen ist aus dieser Perspektive jedenfalls größte Vorsicht angesagt, wenn ihre gezielte
Umsetzung wieder einmal in größerem Ausmaß auf dem Programm stehen sollte. Um ein Beispiel zu nennen: Die
Organisation des Volkes in (streng) patriarchalischen Haushalten durch beide Reformen war wohl nicht als
Instrument der Unterdrückung der Frauen konzipiert, sondern sollte im Zuge der Zentralisierung der Macht der
religiös-philosophischen Legitimierung der Herrschaft nach konfuzianischem Muster und der leichteren Verwaltung
des in dieser Weise indoktrinierten Volkes dienen. Dennoch entwickelte sie sich zu einem gewichtigen Faktor der
Diskriminierung der Frauen.
Die Einteilung der Lebenswelten in (1) Traditionen und normative Vorstellungen zum Geschlechterverhältnis,
insbesondere in ihrer religiös-ethischer Fundierung, (2) Verwandtschaftsorganisation, politische und wirtschaftliche
Partizipation und (3) Geschlechtsidentität erwies als durchaus brauchbar, doch müßten die verschiedenen Bereiche
viel besser ausgearbeitet werden, als es in diesem ersten Versuch möglich war. Die Veränderungen in den
Lebenswelten, die sich durch Reformen im "System"-Bereich ergaben, müßten vor allem in Hinblick auf ihre
zeitliche Dimension betrachtet werden: kommt es gleichzeitig zu Veränderungen in allen Lebenswelten, oder bedarf
es vielleicht geänderter Traditionen und gesellschaftlicher Selbstverständlichkeiten, um die "Geschlechtsidentität"
zu wandeln?
Was den Begriff "Modernisierung" betrifft, so fände ich es durchaus einen Versuch wert, die Taika-Reformen
unter diesem Aspekt zu untersuchen: man würde möglicherweise feststellen, daß sich dieses Konzept durchaus
anwenden läßt. Ich denke, daß man eine "zunehmende funktionale Differenzierung sozialer Systeme", mit der
306
Habermas und Luhmann Modernisierung gleichsetzen, feststellen kann. Ebenso lassen sich die Anfänge einer Rationalisierung und "Entzauberung der Welt" durchaus argumentieren: die starke Reduzierung magisch-kultischer
Aspekte aus der einheimischen Religion spricht dafür, "daß es prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren
Mächte gebe, die da hineinspielen" und daß die herrschende Schicht des Ritsury_-Staates "nicht mehr, wie der
Wilde, für den es solche Mächte gab, [...] zu magischen Mitteln greifen [mußte], um die Geister zu beherrschen oder
306
Wehling (1992:73)
307
zu erbitten". Wenn die Modernisierungstheorien seit Beginn der achziger Jahre abstrahieren, um unter anderen
308
dem Vorwurf des Ethnozentrismus zu begegnen, so müßte das höhere Abstraktionsniveau aber nicht nur eine
räumliche, sondern auch eine zeitliche Ausweitung ermöglichen.
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3. Women and Sexism in Japanese Buddhism
Aiko _goshi
1. Introduction
Japan is the country with the world's second largest Gross National Product and is considered to be an
economically large country. But we must say that equality between men and women has not materialized yet in
Japan. Discrimination against women is continuing not only in social systems but also in the consciousness of the
people. Many Japanese still think the sexual division of labor is based on the natural system of traditional Japan and
the most important role af women is to marry and bear children.
Furthermore, Japan is the country where there is a high rate of prostitution and in this sphere is often said to be a
paradise for men. The Prostitution Prevention Law has not been in effect since it was passed in the parliament. The
prostitution problems are not considered as serious social problems because they think the prostitution system is
necessary for the fulfillment of men's sexual desires. It is very difficult for our feminists to start any campaigns
against the public approval of prostitution.
The sexist view of women that regards women as mothers or prostitutes remains even today in Japan. In order to
establish the equal partnerships between men and women prerequisite to the real modernization of Japan, we must
overcome the sexist view of women which is considered to have originated from Japanese Buddhism. Therefore in
this paper, I intend to elucidate the sexist tradition of Japanese Buddhism, which has still a great influence in every
aspect even in contemporary Japan.
2. The theme of women and sexism in religions
The theme of women and sexism in religion is one that is attracting a great deal of attention in Christian circles
these days. This upsurge af interest is attributable to the climate of growing awareness among Western intellectuals
that women have long been isolated from the mainstream of intellectual history as represented by Christianity. In
contrast, the world af Japanese Buddhism shows little active awareness of this theme as a problem demanding
consideration This does not mean that there has been no oppression of women in Buddhism. Women, in fact, have
been discriminated against as the concept of the five obstacles and three obediences (gosh_ sanj_
4)
exemplifies.
The concept of the five obstacles as articulated by male Buddhist priests around the first century B.C.E. states
that women are not to be thought as; (1) Brahma, the Creator and hence most superior deity; (2) Sakra Deranam
Indra, the chief guardian deity of Buddhism; (3) Mãra, the devil who injures lives and peoples's good will; (4) the
kings of the four states - East, West, South and North, or the kings of gold, silver, copper and iron; nor (5) Buddha.
This concept has been interpreted as the five-fold theory hindering women's salvation in Buddhism. The three
obediences originated in the Brahmanic thought of ancient India where women were taught to obey three groups of
men. As a child, a woman was to obey her father. When she married, she had to obey her husband. If widowed, she
must obey her son. From this standpoint, women could never be independent or exercise independence. This
teaching was later assimilated into Mahayana Buddhism. The gosh_ sanj_ was introduced into Japan along with
other important Buddhist thought and used to discriminate against women in many ways.
Many Buddhist priests and scholars have ignored these issues and contended, that there is no gender
discrimination in Buddhism because from the standpoint of emptiness (sanyata 5) there is no distinction between
men and women. These same religious figures have also preached that, from the standpoint of affirming the
manifold characteristics of human beings just as they are, enlightenment makes allowances for every man and
130
woman.
The preaching of male religious figures notwithstanding, there has been a long history of discrimination against
women in the Japanese Buddhist world. For example, women were strictly barred from entering the sacred precincts
of Buddhist temples. Moreover, the sexist teachings of many famous and respected Buddhist figures led religious
women to accept obediences to men and a maledominated society. Among these figures, I view Shinran's
responsibility as the greatest. Shinran is one af the most popular figures in Japanese Buddhism and the founder of
Shin Buddhism (J_do Shinsh_). His teachings have had enormous influence not only on religious people but also
secular people in Japan. Here I hope to elucidate his view of women and its sexist structure.
3. The view of women in Pure Land Buddhism
In order to understand Shinran's view clearly, I think it is necessary to consider the view of women held by the
Pure Land sect of Buddhism which Shinran followed and later developed in his own way. According to the
teachings af Pure Land Buddhism, Amida Buddha, the main Buddha of the sect, was the enlightened manifestation
of Dharmakara who had set himself the twin tasks of reaching Buddhahood and building the ideal Buddhist state,
the Pure Land. He established forty eight vows for this purpose. These vows are to lead all human beings to the true,
fulfilled land. Dharmakara Bodhisattiva pursued and accomplished all these vows and thus became Amida Buddha.
Long ages have passed since that time, but all beings are to be taught about the Pure Land in which all people are
equal and experience no pain.
Amida faith spread most quickly among people living on the lowest rungs of society. It also spread among
women who were, until then, excluded from salvation by the other streams of Buddhism. The thirty-fifth of Amida
Buddha's vows is directly concerned with women's realization of enlightenment. The vow reads:
When I have attained enlightenment, all the females of the unfathomable and wonderful Buddha countries of the
ten quarters, on hearing my name, shall awake in joy, obtain faith, and rejoice, thereby aspiring to enlightenment
and despising the female form. If they beget again the female form in their after-life, may I never obtain the
309
Highest Perfect Knowledge.
In light of this vow, any woman determined to reach enlightenment must first receive a male body and only then
be able to enter the Pure Land of Amida Buddha. This is a typical indication of changing one's sex for salvation
6). It has long been held that women's salvation became possible thanks to Amida's merciful
(henj_ nanshi
vow, and that Pure Land Buddhism best supports women's religious belief and practice.
From a feminist viewpoint, such thinking is another form of sexism. The teaching that women can reach
enlightenment only by despising their female bodies and aspiring to male bodies implies that a woman's body is
impure and sinful. In other words, being a woman is the worst and unhappiest state in this world.
In the period that Pure Land Buddhism spread among the Japanese masses, women were severly discriminated
against in the patriarchal society of the day and had no other option but to accept an androcentric religion. Women
supported the Amida faith and dreamed of rebirth in the Pure Land where there was no sufferings and pain. Ín this
fashion, some af the most anti-female teachings were supported by women who were willingly deceived into slavery
by the power of this new belief.
309
Anuttara-samyaka-sambodhi. Mury_ju-ky_, Thirty-fifth Vow
Fehler! Nur Hauptdokument.
4. The situation of women in Japanese Buddhism
Buddhism came to Japan in the sixth century. One chief characteristic of Buddhism adopted by the Japanese
government was its devotion to national security and ancestor worship. Buddhism was accepted as the de facto state
religion after its introduction to the country. Its main task was to conduct rituals and offer prayers for an easy
childbirth, purification after birth and good health. Thus, what began as a teaching of how to achieve enlightenment
in India soon found itself relegated to the salvation of the souls of the dead and funeral rites.
In the thirteenth century, a Buddhist reformation came about through the appearance and teaching of a number
of important figures. Among them were the Pure Land master, H_nen (1132-1212) and his disciple, Shinran (11731262). They endeavored to make Buddhist practice easier so that the masses could reach salvation. According to
their teaching, one could achieve birth in the Pure Land merely by chanting the name: "Namu Amida Butsu". This
simple formula of faith has been cherished and handed down by the poor from generation and generation.
Shinran's contribution to Pure Land teaching is distinct from H_nen's in that he emphasizes faith rather than
works to attain birth in the Pure Land. According to Shinran, people on the fringe of society - the poor, social
outcasts and those branded as public sinners by virture of their occupation - could be saved and led to the Pure Land
by their faith in the unfathomable compassion of Amida, even if they had violated Buddhist precepts and ignored
Buddhist works. Since Shinran singled out the discriminated people of his day to preach to, he has been deeply
esteemed as the great Buddhist figure who associated with the poor and identified with them. It is true that he was a
great Buddhist in this regard, but as far as women are concerned, he was not free from the androcentric and
phallocentric thinking of his time.
Shinran was born in Kyoto in 1173. He underwent the rigorous religious trainings required of a Buddhist monk
at the flourishing Tendai monastery on the Mount Hiei. At the age of twenty-nine, circumstances led him to decend
the holy mountain and return to the common people among whom he preached. According to letters written by his
wife, Eshinni, Shinran went down from Mount Hiei and shut himself up at Rokkakudo in Kyoto. He remained
enclosed there for one hundred days and meditated on the direction of his life. At dawn on the ninety-fifth day, he
had a dream and decided to remain down from the mountain in order to live with the common people and practice
the teachings of Pure Land Buddhism. The dream oracle which Shinran received from Kannon, the Bodhisattiva of
Mercy (Avalokitesvara), was as follows:
When the devotee finds himself bound by his past karma to come into contact with the female sex, I will
incarnate myself as a beautiful woman and become the object of his love. Throughout his life I will be his
helpmate for the sake of embellishing this world, and on his death I will become his guide to the Land of
310
Bliss.
7; nyo meaning "woman" and bon meaning "to
This dream oracle is well-known as that of Nyobon
violate". The dream thus refers to having sexual relations with a woman which in the Buddhist tradition of the day
was a breaking of the precepts. Originally, there were five precepts in Buddhism: no killing, no stealing, no adultery,
no lying and no drinking of alcoholic beverages. Buddhist followers, especially the bhiksu (monk) and bhiksuni
(nun), were required to follow these precepts. However it was very difficult for Japanese monks to observe these
precepts.
When Buddhism was introduced into Japan, it was established with strict monastic discipline. Monks were
required to live a celibate life with all sexual relations prohibited. Over time, however, many monks married in
secret and had children. It is not clear why these monks violated the precept of celibacy, but several reasons have
been suggested. Buddhism's necessary coexistence with Shinto is one of the reasons offered.
Indigenous to Japan, Shinto is an ancient religion. According to Shinto myth, the Japanese islands were created
by the female deity, Izanami, and the male deity, Izanagi. In ancient Japan, women were recognized as being
8 and
invested with divine power, as reflected in the myth of Amaterasu, the Sun Goddess. Both the Kojiki
310
Daisetsu Suzuki (trans.): Collected Writings on Shin Buddhism, 1973, p.170.
132
the Nihonshoki
9, the first historical chronicles of Japan, indicate that ancient Japan was a matrilineal
society and during the early historical periods, there were a number of reigns of empresses.
Poetry written prior to the eighth century (the Many_sh_
10 for example), reflects a liberal attitude of
women with regard to sexual matters. It was not a rare occurrence for women to take the initiative in love. Under
such circumstances, it may have been difficult for Buddhist monks to observe celebacy. Over the course of time,
women came to be regarded as defiled beings and censured as temptresses by Buddhist leaders. In the Heian era
(794-1185), esoteric Buddhism was introduced to Japan and sutras which contained the sexist concept of the five
obstacles and three obediences became popular. The sin of women was emphasized and women's sexual power,
regarded as divine in the past, began to be reviled. It was during this period that women were prohibited from
entering those precincts set aside for religious practices necessary for the attainment of Buddhahood. Many
Buddhist monks, however, did not stop their sexual relations with women. They continued to practice nyobon. With
the loss of divine status attributed to sexual power, women became merely the objects of male sexual desire and
excluded from salvation because they were born women.
In the Kamakura era (1185-1382), new religious leaders appeared who preached that salvation for women was
possible. Among them are H_nen and Shinran. H_nen presented several views of the possibility of salvation for
women, but his views of women in general were little different from those prevailing at the time. He held that women were inherently endowed with serious sins such as the five obstacles. Although Shinran's view was not
fundamentally different from that of H_nen, he was far more deeply affected by conflict over the issue. He
confronted his own sexual desires. The famous dream oracle he received reflects this struggle with his own
sexuality.
5. Shinran's view of women: the image of Kannon Bosatsu
According to Shinran, Kannon Bosatsu (Avalokitesvara) appeared to him in a dream and told him that if he were
to break the precept of celibacy, the woman he so violated would in truth be a manifestation of Kannon. In Shinran's
view, the oracle indicated that his sexual relations with a woman could be interpreted as finding Buddha in a female
body. Against the background of a violation of the precepts and an increasingly guilty conscience, Shinran saw
Buddha's salvation leading him to the Pure Land. With this confidence in the salvation of Buddha, he decided to
marry openly. On the surface, this seems to be a very moving religious story. As a result of Shinran's teaching,
women were upgraded from being the objects of sexual desire to the status of Kannon Bosatsu who would save men
in accepting their sexual desire. Because of this, it has been said that the idea of equal partnership and equal
possibility for salvation were introduced into Japan by a most revered religious figure. However, is this really the
case?
Just as some Christian feminists hold that Eve and Mary are female models created by men, I would hold that
whether as a temptress or as Kannon the image of woman is that which men want it to be. Implicit in Shinran's
teaching is the idea that if women do not want to be considered as a temptress and excluded from salvation, they had
to become like Kannon in being willing to accept male sexual desire. This would save them. Looked at from this
perspective, Shinran's dream insight is a rather androcentric idea.
Shinran's view of Kannon Bosatsu was not an orthodox one within the Buddhist tradition. Avalokitesvara was a
male bodhisattiva in India, but in China the bodhisattiva underwent a sexual transformation and emerged as a
beautiful, white-robed female figure, Kuan-yin. Although viewed as a woman, Kuan-yin was worshiped as the
possessor of a magical power that could grant the wishes of her worshipers. Chinese women saw Kuan-yin as the
symbol of liberation from the patriarchal system of their society because she could liberate women from many kinds
of sufferings.
However, during her assimilation into Japanese culture, Kuan-yin underwent another kind of transformation. She
became the Japanese deity Kannon Bosatsu who symbolized the compassion of motherhood. In this guise, Kannon
was very popular among all kinds of people, regardless of sex or class. Kannon was thought to manifest herself in
whatever form was effective to save all beings in distress.
While the image of Kannon was presented as feminine and maternal, it had never been presented as sexual. In
Shinran's dream, however, while the maternal image of Kannon is reflected in her willingness to sacrifice herself for
him, it is also sexual in that she is willfng to become the object of his desire. In Shinran's dream, Kannon has
undergone a fourth transformation. She manifests herself as a beautiful, sexually desirable woman who will save
men from their sexual desires.
This transformation of Kannon from the sacred goddess to the sexual woman reflects Shinran's actual view of
woman. He desired maternal women who would embrace men as a child and at the same time, he wanted desirable
women to satisfy men's sexual need. In Shinran's time, women were willing to accept this image of themselves
because it granted them the possibility of salvation. Women who sacrificed themselves could be considered as the
incarnation of Kannon Bosatsu even though they were sinful and impure.
This paradoxical teaching that the most sinful and defiled beings could be saved through the compassion of Amida
Buddha was unique to Shinran. Shinran taught that "all sins of the past, present and the future are changed to good.
311
To be changed does not mean the sin is erased." In other words, women's sins were changed to good because of
Other Power (tariki
11 ), but their sins were never erased. Aware of their own sins, women should sacrifice
themselves for men and then they could find salvation.
Shinran, one of the greatest Japanese Buddhist figures, idealized the relationship between men who require
maternal and sexual love and women who sacrifice themselves to this need. Because the influence of Shinran's
teaching was great and his ideas reflected secret wishes of Japanese men, this kind of male-female relationship
became internalized by people as the best one. From the psychological point of view, this kind of male-female
relationship resembles the mother-son relationship, so it was never criticized as sexist. It has often been said that
women are superior to men in Japanese Buddhism because men cannot live without women. This is very deceptive.
Women are still required to observe the three obediences: obedience to father when young, to husband when
married, and to son when widowed. Since women were required to obey, support and take care of men, men became
psychologically dependent on women.
