Über Europa in die Welt - Deutsche Olympische Gesellschaft

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Über Europa in die Welt - Deutsche Olympische Gesellschaft
Über Europa in die Welt
Vor der WM 2009 in Berlin: Zwischen der Leichtathletik und der
Olympischen Bewegung besteht traditionelle Verbundenheit
s hat lange gedauert, bis sich die Leichtathleten
dazu durchringen konnten, dem Zug der Zeit zu
folgen und - wie z.B. die Fußballer (seit 1930) alle
vier Jahre oder die Radfahrer (seit 1921) in jährlichem
Rhythmus - eigene Weltmeisterschaften auszurichten. Das
war erst 1983 der Fall, 71 Jahre nach der Gründung der
International Amateur Athletic Federation (IAAF) und lange
auch vor den ersten Europameisterschaften 1934 (Männer)
und 1938 (Frauen); zunächst alle vier Jahre und nach 1991
jedes zweite Jahr. Berlin2009 (15.8. bis 23.8.) ist also die 12.
WM.
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Vor 1983 gab es schon ein paar Anläufe, die das Großereignis
vorbereitet haben. Zu ihnen gehören der 1977 in Düsseldorf
erstmals durchgeführte Weltcup sowie die vorgelagerten
Weltmeisterschaften über 50 km Gehen der Männer (1978)
und 3.000 m der Frauen (1980) - alles Disziplinen, die bei den
Olympischen Spielen im jeweiligen Jahr nicht auf dem Programm standen. Das entsprach genau dem Teil der IAAFSatzung von 1913, der festlegte, dass die Olympischen Spiele
auch als Weltmeisterschaften galten und der Olympiasieger
auch Weltmeister sei. Eine Überschneidung von Olympia und
WM war damit zu Gunsten von Olympia ausgeschlossen. Und
die Rangordnung war insofern eindeutig festgeschrieben.
Die meisten WM-Orte waren
europäische Großstädte,
insgesamt neun, und nun ist
Deutschland nach Stuttgart
(1993) zum zweiten Mal
Gastgeber, 20 Jahre nach
dem Fall der Mauer und dem
Untergang der DDR. Der
andere deutsche Staat repräsentierte mit dem DVfL einen
Verband, der mit den Großen
der Zunft, den USA an der
Spitze, nicht nur Schritt
halten konnte, sondern sie
gelegentlich in den Ranglisten gar überflügelte. Der
andere deutsche Verband, der
1949 in München gegründete Deutsche LeichtathletikVerband (DLV), hat eine
solche WM-Bilanz aus
bekannten Gründen nie
aufweisen können, 1987 in
Rom mit nur drei Medaillen
(kein Gold) sogar ein damals
als Desaster empfundenes
Tief erlebt und 2008 bei den
Spielen in Peking mit nur
einer (Bronze-) Medaille sein
schlechtestes Olympiaergebnis seit 104 Jahren erzielt.
Ein wesentlicher Grund für
den verspäteten Start der
WM - auch als Konzession an
den Zeitgeist - ist die traditionelle Verbundenheit der
Leichtathletik mit der Olympischen Bewegung und einer
ununterbrochenen Teilnahme an Olympischen Spielen von
Beginn an. Nicht umsonst gilt sie als die "Krone des olympischen Sports". Auch Deutsche mit leichtathletischer Herkunft
hatten enge Verbindungen zu Olympia: Carl Diem, der 1912
wegen der Übernahme des Amtes als Generalsekretär der
Olympischen Spiele 1916 in Berlin - sie fielen allerdings
wegen des 1. Weltkriegs aus - den Vorsitz des deutschen
Leichtathletik-Verbands aufgab; Karl Ritter von Halt, Vorsitzender (1931 - 1945) und später DLV-Ehrenpräsident, der seit
1929 bis zu seinem Lebensende (1964) Mitglied im IOC war
und national Präsident des NOK (1951-1960). Die internatio-
Von Winfried Joch
nale Personalvariante, der Schwede Sigfrid Edström, erster
Präsident der IAAF (1912-1946), war eine Zeit lang gleichzeitig auch IOC-Präsident (1942 - 1952). 1952 löste ihn im IOCAmt der Amerikaner Avery Brundage ab, auch ein früherer
Leichtathlet und Olympiastarter.
Die europäische Prägung
der Leichtathletik
Die Nähe zwischen Leichtathletik und Olympia ist auch das
Resultat einer geistigen Verwandtschaft. Die Leichtathletik ist
wie der Sport, für den sie exemplarisch steht, ein Kind des 19.
