Umdenken des Verfassungsstaates im Anschluß an

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Umdenken des Verfassungsstaates im Anschluß an
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Wenn aber der Verfassungsstaat der postmodernen mikround makrophysikalischen Machtanalytik Foucaults zufolge
sowohl durch die Normalisierungsvorgänge der Disziplin als
auch durch die Gouvernementalisierung kolonisiert worden
ist, so befindet er sich deswegen noch nicht in einer Sackgasse.
Im Gegenteil: Der Verfassungsstaat, so der Verfasser, hat sich
unterschiedlicher Methoden bedient, um sich einerseits zum
Doppeldisziplinierungsmechanismus und andererseits zur
Rahmenbedingung für das Gemeinwohlmanagement zu
entwickeln. Dank seines sich nicht gänzlich vorhersehbaren
Doppeldisziplinierungsmechanismus ist der Verfassungsstaat
nun nicht nur in der Lage, die störende Disziplinierung des
Staatsbürgers zu überwachen und zu disziplinieren. Im Rahmen dieses Doppeldisziplinierungsmechanismus bietet er uns
darüber hinaus eine günstige und faire institutionelle Mindestbedingung für das Gemeinwohlmanagement an, um die
von der Komplexität und Krisen durchdrungene Lebenswelt
mittels einer Vielzahl neuartiger Strategien zu regieren.
Yu-Lin Chiang, geboren 1968 in Taipeh, Taiwan. 1991
Bachelor of Laws und 1994 Master of Laws an der National
Taiwan University. 1999 LL.M. in Heidelberg. Von 1991 bis
1993 Assistent an der Juristischen Fakultät der National Taiwan University. Von 1994 bis 1996 Assistent an der Juristischen Fakultät des National Defence Management College
(Wehrdienst). Von 1997 bis 2002 Stipendiat des DAAD.
ISBN 3-86504-025-X
26 Euro
Yu-Lin Chiang Umdenken des Verfassungsstaates im Anschluß an Michel Foucault
14.01.04
50
Juristische Reihe
TENEA/
Chiang.qxd
YU-LIN CHIANG
Umdenken des Verfassungsstaates
im Anschluß an Michel Foucault
Juristische Reihe TENEA/
Bd. 50
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Seite 1
Wenn aber der Verfassungsstaat der postmodernen mikround makrophysikalischen Machtanalytik Foucaults zufolge
sowohl durch die Normalisierungsvorgänge der Disziplin als
auch durch die Gouvernementalisierung kolonisiert worden
ist, so befindet er sich deswegen noch nicht in einer Sackgasse.
Im Gegenteil: Der Verfassungsstaat, so der Verfasser, hat sich
unterschiedlicher Methoden bedient, um sich einerseits zum
Doppeldisziplinierungsmechanismus und andererseits zur
Rahmenbedingung für das Gemeinwohlmanagement zu
entwickeln. Dank seines sich nicht gänzlich vorhersehbaren
Doppeldisziplinierungsmechanismus ist der Verfassungsstaat
nun nicht nur in der Lage, die störende Disziplinierung des
Staatsbürgers zu überwachen und zu disziplinieren. Im Rahmen dieses Doppeldisziplinierungsmechanismus bietet er uns
darüber hinaus eine günstige und faire institutionelle Mindestbedingung für das Gemeinwohlmanagement an, um die
von der Komplexität und Krisen durchdrungene Lebenswelt
mittels einer Vielzahl neuartiger Strategien zu regieren.
Yu-Lin Chiang, geboren 1968 in Taipeh, Taiwan. 1991
Bachelor of Laws und 1994 Master of Laws an der National
Taiwan University. 1999 LL.M. in Heidelberg. Von 1991 bis
1993 Assistent an der Juristischen Fakultät der National Taiwan University. Von 1994 bis 1996 Assistent an der Juristischen Fakultät des National Defence Management College
(Wehrdienst). Von 1997 bis 2002 Stipendiat des DAAD.
ISBN 3-86504-025-X
26 Euro
Yu-Lin Chiang Umdenken des Verfassungsstaates im Anschluß an Michel Foucault
14.01.04
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YU-LIN CHIANG
Umdenken des Verfassungsstaates
im Anschluß an Michel Foucault
Juristische Reihe TENEA/
Bd. 50
TENEA
Juristische Reihe
TENEA/
Bd. 50
Tenea (‘η Τενέα), Dorf im Gebiet von Korinth
an einem der Wege in die → Argolis, etwas s. des
h. Chiliomodi. Sehr geringe Reste. Kult des Apollon Teneates. T. galt im Alt. sprichwörtl. als glücklich, wohl wegen der Kleinheit […]
Aus: K. Ziegler, W. Sontheimer u. H. Gärtner
(eds.): Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike.
Bd. 5, Sp. 585. München (Deutscher Taschenbuch Verlag), 1979.
YU-LIN CHIANG
Umdenken des Verfassungsstaates
im Anschluß an Michel Foucault
Yu-Lin Chiang:
Umdenken des Verfassungsstaates
im Anschluß an Michel Foucault
(Juristische Reihe TENEA/www.jurawelt.com; Bd. 50)
Zugleich Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
Dissertation 2003
Gedruckt mit Unterstützung des
Deutschen Akademischen Austauschdienstes
Gedruckt auf holzfreiem, säurefreiem,
alterungsbeständigem Papier
© TENEA Verlag für Medien
Berlin 2003
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved.
Digitaldruck und Bindung:
Digital-Print-Service · 10119 Berlin
Umschlaggestaltung: nach Roland Angst, München
TENEA-Graphik: Walter Raabe, Berlin
Printed in Germany 2003
ISBN 3-86504-025-X
Vorwort
Diese Arbeit lag der Juristischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg im Sommersemester 2003 als Dissertation vor. Großen Dank schulde ich dem Betreuer meiner Arbeit, Herrn
Prof. Dr. Winfried Brugger, der nicht nur stets zu lehrreicher Diskussion
bereit war, sondern mir auch sehr viel Freiheit bei der Entwicklung der
Gedanken gewährt hat. Herrn Prof. Dr. Görg Haverkate möchte ich herzlichst danken für die Erstellung des Zweitgutachtens.
Zu danken habe ich des weiteren Herrn Ingmar Heise, Frau Alexandra Dziuba und Herrn Dr. Michael Meyer für sprachliche Verbesserungen des Manuskripts, der Familie Metz für die während meiner Studienaufenthalt in Deutschland gewährte Gastfreundschaft sowie dem
DAAD für die langjährige finanzielle Unterstützung.
Gewidmet ist das Buch meiner Frau Huang-Yu Wang, meinem Sohn
Dai-Ruei und meinen Eltern.
Heidelberg, im Juni 2003
Yu-Lin Chiang
Inhaltsverzeichnis
Einleitung ......................................................................................................... 1
Erster Abschnitt
Die Lokalisierung des Verfassungsstaates in Foucaults Machtanalytik
Kapitel 1: Einführung in die Machtanalytik Foucaults ....................................
A. Drei Machtebenen von strategischen Machtspielen, Herrschaftszuständen
und Regierungstechnologien .......................................................................
B. Die doppelgesichtige Machttechnologie des Lebens ..................................
C. Das Machtdreieck von Souveränität, Disziplin und Gouvernementalität ...
Kapitel 2: Die Mikrophysik der Macht: Disziplin ...........................................
A. Auf der Suche nach einem anderen Typ der Macht ....................................
B. Zum Begriff der Disziplin ...........................................................................
I. Die Disziplin im Sinne des alltäglichen Sprachgebrauchs ..................
II. Die anthropologisch-psychisch-negative Verdrängung durch die
Disziplin ..............................................................................................
III. Die mikrophysikalisch-ökonomisch-positive Technologie der
Disziplin ..............................................................................................
C. Die technischen Instrumente der Disziplin .................................................
I. Die hierarchische Überwachung .........................................................
II. Die normierende Sanktion ..................................................................
III. Die individualisierende Prüfung ………………………….................
1. Die Umkehrung der Sichtbarkeit ...................................................
2. Die Dokumentierbarmachung der Individualität ...........................
3. Die Produktion des Disziplinarindividuums durch die
Fallforschung .................................................................................
D. Die Entstehung der Disziplinargesellschaft ................................................
I. Von der institutionsimmanenten Disziplin zur gesellschaftlichen
Disziplin ..............................................................................................
II. Die Funktionsweise der panoptischen Disziplinargesellschaft – im
Vergleich zur Sozialdisziplinierung nach Gerhard Oestreich .............
III. Die Kolonisierung der Rechtsgesellschaft – die Herstellung sowohl
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eines tugendhaften Bürgers wie auch eines Delinquenten .................. 66
E. Der Übergang von der mikrophysikalischen Disziplinierung des Körpers
zum makrophysikalischen Regieren der Bevölkerung ............................... 74
Kapitel 3: Die Makrophysik der Macht: Gouvernementalität .........................
A. Die Verschiebung der Machtanalytik auf die Problematik der
Gouvernementalität .....................................................................................
B. Zum Begriff der Gouvernementalität .........................................................
I. Entstehung und Eigenart der Gouvernementalität ..............................
II. Der Einsatz der strategisch orientierten Sicherheitsdispositive ..........
C. Die Machttechnik des Pastorats ..................................................................
I. Rückkehr zur Pastoralmacht ...............................................................
II. Die Eigenart der Pastoralmacht ...........................................................
III. Die Säkularisierung der Pastoralmacht ...............................................
D. Die Geschichte der Gouvernementalität .....................................................
I. Die frühneuzeitlichen durch Staatsräson und Polizei säkularisierten
Sicherheitsdispositive ..........................................................................
II. Der Machtexzess durch die Gouvernementalisierung des Staates ......
III. Sicherheitsdispositive des Liberalismus und seine
Regierungstechnologie – der Verfassungsstaat ...................................
IV. Die Krise der Regierung – die Erschütterungen der
Sicherheitsdispositive vom liberalen Verfassungsstaat bis zum
nachfolgenden sozialen Verfassungsstaat ...........................................
V. Die Machtlosigkeit des Verfassungsstaates gegenüber der Krise der
Regierung ............................................................................................
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Zweiter Abschnitt
Rekonstruktion des Verfassungsstaates
Kapitel 4: Der Übergang von der Machtanalytik Foucaults zur
Rekonstruktion des Verfassungsstaates .........................................
A. Auf der Suche nach einem neuen Recht .....................................................
I. Machtanalytik und Machtkritik ...........................................................
II. Ein neues Recht – im objektiven oder subjektiven Sinne ...................
B. Die kritische Praxis der Freiheit .................................................................
I. Der Kampf für eine neue Subjektivität ...............................................
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II. Eine andere Art der Menschenrechte ..................................................
C. Die Parrhesia und das Recht des Regierten ...............................................
I. Das Spiel der Parrhesia ......................................................................
II. Das Recht des Regierten .....................................................................
III. Appell zu moralischem Mut oder Garantie durch eine institutionelle
Mindestbedingungen ...........................................................................
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Kapitel 5: Doppeldisziplinierungsmechanismus des Verfassungsstaates ........ 143
A. Entstehung des Doppeldisziplinierungsmechanismus des
Verfassungsstaates ...................................................................................... 143
I. Eine andere Richtung der Disziplinierung – die Disziplinierung der
Staatsmacht ......................................................................................... 143
II. Das Spannungs- und Koordinierungsverhältnis zwischen der
Disziplinierung des Staatsbürgers und der Disziplinierung der
Staatsmacht ......................................................................................... 144
B. Zur Anwendung der Disziplinarinstrumente auf die Überwachung der
Staatsmacht ................................................................................................. 146
I. Die Freisetzung der Disziplinarinstrumente der Macht ...................... 146
II. Die optische Disziplinararchitektur des Verfassungsstaates ............... 148
1. Die hierarchische Überwachung des Rechtsstufenbaus ................. 148
2. Die normierende Sanktion der Nichtigkeit .................................... 150
3. Die gerichtliche Prüfung ................................................................ 152
C. Die Rolle der überprüfenden Verfassungsgerichtsbarkeit im
Doppeldisziplinierungsmechanismus des Verfassungsstaates .................... 154
I. Die Einrichtung der Verfassungsgerichtsbarkeit und das
hermeneutische Problem der Verfassungsauslegung .......................... 154
II. Konflikt zwischen unterschiedlichen Verfassungsverständnissen –
das Beispiel des Streits um den Kruzifix-Beschluss ........................... 157
III. Zurückgehen auf den Doppeldisziplinierungsmechanismus des
Verfassungsstaates ............................................................................... 161
1. Loslösung von der Suche nach legitimen Grenzen der
Verfassungsgerichtsbarkeit ............................................................ 161
2. Machtantagonismus zwischen der Disziplinierung des
Staatsbürgers und der Disziplinierung der Staatsmacht ................. 163
3. Die List der Disziplinarmacht – Förderung der Disziplinierung
des Staatsbürgers durch die Disziplinierung der Staatsmacht ....... 164
vii
Kapitel 6: Gemeinwohlmanagement des Verfassungsstaates .......................... 169
A. Eine Horizonterweiterung des Verfassungsstaates – vom
Doppeldisziplinierungsmechanismus zum Gemeinwohlmanagement ....... 169
B. Zum Begriff des Gemeinwohlmanagements .............................................. 170
I. Warum Gemeinwohlmanagement? ..................................................... 170
II. Vom Gemeinwohl- zum Krisenmanagement ...................................... 172
C. Parlamentarische Gemeinwohlmanagement im Rahmen des
Doppeldisziplinierungsmechanismus des Verfassungsstaates ................... 176
Schluss: Eine Machtgeschichte des Verfassungsstaates .................................. 181
Literaturverzeichnis ......................................................................................... 183
A. Sigelverzeichnis der Schriften Foucaults .................................................... 183
B. Andere Literatur .......................................................................................... 185
viii
Einleitung
Schon seit seiner Entstehung ist der Verfassungsstaat in die unaufhörlichen Kämpfe gegen die Macht mit hineingezogen worden. Verfassungsgeschichtlich betrachtet wurde der Verfassungsstaat vom Liberalismus erfunden, um gegen den Absolutismus und seine uneingeschränkte
Machtvollkommenheit zu kämpfen. 1 Die Menschenrechtsgarantie und
die Gewaltenteilung sind die zwei ursprünglichen, sich ergänzenden
Grundelemente des Verfassungsstaates.2 Während die Gewaltenteilung
versucht, die Macht mit Hilfe der Macht zu bremsen, bemüht sich die
Menschenrechtsgarantie darum, „[…] eine strenge Scheidelinie zwischen
dem ursprünglichen, dem Staatsmitglied verbliebenen Freiheitsanteil und
der Staatsmacht“ zu ziehen (Georg Jellinek), damit die Freiheitsrechte des
einzelnen vor der „Bedrohung durch die Staatsmacht“ gesichert werden
können (Ernst-Wolfgang Böckenförde).3 Indem der Verfassungsstaat der
Staatsmacht entgegensteht, verbindet er sich schicksalhaft mit der Macht.
In diesem Kampf des Verfassungsstaates gegen die Staatsmacht
scheint die Macht vor allem im Staatsapparat lokalisiert und ihrer Natur
nach negativ, repressiv sowie expansiv zu sein. Das heißt: Die Macht be1
2
3
Vgl. etwa Georg Jellinek, Die Entstehung der modernen Staatsidee, in: Ders.,
Ausgewählte Schriften und Reden, Zweiter Band, Berlin 1911, S. 50ff.; Carl
Schmitt, Verfassungslehre, 8. Aufl., Berlin 1993, S. 36ff., 125; Martin Kriele,
Einführung in die Staatslehre, 5. Aufl., Opladen 1994, S. 121f.; Ernst-Wolfgang
Böckenförde, Staat, Nation, Europa. Studien zur Staatstheorie, Verfassungstheorie und Rechtsphilosophie, Frankfurt a.M. 1999, S. 127ff.; Dieter Langewiesche,
Liberalismus in Deutschland, Frankfurt a.M. 1988, S. 12ff.
Zu den entscheidenden Bestandteilen des Verfassungsstaates zählen die Menschenrechtsgarantie und die Gewaltenteilung zum Beispiel schon im berühmten
Artikel 16 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789.
Er lautet: „Jede Gesellschaft, in der weder die Gewährleistung der Rechte zugesichert noch die Gewaltenteilung festgelegt ist, hat keine Verfassung.“
Vgl. Charles de Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, Stuttgart 1994, S. 215;
Georg Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, Darmstadt 1963, S.
95; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur
Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt a.M. 1976, S. 224. Zur Abwehrfunktion der Menschenrechte gegen die staatliche Macht sagt Gerhard
Oestreich: „Dem Staate müssen Grenzen gesetzt werden. Im Kampf gegen die
ständige Ausweitung staatlicher Macht, insbesondere gegen den monarchischen
Absolutismus, der in seinem Machtstreben die Rechte seiner Untertanen missachtete und verletzte, sind die Grundrechte gewachsen; sie sollten dazu dienen,
dem Staatsbürger eine eigene freie Sphäre zu sichern.“ Ders., Die Idee der Menschenrechte, 5. Aufl., Berlin 1974, S. 10.
1
droht nicht nur die Freiheiten der Bürger. Sie nutzt auch jede Gelegenheit
aus, um die ihr zugewiesenen Grenzen zu überschreiten.4 Angesichts der
riesigen Potentaten und Interessen, die von der Macht angereizt werden,
wird der Machthaber niemals aufhören, nach immer mehr Macht zu streben. „Das Streben nach Macht“, wie Friedrich Meinecke meint, ist „[…]
ein urmenschlicher, ja vielleicht animalischer Trieb, der blind um sich
greift, bis er äußere Schranken findet.“5 Von diesem expansiven Drang
der Macht werden Menschen dazu getrieben, nicht nur sich in machiavellistische Kämpfe um die Macht zu verstricken, sondern auch die Macht
zu missbrauchen, sobald sie sie in Händen halten.6
Dieses negative, repressive, expansive und im Staat lokalisierte
Machtbild ist Foucault zufolge auf das sogenannte juridische Modell der
Macht bzw. auf das Rechtsmodell der Souveränität oder einfach auf die
königliche Macht zurückzuführen.7 In seinem Buch Der Wille zum Wissen, der Studie über Macht und Sexualität, zeigt Foucault, dass die Analyse der Macht gewöhnlich vom System von Souverän und Gesetz, von
Repression und Verbot ausgeht. Die dadurch geprägte juridische Konzeption der Macht besteht Foucaults Meinung nach aus fünf Hauptmerkmalen. Das erste Merkmal ist „die negative Beziehung“. Die Macht präsentiert sich nur in negativen Formen, nämlich: Verwerfung, Ausschließung,
Verweigerung, Versperrung, Verstellung oder Maskierung. Das zweite
Merkmal ist „die Instanz der Regel“. Die reine Form der Macht ist wesenhaft in der Funktion des Gesetzgebers zu finden. Das heißt: Die Macht
schreibt ihren Adressaten eine Ordnung vor und bestimmt, was ziemlich/unziemlich oder erlaubt/verboten ist. Das dritte Merkmal ist „der
Zyklus der Untersagung“. Die Macht ist einfach das Verbot. Das Ziel der
Macht liegt vor allem in der Entsagung dessen, was die Macht ablehnt,
und ihre Methode ist die Androhung einer Strafe. Das vierte Merkmal ist
„die Logik der Zensur“. Um das Verbotene im Wirklichen zu vernichten,
verwendet die Macht die Zensurmechanismen, denen drei Formen
4
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7
2
Vgl. Alexander Hamilton/James Madison/John Jay, Die Federalist-Artikel. Politische Theorie und Verfassungskommentar der amerikanischen Gründerväter,
hrsg. von Angela Adams/Willi Paul Adams, Paderborn 1994, 48. Artikel, S. 299.
Friedrich Meinecke, Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte, 2. Aufl.,
München u. Berlin 1925, S. 5.
Vgl. Montesquieu (Fn.3), S. 213; Hamilton/Madison/Jay (Fn.4), 48. Artikel, S.
299; Meinecke (Fn. 5), S. 16; Erhard Friedberg, Ordnung und Macht. Dynamiken
organisierten Handelns, Frankfurt a.M. 1995, S. 260.
Vgl. WW, S. 101f.; DM, S. 34f., 37f., 109, 209; MaM, S. 23f.; VG, S. 33-36,
52-54, 306; Gouv, S. 62-65.
zugrunde liegen, nämlich die Behauptung, dass etwas nicht erlaubt ist, die
Verhinderung, dass das gesagt wird, und die Verneinung, dass das existiert. Das fünfte Merkmal ist „die Einheit des Dispositivs“. Die Macht
prägt die allgemeine Form der Unterwerfung. Der Adressat, der gegenüber dem von der Macht erlassenen Gesetz steht, ist das gehorchende
Subjekt, das zum Untertanen geworden ist. Diese allgemeine Form der
Unterwerfung vollzieht sich auf allen Ebenen in gleicher Weise, egal ob
beim Untertanen des Monarchen, beim Bürger des Staates, beim Kind der
Eltern oder beim Schüler des Lehrers.8
In bezug auf dieses langfristig wirksame juridische Modell der
Macht fragt Foucault: „Warum akzeptiert man diese juridische Konzeption der Macht so ohne weiteres?“ Und „[w]oher kommt da die Tendenz,
die Macht nur in der negativen und fleischlosen Form des Verbotes zur
Kenntnis zu nehmen? Woher kommt die Neigung, die Dispositive der
Herrschaft auf die Prozedur des Untersagungsgesetzes zu reduzieren?“9
Foucaults Ansicht zufolge bestehen die Gründe dafür vor allem in der
Entstehung der monarchischen Machtinstitutionen, die sich seit dem Mittelalter gegenüber den vielfältigen und kriegerischen Feudalmächten entwickelt haben. Laut Foucault ist die Monarchie die „Instanz[…] der Regelung, der Schiedsgerichtsbarkeit und der Grenzziehung“, und ihre
Aufgabe ist es, die Ordnung, „pax et iustitia“, zwischen den Feudalmächten und zwischen den sich privatrechtlich auseinandersetzenden Individuen einzuführen. Das wirksame Instrument, mit dem es der Monarchie gelingt, diese Aufgabe zu erfüllen und die Formen und Mechanismen ihrer eigenen Macht zu bestimmen, insbesondere auf Kosten der
Feudalmächte, ist das Recht. Mit Hilfe des Rechts haben sich die großen
monarchischen Machtinstitutionen allmählich „[...] als einheitliches
Ganzes konstituiert, haben ihren Willen mit dem Gesetz identifiziert und
sich mittels Untersagungs- und Sanktionierungsmechanismen durchgesetzt“.10
Die Wiederbelebung des römischen Rechts im Mittelalter und das
Auftauchen der frühneuzeitlichen Souveränitätstheorie sind die zwei effizienten Mittel zur Stabilisierung dieser monarchischen Machtinstitutionen
und ihrer gesetzgebenden Autorität. Während die am römischen Recht
geschulten Juristen des späten Mittelalters den Königen und Landesfürs8
9
10
Vgl. WW, S. 103-106.
WW, S. 106f. Dieselbe Fragestellung siehe auch DM, S. 209; MaM, S. 25.
Vgl. WW, S. 107f.
3
ten die Gewalt (potestas) als Instrument anbieten, um gegenüber dem
päpstlichen Machtprimat weltliches Recht festzulegen und damit die Regeln zu bestimmen, nach denen der Staat regiert werden sollte, wird die
monarchische Macht durch die Souveränitätslehre Bodins erneut eingegliedert und reorganisiert. Demzufolge ist die monarchische Macht vor
allem summa legibus soluta potestas, also eine oberste, auch über den
staatlichen Gesetzen stehende Gewalt. 11 Dementsprechend sollte die
monarchische Macht zu einer fundamentalen und begründenden Einheit
der Macht werden, die in der Lage ist, nicht nur die vielfältigen Mächte in
sich aufzunehmen, sondern auch sich unverteilt in den absoluten Machtinstitutionen zu einer homogenen Staatsgewalt zu konsolidieren.12 Das
hervorragendste Merkmal dieser Staatsgewalt ist laut Bodin die „Machtvollkommenheit, Gesetze für alle und für jeden einzelnen zu erlassen,
ohne dass irgendjemand zustimmen müsste“.13 Dadurch wird der königliche Wille nicht nur mit Gesetzen identifiziert. Er wird mit Hilfe seiner
souveränen Macht und der monopolisierten, legitimen Gewaltsamkeit
auch gegen Widerstand durchgesetzt.14 Die souveräne Macht wird darum
11
12
13
14
4
Diesbezüglich schreibt Bodin in der lateinischen Fassung von „Six livres de la
République“ einen entscheidenden Satz, der später als Kennzeichen des Absolutismus gilt: „Majestas est summa in cives ac subditos legibusque soluta potestas“ (Souveränität ist die höchste, rechtlich unbeschränkte Gewalt über die
Bürger und die Untergebenen. Übersetzung von Martin Kriele (Fn.1), S. 58f.)
Jean Bodin, Über den Staat, Stuttgart 1999, S. 19; vgl. dazu Rudolf Weber-Fas,
Über die Staatsgewalt. Von Platons Idealstaat bis zur Europäischen Union, München 2000, S. 96; Gerhard Oestreich, Geist und Gestalt des frühmodernen Staates.
Ausgewählte Aufsätze, München 1969, S. 179f.
Vgl. WW, S. 108; MaM, S. 25f.; VG, S. 52f.; Adolf Laufs, Rechtsentwicklungen
in Deutschland, 5. Aufl., Berlin 1996, S. 54; Hagen Schulze, Staat und Nation in
der europäischen Geschichte, 2. Aufl., München 1995, S. 28; Reinhold Zippelius,
Allgemeine Staatslehre. Politikwissenschaft, 12. Aufl., München 1994, S. 158.
Die Konsolidierung der monarchischen Macht gilt nach Jellinek zugleich auch als
die Entstehung des modernen Staates, der gegen drei Mächte, gegen Kirche,
Reich und ständische Macht, zu kämpfen hat. Vgl. Jellinek (Fn.1), S. 46ff.
Vgl. Bodin (Fn.11), S. 42.
Diesbezüglich wird die Macht von Max Weber aus der Perspektive der Intention
des Machtinhabers so definiert: „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eignen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen,
gleichviel worauf diese Chance beruht.“ Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft,
Johannes Winkelmann (Hrsg.), 5. Aufl., Tübingen 1980, S. 28. Vgl. dazu auch
Petra Neuenhaus, Max Weber und Michel Foucault. Über Macht und Herrschaft
in der Moderne, Pfaffenweiler 1993, S. 12. Im Gegensatz zu diesem weberischen
Verstehen von Macht, die sich mit dem subjektiven Sinne verbindet, glaubt Foucault eher, „dass die Macht sich nicht ausgehend von (individuellen oder kollektiven) Willen bildet, auch nicht, dass sie sich von Interessen ableitet“. DM, S. 110.
als nichts anderes als Repression gegenüber den Untertanen und als zu
übertragender und anzueignender Reichtum der Fürsten betrachtet, dessen
auffälligsten Charakter das Recht über Leben und Tod ist. Dazu sagt
Foucault: „Eines der charakteristischsten Privilegien der souveränen
Macht war lange Zeit das Recht über Leben und Tod. Es leitet sich von
der alten patria potestas her, die dem römischen Familienvater das Recht
einräumte, über das Leben seiner Kinder wie über das seiner Sklaven zu
»verfügen«: er hatte es ihnen »gegeben«, er konnte es ihnen wieder entziehen. Bei den klassischen Theoretikern ist das Recht über Leben und
Tod schon erheblich abgeschwächt. Als Recht des Souveräns gegenüber
seinen Untertanen darf es nicht mehr absolut und bedingungslos ausgeübt
werden, sondern nur für den Fall, dass sich der Souverän in seiner
Existenz bedroht sieht: ein Recht der Gegenwehr. [...] Auf jeden Fall ist
das Recht über Leben und Tod sowohl in seiner modernen relativen und
beschränkten Form wie auch in seiner alten absoluten Form ein
asymmetrisches Recht. Der Souverän übt sein Recht über das Leben nur
aus, indem er sein Recht zum Töten ausspielt – oder zurückhält. Er
offenbart seine Macht über das Leben nur durch den Tod, den zu
verlangen er imstande ist. Das sogenannte Recht »über Leben und Tod«
ist in Wirklichkeit das Recht, sterben zu machen und leben zu lassen.
Sein Symbol war ja das Schwert.“15
Schon seit langem ist die Macht mit dem König, dem Souverän, dem
Staat, dem Recht, dem Gesetz, dem Verbot und der Repression eng verbunden worden.16 Das dadurch ausgelöste negative Vorverständnis der
juridischen Machtkonzeption bleibt weithin in den modernen Staatstheorien erhalten.17 Es wird sogar in den Verstehensprozess und die Praxen
15
16
17
Mit anderen Worten: Die Macht sollte nicht „auf der Ebene der Intention oder der
Entscheidung„ analysiert oder „von innen her“ erfasst werden. Man sollte also
nicht die Frage stellen: „Wer hat Macht? Was hat dieser im Sinn? Und wonach
strebt der, der die Macht hat?“ VG, S. 37.
WW, S. 161f.; vgl. ÜS, S. 64; VG, S. 277f.
Vgl. MaM, S. 25f.; VG, S. 33-35; DM, S. 38, 109f., 208; WW, S. 106-110.
Dazu sagt Foucault: „Es ist bekannt, welche Faszination heute die Liebe zum
Staat und das Erschrecken vor dem Staat ausüben; es ist bekannt, wie sehr man
sich die Geburt des Staates, seine Geschichte, seine Verstöße, seine Macht und
seine Missbräuche angelegen sein lässt.“ Gouv, S. 65. Weiter: „Eine Tradition,
die ins 17. oder ins 19. Jahrhundert zurückreicht, hat uns daran gewöhnt, die absolute monarchische Macht auf die Seite des Unrechts zu setzen: wir denken an
die Willkür, die Missbräuche, die Laune, die Gunst, die Privilegien und die Ausnahme, die beharrliche Fortschleppung von Zuständen. Aber dabei vergisst man
die grundlegende historische Tatsache, dass die abendländischen Monarchien als
5
des Verfassungsstaates eingebracht. Die heutigen Grundrechte, die bestimmte Freiheitsrechte gegen staatliche Eingriffe, Einschränkungen, Beschränkungen oder Verletzungen schützen, haben sich zum Beispiel gemeinsam mit dem negativen, repressiven Staatsmachtsbild entwickelt.18
In diesem langfristigen Kampf des Verfassungsstaates gegen die schlechte,
böse Staatsmacht scheint Foucault der Kopf des Königs noch nicht abgeschlagen zu sein. Diesbezüglich sagt Foucault: „Im Grunde ist die Repräsentation der Macht über die unterschiedlichen Epochen und Zielsetzungen hinweg doch im Bann der Monarchie verblieben. Im politischen
Denken und in der politischen Analyse ist der Kopf des Königs noch immer nicht gerollt. Daher rührt die Bedeutung, die man in der Theorie der
Macht immer noch dem Problem des Rechts und der Gewalt beimisst,
dem Problem des Gesetzes und der Gesetzwidrigkeit, des Willens und der
Freiheit und vor allem dem Problem des Staates und der Souveränität
(auch wenn diese nicht mehr in der Person des Königs sondern in einem
kollektiven Wesen gesucht wird).“ Also: „Man hängt nach wie vor an
einem bestimmten Bild der Gesetzes-Macht, der Souveränitätsmacht, das
von den Theoretikern des Rechts und von der monarchischen Institution
gezeichnet worden ist. Von diesem Bild, d.h. von der theoretischen Privilegierung des Gesetzes und der Souveränität, muss man sich lösen, wenn
man eine Analyse der Macht durchführen will, die das konkrete und historische Spiel ihrer Verfahren erfassen soll. Man muss eine Analytik der
Macht bauen, die nicht mehr das Recht als Modell und als Code
nimmt.“19 Was man nun braucht “[…] ist eine politische Philosophie, die
nicht um das Problem der Souveränität, also des Gesetzes, des Verbots
herum konstituiert ist. Man muss dem König den Kopf abschlagen: das
18
19
6
Rechtssysteme entstanden sind, dass sie sich in Rechtstheorien reflektiert und
ihre Machtmechanismen in der Form des Rechts durchgesetzt haben.“ WW, S.
108. Vgl. dazu auch Günter Frankenberg, In Hinsicht auf die Souveränität des
Staates, in: Rechtshistorisches Journal 19 (2000), S. 208.
Dies ist die sogenannte Abwehrfunktion der Grundrechte, die nach Jellinek als
der negative Status oder status libertatis bezeichnet wird. Die Grundrechte werden darum als Abwehrrechte betrachtet. Vgl. Jellinek (Fn.3), S. 94; Pieroth, Bodo/Schlink, Bernhard, Grundrechte. Staatsrecht II, 17. Aufl., Heidelberg 2001, Rn.
58.
WW, S. 110f. Bei dieser „Analytik“ der Macht handelt es sich nach Foucault
nicht um eine „Theorie“ der Macht. Er sagt: „Die Analytik kann sich, wie mir
scheint, nur unter der Bedingung konstituieren, dass man reinen Tisch macht und
sich von einer bestimmten Vorstellung der Macht löst, die ich die »juridisch-diskursive« nennen möchte.“ WW, S. 102.
hat man in der politischen Theorie noch nicht getan.“20
Zwar ist die traditionelle juridische Machtkonzeption der Souveränität nach Foucault nicht geeignet für den Ausgangspunkt seiner Machtanalytik, weil die Theorie der Souveränität einfach „die große Falle ist“,
„in die man bei der Machtanalyse hineinzugeraten droht“.21 Dies bedeutet aber nicht, dass der Machttyp der Souveränität nie mehr in Foucaults
Machtanalytik thematisiert werden soll. Im Gegenteil wird er schließlich
in der Machtanalytik Foucaults zu einem unentbehrlichen Element des
sogenannten Machtdreiecks, welches außerdem noch die zwei anderen
Machttypen beinhaltet, nämlich die Mikrophysik der Disziplin und die
Makrophysik der Gouvernementalität.22 Nach Foucault werden diese drei
Machttypen nach und nach alle in der Form staatlicher Institutionen ausgearbeitet, rationalisiert und zentralisiert. Dadurch sind nicht nur verschiedene Machtexzesse ausgelöst worden wie zum Beispiel die des absolutistischen Polizeistaates, des Nazistaates und des sowjetischen Staates,
sondern es sind auch unterschiedliche Krisen der Regierung entstanden,
wie zum Beispiel die heutigen sozial-wohlfahrtsstaatlichen Probleme.
Das Rechtssystem des Verfassungsstaates, der ursprünglich von der
liberalen gouvernementalen Rationalität erfunden wurde, wird zwar als
die effektive Regierungstechnologie gegenüber dieser Raserei der Macht
angesehen, in der das Zuviel an Regierung beständig vorhanden ist. Aber
ist der Verfassungsstaat, der nach Foucault schon seit langem auch durch
die Disziplinarmechanismen kolonisiert worden ist, weiter in der Lage,
die heutige soziale Krise der Regierung zu lösen? Die Antwort Foucaults
ist leider pessimistisch. Dies führt zwar nicht zur Destruktion des Verfassungsstaates, aber doch zu einer großen Enttäuschung über seine Leistungsfähigkeit. Muss aber die Machtanalytik Foucaults unbedingt zur
solchen negativen Folge führen? Kann man nicht im Gegenteil eine positive Bewertung der Leistungsfähigkeit des Verfassungsstaates von seiner
postmodernen Machtanalytik her ableiten? Hinsichtlich dieser Frage liegt
der vorliegenden Arbeit eher ein Optimismus zugrunde, und es wird versucht, eine Rekonstruktion des Verfassungsstaates insbesondere im Anschluss an Foucaults Machtanalytik vorzunehmen. Die entsprechenden
Diskussionen sollten aber zunächst vom folgenden Thema ausgehen, wo
der Verfassungsstaat in Foucaults Machtanalytik lokalisiert ist.
20
21
22
DM, S. 38.
VG, S. 44, 52.
Vgl. Gouv, S. 64.
7
Erster Abschnitt
Die Lokalisierung des Verfassungsstaates
in Foucaults Machtanalytik
Kapitel 1
Einführung in die Machtanalytik Foucaults
A. Drei Machtebenen von strategischen Machtspielen,
Herrschaftszuständen und Regierungstechnologien
Für Foucault ist die Macht weder das Böse noch eine Substanz, die
wie Reichtum bzw. ein Gut von einer Gruppe von Leuten oder einer
Klasse besessen werden kann. 1 Sie ist nicht mit der Kategorie der
Souveränität zu erfassen und darum nicht im Staatsapparat lokalisiert.2
Die Macht ist Foucaults späterer Meinung nach vielmehr „nur ein
bestimmter Typ von Beziehungen zwischen Individuen“, in denen es
„eine Handlungsweise“ gibt, welche „nicht direkt und unmittelbar auf die
anderen einwirkt, sondern eben auf deren Handeln“. Das heißt: Die
1
2
Vgl. FS, S. 25; MM, S. 114f.; VG, S. 38; KpV, S. 66; SM, S. 251; Flive, S. 416.
Vgl. auch „What I am attentive to is the fact that every human relation is to some
degree a power relation. We move in a world of perpetual strategic relations.
Every power relation is not bad in itself, but it is a fact that always involves
danger.“ PPC, S. 168.
Nach der Meinung von Foucault formuliert man die Macht auf der Rechten
immer in Begriffen von Verfassung, Souveränität usw., d.h. in juristischen
Termini, und auf Seiten des Marxismus eher in Begriffen des Staatsapparats. Vgl.
StW, S. 59. Diesbezüglich sagt Foucault in einem Interview: „One impoverishes
the question of power if one poses it solely in terms of legislation and constitution, in terms of solely of the state and the state apparatus. Power is quite different from and more complicated, dense and pervasive than a set of laws or a state
apparatus.” PK, S. 158. Dazu sagt Foucault weiter: „Das Problem auf den Staat
bezogen stellen, heißt nach wie vor es im Sinne von Souverän und Souveränität
stellen, also in Kategorien des Gesetzes. Beschreibt man all diese Erscheinungen
der Macht in ihrer Abhängigkeit vom Staatsapparat, so heißt dies, sie im
wesentlichen in ihrer repressiven Funktion begreifen: das Heer als Macht des
Todes, Polizei und Justiz als Strafinstanzen usw. Ich will nicht sagen, dass der
Staat nicht wichtig ist; was ich sagen will, ist, dass die Machtverhältnisse und
infolgedessen die Analyse, der man sie unterziehen muss, über den Staat
hinausgehen müssen.” DM, S. 38f. Vgl. auch MM, S. 110, 114-116. Diese Meinung Foucaults, dass man bei der Machtanalyse den Staat umgehen sollte, wird
später revidiert, nachdem er die These der Gouvernementalisierung des Staates
aufgestellt hat. Zur Diskussion dazu siehe Kapitel 3, D. II.