The original teaching of Sãkyamuni led to a very ascetical religion which required its disciples to train
themselves and observe strict precepts in order to attain Buddhahood. After assimilation into Japanese society, it
was transformed so radically that it produced a unique Buddhist culture that makes much of an interdependent
relationship based on maternal sacrifice. It is generally held that the concept of the dominance of men over women
(dansonjohi
12) came from Confucianism. I think, however, that the Buddhist teaching of the five
obstacles and three obediences has had a far greater influence on Japanese men and women. Confucianism may
have been preeminent in public life, but it was Buddhism that controlled and influenced the collective consciousness
of the Japanese people.
6. Motherhood
The image af motherhood in Japanese Buddhism is very different from that found in Christianity. Just as
Christian feminist theologians discuss the oppressive aspects of motherhood in Christianity, Buddhist feminists must
discuss the problematic aspects of motherhood in Buddhism. A comparative study of the Virgin Mary and Kannon
Bosatsu would highlight the understanding of motherhood found in East and West.
The sexuality of the sacred mother is an important topic that needs to be addressed. In Christianity, the sexuality
of the sacred mother was hidden and ignored, and Mary was worshiped as the symbol of virginity. As a result,
women in Christian societies were deprived of their virginity, not for themselves, but for the men who would
eventually possess them. In the Buddhist world, on the other hand, women were basically regarded as sexual beings.
Nonetheless, encouraged by their Buddhist beliefs, women could not help hoping for a transformation of gender
311
Tannisho (Notes Lamenting Differences), Ryukoku Translation Series, vol.2, 1642, pp.15-16.
134
after death in order to achieve salvation. As long as women lived as women, they were forced to submit to fate.
In Japanese Buddhism, motherhood is often combined with sexuality as symbolized by Kannon Bosatsu.
Women were taught that they were in themselves sinful and impure, but they could be saved by becoming sacred
mothers who dedicated their sexuality to men. In Japanese Buddhist tradition, courtesans who offered sexual
pleasure to men were often regarded as the incarnation of Kannon Bosatsu. Stories of the transformation of
courtesans into Kannon were often transmitted in folklore or dramatized in Noh plays and became popular among
the people. Against this background, it was very difficult for women to refuse male sexual requests. In this world
view, women who did not accept the sexual desires of men could not become the sacred mather, Kannon Bosatsu.
In the Christian tradition, there has been a distinction between woman the sexual object, symbolized by Eve, and
the woman the mother, symbolized by Mary. Consequently, the sacred mother could be divorced from the sexual
object and respected spiritually. In Japanese Buddhism, on the other hand, the two functions were combined in the
teaching that sexual women could fulfill the desire af men and thereby save them. In this case, women could be the
object of yearning but not be that of respect.
I cannot say which is a better stance. Both Mary and Kannon are products of a male fantasy conceived within
patriarchal religion. We women must reclaim the image af motherhood and women's sexuality in our own way.
Japanese feminists, especially, must strive to improve women's image and status so that women are seen as being
equal to men.
7. Further considerations
Japanese patriarchy has forced women to assume the role of the oppressed at the bottom of society. Under this
system, women had led powerless lives. Buddhism has supported this system by preaching that women were sinful
and should obey men. One of the greatest Buddhist teachers, Shinran himself, taught an idealized relationship
between men and women in which women must always be motherly and at the same time, object of male desire.
Even Buddhist nuns in Japan were not exempt from being of sexual desire. There are quite a few pornographic
stories revolving around the theme of nun's sexuality which is severely taboo in other Buddhist countries.
In addition to the issue I have treated in this paper, there are many other problems of sexism that women face in
13
Buddhism. The most important among these is the system of temple registration known as the "Danka"
system. Instituted by the Tokugawa government (1615-1868), this system brought all of the Buddhist temples in
Japan into the government's administrative project and was used for regulating and controlling every aspect of the
common people's lives. The registry recorded the total number of residents in each household, their names and ages,
province of family origin, province of birth, Buddhist sect and the name of their parish temple and its location. After
these details were noted, a total count was made, with total numbers of males and females further specified. Thus it
subsumed every individual and every home within a larger household (ie
14). The Danka system, which assigned
each person to a certain temple, is an excellent example of Buddhism's social function in supporting the temple
registration system. We can distinguish two notable aspects of the Danka system. The first is a concept of the family
that reinforces patriarchy. The second is that the Danka system discriminated against women, the oppressed
outcastes, the handicapped, and people with infectious diseases.
The Buddhist idea of karma, meaning "deeds" or "action", which held that good and bad results were inevitably
born of one's own action, was utilized to explain the lot of those discriminated against in the present world as the
result of a past sin, or karmic retribution from a previous life. According to this kind of teaching, to have been born
a woman was retribution for karma created in a past life. Women faithfully believed this and placed their hopes on
peaceful serenity in the next world, praying to be born into paradise after they died. Such Buddhist view of women
gave rise to a submissive attitude of Japanese women towards men and a complicity with the patriarchal family
system. In contemporary Japan, the number of nuclear families has risen and the old family system seems to be
quickly falling by the wayside. But we must not overlook the fact that the Danka system and the premodern family
system based on it are preserved and carried through Buddhist ancestor worship.
Japanese Buddhism was pivotal in formulating an ideology that degraded women and forced them to obey men.
In this paper, I have elucidated some problems that Japanese Buddhism has brought about. I think we must
overcome these problems in order to establish the equal relationship between women and men, without which Japan
could not be modernized in a true sense.
136
4. Lila Revolution? Madonna-Boom? - Zur Situation von Frauen in der japanischen Politik
Kerstin Katharina Vogel, Trier
Bevor der Frage nachgegangen werden kann, was Modernisierung für japanische Frauen bedeutet, muß zunächst
geklärt werden, was der Begriff Modernisierung beinhaltet. Modernisierung soll hier verstanden werden als
312
"Veränderung von Strukturen in einer Gesellschaft während einer gewissen Zeitperiode" und als kombinierter
Prozeß von Industrialisierung, Verstädterung, Überwindung überlieferter Verhaltensweisen sowie politischer
313
Struktur, die eine Teilnahme von breiten Massen ermöglicht. Im folgenden soll es darum gehen, das letztgenannte
Element, das politische System, zu beleuchten. Was bedeutet Modernisierung für die Stellung von Frauen im
politischen System? Von Lucian Pye wurde im Bereich der politischen Kulturforschung die These vertreten, daß die
gesamte asiatische Region, demzufolge auch Japan, ein eigenes Modernisierungsmuster habe und daß sowohl
Bildung als auch Wirtschaftswachstum nicht notwendigerweise zu einer Demokratisierung führen müßten. Ferner
behauptet Pye, daß, wenn eine Demokratisierung stattfände, paternalistische, konsensuale und klientelistische
314
Elemente bzw. Neigungen bestehen blieben. Aus dieser These läßt sich die weit gefaßte Frage nach dem
Zusammenhang zwischen Modernisierung, Demokratisierung und Gleichstellung der Geschlechter ableiten. In
unserem Kontext ergibt sich konkret die Frage nach Auswirkungen der 1945 begonnenen Demokratisierung für die
japanischen Frauen. Hat sie ihnen mehr Chancen, mehr Gleichheit gebracht? Entwicklungmodelle vertreten die Auffassung, daß Modernisierung in Form von Industrialisierung, Urbanisierung, verbesserten Bildungschancen den
315
gender gap in bezug auf die Partizipation am politischen System verringere und generell die Gleichheit der
Geschlechter fördere. Im folgenden möchte ich einen Blick auf die Veränderungen der Situation von Frauen in der
Politik in Japan werfen, insbesondere auf die achtziger Jahre, da sie als ein Kennzeichen von Wandel bezeichnet
werden.
Wird (eurozentristisch ?) davon ausgegangen, daß mit der Demokatisierung Japans nach Ende des Zweiten
Weltkriegs ein zweiter Modernisierungschub einsetzte, so brachte die neue Verfassung japanischen Frauen formal
zwei bedeutende Veränderungen: das lang erstrebte und erkämpfte Wahlrecht und die verfassungsrechtliche
Gleichstellung der Geschlechter durch Artikel 14, der besagt, daß niemand auf Grund seines Geschlechts in
316
politischen, wirtschaftlichen und sozialen Angelegenheiten diskriminiert werden dürfe.
Bei der ersten Wahl zum Unterhaus 1946 gab es 79 Kandidatinnen, von denen 39 gewählt wurden, was einen
Anteil von 8,4% ergab, der bis heute die größte Anzahl an weiblichen Abgeordneten darstellt. Für das Oberhaus bei
der Wahl im darauffolgenden Jahr wurden 19 Frauen aufgestellt, von denen 10 einen Sitz gewannen. Hier betrug der
Anteil 4,0%. Schaut man auf die Entwicklung von 1946 bis 1993 so zeigt sich, daß der Anteil von Frauen im
Unterhaus, der formal entscheidenden politischen Institution im politischen System Japans, sich stets zwischen 1,2
bis 2,7% bewegte und damit einen klaren Unterschied zur ersten Wahl sowie eine deutliche Abnahme des
Frauenanteils bedeutet. Nach einer Statistik der Inter-Parlamentarischen Union (IPU) nimmt Japan nach dem letzten
Unterhauswahlergebnis von 1993 mit 2,7% Platz 110 auf der ranking-list von 131 Staaten ein, neben Ägypten, der
317
Mongolei, Bhutan und Tonga - Staaten, die nicht als "modern" bezeichnet werden. Japan steht demzufolge verglichen mit anderen modernen Industriestaaten ganz unten auf dieser ranking-list. Das bedeutet, daß die fünfzig
Jahre Demokratierung rein faktisch die Anzahl der Parlamentarierinnen betreffend keine bemerkenswerten
312
Geiger/ Mansilla (1983: 73)
Geiger/ Mansilla (1983: 74).
314
Pye (1985).
315
siehe hierzu Studien von Maurice Duverger (1955), Sidney Verba (1965), Ronald Inglehart (1977).
316
Linhart (1984)
317
siehe Asahi Shinbun (6.1.1994). Die Statistik der IPU bezieht sich auf die Nationalparlamente.
313
Veränderungen mit sich gebracht haben. Die eindeutige und besonders hervorstechende Unterrepräsentation von
Frauen im Nationalparlament als auch anderen politischen Institutionen bedarf somit einer Erklärung bzw.
genaueren Untersuchung, für die hier kein Raum ist, die aber Thema meines Dissertationsprojektes ist.
In diesem Vortrag jedoch möchte ich exemplarisch das Phänomen des sogenannten Madonna-Booms
betrachten.
Die Achtziger Jahre und der Boom
318
Die achtziger Jahre werden in Japan häufig als josei no jidai , als Ära der Frauen bezeichnet. Iwao Sumiko
319
spricht in ihrem Buch The Japanese Woman sogar von "quiet revolution" , Robin M. LeBlanc in bezug auf den
320
Madonna-Boom von "pink revolt".
Ein Blick auf den Bereich Politik zeigt, daß in den achtziger Jahren und zu Beginn der Neunziger ein Anzeichen
eines Wandels festzustellen ist, was die Besetztung von öffentlichen Ämtern und Positionen betrifft. Hierzu einige
Beispiele: 1980 wurde mit Takahashi Noboku zum ersten Mal eine Frau als Botschafterin entsandt und mit Tanaka
321
Sumiko zum ersten Mal eine Frau Vizevorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Japans (SDPJ). 1983 wurde
dann Doi Takako Vizevorsitzende und drei Jahre später die erste weibliche Vorsitzende einer Partei in Japan
überhaupt. 1985 wurde das koy_ kikai kint_ h_ (Equal Employment Opportunity Act) im Parlament verabschiedet,
und 1986 wurde mit Sakamoto Haruno zum ersten Mal eine Frau Direktorin im MITI. Noda Aiko wurde 1987 als
erste Frau zur Richterin am Obersten Gerichtshof ernannt. Ministerpräsident Kaifu berief zum ersten Mal zwei
Frauen in sein Kabinett, wenn diese auch nach kurzer Zeit wieder gehen mußten. Eine davon war die konservative
Politikerin Moriyama Mayumi (LDP) für das Amt des kanb_ch_kan (KabinettssprecherIn). Die Beispiele könnten
noch fortgesetzt werden; als letztes sei noch erwähnt, daß mit der Wahl Kitamura Harues zur Bürgermeisterin in
Ashiya (Hy_go-ken) zum ersten Mal eine Frau dieses Amt bekleidete. Bedeutet diese Sichtbarwerdung von Frauen
einen tatsächlichen Wandel bzw. eine Veränderung der politischen Situation von Frauen? Iwai geht in seinem
Artikel zum Madonna-Boom genauso wie Iwao davon aus, daß sich der Status von Frauen im allgemeinen in den
letzten zehn Jahren deutlich verbessert habe. Ersterer weist aber zurecht daraufhin, daß der soziale und der
322
politische Status zwei verschiedene Paar Schuhe seien, die auch getrennt voneinander betrachtet werden müssen.
Das Jahr 1989 war ein besonderes für japanische Frauen in der Politik. 22 Frauen wurden bei der Oberhauswahl
(sangiin senky_) in die zweite Kammer des Parlaments gewählt - die bis heute größte Anzahl. Von diesen Frauen
gehörten 14 der SDPJ an. Ähnliches gilt auch für die Wahl zum Parlament des Gesamtbezirks T_ky_ (T_ky_-t_gikai). Hier stieg der Frauenanteil von 7 auf 13 Prozent. Die Medien überschlugen sich und betitelten dieses
Ereignis mit Schlagzeilen wie: "Madonna senp_- seiji o kaeru" (Madonna-Wirbelwind verändert Politik, Asahi
Shinbun 24.7.1989), "Futs_ no shufu seiji ni shinshutsu" (Einfache Hausfrauen drängen in die Politik vor, Asahi
Shinbun 18.7.1989). Es wurde von "daikoro no ikari" (Zorn der Küche) und "nozeisha no hanran" (Aufstand der
323
SteuerzahlerInnen) gesprochen. Der Begriff "Madonnen" ging somit als Bezeichnung für die neuen Politikerinnen
rein. Warum "Madonna"? Schaut man einmal in das Gendai Y_go Jiten von 1993, so findet man neben akogare no
josei (die Ersehnte) in Zusammenhang mit Natsume S_sekis Botchan eine zweite Bedeutung: rikk_ho suru
hanagata onna, ein als Kandidatin aufgestellter weiblicher Star. Dies trifft für zahlreiche Frauen im Oberhaus und
wenige im Unterhaus zu, die vor ihrer Wahl z.B. als Medien- oder Sportstars Popularität erlangt hatten.
Wie kam es also dazu, daß es plötzlich Frauen gelang, zahlreiche Sitze im Parlament zu erlangen? War dies ein
Zeichen für den Wandel des Geschlechterverhältnisse in der Politik oder handelt es sich hierbei um ein einmaliges
318
Iwai (1993)
Iwao (1993).
320
LeBlanc (1990)
321
Damals hieß sie noch Sozialistische Partei Japans.
322
Iwai (1993)
323
Aoki (1991)
319
138
Phänomen? Im folgenden soll es darum gehen, zu klären, wer diese Madonnen waren und wie es zu dem Boom
kommen konnte.
Wer waren die Madonnen?
Wie bereits zuvor erwähnt, werden die Madonnen in Zusammenhang gebracht mit dem Bild Hausfrau, Mutter
und Küche, dem daidokoro kankaku, der "Küchen-Intuition". Zudem schwingt das Image der "reinen, noch
unverdorbenen" Politikerin mit. Ein Blick auf die Madonnen zeigt jedoch, daß es sich bei den Oberhausparlamentarinnen (und auch bei den 1990 ins Unterhaus gewählten Frauen) nicht um futs_ no shufu, einfache
Hausfrauen, handelt. Bevor sie in die Politik gingen, waren sie berufstätig als Beamtinnen, Juristinnen,
Journalistinnen und Professorinnen, um hier nur einige aufzuzählen. Der Begriff shufu pauwa ist in zweierlich
Hinsicht zu verstehen, einmal in bezug auf die Wählerinnen, die als Hausfrauen an die Wahlurnen gingen, aber auch
andererseits auf die Gewählten als deren Vertreterinnen. Bei letzterem zeigt sich deutlich die Konstruktion eines
weiblichen Stereotyps. Als genauere Erweiterung des Begriffs shufu pauwa könnte dann - wenn man sich dieser
Überschwenglichkeit anschließen will - von josei pauwa gesprochen werden (It_ spricht sogar von josei pauwa
324
kakumei, also von Revolution). Wieviel power bzw. Macht die Frauen nach ihrer Wahl dann tatsächlich hatten,
ist eine weitere Frage. Auch im T_ky_-t_ gikai war ein großer Teil der Frauen zuvor außerhalb des Hauses
berufstätig gewesen. Für die beiden Regierungsebenen läßt sich die Bedeutung von Popularität, von kanban, dem
bekannten Gesicht im japanischen sanban-System, feststellen, die auf höherer Ebene eine größere Rolle zu spielen
scheint, da hier eher Frauen aus dem öffentlichen Leben rekrutiert worden waren. Mit der Wahl der Frauen wurde
eine Diskussion entfacht, was denn eine Frauenpolitikerin (josei seijika) eigentlich sei, welche Standpunkte sie
vertreten, was verkörpern sollte und wollte. Der Begriff ist sicher ambivalent, da er zum einen die Politikerin als
Frau meint, es also um das Geschlecht geht, während er genauso inhaltlich interpretiert werden kann, als eine
Politikerin, die sich für "Frauenfragen"einsetzt.Die von Iwai (und auch von mir befragten Politikerinnen) sehen sich
zum großen Teil nicht als josei seijika in der zweiten Bedeutung, da die Gleichstellung der Geschlechter oftmals
325
schon als gegeben ansehen wird. Die Frage, die sich zum einen hier anschließend stellt, ist, warum im Gegensatz
zu den Jahren zuvor dieses Mal von der SDPJ mehr Frauen aufgestellt wurden, und zum anderen, warum diese
Frauen gewählt wurden.
Wozu die Madonnen-Strategie?
Beide aufgeworfenen Fragen stehen in Zusammenhang mit der SDPJ und ihrer Stellung im politischen System
und sind wohl nicht mit einem Wandel des Geschlechterverhältnisses zu begründen.