Jahrhunderts und der industriellen Entwicklung, ausgehend
von England, dem Mutterland des Sports. Wettkampfmaße
und Gerätenormen zeugen bis heute von diesem englischen
Ursprung. Und mit jenem Jahrhundert der Erfindungen und
des überschießenden industriellen Wachstums teilt sie den
Glauben an Fortschritt und Leistung, an die Omnipotenz
menschlicher Fähigkeiten und das Vermögen, alles uneingeschränkt nach eigenen Maßstäben regeln zu können und
allen Anforderungen gewachsen zu sein. Zusammen mit der
Olympischen Bewegung ist sie von Anfang an zudem den
(Wert-)Vorstellungen und der Gedankenwelt der europäischen
Aufklärung verpflichtet. Dazu gehört das Genuin-Leichtathletische, die messbare Leistung, ihre Progression, der Rekord,
gemessen am persönlichen und - in seiner höchsten Form am internationalen Standard. Es sei das Los der Menschen, so
wird in dieser Zeit argumentiert, unermüdlich nach immer
neuen Herausforderungen zu streben, sich immer neue Ziele
zu setzen: Eine bis ins beinahe Unendliche gehende Steigerung der Ansprüche und ihrer Befriedigung. Der Sport findet
dafür die klassische Formel "citius, altius, fortius".
Fortschritt und Leistung waren also die bewegenden Kräfte
dieser neuen Sport- und Olympischen Bewegung, die ihren
Siegeszug um die Welt antraten mit - damals wie vielfach
heute noch - schier unglaublichen Leistungssteigerungen in
allen Disziplinen, in allen Altersklassen für Männer und zeitverzögert - für Frauen. Von Anfang an war diese Leichtathletik weltorientiert, auch wenn das neben den europäischen Ländern, voran die nordeuropäischen, zunächst nur
oder vor allem die USA betraf. Aber ihre aufklärerische Wurzel, ihr geistiges Erbe liegt in Europa, in England, Frankreich
und Deutschland.
Zu dieser Wurzel gehört der Glaube an wissenschaftlichen
Fortschritt, an die Lösbarkeit aller Probleme durch den Menschen, der sich auf sich selbst besinnt und auf seine Vernunft,
der nicht abhängig ist von obrigkeitsstaatlichem Denken und
von den vermeintlichen Autoritäten, die sein Leben, Handeln
und Denken bestimmen wollen. Das Maß aller Dinge: der
individuelle, vernunftbegabte, autonom handelnde Mensch.
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So kommt bei der Deutung der Leichtathletik neben dem
technischen Fortschritt, der messbaren Leistung, als zweites
Deutungselement der aufgeklärte Humanismus hinzu, das
heißt, ein Verständnis vom Menschen als einem selbstbestimmten Wesen einerseits und einem durch Erziehung
geformten, nach Vollkommenheit und Höherentwicklung
strebenden und nach immer neuen, selbstgesteckten Zielen
suchenden Menschen. Die sportliche Leistung ist nie bedingungslos und isoliert, sondern stets auch an den von der
Aufklärung beeinflussten Menschen geknüpft. Darin besteht
der Beitrag Europas zum Verständnis dieses Sports, der dann
olympisch wird und das neue Olympia als das Ideal einer
durch die Athleten geprägten Kultur begreift. Es handelt sich
um eine Elite, die gelernt hat und durch Erziehung dazu
gebracht wurde, beides miteinander zu verbinden: Leistung
und aufgeklärte Menschlichkeit, darin allen anderen zum
Vorbild.
Beginn in Helsinki
Am Anfang der WM-Serie stand 1983 Helsinki. 1980 hatte
die finnische Kapitale bei der Vergabe den Vorrang vor Stuttgart bekommen. Vermutlich hatte die politische Neutralität
den Ausschlag gegeben. Deutschland hatte ja 1980 die Olympischen Spiele in Moskau - politisch motiviert - boykottiert
und sich damit den Weg für einen positiven Nominierungsentscheid verbaut. Für Helsinki sprach auch, dass die Spiele
von 1952 noch in guter Erinnerung waren und das Versprechen, einfache, natürliche und unkomplizierte Wettkämpfe zu
veranstalten, in dem alten, nur mäßig modernisierten Olympiastadion und ohne den inzwischen Standard gewordenen
gigantomanischen Aufwand. Zusätzlich konnten die Finnen
auf die große Leichtathletiktradition Nordeuropas verweisen,
die in der Pionierzeit Unschätzbares für das Ansehen der
Leichtathletik getan hatten.