9
Eigenart der Macht, oder genauer die der Machtverhältnisse, ist nämlich
die Einwirkung eines Handelns „auf ein Handeln, auf mögliche oder
wirkliche, künftige oder gegenwärtige Handlungen“.3 Demnach gehören
die Machtverhältnisse laut Foucault eher zum Problem der „Regierung“ (Gouvernement), die in einem sehr weiten Sinne verstanden
werden sollte. Das Wort Regierung bezieht sich nach Foucault nicht nur
auf politische Strukturen und auf die Verwaltung der Staaten, sondern
auch weitgehend auf die Weise, wie Individuen oder Gruppen gelenkt
werden. Dazu sagt er: „Das Problem der Regierung bricht im 16.
Jahrhundert gleichzeitig anlässlich sehr unterschiedlicher Fragen und
unter vielfältigen Aspekten hervor. Zum Beispiel das Problem des Regierens seiner selbst. Die Rückkehr zum Stoizismus dreht sich im 16.
Jahrhundert um die Reaktualisierung des Problems: »Wie sich selbst
regieren?« Oder auch das Problem, die Seelen und die Lebensführungen
zu regieren – das Problem, mit dem es das katholische oder protestantische Pastorat zu tun hatte. Oder das Problem, die Kinder zu regieren, die
große Problematik der richtigen Erziehung, wie sie im 16. Jahrhundert
auftaucht und sich entwickelt. Und schließlich – doch vielleicht nur an
letzter Stelle – die Regierung der Staaten durch die Fürsten.“4 Demnach
gibt es in Wirklichkeit verschiedene Praktiken der Regierung, zum Beispiel: das „Regiment der Kinder, der Seelen, der Gemeinden, der Familien, der Kranken. Es deckte nicht bloß eingesetzte und legitime Formen
der politischen oder wirtschaftlichen Unterwerfung ab, sondern auch
mehr oder weniger bedachte und berechnete Handlungsweisen, die dazu
bestimmt waren, auf die Handlungsmöglichkeiten anderer Individuen
einzuwirken. Regieren heißt also in diesem Sinne, das Feld eventuellen
Handelns der anderen zu strukturieren.“5
In diesen Macht- bzw. Regierungsverhältnissen versuchen zwar die
einen, das Verhalten der anderen zu lenken und zu bestimmen. Die
Machtverhältnisse zwischen Regierenden und Regierten sind aber nicht
ein für allemal festgelegt. Sie sind vielmehr „beweglich, umkehrbar und
instabil“. Die Machtverhältnisse sind daher zu verändern und zu korrigieren.6 Denn eigentlich gelten die Machtverhältnisse in Foucaults Augen
stets als „strategische Spiele“, „in denen die einen das Verhalten der ande3
4
5
6
10
KpV, S. 66; SM, S. 254.
Gouv, S. 41f.; vgl. auch SM, S. 255; WK, S. 10f.
SM, S. 255.
Vgl. FS, S. 11, 19f., 26f.
ren zu bestimmen versuchen, worauf die anderen mit dem Versuch
antworten, sich darin nicht bestimmen zu lassen oder ihrerseits versuchen,
das Verhalten der anderen zu bestimmen“.7 Der Schlüssel zur Gestaltung
dieser strategischen Spiele liegt nämlich in der Freiheit des Subjekts.8
Dazu sagt Foucault: „Wenn es in jedem gesellschaftlichen Feld
Machtbeziehungen gibt, dann deshalb, weil es überall Freiheit gibt“.9
Es bedarf aber auf der regierten Seite nicht nur der widerspenstigen
Freiheit, damit die vorhandenen Machtbeziehungen geändert werden
können. Die regierende Seite braucht auch die Freiheit, über bestimmte
Strategien und gewisse Instrumente zu verfügen, um die Freiheit der
anderen zu kontrollieren, zu bestimmen und zu begrenzen. Mit anderen
Worten: „Macht und Freiheit stehen sich also nicht in einem
Ausschließungsverhältnis gegenüber (wo immer Macht ausgeübt wird,
verschwindet die Freiheit), sondern innerhalb eines sehr viel komplexeren
Spiels: in diesem Spiel erscheint die Freiheit sehr wohl als die
Existenzbedingung von Macht (sowohl als ihre Vorraussetzung, da es der
Freiheit bedarf, damit Macht ausgeübt werden kann, wie auch als ihr
ständiger Träger, denn wenn sie sich völlig der Macht, die auf sie ausgeübt wird, entzöge, würde auch diese verschwinden und dem schlichten
und einfachen Zwang der Gewalt weichen); aber sie erscheint auch als
das, was sich nur einer Ausübung von Macht entgegenstellen kann, die
letztendlich darauf ausgeht, sie vollkommen zu bestimmen. Das
Machtverhältnis und das Aufbegehren der Freiheit sind also nicht zu tren7
8
9
FS, S. 25; vgl. auch KpV, S. 66; SM, S. 251. Außerdem sagt Foucault in einer
Talk Show: „Relations of power are strategic relations. Every time one side
does something, the other one responds by deploying a conduct, a behaviour that
counter-invests it, tries to escape it, diverts it, turns the attack against itself, etc.
Thus nothing is ever stable in these relations of power.“ Flive, S. 144.
Vgl. SM, S. 255.
FS, S. 20. Im Vergleich zu dieser „handlungstheoretischen“ Auffassung von
Macht, welche die Freiheit des handelnden Subjekts voraussetzt, ist Foucaults
frühe Machtanalytik nach Hinrich Fink-Eitel vielmehr „kräftetheoretisch“ orientiert und geht von der „Vielfältigkeit von Kraftverhältnissen“ aus, in
denen es zwar überall unaufhörliche Kämpfe und Auseinandersetzungen gibt,
aber keinen Platz für die Freiheit des Subjekts. Vgl. Fink-Eitel, Michel Foucault
zur Einführung, 3. Aufl., Hamburg 1997, S. 100f. Vgl. auch WW, S. 113. Im
Gegensatz zu dieser Interpretation von Fink-Eitel versucht Gilles Deleuze, von
den Kraftverhältnissen her die Wirkungsweise der Handlungen zu verstehen.
Demnach sieht Deleuze in der Einwirkung einer Handlung auf andere Handlungen ein dauerndes Kräfteverhältnis zwischen Spontaneität und Rezeptivität,
nämlich: affizieren und affiziert werden. Vgl. Deleuze, Foucault, Frankfurt a.M.
1987, S. 99-101.
11
nen […]; im Zentrum der Machtbeziehung stecken die Widerspenstigkeit
des Wollens und die Intransitivität der Freiheit, die diese Machtbeziehung
ständig »provozieren«. Statt von einem wesentlichen »Antagonismus«
sollte man besser von einem »Agonismus« sprechen, von einem Verhältnis, das zugleich gegenseitige Anstachelung und Kampf ist, weniger von
einer Opposition Kopf an Kopf, die sie einander gegenüber blockiert, als
von einer fortwährenden Provokation.“10
Demzufolge befinden sich diese strategischen Machtbeziehungen
immer in einem Zustand der Auseinandersetzung, der durch zwei diametrale Kräfte gebildet wird. Während die eine Kraft mit Hilfe der
Regierungstechnologien die andere lenkt, versucht die andere immer eine
Art der Gegenkunst zu finden, um nicht regiert zu werden. 11 Diese
Gegenkunst ist laut Foucault die Kritik, die als die Kunst der freiwilligen
Unknechtschaft, der reflektierten Unfügsamkeit und der Entunterwerfung
zu verstehen ist.12
Wenn es stimmt, dass es auf beiden Seiten innerhalb der agonalen
Machtverhältnisse wenigstens eine gewisse Form der Freiheit gibt, dann
10
11
12
12
SM, S. 256.
Vgl. ME, S. 98, 118. Vgl. auch „[W]hat I mean by power relations is the fact that
we are in a strategic situation towards each other. For instance, being homosexuals we are in a struggle with the government, and the government is in a struggle
with us. When we deal with the government, the struggle, of course, is not
symmetrical, the power situation is not the same, but we are in this struggle, and
the continuation of this situation can influence the behavior or nonbehavior of the
other. So we are not trapped. We are always in this kind of situation. It means
that we always have possibilities, there are always possibilities of changing the
situation. We cannot jump outside the situation, and there is no point where you
are free from all power relations. But you can always change it. So what I’ve said
does not mean that we are always trapped, but that we are always free. Well
anyway, that there is always the possibility of changing.“ Flive, S. 386.
Vgl. WK, S. 12-15; Regina Benjowski, Philosophie als Werkzeug, in: Wilhelm
Schmid (Hrsg.), Denken und Existenz bei Michel Foucault, Frankfurt a.M. 1991,
S. 177. Die Kritik ist für Foucault als Grenzhaltung zu verstehen. Dabei geht es
nach Foucault nicht um ein Verhalten der Ablehnung. „Wir müssen an den
Grenzen sein. Kritik besteht gerade in der Analyse der Grenzen und ihrer Reflexion. Aber wenn es die kantische Frage war zu wissen, welche Grenzen die
Erkenntnis nicht überschreiten darf, scheint es mir, dass die kritische Frage heute
in eine positive gekehrt werden muss: Welchen Ort nimmt in dem, was uns als
universal, notwendig und verpflichtend gegeben ist, das ein, was einzig, Kontingent und das Produkt willkürlicher Beschränkungen ist? Alles in allem geht es
darum, die in Form der notwendigen Begrenzung ausgeübte Kritik in eine praktische Kritik in Form einer möglichen Überschreitung zu transformieren.“ WA, S.
48.
ist es logisch und verstehbar, wieso Foucault zwischen den „strategischen
Spielen zwischen Freiheiten“ und den freiheitsmangelnden
„Herrschaftszuständen“ unterscheiden muss. Gemäss Foucaults Definition sind die Herrschaftszustände, die das sind, was man üblicherweise
Macht nennt, derart fest geworden, dass sie permanent unsymmetrisch
sind und der Freiheitsspielraum äußerst beschränkt ist.13 Das heißt: „In
einem solchen Zustand gibt es keine Freiheitspraktiken oder nur auf einer
Seite, oder sie sind extrem eingeschränkt und begrenzt.“ Die
Herrschaftszustände, die vielmehr als eine spezifische Form, ein Sonderfall oder ein Extrempunkt von Machtbeziehungen gelten, sind also
„blockiert und erstarrt, statt beweglich zu sein“. „Und sie gestatten denen,
die an den Machtbeziehungen teilhaben, nicht, eine Strategie zu verfolgen,
mit der sie diese verändern können.“14 Demnach ist die Herrschaft oder
der Herrschaftszustand, der manchmal von Foucault auch als „die politische Macht“ bezeichnet wird15, vielmehr die Umschreibung jener juridischen souveränen Macht, in deren Ausübung vor allem die dauernden,
einseitigen Unterwerfungsbeziehungen zu sehen sind.16
Der entscheidende Wendepunkt innerhalb der Machtverhältnisse
zwischen den strategischen Spielen und den freiheitsmangelnden
Herrschaftszuständen liegt nach Foucault in den Regierungs-, Macht- bzw.
Herrschaftstechnologien, welche die Lenkung der Menschen untereinander gewährleisten. Die Analyse dieser Techniken ist für Foucault
erforderlich, nicht nur, weil sich häufig mit ihrer Hilfe die Herrschaftszustände errichten und aufrechterhalten lassen, sondern auch, weil die
strategischen Machtspiele aufgrund der Technologieweisen, „wie regiert
werden, durch wen, bis zu welchem Punkt, zu welchen Zwecken, durch
welche Methoden?“, unaufhörlich weiterentwickelt werden. 17 Die
Wichtigkeit dieser Regierungs- oder Machttechnologien, die zunächst die
juridische Konzeption der Macht umgehen18 und dann gemeinsam mit
13
14
15
16
17
18
FS, S. 20, 26.
Vgl. FS, S. 11. Vgl. auch Thomas Lemke, Gouvernementalität, in: Marcus S.
Kleiner (Hrsg.), Michel Foucault. Eine Einführung in sein Denken, Frankfurt a.M.
2001, S. 118.
Vgl. FS, S. 27.
Vgl. Markus Schroer, Ethos des Widerstands. Michel Foucaults postmoderne
Utopie der Lebenskunst, in: Rolf Eickelpasch/Armin Nassehi (Hrsg.), Utopie und
Moderne, Frankfurt a.M. 1996, S. 154.
Vgl. FS, S. 26; Gouv, S. 42; vgl. auch Lemke (Fn. 14), S. 120f.
Dazu sagt Foucault: „Ich will versuchen, eine Analyse der Macht zu entwickeln
oder besser: die Richtung zu zeigen, in der man eine Analyse der Macht versu13
den anderen zwei Ebenen von strategischen Spielen und
Herrschaftszuständen die ganze Foucaultsche Machtanalytik bilden, ist
im folgenden Zusammenhang zu sehen: „Es ist klar, dass es nicht darum
geht, die »Macht« nach ihrem Ursprung, ihren Prinzipien oder legitimen
Grenzen zu begreifen; sondern es handelt sich darum, das Verfahren und
die Techniken zu studieren, die in verschiedenen institutionellen Kontexten benutzt werden, um auf das Verhalten von Individuen – als einzelne
oder in Gruppen – einzuwirken, es zu formen, zu lenken, zu verändern,
um ihrer Untätigkeit Sinn zu geben oder sie in umfassende Strategien
einzubinden. Diese Strategien sind ebenso vielfältig in ihrer Form wie in
den Stätten ihrer Anwendung; sie sind aber auch verschieden in den
Verfahren und den Techniken, derer sie sich bedienen. Diese
Machtbeziehungen charakterisieren die Art und Weise, in der Menschen
voneinander »regiert« werden, und ihre Analyse zeigt, wie durch bestimmte Formen der »Regierung« der Verrückten, Kranken, Kriminellen
etc. das verrückte, kranke, kriminelle Subjekt objektiviert wird. Eine
solche Analyse will also nicht behaupten, dass es der Missbrauch dieser
oder jener Macht gewesen ist, der die Verrückten, Kranken oder
Kriminellen aus dem Nichts geschaffen hat; sondern dass die
unterschiedlichen und besonderen Formen der »Regierung« von Individuen in den verschiedenen Modi der Objektivierung des Subjekts bestimmend gewesen sind.“19
B. Die doppelgesichtige Machttechnologie des Lebens
Bevor Foucaults Machtanalyse sich 1978 zum Regierungsproblem
hinwendet, werden zwei Machttechnologien von ihm bereits thematisiert:
die mikrophysikalische, individualisierende Disziplinartechnologie des
Körpers
und
die
makrophysikalische,
massenkonstituierende
Regulierungstechnologie der Bevölkerung. Während letztere im Grunde
auf die Bevölkerung zielt und ständig um ihre Sicherheit bemüht ist,
konzentriert sich erstere auf den individuellen Körper, um einerseits die
winzigsten Elemente des Körpers zu überwachen und zu kontrollieren,
andererseits Leistungen und Fähigkeiten der Individuen zu steigern und
19
14
chen könnte, die nicht einfach eine juristische, negative Auffassung der Macht
wäre, sondern die Macht als Technologie begreift.“ MaM, S. 23.
Aub, S. 702.
zu vervielfältigen.20
Nach Foucault vollzogen sich die Disziplinierungstechnologie und
die durch sie hergestellte Anatomo-Politik seit dem 17. Jahrhundert vor
allem „auf lokaler Ebene, in intuitiven, empirischen, bruchstückhaften
Formen, und im begrenzten Rahmen von Institutionen wie der Schule,
dem Hospital, der Kaserne, der Werkstatt usw.“21 Im Vergleich dazu
wird die Bio-Politik durch die Regulierungstechnologie ausgelöst, die als
die „Anpassung an die globalen Phänomene, an die Bevölkerungsphänomene mitsamt der biologischen und biosoziologischen Prozesse von Menschenmassen“ gilt. 22 Um diese umfassenden und vielfältigen
Bevölkerungsphänomene zu regulieren, ergeben sich nach Foucault
„selbstverständlich komplexe Organe zur Koordinierung und Zentralisierung“. 23 Diese komplexen Organe konstituieren nämlich den Staat.
Dementsprechend gibt es also zwei Serien, die genau die zwei
unterschiedlichen Verfahrensorientierungen einmal von der Disziplin und
einmal von der Regulierung darstellen, nämlich die Serie „Körper –
Organismus – Disziplin – Institutionen“ und die Serie „Bevölkerung –
biologische Prozesse – Regulierungsmechanismen – Staat“.24
Trotz ihrer unterschiedlichen Machtfunktionen sind die Disziplinierungstechnologie und die Regulierungstechnologie nach Foucault in den
meisten Fällen miteinander verknüpft.25 Zum Beispiel sind diese zwei
Machttechnologien im Bereich der Sexualität durch die frühneuzeitliche
Verwaltung der „Polizei“ vereint, welche zugleich ein Disziplinar- und
ein Staatsapparat ist26 : Zum einen wird körperliches Verhalten durch
20
21
22
23
24
25
26
Vgl. MaM, S. 31, 33f.; VG, S. 280, 288; WW, S. 173f.
VG, S. 289.
VG, S. 289.
VG, S. 280, 288f.; vgl. auch WW, S. 166; MaM, S. 34.
VG, S. 289.
Vgl. VG, S. 279.
Vgl. VG, S. 289; WW, S. 36f. Die Aufgabe der frühneuzeitlichen Polizei liegt
nicht ausschließlich in der Aufrecherhaltung der öffentlichen Ruhe und Sicherheit
sowie der Gefahrenabwehr, wie man diese der heutigen im engen Sinne versteht.
Seit dem frühen 16. Jahrhundert verbindet sich die Polizei eng mit der „guten
Ordnung“ und versucht, nicht nur das öffentliche, sondern auch das private Leben
zu reglementieren. Nach Gerhard Oestreich bedeutet die damalige Polizei „so viel
wie Regiment, das ein gut geordnetes städtisches oder territoriales Gemeinwesen
bewirken soll“. Vgl. Gerhard Oestreich, Strukturprobleme der frühen Neuzeit, S.
367-370. Demnach befindet sich die Machtfunktion der Polizei nicht nur in der
Unterdrückung der Unordnung durch strikte Verbote, um Ruhe und Ordnung
herzustellen. Sie kümmert sich auch um das Glück und die Wohlfahrt der Indivi15
vielfältige individualisierende Disziplinarkontrollen überwacht und
kontrolliert, zum anderen die Förderung oder Einschränkung der
Fortpflanzung durch ökonomische Kalkulation reguliert.27 Genau aufgrund dieser zwei sich nicht wechselseitig ausschließenden und miteinander verbindenden Machttechnologien eröffnet sich die neue Epoche der
„Macht zum Leben“ bzw. der „Bio-Macht“. Die beiden Machttechnologien
werden
darum
von
Foucault
zugleich
als
28
Zusammenfassend sagt
„Lebens-Macht-Technologien“ bezeichnet.
27
28
16
duen. Sie ist also zugleich eine individualisierende Disziplinarinstitution und eine
Regierungstechnik der Bevölkerung. Erst mit dem Vordringen naturrechtlicher
Vorstellungen wurde diese Aufgabe der Polizei auf die Funktionen der
Gefahrenabwehr und der Sicherung der öffentlichen Ruhe und Ordnung beschränkt. Diese Aufgabenverschiebung ist vor allem im preußischen Allgemeinen
Landrecht § 10 II 17 zu sehen: „Die nöthigen Anstalten zur Erhaltung der
öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung, und zur Abwendung der dem Publico,
oder einzelnen Mitgliedern desselben, bevorstehenden Gefahr zu treffen, ist das
Amt der Polizey.“ Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794.
Textausgabe. Frankfurt a.M. u. Berlin 1970, S. 620. Vgl. auch Reinhold Zippelius,
Kleine deutsche Verfassungsgeschichte, 3. Aufl., München 1996, S. 106; ders.,
Allgemeine Staatslehre, S. 276; Gerhard Köbler, Deutsche Rechtsgeschichte. Ein
systematischer Grundriss, 5. Aufl., München 1996, S. 151; Reinhard Popp,
Disziplinierung durch Polizeirecht: Die Tauf- und Hochzeitsordnungen für die
Stadt Leutershausen in der Neuzeit, Diss., Univ. Regensburg 1995, S. 7-14.
Vgl. WW, S. 173f.; VG, S. 289-292. Wie diese zwei Machttechnologien zugleich
auf die Sexualität ausgeübt werden, ist in der folgenden Zusammenfassung von
Foucault zu sehen: „Das Geschlecht ist im Grunde genau in die Gelenkstelle
zwischen der individuellen Disziplinierung des Körpers und der Regulierung der
Bevölkerung gefügt. Vom Geschlecht aus kann die Überwachung der Individuen
gesichert werden, und es ist zu verstehen, warum im 18. Jahrhundert und gerade
in den Internatsschulen die Sexualität der Heranwachsenden zu einem medizinischen, einem moralischen, fast zu einem politischen Problem ersten Ranges
wurde, denn durch die Kontrolle der Sexualität hindurch – und unter diesem Vorwand – konnte man die Heranwachsenden in ihrem ganzen Leben, in jedem
Augenblick, selbst im Schlaf überwachen. Das Geschlecht wird also ein Instrument der »Disziplinierung«, es wird zu einem der wichtigsten Elemente der Anatomo-Politik, von der ich gesprochen habe; andererseits sichert das Geschlecht
aber auch die Reproduktion der Bevölkerung, und mit dem Geschlecht, mit einer
Politik des Geschlechts ist es möglich, die Beziehung zwischen Geburten- und
Sterblichkeitsrate zu verändern. In jedem Fall gliedert sich die Politik des Geschlechts in jene Lebenspolitik ein, die im 19. Jahrhundert so wichtig werden
wird. Das Geschlecht liegt am Berührungspunkt zwischen Anatomo-Politik und
Bio-Politik, am Schnittpunkt von Disziplin und Regulierung, und in dieser Funktion ist es am Ende des 19. Jahrhunderts eines der wichtigsten politischen Mittel
geworden, um aus dem Geschlecht eine Produktionsmaschine zu machen.“ MaM,
S. 34f.
Vgl. WW, S. 181.
Foucault hierzu: „Konkret hat sich die Macht zum Leben seit dem 17.
Jahrhundert in zwei Hauptformen entwickelt, die keine Gegensätze bilden,
sondern eher zwei durch ein Bündel von Zwischenbeziehungen verbundene Pole. [...] Die Disziplinen des Körpers und die Regulierungen der
Bevölkerung bilden die beiden Pole, um die herum sich die Macht zum
Leben organisiert hat. Die Installierung dieser großen doppelgesichtigen – anatomischen und biologischen, individualisierenden und spezifischen, auf Körperleistungen und Lebensprozesse bezogenen – Technologie charakterisiert eine Macht, deren höchste Funktion nicht mehr das
Töten sondern die vollständige Durchsetzung des Lebens ist. Die alte
Mächtigkeit des Todes, in der sich die Souveränität symbolisierte, wird
nun überdeckt durch die sorgfältige Verwaltung der Körper und die
rechnerische Planung des Lebens.“29 Also: „Früher hat es nur Untertanen
gegeben, Recht-Subjekte, deren Güter, auch deren Leben im übrigen, man
entziehen konnte. Jetzt gibt es Körper und Bevölkerung. Die Macht ist
materialistisch geworden. Sie hört auf, wesentlich juristisch zu sein. Sie
muss mit jenen reellen Dingen umgehen, die der Körper, das Leben
sind.“30
Diese große doppelgesichtige Machttechnologie des Lebens wird
aber seit Foucaults Brennpunktverschiebung zum Regierungsproblem hin
erneut behandelt.31 Die Macht- bzw. Herrschaftstechnologie wird nun
29
30
31
WW, S. 166f. Vgl. auch VG, S. 287f.
MaM, S. 34.
Im Vergleich zu seinen früheren Machtuntersuchungen, die sich überwiegend auf
lokale Praktiken und spezifische Institutionen wie das Krankenhaus oder das
Gefängnis richteten, ohne den Staat selbst als Resultante gesellschaftlicher
Kräfteverhältnisse zu begreifen, gilt Foucaults späteres (seit dem Jahr 1978)
Zurückgreifen auf die „Genealogie des modernen Staates“, die in einer allgemeinen Ökonomie der Macht, und zwar im Regierungsdenken (Gouvernementalität),
neu dargestellt wird, eher als „Weiterentwicklung“ und „Korrektur“ seiner
Machtanalytik. Vgl. Lemke (Fn.14), S. 108f.; ders., Eine Kritik der politischen
Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität, Hamburg 1997,
S. 151f. Vgl. auch StW, S. 16. Trotzdem meint Colin Gordon, dass es noch keine
methodische oder materielle Diskontinuität bei dieser Richtungswende in
Foucaults Machtanalytik gibt. Vgl. Gordon, Governmental Rationality: An
Introduction, in: Colin Gordon/Graham Burchell/Peter Miller (Hrsg.), The
Foucault Effect. Studies in Governmentality. With two Lectures by and an Interview with Michel Foucault, Chicago 1991, S. 4. Vgl. dazu auch Mitchell Dean,
Critical and Effective Histories: Foucault’s Methods and Historical Sociology,
London 1994, S. 179; Andrew Barry/Thomas Osborne/Nikolas Rose, Introduction, in: Barry/Osborne/Rose (Hrsg.), Foucault and Political Reason. Liberalism,
Neo-Liberalism and Rationalities of Government, Chicago 1996, S. 7f.; James
17
zugleich als Regierungstechnologie bezeichnet, die außerdem mit
Produktionstechnologie,
Kommunikationstechnologie
und
32
Zu einem Teil der
Selbsttechnologie Seite an Seite steht.
Regierungstechnologie gehört zwar noch die individualisierende
Machttechnologie der Disziplin, die vor allem im institutionellen oder
lokalen Rahmen ausgeübt wird.33 Aber über die massenkonstituierende
Regulierungstechnologie wird von Foucault weniger gesprochen. Die
komplexe Arbeit, die zur Regulierungstechnologie gehört und erst mit
Hilfe des Staates zu erledigen ist, wird nun durch den anderen Machttyp
der sogenannten Gouvernementalität übernommen.
Diese Machtform der Gouvernementalität richtet sich zwar noch auf
die Bio-Politik, das heißt auf die Sicherheit der Bevölkerung.34 Aber die
Gouvernementalität ist nicht bloß als Technologie der Regierung zu
32
33
34
18
Miller, Die Leidenschaft des Michel Foucault, Köln 1995, S. 439.
Hier gibt Foucault zu, dass seine Klassifikation in Produktions-,
Kommunikations- und Herrschaftstechnologie durch drei Haupttypen von
Techniken von Habermas inspiriert wird. Über die Bedeutung dieser
verschiedenen Technologien siehe FL, S. 35; TS, S. 26; SM, S. 252. Aber
Foucaults Meinung nach sollte es noch den vierten Typ von Technik geben, das
heißt: „Techniken, die es Individuen ermöglichen, mit eigenen Mitteln bestimmte
Operationen mit ihren eigenen Körpern, mit ihren eigenen Seelen, mit ihrer
eigenen Lebensführung zu vollziehen, und zwar so, dass sie sich selber
transformieren, sich selber modifizieren und einen bestimmten Zustand von
Vollkommenheit, Glück, Reinheit, übernatürlicher Kraft erlangen.“ Das ist also
die Selbsttechnologie. FL, S. 35f. Außerdem meint Foucault, dass diese vier
Typen der Techniken immer ineinander verschachtelt sind, sich gegenseitig
stützen und als Werkzeug benutzen. Dementsprechend werden die
Machtbeziehungen nicht nur ausschließlich durch die Machttechnologien
bestimmt, sondern auch in gewisser Weise durch die anderen drei verschiedenen
Technologien gefördert. Zur ausführlichen Erklärung hierzu siehe TS, S. 27; FS,
S. 27; BH, S. 203f.; WA, S. 51.
Diesbezüglich sagt Foucault: „Als ich Asyle, Gefängnisse usw. studierte, insistierte ich vielleicht zu sehr auf den Herrschaftstechniken. Was wir die Disziplin
nennen, ist etwas wirklich Wichtiges in dieser Art Institution. Aber es ist nur ein
Aspekt der Kunst der Menschenregierung in unseren Gesellschaften.“ FL, S. 36.
Vgl. auch BH, S. 204.
Von der Gouvernementalität her betrachtet ist die Bio-Politik nun mehr und mehr
auf die politisch-ökonomische Rationalität gerichtet. Zu dieser Bio-Politik sagt
Foucault: „By that I mean the endeavor, begun in the eighteenth century, to
rationalize the problems presented to governmental practice by the phenomena
characteristic of a group of living human beings constituted as a population:
health, sanitation, birthrate, longevity, race…We are aware of the expanding
place these problems have occupied since the nineteenth century, and of the
political and economic issues they have constituted up to the present day.“ BB, S.
73.
verstehen. In Foucaults Augen erscheint die Gouvernementalität vielmehr
zugleich als die Denkweise von der politisch-ökonomischen Rationalität
und als der entsprechende Verlauf der Rationalisierung in Praktiken.
Davon ausgehend gilt die Gouvernementalität für Foucault nämlich als
„die Gesamtheit, gebildet aus den Institutionen, den Verfahren, Analysen
und Reflexionen, den Berechnungen und den Taktiken, die es gestatten,
diese recht spezifische und doch komplexe Form der Macht auszuüben,
die als Haupzielscheibe die Bevölkerung, als Hauptwissensform die
politische Ökonomie und als wesentliches technisches Instrument die
Sicherheitsdispositive hat“.35
Bei ihrer globalen Führung der Bevölkerung ist der Machttyp der
Gouvernementalität zwar noch massenkonstituierend orientiert wie die
Regulierungstechnologie. Dies bedeutet aber nicht, dass in den Prozessen
der Gouvernementalisierung keine Spuren der individualisierenden Form
der Disziplinarmacht zu finden sind. Im Gegenteil ist die Disziplin in
jenen Prozessen kaum eliminiert. Wie Foucault erwähnt: „Doch auch die
Disziplin war niemals wichtiger und wurde niemals höher bewertet als
von dem Zeitpunkt an, da man versuchte, die Bevölkerung zu führen. Die
Bevölkerung zu führen heißt nicht, allein die kollektive Masse an
Phänomenen oder die Bevölkerung allein auf der Ebene ihrer globalen
Befunde zu führen; die Bevölkerung zu führen heißt, sie gleichermaßen
in der Tiefe, in der Feinheit und im Detail zu führen.“36
Demnach muss die Gouvernementalität bei der Führung der
Bevölkerung eng mit der Disziplin kooperieren. Durch die Kooperation
mit
der
Disziplin
werden
zwar
zugleich
bestimmte
Disziplinarmachtwirkungen wie beispielweise die Erhöhung der körperlichen Fügsamkeit, Arbeitskraft und Produktivität ausgelöst. Aber was
durch die gouvernementale Führung der Bevölkerung mit Hilfe der
Disziplin am meisten angestrebt wird, ist die Versicherung des Wohls, des
Glücks und der Lebensqualität der Menschen. Da die individualisierend
orientierte Machtfunktion der Disziplin nun als Taktik in die
Gouvernementalität einbezogen wird, geht es bei der gouvernementalen
Führung der Bevölkerung daher nicht ausschließlich um eine kollektive
Masse von Menschen, die zusammenleben, sondern auch um jedes in der
Gesellschaft lebende, arbeitende, wirtschaftende Individuum, damit das
menschliche Leben zugleich massenkonstituierend und individualisierend
35
36
Gouv, S. 64.
Gouv, S. 63.
19
gut versorgt, gesichert und regiert werden kann.37
Demzufolge ist dieser zugleich massenkonstituierend und
individualisierend orientierte Machttyp der Gouvernementalität zu einem
ganz eigentümlichen Machttyp der Kombination von „omnes et singultim“ geworden, der laut Foucaults Geschichte der Gouvernementalität vor
allem aus der sogenannten Pastoralmacht entstand, welche sich nicht nur
um die Gemeinde insgesamt, sondern auch um jedes einzelne Individuum
während seines ganzen Lebens kümmerte. Aber im Vergleich zum
„Seelenheil in der anderen Welt“ strebt die Gouvernementalität nach dem
„Heil in dieser Welt“, das nach Foucault „Gesundheit, Wohlergehen (das
heißt: ausreichende Mittel, Lebensstandard), Sicherheit, Schutz gegen
Unfälle“ usw. beinhaltet. 38 Es bedarf dementsprechend eines sehr
komplexen Regierungssystems, das sowohl die alte Machttechnik der
Pastoren als auch die neue der Disziplin als Taktik des Regierens
übernehmen sollte und daher fähig ist, immer raffinierter werdende
Individualisierungstechniken und Regulierungsverfahren zu entwickeln,
um die schwierige säkulare Aufgabe des Wohls für alle und jeden einzelnen zu erfüllen. Dieses Regierungssystem, das nicht allein bei der
massenkonstituierenden Wirkung der Bio-Regulierung bleibt, sondern
sich in „einer zugleich individualisierenden und totalisierenden Form der
Macht“ präsentiert, ist nämlich der „moderne Staat“, der von Foucault
nun als „eine neue Form der Pastoralmacht“ angesehen wird.39
37
38
39
20
Vgl. PTI, S. 182. Dazu sagt Lemke: „Michel Foucault hat in seinen Arbeiten die
Biomacht als ein spezifisches Charakteristikum der modernen Gouvernementalität identifiziert. [...] Foucault unterschied historisch und analytisch zwei
Dimensionen dieser »Macht zum Leben«: die Disziplinierung des individuellen
Körpers auf der einen und die soziale Regulation des Bevölkerungskörpers auf
der anderen Seite.“ Thomas Lemke, Die Regierung der Risiken. Von der Eugenik
zur genetischen Gouvernementalität, in: Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hrsg.), Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur
Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt a.M. 2000, S. 257.
SM, S. 248f.; KpV, S. 58; Gouv, S. 66f. Nach Foucault zielt die Pastoralmacht in
erster Linie auf die Sicherung des individuellen Seelenheils in der anderen Welt.
Die Pastoralmacht ist für Foucault durch das Hirten-Herde-Verhältnis zu verstehen, das heißt: „Diese Form der Macht ist auf das Seelenheil gerichtet (im
Gegensatz zur politischen Macht). Sie ist selbstlos (im Gegensatz zum Prinzip
der Souveränität) und individualisierend (im Gegensatz zur juridischen Macht).
Sie erstreckt sich über das gesamte Leben und begleitet es ununterbrochen; sie ist
mit einer Produktion von Wahrheit verbunden, der Wahrheit des Individuums
selbst.“ SM, S. 248. Vgl. KpV, S. 58-62; StW, S. 17-25; FCF, S. 239.
Vgl. SM, S. 248f. Die ausführliche Diskussion zum Verhältnis zwischen der
gouvernementalen Funktion des modernen Staates und der Pastoralmacht siehe 3.
C. Das Machtdreieck von Souveränität, Disziplin und
Gouvernementalität
Trotz dieser Betrachtung der Staatsmacht zugleich aus der Perspektive der Disziplin und der Gouvernementalität ist das Problem der
Souveränität, die schon seit langem für den modernen Staat bezeichnend
ist, keineswegs eliminiert. Durch das Auftauchen der Gouvernementalität
wird die Begründung der Souveränität im Gegenteil sogar verschärft wie
auch die Notwendigkeit, die Disziplinarmacht zu entwickeln. 40 Unter
dieser Verschärfung durch die Gouvernementalität entwickelt sich die
Souveränität mit ihrem summa legibus soluta potestas schließlich auch zu
einer Taktik derselben, da sie als juristische und physische Garantie
zugleich für die effektive Umsetzung der gouvernementalen Führung der
Bevölkerung und der Disziplinierung der Individuen gilt. Dadurch ist
nicht nur ein Machtdreieck aus Souveränität, Disziplin und
Gouvernementalität entstanden. 41 Diese drei unterschiedlichen
Machtverhältnisse, nämlich die Unterwerfung der Rechtssubjekte durch
Gesetze, die Disziplinierung der Individuen und die Regulierung der
Bevölkerung, sind außerdem noch am Ende gemeinsam unter dem
Schirm staatlicher Institutionen ausgearbeitet, rationalisiert und zentrali-
40
41
Kapitel C., D.
Vgl. Gouv, S. 62-64.
Vgl. Gouv, S. 64. Zu diesem Machtdreieck meint Foucault: „Daher darf man die
Dinge mitnichten als Ersetzung einer Gesellschaft der Souveränität durch eine
Gesellschaft der Disziplin und anschließend einer Gesellschaft der Disziplin
durch eine, sagen wir, Regierungsgesellschaft verstehen. In Wirklichkeit hat man
ein Dreieck: Souveränität – Disziplin – gouvernementale Führung, dessen
Hauptzielscheibe die Bevölkerung ist und dessen wesentliche Mechanismen die
Sicherheitsdispositive sind.“ Ebd. Außerdem ist dieses Machtdreieck in der Tat
eine weitgehende Ergänzung zu Foucaults früherem Machtparallelismus von
Souveränität und Disziplin. Zu diesem Machtparallelismus sagt Foucault: „Ich
glaube, dass der Prozess, der den Diskurs der Humanwissenschaften grundsätzlich ermöglicht hat, in der Parallel- oder Gegenüberstellung zweier Mechanismen
und zweier Typen absolut heterogener Diskurse besteht: in der Organisation des
Rechts rund um die Souveränität einerseits, im Mechanismus der von den
Disziplinen ausgeübten Zwänge andererseits.“ Also: „Souveränität und Disziplin,
Gesetzgebung, Recht der Souveränität und Disziplinarmechanismen sind die
beiden absolut konstitutiven Bestandteile der allgemeinen Machtmechanismen
unserer Gesellschaft.“ VG, S. 49f. Zur weiteren Erklärung des Unterschieds in
den Machtfunktionen von Souveränität, Disziplin und Gouvernementalität nimmt
Foucault die Themen von der Behandlung von Seuchen und Epidemien vom
Mittelalter bis ins 18 Jahrhundert, der Stadtplanung und der Lebensmittelknappheit als Beispiele. Vgl. StW, S. 2-5, 7f.; Lemke (Fn.31), S. 188-194.
21
siert worden. Das, was Foucault als die „Etatisierung von
Machtverhältnissen“ bezeichnet 42 , ist also die Vorraussetzung für die
Entstehung des „Machtexzesses“ 43 , innerhalb dessen es die stete
Korrelation zwischen einer wachsenden Individualisierung und einer
immer stärker werdenden Totalisierung gibt und von dem die Menschen
sowohl als Individuum als auch als Gattungswesen durchaus heimgesucht
werden.44 Die Machtsteigerungen des absolutistischen Polizeistaates und
des evolutionistischen, biologisch-medizinischen Staatsrassismus, der
gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstand und vor allem im Nazistaat und
sowjetischen Staat durchgeführt wurde, sind für Foucault Beispiel für die
Raserei der Macht. Wie wird dieser Machtexzess von der Machtanalytik
Foucaults her verstanden, und welche Rolle spielt der Verfassungsstaat in
Hinsicht auf diesen? Diese Fragen werden in den folgenden Kapiteln
weiter diskutiert.