Als Doi Takako 1986 den Vorsitz der Partei übernahm - diese befand sich zu diesem Zeitpunkt in einem
desolaten Zustand -, wurde sie eher mangels zur Verfügung stehender KandidatInnen und als letzte Hoffnung für die
Partei gewählt, denn aus der Überzeugung, daß es mal Zeit für eine Frau an der Spitze sei. Auf ihrer politischen
Agenda standen die Bekämpfung der Korruption (sauber), die Bereiche Wohlfahrt, Ökologie, Menschenrechte
326
(sozial) und Abrüstung (friedlich) sowie auch in begrenztem Maße der Verbesserung des Status von Frauen.
Betrachtet man diese verschiedenen Politikfelder, so lassen sie sich den typisch weiblichen Bereichen zuordnen und
entsprechen zudem dem Image der christlichen Madonna.
Bei der KandidatInnenauswahl auf den beiden hier betrachteten Regierungsebenen haben zwei unterschiedlich
zu gewichteten Gründe eine Rolle gespielt. Zum einen hatte Doi Interesse, mehr Frauen in die Politik zu holen. Im
Vordergrund standen aber taktische Überlegungen. Die neuen Gesichter bzw. Newcomerinnen (shinjin) konnten mit
dem Image der nicht-korrupten Frau zum Wahlstimmenfang eingesetzt werden, da dies eine passende Anwort auf
324
It_ (1990)
Iwai (1993: 107).
326
siehe auch Stockwin (1994)
325
die politischen Gegebenheiten zu sein schien. Die LDP stand aufgrund ihrer unpopulären Politik und der
anhaltenden Skandale nicht hoch im Kurs bei der Bevölkerung. Es war die Rede von jimint_ santen setto purasu
wan, drei Probleme plus eins. Bei den drei Problemen handelte es sich um den Recruit-Skandal, die Erhöhung der
Mehrwertsteuer um 3%, mit der ein vorheriges Wahlversprechen gebrochen wurde, und den Abbau von
327
Handelsschranken für Rindfleisch und Zitrusfrüchte. Den Plus-Eins-Faktor stellte die Affäre von Ministerpräsident Uno dar. In diesem politischen Klima schien die SDPJ mit den zahlreichen Kandidatinnen in ihrer Ablehnung
der Mehrwertsteuer ein spezielles WählerInnenpotential - das der (Haus)frauen - ansprechen zu wollen. Daß diese
Strategie überhaupt gelang, wird oftmals Dois Charisma zugeschrieben. Dies bestätigten meine
328
Interviewpartnerinnen , die ihren Widerstand auf die Bitte Dois, zu kandidieren, als groß beschrieben, da sie sich
ohne (partei-)politische Erfahrung nicht kompetent fühlten. Die Parteimitgliedschaft spielte bei der Auswahl keine
Rolle. Entweder frau trat kurz vor der Kandidatur in die Partei ein oder gar nicht wie z.B. D_moto Akiko, die heute
329
noch im Oberhaus sitzt. Die Parteilosigkeit wurde bei den Madonnen von den Medien jedoch kritisiert , obwohl
sie kein Phänomen ist, das sich auf Frauenpolitikerinnen beschränkt.
Die Madonnen-Strategie erwies sich als erfolgreich für die SDPJ, weil die Madonnen keinen "taint of dirt" an
sich hatten und somit ein clean image verkörperten. Die Schlußfolgerung daraus ist oftmals stereotypisch, daß
Frauen gar nicht oder weniger korrupt seien als Männer. Dies läßt sich zumindest in dem Fall Yoshida Kazuko
(SDPJ), einer der späteren Madonnen im Unterhaus widerlegen, da ihr vorgeworfen wurde, Bestechungsgelder
angenommen zu haben. Ihre Niederlage bei der Unterhauswahl 1993 wird u.a. darauf zurückgeführt.
Es können jedoch noch so viele Frauen aufgestellt werden, wenn sie für den/die WählerIn nicht wählbar
erscheinen, ändert dies nichts an der Unterrepräsentanz von Frauen in den Parlamenten. Das Augenmerk muß sich
also nicht nur auf die Rekrutierungsprozesse der Parteien, sondern auch auf die WählerInnen richten. Wer wen
gewählt hat, läßt sich schwer sagen. Da jedoch in Japan der Anteil der wählenden Frauen gegenüber dem der
Männer seit 1946 fast konstant höher ist, ist davon auszugehen, daß hier Frauen zum großen Teil von Frauen
gewählt wurden (bei der Wahl 1989 zum T_gikai lag die Wahlbeteiligung von Frauen bei 61%, bei Männern waren
es 56%). Inwieweit die Wahlbeteiligung issue-abhängig ist, müßte genauer untersucht werden.
Auffällig beim Madonna-Boom ist jedoch, daß eine breite weibliche Öffentlichkeit mobilisiert werden konnte,
d.h. daß grundsätzlich eine Möglichkeit des Mobilisierens von voting blocs gegeben ist. Dies läßt sich besonders gut
anhand der Kandidatinnen des seikatsu kurabu feststellen. Entstanden aus der VerbraucherInnenbewegung ist es
gelungen, zahlreiche Frauen in Parlamente auf Lokal- und Regionalebene, insbesondere in und um die Großstädten
herum, zu wählen. Auch hier wurden Frauen angesprochen als Hausfrauen, Verbraucherinnen und Mütter. Die
Frage, die sich hier anschließt, ist, unter welchen Bedingungen Frauen bereit sind, Frauen zu wählen, aber auch
selbst zu kandidieren.
Madonna-Boom no ato - die Zeit "danach"
Nach ihrer Wahl wurden die Madonnen kritisch von den Medien beäugt. So wurde unter anderem von It_
Tatsumi in seinem Artikel Madonna-tachi wa kokkai de nani o shita no ka? (Was haben die Madonnen bis jetzt im
Parlament getan?), der im September 1990 in Shokun erschien, bemerkt, daß einige der Parlamentarierinnen
morgens und abends nicht selber kochen würden und es daher völlig unverständlich sei, wie man von HausfrauenIntuition (shufu kankaku) sprechen könne. Im gleichen Atemzug spricht er auch von kinsen kankaku zero no seijika
330
(PolitikerInnen ohne ein Gefühl für Geld). Kritik hagelte es aber auch von LDP-Kolleginnen wie z.B. der
327
Stockwin (1994: 26).
Ich beziehe mich auf Interviews mit japanischen Politikerinnen aller Regierungsebenen und verschiedener Parteien, die ich
während eines Forschungsaufenthaltes am Josei Bunka Kenky_ Sent_ der Ochanomizu Universität, T_ky_, von April 1993 bis
März 1994 durchgeführt habe.
329
It_ (1990: 44)
330
It_ (1990: 45-46)
328
140
Abgeordneten im Oberhaus Ono Kiyoko, die sagte: "They ran on a platform of opposition on consumption tax. The
331
only reason they got elected was because the voters believed they would get rid of the consumption tax." Ihre
Einschätzung deckt sich zum Teil mit den o.g. Aussagen.
In der Tat zeigten die Wahlen zum Unterhaus und für den Regierungsbezirk T_ky_ im Jahr 1993, daß viele der
Madonnen der ersten und zweiten Generation nicht wieder gewählt wurden, obwohl sich die absolute Zahl der
Frauen im Unterhaus von 12 auf 14 Frauen erhöhte. Die Verteilung auf die einzelnen Parteien ist dabei relativ
ausgewogen, jeweils zwei Frauen in der LDP, SDPJ, Komeito, KPJ und der inzwischen aufgelösten Nihon Shinto
(Neue Partei Japans) sowie vier unabhängigen Kandidatinnen. Die SDPJ-Frauen Toguchi Tamako, Hase Yuriko,
Suzuki Kiyoko und die bereits erwähnte Yoshisa Kazuko sowie einige andere der shinjin von 1990 wurden zwar
aufgestellt, aber nicht wiedergewählt. Gründe dafür mögen das veränderte politische Klima und die großen
Umwälzungen in der Parteienlandschaft sein. Für das Oberhaus muß angemerkt werden, daß ein Teil der Sitze über
Listen bzw. Verhältniswahlrecht vergeben wird und damit andere, einfachere Bedingungen als im Unterhaus
332
vorherrschen.
Ausblick
Daß auf der einen Seite immer noch so wenige Frauen in Japan in den Parlamenten aller Regierungsebenen
vertreten sind, verweist auf Barrieren und Hindernisse, die hier zunächst kurz angedeutet werden konnten, u.a.
333
Rekrutierungsmuster innerhalb der Parteien , die Frauen aber auch als token (Alibi) benutzen, wie das Beispiel der
SDPJ gezeigt hat. Hemmnisse lassen sich auch in anderen Bereichen wie in bezug auf sozialen und ökonomischen
Status, Geschlechterstereotypen und Diskriminierung aufzeigen. Auf der anderen Seite hat aber der Madonna-Boom
gezeigt, daß das politische System bedingt offen für solche Phänomene ist, auch wenn Iwai davon spricht, daß
334
Frauenpolitikerinnen von "einfachen" Hausfrauen als "breed apart" angesehen werden. Deutlich hingewiesen
werden muß auch darauf, daß sowohl das Oberhaus als auch T_ky_t_gikai eine andere Position im politischen
System einnehmen, wenn es um Macht geht, als das Unterhaus, in dem am wenigsten Frauen vertreten.sind. Eine
weitere offene Frage ist, ob die Partizipation in politischen Parteien als einzige bzw. ausschlaggebende Meßlatte für
den politischen Status von Frauen angesehen werden sollte, da Frauen sich offensichtlich ihre eigenen
Partizipationsbereiche bzw. Strukturen schaffen, wie das Beispiel des seikatsu kurabu gezeigt hat.
Carol A. Christy hat ihrer Studie Sex Differences in Political Participation (1987) festgestellt, daß in bezug auf
den Zusammenhang von Entwicklung, Industrialisierung, Modernisierung zwar eine Verringerung der
Geschlechterdifferenz bei den Faktoren "politisches Interesse" und "organisierte Aktivitäten" zu verzeichnen ist. Bei
dem Faktor opinion holding kommt sie bei Japan jedoch zu dem Schluß, daß Traditionen eine größere Rolle spielen
335
als ökonomische Entwicklung. Wirtschaftswachstum und Demokratisierung ziehen also nicht überall gleiche
Entwicklungen bei der Gleichstellung der Geschlechter in der Politik nach sich. Die jeweilige politische Kultur
spielt als Hemmnis- oder Förderungsfaktor eine wichtige Rolle. Die am Anfang von Pye erwähnten paternalistischen
und klientelistischen Elemente sind in Japan auch heute noch vorhanden und stellen für Frauen auf ihrem Weg in die
und in der Politik einen behindernden Faktor dar.
331
zitiert nach Iwai (1993: 109)
Für den Zusammenhang von Wahlsystem und Frauenrepräsentation siehe z.B. Beckwith (1992).
333
Diese detailliert zu bestimmen ist der Inhalt meines laufenden Dissertationsprojekts mit dem Arbeitstitel
"Frauenpolitikerinnen und Frauenpolitik in Japan am Beispiel von Parteien und Parlament".
334
Iwai (1993: 119)
335
Christy (1987: 53)
332
Literatur:
Aoki, Yasuko: Seron minshushugi: josei to seiji. T_ky_, 1991.
Beckwith, Karen 1992: Comparative Research and Electoral Systems: Lessons from France and Italy, in: Women &
Politics, 12(1992)1.
Christy, Carol A: Sex Differences in Political Participation - Processes of Change in Fourteen Nations. New York
u.a., 1987.
Geiger, Wolfgang/ Mansilla, Hugo C.F. 1983: Unterentwicklung: Theorien und Strategien zu ihrer Überwindung.
Frankfurt/M. u.a., 1983.
It_, Tatsumi 1990: Madonna-tachi wa kokkai de nani o shita no ka?, in: Shokun (1990)9.
Iwai, Tomoaki: "The Madonna-Boom": Women in the Japanese Diet, in: Journal of Japanese Studies, 19(1993)1.
Iwao, Sumiko: The Japanese Woman: Traditional Image and Changing Reality. New York, 1993.
LeBlanc, Robin M.: Women and the Japan Socialist Party: How real is the Pink Revolt. Paper presented at the
Annual Meeting of the American Political Science Association, San Francisco, 1990.
Linhart, Sepp 1984: Geschlechter, in: Hammitzsch, H. (Hrsg.): Japan-Handbuch. Stuttgart, 1984.
Pye, Lucian W.: Asian Power and Politics - The Cultural Dimension of Authority. Cambridge/Mass., 1985.
Stockwin, J.A.A.: On Trying to Move Mountains: The Political Career of Doi Takako, in: Japan Forum 6(1994)1.
142
5. Diskussionsbeitrag zum Buch "The Japanese Woman: Traditional Image and Changing Reality" von
Iwao Sumiko336
Claudia Weber
Iwao Sumiko hat ein provozierendes Buch geschrieben, das westliche Emanzipationsvorstellungen aus
japanischer Sicht in Frage stellt. Es wurde offensichtlich direkt auf Englisch verfasst und richtet sich in erster Linie
an die amerikanische Frauenbewegung. Iwao kritisiert die dort vertretene Sicht des Geschlechterverhältnisses,
insbesondere ihren quasi-monopolistischen Anspruch auf "politische Korrektheit". Die damit verbundene pauschale
Charakterisierung des japanischen Geschlechterverhältnisses als rückständig wird von Iwao nicht akzeptiert, wenn
sie auch im Detail Reformbedürftigkeit anerkennt.
Zwischen der Globallinie des Buchs, das durchaus polemisch eine Art japanisches Alternativmodell präsentiert
und der Problemanalyse eben dieses japanischen Modells, die Iwao auch betreibt, besteht eine Kluft, die meines
Erachtens den Reiz dieses Buchs ausmacht, das die Leserschaft herausfordert. Für eine gewisse Verwirrung, die ich
an mir selbst feststellen konnte, sorgt, daß die Autorin die Probleme des japanischen Geschlechterverhältnisses in
ihrem allgemein gehaltenen Eingangs- und Schlußkapitel leugnet bzw. schönredet, sie jedoch in anderen Kapiteln
ihres Buchs schonungslos aufdeckt. Das könnte man als eine fast schon schizophrene Inkonsistenz bezeichnen oder als unbeirrbaren Realismus.
Meines Erachtens spiegelt sich darin die schwierige Position der Autorin: Stellenweise hat man den Eindruck,
sie habe ihr Buch im offiziösen Regierungsauftrag geschrieben, Stichwort: Public relations, Imageverbesserung
Japans im internationalen Meinungsbild. Das ist Iwao offensichtlich nicht schwergefallen, denn unverkennbar steht
sie mit ihrer ganzen Person hinter ihren engagiert vorgetragenen Thesen. Als Wissenschaftlerin und vor allem als
Sozialpsychologin kann und will sie jedoch die ihr gut bekannten Probleme nicht leugnen, beispielsweise in ihrem
sozialpsychologisch aufschlußreichen 4. Kapitel über Kommunikationsdefizite in japanischen Ehen.
Mein Eindruck ist, daß sie offensichtlich nicht sieht (oder sehen will), wie sehr Vorder- und Rückseite des
japanischen Geschlechterverhältnisses zusammengehören. Wer wie sie die Vorzüge einer Sphärentrennung der
Geschlechter preist, muß beispielsweise die kommunikative Entfremdung zwischen den Geschlechtern als
Folgeproblem analysieren und nicht als beliebiges Problem unter anderen Problemen! Eine Schwäche ihres Buchs
ist meines Erachtens sein Mangel an dialektischer Sichtweise (inbezug auf die Zusammengehörigkeit von Vorder- u.
Rückseite) und nicht der stellenweise polemische Ton und die Überpointierung von Argumenten, die im Gegenteil
die Diskussion beleben. Das Buch bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte für einen östwestlichen Dialog. Im
Folgenden möchte ich einige "neuralgische Punkte" in Iwaos Argumentation aufgreifen: Durchaus nicht in erstere
Linie mit der Absicht, ideologische Verzerrungen, Widersprüche, Ungenauigkeiten etc. nachzuweisen, sondern
auch, weil es "kritische Stellen" sind, die unser westliches, "emanzipiertes" Selbstverständnis herausfordern und die
mich zum Teil bei der Lektüre persönlich berührt (verärgert und fasziniert) haben.
Geschlechtergleichheit: die Zeitperspektive
Geschlechtergleichheit definiert Iwao als "balance of advantage, opportunity and responsability achieved over
time" (3, Hervorh. Iwao) und diese Hinzufügung der Dimension "Zeit" halte ich prinzipiell für eine Bereicherung
des Gleichheitskonzepts: "In Japan questions of fairness and equality are conceived on a much longer time frame
and in a more multidimensional context" (13). Ist unser westliches Verständnis von Gleichheit im biographischen
wie im historischen Kontext nicht oft zu kurzatmig und eindimensional? Iwao verschweigt nicht, daß "resignation to
their fate" (10) immer noch ein charakteristisches Reaktionsmuster der Frauen in Japan ist. Dennoch erstaunt, wie
336
The Free Press, Maxwell Macmillan International, New York 1993.
positiv Iwaos Bilanz des Wandels ausfällt: "The profound changes now taking place among Japanese women
represent no less than a quiet revolution. They constitute an irreversible transformation ..." (265, Hervorh. CW).
Was nun: Revolution oder Transformation? Den Begriff der "stillen Revolution" halte ich für paradox :
Revolutionen sind laut oder sie sind keine Revolutionen!
Ist gleich, wer sich für gleich hält?
Als Sozialpsychologin neigt Iwao zu einer Psychologisierung des Gleichheits-Problems : "Not only do women
see themselves as equal to their husbands but their husbands willingly admit their dependence on women ..." (3).
Gleichheit stellt sich damit aus ihrer Sicht über eine wechselseitige symbolische Anerkennung von Interdependenz
her. Doch gesellschaftliche Beziehungen basieren nicht allein auf "Wille und Vorstellung". So wünschenswert die
Anerkennung von Interdependenz (als Basis eines herrschaftsfreien Miteinander) wäre, so wenig wird das
Geschlechterverhältnis einzig und allein durch seine Wahrnehmung konstituiert. Mögen die Geschlechter sich auch
als "gleich" definieren, so konstituiert sich ihre jeweilige soziale Stellung in erster Linie durch Machtunterschiede
(im Zugang zu knappen Ressourcen). Die Psychologisierung des Gleichheitskonzepts, seine Verwandlung in ein
subjektivistisch-voluntaristisches Konstrukt (gleich ist, wer sich gleich fühlt), impliziert Selbsttäuschung und damit
Verleugnung, Verdrängung von Ungleichheit - und diese Tendenz ist in Iwaos Buch an vielen Stellen spürbar.