Letztlich war Helsinki 1983 aber doch nicht mehr das von
1952 - und die Leichtathletik war es auch nicht mehr. 1981
hatte in Baden-Baden unter der Regie von NOK-Präsident
Willi Daume ein IOC-Kongress stattgefunden, der die Liberalisierung des Paragrafen 26 beschloss, in dem die Zulassung zu
Olympischen Spielen nur für Amateure geregelt wird. Diese
Liberalisierung, die in Wahrheit das Ende des Amateurstatus`
und den Beginn der Kommerzialisierung bedeutete, erlaubte
im Endeffekt die Honorierung der Sportler. Anfangs wurde sie
noch getarnt, indem man die Gagen über die Verbände
laufen ließ, sie also nicht direkt den Athleten
überwies. Das veränderte die Leichtathletik in
erheblichem Maße. Die Folgen: totale Abhängigkeit des Sports vom Fernsehen als seinem größten Finanzierer und zunehmende Neigung zur
bedingungslosen Leistungssteigerung. Die
Athleten sahen nun eine Chance, ihren sozialen
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ie Geschichte der Laufbahnen ist so alt wie die
Geschichte der Leichtathletik selbst. Der Stadionlauf über 600 Fuß im antiken Olympia wurde
barfuß auf sandigem Mutterboden durchgeführt. Weil die
"leichte Athletik" Ende des 19. Jahrhunderts eine Laufbewegung war, benötigte man vor allem Laufbahnen. Das
"Lauffest" in Hannover wurde 1879 auf Wiesen am
Maschsee durchgeführt. Drei Jahre später fanden in
Hamburg auf einer Pferderennbahn Laufwettbewerbe
statt. Von Parks und Straßen wechselten die Leichtathleten in die Radrennbahnen, wo überhöhte Kurven, vermessene Rundbahnen und getrennte Bereiche für
Sprung- und Wurfbereiche scheinbar ideale Voraussetzungen boten. Betonierte Zementpisten in den Radrennbahnen ließ die Athleten auch auf Exerzierplätze oder
Rasenbahnen ausweichen. Der Traum der Athleten
damals: die Aschenbahn! In Hannover wurde 1906 eine
solche eingeweiht, und die Leichathleten rannten und
sprangen in der ganzen Welt auf solchen standardisierten
400 Meter-Rundbahnen mit einem Schotter- oder
Schlackenbett und einer festgewalzten Deckschicht aus
einem Aschen- oder Sand-Gemisch.
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Die Olympischen Spiele 1968 in Mexiko City leiteten mit
der roten Kunststoffbahn in über 2000 Meter Meereshöhe weltweit eine revolutionäre Entwicklung ein, von der
die Leichtathletik bis heute profitiert. Bob Beamons 8.90
Meter-Sprung "ins nächste Jahrtausend" war der Anfang
Status zu verbessern. Derart wurde die Baden-Badener Entscheidung auch begründet. Die Sportler seien (durch die neue
Regelung) nun sozial besser abgesichert als früher, sagte
Daume 1983.
Nun trieb es Athleten und Verbände an die Fleischtöpfe,
zögerlich und unerfahren zunächst, dann mit erhöhtem
Tempo. Sachmittel für die Sieger, ein Mercedes, waren ein
erstes sichtbares Zeichen der Veränderung; später wurden
Geldpreise vergeben: 100.000 Dollar für den Weltrekord,
60.000 Dollar für den WM-Titel. Und noch wichtiger: In
Helsinki trat erstmals ein Fernsehvertrag für die IAAF in Kraft,
er sicherte dem Weltverband das Überleben und half den
WM-Veranstaltern. 2001 kam es zur überfälligen
Namensänderung der IAAF. Seitdem steht das
Kürzel für International Association of Athletics
Federations, das "A" für Amateur hatte dran
glauben müssen. An die Non-Profit-Mentalität
der Leichtathleten und Olympiasportler hatte
schon lange niemand mehr geglaubt.
Der lange Weg zur Kunststoffbahn
einer Leistungsexplosion auf solchen Synthetikbahnen, deren
weitere Vorteile die geringe Pflege und Witterungsunabhängigkeit darstellen. Dies war das Ende einer Zeit, in der die
Sprinter mit einem Schäufelchen Löcher als Starthilfe in die
Asche und Schlacke gegraben haben und die Startmaschinen
mit Nägeln einzeln festgehämmert werden mussten. "Von
'regenschwerer' oder 'aufgeweichter' Bahn wird im Kunststoff-Zeitalter keine Rede mehr sein. Das Wasser wird einfach
von der Bahn gekehrt, und schon herrschen Rekordbedingungen", beschrieb Leichtathletik-Experte Gustav Schwenk nach
Mexiko die Laufbahn-Revolution.