42
43
44
22
Mit dieser Etatisierung von Machtverhältnissen möchte Foucault vor allem darauf
hinweisen, „dass der Staat in den gegenwärtigen Gesellschaften nicht bloß eine
der Formen und einer der Orte ist, sondern dass in gewisser Weise alle anderen
Typen von Machtverhältnissen sich auf ihn beziehen“. „Aber dies rührt nicht
daher, dass alles von ihm abstammt, sondern eher daher, dass sich eine stetige
Etatisierung von Machtverhältnissen ergeben hat.“ SM, S. 258f. Bevor Foucault
die These der Etatisierung von Machtverhältnissen durch die Gouvernementalität
aufstellt, ist ihm das einschlägige Phänomen aber bereits bekannt. Zum Beispiel
hat er „die Verstaatlichung des Biologischen“ bereits in seiner Vorlesung In
Verteidigung der Gesellschaft im Jahr 1976 erwähnt. Er sagt: „Mir scheint, dass
eines der grundlegenden Phänomene des 19. Jahrhunderts in dem bestand und
noch besteht, was man die Vereinnahmung des Lebens durch die Macht nennen
könnte: wenn Sie so wollen, eine Machtergreifung über den Menschen als
Lebensweise, eine Art Verstaatlichung des Biologischen oder zumindest eine
gewisse Tendenz hin zu dem, was man die Verstaatlichung des Biologischen
nennen könnte.“ VG, S. 276.
Die von Foucault abwechselnd gebrauchten Begriffe, wie etwa der „Machtexzess“, die „Machtsteigerung“ oder die „Raserei der Macht“, bezeichnen Foucault
eigentlich eine „Krise der Regierung“. Während man danach fragt: „Für welche
Machtsteigerungen, für welche Regierungsentfaltung, die umso unabwendbarer
sind als sie sich auf Vernunft berufen, ist diese Vernunft selbst historisch
verantwortlich?“, beginnt man bereits mit der Arbeit der „Kritik“, die als die
„Kunst der Entunterwerfung“, oder anders die „Kunst der freiwilligen Unknechtschaft, der reflektierten Unfügsamkeit“, definiert wird. Vgl. WK, S. 15, 19f., 24;
FS, S. 11, 19f., 25ff.; ME, S. 118-120; KpV, S. 58.
Vgl. PTI, S. 186.
Kapitel 2
Die Mikrophysik der Macht: Disziplin
A. Auf der Suche nach einem anderen Typ der Macht
Wie bereits im vorausgegangenen Kapitel erwähnt, ist die Disziplin,
welche nach Foucault als die mikrophysikalische Machttechnologie gilt,
schon seit dem 17. Jahrhundert im Rahmen der Schule, des Spitals, der
Werkstätte, des Militärs, des Gefängnisses usw. eingeführt worden. Durch
die Ausdehnung der Disziplinarmechanismen lässt sich nicht nur der gesamte Gesellschaftskörper allmählich in die Disziplinar- und Normalisierungsgesellschaft verwandeln. Vielmehr ist das Verblüffende, dass auch
die erst am Ende des 18. Jahrhunderts entstehenden bürgerlichen Rechtssysteme des Verfassungsstaates heimlich durch dieselben Disziplinarmechanismen kolonisiert werden. Das ist also das unumgängliche Ergebnis
der Ausweitung der Disziplinarmechanismen.1
Nach Foucault ist die mikrophysikalische Machttechnologie der Disziplin vor allem auf die Körper der Menschen gerichtet und bedient sich
im Prinzip der Instrumente der hierarchischen Überwachung, der
normierenden Sanktion und der individualisierenden Prüfung. 2 Durch
1
2
Die Ausweitung der Disziplinarmechanismen ist nach Foucault ebenfalls in der
Disziplinierung des Wissens zu beobachten, welche durch vier Operationen
durchgeführt wird. Es sind dies: die Auswahl (inklusive der Eliminierung und der
Disqualifizierung), die Normalisierung, die hierarchische Klassifizierung und die
pyramidale Zentralisierung. Vgl. VG, S. 207-216. Der ursprüngliche Gedanke
dieser Disziplinierung des Wissens ist zwar schon in Foucaults Inauguralvorlesung Die Ordnung des Diskurses am Collège de France 1970 zu finden. (Nach
der damaligen Meinung Foucaults gibt es vier Prozeduren der Kontrolle und
Einschränkung des Diskurses, nämlich der Kommentar, der Autor, die Disziplinen – nicht im Sinne der Wissenschaften – und die Verknappung der sprechenden
Subjekte. Vgl. OD, S. 17-27.) Aber der Text Die Ordnung des Diskurses und die
darin dargelegten Kontrollverfahren desselben basieren noch auf der traditionellen juridischen Konzeption der Macht. Nach Foucault sollte man Die Ordnung
des Diskurses als einen Text betrachten, der in einer „Übergangssituation“ geschrieben wurde. Seit er ab 1971 an Aktivitäten gegen die Strafjustiz teilgenommen hat, scheint ihm diese juridische Machtkonzeption inadäquat zu sein, und er
fängt an, die Macht von Technologieformen her anstatt von Rechtsformen zu verstehen. Vgl. DM, S. 104f.; hierzu auch unten Fn.148.
Vgl. ÜS, S. 220. Nach François Ewald gelten diese drei Disziplinarinstrumente
als drei Gebrauchsweisen ein und derselben Technologie, welche der Norm
zugrunde liegt und darauf hinzielt, „die traditionellen Probleme der Macht zu
23
diese technischen Instrumente werden die Körper abgerichtet, wie ihre
Kräfte zugleich effektiv gesteigert und geschwächt werden, damit einerseits die ökonomische Nützlichkeit erhöht und andererseits dieselben
Kräfte politisch fügsam gemacht werden.3 Demzufolge befindet sich der
zu disziplinierende Körper zunächst in einer hierarchischen Raumordnung, die nach dem Prinzip eingerichtet wird, dass derjenige, der gesehen
wird, nicht selber sehen kann. Unter dem überwachenden Disziplinarblick
wird dem Körper eine Serie von qualifizierten Verhaltensweisen zugeteilt.
Jegliche Abweichung von der Regel zieht eine entsprechende Strafe nach
sich. Die Strafe ist darum eines der unumgänglichen Mittel zur Erreichung der Homogenität und der Normalisierung. Ein anderes Mittel, das
den Körper zum Objekt der Beobachtung macht und seinen entsprechenden Grad der Dressur dokumentiert, klassifiziert sowie korrigiert, ist die
Prüfung. Durch die Prüfung wird nicht nur die Technik der überwachenden Hierarchie mit derjenigen der normierenden Sanktion kombiniert.
Die ganzen Disziplinarmechanismen werden erst überhaupt durch die
Prüfung zum Leben erweckt.4
Durch diese in verschiedenen Institutionen praktisch ausgeübten
Techniken, denen die minutiöse Beobachtung der Kleinigkeiten zugrunde
liegt, wird „eine bestimmte politische und detaillierte Besetzung des
Körpers“ festgelegt. Genau in diesem Sinne gilt die mikrophysikalische
Machttechnologie der Disziplin nach Foucault eher als „eine politische
Anatomie des Details“.5 Dadurch unterscheidet sich diese insbesondere
aus der technologischen Perspektive betrachtete Disziplin also von dem
im Alltag gebräuchlichen und vom anthropologisch-psychischen Ansatz
her gesehenen Begriff der Disziplin.
3
4
5
24
lösen: die Vielheiten zu ordnen, das Ganze und seine Teile zu artikulieren, sie
miteinander in Beziehung zu setzen“. Vgl. François Ewald, Eine Macht ohne
Draußen, in: François Ewald/Bernhard Waldenfels (Hrsg.), Spiele der Wahrheit.
Michel Foucaults Denken, Frankfurt a.M. 1991, S. 165.
Vgl. ÜS, S. 177; Thomas Lemke, Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults
Analyse der modernen Gouvernementalität, Hamburg 1997, S. 71.
Siehe die detaillierte Diskussion über die Funktionen dieser technischen Disziplinarinstrumente unter C. dieses Kapitels.
Vgl. ÜS, S. 178-181; auch Petra Neuenhaus, Max Weber und Michel Foucault.
Über Macht und Herrschaft in der Moderne, Pfaffenweiler 1993, S. 55.
B. Zum Begriff der Disziplin
I. Die Disziplin im Sinne des alltäglichen Sprachgebrauchs
Der Begriff der Disziplin leitet sich vom lateinischen Wort disciplina
ab. Die ursprüngliche Bedeutung umfasst Unterricht, Lehre, Kenntnis und
Wissenschaft. Demnach tritt disciplina häufig in Verbindung mit Teilgebieten des Wissens wie in disciplina iuris civilis (Wissenschaft vom Zivilrecht) oder disciplina militiae (die Kenntnis und Beherrschung des Militärwesens) auf. Erst im Spätlatein erhält der Begriff auch den Sinn von
Ordnung und Zucht.6 Im heutigen Sprachgebrauch hat der Begriff Disziplin hauptsächlich drei Bedeutungen. Zunächst wird die Disziplin als
Bezeichnung eines Fachgebietes verstanden (zum Beispiel wissenschaftliche oder sportliche Disziplin). Darüber hinaus meint die Disziplin einmal die Forderung des Fachgebietes und einmal die der Sozialnormen.
Die Forderung des Fachgebietes erwartet eine Person (einen discipulus),
die am Sachgebiet geistig interessiert und daher auch willentlich bereit ist,
die Mühen des Aneignens auf sich zu nehmen (um zum Beispiel ein großer Künstler, Musiker, Sportler oder Wissenschaftler zu werden).7 Nach
dem Sprachgebrauch gilt ein Mensch, der die Forderung des Fachgebietes
erfüllt, als eine Person „mit geistiger Disziplin“ oder „mit einem disziplinierten Geist“. Außerdem wird im Alltag noch von „Menschen mit Disziplin“ gesprochen. Diese Redewendung bezieht sich eher auf die Forderung der Sozialnormen als auf die des Fachgebietes. Disziplin in einem
solchen Sinne bedeutet die Bereitschaft und Fähigkeit, die individuellen
Anschauungen, Wünsche, Bestrebungen und Verhaltensweisen der Forderung der Sozialnormen unterzuordnen.8 Diszipliniert ist also derjenige,
der die sozialen Verhaltensnormen einhält, zum Beispiel als Schüler,
Soldat, Arbeiter, Gefangener oder Bürger.
6
7
8
Vgl. Heinz-Jürgen Ipfling, Das Disziplinproblem in pädagogischer Sicht, in: Ders.
(Hrsg.), Disziplin ohne Zwang. Begründung und Verwirklichung, München 1976,
S. 9; Ernst Ell, Disziplin in der Schule, Freiburg u.a. 1996, S. 1.
Vgl. Ell (Fn.6), S. 2.
Vgl. aaO, S. 3.
25
II. Die anthropologisch-psychisch-negative Verdrängung durch die
Disziplin
Man erwartet schon gewissermaßen, dass ein Disziplinaradressat
bereit und imstande ist, sein Verhalten mit gegebenen sozialen Verhaltensnormen in Übereinstimmung zu bringen. Demnach impliziert der
Begriff Disziplin von Anfang an eine Selbstdisziplin bzw. innere Disziplin.9 Anthropologisch betrachtet, wird die Selbstdisziplin erst durch die
Fremddisziplin bzw. äußere Disziplin erreicht.10 Aber egal ob im Sinne
der Selbstdisziplin oder der Fremddisziplin, ist der Begriff stets die enge
Verbindung mit dem Zwang eingegangen. Zum Beispiel liegt der Selbstdisziplin bei Kant immer der innere Zwang des Gewissens zugrunde und
der Fremddisziplin stets der äußere Zwang des Rechts.11 Angesichts dieser unumgänglichen Bindung mit dem Zwang wird der Disziplin von
Kant daher eine ausschließlich negative Funktion verliehen. Mit der Disziplin ist immer das Einschränken, Abhalten, Bändigen, Verhindern,
9
10
11
26
Vgl. aaO, S. 3; Ipfling (Fn.6), S. 11f.; Aloys Fischer, Der Begriff der Disziplin, in:
Hermann Röhrs (Hrsg.), Die Disziplin in ihrem Verhältnis zu Lohn und Strafe,
Frankfurt a.M. 1968, S. 14-25; Walter Horney, Über innere und äußere Disziplin,
auch in: Hermann Röhrs (Hrsg.), Die Disziplin in ihrem Verhältnis zu Lohn und
Strafe, S. 77-81; diesbezüglich meint Hans-Werner Goetz: „Für die »Selbstdisziplin« gibt es überhaupt keinen mittellateinischen Begriff, sondern nur Umschreibungen. Sie spielt gleichwohl eine Rolle und ist gewissermaßen bereits in
der »Disziplin« enthalten: Disziplin (als Verhaltensnorm) beruht stets auf einer
Selbstdisziplin.” Ders., Selbstdisziplin als Herrschertugend?, in: Gerhard Jaritz
(Hrsg.), Disziplinierung im Alltag des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Wien
1999, S. 31.
Davon ausgehend ist der Wert der Fremddisziplin nur so groß, als es ihr gelingt,
die Selbstdisziplin und die Selbstbestimmung herbeizuführen. Vgl. Fischer aaO,
S. 23; Ekkehard Marschelke, Begriff und Funktion der Disziplin in der Erziehung,
Mannheim 1971, S. 3, 5, 35.
Dazu sagt Kant: „Zum Charakter unserer Gattung gehört auch: dass sie, zur bürgerlichen Verfassung strebend, auch einer Disziplin durch Religion bedarf, damit,
was durch äußeren Zwang nicht erreicht werden kann, durch innern (des Gewissens) bewirkt werde.” Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht,
in: Wilhelm Weischedel (Hrsg.), Immanuel Kant. Werkausgabe, Bd. XII, S. 689;
vgl. auch „Der Pflichtbegriff ist an sich schon der Begriff von einer Nötigung
(Zwang) der freien Willkür durchs Gesetz; dieser Zwang mag nun ein äußerer
oder ein Selbstzwang sein.“ „Die Tugendpflicht ist von der Rechtspflicht wesentlich darin unterschieden: dass zu dieser ein äußerer Zwang moralisch-möglich ist,
jene aber auf dem freien Selbstzwange allein beruht.“ Ders., Die Metaphysik der
Sitten, in: Wilhelm Weischedel (Hrsg.), Immanuel Kant. Werkausgabe, Bd. VIII,
S. 508, 512.
Verhüten, Aufheben und Vertilgen gemeint.12 In der Pädagogik wird die
Disziplin von Kant zum Ausgangspunkt für den Prozess der Menschwerdung.13 In diesem Menschwerdungsprozess bewirkt die Disziplin nämlich, „dass der Mensch nicht durch seine tierischen Antriebe von seiner
Bestimmung, der Menschheit, abweiche“. Sie muss den Menschen einschränken, „dass er sich nicht wild und unbesonnen in Gefahren begebe“.14 Demnach soll die Disziplin nichts anderes als „die negative Leitung“ sein. Ihre Aufgabe besteht darin, die Wildheit des Menschen zu
zähmen und ihn davon abzuhalten, Fehler zu begehen, damit der Mensch
sich so früh wie möglich daran gewöhnt, sich „der Ordnung und Regel“,
„den Gesetzen der Menschheit“ und den „Vorschriften der Vernunft“ zu
unterwerfen.15
Darüber hinaus ist die Disziplin für Kant nicht allein im Bereich der
Pädagogik anwendbar. Sie hat in den Kritiken (insbesondere in der Methodenlehre) und in der Anthropologie die gleiche Grundbedeutung wie
in der Pädagogik.16 Zum Beispiel meint Kant in seiner Kritik der reinen
theoretischen Vernunft, dass die Vernunft unbedingt einer Disziplin bedarf, „die ihren Hang zur Erweiterung, über die engen Grenzen möglicher
Erfahrung, bändige“. Denn die Disziplin ist Kant zufolge, wie bereits erwähnt, der Zwang, „wodurch der beständige Hang, von gewissen Regeln
abzuweichen, eingeschränkt, und endlich vertilget wird“. Die Disziplin ist
also „die warnende Negativlehre“, welche imstande ist, Irrtümer zu verhüten.17
12
13
14
15
16
17
Vgl. Marschelke (Fn.10), S. 143.
Vgl. Immanuel Kant, Über Pädagogik, in: Wilhelm Weischedel (Hrsg.), Immanuel Kant. Werkausgabe, Bd. XII, S. 699; auch Marschelke (Fn.10), S. 28-34.
Neben dieser negativen Leitung durch die Disziplin gibt es bei der Pädagogik
nach Kant noch drei andere positive Ausbildungsmethoden, damit der Mensch
sich zur Vervollkommnung seiner Menschheit entwickelt. Diese positiven Ausbildungsmethoden sind nämlich die Kultivierung, Zivilisierung und Moralisierung. Unter Kultivierung ist die Ausbildung der Geschicklichkeit zu verstehen;
die Zivilisierung erfordert Manieren, Artigkeit und eine gewisse Klugheit; die
Moralisierung zielt auf gute Zwecke und die Gesinnung. Vgl. Kant, aaO, S. 706f.;
ders., Kritik der reinen Vernunft 2, in: Wilhelm Weischedel (Hrsg.), Immanuel
Kant. Werkausgabe, Bd. IV, S. 610f.; vgl. dazu auch Gerhard Funke, Kants
Stichworte für unsere Aufgabe: Disziplinieren, Kultivieren, Zivilisieren, Moralisieren, in: Ders., Von der Aktualität Kants, Bonn 1979, S. 128f.
Kant, Über Pädagogik, aaO, S. 697f.
Vgl. aaO, S. 669, 698, 706, 709.
Für eine ausführliche Erklärung über Kants Bestimmung der Disziplin siehe
Marschelke (Fn.10), S. 142-153.
Kant, Kritik der reinen Vernunft 2 (Fn.13), S. 610-612; vgl. auch Hans Michael
27
Seit Freud kann jener verinnerlichte Prozess von der Fremddisziplin
zur Selbstdisziplin prägnant mit der Aufrichtung eines Über-Ichs erläutert
werden.18 Die psychische Instanz des Über-Ichs ist eine verinnerlichte
Autorität, die immer versucht, das Ich mittels ihrer die Triebe unterdrückenden Macht zur Schuld zu verurteilen. Dadurch entfaltet sich eine Beziehung der Strenge zwischen Über-Ich und Ich. 19 Die Instanz des
Über-Ichs funktioniert, nicht nur indem sie das Ich ständig beobachtet,
sondern auch indem sie ihm Befehle gibt, es richtet und ihm mit Strafe
droht.20 Außerdem ist die Funktion des Über-Ichs auch im Gewissen, in
den Schuldgefühlen, im Strafbedürfnis sowie in der Reue zu finden. All
diese Begriffe beziehen sich in der Tat auf dasselbe Verhältnis, benennen
aber verschiedene Seiten desselben. 21 Da sich diese innere Verdrängungsfunktion des Über-Ichs in Form des Verbotes präsentiert, wird dies
als Repressionstheorie bezeichnet.22 Freud zufolge werden die Einzelheiten der Beziehung zwischen Ich und Über-Ich durchweg aus der Zurückführung auf das Verhältnis des Kindes zu seinen Eltern verständlich.
Trotzdem sind natürlich nicht alle Facetten des Über-Ichs nur aus dem
persönlichen Wesen der Eltern entstanden, sondern auch zugleich aus
dem durch die Eltern weitergegebenen Einfluss von Familien- und Volkstraditionen sowie aus den von ihnen vertretenen Anforderungen des jeweiligen sozialen Milieus. Außerdem nimmt das Über-Ich im Laufe
seiner individuellen Entwicklung auch Beiträge von Seiten späterer Ersatzpersonen der Eltern auf, wie Erzieher, öffentliche Vorbilder, in der
Gesellschaft verehrte Ideale.23
18
19
20
21
22
23
28
Baumgartner, Kants „Kritik der reinen Vernunft“. Anleitung zur Lektüre, 4. Aufl.,
München 1996, S. 125f.
Vgl. Marschelke (Fn.10), S. 24.
Während die Hauptleistung des Über-Ichs nach Freud die Einschränkung der Befriedigungen bleibt, besteht die Aufgabe des Ichs eher darin, sich am Leben zu
erhalten und sich durch die Angst vor Gefahren zu schützen. Vgl. Sigmund Freud,
Abriss der Psychoanalyse. Einführende Darstellungen, Frankfurt a.M. 2001, S. 44,
95.
Vgl. Freud, ebenda, S. 101.
Für die ausführlichen Darlegungen dazu siehe Sigmund Freud, Das Unbehagen in
der Kultur. Und andere kulturtheoretische Schriften, Frankfurt a.M. 2001, S.
86-91, 98f.
Vgl. MaM, S. 23; Patrick H. Hutton, Foucault, Freud und die Technologien des
Selbst, in: Luther H. Martin/Huch Gutman/P. H. Hutton (Hrsg.), Technologien
des Selbst, Frankfurt a.M. 1993, S. 149f.; Francisco Ortega, Michel Foucault.
Rekonstruktion der Freundschaft, München 1997, S. 40.
Vgl. Freud (Fn.19), S. 43.
Alle diese verschiedenen Quellen, die die innere verdrängende
Macht des Über-Ichs unaufhörlich versorgen und vervollständigen, sind
nach Freud in dem Begriff der Kultur zusammenzufassen. Das Wesen der
Kultur bezeichnet laut Freud „die ganze Summe der Leistungen und Einrichtungen, in denen sich unser Leben von dem unserer tierischen Ahnen
entfernt und die zwei Zwecken dienen: dem Schutz des Menschen gegen
die Natur und der Regelung der Beziehungen der Menschen untereinander“.24 Die Kultur ist darum „durch Verzicht auf Triebbefriedigung gewonnen worden und fordert von jedem neu Ankommenden, dass er denselben Triebverzicht leiste“.25
Daraus entsteht eine kollektive Repressionssubstanz, die von Freud
als „Kultur-Über-Ich“ bezeichnet wird, welches mit Hilfe der Analogie
zwischen dem Kulturprozess und dem Entwicklungsweg des Individuums
gebildet wird.26 Für Freud stellt das Kultur-Über-Ich zwar ganz wie das
Über-Ich des einzelnen strenge Idealforderungen auf, die durch Gewissensangst befolgt werden. In der Tat werden sie jedoch zuvor durch den
äußeren Zwang der Erziehung eingehalten. Daraus zieht Freud den
Schluss: „Während des individuellen Lebens findet eine beständige Umsetzung von äußerem Zwange in inneren Zwang statt. Die Kultureinflüsse
leiten dazu an, dass immer mehr von den eigensüchtigen Strebungen
durch erotische Zusätze in altruistische, soziale verwandelt werden. Man
darf endlich annehmen, dass aller innere Zwang, der sich in der Entwicklung des Menschen geltend macht, ursprünglich, d.h. in der Menschheitsgeschichte nur äußerer Zwang war.“27
Dieser von Freud angenommene Prozess der Kulturentwicklung vom
äußeren Zwang zum inneren Zwang, von der Fremddisziplin zur inneren
Selbstdisziplin, wird später von Norbert Elias in seiner Untersuchung
Über den Prozess der Zivilisation übernommen.28 Für Elias entwickelt
24
25
26
27
28
Freud (Fn.21), S. 55f.
AaO, S. 143; vgl. auch S. 116. Diesbezüglich sagt Hutton: „Zwar ist die Erzeugung einer Kultur ein Schöpfungsprozess; aber sie ist zugleich ein präskriptiver
Vorgang, insofern das Vokabular, dessen wir uns bedienen, und die Institutionen,
durch die wir handeln, uns mit Mustern versorgen, die künftigen schöpferischen
Entwürfen die Richtung vorgeben und Grenzen ziehen.“ Hutton (Fn.22), S. 145.
Vgl. Freud (Fn.21), S. 104. Mehr über diese Analogie siehe S. 102f.
Freud, ebenda, S. 143.
Dazu sagt Elias: „ Es braucht dabei kaum gesagt zu werden, aber es mag hier
einmal ausdrücklich hervorgehoben sein, wie viel diese Untersuchung den vorausgehenden Forschungen Freuds und der psycho-analytischen Schule verdankt.
Die Beziehungen sind für jeden Kenner des psycho-analytischen Schrifttums klar,
29
sich der Zivilisationsprozess nämlich von „dem gesellschaftlichen Zwang
zum Selbstzwang“.29 Nach Elias wird der Einzelne schon ab seiner Geburt mehr und mehr in ein Verflechtungsgewebe eingesponnen. Darin
wird das Verhalten der Menschen aufeinander abgestimmt und immer
differenzierter, gleichmäßiger sowie stabiler reguliert. Es ist diese Verflechtungsordnung, die dem Prozess der Zivilisation zugrunde liegt.30
Die eigentümliche Stabilität dieses Zivilisationsprozesses wird aber laut
Elias erst durch „die Ausbildung von Monopolinstituten der körperlichen
Gewalttat“ und durch „die wachsende Stabilität der gesellschaftlichen
Zentralorgane“ garantiert.31 Dazu sagt Elias: „Gesellschaften ohne stabiles Gewaltmonopol sind immer zugleich Gesellschaften, in denen die
Funktionsteilung relativ gering und die Handlungsketten, die den Einzelnen binden, verhältnismäßig kurz sind. Umgekehrt: Gesellschaften mit
stabilen Gewaltmonopolen, verkörpert zunächst stets durch einen größeren Fürsten- oder Königshof, sind Gesellschaften, in denen die Funktionsteilung mehr oder weniger weit gediehen ist, in denen die Handlungsketten, die den Einzelnen binden, länger und die funktionellen Abhän-
29
30
31
30
und es schien unnötig, an einzelnen Punkten darauf hinzuweisen, zumal sich das
nicht ohne ausführlichere Auseinandersetzung hätte tun lassen. Die nicht unbeträchtlichen Unterschiede zwischen dem ganzen Ansatz Freuds und dem der vorliegenden Untersuchung sind ebenfalls hier explicite nicht hervorgehoben worden,
besonders da sich vielleicht über sie nach einiger Diskussion ohne allzu große
Schwierigkeiten ein Einverständnis herstellen ließe. Es erschien wichtiger, ein
Gedankengebäude möglichst klar und anschaulich aufzubauen, als an dieser oder
jener Stelle eine Auseinandersetzung zu führen.“ Ders., Über den Prozess der Zivilisation: Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Bd. 1. Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes, 15.
Aufl., Frankfurt a.M. 1990, Anmerkung 77, S. 324. Für eine nähere Erläuterung
des Vergleichs von Elias und Freud siehe etwa John Goudsblom, Zum Hintergrund der Zivilisationstheorie von Norbert Elias: Das Verhältnis zu Huizinga,
Weber und Freud, in: Peter Gleichmann/John Goudsblom/Hermann Korte (Hrsg.),
Macht und Zivilisation. Materialien zu Norbert Elias’ Zivilisationstheorie 2,
Frankfurt a.M. 1984, S. 138f.
Elias, Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische
Untersuchungen. Bd. 2. Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie
der Zivilisation, 15. Aufl., Frankfurt a.M. 1990, S. 312. Bei Elias sind die Begriffe von Selbstdisziplin, Selbstzwang, Selbstüberwachung, Selbstkontrolle,
Selbstbeherrschung und Selbstregulierung als synonym zu betrachten. Vgl.
Hans-Günther Heiland, Selbst- und Fremddisziplinierung im Zivilisationsprozess,
in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. XV, 1993, Anmerkung
2, S. 322.
Vgl. Elias (Fn.29), S. 314, 317.
AaO, S. 320.
gigkeiten des einen Menschen von anderen größer sind.“32 Trotzdem bedeutet dies nicht, wenn Elias von der Notwendigkeit des Gewaltmonopols
spricht, dass er an die Manipulierbarkeit des Selbstdisziplinierungsvorgangs durch dieses Gewaltmonopol glaubt. Ganz im Gegenteil denkt er
eher an die Blindheit und Unplanbarkeit des Zivilisationsprozesses. 33
Diese Unmanipulierbarkeit des Zivilisationsprozesses vom Fremdzwang
zum Selbstzwang kennzeichnet also den speziellen Charakter der Sozialdisziplinierung bei Elias.34
Für Elias meint die Umwandlung des gesellschaftlichen Fremdzwangs in den Selbstzwang nicht nur die automatische, zur selbstverständlichen Gewohnheit gewordene „Dämpfung der spontanen Wallungen“ und die „Zurückhaltung der Affekte“, sondern auch die „Weitung
des Gedankenraums über den Augenblick hinaus in die vergangenen Ursache-, die zukünftigen Folgenketten“.35 Dieser vielfältige Aspekt in der
psychischen Selbstdisziplinapparatur ist weiter durch das sogenannte
„anthropologische Kreuz der Entscheidung“ abzuklären, welches von
Winfried Brugger im Anschluss an Freuds psychische Apparatur aufgestellt wird. Mit dem umgangssprachlichen Ausdruck „Es ist ein Kreuz
mit ...“ möchte Brugger darauf hinweisen, dass es oft eine heikle Sache
ist, eine Entscheidung in der Lebensführung oder im Rechtsleben zu tref-
32
33
34
35
AaO, S. 321.
Vgl. aaO, S. 312-314, 316.
In der Tat wird schon Elias’ Zivilisationsprozess vom Fremdzwang zum Selbstzwang als eines der wichtigsten Sozialdisziplinierungsmodelle betrachtet und
immer mit Max Weber, Gerhard Oestreich und Michel Foucault verglichen. Vgl.
Mohammed Rassen, Bemerkungen zur „Sozialdisziplinierung“ im frühmodernen
Staat, in: Zeitschrift für Politik, 30. Jg., 1983, S. 217; Stefan Breuer, Sozialdisziplinierung. Probleme und Problemverlagerungen eines Konzepts bei Max Weber, Gerhard Oestreich und Michel Foucault, in: Christof Sachße/Florian Tennstedt (Hrsg.), Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung. Beiträge zu einer
historischen Theorie der Sozialpolitik, Frankfurt a.M. 1986, S. 45-69; Ulrich
Brökling, Disziplin. Soziologie und Geschichte militärischer Gehorsamsproduktion, München 1997, S. 12, 23; Gerhard Jaritz, Vorwort, in: Ders. (Hrsg.), Disziplinierung im Alltag des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Wien 1999, S. 5f.;
Heinz Schilling, Profil und Perspektiven einer interdisziplinären und komparatistischen Disziplinierungsforschung jenseits einer Dichotomie von Gesellschaftsund Kulturgeschichte, in: Ders. (Hrsg.), Institutionen, Instrumente und Akteure
sozialer Kontrolle und Disziplinierung im frühneuzeitlichen Europa, Frankfurt
a.M. 1999, S. 8f. Für eine weitere Vergleichserörterung besonders von Foucaults
Disziplinargesellschaft, Oestreichs Sozialdisziplinierung und Webers Disziplinierung als Begleiterscheinung der Rationalisierung siehe Kapitel 2, D. II.
Elias (Fn.29), S. 322, 343.
31
fen.36 Dabei muss man nicht nur relevante Überlegungen in verschiedene
Richtungen und in bezug auf weitreichende und identitätsbestimmende
Konsequenzen anstellen, sondern auch Umstände und Reaktionen der
anderen berücksichtigen.37 Das „anthropologische Kreuz der Entscheidung“ kennzeichnet daher den komplexen Charakter eines gegenwärtigen
individuellen Entscheidungsvorgangs, der gleichzeitig „»rückwärts«, in
die Vergangenheit, »vorwärts«, in die Zukunft, »aufwärts«, zu den einschlägigen Werten, und »abwärts«, zu den Grundbedürfnissen“, blickt.38
Diesbezüglich sagt Brugger: „Diese Ideale und Werte belehren uns, wie
wir mit unseren Antrieben umgehen sollen, ob und wieweit wir sie im
Eigen- und Sozialinteresse akzeptieren, limitieren, disziplinieren und kultivieren sollen.“ „Der Mensch muss Freuds Ansicht nach im Laufe seines
Lebens
–
das
heißt:
in
der
Zeitschiene
Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft – eine Balance finden zwischen den Anforderungen ‚von oben’ und ‚von unten’.“39
III. Die mikrophysikalisch-ökonomisch-positive Technologie der
Disziplin
In den dargelegten Diskussionen scheint die Disziplin durchweg in
Form des negativ einschränkenden, verdrängenden, repressiven Zwangs
positiv bestimmte Ziele zu erreichen, etwa die Gewöhnung an Vorschriften der Vernunft (Kant), ein Verhalten entsprechend den Kulturanforderungen (Freud) oder entsprechend einer interdependente Verflechtungsordnung (Elias) bzw. das Zustandekommen einer komplex motivierten
Entscheidung (Brugger). Eigentlich verleugnet Foucault nicht jene negativ verdrängende Funktion der Disziplin, die überwiegend durch den
Fremd- oder Selbstzwang auf eine sich automatisch den Verhaltensnormen unterwerfende Willensbestimmung zielt. Im Gegenteil meint die
Disziplin für Foucault eben „das Ergebnis negativen Denkens: es ist
etwas zu tun. Determiniert ist, was man zu tun hat; das Undeterminierte
ist Verboten“. Dementsprechend teilen die Disziplinarmechanismen alles
nach ihrem Code auf (erlaubt/verboten) und determinieren die Pflichten.40
36
37
38
39
40
32
Vgl. Winfried Brugger, Liberalismus, Pluralismus, Kommunitarismus: Studien
zur Legitimation des Grundgesetzes, Baden-Baden 1999, S. 23.
Vgl. aaO, S. 23, 30.
Brugger, Das anthropologische Kreuz der Entscheidung, Jus 1996, S. 674.
Brugger (Fn.36), S. 25f.
StW, S. 7.
Trotzdem lässt sich die Disziplin nach Foucault nicht allein auf den negativen Zwang reduzieren; ebenso wenig bezieht sie sich nur auf das Innere
und die psychische Aktivität des Subjekts, dem bzw. der zufolge das
Verhalten mit den Sozialnormen in Übereinstimmung gebracht wird. Die
Disziplin ist vielmehr zugleich in der Form und dem Effekt sowohl positiv wie auch produktiv, das heißt: Mit Hilfe ihrer mikrophysikalisch subtilen Techniken, die den negativ verdrängenden Zwang einerseits mit der
positiv hierarchisierenden Überwachung, der normierenden Sanktion
sowie der individualisierenden Prüfung andererseits in Verbindung bringen, ist die Disziplin imstande, eine positive Ökonomie herzustellen.41
Dabei handelt es sich also um „die Funktionsumkehr bei den Disziplinen“.42 Dazu meint Foucault: „Erwartete man von den Disziplinen ursprünglich die Bannung von Gefahren, die Bindung unnützer oder unruhiger Bevölkerungen, das In-Schach-Halten großer Menschenansammlungen, so fordert man nun von ihnen, dass sie, wozu sie auch fähig sind,
eine positive Rolle spielen und die mögliche Nützlichkeit von Individuen
vergrößern. Die militärische Disziplin ist nicht mehr einfach ein Mittel,
mit dem das Plündern, die Desertation und die Befehlsverweigerung verhindert werden solle; sie wird zu einer technischen Voraussetzung dafür,
dass die Armee nicht mehr als ein zusammengelesener Haufen existiert,
sondern als eine Einheit, die gerade aus ihrer Einheit eine Steigerung ihrer Kräfte schöpft; die Disziplin vergrößert die Geschicklichkeit eines jeden, koordiniert diese Geschicklichkeit, beschleunigt die Bewegungen,
vervielfacht die Feuerkraft, erweitert die Angriffsfronten, ohne die Angriffskraft zu schwächen, stärkt die Widerstandskraft usw. Die Arbeitsdisziplin hat zwar weiterhin die Aufgabe, den Respekt der Reglements
und Autoritäten zu sichern sowie Diebstähle und Verschwendung zu verhindern, aber sie soll auch die Fähigkeiten, die Geschwindigkeiten, die
Arbeitserträge und damit die Gewinne erhöhen; sie hat die Verhaltensweisen sittlich zu heben, aber sie soll sie vor allem auf ihr Ziel ausrichten
und die Körper in eine Maschinerie, die Kräfte in eine Ökonomie integrieren.“43
Während die Disziplin dieser Funktionsumkehr zufolge nicht mehr
41
42
43
Vgl. ÜS, S. 175, 198; dazu auch Hutton (Fn.22), S. 150; Ortega (Fn.22), S. 40;
Hinrich Fink-Eitel, Michel Foucault. Zur Einführung, 4. Aufl., Hamburg 2002, S.
76.
ÜS, S. 269. Vgl. auch Ewald (Fn.2), S. 163, 165.
ÜS, S. 269f.
33
allein auf die Übereinstimmung des Verhaltens mit bestimmten Sozialnormen gerichtet ist, sondern weiterhin auf die Herstellung einer positiven Ökonomie und einer möglichst großen Nützlichkeit der Individuen,
wendet sich der Blick der Disziplin gleichzeitig auf den menschlichen
Körper, „den man manipuliert, formiert und dressiert, der gehorcht, antwortet, gewandt wird und dessen Kräfte sich mehren“.44 Um „die peinliche Kontrolle der Körpertätigkeiten und die dauerhafte Unterwerfung ihrer Kräfte“ zu ermöglichen und sie gelehrig und nützlich zu machen, setzt
die Disziplin die einfachen Instrumente „des hierarchischen Blicks, der
normierenden Sanktion und ihrer Kombination im Verfahren der Prüfung“ ein.45 Daraus ergibt sich also eine neue „Mechanik der Macht“,
nämlich der Disziplinarmechanismus, der nicht mehr anthropologisch-psychisch, sondern vielmehr technologisch-ökonomisch orientiert
ist. Dazu sagt Foucault: „Der historische Augenblick der Disziplinen ist
der Augenblick, in dem eine Kunst des menschlichen Körpers das Licht
der Welt erblickt, die nicht nur die Vermehrung seiner Fähigkeiten und
auch nicht bloß die Vertiefung seiner Unterwerfung im Auge hat, sondern
die Schaffung eines Verhältnisses, das in einem einzigen Mechanismus
den Körper um so gefügiger macht, je nützlicher er ist, und umgekehrt.
So formuliert sich eine Politik der Zwänge, die am Körper arbeiten, seine
Elemente, seine Gesten, seine Verhaltensweisen kalkulieren und manipulieren. Der menschliche Körper geht in eine Machtmaschinerie ein, die
ihn durchdringt, zergliedert und wieder zusammensetzt. Eine »politische
Anatomie«, die auch eine »Mechanik der Macht« ist, ist im Entstehen.“46
C. Die technischen Instrumente der Disziplin
I. Die hierarchische Überwachung
Wie oben aufgezeigt, liegt dem Erfolge der Disziplinarmacht der
Einsatz der technischen Instrumente der hierarchischen Überwachung,
44
45
46
34
ÜS, S. 174.
ÜS, S. 175, 220. Zu diesen drei Disziplinarinstrumenten sagt Ewald: „ Es handelt
sich vielleicht weniger um drei Instrumente als um drei Gebrauchsweisen ein und
derselben Technologie, die der Norm zugrunde liegt. Es handelt sich gewissermaßen nur um Instrumente, die darauf hinzielen, die traditionellen Probleme der
Macht zu lösen: die Vielheiten zu ordnen, das Ganze und seine Teile zu artikulieren, sie miteinander in Beziehung zu setzen.“ Ewald (Fn. 2), S. 165.