Dennoch ist es sozial höchst signifikant, wie das Geschlechterverhältnis interpretiert wird, vor allem, wie Frauen es
interpretieren: Ob eine zumindest partielle Verkennung realer Abhängigkeit zugunsten einer ideologischen
Aufwertung der eigenen Position den Japanerinnen eher nützt oder eher schadet, scheint mir eine offene Frage zu
sein.
Mittelschichtbias
Japanerinnen haben nach Iwao "great freedom to decide how, where, and under what terms they will work" (6).
Die Kapitelüberschriften "work as option" (153) und "work as profession" (189) deuten an, daß Frauenerwerbsarbeit von Iwao in erster Linie als frei gewählte Aktivität unter anderen aufgefasst wird. Dieser Mittelschichtbias ihres Buch ist zweifellos sein Kardinalfehler. Iwao verschweigt, daß auch in Japan Frauen mehrheitlich
bezahlter Arbeit nachgehen müssen, da ein angemessener Lebensstandard der Familien (inkl. Ausbildung der
Kinder) anders nicht zu sichern ist. Blue-collar women, Frauen der Unter- und unteren Mittelschicht kommen bei
Iwao nicht vor! Ihr Buch thematisiert sozial höchst selektiv nur die privilegierten Lebensbedingungen der
Lebenszeitbeschäftigten (und ihrer Familienangehörigen).
Hinter den Kulissen: "dansei j_i, josei y_i"
Nicht ohne Zynismus beschreibt Iwao die Ehefrauen gutverdienender und sozial gesicherter sararimen als
"backstage shapers" (4). "... these women, it can be argued, have set the stage virtually to their own liking. " (2).
Zwar stehen die Männer im Rampenlicht, dafür sind sie jedoch die Ausgebeuteten, nicht zuletzt von jenen
Puppenspielerinnen, die hinter den Kulissen die Fäden ziehen: "... they still conspire to use men as the worker bees
of societies. " Männer hätten das Spiel ("female stratagems") durchschaut, meint Iwao, und es werde heute mit
"gegenseitigem Einverständnis" (268) gespielt. Der Preis, den Frauen für diese Art der Freistellung von
Erwerbsarbeit zahlen ist "to flatter and nurture the male "worker bees"; feed from their sweat and blood; and even
watch them die of overwork ..." (269) - ein denkbar krasses Bild weiblicher Manipulation ("the most unliberated
aspect of the mentality of Japanese women" (268), das Iwao in ihrem Schlußkapitel entwirft.
Sein Realitätsgehalt ist m. E. schon deshalb zweifelhaft, weil Iwao damit etwas strikt intentional deutet, was in
Wirklichkeit strukturell angelegt ist. In einer duch ein hohes Maß an Geschlechtssegregation und -diskriminierung
geprägten kapitalistischen Marktökonomie wie der japanischen bilden sich nahezu zwangsläufig Präferenzmuster
144
(für Haus- bzw. Erwerbsarbeit) zwischen den Geschlechtern heraus, die nicht als frei gewählte interpretiert werden
dürfen. Von der strukturell vorgeprägten Arbeitsteilung zur manifesten Ausbeutung (der Männer durch Frauen) :
Das ist ein allzukühner Schritt, der - abgesehen vom Mittelschichtbias - auch ein Stück jener Misogynie verrät, die
Hijiya-Kirschnereit den "männlichen Chauvinismus der Japanerinnen" genannt hat, und der insbesondere bei den
"Karrierefrauen", zu denen Iwao zu rechnen ist, keine Seltenheit zu sein scheint.
Der Topos "uchi no _kura daijin": ein Mythos?
Die von Iwao vielbeschworene weibliche Verfügungsmacht übers "Portemonnaie" (=Familienfinanzen), die
japanischen Ehefrauen angeblich bereitwillig eingeräumt wird, ist ein klassischer Topos der japanischen
Selbstdarstellung. Iwao (wie andere AutorInnen) machen daraus den Eckpfeiler einer typisch japanischen
weiblichen Autonomie. Ob die finanzielle Verfügungsmacht japanischen Ehefrauen weitreichender ist als die
westlicher Frauen in vergleichbarer Lage und ob es sich dabei - im Zeitalter der Kontovollmacht und des "electronic
banking" - überhaupt noch um ein einzigartig japanisches Phänomen handelt, wird von Iwao nicht hinterfragt. Der
Mythos, wie ich ihn nennen möchte, wwird von Iwao ("purse strings and power in the home") (84) aus
ideologischen Gründen gepflegt. Daß Konsum(kontroll)chancen in einer auf Lohnabhängigkeit basierenden
Gesellschaft wie der japanischen Einkommenschancen voraussetzen und daß allein daraus ein
Abhängigkeitsverhältnis resultiert, taucht in ihrer Beschwörung der "Autonomie" der erwerbslosen Ehefrau nicht
auf.
Unabhängig davon, wie einvernehmlich sich das Verhältnis der Ehegatten im Alltag gestaltet, handelt es sich
doch um eine abgeleitete, indirekte Autonomie (also Heteronomie!), die im Krisenfall auf tönernen Füßen steht.
Außerdem: Wo nichts (oder wenig) verdient wird, kann frau sich nicht mit der "Kontrolle des Portemonnaies"
begnügen, sondern muß es (mit) füllen; die (knappe) Mehrheit der verheirateten Japanerinnen steuert finanziell zum
Haushaltseinkommen bei.
Was man Iwao zugestehen muß, ist die Hervorhebung der psychologischen Relevanz des finanziellen Zugriffs.
Es macht meines Erachtens schon einen Unterschied, ob eine solche Zugriffsmöglichkeit als sozial legitimierte
(Mindest)kompensation für unbezahlt geleistete Haus- und Erziehungsarbeit gilt und als solche im gesellschaftlichen
Bewußtsein fest verankert ist - oder ob dies wie in Deutschland fallweise sehr unterschiedlich gehandhabt wird.
Sphärentrennung der Geschlechter als "erfundene Tradition"
Ist die moderne Hausfrau, die das Portemonnaie kontrolliert, identisch mit jenem weiblichen Haushaltsvorstand,
der in den landwirtschaftlichen Familienbetrieben jahrhundertelang den "Reislöffel schwang" (vgl. 85)? Nein, denn
das hieße - was die soziale Stellung der Japanerinnen anbelangt - den einschneidendsten Strukturwandel der
japanischen Geschichte zu ignorieren: den Übergang zu lohnabhängiger Beschäftigung im großen Maßstab, der aus
selbständig Kleingewerbetreibenden in Landwirtschaft, Fischerei, Handwerk und Industrie eine Marginalie der
japanischen Sozialstruktur machte (wenn auch keine unbedeutende). In den Familienbetrieben waren (und sind)
Frauen als sogenannte mithelfende Familienangehörige ökonomisch aktive (Ko)-Produzentinnen, während
Hausfrauen in den sarariman-Familien - ökonomisch betrachtet - ausschließlich Konsumentinnen sind. Ein
Strukturbruch mit Funktionsverengung ist das auch dann, wenn man aus soziologischer Sicht (vgl. Brinton) die
Vollzeit-Hausfrauenrolle als Spezialisierung auf die (Re)Produktion des Arbeitsvermögens (human resource
development bei Ehemann und Kindern) interpretiert.
Die "homemaker" und "bread (rice) winner"-Rollenteilung und -interdependenz, Leitbild und Realität in breitem
Umfang erst in der Nachkriegsprosperität und in Form der sarariman-Familie ein durch und durch modernes
Phänomen, wird von Iwao zur japanischen Urtradition stilisiert und wider besseres historisches Wissen rückwärts
projiziert: als erfundene Tradition. Dahinter steckt die Absicht, diese Familienform gegen Kritik zu immunisieren.
Das zeigt sich auch deutlich in dem Versuch, die Rolle der professionellen Hausfrau (sengy_ shufu) als
Komplementärrolle zu entwerfen und sie auf diese Weise ideologisch aufzuwerten. Die Sphärentrennung der
Geschlechter im heutigen Japan ist in ihren inner- wie außerfamilialen Erscheinungsformen keine lineare
Fortsetzung der Geschlechterbeziehungen, die für die agrarische Vergangenheit Japans typisch waren. Die
hochentwikelte sozialhistorische Forschung dazu wird von Iwao ignoriert.
Fazit: Die Gleichsetzung von "equality" mit "mutual reliance through division of labor" (282) ist ideologisch,
weil Hierarchien, Machtdifferenzen unterschlagen werden. In kapitalistischen Marktökonomien sind alle
grundlegenden Produktionsbeziehungen arbeitsteilig-interdependent und hierarchisch-machtdifferent zugleich.
Geschlechterverhältnisse können darin keine herrschaftsfreie Insel sein, wenn auch die Utopie eines herrschaftsfreien Miteinander dort unter Umständen ihre Zuflucht findet. Daß die Geschlechterverhältnisse in jeder
Gesellschaft eine Eigenlogik und -dynamik besitzen und durch kulturelle Wahrnehmung überformt werden (für die
Iwaos Buch ein Paradebeispiel ist) soll hier jedoch keineswegs geleugnet werden. Alles in allem ein anregendes
Buch, dem man unter den Japaninteressierten eine breite Leserschaft wünscht.
Literatur:
Brinton, Mary: Women and the Economic Miracle. Gender and Work in Postwar Japan. Berkeley: University of
California Press, 1993
Hijiya-Kirschnereit, Irmela: Der männliche Chauvinismus der Japanerinnen. Eine kleine Dokumentation, in: HijiyaKirschnereit, Irmela: Das Ende der Exotik, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1988, 99-118.
146
6. Illegitimität im Wandel der Zeit: Vom tetenashigo zum hichakushutsushi
Karina Kleiber, Wien
1. Einleitung
Gerade für den Bereich der Familie werden die Begriffe "traditionell" und "modern" gerne - und leider oft sehr
unreflektiert - strapaziert. Die traditionelle Familie, darunter wird gemeinhin die hierarchisch strukturierte,
patriarchale Großfamilie verstanden; im Gegensatz dazu stünde die moderne partnerschaftliche Kernfamilie der
Gegenwart. Daß dies mitnichten so ist, darauf haben mittlererweile schon viele hingewiesen. Auch in der Edo-Zeit
gab es eine große Vielfalt an Familienformen, die mit den gesetzlichen Bestimmungen der Meiji-Zeit reglementiert
und damit eher eingeschränkt wurden.
Die nach der Meiji-Restauration eingesetzten Institutionen und Gesetze waren zwar nach westlichem Vorbild
aufgebaut, zum Teil wurden aber "moderne Mittel ... zur Durchsetzung ausgewählter traditioneller Ziele eingesetzt,
337
wie z. B. die modernen rechtlichen Institutionen zur Festschreibung der unfreien Stellung der Frau".
"Traditionell" bedeutet hier der konfuzianischen Ethik der Samurai entsprechend.
Wie sich die "vormoderne" Vielfalt der Familienformen im Laufe der Meiji-Zeit zum "traditionellen" ie-System
im "modernen" Mantel (einheitliche Regelungen durch Familien- und Erbrecht; Abschaffung des Konkubinats, ...)
wandelte, soll hier am Beispiel der Illegitimität dokumentiert werden.
2. Gesetzliche Regelungen im Wandel
Edo-Zeit
In der Edo-Zeit gab es keinen allgemeingültigen rechtlichen Status für außerehelich geborene Kinder. Kinder
von Konkubinen - und das betrifft natürlich die höheren gesellschaftlichen Schichten - wurden wie eheliche Kinder
des Mannes behandelt. Die Frauen selbst wurden als Dienstboten betrachtet, wie diese entlohnt und hatten für
männliche Nachkommen zu sorgen. Im Sh_mon aratame ninbetsu ch_, als eine Art Religionsbekenntnis-Register
der Vorläufer des heutigen koseki (Familienregister), wurden sie wie eheliche Kinder in der Reihenfolge ihres Alters
338
eingetragen.
Während der ganzen Edo-Zeit gab es kein Gesetz, das sich mit außerehelichen Geburten
beschäftigte, auch im samurai-Kodex nicht. In der Bevölkerung wurde regional sehr unterschiedlich damit
339
umgegangen.
Meiji-Zeit
In den ersten 30 Jahren der Meiji-Zeit wandelte sich der rechtliche Status nichtehelicher Kinder dann stetig. Mit
dem Shinritsu k_ry_, dem Strafgesetz von 1870, wurden Ehefrau und Konkubine auf die gleiche Ebene gestellt,
Kinder von Konkubinen aber den ehelichen untergeordnet: Während letztere Verwandte ersten Grades waren,
340
wurden erstere nur als Verwandte dritten Grades betrachtet.
Im Daj_kan fukoku von 1873 wurde erstmals in der japanischen Rechtsgeschichte zwischen anerkannten und
nicht anerkannten Kindern unterschieden. Kinder von legalen Konkubinen (shoshi) wurden ebenso wie eheliche
(chakushutsushi) als legitime Kinder (k_seishi) anerkannt. Alle anderen wurden als illegitime Kinder (shiseishi)
337
Hardach-Pinke (1991: 17)
Shimazu (1994: 87ff)
339
Shimazu (1994: 97)
340
Shimazu (1994: 87)
338
bezeichnet. Nach einem Entscheid von 1875 wurden auch vom Vater anerkannte shiseishi als shoshi behandelt.
Prinzipiell war ein solches anerkanntes außereheliches Kind der Verantwortung des Vaters unterstellt, mit der
Zustimmung beider konnte es aber in den mütterlichen Haushalt aufgenommen werden. Registriert wurden alle
341
k_seishi nach der Reihenfolge ihrer Geburt.
Mit dem Keih_ten, dem Strafgesetzbuch von 1880, erfolgte (durch schlichte Nichterwähnung) die Abschaffung
des Konkubinats und damit eine Statusänderung vor allem der Kinder von Konkubinen, die es in der Realität ja
nach wie vor gab. Man unterschied nun eheliche Kinder (chakushutsushi), von Vater anerkannte uneheliche Kinder
(shoshi) und sonstige Kinder aus außerehelichen Verbindungen (shiseishi). Die Rechtspraxis änderte sich allerdings
in den späten 1880er Jahren dahingehend, daß vom Vater anerkannte uneheliche Kinder, die ins Register der Mutter
eingetragen wurden, nicht als shoshi, sondern als shiseishi bezeichnet wurden. Eine Weisung des Innenministeriums
von 1892 machte diese Handhabung offiziell. Als Erben der Mutter konnten diese Kinder aber nur dann eingesetzt
werden, wenn keine anderen Verwandten existierten. Außerdem konnten sie jederzeit (auch noch als bereits
Erwachsene) nach dem Willen des Vaters von diesem anerkannt und in sein Register eingetragen werden. Dagegen
342
waren sowohl das betreffende "Kind" als auch dessen Mutter machtlos.
Das Shin minp_, das BGB von 1898, brachte schließlich rechtliche Klarheit, die bis zum Zweiten Weltkrieg
gelten sollte: Laut Familienrecht gehörte (immer nur nach Zustimmung des Familienoberhaupts) das nicht
anerkannte uneheliche Kind (shiseishi) zum Haus der Mutter, das anerkannte zum Haus des Vaters (und wird
dadurch zum shoshi). Die Ehefrau des Vaters wird zur gesetzlichen Mutter (chakubo) des Kindes; zwischen ihnen
(und nicht zwischen leiblicher Mutter und Kind) bestehen dieselben Rechte und Pflichten wie zwischen einem
legitimen Kind und seiner Mutter. Das shoshi wird in der Hauserbfolge den ehelichen Kindern gleichgestellt, bei der
343
Vermögenserbfolge wird ihm nur die Hälfte zugestanden. Mit diesen und weiteren Bestimmungen wurde im
JBGB von 1898 endgültig das ie als grundlegende Einheit etabliert.
Hier zeigt sich ganz deutlich das Problem, Moderne bzw. Modernisierung in Japan in Zusammenhang mit
Familie zu diskutieren. Einerseits könnte man die Vorkriegsfamilie im Rahmen des ie-Systems als "die moderne
Familie" bezeichnen, da die Etablierung dieses Konzepts in eine Zeit fällt, die allgemein als Modernisierungsphase
Japans angesehen wird. Andererseits sind die patriarchalen Strukturen des ie-Systems doch schwer damit in
344
Einklang zu bringen, was gemeinhin als "modern" verstanden wird.
Nachkriegszeit
Mit der Verfassungsreform nach dem Krieg wurden das ie-System, die Rechte des Haushaltsvorstands und das
Majorat (Erbrecht des ältesten Sohnes; ch_shi s_zoku-ken) abgeschafft. Dies war eine Anpassung an die
Menschenrechts-Charta von 1945 und die Verfassung von 1947 - das Recht auf Selbstbestimmund und die
345
Gleichberechtigung von Mann und Frau. Damit wurde das bis dahin allgemein akzeptierte Vorgehen, den Sohn
der Mätresse als Erben einzusetzen, praktisch überflüssig gemacht. Das revidierte BGB kennt den Sonderstatus des
346
shoshi nicht mehr, auch ein vom Vater anerkanntes Kind kann nicht in sein koseki aufgenommen werden.
Laut Familienrecht wird nun nur noch zwischen ehelichen (chakushutsushi) und nichtehelichen Kindern
(hichakushutsushi) unterschieden. Die Anmeldung der Geburt (shussei todoke) eines unehelichen Kindes erfolgt
grundsätzlich durch die Mutter. Die Eintragung erfolgt ins Familienregister der Mutter und das Kind führt den
Namen der Mutter. Danach erst kann die Anerkennung durch den Kindesvater (ninchi todoke) erfolgen, nicht aber
347
eine Umschreibung ins Familienregister des Vaters.