Kunststoffbahnen gab es schon vor Mexiko, beispielsweise
in San Josè (USA). Wo die erste Kunststoffbahn gebaut
wurde, ist schwer zu recherchieren. Hansjörg Wirz, Präsident
des Europäischen Leichtathletik-Verbandes, schätzt aus der
Erinnerung auf 1966 als Geburtsjahr für die erste Tartanbahn. Die erste Bahn dieser Art in Europa wurde 1968 in
London im Chrystal Palace verlegt, Zürich erhielt im selben
Jahr die erste Bahn auf dem europäischen Festland. Den Ruf
als "piste magique" hatte sich der Letzigrund aber bereits
Im Blickfeld der Berliner WM
Nach der Streichung des Amateurparagrafen stieg die Erwartungshaltung an die erste WM, es herrschte große Betriebsamkeit, die eine Weltrekordflut zur Folge hatte. Allein bei
den Frauen gab es 18, darunter die der Deutschen Ulrike
Meyfarth (Hochsprung 2,03 m) und Marlies Göhr (100 m
10,81 sec). Heute ist vom damaligen Boom noch der 800-mWeltrekord von Jarmila Kratochvilova (CSSR) (1:53,29 min)
gültig. Die Weltmeisterschaften selbst waren geprägt von
Athleten, die in Helsinki große Karrieren starteten: US-Sprinter Carl Lewis mit drei Goldmedaillen (100 m, Weitsprung,
4x100 m); der gerade 19-jährige Sergei Bubka (UdSSR), der
im Stabhochsprung seinen ersten von insgesamt sechs WMTiteln gewann und heute IAAF-Vorständler und Mitglied im
IOC ist; Heike Daute vom SC Motor Jena, 18 Jahre alt, siegte
im Weitsprung mit 7,27 m und repräsentierte danach als
Heike Drechsler in dieser Disziplin nahezu zwei Jahrzehnte
Weltniveau.
auf Asche verdient. In Stuttgart feierte die neue Laufbahn
1969 beim Erdteilkampf Europa-Amerika Deutschland Premiere.
Bemerkenswert ist auch die Entwicklung in Afrika. 1971
erhielt Dakar (Senegal) eine Rekortan-Bahn, wenig später
kam dieselbe Bahn nach Südafrika. 1973 wurde anlässlich
der All-African-Games in Lagos (Nigeria) die erste Tartanbahn gebaut. Die nächste Bahn von den Chinesen in Sansibar 1974 verlegt. Rund 20 (von 52) afrikanischen Ländern
besitzen auf dem Kontinent der Laufwunder und Wunderläufer immer noch keine Kunststoffbahn. Auch nicht
Botswana, das seine Bahn schon mal zur Hunderennbahn
umfunktionierte. Kenia erhielt erst 1981 mit deutscher
Unterstützung eine Kunststoffanlage. Bis heute gibt es im
Land der Läufer lediglich zwei Bahnen in Nairobi. Auch
deshalb träumt 800 Meter-Olympiasieger Wilfred Bungei
von einer solchen modernen Anlage im kleinen Ort Kabirisang in seinem Heimatland, das auf unzähligen Sandpisten
viele Weltstars hervorbrachte.
Ewald Walker
Die Athleten des Deutschen Leichtathletik-Verbands (DLV)
erreichten acht Medaillen, darunter zwei goldene: über 3.000
m Hindernis für Patriz Ilg und über 800 m für Willi Wülbeck
mit dem noch heute gültigen deutschen Rekord von 1:43,65
Minuten. Erfolgreicher waren die Athleten und Athletinnen
aus der DDR. Mit zehn Siegen schnitten sie sogar besser ab
als Amerikaner (8) und Russen (6).
Dass die 83er-WM ohne jegliche Reibereien und politisch
motivierte Auseinandersetzungen über die Bühne ging, war
am Ende das wesentliche Verdienst der Veranstaltung in der
finnischen Hauptstadt. Welchen Erfolg die 12. WM in Berlin
zeitigt, muss sich noch erweisen. Vielleicht lässt sich ja von
den Verantwortlichen wieder stärker ins Blickfeld rücken,
dass die Leistung, der Rekord, immer nur eine Seite der
Medaille darstellt; die andere ist geprägt von dem Anspruch,
dass Athleten, die Träger der Leistung, gereift durch Erziehung und Selbstverantwortung, anderen dauerhaft Vorbilder sind.
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