ÜS, S. 176.
der normierenden Sanktion und der individualisierenden Prüfung
zugrunde. Der perfekte Disziplinarapparat sollte zunächst einen Disziplinarblick beinhalten, welcher es ermöglicht, alles zu sehen, ohne selbst
gesehen zu werden. Durch diesen Disziplinarblick werden alle Tätigkeiten und Fehler nicht nur wahrgenommen und registriert, sondern auch
beurteilt und korrigiert. 47 Die von Foucault aufgestellte hierarchische
Überwachung ist genau das Instrument, diesen Disziplinarblick zu verwirklichen. Laut Foucault beruht die Errichtung dieser hierarchischen
Überwachung zuvor auf der räumlichen Architektur, der „die Kunst der
Verteilungen“ zugrunde liegt.48 Dementsprechend wird ein Disziplinarraum nach den Prinzipien der „Klausur“, der „Parzellierung“, der „Zuweisung von Funktionsstellen“ und des „Ranges“ eingerichtet.
Mit Klausur ist „die bauliche Abschließung eines Ortes von allen
anderen Orten“ gemeint.49 Ihre Funktion hängt im Prinzip von der einzelnen Institution ab. Zum Beispiel bedeutet die Klausur bei Kasernen:
„Die Armee, diese umherschweifende Masse, muss festgesetzt werden;
Plünderungen und Gewalttätigkeiten müssen verhindert werden; die
Bevölkerung, die umherziehende Truppen schlecht erträgt, muss beruhigt
werden; die Konflikte mit den zivilen Autoritäten müssen vermieden
werden; der Fahnenflucht muss Einhalt geboten werden; die Ausgaben
müssen unter Kontrolle gebracht werden.“50 Bei der Fabrik meint die
Klausur: „In dem Maße, in dem sich die Produktionskräfte konzentrieren,
gilt es, möglichst viele Vorteile daraus zu ziehen und die Unannehmlichkeiten zu neutralisieren (Diebstähle, Arbeitsunterbrechungen, Ruhestörungen und »Kabalen«); gilt es, die Materialien und Werkzeuge zu schützen und die Arbeitskräfte zu meistern.“51
Die Funktion der Parzellierung richtet sich „gegen die ungewissen
Verteilungen, gegen das unkontrollierte Verschwinden von Individuen,
gegen ihr diffuses Herumschweifen, gegen ihre unnütze und gefährliche
Anhäufung: eine Antidesertions-, Antivagabondage-, Antiagglomerationstaktik.“ „Es geht darum, die Anwesenheiten und Abwesenheiten festzusetzen und festzustellen; zu wissen, wo und wie man die Individuen
finden kann; die nützlichen Kommunikationskanäle zu installieren und
47
48
49
50
51
Vgl. ÜS, S. 221, 224f.
Dazu sagt Foucault: „Die Disziplin macht sich zunächst an die Verteilung der Individuen im Raum.“ ÜS, S. 181.
ÜS, S. 181.
ÜS, S. 181f.
ÜS, S. 183.
35
die anderen zu unterbrechen; jeden Augenblick das Verhalten eines jeden
überwachen, abschätzen und sanktionieren zu können; die Qualitäten und
die Verdienste zu messen. Es handelt sich also um eine Prozedur zur Erkennung, zur Meisterung und zur Nutzbarmachung. Die Disziplin organisiert einen analytischen Raum.“52
Die Zuweisung von Funktionsstellen versucht vor allem, einen
nutzbaren Raum zu schaffen. Zum Beispiel müssen in den Fabriken am
Ende des 18. Jahrhunderts „nicht nur die Individuen in einem Raum verteilt werden, wo man sie isolieren und feststellen kann, sondern diese
Verteilung muss noch an einen Produktionsapparat angeschlossen werden,
der seine eigenen Erfordernisse hat. In der Verteilung der »Posten« sind
also die Aufteilung der Körper, die räumliche Organisation des Produktionsapparates und die verschiedenen Tätigkeitsformen miteinander in
Einklang zu bringen.“ Dies führt dazu: „Jede Variable der Arbeitskraft –
Stärke, Schnelligkeit, Geschicklichkeit, Ausdauer – kann beobachtet,
charakterisiert, eingeschätzt, verrechnet und dem dafür Zuständigen berichtet werden.“53
Die Kunst der Einteilung in Ränge funktioniert, indem ein serieller
Raum hierarchisch organisiert wird, in welchem jeder einzelne nach seinem Alter, seinen Leistungen, seinem Benehmen individualisiert, klassifiziert und lokalisiert wird und daher einen entsprechenden Platz erhält.54 Dies ist in dem von J.-B. de la Salle geträumten Schulraum des
Elementarunterrichts zu sehen: „In allen Klassen werden allen Schülern
aller Lektionen Plätze zugeteilt sein, so dass sich die Schüler derselben
Lektion immer an ein und demselben Platz befinden. Die Schüler der
höchsten Lektionen werden in den Bänken sitzen, die der Mauer am
nächsten sind, und die anderen werden sich in der Reihenfolge der Lektionen der Mitte der Klasse annähern ... Jeder der Schüler wird seinen
festgelegten Platz haben und keiner wird ihn verlassen oder wechseln
ohne die Anordnung und Zustimmung des Inspektors der Schulen“.55
Nach Foucault ist das geometrische Bauprojekt des Militärlagers ein
beinahe ideales Muster für die räumliche Gestaltung der hierarchischen
Überwachungen, welches sich zugleich der Prinzipien der Klausur, der
Parzellierung, der Zuweisung von Funktionsstellen und des Ranges be52
53
54
55
36
ÜS, S. 183f.
ÜS, S. 185f.
Vgl. ÜS, S. 187.
Zit. aus ÜS, S. 189.
dient. „[D]ie Geometrie der Alleen, die Anzahl und Verteilung der Zelte,
die Richtung ihrer Eingänge, die Anordnung der Reihen und Linien“, sie
alle werden nach der bestimmten Raumordnung festgelegt.56 Dazu zitiert
Foucault eine Anordnung vom preußischen Reglement für die Infanterie,
in welcher man sehen kann, wie ein System der hierarchischen Überwachung einfach durch die Raumverteilung automatisch in Gang gesetzt
wird: „Auf der Place d’Armes kommen 5 Linien, die ersten 16 Fuß vor
der zweyten, die übrigen sind 8 Fuß voneinander und die Letzte ist 8 Fuß
von den Gewehr-Mäntels. Die Gewehr-Mäntels sind 10 Fuß vor den Unter-Officiers-Zelten, gerade gegen der vordersten Stange. Eine Compagnie-Gasse ist 51 Fuß breit ... Die Zelter stehen überall 2 Fuß von einander.
Die Subalternes-Zelter stehen gegen die Brand-Gassen von ihren Compagnien, die hinterste Stange 8 Fuß von dem letzten Gemeinen-Zelt, und
die Thüre ist nach den Capitaines-Zeltern zu ... Der Capitaines-Zelter
stehen gegen ihren Compagnie-Gassen, die Thüre nach der Compagnie ...“57
Diese in dem Militärlager angeordnete zellförmige Raumordnung,
die gleichzeitig die Verteilungsforderungen von Klausur, Parzellierung,
Zuweisung von Funktionsstellen und Rängen befolgt, ist zu einem Netz
der Überwachung geworden, in dem sowohl die allgemeine Sichtbarkeit
als auch die sich einander kontrollierenden Blicke eingerichtet sind. Diese
zellenförmige Raumstruktur gilt auch als das Architekturmodell, das bei
der Errichtung von Arbeitersiedlungen, Spitälern, Asylen, Gefängnissen
oder Erziehungsheimen umfassend angewandt wurde. Obwohl der Bauplan des Militärlagers sozusagen als ein beinahe ideales Muster für die
hierarchische Überwachung zu betrachten ist, wird noch ein anderes,
vollkommeneres Programm zur Verwirklichung dieser hierarchischen
Überwachung in der Theorie aufgestellt. Dieses ist das von Jeremy
Bentham 1787 konzipierte, von Foucault als Architekturparadigma der
Disziplinarmacht angesehene Panopticon.58
56
57
58
ÜS, S. 221.
ÜS, S. 221f.
Vgl. ÜS, S. 256; Fink-Eitel (Fn.41), S. 76. Verglichen mit der theoretischen
Großartigkeit des Panopticon scheint für Foucault die persönliche Gefängnisbesichtigung in Attica 1974, welche für ihn eine erstmalige Erfahrung war, vielleicht sogar eindrucksvoller und bemerkenswerter gewesen zu sein, weil sie die
Veränderung seiner Gefängnisvorstellung von einer rein negativen Ausschließungsfunktion zu einer positiven beschleunigt hat. In einem Gespräch, das einen
Tag nach dieser Gefängnisbesichtigung stattfand, sagte Foucault: „Aber schon
auf den ersten Blick hat man den Eindruck, hier mehr als eine schlichte Fabrik zu
37
Die Einrichtung des Panopticon zeigt nicht, von wem die Macht
ausgeübt und kontrolliert wird, sondern wie die Macht automatisch in
Gang gesetzt wird. Denn in der Anlage des Panopticon hängt das Prinzip
der Macht weniger von „einer Person“ als vielmehr von „einer konzentrierten Anordnung von Körpern, Oberflächen, Lichtern und Blicken“ ab.
Daher hat es wenig Bedeutung, „wer die Macht ausübt“.59 Im Panopticon
werden Einzelzellen um einen zentralen Beobachtungsturm herum eingerichtet. Alle Eingeschlossenen werden von unsichtbaren, zentralen
Wächtern beobachtet.60 Wie Foucault erwähnt: „Das Panopticon ist eine
Maschine zur Scheidung des Paares Sehen/Gesehenwerden: im Außenring wird man vollständig gesehen, ohne jemals zu sehen; im Zentralraum
sieht man alles, ohne je gesehen zu werden.“ „Vom Standpunkt des Aufsehers aus handelt es sich um eine abzählbare und kontrollierbare Vielfalt;
vom Standpunkt der Gefangenen aus um eine erzwungene und beobachtete Einsamkeit. Daraus ergibt sich die Hauptwirkung des Panopticon: die
59
60
38
besuchen – man hat den Eindruck, eine Maschine, das Innere einer Maschine vor
sich zu haben. Natürlich stellt man sich nun folgende Frage: Was produziert die
Maschine? Wozu dient diese gigantische Installation, und was kommt dabei
heraus?“ DE II, S. 654f.; vgl. auch MM, S. 55. Im Vergleich zu seinen früher rein
negativen Ausschließungsfunktionen scheint das Gefängnis für Foucault nun „ein
zu komplexer Mechanismus“ zu sein. „Seine Kosten, seine Wichtigkeit, der Verwaltungsaufwand, die Rechtfertigungen, die man dafür zu geben bestrebt ist,
scheinen darauf hinzudeuten, dass es positive Funktionen besitzt. Das Problem
besteht darin, herauszufinden, welche Rolle die kapitalistische Gesellschaft ihrem
Strafrechtssystem zuweist, welches das gesuchte Ziel ist und welche Ergebnisse
durch all diese Straf- und Ausschließungsprozesse erzielt werden. Welches ist ihr
Platz im ökonomischen Prozess, worin besteht ihre Wichtigkeit bei der Ausübung
und Erhaltung der Macht? Welches ist ihre Rolle im Klassenkampf?“ MM, S. 57;
vgl. auch DE II, S. 656f.
ÜS, S. 259.
Eine detaillierte Erläuterung des Panopticon siehe folgendermaßen aus: „An der
Peripherie ein ringförmiges Gebäude; in der Mitte ein Turm, der von breiten
Fenstern durchbrochen ist, welche sich nach der Innenseite des Rings öffnen; das
Ringgebäude ist in Zellen unterteilt, von denen jede durch die gesamte Tiefe des
Gebäudes reicht; sie haben jeweils zwei Fenster, eines nach innen, das auf die
Fenster des Turms gerichtet ist, und eines nach außen, so dass die Zelle auf beiden Seiten von Licht durchdrungen wird. Es genügt demnach, einen Aufseher im
Turm aufzustellen und in jeder Zelle einen Irren, einen Kranken, einen Sträfling,
einen Arbeiter oder einen Schüler unterzubringen. Vor dem Gegenlicht lassen
sich vom Turm aus die kleinen Gefangenensilhouetten in den Zellen des Ringes
genau ausnehmen. Jeder Käfig ist ein kleines Theater, in dem jeder Akteur allein
ist, vollkommen individualisiert und ständig sichtbar. Die panoptische Anlage
schafft Raumeinheiten, die es ermöglichen, ohne Unterlass zu sehen und zugleich
zu erkennen.“ ÜS, S. 256f. Vgl. auch Flive, S. 226f.
Schaffung eines bewussten und permanenten Sichtbarkeitszustandes beim
Gefangenen, der das automatische Funktionieren der Macht sicherstellt.“ 61 Dementsprechend braucht man keine Gittertore mehr, keine
Ketten und keine schweren Schlösser. Denn es genügt schon, „wenn die
Trennungen sauber und die Öffnungen richtig sind. Die Wucht der alten
»Sicherheitshäuser« mit ihrer Festungsarchitektur lässt sich durch die
einfache und sparsame Geometrie eines »Gewissheitshauses« ersetzen.“62
In dieser panoptischen Disziplinaranlage kann man auf Gewaltmittel verzichten und darum eine wirkliche Unterwerfung erreichen. Die Idee des
Panopticon, das zugleich „Überwachung und Beobachtung, Sicherheit
und Wissen, Individualisierung und Totalisierung, Isolierung und Transparenz“ darstellt, hat nach Foucault im Gefängnis seinen bevorzugten
Realisierungsort gefunden.63 Dazu sagt er: „Das Panopticon ist in den
Jahren 1830-1840 zum architektonischen Programm der meisten Gefängnisprojekte geworden. Es bildete die direkteste Methode, »die Intelligenz
der Disziplin in den Stein zu übertragen«; die Architektur für die Handhabung der Macht transparent zu machen; Gewalt und Zwang durch die
sanfte Wirksamkeit einer bruchlosen Überwachung zu ersetzen; den
Raum entsprechend der jüngsten Vermenschlichung der Gesetze und der
neuen Straftheorie zu gestalten: »Sowohl die Autorität wie der Architekt
müssen wissen, ob die Gefängnisse im Sinne einer Milderung der Strafen
zu organisieren sind oder zur Besserung der Schuldigen und in Übereinstimmung mit einer Gesetzgebung, die, zum Ursprung der Volkslaster
zurückgehend, ein Regenerationsprinzip der notwendigen Tugenden
wird.«“64
Obwohl die hierarchische Überwachung zuvor mit Hilfe der architektonischen Raumordnung versachlicht wird, kommt sie erst durch den
Einsatz einer ganzen Reihe von Verbindungsoffizieren als interne Relaisstationen vollkommen in Gang.65 Demnach wird niederes und höheres
61
62
63
64
65
ÜS, S. 258f.
ÜS, S. 260.
ÜS, S. 319.
ÜS, S. 320. Außerdem sagt Foucault: „Bentham’s conception was therefore more
than a mere architectural figure meant to resolve a specific problem, such as that
raised by prisons or schools or hospitals. Bentham himself proclaims the Panopticon to be a »revolutionary discovery,« that it was »Columbus’ egg.« And indeed
it was Bentham who proposed a solution to the problem faced by doctors, penologists, industrialists and educators: he invented a technology of power capable
of resolving the problems of surveillance.“ Flive, S. 227.
Vgl. ÜS, S. 225-229; MaM, S. 28, 32.
39
Personal geschaffen, zum Beispiel „Angestellte, Aufseher, Kontrolleure,
Vorarbeiter“ in Werkstätten, und „Intendanten, Beobachter, Monitoren,
Repetitoren, Vorbeter, Vorschreiber, Tintenmeister, Almosenmeister, Visitatoren“ in Schulen.66 Mit Hilfe dieser pyramidenförmigen Kontrolltechnik werden alle fundamentalen Einheiten, die sich wie Soldaten,
Schüler, Arbeiter und Gefangene in bestimmten Disziplinarmechanismen
befinden, nun nicht mehr isoliert behandelt, sondern in ein komplexes,
hierarchisches, einheitliches Zusammenspiel gebracht, in dem sowohl die
individuelle Fähigkeit und Leistung als auch die gesamte Produktivität
gesteigert werden kann. Der einzelne Körper wird daher nach Foucault
„zu einem Element, das man platzieren, bewegen und an andere Elemente
anschließen kann“. In den subtilen, hierarchischen Disziplinarräumen
wird der Körper in Foucaults Augen nicht mehr durch „seine Tüchtigkeit
oder seine Kraft“ definiert, sondern durch „den Platz, den er einnimmt,
den Abstand, den er überbrückt, die Regelmäßigkeit und Geordnetheit
seiner Stellungswechsel“. „Der Körper wird auf seine Funktion reduziert
und gleichzeitig wird dieser segmentierte Körper seinerseits als ein Segment in eine Gesamtheit eingefügt.“67
Für Foucault stellt diese hierarchisierte, stetige und funktionelle Disziplinarüberwachung eine genaue, vollkommene, autonome und anonyme
Machtausübung dar. Er sagt: „Die Disziplin hält eine aus Beziehungen
bestehende Macht in Gang, die sich durch ihre eigenen Mechanismen
selber stützt und aufsehenerregenden Kundmachungen ein lückenloses
System kalkulierter Blicke vorzieht. Dank der Techniken der Überwachung vollzieht die »Physik« der Macht ihren Zugriff auf den Körper
nach den Gesetzen der Optik und der Mechanik und in einem Spiel von
Räumen, Linien, Schirmen, Bündeln, Stufen und verzichtet zumindest im
Prinzip auf Ausschreitung und Gewalt. Diese Macht ist scheinbar um so
weniger körperlich und physisch, je gelehrter und physikalischer sie
ist.“68
II. Die normierende Sanktion
Unter dem hierarchischen, pyramidenförmigen Disziplinarblick wird
den Disziplinaradressaten weiter eine Serie von Anforderungen aufge66
67
68
40
ÜS, S. 225-227.
ÜS, S. 212.
ÜS, S. 229.
zwungen, welche mit dem Doppelgleis-System von Bestrafung und Belohnung umgesetzt werden, damit einerseits die Tätigkeit gemäss der
qualifizierten Verhaltensweisen korrigiert, homogenisiert und normalisiert
wird und andererseits der Körper sich unter der größmöglichsten Reduzierung der Abweichungen zu einem leistungsstarken Apparat entwickelt,
bei dem die Kräfte effizient kombinatorisch eingesetzt werden. Eigentlich
funktioniert die normierende Sanktion nicht ohne entsprechende Disziplinaranforderungen. Das heißt: Sie setzt „ein präzises Befehlssystem“69
voraus. Strafbar ist daher alles, was von der Regel, der Anforderung bzw.
dem Befehl abweicht.70 Trotzdem meint die Disziplinarstrafe nach Foucault nicht „die Rache des verletzten Gesetzes“, sondern die Reduzierung
der Abweichungen. Demnach ist die Disziplinarstrafe ihrer Natur nach
eher „korrigierend“ und sucht „den erwarteten Besserungseffekt“ daher
weniger in „Sühne und Reue“ als vielmehr direkt in „der Mechanik einer
Dressur“. Also bedeutet strafen abrichten.71
Nach Foucault ist die Ordnung, die durch die normierende Sanktion
verwirklicht und respektiert wird, sowohl eine künstlich-rechtliche, „die
ausdrücklich durch ein Gesetz, ein Programm, ein Reglement gesetzt ist“,
wie auch eine natürliche Ordnung, in der „die Dauer einer Lehre, die Zeit
einer Übung, das Niveau einer Tauglichkeit von natürlichen Regelmäßigkeiten“ abhängen. 72 In dieser doppelsinnigen Ordnung bildet sich
dementsprechend ein neuer „natürlicher Körper“ aus, der Foucault zufolge nicht nur als „ein Träger von Kräften und Sitz einer Dauer“ gilt, sondern auch als ein Empfänger „für spezifische Operationen mit ihrer Ordnung, ihrer Zeit, ihren inneren Bedingungen, ihren Aufbauelementen“.73
Demnach wird zunächst alles bezüglich dieses natürlichen Körpers in
Einzelheiten zerlegt und codiert, das heißt von den kleinsten Körperelementen über die Gesten, die Zeitdauer aller Bewegungen bis zum Ver69
70
71
72
73
ÜS, S. 214. Dieses präzise Befehlssystem gilt nicht nur als Bedingung der normierenden Sanktion. Es ist nach Foucault auch die Voraussetzung für eine „sorgfältige abgestimmte Kombination der Kräfte“. In bezug auf die Eigenart des Befehls meint Foucault: „Der Befehl wird weder erläutert noch gar begründet; er hat
allein das gewollte Verhalten auszulösen. Das Verhältnis des Zuchtmeisters zum
Zögling läuft über Signale: es geht nicht um das Verstehen des Befehls, sondern
um die Wahrnehmung des Signals und die alsbaldige Reaktion darauf entsprechend einem vorgegebenen Code.“ ÜS, S. 214.
Vgl. ÜS, S. 231.
ÜS, S. 232.
ÜS, S. 231.
Vgl. ÜS, S. 199.
41
hältnis zwischen dem Körper und dem manipulierten Objekt. Danach
werden diese unterschiedlichen codierten Einzelheiten in eine Reihenfolge gebracht und schließlich unter entsprechenden Befehlen durch Übungen und Manöver organisch zusammengeschaltet.74
Das Training mit der Waffe ist für Foucault ein ideales Beispiel dafür,
wie der gesamte Körper mit dem von ihm manipulierten Objekt in einem
Organismus verschmolzen wird. Diesem Training liegt eine Serie „der instrumentellen Codierung“ des Körpers und der Waffe zugrunde. Zunächst
werden die Reihe der Körperelemente (rechte Hand, linke Hand, verschiedene Finger, Knie, Auge, Ellbogen) und die Reihe der manipulierten
Objektelemente (Lauf, Kerbe, Hahn, Schraube) ins Spiel gebracht, dann
die Reihe der Verzahnung dieser beiden (stützen, beugen) und schließlich
die Reihenfolge, in der jede dieser Korrelationen einen bestimmten Platz
einnimmt.75 In diesem Training mit der Waffe werden die Haltung des
Körpers, der Glieder, der Gelenke festgelegt, jeder Bewegung eine Richtung, ein Ausschlag, eine Dauer zugeordnet und die Reihenfolge vorgeschrieben. Dadurch wird nicht nur die zeitliche Durcharbeitung des Körpers76, sondern auch die leistungsstarke Geste ausgelöst77.
74
75
76
42
Vgl. ÜS, S. 195-197, 216. Für Foucault meint die Übung nämlich „jene Technik,
mit der man den Körpern Aufgaben stellt, die sich durch Wiederholung, Unterschiedlichkeit und Abstufung auszeichnen. Indem sie das Verhalten auf einen
Endzustand ausrichtet, ermöglicht die Übung eine ständige Charakterisierung des
Individuums: entweder in bezug auf dieses Ziel oder in bezug auf die anderen Individuen oder in bezug auf eine bestimmte Gangart. Auf diese Weise gewährleistet sie in der Form der Stetigkeit und des Zwangs sowohl Steigerung wie Beobachtung und Qualifizierung.“ ÜS, S. 207f.
Vgl. ÜS, S. 197.
Vgl. ÜS, S. 194f. Nach Foucault ist die Zeitplanung ein altes Erbe: „In den klösterlichen Gemeinschaften hatte sich ein strenges Schema entwickelt, das sich
rasch ausbreitete. Seine drei Elemente – Festsetzung von Rhythmen, Zwang zu
bestimmten Tätigkeiten, Regelung der Wiederholungszyklen – tauchen in den
Kollegs, den Werkstätten, den Spitälern wieder auf.“ ÜS, S. 192. Während die
traditionelle Zeitreglementierung nach Foucault noch auf einem wesenhaft negativen Prinzip beruht, das heißt auf dem „Prinzip des Nicht-Müßiggangs“ und des
Verbotes, Zeit zu verlieren, wird der Zeitregulierung durch die Disziplin im Gegenteil eine positive Ökonomie verliehen. Das zeitliche Tätigkeitsprogramm arbeitet das Individuum durch, um sich daran zu gewöhnen, möglichst die einzelnen Elemente seines Körpers optimal zu regulieren, den Zeitverlust zu verringern
und schließlich die Aufgaben schnell und richtig durchzuführen. Dementsprechend setzt die Disziplin „auf das Prinzip einer theoretisch endlos wachsenden
Zeitnutzung. Nicht nur Einsatz, sondern Ausschöpfung. Es geht darum, aus der
Zeit immer noch mehr verfügbare Augenblicke und aus jedem Augenblick immer
noch mehr nutzbare Kräfte herauszuholen. Man muss darum versuchen, die
Zu diesen Disziplinarkontrollen des Körpers und seiner Tätigkeit
meint Foucault: „Desgleichen haben die Disziplinarkontrollen der Tätigkeit ihren Platz unter den theoretischen und praktischen Versuchen zur
natürlichen Mechanik der Körper – aber sie beginnen damit, spezifische
Prozesse zu entdecken. Das Verhalten und seine organischen Anforderungen verdrängen allmählich die einfache Physik der Bewegung. Der
Körper, der bis in die kleinsten Operationen hinein gelehrig zu sein hat,
bringt dagegen die einem Organismus eigenen Funktionsbedingungen zur
Geltung. Der Disziplinarmacht entspricht eine Individualität, die nicht nur
analytisch und »zellenförmig« ist, sondern auch natürlich und »organisch«.“78
Die Disziplinarordnung und die entsprechenden Anforderungen
werden nach der Codierung des Körpers und seiner Tätigkeit organisch
festgesetzt, darüber hinaus noch nach Rängen und Reihen festgelegt,
welche diesmal nicht von der Raumverteilung her, sondern von der „Organisation von Entwicklung“ „evolutiv“ bestimmt werden.79 In der normierenden Sanktion hat die Anforderung nach Rängen eine zweifache
Aufgabe. Zum einen sollte sie nach der zeitlichen Entwicklung die Abstände markieren, die Qualitäten, Kompetenzen und Fähigkeiten hierarchisieren, zum anderen sollte sie aber auch Mittel zur Bestrafung und
Belohnung sein.80
Die Entwicklung der menschlichen Lernfähigkeit hängt auch von
natürlichen Regelmäßigkeiten ab. Die Lernfähigkeit ist demnach evolutiv
und zeitlich kontrollierbar. Dies führt also zur Einrichtung der einreihenden Ränge. Es ist zum Beispiel pädagogisch völlig richtig, dass Kinder
nicht in eine Klasse eingegliedert werden dürfen, für die sie noch nicht
geeignet sind, „weil man sie damit der Gefahr aussetzen würde, nichts
lernen zu können“.81 „Die »Einreihung« der Tätigkeit eröffnet die Möglichkeit einer Besetzung der Dauer durch die Macht: die Möglichkeit einer detaillierten Kontrolle und pünktlichen Intervention (einer differen-
77
78
79
80
81
Ausnutzung des geringsten Augenblicks zu intensivieren, als ob die Zeit gerade
in ihrer Zersplitterung unerschöpflich wäre oder man durch eine immer feinere
Detaillierung auf einen Punkt gelangen könnte, wo die größte Schnelligkeit mit
der höchsten Wirksamkeit eins ist.“ ÜS, S. 197f.
Vgl. ÜS, S. 195ff.
ÜS, S. 200f.
Vgl. ÜS, S. 201, 205-207.
Vgl. ÜS, S. 205f., 234.
ÜS, S. 231.
43
zierenden, korrigierenden, strafenden, ausschaltenden Intervention) in jedem Moment der Zeit; die Möglichkeit des Beurteilens und damit des
Einsatzes der Individuen je nach dem Niveau, das sie auf ihren Laufbahnen erreicht haben; die Möglichkeit der Akkumulierung, Einholung, Totalisierung und Ausnutzung der Zeit und der Tätigkeit im Endresultat, das
die endgültige Tauglichkeit des Individuums ist“.82 Dafür führt Foucault
die Unterteilung des Lesenlernens in sieben Niveaus von Demia als Beispiel an: „Das erste Niveau für die Schüler, die gerade die Buchstaben zu
erkennen anfangen; das zweite für die, welche das Buchstabieren lernen;
das dritte für diejenigen, welche die Silben zu verbinden lernen; das vierte für diejenigen, die Latein satzweise lesen; das fünfte für diejenigen, die
Französisch zu lesen beginnen; das sechste für die besseren Leser; das
siebte für diejenigen, welche Handschriften lesen.“83 Jedes Individuum
ist also „in eine Zeitreihe eingespannt, die sein Niveau und seinen Rang
definiert“.84
Während man anfängt, die Zeit durch Verleihung von Rängen zu
akkumulieren und auszunutzen, versucht man gleichzeitig, Abweichungen ebenfalls durch die Verleihung und Zurücksetzung von Rängen und
Plätzen zu reduzieren und zu korrigieren. Die Anordnung nach Rängen
hat insoweit eine normierende Wirkung, als dass irgendeine Abweichung
von der Regel eine entsprechende Strafe nach sich zieht. Im Gegensatz
dazu wird ein korrektes Verhalten durch Ehrenverleihung oder Klassenaufstieg belohnt.85 Dadurch werden die Menschen, die sich in der Disziplinarinstitution befinden und durch den allgegenwärtigen Disziplinarblick überwacht werden, verglichen, differenziert, hierarchisiert, homogenisiert und bei Abweichung ausgeschlossen. Dieses lückenlose Sanktionssystem, das alle Punkte und alle Augenblicke der Disziplinaranstalten
erfasst und kontrolliert, wirkt also „normend, normierend und normalisierend“.86 Die Disziplinartechniken dienen nichts anderem als der Normalisierung.87
82
83
84
85
86
87
44
ÜS, S. 206.
ÜS, S. 205f.
ÜS, S. 205.
Vgl. ÜS, S. 232-235.
ÜS, S. 236.
Vgl. Fink-Eitel (Fn.41), S. 77.
III. Die individualisierende Prüfung
Das dritte Instrument, das nach Foucault die Technik der überwachenden Hierarchie mit derjenigen der normierenden Sanktion kombiniert,
ist die Prüfung. Die Prüfung hat nicht nur zu zeigen, ob das Individuum
das vorgeschriebene Niveau erreicht hat, sondern auch, ob es bereits fähig
ist, seine Kräfte kombinatorisch zusammenzusetzen.88 Demzufolge hat
die Prüfung nach Foucault drei wichtige Funktionen: Erstens macht sie
das Individuum sichtbar, zweitens dokumentierbar und drittens zu einem
als ein Fall zu behandelnden Disziplinarindividuum.89
1. Die Umkehrung der Sichtbarkeit
Laut Foucault kehrt die Prüfung zunächst „die Ökonomie der Sichtbarkeit in der Machtausübung“ um.90 Während die traditionell souveräne
Macht sich immer in politischen Ritualen sehen lässt, bleibt umgekehrt
die Disziplinarmacht durch die Prüfung im Dunkeln. Die Untertanen, die
früher etwa bei einem Fest der Marter mit ihren eigenen Augen sehen,
wie die von Verbrechen verletzte Souveränität wieder hergestellt wird,
sind die anonyme Masse. Aber in der Disziplin sind sie es nun, die gesehen werden müssen und daher im Scheinwerferlicht stehen, damit der
Zugriff der Macht gesichert bleibt.91 Die Prüfung zwingt also den Menschen die Sichtbarkeit auf und bringt sie in einen Objektivierungsmechanismus, in dem sie sich in die zu objektivierenden Gebilde verwandeln.
Die Prüfung ist insofern die „Zeremonie dieser Objektivierung“, welche
gleichsam eine neue Epoche der Disziplin gegenüber der alten der
Souveränität eröffnet.92 Dazu sagt Foucault: „Die politische Zeremonie
war immer eine überwältigende, aber geregelte Entfaltung von Macht
gewesen: ein verschwenderischer Ausdruck von Kraft; eine übermäßige,
aber codierte »Verausgabung«, aus der die Macht ihre Kraft schöpfte.
Mehr oder weniger glich sie immer dem Triumph. Das feierliche Auftreten des Souveräns hatte etwas von Weihe, Krönung und Sieg an sich. Bis
zu den Totenfeierlichkeiten gab es nichts, was sich nicht im Feuerwerk
88
89
90
91
92
Vgl. ÜS, S. 204, 209, 211f., 216, 238.
Vgl. ÜS, S. 241, 243, 246.
ÜS, S. 241.
Vgl. ÜS, S. 64f., 74-76, 238, 241; MM, S. 122.
Vgl. ÜS, S. 242.
45
der Machtentfaltung abspielte. Ein ganz anderer Typ von Zeremonie entspricht der Disziplin: nicht die übermächtige Sichtbarkeit des Triumphes,
sondern die Übersichtlichkeit der Parade. In dieser prunkvollen Spielart
der Prüfung werden die »Subjekte« als Objekte einer Macht zur Beobachtung vorgeführt, die sich nur durch ihren Blick kundtut. Sie empfangen nicht direkt das Bild der souveränen Macht, sondern bringen deren
Wirkungen nur in ihren genau lesbar und gelehrig gewordenen Körpern
zur Geltung.“93
2. Die Dokumentierbarmachung der Individualität
Das zweite Merkmal der Prüfung ist die Dokumentierbarmachung
der Individualität. Was in den obigen Objektivierungsverfahren zu ermitteln ist, muss alles mit einer zu speichernden Form von Dokumenten fixiert und in „ein Netz des Schreibens und der Schrift“ transformiert werden, damit man auf Register jederzeit zurückgreifen und über das Fortschreiten des Geprüften urteilen kann.94 Durch die ausführliche Registrierung werden in der Tat nicht nur die dem Individuum eigenen besonderen Züge und Entwicklungsphasen vermerkt und gespeichert. In diesen
vielfältigen individuellen Daten und Archiven verstecken sich darüber
hinaus zugleich die fruchtbaren globalen Informationen bezüglich der
Bevölkerung, welche erst weiter durch die subtilen Aufzeichnungs- und
Dokumentationsmethoden wie etwa die Klassifizierung, Kategorienbildung, Durchschnittsermittlung und Normenfixierung entschlüsselt werden.95
In diesen Dokumentationsmethoden sind die Techniken der Statistik
und der Tabellierung ganz besonders eindrucksvoll.96 Die Statistik ist
93
94
95
96
46
ÜS, S. 242.
Vgl. ÜS, S. 243f.
Nach Foucault waren besonders die Spitäler des 18. Jahrhunderts große Laboratorien für die Aufzeichnungs- und Dokumentationsmethoden, zum Beispiel „die
Führung der Register, ihre Spezialisierung sowie ihre Übertragung aufeinander,
ihr Zirkulieren während der Visiten, ihre gegenseitige Konfrontierung im Lauf
regelmäßiger Sitzungen der Ärzte und Verwalter, die Weiterleitung ihrer Daten an
zentrale Stellen [...], die Buchführung über die Krankheiten, die Heilungen und
die Todesfälle innerhalb eines Spitals oder einer Stadt oder gar der gesamten Nation“. „All das bildet den Prozess, in dem die Spitäler dem Disziplinarsystem unterworfen worden sind.“ ÜS, S. 245.
Außerdem ist das spätere Aufkommen des Karteisystems mit Einzelblättern auffällig, das ab 1833 nach dem Vorbild der „Naturforscher, der Bibliothekare, der
Händler, der Geschäftsleute“ im Bereich der Strafjustiz eingeführt wurde. Mit
nichts anderes als die Technik des Entzifferns. Seit dem Zeitalter der
Staatsräson ist die Statistik nach Foucault das effektive Instrument geworden, den tatsächlichen Bevölkerungszustand und die übrigen Informationen über die Größe und die Ressourcen eines Landes zu ermitteln.
Erst durch die Statistik wird ein kollektives Wissen über die Bevölkerung,
ihre Arbeitskräfte bzw. die Stärke eines Staates eingerichtet. Dementsprechend gilt die Statistik nach Foucault eher als „die politische Arithmetik“.97 Die Technik der Tabellierung oder des Tableaus ist ebenfalls
wie die Statistik ein Wissensverfahren, welches nach Foucault zu den
großen Problemen der wissenschaftlichen, politischen und ökonomischen
Technologie des 18. Jahrhunderts gehörte und in den verschiedenen Bereichen verwandt wurde.98 Bei dieser Tabellierungstechnik geht es vor
allem um die Transformation der unübersichtlichen, unnützen und gefährlichen Mengen in geordnete Vielheiten, das heißt um „die Organisation des Vielfältigen, das überschaut und gemeistert, dem eine »Ordnung«
verliehen werden muss“.99
Mit der eigenartigen „Schriftmacht“ und der entsprechenden subtilen
Dokumentationstechniken führt die Prüfung nach Foucault also zwei miteinander zusammenhängende Mechanismen der Registrierungen: Einerseits konstituiert sich ein individuelles Archivsystem, in dem das Individuum zum beschreibbaren, analysierbaren Gegenstand wird und alle ermittelten individuellen Ergebnisse von der eigenen gewöhnlichen Verhaltensweise bis zum winzigen Übel der alltäglichen Lebensführung regist-
97
98
99
diesem Karteisystem lassen sich neue Daten und zu jedem gesuchten Individuum
gehörige Informationen leicht einbauen. Vgl. ÜS, S. 362f.
Vgl. PTI, S. 175; StW, S. 33, 38; Gouv, S. 56. Vgl. Rassem (Fn.34), S. 223-227.
Eines der bekannten Beispiele dieser Tabellierungstechnik im Bereich der Wirtschaftstheorie ist das „Tableau économique“ von François Quesnay. Danach wird
der Wirtschaftsprozess in Analogie zum Blutkreislauf auch als ein Kreislauf betrachtet. Das heißt: Der Kreislauf der Waren und des Geldes wird in Form eines
ökonomischen Tableaus beobachtet, kontrolliert und reguliert, damit das Wirtschaftswachstum gesichert wird. Vgl. Karl-Heinz Schmidt, Merkantilismus, Kameralismus, Physiokratie, in: Otmar Issing (Hrsg.), Geschichte der Nationalökonomie, 3. Aufl., München 1994, S. 50-55. Außerdem kann man den Gebrauch des
Tableaus auch in verschiedenen Bereichen finden. Diese sind zum Beispiel die
„Anlegung der Pflanzen- und Tiergärten und gleichzeitig rationale Klassifizierung der Lebewesen“, die „Inspektion der Menschen, Feststellung ihrer Anwesenheit und Abwesenheit und Aufstellung eines allgemeinen und beständigen
Registers der bewaffneten Kräfte“, die „Aufteilung der Kranken und ihre Absonderung voneinander, sorgfältige Absichtung des Spitalraums und systematische
Klassifizierung der Krankheiten“. ÜS, S. 190.
ÜS, S. 190.
47
riert, verschlüsselt und gesammelt werden; andererseits baut sich ein Vergleichssystem auf, in dem kollektive Informationen zu erfassen sind,
nicht nur die biologischen Konstanten und Variationen der Bevölkerung
wie Geburtenrate, Sterblichkeit, Lebensdauer, Fruchtbarkeit, Gesundheitszustand, Krankheitshäufigkeit und Ernährungsweise, sondern auch
die globalen ökonomischen Phänomene wie die Arbeitsfähigkeit der Bevölkerung, die Arbeitslosigkeit, die Lebensmittelknappheit usw.100
Durch diese subtilen Mechanismen der Registrierung und ihre ermittelnden Dokumentationstechniken lässt sich nicht nur der Zugriff der
Disziplinarmacht auf „das Gewöhnliche des Lebens“ möglich machen.