341
Shimazu (1994: 86ff)
Shimazu (1994: 102ff)
343
Treichler (1971: 39ff)
344
Takahashi (1993: 58f)
345
Toshitani (1994: 71)
346
Yoshizuki (1993: 17)
347
Kawashima (1974: 75ff)
342
148
Die Anerkennung (es wird zwischen selbständiger Anmeldung des Vaters, nini ninchi, und Anmeldung auf
Verlangen der Kindesmutter bzw. des Kindes, ky_sei ninchi, unterschieden) stellt einen rechtlichen Zusammenhang
zwischen Vater und Kind her und ist Voraussetzung für den Erbanspruch des Kindes sowie für den Bezug von
348
Unterhaltszahlungen. Die Geburt eines Kindes muß in jedem Fall (also auch bei Freigabe zur Adoption) ins
349
Familienregister der Frau eingetragen werden und wird nie mehr gelöscht. Das koseki, das als Personaldokument
bei verschiedenen Gelegenheiten vorgelegt werden muß, macht nach wie vor einen diskriminierenden Unterschied
zwischen ehelichen Kindern und solchen aus nichtehelichen Beziehungen: Während eheliche Kinder nach
Geburtsreihenfolge und Geschlecht bezeichnet werden (z. B. ch_nan, ältester Sohn; ninan, zweitältester Sohn ...),
350
wird bei den letzteren nur die Geschlechtszugehörigkeit vermerkt.
3. Quantitativer Wandel
Für die Edo-Zeit gibt es keine zuverlässigen Angaben über die Zahl außerehelicher Geburten. Der Historiker
Hayami hat das Sh_mon aratame-ch_ eines Dorfes in der heutigen Präfektur Gifu zwischen 1771 und 1869
ausgezählt und stellte für diesen Zeitraum eine Illegitimitätsrate von etwa 7 % fest. Er selbst bezeichnet diese Rate 351
ohne nähere Erläuterung oder Begründung - als für die Edo-Zeit eher niedrig.
Der Zensus von 1886 war der erste in Japan, bei dem zwischen legitimen und illegitimen Kindern unterschieden
wurde. Die absolute Zahl außerehelicher Geburten lag bei 41.000, die Illegitimitätsrate bei 3,9 %. Eine Spitze
erreichten die Zahlen wischen 1900 und 1920. Im Jahr 1910 erreichte die Illegitimitätsrate mit 9,4 % den höchsten
Stand. Danach sank die Zahl (fast) stetig, besonders rapide nach dem Krieg. Seit Mitte der 60er Jahr bewegt sich der
Anteil der außerehelich Geborenen um die 1 %-Grenze, mit einem minimalen Aufwärtstrend seit 1980. (siehe
Tabelle 1)
4. Hintergründe des Wandels
Die folgenden Ausführungen beruhen auf einer Analyse von Yoshizuki Kyoko, die mir sehr einleuchtend und
brauchbar erschien. Anhand obiger Zahlen nahm sie eine Periodisierung vor, die sie als Analyserahmen für eine
Untersuchung der Entwicklung der unehelichen Geburten in Japan anwandte. Yoshizuki unterscheidet
a) die Phase der Zunahme der unehelichen Geburten in der Meiji-Zeit
b) die Phase der Abnahme unehelicher Geburten von der Taisho-Zeit bis zum WK II
c) die Phase der rapiden Abnahme in der Nachkriegszeit
d) die Phase der gleichbleibend niedrigen Rate in der Gegenwart
348
Ikegami (1982: 212)
Ihaya (1991: 6)
350
Kinj_ (1986: 132)
351
Hayami (1980: 397)
349
4.1 Zunahme der außerehelichen Geburten
Moralische Orientierungslosigkeit
Als Ursache für die starke Zunahme der unehelichen Geburten bis Anfang des 20. Jahrhunderts sieht der Jurist
352
Kat_ Ichir_ den Umbruch der Standesordnung durch den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel.
Während der Edo-Zeit konnten die jungen Menschen in den Dörfern durch Einrichtungen bzw. Gewohnheiten wie
wakamonogumi oder yobai relativ freien Umgang miteinander pflegen, wobei große regionale Unterschiede
bestanden. Oft schloß dies auch voreheliche sexuelle Erfahrungen mit ein, die allerdings bestimmten Regeln
unterworfen waren. So führten Vertraulichkeiten nicht gezwungenermaßen zur Ehe, Intimitäten mit mehreren
Personen wurden allerdings geächtet. Wenn zwei junge Menschen beschlossen zu heiraten, wurden zwar bestimmte
Zeremonien durchgeführt, normalerweise führten sie aber bis zur Geburt des ersten Kindes eine Art Besuchsehe.
Da die Meiji-Regierung die Verbreitung der konfuzianischen Moral verfolgte, konnte sie dieses Verhalten nicht
dulden. Einrichtungen wie die wakamonogumi wurden nach und nach verboten. Anfang des 20. Jahrhunderts
bestanden kaum noch solche Einrichtungen. An die Stelle der freien Partnerwahl rückte die durch den Vermittler
(nak_do) vermittelte und von den Eltern der Betroffenen beschlossene Heirat (nak_do kekkon). In der
Übergangszeit, bevor die nak_do kekkon zur Norm wurde und die Kontrolle durch die wakamonogumi bereits
geschwächt war, wurde laut Kat_ vorehelicher Geschlechtsverkehr zum Spiel. Während davor die Geburt eines
Kindes fast unweigerlich zur Ehe führte, weigerten sich die jungen Männer nun zu heiraten. Laut den Volkskundlern
353
Aruga und Yanagita entstand in dieser Zeit der Ausdruck tetenashigo, vaterloses Kind.
Gesetzliche Unsicherheit
Ebenso wie Yoshizuki neige ich dazu, die erstmalige Einführung landesweit gültiger Gesetze und die damit
verbundenen Unklarheiten und Unsicherheiten als wesentlich stärkere Ursache für das registrierte Ansteigen
außerehelicher Geburten anzusehen als eine sogenannte moralische Desorientierung.
Wie oben ausgeführt wurde, haben sich die gesetzlichen Bestimmungen bezüglich Ehe und Familie in der MeijiZeit ständig geändert. Die Regelungen bezüglich der Gültigkeit einer Ehe waren bis zum Inkrafttreten des BGB
unklar, ebenso der Status der Kinder. Es bestand ein großer Widerspruch zwischen den neuen gesetzlichen
Vorschriften einerseits und den Gewohnheiten der Bevölkerung andererseits. Es dauerte doch bis in die Taisho-Zeit,
bis sich die neuen Bestimmungen einer allgemeinen Akzeptanz erfreuen konnten.
Zudem gab das BGB genaue Voraussetzungen für das Eingehen einer Ehe an, wie etwa die Zustimmung der
Eltern oder ein bestimmtes Heiratsalter. Viele konnten ihre Verbindung aus diesen Gründen nicht legalisieren, und
durch die gesellschaftliche Akzeptanz von naien-Beziehungen (Gewohnheitsehe) wurde dies auch nicht als
354
unbedingt notwendig erachtet.
4.2 Abnahme der außerehelichen Geburten
Vorkriegszeit
Der Grund für den Rückgang der Illegitimitätsrate während der Taisho-Zeit bis zum Zweiten Weltkrieg liegt
hauptsächlich in einer Bewußtseinsänderung. Zwei wesentliche Reformen der Meiji-Regierung, das Eherecht des
BGB sowie die Verankerung des konfuzianischen Moralunterrichts in den Schulen, zeigten allmählich ihre
Wirkung: Der zuvor eher "lockere" Umgang mit Ehe und Scheidung wurde ab den 20er und 30er Jahren auch in
ländlichen Regionen immer stärker den gesetzlichen und moralischen Vorgaben der Herrschenden unterworfen; die
352
Kat_ (1961)
Yoshizuki (1993: 77ff)
354
Yoshizuki (1993: 81ff)
353
150
355
Scheidungsrate sank ebenso wie die Illegitimitätsrate. Gleichzeitig sank die Zahl der naien-Verbindungen und als
Übergangs- oder Probezeit kam sie immer mehr außer Mode bzw. wurde der Zeitraum dieser Phase immer
356
kürzer.
Der leichte Anstieg während des Krieges ist zum einen sicher Folge der Propaganda (Abtreibung wurde
verfolgt), zum anderen aus der Ausnahmesituation des Krieges selbst erklärbar.
Nachkriegszeit
Für das rasche Absinken der Illegitimitätsrate nach dem Krieg sind verschiedenste Gründe verantwortlich. Mit
der Revision des BGB wurden erstens die Voraussetzungen für das Eingehen einer Ehe gelockert (Paare, die vorher
in einer naien-Beziehung leben mußten, konnten nun heiraten), zweitens wurde durch die Abschaffung des ieSystems die Einsetzung außerehelicher Kinder als Hauserben überflüssig gemacht. Auch die Einstellung der
Bevölkerung hatte sich stark geändert; das Gefühl, daß Heirat eine persönliche Entscheidung sei, stieg in der
Nachkriegszeit enorm. Schließlich gab es nach dem Krieg verbesserte Methoden der Empfängnisverhütung und vor
allem einen leichteren Zugang zum Schwangerschaftsabbruch: Als Maßnahme zur Eindämmung des Bevölkerungswachstums wurde 1948 das Mansei hogoh_, das Eugensche Schutzgesetz, erlassen; 1952 kam zur medizinischen
Indikation auch die soziale hinzu.
Daß sich die Illegitimitätsrate in Japan im Gegensatz zur steigenden Tendenz in anderen Industrienationen auch
in den letzten zwanzig Jahren stabil auf einem niedrigen Niveau bewegt, ist auf ein Zusammenspiel verschiedener
Faktoren zurückzuführen, deren genaue Analyse den Rahmen des Beitrags sprengen würde. Als wesentlich scheinen
mir neben den oben ausgeführten rechtlichen Bestimmungen und der immer noch existierenden gesellschaftllichen
Stigmatisierung vor allem mangelnde wohlfahrtspolitische Einrichtungen für die betroffenen Frauen, wie etwa
bezahlter Karenzurlaub und die schwere Vereinbarkeit von Beruf und Mutterschaft, die auch verheirateten Frauen
zu schaffen macht (Kleiber 1991).
Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß außereheliche Geburten an sich natürlich schon in der Edo-Zeit
als solche registriert wurden. Der Begriff der Illegitimität (hichakushutsu) wurde aber erst in der Meiji-Zeit geprägt,
und die in dieser Zeit neu eingeführten moralischen und rechtlichen Normen führten zu einer verstärkten
Stigmatisierung und Diskriminierung von sogenannten unehelichen Kindern. Die Verantwortlichkeit des
Kindesvaters wurde, wie in den obigen Ausführungen klar wurde, immer stärker eingeschränkt. Mit der
Abschaffung des ie-Systems nach dem Krieg wurde schließlich den außerehelich geborenen Söhnen das genommen,
was ihnen bis dahin in der japanischen Gesellschaft eine besondere Bedeutung gegeben hatte: die Möglichkeit der
Hauserbfolge. Geblieben sind bis heute die Benachteiligung in der Vermögenserbfolge, die diskriminierende
Unterscheidung im koseki, das mangelnde Verantwortungsbewußtsein der leiblichen Väter und ein
gesellschaftliches Bewußtsein, das außerehelich geborene Kinder zwar kaum noch aktiv diskriminiert, aber
automatisch als bemitleidenswert (kawais_) wahrnimmt.
Literatur:
Hardach-Pinke, Irene (Hg): Japan - eine andere Moderne. Tübingen, 1991.
Hayami Akira: Illegitimacy in Japan, in: Laslett, Peter et al. (Hrsg.): Bastardy and its Contemporary History. Studies
in the History of Illegitimacy and Marital Nonconformism in Britain, France, Germany, Sweden, North America,
Jamaica and Japan. London, 1980.
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Ikegami Chizuko: Shinguru maz_. T_ky_: Gaku shobo, 1982.
Kawashima Takeyoshi: Katei no h_ken. T_ky_, 1974.
355
356
Yuzawa (1974)
Yoshizuki (1993: 83f)
Kinj_ Kiyoko: Kazoku to iu kankei. T_ky_: Iwanami shinsho, 1985.
Kleiber, Karin: Die Situation unverheirateter Mütter in Japan. Diplomarbeit. Wien, 1991.
Shimazu Yoshiko: Unmarried Mothers and Their Children in Japan, in: Nichibei josei j_naru (1994)6, 83-110.
Takahashi Mutsuko: Identity, Gender and Ethnicity: Cultural Meaning of the Family in Contemporary Japan, in:
Transient Societies. Japanese and Korean Studies in a Transitional World. Tampere: Univ. of Tampere, 1993
(Acta Universitatis Tamperensis B/42), 51-79.
Toshitani Nobuyoshi: The Reform of Japanese Family Law and changes in the Family System, in: Nichibei josei
j_naru (1994)6, 66-82.
Treichler, Thomas Peter: Zum japanischen Familienrecht. Darstellung einiger Materien des japanischen
Familienrechts, die unter dem japanischen Bürgerlichen Gesetzbuch von 1898 westlichen Vorbildern nicht
gefolgt sind. Zürich, 1971.
Yoshizuki Kyoko: Kongaishi no shakaigaku. T_ky_: Seikai shis_sha, 1993.
Yuzawa Yasuhiko: Rikon-ritsu no suii to sono haikei, in: Aoyama Michio et al. (Hrsg.): Konin no kaish_. T_ky_:
K_bund_, 1974, 331-350.
152
Hilaria Gössmann ( Deutsches Institut für Japanstudien, T_ky_)
Die japanische Fernsehfamilie zwischen Tradition und Moderne
Vorstellung des Forschungsprojekts
"Das Bild der Familie in den japanischen Fernsehdramen"
Zur Bedeutung des Genres "Fernsehdrama" in Japan
Seit ihrer Entstehung in den fünfziger Jahre wurden in den japanischen Fernsehdramen (terebi dorama) in erster
Linie Themen aus dem alltäglichen Lebensbereich des Fernsehpublikums aufgegriffen und somit ein Ausschnitt aus
dem Alltagsleben gestaltet. Obwohl sich diese Dramen mit der Zeit verändert haben - zum Beispiel wird nicht mehr
nur die Familie, sondern auch der Arbeitsbereich heute stärker miteinbezogen - geht es nach wie vor in erster Linie
um zwischenmenschliche Beziehungen, insbesondere in der Familie. Es gibt verschiedene Arten von
Fernsehdramen, wie das ein- bis zweistündige Fernsehdrama (tanpatsu dorama), das über einen Zeitraum von zweibis drei Monaten einmal wöchentlich gesendete Fortsetzungsdrama (renzoku dorama) sowie die Telenovela (terebi
357
sh_setsu), die vom NHK-Fernsehen ein halbes bis ein Jahr lang täglich morgens und mittags gesendet wird.
Neben Krimiserien nahmen Fernsehdramen, bei denen die Familie im Mittelpunkt steht, in Japan von Anfang an
einen hohen Stellenwert ein. Für diese Fernsehdramen mit der pseudo-englischen Bezeichnung h_mu dorama galt
ursprünglich, daß nichts dargestellt werden durfte, was den Frieden in den Familien des Fernsehpublikums stören
könnte. Als zum Beispiel 1965 der autobiographische Roman H_r_ki (Aufzeichnungen einer Vagabundenzeit) der
Autorin Hayashi Fumiko als Telenovela (terebi sh_setsu) vom NHK-Fernsehen ausgestrahlt wurde, hatte man die
358
drei Ehen der Hauptfigur in der Drehbuchfassung zu einer einzigen zusammengestrichen .
Die Familienform, die in der Anfangszeit der Fernsehdramen vornehmlich gestaltet wurde, war die Großfamilie,
in der mehrere Generationen zusammenlebten. Hierin offenbarte sich eine gewisse Nostalgie, die Sehnsucht nach
der "guten alten Zeit", da sich in der gesellschaftlichen Realität der japanischen Nachkriegszeit immer mehr die
Lebensform der Kernfamilie durchsetzte. In den Vätern dieser patriarchalischen Familien der Fernsehdramen, die
alle Probleme ihrer Kinder lösten, sieht Hirahara Hideo eine Projektion der Firmenchefs zur Zeit des
359
Wirtschaftswachstum. Diese Dramen mit einem Vater im Mittelpunkt wurden Ende der sechziger Jahre abgelöst
von den sogenannten "Mutter-zentrierten-Dramen" (haha-oya ch_shin-gata h_mu dorama), in denen die Mutter,
meist eine Witwe, alle Krisen meisterte und die Familie zusammenhielt. Hierin spiegelte sich die Entwicklung in der
japanischen Gesellschaft zur Zeit des Wirtschaftswachstums wider, als die Männer aufgrund ihrer Arbeit immer
weniger Zeit für die Familie aufbringen konnten und den familiären Bereich nun ganz ihren Frauen überließen. Es
machte jedoch keinen großen Unterschied, ob in den Fernsehdramen eine Mutter oder ein Vater im Mittelpunkt
stand. In jedem Fall war die Familie der Ort, an dem alle Familienmitglieder zur Ruhe kamen und das Oberhaupt
alle Probleme löste.
Was das Frauenbild in den Fernsehdramen bis Mitte der siebziger Jahre betrifft, gab es einer Analyse von
Muramatsu Yasuko zufolge zwei typische Heldinnen, die tanomoshii haha, die "Mutter, auf die man sich verlassen
kann", und die taeru onna, die "leidende Frau", die (noch) nicht in eine Familie eingebunden ist. Muramatsu sieht
auf diese Weise die Botschaft vermittelt, daß Frauen innerhalb der Familie Macht und Einfluß haben, jedoch
schreckliche Erfahrungen machen müssen, sobald sie den sicheren Bereich von Haus und Familie verlassen und sich
360
in die "feindliche" Welt hinaus begeben. Dies kann die Funktion einer Warnung haben.
Als sich in den siebziger Jahren sowohl beim Publikum als auch bei den in der Produktion Beschäftigten ein
357
Zu Geschichte sowie Charakteristika des Genres Fernsehdrama vgl. Toriyama (1986).
Muramatsu (1979: 31)
359
Hirahara (1994: 51)
360
Muramatsu (1979: 127)
358
gewisser Überdruß einstellte in bezug auf die heile Welt in den Fernsehfamilien, die sich vom wirklichen Leben der
Menschen immer mehr entfernte, entstanden die sogenannten karakuchi h_mu dorama, die "bitteren
361
Familiendramen", die sich Themen wie der Entfremdung von Familienmitgliedern zuwandten. Nachdem das
Thema "Familie" in den achtziger Jahren eine Zeitlang fast ganz aus den Fernsehdramen verdrängt war und
stattdessen in den sogenannten torend_ dorama ("trendy drama") die Liebesgeschichten und das konsumorientierte
Leben von Singles in den Vordergrund traten, werden in den neunziger Jahren mit dem Ende der sog.
Bubble-Wirtschaft erneut viele Fernsehdramen gesendet, in denen eine Familie im Mittelpunkt steht.
Auch wenn bei den japanischen Fernsehdramen von seiten der Produzierenden der Anspruch erhoben wird, die
Realität abzubilden, handelt es sich dabei natürlich nicht um eine dokumentarische Wiedergabe der
gesellschaftlichen Wirklichkeit, sondern es werden auch die (vermeintlichen) Wunschvorstellungen der Zuschauer
bzw. der an der Produktion Beteiligten auf den Bildschirm projiziert. Diese Verquickung von Realitätsspiegelung
und Idealisierung ist ein wichtiges Charakteristikum von Fernsehserien nicht nur in Japan. Wie auch Jan Uwe Rogge
betont, geht das Verhältnis Gesellschaft - Familienserie selbstverständlich nicht in "monokausalen Beziehungen"
auf; die Fernsehserien sind vielmehr ein "Psychometer, das Auskunft gibt über gesellschaftliche und individuelle
362
Befindlichkeiten". Die folgende Aussage von Lothar Mikos trifft ebenfalls auf die japanischen Fernsehdramen zu:
"Familienserien existieren keineswegs in einem gesellschaftsfreien Raum, sondern verarbeiten soziale Konflikte
und Themen. Sie können als Kulturprodukte angesehen werden, in denen sich die Gesellschaft in symbolischer
363
Form über sich selbst verständigt."
Obwohl im Fall der japanischen Fernsehdramen der Anspruch, ein realistischer Spiegel der Gesellschaft zu sein,
besonders deutlich wird, sind paradoxerweise bestimmte Entwicklungen in den Fernsehdramen denen in der
gesellschaftlichen Realität diametral entgegengesetzt. So kam es etwa, kurz nachdem die Meldung über die sinkende
Geburtenrate in den japanischen Medien für Aufruhr gesorgt hatte, zu einem auffälligen Geburtenzuwachs in den
Fernsehdramen. In den meisten Dramen wird nunmehr als Happy-end mindestens ein Kind geboren: In Ch_nan no
364
yome (Nr. 14, Die Frau des ältesten Sohnes) werden sogar drei Schwägerinnen gleichzeitig schwanger. Der
Sender TBS startete ein Fortsetzungsdrama, das in der Praxis und Familie eines Gynäkologen spielt und den Titel
Ninshin desu yo (Nr. 12, Sie sind schwanger) trägt. Nachdem es in jeder Folge um die Entbindung einer Patientin
ging, endete die Serie damit, daß auch die Frau des Arztes ein Kind bekommt. Am Ende des Fortsetzungsdramas
Onna no iibun (Nr. 10, Die Einwände einer Frau) steht die Schwangerschaft der 45-jährigen Schwägerin der
Hauptfigur. Ganz so, als wollte nun auch das NHK-Fernsehen seinen Beitrag zur Steigerung der Geburtenrate
leisten, sendete es Ende 1994 ein Fortsetzungsdrama mit dem Titel Aka-chan ga kita (Nr. 18 Das Baby ist da), in
dem eine Maskenbildnerin ihre Karriere zeitweilig wegen der Geburt ihres Kindes zurückstellt.
All dies vermittelt den Eindruck, daß in den Fernsehdramen auf subtile oder zum Teil auf erstaunlich direkte
Weise versucht wird, Einfluß auf die Entwicklung in der Gesellschaft zu nehmen, auch wenn von deutschen
Medienwissenschaftlern sicher zu Recht davor gewarnt wird, "von dramatischen und dramaturgischen Strukturen
365
auf vermeintliche oder vermutete Wirkungen zu schließen". Muramatsu Yasuko, die sich seit über 20 Jahren
intensiv mit dem Genre Fernsehdrama auseinandersetzt, schätzt ihre Funktion folgendermaßen ein:
"Die Darstellung innerhalb eines Fernsehdramas birgt folgende beide Möglichkeiten in sich: Zum einen ist es
eine direkte wie indirekte Widerspiegelung der Sozialpsychologie, des Bewußtseins und der Wünsche der
361
Yamada Taichi war derjenige, der mit seinen Dramen diese Entwicklung vorantrieb. Zum Werk dieses Drehbuchautors vgl.
Kawamoto (1983) sowie Gössmann (1994).
362
Rogge 1986: 202)
363
Mikos (1986: 28)
364
Die Nummern der Fernsehdramen beziehen sich auf die Tabelle im Anhang dieses Referats, die nähere Angaben über die
Fernsehdramen enthält.
365
Rogge (1987: 22)
154
Menschen der Gesellschaft, die diese Dramen gerne sehen. Zugleich können [die Figuren] auf irgendeine Weise
zu Rollenmodellen für die Handlungs- und Lebensweise des Publikums werden sowie Einfluß auf ihre
366
Urteilsfähigkeit ausüben."
Zu Methode und Erkenntnisinteresse der Analyse von Fernsehdramen
Im Rahmen der Projektgruppe "Der gesellschaftliche Wandel seit der Nachkriegszeit in Japan am Beispiel der
Familie" am Deutschen Institut für Japanstudien in T_ky_ gehe ich der Frage nach, welche Familienbilder in den
populären Fernsehdramen gezeichnet werden. Im Mittelpunkt meiner Analyse stehen die populären
Fortsetzungsdramen der Privatsender, die während der Hauptsendezeit zwischen 20 und 23 Uhr ausgestrahlt
werden. Diese Fortsetzungsdramen von acht bis zwölf Folgen weisen den höchsten Grad an Popularität auf und
bilden ein beliebtes Gesprächsthema in der Familie, Schule und am Arbeitsplatz. Da sie über einen Zeitraum von
zwei bis drei Monaten ausgestrahlt werden und dabei stark auf die Einfühlung des Publikums angelegt sind, ist
davon auszugehen, daß ihr Einfluß auf das Publikum stärker ist als in den einmalig ausgestrahlten Dramen.
Zusätzlich werden auch einige Beipiele des über einen Zeitraum von etwa einen Monat lang jeden Abend
gesendeten Fortsetzungsdramas der Serie Shin ginga (Neue Milchstraße) des NHK-Fernsehens miteinbezogen.
Bei der Analyse der Fernsehdramen geht es selbstverständlich nicht darum, zu Erkenntnissen über die japanische
Familie an sich zu kommen, sondern zu untersuchen, welche Familienbilder in den Fernsehdramen gezeichnet
367
werden.
Wie bereits erwähnt, kann aus den Analyseergebnissen keineswegs direkt auf die Rezeption der
Fernsehdramen geschlossen werden; hierzu wären Umfragen und Tiefeninterviews in großem Umfang erforderlich.
Ziel ist es vielmehr zu analysieren, mit welchen Bildern von Familie das japanische Fernsehpublikum der Serien
tagtäglich konfrontiert wird, um zu Aussagen darüber zu kommen, welche Botschaft (message) ein Fernsehdrama
vermitteln könnte, und ob den japanischen Fernsehdramen diesbezüglich ein einheitliches Muster zugrunde liegt. In
meine Analyse miteinbezogen wird die Diskussion der Inhalte populärer Fernsehdramen in den Printmedien, die
gewissermaßen als Versuch, die Rezeption in eine bestimmte Richtung zu lenken, angesehen werden kann.
Sowohl in Japan als auch im deutschsprachigen Raum wird die Analyse von Fernsehprogrammen hauptsächlich
368
von soziologischer Seite mit den Methoden der quantitativen und qualitativen Inhaltsanalyse vorgenommen .
Wenn bei einem Fortsetzungsdrama in einer Querschnittanalyse lediglich ein Sample von einigen wenigen Folgen
analysiert wird, bleiben jedoch wichtige Aspekte notgedrungen unberücksichtigt. Die Ergebnisse erlauben kaum
Aussagen darüber, was die Figuren einer Serie wirklich bewegt und welche Veränderungen sich vollziehen. Um zu
ermitteln, welche Botschaft ein Fernsehdrama vermittelt, gilt es, die gesamte Entwicklung von Anfang bis Ende
eines Fortsetzungsdramas miteinzubeziehen. Aus diesem Grunde habe ich mich für die Längsschnittanalyse, also die
detaillierte Analyse sämtlicher Folgen eines Fernsehdramas, entschieden, wobei ich mich vornehmlich an literaturbzw. filmwissenschaftlichen Methoden orientiere. Dabei wird u.a. folgenden Fragen in bezug auf die
Fernsehdramen nachgegangen:
- Welche Lebensformen werden vorgeführt?
- Welche Einstellungen werden in bezug auf Ehe und Familie vertreten?
- Werden bestimmte Verhaltensweisen, z.B., wenn sie von der Norm abweichen, mit einer tragischen Entwicklung
für die Figur "bestraft"?
In den meisten Familiendramen steht der "Schutz der Familie" offensichtlich an oberster Stelle. So ist es zum
Beispiel äußerst selten, daß die Beziehung einer Frau mit einem verheirateten Mann in einer Ehe endet. In "Deatta
koro no kimi de ite" (Nr. 6, Bleib so, wie du warst, als wir uns trafen) tritt dieser äußerst seltene Fall ein. Allerdings
läßt sich der Mann hier deshalb scheiden, weil seine Frau einen Geliebten hat. Mit seiner neuen Partnerin ist der
366
Muramatsu (1979: 1)
Inwieweit diese Bilder mit der Realität übereinstimmen, soll in einem zweiten Schritt durch einen Vergleich mit den
Forschungsergebnissen der Projektgruppe, die sich z.B. mit Statistiken und Umfrageergebnissen befaßt, ermittelt werden.
368
Vgl. hierzu etwa die deutschsprachige Studie zum Frauen- und Männerbild im Deutschen Fernsehen von Monika Weiderer
(1993). Der Analyse liegt ein dreiwöchiges Programmsample zugrunde.
367
Mann lediglich einen Tag verheiratet, bevor er tödlich verunglückt. Eine Familie zu zerstören (katei o kowasu), wird
meist als etwas dargestellt, das allen Beteiligten nur Unglück bringt. So ist es nur konsequent, daß die (potentiellen)
Geliebten, die in vielen Dramen als Bedrohung einer Ehe auftauchen, meist von sich aus das Feld räumen. Beispiele
hierfür sind die Fortsetzungsdramen "Oka no ue no himawari" (Nr. 3, Die Sonnenblumen auf dem Hügel)
,"Kach_-san no yakudoshi" (Nr. 7, Das Unglücksjahr des Abteilungsleiters), "Onna no iibun" (Nr. 10, Die
Einwände einer Frau) sowie "Yome no deru maku" (Nr. 15, Hier ist die Ehefrau gefragt).
Bei der Analyse der Fernsehdramen ist auch danach zu fragen, in welchen Lebenssituationen die Figuren als
glücklich oder unglücklich dargestellt werden. Allein die Aussage, wieviel Frauen auf dem Bildschirm in
Karriereberufen gezeigt werden, sagt noch recht wenig aus. Wichtig ist vielmehr, ob sie zufrieden erscheinen, oder was häufig der Fall ist - ihren beruflichen Erfolg mit Unglück im Privatleben bezahlen müssen.
Von Bedeutung ist auch, bei welchen Figuren die Innenwelt ausführlich dargestellt wird, da auf diese Weise die
369
Sympathie des Publikums eher auf die Seite dieser Figur gelenkt wird.
Im Fall des äußerst populären
Fortsetzungsdramas "Zutto anata ga suki datta" (Nr. 1, Ich habe dich immer geliebt), in dem es um das Scheitern
einer Ehe aufgrund des Mutterkomplexes des Ehemannes geht, erhält die Mutter keine Gelegenheit, ihre Sicht des
Geschehens kundzutun. Sie wird als eine dämonische Frau dargestellt, die die alleinige Schuld für die
Fehlentwicklung ihres Sohnes trägt. Auf diese Weise wird eine Auseinandersetzung mit der grundsätzlichen
Problematik, warum eine Frau ihre Söhne in Abhängigkeit hält, bzw. die gesellschaftliche Situation von Frauen, die
solch ein Verhalten fördert, vermieden. Auch in den zahlreichen Artikeln in den Printmedien zu der Erfolgsserie
"Zutto anata ga suki datta" wird an keiner Stelle darauf eingegangen.
Die Rollenverteilung der Ehepartner in den Familiendramen der 90er Jahre
Eine zentrale Fragestellung bei meiner Analyse des Familienbildes ist die Darstellung der geschlechtsspezifischen Rollenverteilung. Im folgenden beschränke ich mich auf die Vorstellung erster Ergebnisse in bezug auf
diese Fragestellung, anhand derer besonders deutlich wird, inwieweit Veränderungen von traditionellen
Rollenvorstellungen hin zu moderneren zu verzeichnen sind. Im Rahmen des Forschungsprojektes wird bei der
Analyse der Fernsehdramen darüber hinaus Fragen nachgegangen wie die Eltern-Kind-Beziehungen und die
Versorgung der älteren Generation.
In der Tabelle im Anhang wird eine repräsentative Auswahl von 18 Fortsetzungsdramen, die von 1992 bis 1994
gesendet wurden, in chronologischer Reihenfolge aufgeführt. Für die Analyse der vorliegenden Fragestellung
ausgewählt wurden lediglich diejenigen Dramen, bei denen die Hauptfiguren Ehepartner sind. Verzeichnet wurden
jeweils die Ausgangssituation und die Veränderungen in bezug auf die geschlechtsspezifische Rollenverteilung bis
hin zur letzten Folge.
Wie die Tabelle zeigt, ist die häufigste Lebensform von Paaren zu Beginn eines Dramas auch in den 90er Jahren
noch die traditionelle geschlechtsspezifische Rollenverteilung, bei der der Mann für den Beruf und die Frau für
Haushalt und Familie zuständig ist. Bezeichnenderweise erscheint gerade in den beiden erfolgreichsten Dramen der
letzten Jahre "Zutto anata ga suki datta" (Nr. 1, Ich habe dich immer geliebt) und "Dare ni mo ienai" (Nr. 4,
Niemand darf es wissen) das Geschlechterverhältnis als besonders traditionell. Die Hauptfigur in "Zutto anata ga
suki datta" läßt sich kurz vor ihrem 30jährigen Geburtstag von ihrem Vater zu einer Ehe auf Vermittlung (omiai
kekkon) überreden und gibt anläßlich ihrer Heirat ihren Beruf auf. Als sie bemerkt, daß ihr Ehemann völlig von
seiner Mutter dominiert wird, zieht sie aus der gemeinsamen Wohnung aus und sucht sich einen Job. Nachdem sie
sich mit ihrem Mann versöhnt hat, gibt sie den Beruf jedoch sofort wieder auf, weil er möchte, daß sie zuhause
369
Vgl. hierzu Stanzel: "Innenweltdarstellung ist ein äußerst wirksames Mittel zur Sympathiesteuerung, weil dabei die
Beeinflussung eines Lesers zugunsten einer Gestalt der Erzählung unterschwellig erfolgt. Je mehr ein Leser über die innersten
Beweggründe für das Verhalten eines Charakters erfährt, desto größer wird seine Bereitschaft sein, für das jeweilige Verhalten
dieses Charakters Verständnis, Nachsicht, Toleranz usw. zu hegen" (Stanzel 1989: 173-174). Dies trifft auch auf die
Darstellungsweise in Film und Fernsehen zu.
156
bleibt. Die Arbeit erscheint somit lediglich als Mittel zum Geldverdienen, die Hausfrauen-Ehe wird nicht
grundsätzlich angezweifelt. Ausschlaggebend dafür, daß die Ehe schließlich doch scheitert, ist der Mutterkomplex
des Mannes. Die Hauptfigur läßt sich scheiden und heiratet einen Jugendfreund.
Ähnlich traditionell sind die Rollenvorstellungen in dem Fernsehdrama "Dare ni mo ienai", das ein Jahr später
ausgestrahlt wurde. In den jeweiligen Szenen der beiden Dramen, die den Tag nach der Hochzeit zeigen, bedient die
Ehefrau den Ehemann, der zur Arbeit geht, und widmet sich dann der Hausarbeit. Der einzige Unterschied besteht
darin, daß in "Dare ni mo nai" die Ehe nicht auf Vermittlung geschlossen wurde und die beiden somit eine
herzlichere Beziehung zueinander haben. Zu Beginn der Ehe sagt die Hauptfigur zwar noch, sie wolle eigentlich
arbeiten gehen, dann konzentriert sie sich jedoch ganz darauf, möglichst bald schwanger zu werden, wofür sie eine
langwierige gynäkologische Behandlung in Kauf nimmt, da sie mit der Nachbarin in einen Wettstreit getreten ist,
wer zuerst ein Kind bekommt. Am Ende des Dramas ist sie glückliche Mutter von Zwillingen.
In der Mehrzahl der Fernsehdramen der neunziger Jahre wird die traditionelle Rollenverteilung jedoch von den
weiblichen Hauptfiguren nicht mehr als so selbstverständlich und unveränderbar angesehen, sondern zunehmend als
unbefriedigend empfunden. Wie anhand von fünf Beispiele der Tabelle (Nr. 2, 5, 8, 9,10) deutlich wird, ist die
Unzufriedenheit einer Hausfrau mit ihrer Lebenssituation als ein wichtiges Thema der Dramen der Gegenwart zu
bezeichnen.
In "Kono ai ni ikite" (Nr. 8, Für diese Liebe leben) bemerkt die Hauptfigur nach fünf Jahren Ehe, daß es
eigentlich nur noch das Kind ist, das sie und ihren Ehemann miteinander verbindet. Als sie erfährt, daß ihr Mann
regelmäßig seine Ex-Frau besucht, geht sie selbst eine außereheliche Beziehung ein. Während sie sich mit ihrem
Geliebten trifft, wird ihr Sohn entführt und schließlich ermordet - ein typisches Beispiel für die "Bestrafung"
unmoralischen Verhaltens. Nachdem die Frau selbst den Mörder ihres Kindes umgebracht hat, klagt sie beim
Verhör gegenüber dem Polizisten über ihre Lebenssituation und die Einsamkeit, die sie empfunden hat, als sie für
ihren Mann nichts anderes mehr als die Mutter ihres Kindes war. In dieser Situation sagt der Polizist: "Ich habe das
Gefühl, als höre ich meine eigene Frau reden." Durch Szenen wie diese wird von der individuellen Problematik
abstrahiert und auf die Allgemeingültigkeit verwiesen.