Ausgelöst wird zugleich auch ein ganz neuer Typ von Beziehungen zwischen „der Macht, dem Diskurs und dem Alltag“, der mit der „Diskursivierung des Alltäglichen“ bezeichnet wird.101 Demzufolge können und
dürfen „all diese Dinge, die das Gewöhnliche, das unwichtige Detail, das
Dunkle, die ruhmlosen Tage, das gemeine Leben ausmachen“, geprüft,
ermittelt, gesagt und in Dossiers und Archiven beschrieben, abgeschrieben, registriert und akkumuliert werden.102 Mit Hilfe ihrer subtilen Techniken der Registrierung ist die Disziplinarmacht in der Lage, nicht nur
den Diskurs über den zu disziplinierenden Gegenstand zu vermehren, das
heißt die Diskursivierung auszulösen, sondern auch zugleich die
Humanwissenschaften wie Medizin, Psychiatrie, Kriminologie und den
„Wille[n] zum Wissen“ zu begründen.103 Dazu sagt Foucault:
100
101
102
103
48
Vgl. ÜS, S. 245.
LiM, S. 29f.
Vgl. LiM, S. 35f.
Nicht nur die Humanwissenschaften werden durch die Disziplinarschrifttechniken
begründet. Nach Foucault entsteht zugleich „eine Kunst des Sprechens“, deren
Aufgaben nicht mehr sind, vom Unwahrscheinlichen wie „das Heldentum“, „die
Großtat“, „die Abenteuer“, „die Vorsehung und die Gnade“ zu singen, sondern
das erscheinen zu lassen, „was nicht erscheint – nicht erscheinen kann oder darf:
die letzten und unscheinbarsten Stufen des Wirklichen zu sagen“. Demnach sollte
die Literatur ihre zeremoniellen Funktionen allmählich umgehen und erneut danach suchen, „was am schwierigsten wahrzunehmen ist, was am tiefsten verborgen ist, was am unbequemsten zu sagen und zu zeigen ist, schließlich was am
meisten untersagt und anstößig ist“. LiM, S. 44-46. Diese neue Aufgabe der Literatur sollte weiter mit der Funktion der höfischen Tragödie zusammengenommen betrachtet werden. Denn „[m]an darf nicht vergessen, dass im 17. Jahrhundert und nicht nur in Frankreich die Tragödie eine der großen rituellen Formen
war, in welcher sich das öffentliche Recht kundtat und die Probleme erörtert
wurden. Die »historischen« Tragödien Shakespeares sind Tragödien des Rechts
und des Königs, die wesentlich um das Problem der Usurpation und des Niedergangs, der Ermordung der Könige und um die Geburt eines neuen Wissens krei-
„Man muss sich bei jenen Aufzeichnungs- und Registrierungsverfahren, bei den Überprüfungsmechanismen, bei der Formierung der Disziplinaranlagen und bei der Herausbildung eines neuen Typs von Macht
über die Körper umsehen. Die Geburt der Wissenschaften vom Menschen
hat sich wohl in jenen ruhmlosen Archiven zugetragen, in denen das moderne System der Zwänge gegen die Körper, die Gesten, die Verhaltensweisen erarbeitet worden ist.“104
Davon ausgehend sind zum Beispiel „die Diskursivierung des Sexes“ und die Begründung der „Wissenschaft von der Sexualität“ zu erklären.105 Im Gegensatz zur sogenannten „Repressionshypothese“, die
behauptet, dass der Diskurs über Sex lange Zeit unterdrückt würde,
nimmt Foucault an: „Das Wesentliche aber ist die Vermehrung der Diskurse über den Sex, die im Wirkungsbereich der Macht selbst stattfindet:
institutioneller Anreiz, über den Sex zu sprechen, und zwar immer mehr
darüber zu sprechen; von ihm sprechen zu hören und ihn zu Sprechen zu
bringen in ausführlicher Erörterung und endloser Detailanhäufung.“ „Alle
diese negativen Elemente – Verbote, Verweigerungen, Zensuren, Verneinungen –, die die Repressionshypothese in einem großen zentralen Mechanismus zusammenfasst, der auf Verneinung zielt, sind zweifellos nur
Stücke, die eine lokale und taktische Rolle in einer Diskursstrategie zu
spielen haben: in einer Machttechnik und in einem Willen zum Wissen,
die sich keineswegs auf Repression reduzieren lassen.“ Demnach behauptet Foucault, „dass seit Ende des 16. Jahrhunderts die »Diskursivierung« des Sexes nicht einem Restriktionsprozess, sondern im Gegenteil
einem Mechanismus zunehmenden Anreizes unterworfen gewesen ist;
dass die auf den Sex wirkenden Machttechniken nicht einem Prinzip
strenger Selektion, sondern einem Prinzip der Ausstreuung und der Einpflanzung polymorpher Sexualitäten gehorcht haben und dass der Wille
104
105
sen, wie es die Krönung eines Königs hervorbringt. [...] Mir scheint, dass es eine
grundlegende und entscheidende Zusammengehörigkeit von Tragödie und Recht,
von Tragödie und öffentlichem Recht gibt, genau wie es wahrscheinlich eine entscheidende Zusammengehörigkeit von Roman und Normproblemen gibt. Tragödie und Recht, Roman und Norm: Das müsste man näher betrachten.“ VG, S.
201f. Zur Frage, wie der König sich der Formen und Symbole in der Architektur
des Hofes, beim Zeremoniell, beim Ritual, im Roman und in anderen Kunstwerken bedient, um seine politische Macht zu konsolidieren, siehe etwa Wolfgang
Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999, S. 80-100.
ÜS, S. 246.
Bezüglich des Aufkommens der Kriminologie siehe ÜS, S. 319-327.
49
zum Wissen nicht vor einem unaufhebbaren Tabu haltgemacht, sondern
sich vielmehr eifrigst bemüht hat – sei es auch durch viel Irrtümer hindurch – eine Wissenschaft von der Sexualität zu konstituieren.“106
3. Die Produktion des Disziplinarindividuums durch die Fallforschung
Schließlich wird das Individuum nach Foucault in den Prüfungsverfahren als ein „Fall“ behandelt, der zugleich „Gegenstand für eine Erkenntnis“ und „Zielscheibe für eine Macht“ ist. Demgemäss wird das Individuum sowohl zu einem vergegenständlichten Objekt, das beschrieben,
abgeschätzt, gemessen, mit anderen und sogar mit ihm selbst verglichen
wird, als auch zu einem sich der Disziplinarmacht unterwerfenden Subjekt, das dressiert, korrigiert, klassifiziert, normalisiert und schließlich
ausgeschlossen wird. Foucault zufolge werden das Kind, der Kranke, der
Wahnsinnige, der Verurteilte seit dem 18. Jahrhundert ständig fallweise
zum „Gegenstand individueller Beschreibungen und biologischer Berichte“ gemacht. Jedem der Beobachteten wird in der ihn einfangenden Fallforschung seine eigene Individualität als Stand zugewiesen, „in der er auf
die ihn charakterisierenden Eigenschaften, Maße, Abstände und »Noten«
festgelegt wird“.107
Die von Foucault herausgegebene Studie über den Fall Pierre Rivière,
der wegen Mutter- und Geschwistermordes im Jahr 1835 zum Tode verurteilt, später zu lebenslanger Haft begnadigt worden war und sich
schließlich im Gefängnis 1840 erhing, gilt als ein Versuch Foucaults, das
Verhältnis zwischen Macht, Wissen und Wahrheit mittels der Dokumente
darzustellen. Denn in Foucaults Augen erlauben Dokumente wie die über
den Fall Rivière, „die Bildung und den Fluss eines Wissens (wie das
Wissen der Medizin, der Psychiatrie, der Psychopathologie) in ihren Beziehungen mit den Institutionen und den Rollen, die dort gespielt werden
müssen (Gericht, Gutachter, Angeklagter, Krimineller/Wahnsinniger
usw.), zu analysieren“. Die Dokumente ermöglichen zugleich „eine Aufschlüsselung der Macht-, Herrschafts- und Kampfverhältnisse, in deren
Rahmen sich die Diskurse abspielen“, und „eine Analyse des Diskurses
(und sogar wissenschaftlicher Diskurse), die zugleich Tatsachenanalyse
und politische, also strategische, Analyse ist“. „Schließlich lässt sich an
diesem Beispiel die Verwirrung ermessen, die ein Diskurs wie der Rivi106
107
50
WW, S. 28, 22f.
ÜS, S. 246f.
ères stiftet; es lassen sich all die Taktiken aufzeigen, mit denen man versucht, ihn zuzuschütten, ihn einzuordnen, ihn als Diskurs eines Wahnsinnigen oder eines Kriminellen zu qualifizieren.“108
Mit Hilfe dieser Fallforschung entwickelt sich die Prüfung also zu
einer individualisierenden Technik, welche nicht nur die „klinischen“ Wissenschaften vom Menschen konsolidiert, in denen das Individuum als Effekt und Objekt von Wissen konstituiert wird, sondern auch
das zu erkennende Individuum in ein zu disziplinierendes transformiert,
das hierbei eher als Effekt und Objekt von Macht konstituiert wird.109
Dieses gleichzeitig zu erkennende und zu disziplinierende Individuum ist
in der Tat ein sich ständig in dem durch die Disziplinarmacht manipulierten Objektivierungsprozess konstituierendes Subjekt. In Wirklichkeit lässt
sich also kein Subjekt jenseits der Machtbeziehungen voraussetzen.110
Demnach steht die Prüfung in Foucaults Augen im Zentrum der gesamten
Disziplinarprozeduren111, die sich nicht mehr für das Verfahren der „aufsteigenden“ Individualisierung interessieren, welches stets auf das Herrschaftszentrum der Souveränität gerichtet ist, sondern im Gegenteil versuchen, ein anderes der „absteigenden“ Individualisierung zu bilden,
welches nach dem Übelsten, Geheimsten, Unerträglichsten und Unverschämtesten sucht.112 Während letzteres vermittels Überwachungen, Beobachtungen und vergleichenden Messungen aus dem Gewöhnlichen,
dem winzigen Detail des alltäglichen Lebens ein „Disziplinarindividuum“ macht, das inhaltlich weiter um die oben erwähnte zellenförmige,
organische, evolutive und kombinatorische Individualität ergänzt wird,
bleibt ersteres noch im alten Feudalsystem verhaftet und hört niemals auf,
108
109
110
111
112
Einf, S. 11. In diesem Buch werden die Dossiers bezüglich des Falls Rivière, angefangen vom Verbrechen und der Verhaftung über die Ermittlung, das Memoire
Pierre Rivières, die gerichtsmedizinischen Gutachten und den Prozess bis hin
zum Strafvollzug und seinem Tod umfangreich herausgegeben. Vgl. Einf, S.
17-201; DE II, S. 490.
Vgl. ÜS, S. 246f.
Vgl. Urs Marti, Michel Foucault, 2. Aufl., München 1999, S. 86.
Dazu sagt Foucault: „Indem sie hierarchische Überwachung und normierende
Sanktion kombiniert, erbringt die Prüfung die großen Disziplinarleistungen der
Verteilung und Klassifizierung, der maximalen Ausnutzung der Kräfte und Zeiten,
der stetigen Anhäufung und optimalen Zusammensetzung der Fähigkeiten. Also
der Herstellung der zellenförmigen, organischen, evolutiven und kombinatorischen Individualität. Die Prüfung ritualisiert jene Disziplinen, die man mit einem
Wort charakterisieren kann, indem man sagt, sie sind eine Spielart der Macht, für
die der individuelle Unterschied entscheidend ist.“ ÜS, S. 247f.
Vgl. ÜS, S. 248; LiM, S. 44f., 47.
51
Heldentaten, Mächtigkeiten, Adeligkeiten in Ritualen, Zeremonien und
Genealogien zu prägen.113 Dazu sagt Foucault: „Die Disziplinen markieren die Umkehrung der politischen Achse der Individualisierung. In den
Gesellschaften, für die das Feudalsystem nur ein Beispiel ist, erreicht die
Individualisierung ihren höchsten Grad in den höheren Bereichen der
Macht und am Ort der Souveränität. Je mehr Macht oder Vorrechte einer
innehat, um so mehr wird er durch Rituale, Diskurse oder bildliche Darstellungen als Individuum ausgeprägt. [...] Als man von den traditionell-rituellen Mechanismen der Individualisierung zu den wissenschaftlich-disziplinären Mechanismen überging, als das Normale den Platz des
Altehrwürdigen einnahm und das Maß den Platz des Standes, als die Individualität des berechenbaren Menschen die Individualität des denkwürdigen Menschen verdrängte und die Wissenschaften vom Menschen möglich wurden – da setzten sich eine neue Technologie der Macht und eine
andere politische Anatomie des Körpers durch.“114
Davon ausgehend sind das Disziplinarindividuum und das Atomindividuum, das zu disziplinierende Subjekt und das abstrakte Rechtssubjekt zu differenzieren.115 Diesem von Foucault verworfenen isolierten
Atomindividuum oder Rechtssubjekt liegt seiner Meinung nach eher der
homo oeconomicus zugrunde. Der homo oeconomicus, der von den Ökonomen frei erfunden wird, ist nach Foucault der Mensch ohne Geschichte
und Vergangenheit. Er wird allein von seinen Bedürfnissen gesteuert und
tauscht Produkte seiner Arbeit gegen andere. Folglich ist er nichts anderes als ein „Tauschhändler der Rechte und Güter“. Als Tauschhändler der
Güter konstituiert er die bürgerliche Gesellschaft, deren Natur nach sie
ein System der Bedürfnisse ist. Als Tauschhändler der Rechte verwandelt
er sich zuvor in ein Rechtssubjekt, schließt dann den Gesellschaftsvertrag
113
114
115
52
Vgl. ÜS, S. 207, 216, 248f., 291, 397; VG, S. 39f. Vgl. auch Markus Schroer, Das
Individuum der Gesellschaft. Synchrone und diachrone Theorieperspektiven,
Frankfurt a.M. 2000, S. 85-103.
ÜS, S. 248f. Im Anschluss daran sagt Foucault weiter: „[W]enn vom Mittelalter
bis heute das »Abenteuer« die Erzählung von der Individualität kennzeichnet, so
verweisen doch die Übergänge vom Epos zum Roman, von der Großtat zur heimlichen Besonderheit, von den Kämpfen zu den Phantasmen auf die Formierung
einer Disziplinargesellschaft.“ ÜS, S. 249. Entsprechend dieser Gegenstandswende ändert sich die Aufgabe der Literatur. Die Literatur ist insofern nicht mehr
auf „das Fabelhafte“, sondern vielmehr auf „das Niedrigste“, „das gänzlich Unrühmliche“ bzw. auf „das Infame“ gerichtet. Vgl. LiM, S. 45; vgl. dazu auch Fn.
103.
Vgl. Stefan Breuer, Foucaults Theorie der Disziplinargesellschaft. Eine Zwischenbilanz, in: Leviathan 15 (1987), S. 320f.
ab und verlangt deswegen eine Verfassung, in der der Staat und die Souveränität begründet werden.116 Dieses völlig von den historischen Bedingungen abstrahierte Rechtssubjekt und der von ihm abgeschlossene
abstrakte Gesellschaftsvertrag wurden zwar vom Bürgertum, das heißt
vom Dritten Stand, als ein universeller und zwar allgemeingültiger Anspruch gegenüber dem monarchischen Absolutismus und seiner Machtvollkommenheit gebraucht.117 Dies verändert aber weder das Faktum der
Fiktion des Rechtssubjekts noch die Realität der Konstituierung des Disziplinarindividuums durch die Disziplinarmacht. Daraus schließt Foucault:
„Man sagt oft, das Modell einer Gesellschaft, die wesentlich aus Individuen bestehe, sei den abstrakten Rechtsformen des Vertrags und des Tausches entlehnt. Die Warengesellschaft habe sich als eine vertragliche Vereinigung von isolierten Rechtssubjekten verstanden. Mag sein. Die politische Theorie des 17. und 18. Jahrhunderts scheint diesem Schema tatsächlich häufig zu entsprechen. Doch darf man nicht vergessen, dass es in
derselben Epoche eine Technik gab, mit deren Hilfe die Individuen als
Macht- und Wissenselemente wirklich hergestellt worden sind. Das Individuum ist zweifellos das fiktive Atom einer »ideologischen« Vorstellung
der Gesellschaft: es ist aber auch eine Realität, die von der spezifischen
Machttechnologie der »Disziplin« produziert worden ist. Man muss aufhören, die Wirkungen der Macht immer negativ zu beschreiben, als ob sie
nur »ausschließen«, »unterdrücken«, »verdrängen«, »zensieren«, »abstrahieren«, »maskieren«, »verschleiern« würde. In Wirklichkeit ist die
Macht produktiv; und sie produziert Wirkliches. Sie produziert Gegenstandsbereiche und Wahrheitsrituale: das Individuum und seine Erkenntnis
sind Ergebnisse dieser Produktion.“ 118
116
117
118
Vgl. VG, S. 225.
Im Vergleich zur Monarchie und Aristokratie hat das Bürgertum nach Foucault
weniger Interesse daran, seine politischen Projekte in die Geschichte einzubringen, weil es sich selbst als historisches Subjekt kaum vor dem Mittelalter im
Spiel der Kräfteverhältnisse wieder finden konnte. Dazu sagt er: „Wie hätte man
etwas der Ordnung des Dritten Standes oder des Bürgertums Entsprechendes finden können, solange man die Merowinger, Karolinger, die fränkische Invasion
oder sogar Karl den Großen dahingehend befragte? Daraus wird erklärlich,
warum das Bürgertum entgegen den üblichen Behauptungen im 18. Jahrhundert
gegenüber der Geschichte am zurückhaltendsten, am widerständigsten war. Die
Aristokratie war zutiefst historisch. Die Monarchie war es, die Parlamentarier
waren es ebenfalls. Aber das Bürgertum blieb lange Zeit anti-historistisch oder
anti-historisch, wenn Sie so wollen.“ VG, S. 243.
ÜS, S. 249f. Vgl. auch: „Die Rechtstheorie kannte im Grunde nur das Individuum
und die Gesellschaft: das vertragsschließende Individuum und den Gesell53
D. Die Entstehung der Disziplinargesellschaft
I. Von der institutionsimmanenten Disziplin zur gesellschaftlichen
Disziplin
Die Disziplin, die nach Foucault vor allem als Technik betrachtet
wird und dementsprechend stets auf die Fabrikation von gelehrigen und
nutzbringenden Körpern gerichtet ist, entwickelt sich zunächst innerhalb
bestimmter geschlossener Institutionen wie Schulen, Fabriken, Krankenhäuser und Kasernen, tendiert aber allmählich dazu, „sich über die Institutionen hinaus auszuweiten, sich zu »deinstitutionalisieren«, ihre geschlossenen Festungen zu verlassen und »frei« zu wirken“. 119 Diese
fortschreitende Ausweitung der Disziplinarmechanismen führt also im
Lauf des klassischen Zeitalters des 17. und 18. Jahrhunderts zur Formierung der „Disziplinargesellschaft“, innerhalb derer „ein lückenlos überwachendes und durchdringendes Netzwerk“ im ganzen Gesellschaftskörper aufzuspüren ist. In diesem Sinne gilt Benthams Konzeption vom Panopticon, welche „auf der Ebene eines einfachen und leicht zu übertragenden Mechanismus das elementare Funktionieren einer von Disziplinarmechanismen vollständig durchsetzten Gesellschaft“ programmiert120,
nicht nur als das Manifest für die Entstehung dieser Disziplinargesellschaft, sondern auch als eine Art gemeinsame Sprache, mittels derer alle
Arten von Institutionen und Mechanismen innerhalb der Gesellschaft in
Kommunikation gebracht werden. Eben wie François Ewald anführt:
„Die Disziplinargesellschaft ist eine Gesellschaft der absoluten Kommunikation; die Verbreitung der Disziplinen wird es gestatten, dass alles mit
allem – einem Spiel von unendlichen Redundanzen und Homologien folgend – kommuniziert.“121
Von der Praxis her gesehen ist die Ausweitungstendenz von der institutionsimmanenten Disziplin zur gesellschaftlichen Disziplin, das heißt
die Verallgemeinerung der Disziplinarmechanismen quer durch die Gesamtgesellschaft, von drei Aspekten her zu betrachten. Zunächst nehmen
119
120
121
54
schaftskörper, der durch den freiwilligen oder implizierten Vertrag der Individuen
konstituiert worden war. Die Disziplinen hatten es praktisch mit dem Individuum
und seinem Körper zu tun.“ VG, S. 283. Vgl. auch S. 39, 291, 391.
ÜS, S. 271.
ÜS, S. 268f.
Ewald (Fn.2), S. 165. Vgl. auch ders., Norms, Discipline, and the Law, in: Robert
Post (Hrsg.), Law and the Order of Culture, Berkeley u.a. 1991, S. 141.
die geschlossenen Disziplinarinstitutionen nach Foucault neben ihrer spezifischen inneren Disziplinarfunktion zugleich „nach außen hin eine
Überwachungsrolle“ wahr, indem sie die Zone um sich herum kontrollieren.122 Zum Beispiel hat die christliche Schule nach Foucault mit Hilfe
der Nachfrage über die Familienzustände bezüglich der Lebensweise,
Einkommensverhältnisse, Frömmigkeit und Sitten zur Überwachung der
Eltern beigetragen. Insofern bildet die Schule „winzige Gesellschaftsobservatorien“ und übt „über die Erwachsenen eine regelmäßige Kontrolle“ aus. In ähnlicher Weise gilt das Spital als „Stützpunkt“ und spielt eine
immer wichtigere Rolle für „die medizinische Überwachung der Bevölkerung“.123 Zweitens: Anstatt der geschlossenen Institutionen kann die
Funktion der gesellschaftlichen Disziplinierung nach Foucault mit Hilfe
der in der Gesellschaft verstreuten „Kontrollpunkte[...]“ in Gang gesetzt
werden. Diese Kontrollpunkte ergeben sich meistens aus privaten Initiativen, religiösen Gruppen oder aus Wohltätigkeitsvereinen. Ihre Aufgaben
sind vielfältig und nach Foucault möglicherweise „religiös (Bekehrung
und Moralisierung), wirtschaftlich (Hilfeleistung oder Anhaltung zur Arbeit), politisch (Kampf gegen Unzufriedenheit oder Aufruhr)“.124
Schließlich übernimmt auch die Organisation der zentralisierten Polizei, die lange als „der unmittelbarste Ausdruck des königlichen Absolutismus“ galt und „direkt ans Zentrum der politischen Souveränität“ angeschlossen war, die Funktion der gesellschaftlichen Disziplinierung. 125
Damit eine infinitesimale Disziplinarkontrolle gelingen kann, welche
über die ganze Gesellschaft verstreut ist, entwickelt sich die Polizeigewalt
nach Foucault zum hierarchischen Netz „einer ununterbrochenen, erschöpfenden, allgegenwärtigen Überwachung“, die imstande ist, nicht nur
alles außer sich selbst sichtbar zu machen, sondern auch jederzeit eine
detaillierte Prüfung vorzunehmen. Dabei werden die kleinsten Machtinstanzen, von „den Familien, den Werkmeistern, den Notablen, den Nachbarn, den Pfarrherrn“ über „die regelmäßig bezahlten »Beobachter«, die
tageweise entlohnten Spitzel, die für Sonderaufgaben eingesetzten Denunzianten“ bis hin zu „den Prostituierten“, überall in der Gesellschaft
postiert. Diese kleinsten Machtinstanzen sind nämlich die beweglichen
und ständig wachsamen Disziplinarblicke, von denen alles, was passiert,
122
123
124
125
Vgl. ÜS, S. 271.
ÜS, S. 271f.
ÜS, S. 272f.
Vgl. ÜS, S. 273f.
55
erfasst wird. Diese vielfältigen und fruchtbaren Beobachtungsergebnisse
werden später durch die komplexe dokumentarische Organisation der Polizei in einer Reihe von Berichten und Registern angehäuft, welche dann
schrittweise von unten nach oben weiter abgegeben und schließlich in die
Hand des Königs überreicht werden.126 Mit Hilfe der Polizei wird also
nicht nur die absolute souveräne Macht des Monarchen an jene kleinsten
in der Gesellschaft verstreuten Machtinstanzen geknüpft, sondern auch
am Ende ein „Verbindungsnetz“ gespannt, das die von den geschlossenen
Disziplinarinstitutionen offengelassenen Lücken füllt und die
nicht-disziplinierten Räume diszipliniert. So ist die Polizei zugleich das
effektive Regierungs- und Disziplinierungsinstrument des monarchischen
Absolutismus, womit das Volk „zur Ordnung und zum Gehorsam“ gebracht wird.127
Im Vergleich zu den obig dargelegten privaten Gruppen stellt die
Funktion der gesellschaftlichen Disziplinierung durch die Polizei zwar
„die Verstaatlichung der Disziplinarmechanismen“ dar. Daraus kann man
jedoch nicht schließen, „dass die Disziplinarfunktionen ein für allemal
von einem Staatsapparat konfisziert und absorbiert worden sind“. Denn
die Disziplin, wie Foucault sie uns vorstellt, wird weder mit einer Institution noch mit einem Apparat identifiziert. Sie ist genau „ein Typ von
Macht; eine Modalität der Ausübung von Gewalt; ein Komplex von Instrumenten, Techniken, Prozeduren, Einsatzebenen, Zielscheiben; sie ist
eine »Physik« oder eine »Anatomie« der Macht, eine Technologie“.128
Die Disziplin kann daher institutionsimmanent in der Schule, der Fabrik,
der Amtsverwaltung und weiterhin institutionstranszendent in der ganzen
Gesellschaft eingesetzt werden, damit bestimmte Ziele erreicht werden.
Durch diese Entwicklung von der institutionsimmanenten Disziplin zur
gesellschaftlichen Disziplin wird also nicht nur „eine infinitesimale Verteilung der Machtbeziehungen“ in der Gesellschaft gewährleistet. Dadurch verwandelt sich die Gesellschaft zugleich auch in eine Disziplinargesellschaft, in welcher der „endlos verallgemeinerungsfähige Mechanismus des Panoptismus“ ununterbrochen in Betrieb ist.129
126
127
128
129
56
Vgl. ÜS, S. 274.
ÜS, S. 276.
ÜS, S. 273, 276f.
Vgl. ÜS, S. 277.
II. Die Funktionsweise der panoptischen Disziplinargesellschaft
– im Vergleich zur Sozialdisziplinierung nach Gerhard Oestreich
Wie oben erwähnt, gilt die frühneuzeitliche Polizei zwar immer als
der unmittelbarste Ausdruck des königlichen Absolutismus und seiner
repressiven, souveränen Macht. Aber ihre inneren Organisationsprinzipien und Einsatztypen sind nur von der Technik der Disziplin her zu verstehen. Demnach ist die Einsetzung der gesellschaftlichen Disziplin nach
Foucault zur wesentlichen Aufgabe der frühneuzeitlichen Polizei geworden.130 Eigentlich ist Foucault nicht die einzige Person, die die Aufgabe
der Polizei im Zeitalter des monarchischen Absolutismus von der Disziplinierung her betrachtet. In einem für die einschlägige Diskussion mittlerweile klassisch gewordenen Artikel Strukturproblem des europäischen
Absolutismus aus dem Jahr 1968131 bemerkte Gerhard Oestreich schon
die Disziplinierungsfunktion der Polizei und prägte diesbezüglich den
Begriff der „Sozialdisziplinierung“132, um zu zeigen, dass diese das politische und soziale Ergebnis des monarchischen Absolutismus gewesen
sei.133
Nach Oestreich vollzog sich der Vorgang der Sozialdisziplinierung in
den verschiedenen Gebieten und veränderte die Grundstrukturen des politischen und gesellschaftlichen Lebens. Demzufolge nimmt Oestreich an:
„Bürokratismus, Militarismus und Merkantilismus, ziviler, militärischer
und ökonomischer Staatsdienst, bildeten gleichsam Erscheinungsformen
der Sozialdisziplinierung auf den Gebieten der Verwaltung, des Heerwesens und der Wirtschaft. Die zivilen Minister und Beamten, die Offiziere
und Soldaten, die ökonomischen Unternehmer und Handwerker, nicht
zuletzt überhaupt alle Untertanen wurden in ihrer Arbeit und ihrer Haltung diszipliniert.“134 Für Oestreich hat dieser generelle Vorgang der So130
131
132
133
134
Vgl. ÜS, S. 277.
Dieser Artikel erschien zuerst in: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 55 (1968), S. 319-347, und später in der Aufsatzsammlung Gerhard
Oestreich: Geist und Gestalt des frühmodernen Staates, Berlin 1969, S. 179-197.
Der nachfolgenden Diskussion liegt dies Aufsatzsammlung zugrunde.
Vgl. Rassen (Fn.34), S. 217. Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts
in Deutschland, Bd. 1. Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600-1800,
München 1988, S. 337.
Vgl. Oestreich (Fn.131), S. 188.
AaO, S. 191. Nach Oestreich wurde nicht nur der Mensch „in seinem Wollen und
seiner Äußerung“ diszipliniert, sondern auch die Natur „in den kunstvoll beschnittenen Hecken und Bäumen der barocken Schlossparkanlagen und Gärten“.
57
zialdisziplinierung eine tiefdringende und bedeutsame gesellschaftliche
Wirkung, welche die Umgestaltung des inneren Menschen, nämlich „die
geistig-moralische und psychologische Strukturveränderung des politischen, militärischen, wirtschaftlichen Menschen“ ist.135
Eigentlich möchte Oestreich gegenüber dem Rationalisierungsprozess von Max Weber, der die Rationalisierung als die Grundlegung der
europäischen Lebensgestaltung betrachtet, darauf hinweisen, dass eher
die Sozialdisziplinierung der „Fundamentalvorgang“, die „Grundtatsache“ und die „Leitidee“ des monarchischen Absolutismus ist.136 Nach
Oestreich wurde dieser gemeineuropäische Vorgang der Sozialdisziplinierung durch den werdenden monarchischen Absolutismus bewusst gefördert, damit dem langjährigen, durch die Glaubensspaltung ausgelösten
Misstrauen und den grausamen Auseinandersetzungen gegenüber eine
neue Über- und Unterordnung insbesondere unter dem Namen des Staates
in Gang gesetzt wurde. Diese neue staatliche Ordnung, nach welcher die
Sozialdisziplinierung ununterbrochen strebt, richtet sich nicht mehr auf
das mittelalterliche persönliche Status-Treueverhältnis, sondern auf das
Prinzip von Befehl und Gehorsam, welches genau dem modernen Regierungsverhältnis zwischen dem Souverän und seinen Untertanen zugrunde
liegt.137
Obwohl Oestreich die Meinung vertritt, dass nicht die Rationalisierung, sondern die Sozialdisziplinierung der Fundamentalvorgang im Zeitalter des monarchischen Absolutismus ist, ist er sich hinsichtlich des Verständnisses von Disziplinierung mit Weber einig, nämlich: Man sollte die
Disziplin und die Disziplinierung vor allem vom Prinzip des Befehls und
Gehorsams her verstehen, welches auf ein Macht- oder Herrschaftszentrum zurückgeht. In direktem Zusammenhang mit den Begriffen
„Macht“ und „Herrschaft“ wird die Disziplin von Weber in seinem Buch
Wirtschaft und Gesellschaft als „die Chance“ definiert, „kraft eingeübter
Einstellung für einen Befehl prompten, automatischen und schematischen
135
136
137
58
S. 193.
AaO, S. 188. Vgl. auch Michael Prinz, Sozialdisziplinierung und Konfessionalisierung. Neuere Fragestellungen in der Sozialgeschichte der frühen Neuzeit, in:
Westfälische Forschung 42 (1992), S. 10; Winfried Schulze, Gerhard Oestreichs
Begriff „Sozialdisziplinierung in der frühen Neuzeit“, in: Zeitschrift für historische Forschung 14 (1987), S. 268.
Oestreich (Fn.131), S. 187f., 194.
Vgl. Oestreich (Fn.131), S. 188f., 195; Schulze (Fn.135), S. 266.
Gehorsam bei einer angebbaren Vielheit von Menschen zu finden“.138
Während Oestreich sich überwiegend auf die innere Motivbildung des
Menschen konzentriert, durch welche die Individuen als tugendhafte
Bürger bereit sind, dem einseitig vom Herrschaftszentrum erteilten Befehl zu gehorchen, schätzt Weber ferner die in der Disziplin implizierte
„rationale Uniformierung des Gehorsams einer Vielheit von Menschen“.
Davon ausgehend ist die Disziplinierung für Weber eher die Begleiterscheinung des Rationalisierungsprozesses, weil sie „inhaltlich nichts anderes als die konsequent rationalisierte, d.h. planvoll eingeschulte, präzise,
alle eigene Kritik bedingungslos zurückstellende, Ausführung des empfangenen Befehls und die unablässige innere Eingestelltheit ausschließlich auf diesen Zweck“ ist.139
Der überwiegend am Prinzip von Befehl und Gehorsam orientierte
Disziplinbegriff und der auf die Umgestaltung des inneren Menschen gerichtete Anspruch der Sozialdisziplinierung von Oestreich gehen in der
Tat von „einer umfassenden und tiefdringenden Definition“ der Disziplin
vom Humanisten Justus Lipsius (1547-1606) aus. Nach Oestreich ist
Lipsius derjenige, der den Disziplinbegriff mit der stoischen Lehre von
Seneca und Epiktet erneut bearbeitet und auf das Militär des ausgehenden
16. Jahrhunderts anwendet, damit sich die Soldaten mittels der
stoisch-erzieherischen Selbstdisziplin zu „Stärke und Mannheit“ entwickeln.140
An das stoische Vorbild der Selbsterhaltung und Selbstbehauptung
anschließend ist die Disziplin nach Lipsius durch vier Teile weiter abzuklären. Diese sind die Übung (exercitium), die Ordnung (ordo), der
Zwang (coerctio) und die Beispielgebung (exempla). Zu den Operationen
dieser vier Elemente sagt Oestreich: „Während Übung und Ordnung der
Stärke dienen, führt die Zucht-Selbstzucht (der zeitgenössische Übersetzer bringt „Bezwang“ von „sich bezwingen“) zur Mannheit und Tugend,
die exempla (Belohnung und Strafe) bewirkt aber beides. Die neue
Kriegsdisziplin soll zur virtù ordinata Machiavellis, zur äußeren Stärke
und inneren Kraft des Heeres, zur körperlichen und sittlichen Tüchtigkeit
138
139
140
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriss der verstehenden Soziologie,
Johannes Winckelmann (Hrsg.), 5. Aufl., Tübingen 1980, S. 28.
Aao, S. 681. Vgl. Breuer (Fn.34), S. 46f.
Vgl. Oestreich (Fn.131), S. 13f., 19f., 164. Zur stoischen Lehre von Seneca und
Epiktet siehe Gerhard Oestreich, Antiker Geist und moderner Staat bei Justus
Lipsius (1547-1606). Der Neustoizismus als politische Bewegung, Göttingen
1989, S. 61-67. Vgl. auch Breuer (Fn.34), S. 53f.
59
des einzelnen führen.“141 Diese zuerst auf die absolutistische Armee angewandte Disziplin erstreckt sich später allmählich über die ganze Gesellschaft, von der Verwaltung über die Wirtschaft bis zum alltäglichen
Leben der Bürger und führt nach Oestreich schließlich zur Entstehung des
generellen Vorgangs der Sozialdisziplinierung.
Erst in dieser sich ständig um die Tugend und Bereitschaft zur Zucht
und Ordnung, zu Gehorsam und Unterwerfung bemühenden gemeineuropäischen Bewegung der Sozialdisziplinierung sieht Oestreich nicht nur
den Trend des gesellschaftlichen Zwangs zum Selbstzwang von Elias142,
sondern auch die Notwendigkeit eines entsprechenden Rationalisierungsprozesses, durch welchen alle Angelegenheiten, ob groß oder klein, exakt
und konkret bestimmt werden. 143 Demnach spielt das von Weber
zusammengefasste Phänomen der Rationalisierung in Oestreichs Augen
nicht „die allein führende Rolle“, sondern gilt vielmehr als „ein Teilvorgang“, welcher dem Fundamentalvorgang der Sozialdisziplinierung untergeordnet ist. Dazu sagt Oestreich:
„Max Weber hat in dem Vordringen des Rationalismus der Lebensgestaltung die alles überragende Tendenz der abendländischen politischen
und gesellschaftlich-wirtschaftlichen Entwicklung gesehen. In unserem
Zeitabschnitt scheint mir jener Vorgang nicht die allein führende Rolle zu
spielen. Vielmehr handelt es sich hier zuerst um den großen Tatbestand
einer Disziplinierung und Subordinierung in allen Lebensbereichen. Die
Rationalisierung erscheint so als ein Teilvorgang, wenn sie auch keineswegs zu einer bloßen Randerscheinung wird. Im Vordergrund der europäischen Staats- und Menschenbildung steht die im Sinne der werdenden
politischen Gebilde und Formen geforderte Unterordnung, das Prinzip
des Gehorsams. Die Disziplinierung der Menschen – der militärischen
Führer wie Geführten, der ökonomischen Unternehmer und Handwerker,
der zivilen Minister und Beamten wie überhaupt aller Untertanen [...],
bildet eine Voraussetzung zur Disziplinierung der Institutionen und dann
141
142
143
60
Oestreich (Fn.131), S. 20, 194. Vgl. auch Breuer (Fn.34), S. 53f.
Vgl. Gerhard Oestreich, Strukturprobleme der frühen Neuzeit. Ausgewählte Aufsätze, Berlin 1980, S. 377. Trotzdem muss man auf folgendes
achten: Während der Zivilisationsprozess vom Fremdzwang zum Selbstzwang
bei Elias als unmanipulierbar betrachtet wird, liegt der Sozialdisziplinierung bei
Oestreich eher der epochenbewusste monarchische Absolutismus zugrunde. Vgl.
Schulze (Fn.135), S. 266; Martin Dinges, Frühneuzeitliche Armenfürsorge als
Sozialdisziplinierung? Probleme mit einem Konzept, in: Geschichte und Gesellschaft 17 (1991), S. 9.