Während in vielen Dramen als Ausbruchsmöglichkeit nur die "Flucht in die Arme eines anderen Mannes", also
ein Partnerwechsel in Frage kommt, so auch in dem bereits erwähnten Erfolgsdrama "Zutto anata ga suki datta", gibt
es zunehmend Beispiele, in denen Frauen ihrer Unzufriedenheit mit der eigenen Lebenssituation durch
Berufstätigkeit begegnen. In "Yukkuri odaietto" (Nr. 9, In aller Ruhe abnehmen) macht die Hauptfigur ihr Hobby,
das Malen, zum Beruf, in "Sangenme no y_waku" (Nr. 11, Die Versuchung in der Nachbarschaft) hat die Ehefrau
sich durch ehrenamtliche Tätigkeit eine berufliche Qualifikation, die Altenpflege, erworben, die sie, nachdem sie
ihre Familie verlassen hat, zum Beruf macht.
Gemeinsam ist all diesen Dramen, daß es meist nur die Frauen sind, die sich verändern. Eine Ausnahme bildet
hier das Drama "Otona no kisu" (Nr. 5, Küsse von Erwachsenen), in dem sich ein Mann mit der
geschlechtsspezifischen Rollenverteilung auseinandersetzt, was einen grundsätzlichen Veränderungsprozeß bei ihm
auslöst. Mit dem Drama konnten allerdings bezeichnenderweise keine so hohen Einschaltquoten erzielt werden. Zu
Beginn des Dramas verläßt die Ehefrau ihren Mann, da ihr bewußt geworden ist, daß sie für ihn nichts anderes als
eine Mutter ist, und sie möchte - bevor es zu spät ist - sich noch einmal "als Frau fühlen". Auslöser dieser
plötzlichen Reaktion seitens der Frau ist die Tatsache, daß ihr Mann eines Tages heimkehrt und ihr ganz naiv, so,
als sei sie seine Mutter, erzählt, eine Kollegin in der Firma habe ihn auf dem Nachhauseweg unvermittelt
leidenschaftlich geküßt. Nachdem seine Frau ihn verlassen hat, ist der Vater mit seinem Sohn ganz auf sich allein
gestellt. Sie haben sich offensichtlich schon seit Tagen von Fertigmenüs ernährt, bis sozusagen als eine Art deus ex
machina ein Freund auftaucht, den seine Frau, eine Zahnärztin, vor die Tür gesetzt hat. Die beiden Männer sind als
absolut konträre Typen gezeichnet, der Hauptdarsteller als ein Ehemann, der sich von seiner Frau bemuttern läßt,
und sein Freund als ein Mann, der alle Aufgaben im Haushalt mit Bravour meistert, dafür jedoch ständig
wechselnde Geliebte hat, weshalb sich seine Ehefrau schließlich von ihm trennt. In dieser Situation quartiert er sich
bei seinem Freund ein und weiht diesen und seinen kleinen Sohn in die Geheimnisse der Haushaltsführung ein.
Bereits am ersten Morgen in diesem frauenlosen Haushalt wird er automatisch in die Rolle der Hausfrau, die für
alles zuständig ist, gedrängt. In dieser satirisch wirkenden Situation - sein Freund fragt ihn z.B., wo denn seine
Strümpfe seien, wird die Hilflosigkeit eines von seiner Frau abhängigen Mannes besonders deutlich. Im Laufe des
Dramas kommt es jedoch zu einer grundsätzlichen Veränderung dieses Mannes, der zusammen mit seinem Sohn
sogar Brot backen lernt. Am Schluß trifft er wieder mit seiner inzwischen berufstätigen Frau zusammen und bittet
sie, einen Neuanfang zu wagen. Es zeichnet sich die Möglichkeit ab, daß in diesem Drama eventuell die traditionelle
Rollenverteilung überwunden wird. Bezeichnenderweise wird der Entwicklungsprozeß des Mannes in den Artikeln
in den Printmedien zu dieser Serie so gut wie gar nicht angesprochen wird, sondern lediglich auf oberflächliche
Aspekte eingegangen wie die verschiedenen Arten von Küssen, die in diesem Fernsehdrama ausgetauscht werden
und ihm den Namen gegeben haben.
Eine partnerschaftliche Rollenverteilung ist in den Dramen kaum anzutreffen. In fast allen Fällen ist die Frau,
wenn sie berufstätig ist, der Doppelbelastung von Beruf und Familie ausgesetzt. Bezeichnenderweise wird in diesen
Dramen, in denen bis zu einem gewissen Grade Veränderungen im Frauenbild zu verzeichnen sind, am Schluß oft
370
doch wieder eine Kehrtwendung vollzogen. In "Daburu Kitchin" (Nr. 13, Double Kitchen), bleibt die Ehefrau
auch nach der Geburt ihres Kindes weiter in der Redaktion einer Zeitung tätig. Als ihr Ehemann jedoch nach
England versetzt wird, gibt sie ihre Stelle offensichtlich ohne weiteres Bedauern auf. Auch in "Ch_nan no yome"
(Nr. 14, Die Frau des ältesten Sohnes) wird der Ehemann versetzt, allerdings nicht ins Ausland, sondern nach
Kansai, und seine Frau steht vor der Wahl, ob sie mitkommt oder in T_ky_ bleibt. Sie entscheidet sich schließlich
dafür, bei der Familie ihres Mannes zu bleiben, zum einen, um für seine Mutter und seinen senilen Großonkel zu
sorgen, zum anderen, um weiter berufstätig zu sein. Sie erscheint als das Idealbild einer Frau, die sowohl dem
traditionellen als auch dem modernen Frauenbild entspricht. In "Yome no deru maku" (Nr. 15, Hier ist die Ehefrau
gefragt) kündigt die Ehefrau nach dem Tod der Schwiegermutter ihre Stellung als Verkäuferin, um für die Familie
ihres Mannes zu sorgen. In "Kazoku A" (Nr. 17, Die Familie A) gibt die Ehefrau nach einem Seitensprung ihren
Beruf auf, um ihre Ehe zu retten. Auch in diesem Drama, eines der seltenen Beispiele, in denen zumindest zu
Beginn eine partnerschaftliche Aufteilung der Hausarbeit unter den beiden Ehepartnern vorliegt, verzichtet die Frau
also auf ihre Karriere. Lediglich in zwei Dramen der ausgewählten Beispiele wird die partnerschaftliche Aufteilung
der Hausarbeit durchgehalten, in "Aka-chan ga kita" (Nr. 18, Ein Baby ist da) des NHK-Fernsehens und in "Onna
kenji no s_sa fairu" (Nr. 17, Die Untersuchungsakte der Staatsanwältin), wobei in letzterem Beispiel, das dem Genre
Krimiserie angehört, nicht die Familie im Mittelpunkt steht. Hauptfigur ist hier eine jungverheiratete Staatsanwältin.
Sie und ihr Ehemann, ein Journalist, werden - meist im Vor- oder Nachspann der Sendung - immer abwechselnd bei
der Hausarbeit gezeigt.
Resümee
Vergleicht man nun die Beobachtungen in bezug auf die Familiendramen der neunziger Jahre mit den Ergebnisse
der Analyse von Muramatsu Yasuko aus dem Jahr 1979, so läßt sich folgendes festzustellen: Die "alle Probleme
meisternde Mutter", die tanomoshii haha, ist - zumindest als Hauptdarstellerin - kaum mehr anzutreffen. An ihre
Stelle getreten sind meist junge Frauen, die sich dagegen auflehnen, nach der Geburt von Kindern ausschließlich auf
die Mutterrolle festgelegt zu werden. Der Prozentsatz der leidenden, ihr Schicksal erduldenden Frauen, die taeru
onna hat ebenfalls abgenommen. Auch wenn viele Frauen lange ihre unbefriedigenden Lebenssituationen ertragen,
gelingt es schließlich doch einigen von ihnen, sich aus unbefriedigenden Lebenssituationen zu befreien. Eine
Veränderung in den Fernsehdramen im Vergleich zu den siebziger Jahren besteht auch in der Pluralisierung der
dargestellten Lebensformen. Zunehmend werden in den Dramen berufstätige Ehefrauen dargestellt sowie junge
Frauen, die nicht mehr nur in der Ehe die einzige Lebensform sehen, auch wenn die Beispiele für eine
370
Hierauf hat bereits Muramatsu Yasuko in ihrem Beitrag auf dem japanisch-deutschen Symposium "Das Bild der Frau in den
Medien", organisiert von der Ochanomizu Universität und dem Goethe-Institut T_ky_, am 14.12. 1994 hingewiesen.
158
partnerschafliche Rollenverteilung in der Ehe noch recht spärlich gesät sind und nach wie vor die Hausfrauenehen in
den Fernsehdramen vorherrschen.
In vielen japanischen literarischen Werken, insbesondere von Autorinnen, ist zu beobachten, daß häufig
371
Phänomene Gestaltung finden, die in der außerliterarischen Realität noch sehr schwach ausgebildet sind, ganz so,
als wollte man ihnen zumindest in der Literatur größere Präsenz als Lebensmodell verleihen. Die Überwindung
traditioneller Rollenmuster ist somit in der Werken der Gegenwartsautorinnen weit stärker gediehen als in der
gesellschaftlichen Realität Japans. Im Fall der Fernsehdramen als einem Genre der Populärkultur ist jedoch
festzuhalten, daß sie, auch wenn "moderne Entwicklungen" wie etwa der Wunsch von Frauen nach
Selbstverwirklichung zunehmend gestaltet werden, insgesamt doch eher der Realität "hinterherhinken". Dies deckt
sich mit folgender Beobachtung von Tilmann P. Gangloff in bezug auf die Situation in Deutschland im Jahr 1992:
"Das Fernsehen, ohnehin von einem kaum schätzbaren Faktor der Systemstabilisierung geprägt, transportiert
nach wie vor die klassische Familienstruktur. ... die wenigen Fälle, in denen das Fernsehen tatsächlich eine
Familienstruktur mit Rissen zeigt (in Frage gestellt wird die Institution Familie ohnehin nie ernstlich) [haben]
einen ähnlichen Effekt wie ihn Horrorfilme ... erzielen: Man kann sich relativ beruhigt zurücklehnen, während
andere quasi als Statthalter ein Leben ausprobieren (müssen), nach dem man sich entweder sehnt oder vor dem
es einen graust. Denn es werden ja tatsächlich im Fernsehen gelegentlich die gesellschaftlichen Werte in Frage
gestellt ... die Werte werden zwar angegriffen, aber auch wieder restauriert, so daß sie noch zusätzlich gefestigt
aus dem Konflikt hervorgehen. Dieses Schema ... wird ständig wiederholt. Ohne diesen Mechanismus würden
sich die entsprechenden Produktionen allerdings auch als völlig realitätsfern entpuppen."
Ursache für die Vorsicht, allzu moderne Einstellungen und Verhaltensweise der Geschlechter vorzuführen, ist in
Japan vor allem auch der Anspruch, Spiegel der gesellschaftlichen Situation zu sein, was offensichtlich
gleichbedeutend ist mit der Darstellung des Lebens der sogenannten "Durchschnittsfamilie". In diesem Kontext ist
es nicht überraschend, daß Serien, die sich mit dem Ausbrechen aus der traditionellen Rolle wie etwa "Wagamama
na onnatachi" (Nr. 2, Eigenwillige Frauen) oder der Entwicklungsprozeß eines Mannes (Nr. 5) keine hohe
Popularität erringen. Ein Drama, in dem etwa beide Ehepartner sich gleichermaßen ihrem Beruf und Haushalt und
Familie widmen, wird in der Gegenwart vom Publikum wohl noch als ziemlich realitätsfern empfunden. Ein
partnerschaftlich organisiertes Familienleben wird somit wohl erst dann in zahlreichen Fernsehfamilien
vorherrschen, wenn dies auch in der japanischen Gesellschaft verbreitet ist.
Literatur:
Gangloff, Tillmann: Ist die Welt auch noch so schlecht... Wie Fernsehserien den Strukturwandel der Gesellschaft
ignorieren. In: Medien und Erziehung, 36(1992)4, S. 237-239.
Gössmann, Hilaria: Die Darstellung der Geschlechterbeziehung in der Literatur von Schriftstellerinnen. In:
Wissenschaftliche Jahrestagung: Individualisierung in der japanischen Gesellschaft. Veröffentlichungen des
Japanisch-Deutschen Zentrums Berlin. Bd. 14, 1992, 125-131.
Gössmann, Hilaria: Die japanische Gegenwartsliteratur als Forum sozialer Thematik. In: Japanstudien. Jahrbuch des
Deutschen Instituts für Japanstudien der Philipp-Franz-von-Siebold-Stiftung Bd. 5 (München), 1994, 429-477.
Hirahara Hideo: Yamada Taichi no kazoku dorama saiken. Ai to kaitai to saisei to. T_ky_: Sh_gakkan, 1994.
Kawamoto Sabur_: Die Entdeckung der Suburbia. Die Welt des Yamada Taichi. Übersetzt von Kimiko Brodmeyer
et al. In: Kagami. Japanischer Zeitschriftenspiegel (1983)1, 69-107.
Mikos, Lothar 1987: Übertragungserleben. Soziale Aspekte des Umgangs mit Familienserien. In: Medium
17(1987)3, 28-30.
Muramatsu Yasuko: Terebi dorama no joseigaku. T_ky_: S_takusha, 1979.
Rogge, Jan Uwe: Tagträume oder warum Familienserien so beliebt sind. Zur Geschichte, Machart und
371
Vgl. hierzu Gössmann (1992).
psycho-sozialen Funktion von Familienserien im deutschen Fernsehen. In: Der Bürger im Staat 36(1986)3,
201-206.
Rogge, Jan Uwe: "... da kann ich mich richtig fallenlassen". Zur subjektiven Bedeutung von Familienserien im
Alltag. In: Medium 17(1987)3, 22-27.
Stanzel, Franz K.: Theorie des Erzählens. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1991.
Toriyama Hiromu: Nihon terebi dorama-shi. T_ky_; Eijinsha, 1986.
Weiderer, Monika: Das Frauen- und Männerbild im deutschen Fernsehen. Eine inhaltsanalytische Untersuchung der
Programme von ARD, ZDF und RTL plus. Regensburg: S. Roderer Verlag, 1993.
160
ANHANG: TABELLE ZUR ROLLENVERTEILUNG DER EHEPARTNER IN DEN FORTSETZUNGSDRAMEN 1992-1994
A Ehemann: Beruf, Ehefrau: Familie und Haushalt
B Ehemann: Beruf, Ehefrau: Familie, Haushalt und
Teilzeitarbeit bzw. ehrenamtliche Tätigkeit
C Beide Ehepartner ganztags berufstätig, Doppelbelastung der Ehefrau durch Haushalt und Beruf
D Beide Ehepartner ganztags berufstätig, partnerschaftliche Aufteilung der Hausarbeit
Ausgangssituation zu Beginn und
Veränderungen im Laufe des Dramas
A Ehemann: Beruf, Ehefrau: Familie und Haushalt
Nr. 1 "Zutto anata ga suki datta" (Ich habe dich immer
geliebt)
Scheidung auf Wunsch der Ehefrau wegen Mutterkomplexes des Mannes
TBS Juli bis Sept. 92
Nr. 2 "Wagamama na onna-tachi" (Eigenwillige
Frauen)
Scheidung auf Wunsch der Ehefrau wegen Unzufriedenheit mit ihrer Situation als Hausfrau
Fuji TV Okt. bis Dez. 92
Nr. 3 "Oka no ue no himawari" (Die Sonnenblumen
auf dem Hügel)
Nach Ehekrise aufgrund eines Seitensprungs des
Mannes Versöhnung, keine Veränderung
TBS April bis Juni 93
Nr. 4 "Dare ni mo ienai" (Niemand darf es wissen)
Nach Ehekrise durch das Auftauchen des ehemaligen
Geliebten der Frau Versöhnung, keine Veränderung
TBS Juli bis Sept. 93
Nr. 5 "Otona no kisu" (Die Küsse von Erwachsenen)
Trennung auf Wunsch der Frau wegen Unzufriedenheit mit ihrer Situation. Nach Versöhnung eventuell Veränderung zu D
Nihon terebi Okt. bis Dez. 93
Nr. 6 "Deatta koro no kimi de ite" (Bleib so, wie du
warst, als wir erstmals trafen)
Scheidung auf Wunsch des Mannes aufgrund außerehelicher Beziehung der Frau, Tod des Mannes
Nihon terebi Okt. bis Dez. 94
Nr. 7 "Kach_-san no yakudoshi" (Das Unglücksjahr
des Abteilungsleiters)
Veränderung zu B zur Finanzierung der Schulbildung
der Kinder
TBS Juli bis Okt. 93
Nr. 8 "Kono ai ni ikite" (Für diese Liebe leben)
Scheidung auf Wunsch der Frau wegen Unzufriedenheit mit ihrer Situation, in der neuen Partnerschaft:
B
Fuji terebi April bis Juli 94
Nr. 9 "Yukkuri odaietto" (In aller Ruhe abnehmen)
Ehekrise wegen Unzufriedenheit der Frau mit ihrer
Situation, Veränderung zu B
NHK Juli 1994
Nr. 10 "Onna no iibun" (Die Einwände einer Frau)
Ehekrise und Getrennt-Leben des Paares wegen
Unzufriedenheit der Frau mit ihrer Situation, Versöhnung.
TBS Okt. bis Dez. 94
B Ehemann: Beruf / Ehefrau: Haushalt und
Teilzeitarbeit bzw. ehrenamtl. Tätigkeit
Nr. 11 "Sangenme no y_waku" (Versuchung in der
Nachbarschaft)
Nach der Trennung auf Wunsch der Frau macht sie
ihre ehrenamtliche Tätigkeit zum Beruf
Nihon terebi April bis Juni 94
Nr. 12 "Ninshin desu yo" (Sie sind schwanger!)
Ob die Ehefrau nach der Geburt ihres Kindes weiter in
der Praxis ihres Mannes arbeitet, bleibt offen.
TBS Okt. bis Nov. 94
C Beide Ehepartner ganztags berufstätig, Doppelbelastung der Ehefrau durch Haushalt und
Beruf
Nr. 13 "Daburu Kitchin" (Double Kitchen)
Frau gibt ihren Beruf auf, um ihrem Mann ins Ausland
zu folgen
TBS April bis Juni 93
Nr. 14 "Ch_nan no yome" (Die Frau des ältesten
Sohnes)
Frau bleibt bei Versetzung des Mannes mit dem Kind
in seinem Elternhaus, um für die Familie zu sorgen
und weiter ihren Beruf auszuüben
TBS April bis Juli 94
Nr. 15 "Yome no deru maku" (Hier ist die Ehefrau
gefragt)
Frau kündig ihre Stelle, um nach dem Tod der
Schwiegermutter die Geschwister ihres Mannes zu
versorgen
Terebi Asahi April bis Juli 94
D Beide Ehepartner ganztags berufstätig, partnerschaftl. Aufteilung der Hausarbeit
Nr. 16 "Onna kenji no s_sa fairu" (Die Untersuchungsakte der Staatsanwältin)
keine Veränderung
Terebi Asahi Okt. bis Dez. 93
Nr. 17 "Kazoku A" (Die Familie A)
Frau gibt ihren Beruf auf, um nach einem Seitensprung ihre Ehe zu retten
TBS Okt. bis Dez. 94
Nr. 18 "Aka-chan ga kita" (Ein Baby ist da)
keine Veränderung
NHK Nov. bis Dez. 94
8. Bye - bye Corporate Warriors: The Formation of a Corporate - Centered Society and Gender-Biased
Social Policies in Japan.372
Mari Osawa
Introduction
For several years now, we have seen the surge of an argument that calls into question the "Japanese
management method" typified by Toyotism, and that emphasizes the need to change Japanese society's corporatecentered orientation. In the past few years, moreover, this argument has been openly advanced even in government
373
and business quarters through a number of policy recommendations . The roles played by the government in
forming a corporate-centered society, however, has not fully been recognized in the argument. In this paper I want
to outline the role of the government in the field of social policy in the forming of a corporate-centered society.
The Period of Rapid Economic Growth: The Government Serves Production and Corporate Interests,
Despite Its Promises to Promote Welfare State Policies.
Social security policies made their due share of contributions to promoting production and corporate
interests, even if such contributions were somewhat limited. A brief glance at the process by which social security
programs were improved reveals that these programs continued to be suppressed to the advantage of capital
accumulation and economic growth. More specifically, the social security policies implemented during the rapid
growth period had the following features. 1) Social security programs were implicitly designed to count on the
family, assuming that it would behave in a specific way, always ready to help any of its members in need; those
programs were ill equipped to back up the family, which was becoming increasingly unable to perform such
functions. 2) Although the public assistence program was claimed to be comprehensive and extensive, at least on
paper, it was methodically operated in as restrictive a manner as possible. 3) Social insurance programs were
designed with an extremely diversified structure, allowing larger corporations to operate programs of their own on
terms very favorable to themselves and their own employees but not accessible to outsiders.
The social security programs' excessive reliance on the family is illustrated, for instance, by the way the
government characterized the children's allowance program when it was established in 1971. The program's
establishment was touted as having brought the Japanese social security system into "completion", equipping Japan,
just like advanced Western European countries, with all four major components of the system - namely, social
insurance, family allowance, public assistance, and social welfare programs. In reality, however, the programm
provided only a tiny monthly allowance of several thousand yen for each child of a family beginning with the third,
until his/her graduation from junior high school, and on condition that the family's annual income not exceed a
certain ceiling. Moreover, the programm was characterized not as an independent component of the social security
system, but merely as part of the children's welfare programs that constituted the social welfare system.
When compared on the basis of ILO statistics, the ratio of Japan's outlay for family allowance to its total
social security outlays was far smaller than in the "advanced welfare societies" of Western and Northern Europe,
372
The organizers of the workshop have selected and compiled parts of a comprehensive paper on which Mari Osawa's lecture
was based, i.e. Osawa (1994). All notes have been added by the organizers of the workshop. Only the literature quoted has been
included in the bibliography. A publication of the long version as a working paper of the Fakultät für Sozialwissenschaften at the
Ruhr-Universität Bochum is planned.
373
cf. i.a. Keizai Kikakuch_ (1991; 1992); Morita (1992).
162
374
and was continuously on the decline. The fact that the children's allowance program was given such a peripheral
role should be regarded as one and the same thing as the principles dictating other social security programs, such as
the principle which says that a person is eligible to receive public assistance only when he/she has no relative to turn
to for support, the principle of treating a household as a unit in administering medical insurance, and the principle of
treating a married couple as a unit in administering employee pensions.
It should be pointed out, furthermore, that the image of the family and its functions upheld by the social
security programs presupposed a stereotyped division of labor between the sexes, or between "the husband as the
bread-earner and the wife as the caretaker of domestic affairs", and, thus presupposed the female's monetary and
economic dependence on the male. Under a social insurance system which is diversified into complex component
programs, the financial situation of an individual program and the conditions it specifies about contributions and
benefits cannot but significantly differ from those of other programs; and the question of what type of program a
person can subscribe to or join also differs depending on a number of factors defining his/her occupational status,
such as whether he/she is employed or not, the industry in which he/she is employed, the size of the business entity
for which he/she works, and the type of employment relationship. Needless to say, all these factors affecting a
person's occupational status are extremely gender-sensitive.
The social insurance programs invariably assume the male to be the "standard" insured person. As a
dependent of the insured, the wife can share in the benefits which the program guarantees to her husband, but she
can do so only incidentally and indirectly, because as an individual person she is not qualified to receive health
insurance or pension benefits. This becomes immediately clear if we look at, for instance, the fact that the
employees' pension system is designed in such a way as to treat a couple as one unit in the payment of a pension,
and regard the pension as payable only in the name of the husband, who is the insured. Differences in sex, along
with differences in occupational status, lies at the very foundations of the labor policy and social security system,
and a net result is that women's economic independence is reduced to a matter of irregularity. Such a state of things
surrounding social policy is what I mean by its male-oriented "gender bias".
The social insurance system's discrimination in favor of large corporations is most evident in the case of
health insurance programs. Benefits available from a Health Insurance Society, which is usually organized and
managed by a large corporation with 1,000 or more employees, are far greater than those provided by the
government-administered Employee's Health Insurance programs which cover employees of smaller companies.
The former assess smaller contributions and pays better benefits than the government-run programs, often provide a
wide range of fringe benefits, and run various health and recreational facilities for use exclusively by its own
members.
The employees' pension fund system was brought into existence by the 1965 reform of the Employees'
Pension Law as a means of contracting out the income related portion of the state pension scheme to larger firms;
and employees' pension funds established by private firms in order to administer the contracted-out pension scheme
proved beneficial to themselves and to their employees in a number of ways. Employees were able to draw from the
funds lucrative pension benefits that were larger by 30 to 300% than those paid by the state pension scheme (the
difference was called "plus alpha"). The companies, for their part, were allowed to operate their own employees'
pension insurance systems as quasi-public programs with various tax incentives attached to them, and to use these
programs as a means of personnel management to nurture a strong sense of belongingness among their employees.
These pension funds were established mainly by larger companies because an official permit for the establishment
of one required a membership of 1,000 or more.
In sum, the government, with its preoccupation with promoting economic growth and capital accumulation,
suppressed social security benefits and counted heavily on the family's obligation to support its members; moreover
in administering the social security programs of such a limited scope, it was extremely apprehensive of the
possibility that the indiscriminate payment of public assistance benefits would make people lazy. On the other hand,
374
ILO (1992).
it enabled regular employees of large corporations, a privileged minority among the Japanese workers, to enjoy far
better social security benefits. The government's social security policy was thus heavily oriented toward giving
precedence to production and corporate interest over welfare of the public at large. It should not be overlooked,
however, that the government during the rapid economic growth period was advocating, at least as a policy goal if
not in practice, the need to make Japan a "welfare state" comparable to those in Western Europe. This posture
differed significantly from the one it was to take in the subsequent post-oil-crisis period.
It should also be pointed out that the family, the mainstay for the entire social security system, was
radically transformed by Japan's rapid economic growth itself: the average size of a household grew smaller as the
number of nuclear families increased; and households headed by employees, married female employees, and
households consisting only of aged persons all increased phenomenally. According to Harada Sumitaka, the decline
in the family's livelihood protective functions was alrady so evident in the beginning of the 1970s that the
government, in launching the "first year of Japan's shift into a welfare state" in 1973, devised several policy
375
measures which were meant to reinforce the weakening functions of the family.
A Corporate-Centered Society and "Patriarchy"
The 1991 Interim Report of the Social Policy Commission's Basic Policy Committee while criticizing the
corporate centered structures of Japan understands Japanese society as a "society with a rigidly defined division of
labor between the sexes and among age groups." In feminist terms, this is the problem of "patriarchy". To our regret
376
the Interim report's perception of this feature of Japanese society fails to clarify a number of points : that the
"Japanese employment practice" characterized by a "seniority" and "life-long employment" and substained by
"enterprise-based unionism" remains virtually inapplicable to women workers; and that a notorious "company man"
can only exist as one half of a couple which performs a gender division of labor.
It should be pointed out, moreover, that the "company man" not only owes a great deal to the assistance of
his own wife, but also tramples upon the rights of his female colleagues at the workplace. A heavy concentration of
female workers in simple, supplementary, and low-wage jobs with limited chances of promotion - that is, jobs in
which a high level of turnover can be expected - has been indispensable for treating male workers on the basis of
seniority. Insofar as the lowest ranks of the pyramid-shaped job-demarcation structure continue to be filled by
female workers who are replaced at short intervals, company managers are able to promote "loyal" male employees
to higher posts. Needless to say, what I am referring to here constitutes only a tiny portion of the entire picture of the
"gender segregation" characterizing the allocation of labor, paid and/or unpaid, and the distribution of the fruits of
labor in the society as a whole. In a corporate-centered society, not only roles but also goods, services and authority
are distributed unequally between the sexes and among age groups. Such a pattern of inequitable distribution
perfectly conforms to what feninism calls "patriarchy". It needs to be kept in mind that a corporate-centered society
is patriarchal by nature. In the light of this, the defining features of the social security programs since the period of
rapid economic growth, such as their "dependence on the family", "male supremacy", and "corporate-centeredness",
may be collectively re-expressed as "patriarchal".
Therefore, the "solidification of the base of the home" pursued by the government since the late 1970s in
the context of the revaluation or overhauling of welfare programs - or the government's effort to reform the social
security as a whole - was meant to reorganize and reinforce the "patriachy". And the reinforcement of the "patriarchy", as I will explain below, constituted an indispensable part, or perhaps the most essential part, of the endeavor to
bring a corporate-centered society to perfection, and to spread company-men across the society. The family, which
once came close to being regarded as worthy of support by social security programs at the end of the rapid
economic growth period in the early 1970s, was now openly reclassified as the most important "pillar to support
375
376
Harada (1988: 330-31, 342-43, 366)
Here, the terms in quotation marks are quotations from the Interim Report.
164
social security". Simultaneously, it became clear that the family or the "home" here was synonymous with the
"female".
Measures for Solidifying the Base of the Home and the Reform of Welfare Programs
The measures actually introduced to solidify the base of the home included the following: a revision of the
Law of Succession in 1980 to raise a spouse's legally guaranteed portion of the estate left by his/her partner in life;
revisions of the Tax Law in 1984 to give a special tax credit to income earned by a part-time worker (i.e. an increase
in the maximum non-taxable income from 790,000 yen to 850,000 yen a year, which was followed by several
increases later), and to allow a person living with aged parent(s) to claim a special tax exemption for dependents; the
recognition in 1985 of a "housewife's right to an old-age pension" as part of the "basisc pension"; and the
introduction of a spouse's special tax credit in the calculation of donation taxes (in 1985) and in the calculation of an
377
income taxes (in 1987). All these measures were meant to "assess" the roles performed by many women who
basically stay at home in their dual capacity as wives and mothers, and sometimes hold part-time jobs to add to the
family earnings; but they recognize such women's contributions by granting welfare benefit mainly in the form of tax
credits to the husband's earnings, and thus maintain the gender division of labor between the husband and the wife.
It should be kept in mind here that these welfare benefits, which are provided indirectly to taxpayers in the form of
tax credits, are not available to those who do not pay taxes, such as dependents or low-income earners.
The family policy with these features was put into effect in close conjunction with a series of reforms in the
social security system. When we trace these reforms in chronological order, we cannot overlook the fact that the
reforms in the social insurance system were prededed by several reforms in the public assistance and social welfare
programs which shifted much of the responsibility for supporting people in need away from these programs and
onto their families, while lowering the income limit for eligibility to receive benefits provided by these programs. In
other words, these programs became ever more dependent on the family, and ever more selective in their day-to-day
application.
Let us first look at a series of changes in social welfare programs that began with a revision in 1980 of the
standard for charging fees for accommodations at welfare institutions for the aged, and that included a shift of
emphasis from institutional care to home care, and a switch from free care to fee-based care - that is, a series of
changes in the direction of a shift away from public-sector initiative to private-sector initiative.
The revision of the standard for accommodation fees was followed by the lowering of the income limit for
eligibility for the children's allowance, and the "straightening out" of public assistance, both of which began to be
carried out in 1981. The attempt to modify public assistance was accompanied by the introduction of a series of
measures, including a revision in 1984 of the formula for calculation the assistance standard, which fixed the living
standard of publicly assisted families at lower levels than previously, and a shift in 1985 of the burden for public
assistance from the national treasury to municipal governments. The revisions appeared to have been carried out in
response to a number of press reports which appeared toward the end of 1980 revealing cases in which gangsters
had received public assistance benefits. However, it was not benefits paid to gangsters, but those paid to boshi setai
(female-headed households) that were actually considered more in need of being "straightened out", because the
number of such families had been increasing rapidly since the beginning of the 1980s with an accelerated increase in
the number of divorces. Indeed, in the total number of persons receiving public assistance, which continued to
increase until 1984 after hitting the postwar low in 1974, members of female-headed families were increasing most
phenomenally.
Around 1985, the management of public assistance program was repeatedly inspected by the Management
and Coordination Agency and audited by the Board of Audit, resulting in recommendations and demands that the
377
Harada (1992:50)
Health and Welfare Ministry should see to it that the responsibility for supporting single-parent families headed by
women be borne to a more significant extent by the divorced or separated fathers. On its own part, the Health and
Welfare Ministry, through its own annual "inspection" of the management of public assistance by municipal
governments and its "guidance" on improvements of the management, instructed municipal governments to deal
more strictly with separated, female-headed households. In particular, the instructions called for encouraging
mothers to press their former husbands more strongly into fulfilling their responsibility for the children, and making
fuller use of the mothers' ability to work. Moreover, there was a marked tendency for these instructions to be
followed, not as part of the criteria for the processing of applications for assistance, but as a prerequisite for filing
applications. A series of measures to straighten out the management of public assistance proved successful; the total
number of public assistance recipients peaked out in 1984, decreasing rapidly thereafter, and dropping below one
million by 1991. And both female-headed households' share in the total number of assisted families and the
percentage of such families receiving public assistance began to decline in 1986.
Another reform undertaken with much the same philosophy was that of "giving precedence to" the poorest
among female-headed households in the allocation of child-rearing allowance earmarked for these households. The
law governing the administration of the child-rearing allowance was revised in 1985 in two important respects: the
income ceiling for a needy family's eligibility to receive the allowance was lowered; and a female-headed household's eligibility was restricted in accordance with the separated fathers's (or husband's) income (although this latter
revision has not yet been put into effect). In parallel with the revision of the law, the day-to-day management of the
child-rearing allowance program was scrutinized by the Management and Coordination Agency, which conducted
an administrative inspection of the program in 1984, and by the Board of Audit, which audited the program's
management for three consecutive years from 1986 ot 1988; these government offices sounded warnings about the
fact that the de facto marital status of the mothers heading single-parent families, and the incomes of their living
partners, if any, were not accurately determined, and such mothers were sometimes continuing to receive the
allowance illegally after remarriage. As irregularities were straightended out in response to these warnings, the
number of persons receiving the allowance began to decrease from 1986 on, even though it was very unlikely that a
slight decline in the number of divorces could have brought about a much greater decline in the number of womenheaded households.
It is undeniable from these observations that the efforts to "straighten out" the public assistance program
and to "give precedence" to the poorest strata of fatherless households in the allocation of child-rearing allowances efforts which were undertaken as part of the reforms of the social security system and in conjunction with "measures
for solidifying the base of the home" - did not help to improve the living standards of female-headed households.
The logic underlying these efforts may be that the livelihood of a woman who has rid herself in the role of a wife is
not worthy of public support, even if the "base of her home" has grown extremely weak because of her acceptance
of the role of a mother. If so, the logical conclusion suggested by these policy measures is that a women's most
important social role is that of a wife, who provides Mr. A, the average corporate warrior, with basic security of life.
All the unrestrained attempts to make the social security system ever more dependent on the family were also
characterized as unrestrained attempts to beef up the system's "male-centered" orientation.
Bibliography:
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no kanren de, in: Shakai kagaku kenkyujo hen: Tenkanki no fukushi kokka. Vol.2. T_ky_, 1988.
Harada, Sumitaka: Nihon-gata fukushi to kazoku seisaku, in: Shir_zu henb_ suru kazoku 6: Kazoku ni shinny_ suru
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ILO: The Cost of Social Security. Thirteenth International Inquiry, 1984-1986. Geneva: ILO, 1992.
Keizai kikakuch_, Kokumin seikatsukyoku: Kojin seikatsu y_sen shakai o mezashite. (Interim Report). T_ky_,
166
1991.
Keizai kikakuch_, Kokumin seikatsukyoku: Seikatsu taikoku 5-kanen keikaku: chiky_ shakai to no ky_zon o
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Morita Akio: Nihonteki keiei ga abunai, in: Bungei Shunj_, (February 1992).
Osawa, Mari: Bye-bye corporate Warriors. The Formation of a Corporate-Centered Society and Gender Biased
Social Policies in Japan. Occasional Papers Institute of Social Science, Tokyo University, 1994.

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