Vgl. Oestreich (Fn.131), S. 194.
folgenden Rationalisierung. Forderungen nach Zucht der Arbeit, der
Sprache, des Gedankens im geistigen Bereich entsprechen der erstrebten
politisch-soldatischen Zucht im öffentlichen Leben. [...] Die Idee der
Disziplin steht nun im Dienste der Vereinheitlichungstendenzen, der politischen Einheitsideale der Staatsmänner des absolutistischen Zeitalters.“144
In diesem sich über die ganze Gesellschaft erstreckenden Trend der
Sozialdisziplinierung wird die Polizei, die sich im 17. und 18. Jahrhundert immer mit der guten Ordnung zur Regulierung des öffentlichen und
privaten Lebens verband, nach Oestreich genau zum vom Souverän effektiv gebrauchten Gewaltmittel, um die dem monarchischen Absolutismus unterworfenen Bürgertugenden zur Geltung zu bringen.145 Der Gedanke der guten Polizei und die Idee der Disziplin wurden in engen Zusammenhang gebracht. Der Polizei wurde daher von Oestreich weiter
eine Disziplinierungsfunktion verliehen, durch die der Mensch in seinem
Wollen und seiner Äußerung diszipliniert wurde.146
Auf den ersten Blick scheint es viele Ähnlichkeiten zwischen Foucaults Disziplinargesellschaft und Oestreichs Sozialdisziplinierung zu
geben. Aber die Art und Weise, wie sich der Prozess der gesellschaftlichen Disziplinierung vollzieht, ist der entscheidende Unterschied zwischen Foucaults Disziplinargesellschaft und Oestreichs Sozialdisziplinierung. Für Oestreich geht die Sozialdisziplinierung stets einseitig vom obrigkeitlichen Herrschaftszentrum des monarchischen Absolutismus aus
und sucht darum immer nach einer auf dem unbedingten Gehorsam beruhenden Über- und Unterordnung, welche sich auf Kosten der Freiheit
der Untertanen ergibt. In seiner kleinen Schrift Die Idee der Menschenrechte in ihrer geschichtlichen Entwicklung weist Oestreich klar darauf
hin: „Im dynastischen Absolutismus des 16. bis 18. Jahrhunderts, einem
großen Disziplinierungsprozess auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens, erreichte das Streben nach innerer Machtfülle einen ersten Höhepunkt. Alle Gewalt wurde beim Herrscher, der das Gemeinwesen verkörperte, konzentriert und in ihm vereinheitlicht; er allein galt als Quelle des
positiven Rechts und der legitimen Gewalt; die Untertanen sollten zu unbedingtem Gehorsam verpflichtet werden. Über ihr Leben und Eigentum
gebot der Staat als der alleinige Repräsentant des Gemeinwohls nach sei144
145
146
Oestreich (Fn.131), S. 236f.
Vgl. Oestreich (Fn.142), S. 367f., 370.
Vgl. Oestreich (Fn.131), S. 192f.
61
nen Gesetzen unter Zurückdrängung der Privilegien und Freiheiten.“147
Eigentlich sind dieser vom obrigkeitlichen Herrschaftszentrum der
Souveränität ausgehende Disziplinierungsprozess und die dadurch ausgelösten Polizeimaßnahmen, durch welche den Untertanen die Tugend
des unbedingten Gehorsams auferlegt wurde, auch in Foucaults früherer
Untersuchung Wahnsinn und Gesellschaft aus dem Jahr 1961 zu finden,
wo er die technologische Macht der Disziplin noch nicht erkannt hatte,
sondern nur die repressive Macht der Souveränität. In einem Gespräch im
Jahr 1977 gab Foucault zu, dass er lange „die traditionelle Konzeption der
Macht als eine[n] im wesentlichen juridischen Mechanismus“ akzeptiert
hatte, nämlich „als das, was Gesetz sagt, was untersagt, was nein sagt, mit
einer ganzen Litanei negativer Wirkungen: Ausschließung, Verwerfung,
Versperrung, Verneinungen, Verschleierungen usw.“148 In Wahnsinn und
Gesellschaft wurde diese vor allem an den negativen Wirkungen orientierte Machtkonzeption von Foucault nicht nur als Analysematrix für die
Behandlung des Wahnsinns im 17. und 18. Jahrhundert betrachtet, als die
Macht seiner Meinung nach „zweifellos gegen den Wahnsinn überwiegend mit Ausschließung“ vorgegangen ist149, sondern auch als Grundlage
der neuzeitlichen Polizeiverwaltung. Die Machtfunktion der Polizei zeigt
sich in erster Linie in den Formen der Gesetze und der Repression. Ihr
wurde der Auftrag erteilt, mittels dieser eine vollkommene „Republik des
Guten“ einzurichten, welche zugleich als Endziel der Sozialdisziplinierung von Oestreich zu betrachten ist. In dieser moralischen und tugendhaften Republik, die laut Foucault nach dem Internierungsmodell des
„Hôpital général“ mittels der bewaffneten Polizeigewalt eingerichtet
werden sollte, würde es keinen Unterschied zwischen den Rechtsgesetzen
147
148
149
62
Gerhard Oestreich, Die Idee der Menschenrechte in ihrer geschichtlichen Entwicklung, 5. Aufl., Berlin 1974, S. 14.
DM, S. 104f. Erst nachdem Foucault Anfang 1971 den „Groupe d’information sur
les prisons“ (Arbeitskreis zur Information über die Gefängnisse, G.I.P.) gebildet
und an anderen Aktivitäten gegen die Strafjustiz teilgenommen hat, scheint ihm
diese negative Machtkonzeption ungenügend zu sein. Dazu sagt er: „Der Fall der
Strafjustiz hat mich überzeugt, dass es nicht so sehr um Rechtsformen, sondern
um Technologieformen, um solche von Taktik und Strategie, geht, und die Ersetzung eines juridischen und negativen Rasters durch ein technisches und strategisches habe ich in »Überwachen und Strafen« zu bewerkstelligen versucht, um es
dann in »Sexualität und Wahrheit« zu benutzen.“ DM, S. 105. Zum Ziel und der
Tätigkeit des G.I.P. siehe DE II, S. 211ff.; MM, S. 16-22; Didier Eribon, Michel
Foucault. Eine Biographie, Frankfurt a.M. 1993, S. 318-333; Daniel Defert, Zeittafel, in: DE I, S. 56f.
DM, S. 105.
und den Moralgesetzen geben.150
In seiner Funktion oder seinem Zweck nach gehört das Hôpital
général, welches nach dem Dekret im Jahr 1656 in Paris gegründet wurde,
in Foucaults Augen zu keiner medizinischen Idee. Es ist viel eher eine
moralisch-polizeiliche Reaktionsmaßnahme gegenüber wirtschaftlichen
Problemen wie Arbeitslosigkeit und Müßiggang. Durch die autoritären
Formen des Zwangs und des Gesetzes sollte eine neue Arbeitsmoral in
Gang gesetzt werden. Für all die Armen von Paris sowohl in wie außerhalb des Hôpital général ist die Macht der Direktoren zuständig, in welcher „jede Entscheidungsgewalt über Leitung, Verwaltung, Handel, Polizei, Rechtsprechung, Bestrafung und Inhaftierung“ eingeschlossen ist. So
ist das Hôpital général „eine eigenartige Macht, die der König zwischen
der Polizei und der Justiz an den Grenzen des Gesetzes etabliert: die dritte
Gewalt der Repression“.151 In diesem Ort des Zwanges ergibt sich nach
Foucault „eine erstaunliche Synthese aus moralischer Verpflichtung und
bürgerlichem Gesetz“: Man wurde „in den Stätten der reinen Sittlichkeit“ eingeschlossen, „wo das Gesetz, das über die Herzen herrschen soll,
ohne Kompromiss, ohne Nachgiebigkeit in den strengen Formen physischen Zwanges angewandt wird“. Die Moral lässt sich daher wie der
Handel oder die Wirtschaft auch durch den Staat und die Polizei, durch
den Zwang und die Gesetze verwalten.152 Dazu sagt Foucault: „So sieht
150
151
152
Vgl. WG, S. 94-97.
Vgl. WG, S. 71-73, 80f.
Vgl. WG, S. 94. Ähnliche Beobachtungsergebnisse sind auch bei Michael Oakeshott in seiner Untersuchung von der neuzeitlichen Politik der Zuversicht zu finden. Für Oakeshott sollte die Tätigkeit des neuzeitlichen Regierens in der Politik
der Zuversicht „im Dienste der Vervollkommnung der Menschheit“ stehen.
Demnach versuchten sämtliche europäische Regierungen des 17. Jahrhunderts
„durch mehr oder weniger engmaschige Regulierungen ihren Bürgern ein
umfassendes Tätigkeitsschema aufzuzwingen“. Dieses von der Regierung
einseitig aufgezwungene Tätigkeitsschema, durch das die Vervollkommnung der
Menschheit verwirklicht werden soll, wird von Oakeshott als
„arbeitsethisch“ bezeichnet. Vgl. ders., Zuversicht und Skepsis. Zwei Prinzipien
neuzeitlicher Politik, Berlin 2000, S. 54ff., 121ff. Eigentlich sieht die von
Oakeshott angesprochene „Tätigkeit des Regierens“, welche sich von der
„Legitimation der Regierung“ unterscheiden sollte, ähnlich wie die
Thematisierung der Gouvernementalität von Foucault aus. Während die Tätigkeit
des Regierens sich beständig darum kümmert, „was soll die Aufgabe einer
Regierung sein, die in der von uns für richtig gehaltenen Weise zusammengesetzt
und autorisiert ist?“, interessiert sich die Gouvernementalität dafür „wie regiert
wird, durch wen, bis zu welchem Punkt, durch welche Methoden?“ Vgl. aaO, S.
18; Gouv, S. 42. Trotz ihrer inhaltlichen Ähnlichkeit mit Oakeshotts Untersuchung der Tätigkeit des Regierens wird die Gouvernementalität von Fou63
man unter den Institutionen der absoluten Monarchie – sogar unter denen,
die lange Zeit Symbole ihrer Willkür bleiben – die große bürgerliche Idee,
die sich bald die Republik zu eigen macht, dass die Tugend ebenfalls eine
Angelegenheit des Staates sei, dass man Dekrete erlassen könne, um sie
herrschen zu lassen, dass man eine Autorität einsetzen könne, um ihr Respekt zu verschaffen. In gewissem Sinne schließen die Mauern der Internierungshäuser das Negativ dieser moralischen Gemeinschaft ein, von der
das bürgerliche Bewusstsein im siebzehnten Jahrhundert zu träumen anfängt: eine moralische Gemeinschaft, die denen vorbehalten bleibt, die
sich von Anbeginn ihr unterwerfen, wo das Recht nur durch die Kraft unerbittlicher Stärke herrscht – eine Art Souveränität des Guten, in der nur
die Drohung triumphiert und wo die Tugend (so groß ist ihr innerer Wert)
keine andere Belohnung hat, als der Bestrafung entgangen zu sein. Im
Schatten der bürgerlichen Gemeinschaft entsteht diese eigenartige Republik des Guten, das man gewaltsam all denen auferlegt, die man verdächtigt, dem Bösen anzugehören. Das ist die Kehrseite des großen Traums
und der großen Beschäftigung des Bürgertums in der Zeit der französischen Klassik: die Gesetze des Staates und die Gesetze des Herzens endlich identisch.“153
Sowohl bei dieser moralischen Republik des Guten, die in Foucaults
früherer Arbeit Wahnsinn und Gesellschaft behandelt wurde, als auch bei
jener Sozialdisziplinierung, die nach Oestreich durch den monarchischen
Absolutismus bewusst gefördert wurde, handelt es sich um „die ursprüngliche Existenz eines Mittelpunktes“, nämlich um „die Sonne der
Souveränität“ und „die Einheit der Macht“, von welcher sich verschiedene unterstehende Formen, Aspekte, Gesetze, Zwänge, Mechanismen und
Machtinstitutionen ableiten lassen.154 Im Vergleich dazu ergibt sich nun
die Disziplinargesellschaft in Überwachen und Strafen nicht aus dem politischen Zentrum des Souveräns, sondern eher aus den in der ganzen
Gesellschaft verstreuten und besonders von unten kommenden Machtinstanzen oder Kontrollpunkten, die alle durch die Techniken der Disziplin
zusammenhängen.155 Wenngleich die Vollendung der Disziplinargesellschaft schließlich die Polizei benötigt, die sich insgesamt noch in der
153
154
155
64
Gouvernementalität von Foucault weiterhin als eigener Machttyp angesehen. Vgl.
auch (Fn.85) in Kapitel 3.
WG, S. 94f.
Vgl. WW, S. 114; VG, S. 52f.
Vgl. Breuer (Fn.34), S. 59; Brökling (Fn.34), S. 17, 20f.; Dinges (Fn.142), S. 9.
Hand des Souveräns befindet, so funktioniert sie nach Foucault doch
nicht nur in einer einzigen, vom Herrschaftszentrum ausstrahlenden
Richtung. Wie bereits im vorigen Abschnitt dargelegt, gibt es bei der
Funktionsweise des Polizeieinsatzes neben seinem direkten Anschluss an
den Königsbefehl noch eine andere, von unten kommende Einsatzrichtung, welche es erlaubt, einen ununterbrochenen, erschöpfenden, allgegenwärtigen und hierarchischen Disziplinarblick durch die überall in der
Gesellschaft postierten kleinsten Machtinstanzen einzurichten.156 Zwar
wird die Polizei noch ans Herrschaftszentrum der Souveränität angeschlossen. Aber ihre Funktionsweise hinsichtlich der Disziplinierung und
die Entstehung der Disziplinargesellschaft sind eher von den Technologieformen als von den negativ wirkenden Rechtsformen her zu verstehen.
Erst durch diese Technologieformen der Disziplin lässt sich die folgende
eindrucksvolle Schilderung der hochdifferenzierten polizeilichen Überwachung von Proudhon besser verstehen, welche Oestreich am Ende seines oben erwähnten Artikels Strukturproblem des europäischen Absolutismus zitiert: „Regiert sein, das heißt unter polizeilicher Überwachung
stehen, inspiziert, spioniert, dirigiert, mit Gesetzen überschüttet, reglementiert, eingepfercht, belehrt, bepredigt, kontrolliert, eingeschätzt, zensiert, kommandiert zu werden ..., bei jeder Handlung, bei jedem Geschäft,
bei jeder Bewegung notiert, registriert, erfasst, taxiert, gestempelt, vermessen, bewertet, versteuert, patentiert, lizensiert, autorisiert, befürwortet,
ermahnt, verhindert, reformiert, ausgerichtet, bestraft zu werden.“157
In dieser Disziplinargesellschaft, deren Disziplinarwirkung nach
Foucault vor allem von unten ausgeht, beschränkt sich die Aufgabe der
Polizeiverwaltung daher nicht mehr auf die Jagd nach „dem Gegner des
Souveräns“, der sich der Autorität einer Majestät widersetzt, oder nach
„dem Feind der Gesellschaft“, der ein allgemeines Interesse verletzt. Die
156
157
Diesbezüglich sagt Foucault: „Wichtig ist nicht […], eine Art Deduktion der
Macht vorzunehmen, die von einem Zentrum ausginge und untersuchte, wie weit
sie sich nach unten fortsetzt, in welchem Maße sie sich reproduziert, bis hin zu
den kleinsten Teilchen der Gesellschaft. Ich denke, man sollte viel eher […] eine
aufsteigende Machtanalyse vornehmen, d.h. von den unendlich kleinen Mechanismen ausgehen, die ihre eigene Geschichte, ihren eigenen Weg, ihre eigene
Technik und Taktik haben, um dann zu erforschen, wie diese Machtmechanismen,
die ihre Stabilität und in gewisser Weise ihre eigene Technologie haben, von immer allgemeineren Mechanismen und globaleren Herrschaftsformen besetzt, kolonisiert, verwendet, umgebogen, transformiert, verlagert und ausgedehnt wurden
und immer noch werden.“ VG, S. 39f.
Oestreich (Fn.131), S. 195f.
65
Polizei sucht zugleich nach der „Sub-Delinquenz“ wie „die Vergehen der
Ruhestörung, des Aufruhrs, des Ungehorsams, des schlechten Benehmens“, also nach dem „Abweichler“, der von einer Regel, einem Durchschnitt, einer Anforderung, einer Norm abweicht. 158 Gemeinsam mit
Hilfe der Relaisstation der Polizei bilden alle in der Gesellschaft angelegten Disziplinareinrichtungen für Foucault nun ein großes „Kerkernetz“,
in dem die Normalitätskontrollen über vielfältige „Normalitätsrichter“ in
der gesamten Gesellschaft durchgeführt werden. Das heißt: „Wir leben in
der Gesellschaft des Richter-Professors, des Richter-Arztes, des Richter-Pädagogen, des Richter-Sozialarbeiters; sie alle arbeiten für das Reich
des Normativen; ihm unterwirft ein jeder an dem Platz, an dem er steht,
den Körper, die Gesten, die Verhaltensweisen, die Fähigkeiten, die Leistungen. In seinen kompakten und diffusen Formen, mit seinen Eingliederungs-, Verteilungs-, Überwachungs- und Beobachtungssystemen war das
Kerkersystem in der modernen Gesellschaft das große Fundament der
Normalisierungsmacht.“159
III. Die Kolonisierung der Rechtsgesellschaft – die Herstellung sowohl
eines tugendhaften Bürgers wie auch eines Delinquenten
Die gesamte bisherige Darlegung weist darauf hin, dass sich durch
die ständig fortschreitende Ausweitung der Disziplinarmechanismen die
Gesellschaft schließlich zur Disziplinar- und Normalisierungsgesellschaft
entwickelt, in welcher die Fabrikation eines gelehrigen und tauglichen
Körpers ununterbrochen stattfindet. Selbst die sich seit dem Ende des 18.
Jahrhunderts entwickelnde Rechtsgesellschaft, die sich stets um die Einrichtung einer allgemeinen Rechtsform bemüht, in welcher die formell
egalitäre Rechtssubjektivität jedes einzelnen und die allen prinzipiell
gleich zukommenden Rechte und Freiheiten garantiert werden, ist in
Foucaults Augen diesem Netz der Disziplinarmacht nicht entkommen und
wird durch die Normalisierungsvorgänge der Disziplin kolonisiert.160
In diesem Kolonisierungsprozess ist es nach Foucault die wesentliche Aufgabe des Rechts, denjenigen, der nach außen als das egalitäre
158
159
160
66
Vgl. ÜS, S. 275, 386f.
ÜS, S. 392f.
Vgl. MaM, S. 40; VG, S. 49; WW, S. 172; ÜS, S. 295. Vgl. auch Michel Walzer,
Die einsame Politik des Michel Foucault, in: ders., Zweifel und Einmischung.
Gesellschaftskritik im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1991, S. 273f.
Rechtssubjekt behandelt wird, zu einem dem Industriekapitalismus entsprechenden bürgertugendhaften Disziplinarindividuum zu machen.
Folglich entwickelt sich der Rechtsdiskurs zu einem normalisierenden
Diskurs, der mit dem Zwang verbunden ist. Mittels der neuen Strafgesetze und -theorie erlegt der Rechtsdiskurs nicht nur allen Klassen der Gesellschaft neue Verhaltensnormen und Bürgertugenden auf, sondern
nimmt auch über die Kategorien des Legalen und des Illegalen, des
Schuldigen und des Unschuldigen weiter die Scheidung in das Normale
und das Anormale vor, um die Nicht-Disziplinierten, die Anormalen und
die Delinquenten, deren Verbrechen eher aus den Instinkten, den Trieben,
den Tendenzen heraus oder aufgrund des Charakters entstehen als aus
dem freien und bewussten Willen, durch die therapeutische Besserungsstrafe umzuformen und zu redisziplinieren. Genau aus diesem Grunde
werden die guten Bürger und die Verurteilten unter demselben normalisierenden Rechtsdiskurs behandelt.161 Dazu sagt Foucault: „Wir sind in
einen Gesellschaftstyp eingetreten, in dem die Macht des Gesetzes dabei
ist, zwar nicht zurückzugehen, aber sich in eine viel allgemeinere Macht
zu integrieren, nämlich in die der Norm. Schauen Sie, wie schwer es
heute der Strafjustiz fällt, den Akt zu vollziehen, für den sie eigentlich
geschaffen ist, nämlich ein Urteil zu fällen. Anscheinend weil die Bestrafung eines Verbrechens keinen Sinn mehr hat, setzt man den Verbrecher
immer mehr mit einem Kranken gleich, und die Verurteilung möchte als
eine therapeutische Vorschrift gelten. Das ist charakteristisch für eine
Gesellschaft, die sich von einer wesentlich am Gesetz orientierten
Rechtsgesellschaft zu einer wesentlich an der Norm ausgerichteten Gesellschaft entwickelt.“162
Die Entstehung des normierenden Rechtsdiskurses und der entsprechenden Strategie zur Umformung der Kriminellen, die besonders in den
Praxen der Strafjustiz verwendet wird, reflektiert nach Foucault den großen Kampf gegen die Gefahr einer neuen volkstümlichen Gesetzeswidrigkeit, wobei die Spannweite von den Verweigerungen der Steuer, der
Wehrpflicht und der Grundlasten über die Plünderungen von Geschäftsoder Lagerhäusern bis zur Gründung von Arbeitervereinen reicht. Diese
volkstümliche Gesetzeswidrigkeit wurde laut Foucault zwischen 1789
und 1848 meistens von den Bauern und Arbeitern begangen, um sich gegen politische Regime, gegen die Industrialisierung und gegen die wirt161
162
Vgl. Ewald (Fn.2), S. 169.
MM, S. 84.
67
schaftlichen Krisen zu wenden.163 Gegenüber diesen Massengesetzwidrigkeiten entstand damals „die Utopie einer allgemein und öffentlich
strafenden Gesellschaft, in der ständig in Betrieb befindliche Strafmechanismen ohne Verzug, ohne Vermittelung und ohne Ungewissheit arbeiten
sollten“. Demnach müsse ein Gesetz gegeben sein, das nicht nur alle
rechtswidrigen Tätigkeiten von vornherein berechnen und blockieren
könnte, sondern auch im Bewusstsein eines jeden Bürgers verwurzelt sein
sollte.164 Strategisch betrachtet bedarf die Überwindung dieser volkstümlichen Massengesetzwidrigkeiten somit sowohl einer Reihe neuer Bürgertugenden, die zur Stabilisierung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft beitragen können, als auch eines Gefängnisses, welches nach
dem panoptisch-architektonischen Programm eingerichtet werden sollte,
damit die fortschreitende Besserung jedes Häftlings durch die ununterbrochene Überwachung und Beobachtung erreicht wird.
Nach Foucault fordern jene neuen Bürgertugenden, die allen Klassen
der Gesellschaften (besonders den armen Klassen) durch den zwingenden
Rechtsdiskurs auferlegt werden sollten, zunächst eine Reihe von ökonomischen Disziplinen wie die Rechtschaffenheit, die Genauigkeit, die
Sparsamkeit, die Arbeitsgehorsamkeit, den absoluten Respekt des Eigentums165 und dann eine an die Stelle der Gewohnheitsrechte tretende und
wesentlich an dem Strafrechtssystem ausgerichtete „Grundgesetzlichkeit“166, welche meiner Meinung nach durch die rechtlichen Disziplinen
wie die Rechtskonformität und die Rechtstreue weiter abzuklären ist.167
Während die Rechtskonformität bloß eine zumindest äußerliche Übereinstimmung des Verhaltens mit den gegebenen Rechtspflichten fordert,
stellt die Rechtstreue im Gegenteil die innere Bereitschaft zur Rechtskonformität dar. Man entscheidet, sich rechtskonform zu verhalten, vielleicht, weil man damit Profit erzielen kann oder glücklicher leben will,
oder einfacher, weil man Angst vor Bestrafung hat. Folglich stellt die
Rechtskonformität nur eine negative Rechtsbürgertugend dar, die durch
den äußerlichen Rechtszwang gefordert werden kann. Im Vergleich dazu
wird die Rechtstreue eher als eine positive Rechtsbürgertugend angesehen,
weil sie zugleich den aus der Pflicht entstehenden Bewegungsgrund für
163
164
165
166
167
68
Vgl. ÜS, S. 351-354.
Vgl. ÜS, S. 351.
Vgl. MM, S. 73; ÜS, S. 368.
Vgl. ÜS, S. 368.
Zur Rechtskonformität und Rechtstreue siehe etwa Otfried Höffe, Demokratisierung im Zeitalter der Globalisierung, München 1999, S. 196f.
ein rechtskonformes Handeln verlangt. Eigentlich steht die Rechtstreue
im engen Zusammenhang mit der Anerkennung des Rechts. Wenn man
keine Zweifel an der Geltung oder der Legitimität des Rechts hat, ist man
eher bereit, sich rechtskonform zu verhalten.168 Deshalb gilt die Rechtstreue als nichts anderes als die ideale Bürgertugend, die der normalisierende Rechtsdiskurs von der Allgemeinheit mit aller Kraft fordern möchte. In diesem Sinne ist die in der heutigen Strafrechtslehre erwähnte positive Generalprävention die rechtliche Disziplinartechnik, welche imstande ist, diese Rechtstreue ins Volksbewusstsein einzupflanzen.169
Es ist zwar sowohl vom ökonomischen wie vom politischen Standpunkt her sehr wichtig, alle Schichten der Gesellschaft zu disziplinieren
und zu „moralisieren“, indem ihnen die oben dargelegten ökonomischen
und rechtlichen Bürgertugenden mittels des zwingenden normalisierenden Rechtsdiskurses auferlegt werden. 170 Aber nach Foucault ist es
ebenfalls wichtig, „eine eindeutig negative Haltung gegenüber den Gesetzwidrigkeiten“ im Herz des Volkes einzurichten. Erst dadurch wurde
„ein Delinquentenmilieu“ geschaffen, „das ohne wirkliche Kommunikation mit den Volksschichten war und von ihnen kaum geduldet wurde und
das aufgrund dieser Isolierung von der Polizei leicht durchsetzt werden
konnte“.171 Alles, was in diesem Delinquentenmilieu sowohl als Rechtswidrigkeit als auch als geringere Verhaltensstörung passiert, wird nicht
nur von den Bürgern angezeigt, sondern auch mittels der durch die Polizei hierarchisch organisierten und überall in der Gesellschaft eingesetzten
kleinsten Disziplinarblickinstanzen wie den Denunzianten und den Spitzeln erfasst. Parallel zu diesem von der Gesellschaft isolierten und durch
die Polizei leicht zu kontrollierenden Delinquentenmilieu ergibt sich
dementsprechend eine spezialisierte Disziplinarinstitution, welche vor
168
169
170
171
Vgl. aaO, S. 197.
Vgl. Claus Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil. Bd. 1. Grundlagen. Der Aufbau
der Verbrechenslehre, 3. Aufl., München 1997, §3, Rn. 26.
Vgl. ÜS, S. 368.
Vgl. MM, S. 73; ÜS, S. 368. Nach Foucault gab es bis zum 18. Jahrhundert noch
nicht die Feindseligkeit zwischen der Bevölkerung und den Delinquenten. Bis
dahin wurden zum Beispiel die Diebereien und Betrügereien vom Volk toleriert.
Außerdem gab es mehr und mehr eine Delikttypenverschiebung, nämlich: „Die
Eigentumsdelikte scheinen die Gewaltverbrechen abzulösen. Diebstahl und Betrug verdrängten Mord, Körperverletzung und Handgreiflichkeiten.“ Diese
Gesetzwidrigkeiten wurden schließlich so gefährlich, dass sie der Entwicklung
des Industriekapitalismus und dem Leben in der Stadt hohe Ausfälle und Kosten
verursachten. Vgl. MM, S. 72f.; ÜS, S. 96, 99.
69
allem mittels der Freiheitsberaubung und der Disziplinartechniken auf die
Umformung der nicht-disziplinierten, rechtsbrechenden Individuen gerichtet ist. Diese die positive, technische Rolle spielende, spezialisierte
Disziplinarinstitution ist das Gefängnis, das „eine legale Haft mit dem
Zweck der Besserung bzw. ein Unternehmen zur Veränderung von Individuen“ bedeutet.172
Nach Foucault bedient sich das Unternehmen zur Transformation der
Individuen im Gefängnis dreier unterschiedlicher Modelle, nämlich des
„politisch-moralischen Modell[s] der individuellen Isolierung und der
Hierarchie“, des „ökonomischen Modell[s] der zu Zwangsarbeit eingesetzten Kraft“ und des „technisch-medizinischen Modell[s] der Heilung
und der Normalisierung“.173 So sollte das Gefängnis „ein erschöpfender
Disziplinarapparat“ sein und als „eine Gesamtdisziplin“ gelten, durch die
sämtliche Aspekte des Gefangenen angefangen von seiner physischen
Dressur, seiner Arbeitseignung über sein alltägliches Verhalten, seine
moralische Einstellung, seine Anlagen bis hin zu seiner Besserung und
Heilung erfasst werden.174 Eigentlich hätte dieses vielseitige Programm
des Gefängnisses die Massengesetzwidrigkeiten verhindern sollen. Tatsächlich werde aber, so Foucault, die Kriminalität nicht durch die Einrichtung der Gefängnisse vermindert. Die Zahl der Verbrechen und der
Verbrecher bleibe im Gegenteil stabil oder steige sogar. Darüber hinaus
werde der Rückfall zugleich durch die Haft gefördert.175
Dieses Versagen des Gefängnisses ist nach Foucault auf unterschiedliche Ursachen zurückzuführen. Zum Beispiel erlernen die Häftlinge in
dem widernatürlichen und die Freiheit entziehenden Gefängnis in Wirklichkeit weder das Gewissen noch die tiefe Unterwerfung, obwohl manche Reformer seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts davon träumten, dass
die Gefangenen durch die isolierte Haft gezwungen würden, auf ihr Gewissen zu hören, und dadurch ein neues sittliches Leben führen könnten.
Was die Gefangenen tatsächlich spüren, ist nach Foucault vielmehr das
zunehmende Gefühl der Ungerechtigkeit, das sich aus dem Machtmiss172
173
174
175
70
ÜS, S. 297. Diese an der Umformung der Häftlinge ausgerichtete Besserungsstrafe ist später durch die Theorie der Spezialprävention abzuklären. Vgl. Roxin (Fn.
169), §3, Rn. 11-15.
ÜS, S. 318. Für die ausführliche Erklärung darüber siehe ÜS, S. 302-318. Zum
„technisch-medizinischen Modell der Heilung und der Normalisierung“ siehe
außerdem MM, S. 84; Flive, S. 246, 417.
Vgl. ÜS, S. 301.
Vgl. ÜS, S. 341f.
brauch durch die willkürliche Verwaltung und die Wächter ergibt, die im
Prinzip aus entlassenen Soldaten und Männern ohne Bildung und ohne
Einsicht in ihren Dienst bestehen. Die Häftlinge befinden sich sozusagen
in einer Welt, welche nicht nur von Korruption, sondern auch von heimlichen Assoziationen durchdrungen ist. Durch die Korruption der Aufseher wird die Sicherheit des Häftlings gewährleistet; durch die heimliche
Assoziation entwickelt sich die Organisation eines solidarischen und hierarchischen Delinquentenmilieus, was zu künftigen Komplizenschaften
beitragen kann. Davon ausgehend kann das Gefängnis gar nicht anders,
wie Foucault es sieht, als Delinquenten zu fabrizieren. Es sind also die
„Kasernen des Verbrechens“, in denen die „Armee der Delinquenten“ beständig im Training ist.176
Sehr bald wurde das Versagen des Gefängnisses in bezug auf den
Kampf gegen die Kriminalität (Fortbestand der Kriminalität, Rückfälligkeit, Umwandlung des Gelegenheitstäters in einen Gewohnheitsdelinquenten, Organisation eines geschlossenen Delinquentenmilieus etc.) als
„eine große Niederlage der Strafjustiz“ bezeichnet. 177 Es gibt immer
wieder den Versuch, diesen Misserfolg des Gefängnisses zu korrigieren
und die Strafvollzugstechniken zu verbessern. Daraus ergeben sich „die
sieben Universalmaximen des angemessenen Strafvollzugs“, die nach
Foucault seit beinahe 150 Jahren die Grundprinzipien jeder Gefängnisreform darstellen. Sie sind das Prinzip der Besserung, der Klassifikation,
der Flexibilität der Strafen, der Arbeit als Pflicht und als Recht, der Besserungsstrafe als Erziehung, der technischen Kontrolle der Haft und der
Anschlussinstitutionen. 178 Diese ideale Vervielfältigung der Strafvollzugsreform führt in Foucaults Augen jedoch nicht zur Verbesserung des
Gefängnisses. 179 Die „verkehrte Wirkung“ des Gefängnisses, nämlich
„die tatsächliche Aufrechterhaltung oder gar Verstärkung einer Krimina176
177
178
179
Vgl. ÜS, S. 298, 302-307, 342-344; MM, S. 49.
Vgl. ÜS, S. 340.
Vgl. ÜS, S. 346-348.
Diese seit den letzten 150 Jahren immer wiederholte ideale Strafvollzugsreform
gilt in Foucaults Augen als »idle chatter«. Dazu meint er: „I have the impression
that the difficulties and contradictions that penal practice has experienced over
the last two centuries have never been deeply re-examined. And now, one hundred and fifty years later, the same notions, the same themes, as if nothing had
changed, and in a sense, indeed nothing has. From the moment when an institution presents so many drawbacks, arouses so much criticism, and can only give
rise to the indefinite repetition of the same discourse, »idle chatter« is a serious
symptom.“ Flive, S. 425.
71
lität, die eigentlich durch das Gefängnis beseitigt werden sollte“, bleibt
nach Foucault immer noch bestehen und gehört schließlich sogar zur
Komponente eines komplexen „Kerkersystems“, das zugleich die utopische Verdopplung der ständigen Strafvollzugsreform und die zwei anderen Elemente der Übermacht und des angeschlossenen Wissens mit einschließt. Nach dem Prinzip des angeschlossenen Wissens wird eine Gegenständlichkeit, eine Technik und eine Rationalität des Strafvollzugs
hergestellt; nach dem Prinzip der Übermacht wird das Gefängnis als ein
Disziplinarapparat mit Mauern, Personal, Reglementierungen und Gewaltsamkeit eingerichtet.180
Genau in diesem komplexen Kerkersystem sieht Foucault eine „allgemeine Ökonomie der Gesetzwidrigkeiten“, das heißt „die Verwaltung
der Gesetzwidrigkeiten“.181 Demnach sollte nach Foucault das Gefängnis
weniger diejenigen gefügig machen, die Gesetze überschreiten, als die
Überschreitung der Gesetze in einer allgemeiner Taktik der Unterwerfung
zweckmäßig organisieren, damit die Gesetzwidrigkeiten effektiv bewirtschaftet werden. In diesem Sinne ist die Gesetzwidrigkeit für Foucault
weder „Missgeschick“ noch „mehr oder weniger vermeidbare Unvollkommenheit“. Sie ist vielmehr „ein absolut positives gesellschaftliches
Funktionselement, dessen Rolle in der Gesamtstrategie der Gesellschaft
vorgesehen ist“.182 Demzufolge sind das Gefängnis und überhaupt die
Strafmittel in Foucaults Augen nicht dazu bestimmt, Straftaten zu unterdrücken, sondern sie zu differenzieren, zu ordnen und nutzbar zu machen.183 Die oben bereits erwähnte Delinquenz, die durch das Gefängnis
180
181
182
183
72
Vgl. ÜS, S. 349. Dazu sagt Foucault: „Es ist also nicht so, als wären die Einführung des Gefängnisses, seine »Niederlage« und seine mehr oder weniger gelungene Reform drei aufeinanderfolgende Phasen. Vielmehr handelt es sich um ein
simultanes System, das sich historisch über die bloße Freiheitsberaubung gelegt
hat.“ Dieses komplexe System, nämlich das „Kerkersystem“, wird nach Foucault
durch die bereits erwähnten vier Elemente konstituiert: dem Element der Übermacht, des angeschlossenen Wissens, der verkehrten Wirkung und der utopischen
Verdopplung. Genau aufgrund dieser vier Elemente schließt das Kerkersystem für
Foucault also „Diskurse und Architekturen, Zwangsregelungen und wissenschaftliche Thesen, wirkliche gesellschaftliche Effekte und nicht aus der Welt zu
schaffende Utopien, Programme zur Besserung der Delinquenten und Mechanismen zur Verfestigung der Delinquenz zu einem einzigen Komplex“ zusammen.
ÜS, S. 349.
Vgl. ÜS, S. 351, 364.
MM, S. 51.
Vgl. ÜS, S. 351. Dazu sagt Foucault zusammenfassend am Ende desselben Buchs:
„Die Begriffe der Unterdrückungs-, Verwerfungs-, Ausschließungs- oder Ver-
herausgehoben und organisiert wird, ist genau das effektive Instrument
zur Differenzierung, Ordnung und Kontrolle der Gesetzwidrigkeiten.184
Im Vergleich zu den über die Bevölkerung verstreuten gelegentlichen und unvorhersehbaren rechtswidrigen Praktiken und den durch
Landstreicher (Arbeitslose, Bettler und Arbeitsverweigerer) ausgelösten
unbeständigen Ausschreitungen und Plünderungen scheint nach Foucault
die Delinquenz nicht unbedingt „die intensivste und die schädlichste
Form der Gesetzwidrigkeit“ zu sein, „die darum von der Strafjustiz mit
Hilfe des Gefängnisses niedergehalten werden müsste“.185 Mittels der
Schaffung eines geschlossenen und leicht zu handhabenden Delinquentenmilieus wird die Delinquenz nicht nur zu einem Objekt der polizeilichen Überwachung.186 In Form von entlohnten und zu organisierenden
Spitzeln werden Delinquenten gleichzeitig zu einem von der Polizei bevorzugten Instrument sowohl zur ständigen Überwachung der Bevölkerung als auch zur Bewältigung und Ausbeutung der Gesetzeswidrigkeiten
(Prostitution, Waffen- und Drogenhandel etc.). 187 Genau aus diesem
Grunde würde das System Polizei/Strafjustiz/Gefängnis für Foucault die
Gesetzeswidrigkeiten nicht einfach verfolgen und unterdrücken, sondern
sie differenzieren und unter ihnen eine leicht zu kontrollierende und
nutzbare Delinquenz absondern, um am Ende einen positiven Verwal-
184
185
186
187
drängungsinstitutionen reichen folglich nicht aus, um zu beschreiben, wie sich im
Zentrum der Kerkerstadt die hinterhältigen Menschlichkeiten, die uneingestehlichen Bosheiten, die kleinlichen Listen, die sorgfältig kalkulierten Verfahren, die
Techniken, die »Wissenschaften« formieren, welche die Fabrikation des
Disziplinarindividuums gestatten. In dieser zentralen und zentralisierten
Humanität, die Effekt und Instrument komplexer Machtbeziehungen ist, sind
Körper und Kräfte durch vielfältige »Einkerkerungs«-Anlagen unterworfen und
für Diskurse objektiviert, die selber Elemente der Strategie sind.“ ÜS, S. 397.
Vgl. ÜS, S. 350f., 356f. Darüber hinaus sollte die Delinquenz nach Foucault
zugleich weniger vom Gesetz als vielmehr von der Norm her als „pathologische
Verfehlung der menschlichen Spezies“ wissenschaftlich spezifiziert werden wie
ein „Krankheitssyndrom“ oder eine „Missgeburt“. Vgl. ÜS, S. 325.
ÜS, S. 356.
Nach Foucault wird dieses geschlossene und leicht zu handhabende Delinquentenmilieu zuerst durch das Vollzugsverfahren des Gefängnisses hergestellt. Nach
der Entlassung der Gefangenen wird dieses Delinquentenmilieu vor allem durch
dürftige, unsichere soziale Existenzbedingungen (Arbeitslosigkeit und Diskriminierung durch Feindseligkeiten aus der Bevölkerung und durch die Kriminalberichterstattung) und durch die strenge Polizeikontrollen (das ausführlich registrierende Karteisystem mit Einzelblättern, die geheimen Agenten und Spitzel
sowie das Arbeitsverbot) von der Gesellschaft isoliert und dadurch weiterhin aufrechterhalten. Vgl. ÜS, S. 358f., 361-364, 368-371.
Vgl. ÜS, S. 359-363; MM, S. 50.
73
tungsmechanismus der Kriminalität zu entwickeln.188 Es lässt sich mit
Foucaults folgender Schilderung zusammenfassend sagen: „Anstatt von
einem Versagen des Gefängnisses bei der Eindämmung der Kriminalität
sollte man vielleicht davon sprechen, dass es dem Gefängnis sehr gut gelungen ist, die Delinquenz als einen spezifischen, politisch und wirtschaftlich weniger gefährlichen und sogar nützlichen Typ von Gesetzwidrigkeit zu produzieren; es ist ihm gelungen, die Delinquenz als ein anscheinend an den Rand gedrängtes, tatsächlich aber zentral kontrolliertes
Milieu zu produzieren; es ist ihm gelungen, den Delinquenten als pathologisiertes Subjekt zu produzieren. Es ist die großartige Leistung des Gefängnisses, in den Kämpfen um Gesetz und Gesetzwidrigkeit eine »Delinquenz« auszubilden. […] Das Strafsystem produziert also eine geschlossene, abgesonderte und nützliche Gesetzwidrigkeit – und daher
rührt auch seine Langlebigkeit. Der Kreislauf der Delinquenz ist nicht das
Nebenprodukt eines Gefängnisses, das beim Bessern versagt; er ist vielmehr das unmittelbare Ergebnis eines Strafsystems, das zur Kontrolle der
Gesetzwidrigkeiten einige davon in einen Mechanismus von »Bestrafung/Bewahrung« einschlisst, dessen wichtigste Elemente die Verwahranstalten sind.“189
E. Der Übergang von der mikrophysikalischen Disziplinierung des
Körpers zum makrophysikalischen Regieren der Bevölkerung
Im vorausgegangenen Abschnitt ist deutlich geworden, dass in der
Disziplinargesellschaft nicht nur die tugendhaften Bürger durch den
zwingenden normalisierenden Rechtsdiskurs erzeugt werden, sondern
188
189
74
Vgl. ÜS, S. 351, 364. Dazu sagt Foucault: „Man könnte darum von einem Komplex aus drei Elementen sprechen (Polizei/Gefängnis/Delinquenz), die sich aufeinander stützen und einen ununterbrochenen Zirkel bilden. Die polizeiliche
Überwachung liefert dem Gefängnis die Straftäter, die dieses zu Delinquenten
transformiert, welche dann zu Zielscheiben und Hilfskräften der Polizei werden
und einige aus ihren Reihen regelmäßig wiederum ins Gefängnis bringen.“ Darüber hinaus spielt die Strafjustiz gegenüber den Gesetzwidrigkeiten „die Rolle
der differenzierenden Kontrolle, der legalen Absicherung und Fortpflanzung“. Sie
ist also neben der Polizei, dem Gefängnis und der Delinquenz „eine Relaisstation
innerhalb der allgemeinen Ökonomie der Gesetzwidrigkeiten“. ÜS, S. 363f.
ÜS, S. 357f. Dieser Kreislauf der Delinquenz, welcher sich zu einem unentbehrlichen Element der Ökonomie der Gesetzwidrigkeiten entwickelt, wird später von
Foucault nochmals aus der Sicht der sogenannten „strategischen Wiederauffüllung des Dispositivs“ betrachtet. Für die Diskussion darüber siehe Kapitel 3, B.
II.
auch die widerspenstigen und fügsamen Delinquenten, die ihre zweideutige Stellung gegenüber dem überwachenden Polizeiapparat erhalten, der
zugleich gegen sie und mit ihnen arbeitet.190 Von der Ökonomie der Gesetzwidrigkeiten her gesehen, gilt die Delinquenz folglich nicht unbedingt
als das zu unterdrückende und von der Gesellschaft völlig auszuschließende Übel, sondern vielmehr als ein von der Polizei benutztes strategisches Instrument zur Differenzierung, Kontrollierung und Verwaltung der
Gesetzwidrigkeiten. 191 Davon ausgehend ist diese Ökonomie der Gesetzwidrigkeiten, in die die Strafjustiz, die Polizei, das Gefängnis, das
Delinquentenmilieu und sogar der normalisierende Rechtsdiskurs eingeschlossen sind, dem umfangreichen Programm der Disziplinargesellschaft
untergeordnet. Demnach wird die Delinquenz sowohl zu einer an den
Rand der Gesellschaft geschobenen Heterogenität als auch zu einem
Kontrast zum bürgertugendhaften Ethos gedrängt, damit das bürgerlich-moralische Bewusstsein der Bevölkerung gestärkt wird. Mittels dieser globalen Strategie der Peripherisierung der Delinquenz bringt man die
Bevölkerung allmählich und irreversibel zur Anerkennung der Notwendigkeit der Bürgertugenden und veranlasst jeden einzelnen von ihnen,
seinen Sozialrang möglichst zu erhöhen und in das Zentrum der Gesellschaft einzutreten. Man lernt also durch das Anormale das Normale,
durch den Delinquenten den tugendhaften Bürger kennen. Genau in diesem Sinne ist die Ökonomie der Gesetzwidrigkeiten nicht nur eine Sache
der gesellschaftlichen Disziplinierung. Sie ist zugleich eine Sache des
Regierens der Bevölkerung, welches globale Verwaltungsprozeduren erfordert, damit die Bevölkerung in den Zustand der Sicherheit gebracht
wird und ihre kollektiven Kräfte garantiert werden.
Dadurch lässt sich die Ökonomie der Gesetzwidrigkeiten oder gar
die Kriminalität überhaupt zu einem Räderwerk der Machtmechanismen
entwickeln.192 Wie sich die Ökonomie des Diskurses über den Sex an der
Kreuzung von Körper und Bevölkerung befindet193, steht die Ökonomie
190
191
192
193
Vgl. ÜS, S. 365.
Neben dieser Ökonomie der Gesetzwidrigkeiten gibt es in der Disziplinargesellschaft noch die Ökonomie des Sexes, welche ebenfalls nicht unterdrückt, sondern
strategisch mittels der Einpflanzung von vielfältigen Perversionen angereizt, ausdifferenziert, verwaltet und schließlich nützlich für das Wachstum der Bevölkerung und die Produktivität gemacht wird. Für die ausführliche Diskussion über
diese Ökonomie des Sexes, welche durch die sich entfaltenden, aber nicht
unterdrückenden Machtmechanismen entsteht, siehe WW, S. 50-65.
Vgl. ÜS, S. 365.
Vgl. VG, S. 291. Vgl. auch: „Durch die Politische Ökonomie der Bevölkerung
75
der Gesetzwidrigkeiten nun ebenfalls an einer Kreuzung, an der sich die
zwei Machttechnologien (die infinitesimale Disziplinartechnologie des
Körpers und die globale Regierungstechnologie der Bevölkerung) überschneiden.194 Die Zukunft und das Glück eines Landes hängen also nicht
nur von der Arbeitskraft, der Produktivität und der rechtlich-ökonomischen Tugend seiner Bürger ab, sondern auch von der Verwaltung der Kriminalität und der Deliktskategorien. Daraus ergeben sich
in der heutigen Kriminologie unterschiedliche Forschungsthemen wie die
Kriminalstatistik, die Hell- und Dunkelfeldforschung, die Aufklärungsquote, die Kriminalitätsarten sowie die Kriminalität nach Alter und Geschlecht etc., deren Analyse einer massenkonstituierenden Perspektive
bedarf. Dies führt zur Diskussion der Makrophysik der Macht: der Gouvernementalität.
194
76
hindurch bildet sich ein ganzer Raster von Beobachtungen über den Sex. An der
Grenze des Biologischen und des Ökonomischen entsteht die Analyse der sexuellen Verhaltensweisen, ihrer Determinationen und Wirkungen. Es kommt nun
auch zu jenen systematischen Feldzügen, die jenseits der traditionellen Mittel –
moralische und religiöse Ermahnungen, fiskalische Maßnahmen – aus dem Sexualleben der Ehepartner ein ökonomisch und politisch abgestimmtes Verhalten zu
machen versuchen. […] Der Staat muss wissen, wie es um den Sex der Bürger
steht und welchen Gebrauch sie davon machen. Aber auch jeder einzelne muss
fähig sein, den Gebrauch, den er vom Sex macht, zu kontrollieren. Der Sex ist
zum Einsatz, zum öffentlichen Einsatz zwischen Staat und Individuum geworden.“ WW, S. 39.
Zwar gibt es in Überwachen und Strafen (1975) noch nicht diese Konzeption der
globalen Regulierungstechnologie der Bevölkerung, welche erst in Der Wille zum
Wissen (1976) auftaucht und sich dann in den Vorlesungen von 1978 und 1979
am Collège de France zur Konzeption der Gouvernementalität weiter entwickelt.
Dies bedeutet aber nicht, dass manche Begriffe wie die Ökonomie der Gesetzwidrigkeiten nicht von der Konzeption der globalen Regulierungstechnologie der
Bevölkerung her neu betrachtet werden können. Von der Gouvernementalität her
gesehen wird die Ökonomie der Gesetzwidrigkeiten, durch welche die Negativität der Produktion der Delinquenten ins Positive gekehrt wird, im Gegenteil genau zum Bestandteil der Regierung der Bevölkerung.
Kapitel 3
Die Makrophysik der Macht: Gouvernementalität
A. Die Verschiebung der Machtanalytik auf die Problematik der
Gouvernementalität
Nachdem Überwachen und Strafen 1975 veröffentlicht worden war,
wurde Foucaults mikrophysikalische Machtanalytik scharf kritisiert. Aufgrund ihrer Konzentration auf die lokalen Disziplinierungspraktiken, so
hieß es, versage sie bei der globalen Problematik der Politik, nämlich bei
den Beziehungen zwischen Gesellschaft und Staat.1 Diese Kritik lehnte
Foucault zwar ab2, aber seither versuchte er, eine Makrophysik der Macht
zu entwickeln, welche nicht mehr auf die Disziplinierung und
Normalisierung des Körpers, sondern eher auf die Regulierung und
Sicherheit der Bevölkerung gerichtet ist. Während die Mikrophysik der
Macht zur Anatomo-Politik führt, die auf die Produktion des
Disziplinarindividuums und des zugleich nützlichen und gelehrigen Kör1
2
Vgl. Colin Gordon, Governmental Rationality: An Introduction, in: Graham
Burchell/Colin Gordon/Peter Miller (Hrsg.), The Foucault Effect. Studies in
Governmentality with two Lectures by and an Interview with Michel Foucault,
Chicago 1991, S. 4; Barry Smart, Michel Foucault, Chichester, London u. New
York 1985, S. 124; Alan Hunt/Gary Wickham, Foucault and Law. Towards a
Sociology of Law as Governance, London u. Chicago 1994, S. 17f.; Thomas
Lemke/Susanne
Krasmann/Ulrich
Bröckling,
Gouvernementalität,
Neoliberalismus und Selbsttechnologien. Eine Einleitung, in: dieselben (Hrsg.),
Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen,
Frankfurt a.M. 2000, S. 7f.; Thomas Lemke, Gouvernementalität, in: Marcus S.
Kleiner (Hrsg.), Michel Foucault. Eine Einführung in sein Denken, Frankfurt a.M.
2001, S. 108.
In bezug auf seine frühen Untersuchungen sagt Foucault: „I tried to show how
these découpages, these relationships of force, these institutions and this entire
network of power were able to establish themselves at a given moment. And
beginning from what? Beginning from these economic and demographic
processes which appear clearly at the end of the 16th century, when the problem
of the poor, of the homeless, of fluctuating populations, is raised as an economic
and political problem.“ Flive, S. 259. Vgl. auch folgende Passage: „[O]b es nun
um den Wahnsinn, um die Konstitution dieser Kategorie, um dieses natürliche
Quasi-Objekt »Geisteskrankheit« oder auch um die Organisation einer klinischen
Medizin oder um die Integration der Disziplinarmechanismen, -techniken und
-technologien innerhalb des Strafsystems geht – in jedem Fall habe ich die
fortschreitende,
gewiss
zerstückelte,
aber
dennoch
kontinuierliche
Verstaatlichung stets kenntlich gemacht; die Verstaatlichung einer bestimmten
Anzahl von Praktiken, Handlungsweisen und, wenn Sie so wollen, einer
Gouvernementalität.“ SP, S. 69.
77
pers zielt, ergibt sich im Gegensatz dazu aus der Makrophysik der Macht
die
Bio-Politik,
welche
die
der
Bevölkerung
eigenen
massenkonstituierenden
Phänomene
mittels
der
Globalsteuerungstechnologien reguliert und durch ein globales Gleichgewicht so etwas wie „Homöostase“, das heißt „die Sicherheit des Ganzen
vor seinen inneren Gefahren“, anstrebt. 3 Von dieser Bio-Politik her
betrachtet ist nicht nur die Regulierung der Bevölkerung als eine Sache
der politischen Ökonomie zu verstehen. Der Staat wird darum auch als
„eine verwickelte Kombination von Individualisierungstechniken und
Totalisierungsverfahren“ angesehen, welche zur Globalsteuerung der
Bevölkerung beitragen kann.4 Die Entwicklung dieser Makrophysik der
Macht, welche mit Der Wille zum Wissen 1976 begann 5 , eröffnete
schließlich die neue „Forschungsrichtung“ der Gouvernementalität, die
von Foucault im Rahmen der Vorlesungen von 1978 und 1979 am
Collège de France vorgestellt wurde.6
In der Forschungsrichtung der Gouvernementalität wird von
Foucault nicht nur noch einmal festgelegt, dass Macht keine Substanz,
sondern nur ein bestimmter Typ von Beziehungen zwischen Individuen
ist.7 Die Machtbeziehungen, die sich insbesondere auf die Regierung der
Bevölkerung beziehen, sollten nach Foucault darüber hinaus von ihrer
fortlaufenden Rationalisierung her, und zwar im einzelnen von den
einschlägigen frühneuzeitlichen politischen Technologien wie der
Staatsräson und den Polizeimechanismen her, weitergehend analysiert
werden. Durch diese politischen Technologien, welche für Foucault in
der Vorstellung der Pastoralmacht verwurzelt sind, sind die
Machtbeziehungen schließlich mit dem Staat verknüpft.8 Damit möchte
Foucault darauf hinweisen, „dass der Staat schon von Anfang an sowohl
individualisierend als auch totalitär ist“.9 Demnach wird alles, was das
Leben des Menschen als eines lebendigen Individuums oder als eines
Teiles einer Bevölkerung angeht, unter dem Globalsteuerungsprogramm
3
4
5
6
7
8
9
78
Vgl. VG, S. 288.
Vgl. WW, S. 37-39, 166-171; SM, S. 248.
Diese Konzeption der Makrophysik der Macht kann außerdem noch in der letzten
der Vorlesungen am Collège de France von 1975-76 vom 17. März 1976 gesehen
werden. Vgl. VG, S. 276-305.
Vgl. StW, S. 1-44; KpV, S. 66.
Vgl. KpV, S. 66; Flive, S. 410.
Vgl. KpV, S. 66.
KpV, S. 66.
des Staates regiert. Der Staat ist nichts anderes als „der bewegliche Effekt
eines Regimes vielfältiger Gouvernementalität“.10 Mittels dieser Analyse
der „Geschichte der Gouvernementalität“ wird sich zeigen, dass der Staat
sich Schritt für Schritt „gouvernementalisiert“ hat.11
B. Zum Begriff der Gouvernementalität
I. Entstehung und Eigenart der Gouvernementalität
Der Begriff der Gouvernementalität wird von Foucault neu geprägt.
Er kombiniert semantisch Regieren (gouverner) und Denkweise
(mentalité) und bezeichnet eine „Kunst des Regierens“, welche mittels
der Gesamtheit von Institutionen, Prozeduren und Techniken auf die
Globalsteuerung der Bevölkerung und ihre Sicherheit zielt. 12 Dieser
Konzeption der Gouvernementalität liegt vor allem der Begriff des Regierens zugrunde, welcher nach Foucault in dem sehr weiten Sinne verstanden werden sollte, den er im 16. Jahrhundert hatte. Von dem Regiment
der Seelen über das der Familie, des Hauses, der Kinder bis hin zu dem
der Gemeinden, der Kranken, der Armen und der Bettler, all diese Regimente gehören zu den Regierungspraktiken, welche der Gesellschaft
selbst oder dem Staat innewohnen.13 Davon ausgehend bezieht sich der
10
11
12
13
SP, S. 70.
Vgl. Gouv, S. 64f.
Vgl. Thomas Lemke/Susanne Krasmann/Ulrich Bröckling (Fn.1), S. 8; Lemke
(Fn.1), S. 109.
Vgl. Gouv, S. 41f., 46f.; SM, S. 255; WK, S. 10f. Während die Regierung sich
bei Machiavelli, so Foucault, vor allem auf das Regiment des Staates durch den
Fürsten bezieht und auf die „Geschicklichkeit des Fürsten bei der Erhaltung
seines Fürstentums“ gerichtet ist, geht Guillaume de La Perrière in seinem Buch
Le Miroir politique, contenant diverses manières de gouverner, welches aus dem
Jahr 1555 stammte und als antimachiavellistische Literatur galt, von einer
Mannigfaltigkeit der Regierungsformen aus. Demnach sagt de La Perrière:
„Regent kann jeder Monarch, Kaiser, König, Fürst, Lehnsherr, Magistrat, Prälat,
Richter und dergleichen genannt werden.“ (Zit. nach Gouv, S. 46.) Dazu meint
Foucault: „Tatsächlich ist der Fürst, so wie er bei Machiavelli oder in den
Darstellungen Machiavellis durch andere erscheint, per definitionem […]
singulär in seinem Fürstentum und nimmt diesem gegenüber eine Position der
Exteriorität und Transzendenz ein. Regieren tun dagegen viele: der Familienvater,
der Superior eines Klosters, der Erzieher und der Lehrer im Verhältnis zum Kind
oder Schüler, und daran sieht man, dass der Regent und die Praktik des Regierens
zum einen einem Feld mannigfaltiger Praktiken angehören. Deshalb gibt es auch
viele Regierungen, und die des Fürsten, der seinen Staat regiert, ist nur eine
79
Begriff des Regierens für Foucault nicht nur „auf politische Strukturen
und auf die Verwaltung der Staaten“, sondern auch weitergehend „auf die
Weise, in der die Führung von Individuen oder Gruppen“ erfolgt. Das
Regieren ist also das „Führen der Führungen“ (conduire des conduites),
nämlich die Einwirkung auf die Handlung anderer Individuen.14 Dazu
sagt Foucault: „Vielleicht eignet sich ein Begriff wie Führung gerade
kraft seines Doppelsinns gut dazu, das Spezifische an den
Machtverhältnissen zu erfassen. »Führung« ist zugleich die Tätigkeit des
»Anführens« anderer (vermöge mehr oder weniger strikter
Zwangsmechanismen) und die Weise des Sich-Verhaltens in einem mehr
oder weniger offenen Feld von Möglichkeiten. Machtausübung besteht
im »Führen der Führungen« und in der Schaffung der Wahrscheinlichkeit.
Im Grunde ist Macht weniger von der Art der Konfrontation zweier
Gegner oder der Verpflichtung des einen gegenüber dem anderen, als von
der des »Gouvernement«.“15
Dieses Verständnis von Regieren als das Führen der Führungen bzw.
das der Lebensführungen wird zu einem der wichtigen Brennpunkte von
Foucaults späterer Machtanalytik.16 Demzufolge wäre „die der Macht
eigene Verhältnisweise“ für Foucault „weder auf Seiten der Gewalt und
des Kampfes, noch auf Seiten des Vertrags und der Willensbande“ zu
suchen, sondern „vielmehr auf Seiten dieser einzigartigen, weder
kriegerischen noch juridischen Weise des Handelns: des Gouvernement“. 17 Demnach sind Machtverhältnisse nichts anderes als
Regierungsverhältnisse, in denen das Regiment – im weitesten Sinne
dieses Wortes – der Menschen untereinander beständig vorhanden ist. Die
14
15
16
17
80
Unterart davon. Alle diese Regierungen sind zum anderen der Gesellschaft selbst
oder dem Staat innerlich. Der Familienvater regiert seine Familie und der
Superior des Klosters sein Kloster innerhalb des Staates. So gibt es zugleich
Pluralität der Regierungsformen und Immanenz der Regierungspraktiken im
Verhältnis zum Staat, bestehen zugleich Mannigfaltigkeit und Immanenz dieser
Aktivitäten, die in einem radikalen Gegensatz zur transzendenten Singularität
des Fürsten von Machiavelli stehen.“ Gouv, S. 46f.
Vgl. SM, S. 255; Aub, S. 702; BH, S. 203f.; Pref, S. 338; Flive, S. 410; DE IV, S.
237, 582. Vgl. auch Colin Gordon, The Soul of the Citizen: Max Weber and
Michel Foucault on Rationality and Government, in: Barry Smart (Hrsg.), Michel
Foucault. Critical Assessments, vol. IV, London u.a. 1995, S. 430; Gordon (Fn.1),
S. 2f.; Lemke, Eine Kritik der politischen Vernunft, Foucaults Analyse der
modernen Gouvernementalität, Hamburg 1997, S. 149.
SM, S. 255.
Vgl. auch (Fn.148) in Kapitel 2.
Gouv, S. 255.
Menschen, die in Gesellschaft leben, miteinander auf Handlungen einwirken und darum gezwungen sind, in Macht- oder Regierungsverhältnisse
zu treten18, können zugleich die sich dem Souverän und seinen Gesetzen
unterwerfenden Rechtssubjekte, die mikrophysikalisch zu disziplinierenden Individuen und die makrophysikalisch zu regulierende Bevölkerung
sein. Diese den Menschen auferlegten heterogenen Identitäten sind für
Foucault die Produkte des Machtdreiecks, welches aus den unterschiedlichen Macht- oder Regierungsverhältnissen Souveränität, Disziplin und
Gouvernementalität besteht.
Dementsprechend ist die Konzeption der Gouvernementalität nicht
mit der des Regierens gleichzusetzen. Die Gouvernementalität ist vielmehr eine der möglichen Modalitäten der Macht, deren Eigenart durch
das Regieren der Menschen untereinander charakterisiert wird. 19 Das
Regieren innerhalb der Gouvernementalität unterscheidet sich von dem
Regieren innerhalb der Souveränität und dem innerhalb der Disziplin in
folgender Weise: Während die Machtwirkungsweise – im Sinne der
Einwirkungsweise auf Handlungen – der Souveränität vor allem auf den
Gehorsam der Untertanen und die Achtung der Gesetze und die der
Disziplin auf die Normalisierung des Körpers und seines Verhaltens
gerichtet sind, zielt die Gouvernementalität auf die Bevölkerung, die ihre
eigenen Regelmäßigkeiten wie Geburten-, Sterbe- und Krankheitsraten
sowie Unfallhäufigkeiten hat, und versucht, diese mittels der integrierenden Steuerungsmaßnahmen, und zwar des globalen Kalküls des Staates,
zu regieren. 20 Nach Foucault führt das Aufkommen der
18
19
20
Vgl. SM, S. 257.
Vgl. Mitchell Dean, Governmentality. Power and Rule in Modern Society,
London u.a. 1999, S. 19; Graham Burchell, Liberal Government and Techniques
of the Self, in: Andrew Barry/Thomas Osborne/Nikolas Rose (Hrsg.), Foucault
and Political Reason. Liberalism, Neo-Liberalism and Rationalities of
Government, London 1996, S. 19. Trotzdem sind diese Begriffe des Regierens,
der Kunst des Regierens und der Gouvernementalität bei Foucault manchmal
austauschbar.
Vgl. Gordon (Fn.1), S. 20; Dean (Fn.19), S. 20; Lemke (Fn.14), S. 188. Zur
Bevölkerung sagt Foucault: „Eine der großen Neuerungen in den Machttechniken
des 18. Jahrhunderts bestand im Auftreten der »Bevölkerung« als ökonomisches
und politisches Problem: die Bevölkerung als Reichtum, die Bevölkerung als
Arbeitskraft oder Arbeitsfähigkeit, die Bevölkerung im Gleichgewicht zwischen
ihrem eigenen Wachstum und dem ihrer Ressourcen. Die Regierungen entdecken,
dass sie es nicht nur mit Untertanen, auch nicht bloß mit einem »Volk«, sondern
mit einer »Bevölkerung« mit spezifischen Problemen und eigenen Variablen zu
tun haben wie Geburtenrate, Sterblichkeit, Lebensdauer, Fruchtbarkeit,
81
Gouvernementalität seit dem 18. Jahrhundert nicht zum Verschwinden
der Souveränität und der Disziplin. Ganz im Gegenteil: „[D]as Problem
der Begründung der Souveränität“ und „die Notwendigkeit, die Disziplinen zu entwickeln“, werden durch „die Idee der Regierung der Bevölkerung“ verschärft. Weiterhin werden die Souveränität und die Disziplin
sogar zu Taktiken der Gouvernementalität, damit die Bevölkerung nicht
allein auf der Ebene ihrer globalen Befunde, sondern auch in ihrer
Vielseitigkeit, in ihrer Tiefe, in ihrer Feinheit und in ihrem Detail geführt
werden kann.21
Mit Hilfe der Definition der Regierung von Guillaume de La Perrière,
nach welcher Regieren „das richtige Verfügen über die Dinge [ist], deren
man sich annimmt, um sie dem angemessenen Zweck zuzuführen“22,
weist Foucault darauf hin, dass die Kunst des Regierens nicht in der
Souveränität oder in der absoluten Unterwerfung der Untertanen gesucht
werden sollte, sondern vielmehr in den von der Regierung geleiteten
Dingen, das heißt in den Menschen und ihren Beziehungen mit anderen
Dingen, von den Reichtümern, den Bodenschätzen, den Nahrungsmitteln
und dem Klima über die Sitten und Gebräuche, die Handlungs- und
21
22
82
Gesundheitszustand,
Krankheitshäufigkeit,
Ernährungsweise
und
Wohnverhältnissen.“ WW, S. 37f.
Vgl. Gouv, S. 62-64; Dean (Fn.19), S. 19f. Außerdem hat Foucault in seinem
Preface to the History of Sexuality, Volume II zum Beispiel die Geschichte der
Disziplinen aus dieser Perspektive der Gouvernementalität erneut betrachtet. In
bezug auf die Analyse der Gestaltung einer bestimmten „strafenden
Rationalität“ sagt er: „[I]t seemed to me far wiser to look at the workings of
Power. I was concerned not with some omnipresent power, almighty and above
all clairvoyant, diffusing itself throughout the social body in order to control it
down to the tiniest detail, but with the refinement, the elaboration and installation
since the seventeenth century, of techniques for “governing” individuals – that is,
for “guiding their conduct” – in domains as different as the school, the army and
the workshop. The new punitive rationality must be relocated in the context of
this technology, itself linked to the demographic, economic, and political changes
which accompany the development of industrial states. Accordingly, the analysis
does not revolve around the general principle of the Law or the myth of Power,
but concerns itself with the complex and multiple practices of a
“governmentality” which presupposes, on the one hand, rational forms, technical
procedures, instrumentations through which to operate and, on the other hand,
strategic games which subject the power relations they are supposed to guarantee
to instability and reversal. Starting from an analysis of these forms of
“government,” one can see how criminality was constituted as an object of
knowledge, and how a certain “consciousness” of criminality could be formed
[…].“ Pref, S. 337f.
Gouv, S. 50.
Denkweisen bis zu den potenziellen Unfällen oder Unglücken wie
Hungersnöte, Epidemien und Tod.23 Davon ausgehend sollte man eine
Vielzahl spezifischer Zielsetzungen festlegen, welche sich dem Gesamtziel der Bevölkerungssicherheit unterordnen. Beispielsweise sollte man
nicht nur nach der Produktion der größtmöglichen Reichtümer, der hinreichenden Versorgung mit Nahrungsmitteln oder strengen Kontrollmaßnahmen gegen Epidemie trachten 24 , sondern auch nach komplexen und
umfassenden Mechanismen der Sicherheit, mit denen der allgemeine
Wohlstand auch in Zukunft gewährleistet werden kann. 25 Schließlich
sollten diese vielfältigen Zielsetzungen mit bestimmten Mitteln und
Taktiken erreicht werden, und zwar „in der Vervollkommnung, Maximierung oder Intensivierung der von der Regierung geleiteten Vorgänge“.26
Genau in diesem Punkt der Suche nach einer Optimierung des
Zweck-Mittel-Verhältnisses und sogar des Kosten-Nutzen-Verhältnisses
lässt sich die Gouvernementalität nach Foucault nicht nur von Anfang an
mit der Ökonomie verknüpfen, sondern auch am Ende mit der politischen
Ökonomie, welche in Foucaults Augen wesentlich als die
„Interventionstechnik der Regierung“ in das der Bevölkerung eigene
Realitätsfeld gilt.27
Entsprechend dieser vielfältigen Probleme und ihrer Lösungsstrate23
24
25
26
27
Vgl. Gouv, S. 51.
Gouv, S. 54.
Dazu sagt Bentham: “Among the objects of the law, security is the only one
which embraces the future; subsistence, abundance, equality, may be regarded for
a moment only; but security implies extension in point of time with respect to all
the benefits to which it is applied. Security is therefore the principal object.” Zit.
von Gordon (Fn.1), S. 19.
Vgl. Gouv, S. 54.
Nach Foucault bezeichnet das Wort Ökonomie ursprünglich die „weise Regierung
des Hauses zum gemeinschaftlichen Wohl der ganzen Familie“. Bereits im 16.
Jahrhundert wurde das Problem diskutiert, wie sich das ökonomische
Regierungsmodell der Familie in die Lenkung eines Staates einführen ließe. Im
Anschluss an den Artikel Économie politique von Jean-Jacques Rousseau sagt
Foucault: „Um einen Staat zu regieren, wird man die Ökonomie einsetzen
müssen, eine Ökonomie auf der Ebene des Staates als Ganzem, d.h. man wird die
Einwohner, die Reichtümer und die Lebensführung aller und jedes Einzelnen
unter eine Form von Überwachung und Kontrolle stellen, die nicht weniger
aufmerksam ist als die des Familienvaters über die Hausgemeinschaft und ihre
Güter.“ Dieser Ausdruck Ökonomie, welcher im 16. Jahrhundert im Prinzip eine
Regierungsform der Familie meinte, erhielt nach Foucault im 18. Jahrhundert
zum Beispiel bei Quesnay seine moderne Bedeutung, welche „ein
Realitätsniveau“ und „ein Interventionsfeld“ bezeichnet. Gouv, S. 49f.
83
gien und -taktiken, welche alle die allgemeine Problematik der
Bevölkerungsregulierung umkreisen, nämlich wie die Bevölkerung regiert wird, durch wen, bis zu welchem Punkt, zu welchen Zwecken und
durch welche Methoden und Technologien28, bildet sich seit dem 18.
Jahrhundert allmählich eine neue Machtausübungsdimension der
Gouvernementalität heraus, deren Hauptziel in der Sicherheit der
Bevölkerung besteht. Angesichts der oben dargelegten Komplexität und
Heterogenität, welche der Gouvernementalität innewohnen, wird die
Gouvernementalität von Foucault in erster Linie als „die Gesamtheit“ definiert, „gebildet aus den Institutionen, den Verfahren, Analysen
und Reflexionen, den Berechnungen und den Taktiken, die es gestatten,
diese recht spezifische und doch komplexe Form der Macht auszuüben,
die als Hauptzielscheibe die Bevölkerung, als Hauptwissensform die
politische Ökonomie und als wesentliches technisches Instrument die
Sicherheitsdispositive hat.“29
II. Der Einsatz der strategisch orientierten Sicherheitsdispositive
Die Konzeption der Sicherheit in der oben erwähnten Definition der
Gouvernementalität beschränkt sich nicht negativ auf die innere und
äußere Gefahrenabwehr, das heißt auf die sogenannte innere und äußere
Sicherheit. Sie erstreckt sich weiter auf die soziale Sicherheit, nach
welcher die Daseinsvorsorge und die Wohlstandsförderung für jeden
einzelnen gewährleistet wird. Dementsprechend müssen beispielsweise
Unsicherheit und soziale Risiken wie Armut, Unfälle, Arbeitslosigkeit,
Krankheit etc. mittels staatlicher Globalsteuerungsmaßnahmen abgemildert und reguliert werden. 30 Davon ausgehend wird die
28
29
30
84
Vgl. Gouv, S. 42; Flive, S. 258.
Gouv, S. 64. Vgl. auch folgende Passage: „When I say »govern someone«, it is
simply in the sense that one can determine one’s behaviour in terms of a strategy
by resorting to a number of tactics. Therefore, if you like, it is governmentality in
the wide sense of the term, as the group of relations of power and techniques
which allow these relations of power to be exercised, that is what I
studied.“ Flive, S. 410.
Dieser Meinung sind auch Alan Hunt und Gary Wickham: „The English word
‘security’ does not convey the sense of Foucault’s discussion; the term ‘welfare’
is probably closer.” Hunt/Wickham (Fn.1), S. 54. Zur Diskussion über die innere,
äußere und soziale Sicherheit, welche Teil der Staatsaufgaben ist, siehe etwa
Roman Herzog, Ziele, Vorbehalte und Grenzen der Staatstätigkeit, in: Josef
Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik
Deutschland, Bd. III, 2. Aufl., Heidelberg 1996, § 58, Rn 38ff.; Volkmar Götz,
Gouvernementalität von Foucault nicht nur als eine biopolitische
Machttechnologie betrachtet, welche erlaubt, eine Art Homöostase innerhalb der Bevölkerung mit den großen Verwaltungs-, Wirtschafts- und
politischen Organismen zu etablieren31, sondern auch als eine Form der
politischen Rationalität32, die es gestattet, entsprechende Mechanismen
der Sicherheit einzusetzen, damit die allgemeine Problematik der
Bevölkerungsregierung geeignet behandelt wird. Diese von der politisch-ökonomisch globalsteuerungsorientierten Rationalität eingesetzten
31
32
Innere Sicherheit, in: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland,
Bd. III, §79, Rn. 1-28; Wolfgang Rüfner, Daseinfürsorge und soziale Sicherheit,
auch in: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III, §80;
Gerhard Robbers, Sicherheit als Menschenrecht. Aspekt der Geschichte,
Begründung und Wirkung einer Grundrechtsfunktion, Baden-Baden 1987, S.
29-35.
Vgl. MaM, S. 34; VG, S. 284.
Diese gouvernementale Rationalität sollte nach Foucault eher in den spezifischen
historischen Rationalitätstypen als von einem weberisch idealtypischen,
übergreifenden Prozess der Rationalisierung her analysiert werden. Dazu sagt
Foucault: „Ich halte das Wort »Rationalisierung« für gefährlich. Wir sollten
spezifische Rationalitäten untersuchen, statt ständig vom Fortschreiten der
Rationalisierung im allgemeinen zu reden.“ SM, S. 245. Diesbezüglich hat auch
Petra Neuenhaus gesagt: „Es ist wichtig, nicht zu übersehen, dass Foucault sich
stets auf spezifische »Rationalitätstypen« bezieht, die soziale Praktiken
organisieren, und nicht, wie Axel Honneth unterstellt, auf einen übergreifenden
Prozess der Rationalisierung.“ Neuenhaus, Max Weber und Michel Foucault.
Über Macht und Herrschaft in der Moderne, Pfaffenweiler 1993, S. 68f. In einem
Gespräch äußert sich Foucault ausdrücklich zum Unterschied zwischen seiner
spezifischen programmierenden Rationalität und der idealtypischen
Rationalisierung von Max Weber: „Schematically one can say that the »ideal
type« is a category of historical interpretation; it's a structure of understanding for
the historian who seeks to integrate, after the fact, a certain set of data: it allows
him to recapture an »essence« (Calvinism, the state, the capitalist enterprise),
working from general principles which are not at all present in the thought of the
individuals whose concrete behaviour is nevertheless to be understood on their
basis. When I try to analyze the rationalities proper to penal imprisonment, the
psychiatrization of madness, or the organization of the domain of sexuality, and
when I lay stress on the fact that the real functioning of institutions isn't confined
to the unfolding of this rational schema in its pure form, is this an analysis in
terms of »ideal types«? I don't think so, for a number of reasons. The rational
schemas of the prison, the hospital or the asylum are not general principles which
can be rediscovered only through the historian's retrospective interpretation. They
are explicit programmes; we are dealing with sets of calculated, reasoned
prescriptions in terms of which institutions are meant to be reorganized, spaces
arranged, behaviours regulated. If they have an ideality, it is that of a
programming left in abeyance, not that of a general but hidden meaning.” QM, S.
80.
85
Mechanismen sind also das, was Foucault als die Dispositive der Sicherheit bezeichnet. In diesen Dispositiven der Sicherheit sind nicht nur die
Einsätze der Armee, der Diplomatie und des Komplexes von Polizei,
Strafjustiz und Gefängnis eingeschlossen, sondern auch die Maßnahmen
zur Regulierung der Armut, der Arbeitslosigkeit, der Gesundheit, der Hygiene, der Pädagogik, der nationalen und sogar internationalen Wirtschaft
usw.33
Eigentlich ist der Einsatz dieser heterogenen Sicherheitsdispositive
im Prinzip vom Verhältnis zwischen Programm, Strategie und Technologie her zu analysieren. Im Mittelpunkt dieses Verhältnisses steht der Gedanke der Strategie, welche nach Foucault in Situationen der Gegnerschaft sowohl die Ziele des Regierens als auch die Wahl der Mittel und
Taktiken zu ihrer effizienten Erreichung bestimmen sollte. Anschließend
werden entsprechende Regierungstechnologien erfunden, damit das
Regierungsprogramm perfektioniert wird und sich unaufhörlich
weiterentwickelt. 34 Aus dieser Reihe von Programm, Strategie und
Technologie die Sicherheitsdispositive zu betrachten heißt aber nicht,
dass diese Dispositive der Sicherheit vom Problem der Anwendung oder
Übertragung her einfach wie die Aufbauarbeit nach einem architektonischen Entwurf zu verstehen sind. In Wirklichkeit kommt es immer wieder
zum Scheitern von Programmen und unintendierten Effekten. Trotzdem
kann seine Negativität nach Foucault durch heterogene Strategien und
neue Technologien wieder positiv ins Programm investiert werden. 35
Dies ist das, was von Foucault als die „strategische Wiederauffüllung des
Dispositivs“ bezeichnet wird.36 Die im vorigen Kapitel dargelegte ver33
34
35
36
86
StW, S. 36f.; Gouv, S. 67; FCF, S. 240f. Vgl. auch Dean (Fn.19), S. 20, 52, 194f;
Gordon (Fn.1), S. 19f.; François Ewald, Der Vorsorgestaat, Frankfurt a.M. 1993,
S. 137-141; Barry Hindess, Neo-Liberalism and the National Economy, in:
Mitchell Dean/Barry Hindess (Hrsg.), Governing Australia. Studies in
Contemporary Rationalities of Government, Cambridge 1998, S. 212-218.
Vgl. SM, S. 259; Lemke (Fn.14), S. 146f.; Nikolas Rose, Governing “Advanced”
Liberal Democracies, in: Andrew Barry/Thomas Osborne/Nikolas Rose (Hrsg.),
Foucault and Political Reason. Liberalism, Neo-Liberalism and Rationalities of
Government, Chicago u. a. 1996, S. 42; Peter Miller/Nikolas Rose, Das
ökonomische Leben regieren, in: Richard Schwarz (Hrsg.), Zur Genealogie der
Regulation. Anschlüsse an Michel Foucault, Mainz 1994, S. 54; Dean (Fn.19), S.
20-22; Neuenhaus (Fn.32), S. 68.
Lemke/Krasmann/Bröckling (Fn.1), S. 22f.; Thomas Lemke, Neoliberalismus,
Staat und Selbsttechnologien. Ein kritischer Überblick über die governmentality
studies, in: Politische Vierteljahresschrift, 41. Jg., H.1, 2000, S. 42f.
Vgl. DM, S. 120f.
kehrte Wirkung des Gefängnisses, nämlich die Herstellung der Delinquenz anstatt der Beseitigung der Kriminalität, ist eines der treffenden
Beispiele für die Erklärung dieses Prozesses der strategischen
Wiederauffüllung. Wie bereits geschildert, galt die Haftstrafe seit dem
Beginn des 19. Jahrhunderts allmählich als „das wirksamste und vernünftigste Instrument“ zum Kampf gegen die Kriminalität und zur Umformung der Kriminellen. Trotzdem wurden weder die Kriminalität noch der
Rückfall durch das Gefängnis verhindert oder vermindert. Ganz im
Gegenteil, kam es zu einem im vorhinein nicht vorhergesehenen Effekt,
nämlich „der Konstituierung eines Milieus der Delinquenz“. Gemäß Foucaults Beobachtung erlebte man ungefähr seit den 30er Jahren des 19.
Jahrhunderts „eine unmittelbare Wiedernutzbarmachung dieses
unfreiwilligen und negativen Effekts in einer neuartigen Strategie, die in
gewisser Weise den leeren Raum wiederaufgefüllt, oder anders gesagt,
dessen Negativität ins Positive gekehrt hat: das Milieu der Delinquenz
wurde zu diversen politischen und ökonomischen Zwecken (etwa um aus
der Lust Profit zu schlagen – mithilfe der Organisierung der Prostitution)
ausgenutzt.“37 Demnach hat man mit Blick auf das Gefängnisdispositiv
seinen Misserfolg, die Herstellung der Delinquenz, strategisch wieder
investiert, um einerseits die Gesetzwidrigkeiten innerhalb einer allgemeinen Ökonomie zu verwalten und andererseits von ihnen zu profitieren.
Allgemein gesagt wurde die Konzeption des Dispositivs von Foucault bereits seit Überwachen und Strafen und Der Wille zum Wissen als
37
DM, S. 121f. Dazu sagt Foucault in einem Interview: „Different things must be
distinguished in the analysis of an institution. First, what one could call its
rationality or its end, that is to say the objectives that it proposes and the means it
has of reaching these objectives; in short, the program of the institution as it has
been defined; for example, Bentham’s conception of the prison. Secondly, there
is the question of effect. Obviously the effects only rarely coincide with the ends;
thus the objective of the corrective prison, of the means of rehabilitating the
individual, has not been met; the effect has been rather the reverse, and the prison
has dealt with the behavior of delinquency. But when the effect does not coincide
with the end there are several possibilities: either one reforms or one utilizes
these effects for something that wasn’t foreseen at the beginning but which can
well have a meaning and a use. This is what one could call the usage: the prison,
unable to rehabilitate, has served rather as a mechanism of elimination. The
fourth level of the analysis is what one could call the “strategic configurations” –
in other words, beginning from these usages in some new and unforeseen way,
one can construct new rational behaviors, different from the initial program but
which fulfil their objective, and in which play between different social groups can
take place.“ Flive, S. 425.
87
die begriffliche Grundlage gebraucht, um die Frage nach dem Komplex
von Macht und Wissen zu beantworten, nämlich: Wie wird das Wissen
durch ein immer in das Spiel der Macht eingeschriebenes Dispositiv
hergestellt, das seinerseits ebenfalls von ihm gestützt wird?38 Von dieser
Frage her betrachtet ist das Dispositiv für Foucault vornehmlich als ein
sich selbst herstellendes Machtnetz zu verstehen, welches diffuse Elemente bündelt, damit bestimmte strategische Zielsetzungen erreicht werden. Das Dispositiv umfasst nach Foucault „Diskursive, Institutionen,
architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze,
administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische,
moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl
wie Ungesagtes“. Davon ausgehend gilt das Dispositiv als nichts anderes
als „ein entschieden heterogenes Ensemble“, welches diese diffusen Elemente in einen Zusammenhang bringt, ob sie diskursiv oder nichtdiskursiv, sagbar oder sichtbar (gemäß Deleuzes Schema) sind.39
Obwohl es nach Foucault in einem Dispositiv immer „die Prävalenz
einer strategischen Zielsetzung“ gibt, welche sich zu einem historischen
Zeitpunkt aus einer bestimmten Not ergibt, bedeutet der Ablauf des
Dispositivs keineswegs, wie oben dargelegt, dass seine anvisierte Zielsetzung einfach mittels entsprechender Technologien in die Realität über38
39
88
Vgl. DM, S. 123; Hinrich Fink-Eitel, Michel Foucault zur Einführung, 4. Aufl.,
Hamburg 2002, S. 80. Zur Frage nach dem Komplex von Macht und Wissen sagt
Foucault zum Beispiel im Vorwort zur deutschen Ausgabe von Der Wille zum
Wissen: „Es ist das Problem, das fast alle meine Bücher bestimmt: Wie ist in den
abendländischen Gesellschaften die Produktion von Diskursiven, die (zumindest
für eine bestimmte Zeit) mit einem Wahrheitswert geladen sind, an die
unterschiedlichen Machtmechanismen und -institutionen gebunden.“ WW, S. 8.
Zu den Stützungsbeziehungen zwischen Macht und Wissen sagt Foucault
außerdem in Überwachen und Strafen: „Eher ist wohl anzunehmen, dass die
Macht Wissen hervorbringt (und nicht bloß fördert, anwendet, ausnutzt); dass
Macht und Wissen einander unmittelbar einschliessen; dass es keine
Machtbeziehung gibt, ohne dass sich ein entsprechendes Wissensfeld konstituiert,
und kein Wissen, das nicht gleichzeitig Machtbeziehungen voraussetzt und
konstituiert. Diese Macht/Wissen-Beziehungen sind darum nicht von einem
Erkenntnissubjekt aus zu analysieren, das gegenüber dem Machtsystem frei oder
unfrei ist. Vielmehr ist in Betracht zu ziehen, dass das erkennende Subjekt, das zu
erkennende Objekt und die Erkenntnisweisen jeweils Effekte jener
fundamentalen
Macht/Wissen-Komplexe
und
ihrer
historischen
Transformationen bilden.“ ÜS, S. 39. Vgl. auch DM, S. 51f.; StW, S. 66; VG, S.
32f.
Vgl. DM, S. 119f., 123; Gilles Deleuze, Foucault, S. 69-71, 73; auch ders., Was
ist ein Dispositiv?, in: François Ewald/Bernhard Waldenfels (Hrsg.), Spiele der
Wahrheit. Michel Foucaults Denken, Frankfurt a.M. 1991, S. 153f.
setzt oder realisiert wird. In Wirklichkeit funktioniert das Dispositiv
selten so, wie es geplant war; es kommt beständig zu im voraus nicht zu
erwartenden Erschütterungen, Krisen und Situation des Scheiterns. Das
Dispositiv ist laut Foucault gezwungen, die aus diesen Erschütterungen,
Krisen und Scheitern entstehenden unintendierten und negativen Effekte
strategisch und produktiv in sich wieder zu reinvestieren. Dank dieses
Prozesses der strategischen Wiederauffüllung wird das Dispositiv nicht
als ein einheitliches und widerspruchsfreies System angesehen, sondern
vielmehr als ein von Strategien durchdrungenes Kraftfeld, in dem alle
von ihm eingeschlossenen heterogenen Elemente miteinander in Einklang
oder Widerspruch treten, sich messen, verschränken, sogar siegen,
unterliegen oder einen Ausgleich finden.40 Genau in diesem Sinne sieht
Deleuze zwei wichtige Folgerungen für Foucaults Philosophie des
Dispositivs. Es handelt sich um die Folgerung der „Zurückweisung der
Universalien“ und die der „Änderung der Orientierung“. Während das
Dispositiv diesem Orientierungswechsel zufolge jederzeit bereit ist, nach
der Variation, Vielheit, Neuartigkeit und Kreativität zu suchen, hört es
aufgrund jener Universalienabsage auf, sich nach der konstanten Koordinate und dem Ewigen zu orientieren.41
Genau in dieser ständigen Suche nach möglichen Abweichungen von
den gegebenen Richtungen, welche ihre Energie gerade aus den
Erschütterungen, Krisen und dem Scheitern gewinnt, hat Foucault die
genealogischen42 Spuren der Sicherheitsdispositive, das heißt die „Ge40
41
42
Vgl. Deleuze, Was ist ein Dispositiv? (Fn.39), S. 153; Lemke (Fn.35), S. 42f.;
Lemke/Krasmann/Brökling (Fn.1), S. 22f.
Vgl. Deleuze, Was ist ein Dispositiv? (Fn.39), S. 157f. Daraus ergibt sich ein
Problem, das man Foucault oft entgegen gehalten hat. Deleuze formuliert es wie
folgt, „[W]ie man nämlich den relativen Wert eines Dispositivs einschätzen kann,
insofern man sich nicht auf transzendentale Geltungen als universale Koordinaten
berufen kann?“ Mit anderen Worten: „Wollen wir behaupten, dass alle
Dispositive den gleichen Wert haben (Nihilismus)?“ Dazu meint er: „Bereits vor
langer Zeit haben Denker wie Spinoza oder Nietzsche gezeigt, dass die
Existenzweisen nach immanenten Kriterien zu gewichten wären, nach ihrem
Gehalt an »Möglichkeiten«, an Freiheit, an Kreativität – ohne irgendeinen Appell
an transzendentale Geltungen. Foucault wird sogar auf »ästhetische« Kriterien
anspielen, verstanden als Lebenskriterien, welche jeweils die Anmaßungen eines
transzendentalen Urteils durch eine immanente Bewertung ersetzen. Wenn wir
die letzten Bücher Foucaults lesen, so müssen wir das Programm, das er seinen
Lesern vorlegt, so gut wie wir nur können, begreifen. Eine intrinsische Ästhetik
der Existenzweisen als letzte Dimension der Dispositive?“ AaO, S. 158.
Im Anschluss an Nietzsche lehnt Foucault bei seiner genealogischen Methode die
Suche nach dem Ursprung ab. Für ihn gibt es in der Geschichte keine Konstanz,
89
schichte der Gouvernementalität“, gefunden. In dieser Geschichte der
Gouvernementalität wird vor allem die alte Machttechnik des christlichen
Pastorats untersucht, welche erlaubt, säkulare Sicherheitsdispositive mit
Hilfe der Globalsteuerung und des Kalküls des Staates zu gestalten, damit
das „Heil in dieser Welt“ für die Menschen insgesamt und für jeden
einzelnen gesichert werden kann. Darüber hinaus werden in der Geschichte der Gouvernementalität noch die Regierungspraxen des
Polizeistaates und des Liberalismus analysiert, welche für die spätere
Diskussion der Rekonstruktion des Verfassungsstaates im 4. Kapitel
unentbehrlich sind.
Während der Polizeistaat sich für Foucault immer darum sorgt, dass
zu wenig regiert wird, will der Liberalismus im Gegensatz dazu ein
Zuviel an Regierung vermeiden. Die entsprechenden Regierungstechniken, welche jeweils dem Polizeistaat und dem Liberalismus eigen sind,
sind die Polizei und die Gesellschaft. Wenn die Technik der Polizei im
Kontext der Frühneuzeit wegen ihrer allseitigen Zuständigkeit eine Art
von „Künstlichkeit“ darstellt, auf welche die Sicherheitsdispositive für
die Wohlfahrt der Individuen gestützt werden, dann geht die Technik der
Gesellschaft von einer „Natürlichkeit“ aus, die beim Einsatz der
Sicherheitsdispositive respektiert werden muss.43 Genau in diesem Sinne
kritisiert der Liberalismus den Polizeistaat nicht aufgrund des Ziels der
Herstellung einer „guten Ordnung und Sicherheit“, sondern wegen der
Technik der umfassenden Polizei, mit der dieses Ziel erreicht wird. Die
Herstellung einer „guten Ordnung und Sicherheit“ wird vom Liberalismus ebenfalls als das Hauptziel des Regierens erkannt, gebraucht wird
aber eine völlig andere Technik, wie zum Beispiel die sich natürlich
selbstregulierende Gesellschaft. 44 Erst durch dieses Umkodieren der
Sicherheitspolitik und -technik lässt sich erklären, wie die bisherigen
abendländischen Sicherheitsdispositive immer wieder ihre Kreativitäten
und Aktualitäten erhalten, nachdem sie Krisen und Zusammenbrüche
erlebt haben, und wie der Verfassungsstaat angesichts der durch den
Polizeistaat ausgelösten Regierungskrise vom Liberalismus als eine
43
44
90
keine Kontinuität, welche uns in die Vergangenheit führen kann. „Die Historie
wird »wirklich« in dem Maße sein, in dem sie das Diskontinuierliche in unser
eigenes Sein einführen wird.“ Vgl. SubW, S. 83-89, 95.
Vgl. StW, S. 42f.
Vgl. Gordon (Fn.1), S. 26f.; Lemke (Fn.14), S.187; Dean (Fn.19), S. 116-118;
ders., Critical and Effective Histories. Foucault’s Methods and Historical
Sociology, London u.a. 1994, S. 191.
ökonomische und rationale Regierungstechnologie erfunden wurde,
welche parallel zur liberalen Technik der Gesellschaft steht, damit die
„gute Ordnung und Sicherheit“ gewährleistet wird.
Die oben dargelegten zwei Problematiken, die alte Machttechnik des
christlichen Pastorats zum einen und die zwei entgegen gesetzten
frühneuzeitlichen Regierungspraxen vom Polizeistaat und Liberalismus
und ihre entsprechenden Regierungstechniken (beim Polizeistaat: die
Polizei und beim Liberalismus: die Gesellschaft und der Verfassungsstaat)
zum anderen, werden in den nächsten zwei Abschnitten weiter thematisiert.
C. Die Machttechnik des Pastorats
I. Rückkehr zur Pastoralmacht
Wie oben erwähnt, entwickeln sich seit der Frühneuzeit in der
abendländischen Gesellschaft allmählich die gouvernementalen
Sicherheitsdispositive.
Der
Betrieb
dieser
gouvernementalen
Sicherheitsdispositive ist zwar vor allem der Entstehung des Staates und
seiner umfassenden Instanz der Regulierung und Kontrolle zu verdanken,
aber das Hauptziel, welches diesen Sicherheitsdispositiven inhärent ist,
besteht nicht in der Aufrechterhaltung der Souveränität eines Fürsten über
sein Territorium und seine Untertanen, sondern in der Fürsorge für die
gesamte Bevölkerung und jeden einzelnen Menschen. Neben der politisch
zunehmend zentralisierten und zentralisierenden Macht des Staates seit
der Frühneuzeit, welche sich in der Form der Souveränität äußert und
stets die Blicke der Theoretiker und Historiker auf sich zog, ist die Macht
des Staates von den gouvernementalen Aktivitäten her zudem „eine
zugleich individualisierende und totalisierende Form der Macht“. Wie
wurde die Entstehung dieser Machttechniken in Gang gebracht, die
sowohl auf Individuen als auch auf die Bevölkerung zielen und beide auf
stetige Weise lenken sollen? Wie sind die abendländischen Gesellschaften zu Gefangenen dieser Kombination von Individualisierungstechniken
und Totalisierungsverfahren innerhalb der politischen Struktur des
Staates geworden? Dabei geht es Foucault nicht darum, dem Staat das
Geheimnis seines Seins und seines Wesens zu entreißen. Es geht vielmehr darum, das Problem des Staates von der Geschichte und den Praktiken der Gouvernementalität her zu erkunden, damit man die „Art von
91
politischem »double-bind«“ abschütteln kann, der in der gleichzeitigen
Individualisierung und Totalisierung durch moderne Machtstrukturen des
Staates besteht.45
Die Suche nach den genealogischen Spuren der Kumulation dieser
beiden Machttechniken führt Foucault auf die Thematik des christlichen
Pastorats, dessen Praxen in Foucaults Augen als das Urmodell der
Gouvernementalität gelten können. Im Vergleich zum Seelenheil im Jenseits scheint Foucault das Ziel der gouvernementalen Sicherheitsdispositive das Heil in dieser Welt zu sein, welches mehrere säkulare Bedeutungen beinhalten kann, wie zum Beispiel die der Gesundheit, des Wohlergehens (das heißt: ausreichende Mittel, Lebensstandard), des Schutzes
gegen Unfälle, der öffentlichen Hygiene, der Lebensdauer und der
Reproduktion der Bevölkerung.46 Mittels dieses Vergleiches möchte er
darauf hinweisen, dass der Einsatz der gouvernementalen
Sicherheitsdispositive vor allem auf das Vorbild des christlichen Pastorats gestützt ist, das sich in einer eigentümlichen Form von Macht,
nämlich der des „omnes et singulatim“ äußert.47 Genau in diesem Sinne
sollte man den modernen abendländischen Staat nicht nur als eine
Verkörperung der Konzeption der Souveränität ansehen, sondern auch als
eine Verwirklichung der alten Machttechnik der Pastoralmacht. Denn erst
durch Anleihen bei dieser Pastoralmacht entstanden die gouvernementalen Sicherheitsdispositive, die denn jahrhundertjahrlang unter dem
Schirm staatlicher Institutionen ausgearbeitet, rationalisiert und zentralisiert wurden.48
45
46
47
48
92
Vgl. KpV, S. 58; SM, S. 250; SP, S. 70.
Vgl. SM, S. 249. „Das bekannte „Wohlfahrtstaat-Problem“ bringt nicht nur die
Bedürfnisse oder die neuen Regierungstechniken der heutigen Welt zum
Vorschein. Es muss als das erkannt werden, was es ist: eines der zahlreichen
Reformulierungen der heiklen Abstimmung zwischen der auf Rechtssubjekte
ausgeübten politischen und der auf lebendige Individuen ausgeübten
Pastoralmacht.“ KpV, S. 60. Diesbezüglich meint Michael Oakeshott, dass im
Kontext der frühneuzeitlichen Politik der Zuversicht aus Sicherheit zuerst
Wohlfahrt und dann Heil abgeleitet wird. Vgl. Michael Oakeshott, Zuversicht
und Skepsis. Zwei Prinzipien neuzeitlicher Politik, Berlin 2000, S. 123.
Vgl. StW, S. 18; KpV, S. 58f.
Vgl. SM, S. 248, 259; Hermann Steinkamp, Die sanfte Macht der Hirten. Die
Bedeutung Michel Foucaults für die Praktische Theologie, Mainz 1999, S. 19.
II. Die Eigenart der Pastoralmacht
Die Eigenart der christlichen Pastoralmacht erklärt Foucault mit der
Hirtenmetapher. 49 Ihm zufolge ist die Hirtenmetapher weder griechischen noch römischen Ursprungs. Sie tauchte vielmehr zuerst in Ägypten
auf und wurde von den Hebräern weiterentwickelt. Anstatt der
Hirtenmetapher entwickelte sich in der griechischen und römischen
Antike eine Metapher des Schiffs. Im Vergleich zu dieser Schiffsmetapher impliziert jene Hirtenmetapher nach Foucault in erster Linie, dass es
nicht Gebiete oder Länder (Schiff), sondern Menschen (Herde) sind,
welche zu den wichtigsten Gegenständen der Regierung gehören sollten.
Anders als im griechischen Denkmodell, in dessen Mittelpunkt die Idee
der Streitschlichtung durch Gesetze steht, damit der Bestand des
Gemeinwesens gewährleistet wird, ist die Macht des Hirten, der seine
Herde versammelt, leitet und führt, grundsätzlich wohltätig. „Es geht
dabei nicht nur um die Rettung aller, aller zusammen, wenn die Gefahr
naht. Vielmehr geht es um dauernde, individualisierende und zielgerichtete Hut.“50 Dementsprechend muss der Hirte seine Herde insgesamt und
im einzelnen kennen. „Er muss nicht nur gute Weiden, die Gesetze der
Jahreszeiten und die Ordnung der Dinge, sondern auch die besonderen
Bedürfnisse eines jeden einzelnen kennen.“51 In diesem Sinne ist die
Macht des Hirten eine Machttechnik, die sich genau an dem Prinzip des
omines et singulatim orientiert. Außerdem ist die Macht des Hirten in der
Hirtenmetapher nach Foucault noch dadurch zu charakterisieren, dass die
Machtausübung eine „Pflicht“ darstellt. Natürlich gibt es in der griechischen Vorstellung auch eine Pflicht des Führers, der zufolge dieser seine
Entscheidungen im Interesse aller treffen muss und seine persönlichen
Interessen nicht voranstellen darf. Doch ist diese Pflicht in Foucaults
Augen „eine glorreiche“! Selbst wenn die Pflichterfüllung zum Tod des
Führers führt, wird dieses Opfer des Führers in das Heldentum und die
Großtat transformiert und durch die Lobpreisung der „Unsterblichkeit“ wettgemacht. „Demgegenüber ist die Hut des Hirten“, so Foucault,
„der »Hingabe« weit näher.“ „Was der Hirte auch tut, es ist auf das Wohl
49
50
51
Für die folgende Diskussion über das Thema der Hirtenmetapher siehe KpV, S.
58f.; StW, S. 17f. Vgl. auch Steinkamp (Fn.48), S. 24-27; Lemke (Fn.14), S.
153f.
KpV, S. 59.
Ebd.
93
seiner Herde ausgerichtet. Ihr gilt seine stete Sorge. Wenn sie schläft, hält
er Wache.“52 Hingabe und Wache: In diesen beiden Motiven und ihrer
Verschränkung verdichtet sich also gleichsam das sozialpsychologische
Substrat der Hirtenmetapher.53
Diese dem hebräisch-religiösen Kontext entstammende Hirtenmetapher wurde später vom christlichen Pastorat angenommen und auf vier
Weisen abgewandelt, welche alle zu Merkmalen der Pastoralmacht
wurden. Es handelt sich um das Seelenheil in der anderen Welt, das
Verantwortungsbewusstsein des Pastors, die Gehorsamstugend des
Gläubigen und die Wahrheitstechniken. Nach Foucault gehört „das
Christentum zu den Heilsreligionen, zu jenen Religionen, die von sich behaupten, den Einzelnen aus einer Realität in eine andere, vom Tod zum
Leben, aus der Zeit in die Ewigkeit zu führen“.54 Dies ist ein Gedanke
von Absterben und neuer Geburt, also eine Dialektik zwischen Diesseits
und Jenseits. Das Seelenheil durch den Selbstverzicht in dieser Welt
scheint Foucault vielleicht der wichtigste Charakter des Christentums. Im
Vergleich dazu gibt es zwar in der griechischen Vorstellung Themen
bezüglich des Selbstverzichts, aber dabei geht es nach Foucault vielmehr
um ein Opfer für die Stadt: die Rettung der Stadt anstelle der des Selbst in
der anderen Welt.55
Im „Hirte-Herde-Spiel“, wie Foucault es bezeichnet, ist der Pastor
nun der einzige, der von Gott den Auftrag erhielt, den Gläubigen aus
seinem Sündenfall zu retten. Dabei muss der Pastor die Verantwortung
für das Schicksal der ganzen Herde und jedes einzelnen Schafes auf sich
nehmen. Um seiner Herde zum Heil zu verhelfen, läuft der Pastor manchmal Gefahr, selbst verloren zu gehen. Dieses Riskieren seines Lebens ist
jedoch sein Weg zum Heil. So bildet sich eine Schicksalsgemeinschaft
von Pastoren und seinen Gläubigen, in welcher der Pastor die Verantwortung für die Gläubigen trägt und diese wiederum ihm absoluten Gehorsam leisten müssen. Der Wille des Pastors muss befolgt werden, „nicht
bloß weil und soweit er dem Gesetz entspricht, sondern grundsätzlich
weil es sein Wille ist“. Nach Foucault ist Gehorsam im Christentum eine
Tugend. Er ist nicht „ein vorläufiges Mittel zu einem Zweck, sondern
eher ein Selbstzweck“. Er ist außerdem noch ein „Dauerzustand“: „Die
52
53
54
55
94
Ebd..
Steinkamp (Fn.48), S. 26.
TS, S. 51. Vgl. auch KpV, S. 62.
Vgl. KpV, S. 62.
Schafe müssen ihrem Hirten beständig untertan sein: subditi“. Der Gehorsam ist also der ewige Verzicht auf eigenen Willen und das Akzeptieren
der permanenten Kontrolle des Pastors.56
Schließlich herrscht nach Foucault eine ganz besondere Kenntnis in
der Beziehung des Pastors zu einem jeden seiner Schafe: „Der Hirte muss
die materiellen Bedürfnisse jedes Mitglieds der Herde kennen und sie
wenn nötig befrieden. Er muss wissen, was vor sich geht, was jedes von
ihnen tut – seine offenbaren Sünden. Endlich muss er wissen, was in der
Seele eines jeden vorgeht, das heißt seine heimlichen Sünden, sein Fortschritt auf dem Weg zur Heiligkeit.“57 Dadurch gibt es einerseits eine
Reihe von strengen Wahrheitsverpflichtungen, welche fordern, dass jeder
die Gewissensprüfung aufnehmen versuchen muss, Fehler, Versuchungen
und Begierden in sich selbst ausfindig zu machen und diese Dinge
anderen Leuten gegen sich selbst mitzuteilen.58 Andererseits entstehen
entsprechende Wahrheitstechniken, mit deren Hilfe der bei der
Gewissensprüfung zuhörende Pastor in der Lage ist, dem Aussagenden zu
helfen, sich sowohl der Fehler als auch der innersten Geheimnisse bewusst zu werden, welche er weder sehen noch dechiffrieren kann. Hierdurch befindet er sich in einem Zustand, in welchem er seinem Lenker
seine Seelentiefen völlig offenbart und sich ihm dauernd unterwirft. Dies
ist also eine verwickelte Kombination aus Wahrheitsspiel und Machtspiel.
Während innerhalb des Wahrheitsspiels ständig das Ritual der
Wahrheitsenthüllung und Wahrheitsproduktion stattfindet, gibt es innerhalb des Machtspiels stets den Prozess der Subjektivierung, welcher die
Menschen schließlich in ein Netz der vollständigen Knechtschaft bringt.
Die dem Christentum eigenen Geständnis- bzw. Beichtverfahren sind Teil
dieser eigentümlichen Wahrheitstechniken, die gleichzeitig zum
Wahrheitsspiel und zum Machtspiel gehören.59 Diesbezüglich sagt Fou56
57
58
59
Vgl. KpV, S. 62; TS, S. 57f.; StW, S. 23f.
KpV, S. 62.
Vgl. TS, S. 52; FL, S. 36f. Außerdem meint Foucault, dass es noch andere
Wahrheitsverpflichtungen gibt: „So gibt es da die Pflicht, eine Reihe von Sätzen,
die das Dogma bilden, für Wahrheit zu halten; es gibt die Pflicht, gewisse Bücher
als eine bleibende Wahrheitsquelle zu betrachten; und die Pflicht, die
Entscheidungen gewisser Autoritäten in Wahrheitsangelegenheiten zu
akzeptieren.“ FL, S. 36.
Vgl. WW, S. 75-93; DW, S. 150; TS, S. 51; StW, S. 24f. Für Foucault sind diese
christlichen Geständnis- bzw. Beichtverfahren eigentlich den hellenischen
Selbsttechniken der Selbstprüfung und Gewissenserforschung entlehnt. Aber
während die Selbsttechniken für den Stoiker den Weg zur Vollkommenheit und
95
cault: „Nun ist das Geständnis ein Diskursritual, in dem das sprechende
Subjekt mit dem Objekt der Aussage zusammenfällt, und zugleich ist es
ein Ritual, das sich innerhalb eines Machtverhältnisses entfaltet, denn
niemand leistet sein Geständnis ohne die wenigstens virtuelle Gegenwart
eines Partners, der nicht einfach Gesprächspartner, sondern Instanz ist,
die das Geständnis fordert, erzwingt, abschätzt und die einschreitet, um
zu richten, zu strafen, zu vergeben, zu trösten oder zu versöhnen; ein
Ritual, in dem die Wahrheit sich an den Hindernissen und Widerständen
bewährt, die sie überwinden musste, um zutagezutreten; ein Ritual
schließlich, wo die bloße Äußerung schon – unabhängig von ihren
äußeren Konsequenzen – bei dem, der sie macht, innere Veränderungen
bewirkt: sie tilgt seine Schuld, kauft ihn frei, reinigt ihn, erlöst ihn von
seinen Verfehlungen, befreit ihn und verspricht ihm das Heil.“60 Das
christliche Pastorat hat also „diesen erstaunlichen Zwang erfunden und
einem jeden auferlegt, alles zu sagen, um alles auszulöschen, auch noch
die geringsten Fehler in einem ununterbrochenen, erbitterten, erschöpfenden Murmeln zu formulieren, dem nichts entwischen durfte, das aber
auch nicht einen Augenblick sich selber überleben durfte.“61
Angesichts der oben dargelegten Merkmale des Seelenheils, der
Verantwortung des Pastors, des Gehorsams des Gläubigen und der
individuellen Wahrheitstechniken lässt sich die dem christlichen Pastorat
eigene Form der Macht mit der folgenden Schilderung Foucaults
zusammenfassen: „Diese Form von Macht ist auf das Seelenheil gerichtet
(im Gegensatz zur politischen Macht). Sie ist selbstlos (im Gegensatz
zum Prinzip der Souveränität) und individualisierend (im Gegensatz zur
juridischen Macht). Sie erstreckt sich über das gesamte Leben und begleitet es ununterbrochen; sie ist mit einer Produktion von Wahrheit verbun-
60
61
96
Selbstbeherrschung weisen, sind dieselben Techniken beim christlichen Pastorat
auf den Verzicht auf das Selbst, das heißt auf die Selbstentsagung gerichtet. Vgl.
KpV, S. 62; TS, S. 56, 62; FL, S. 37f.; DW, S. 151. Außerdem gestaltet sich das
Verhältnis des Subjekts zu sich selbst in der christlichen Beichte eher in Form
einer juristischen Beziehung, bei der der Angeklagte dem Richter gegenübersteht.
Dem Beichtenden wird wegen seiner vergangenen Verfehlungen, die man Sünde
nennt, ein Schuldspruch auferlegt. Statt als Sündebeurteilung und als
Gerichtsverfahren gilt nach Foucault die Gewissensprüfung zum Beispiel bei
Seneca eher als Verwaltungspraxis, „die ihn in die Lage versetzt, verschiedene
Regeln oder Maximen zu reaktivieren, um sie für künftiges Verhalten lebendiger,
dauerhafter und wirksamer zu machen“. Vgl. DW, S. 155-158, 175; TS, S. 44f.;
SS, S. 85f.
WW, S. 79f.
LiM, S. 28.
den, der Wahrheit des Individuums selbst.“62
III. Die Säkularisierung der Pastoralmacht
Eigentlich wird die Pastoralmacht von Foucault von Anfang an als
Kunst der Regierung der Menschen definiert, das heißt „die Menschen zu
führen, zu lenken, und zu leiten, ihnen zu folgen und sie anzutreiben“.
Ihre Aufgabe ist nicht nur, alle Menschen ihr ganzes Leben lang in Obhut
zu nehmen, sondern auch, sie zur Erlösung und zum Heil in der anderen
Welt zu führen.63 Dabei geht es um ein merkwürdiges Spiel, dessen
Elemente nach Foucault „Leben, Tod, Wahrheit, Gehorsam, Individuen,
Identität“ sind.64 Seit dem 16. Jahrhundert wurde diese pastorale Kunst
der Menschenführung wegen der sozialpolitisch-wirtschaftlichen
Strukturwandlung65 allmählich säkularisiert. Außer der Regierung der
Seelen gab es seither noch andere Problematiken des Regierens: Wie
werden Kinder in der Familie und in der Schule, Soldaten in der Armee,
Arbeiter in der Werkstatt, Arme und Kranke in der Gemeinde, in der
Stadt und im Staat regiert? Bei dieser Multiplizierung und Vervielfälti62
63
64
65
SM, S. 248.
Vgl. StW, S. 22; SM, S. 248. Vgl. auch „Die christliche Pastoral bzw. die
christliche Kirche, insofern sie eben eine spezifisch pastorale Aktivität entfaltete,
hat die einzigartige und der antiken Kultur wohl gänzlich fremde Idee entwickelt,
dass jedes Individuum unabhängig von seinem Alter, von seiner Stellung sein
ganzes Leben hindurch und bis ins Detail seiner Aktionen hinein regiert werden
müsse und sich regieren lassen müsse: dass es sich zu seinem Heil lenken lassen
müsse und zwar von jemandem, mit dem es in einem umfassenden und zugleich
peniblen Gehorsamsverhältnis verbunden sei. Und diese Operation der Lenkung
zum Heil in einem Gehorsamsverhältnis mit jemandem muss sich in einem
dreifachen Verhältnis zur Wahrheit vollziehen: Wahrheit verstanden als Dogma;
Wahrheit auch insofern, als diese Lenkung eine spezielle und individualisierende
Erkennung der Individuen impliziert; und schließlich auch insofern, als diese
Lenkung sich als eine reflektierte Technik entpuppt, die allgemeine Regeln,
besondere Erkenntnis, Vorschriften und Methoden für Untersuchungen,
Geständnisse, Gespräch usw. enthält.“ WK, S. 9f.
Vgl. KpV, S. 62.
Diese Strukturwandlung seit dem 16. Jahrhundert ist nach Foucault mit zwei sich
überschneidenden Prozessen zu erklären: „Zum einen selbstverständlich der
Prozess, der durch Auflösung der feudalen Strukturen allmählich die großen
Territorial-, Verwaltungs- und Kolonialstaaten einrichtet und aufbaut. Und
sodann eine ganz andere Bewegung – im übrigen nicht frei von Überlagerungen
mit der ersten -, die zunächst mit der Reformation, dann der Gegenreformation
von neuem die Frage aufwirft, wie man hier auf Erden geistlich zu seinem Heil
geleitet werden will.“ Gouv, S. 42; vgl. auch KpV, S. 62f.; StW, S. 28.
97
gung der Menschenregierung ging es nicht mehr um das Seelenheil in der
anderen Welt, sondern vielmehr um das Heil in dieser Welt. Aus der
Säkularisierung der Pastoralmacht, deren Wirkungsweise von Anfang an
auf omnes et singulatim gerichtet war, entwickelten sich schließlich zwei
entgegengesetzte Machttechnologien. Diese sind die global, quantitativ
orientierte und auf die Bevölkerung zielende Machttechnologie der
Gouvernementalität und die analytisch orientierte und auf das Individuum
und seinen Körper zielende Machttechnologie der Disziplin.66
Angesichts ihrer vielfältigen individualisierenden Wirkungsweisen
(der Suche nach dem individuellen Seelenheil, dem persönlichen
Gehorsamsverhältnis zwischen dem Subjekt und seinem Seelenlenker
sowie der speziellen und individualisierenden Kenntnis der Individuen
durch die Geständnisverfahren) wird die Pastoralmacht von Foucault
außerdem als eine Art von individualisierender Macht betrachtet.67 Die
Pastoralmacht ist zwar mit der Disziplinarmacht, deren Wirkungsweise
ebenfalls individualisierend orientiert ist68, nicht völlig gleichzusetzen.
Wenn man allerdings diese beiden von dem ihnen gemeinsamen
Macht-Wissen-Komplex her versteht, erkennt man die Pastoralmacht als
Wurzel der Disziplinierungstechniken.69
Bereits in den christlichen Geständnis- und Beichtverfahren, wie
oben geschildert, ist die Kombination von Wahrheitsspiel und Machtspiel
vorhanden. So sind nicht nur die Verfahren der Wahrheitsenthüllung und
Wahrheitsproduktion zu finden, sondern auch die der Subjektivierung
und Unterwerfung, durch die das Subjekt sich in den Netzen des Gehorsams verfängt. Dieser sich besonders in den christlichen Geständnis- und
Beichtverfahren gestaltende Macht-Wissen-Komplex wird später von der
Disziplinarmacht, und zwar von einem ihrer technischen Instrumente, der
Prüfung, als die „innere Logik“ übernommen.70 In der Machtausübung
der Disziplin wird also ebenfalls ein dauerhaftes Unterwerfungsverhältnis
und eine Art von analytischem Wissen gebildet, in dem jeder seine eigene
Individualität erhalten kann. Trotz dieser Gemeinsamkeit sind die
Pastoralmacht und die Disziplinarmacht in bezug auf ihre Zielrichtung zu
66
67
68
69
70
98
Vgl. SM, S. 249.
Vgl. KpV, S. 58; SM, S. 248f.
Vgl. MaM, S. 31-33; ÜS, S. 187, 237, 243-250, 254, 261, 288.
Vgl. Steinkamp (Fn.48), S. 40-49.
Vgl. aaO, S. 44. Für Foucault steht die Prüfung genau im Zentrum der Prozeduren,
„die das Individuum als Effekt und Objekt von Macht, als Effekt und Objekt von
Wissen konstituieren“. ÜS, S. 247. Dazu siehe Kapitel 2. C. III.
unterscheiden. Während die Pastoralmacht schließlich für das individuelle Seelenheil in der Welt des Jenseits sorgt, ist die Disziplinarmacht
säkularisiert orientiert. Nicht nur die Vertiefung der Unterwerfung,
sondern auch die Schaffung eines Verhältnisses, in dem der Körper
immer gefügiger und nützlicher gemacht und seine Kräfte effizient
gesteigert werden, sind Ergebnisse der Säkularisierung der Pastoralmacht,
welche sich im Bereich der Disziplin äußern und in Form der
individualisierenden „Taktik“ allmählich über die ganze Gesellschaft ausbreiten. 71 Dies lässt sich mit den folgenden Worten Foucaults
zusammenfassen: „Eine der Konsequenzen ist, dass Macht vom pastoralen Typ, die jahrhundertelang, ja länger als ein Jahrtausend an eine bestimmte Institution gebunden gewesen war, plötzlich den gesamten
Gesellschaftskörper durchdrang; dabei konnte sie sich auf eine Menge
von Institutionen stützen. Anstelle einer pastoralen und einer politischen
Macht, die mehr oder weniger miteinander im Bunde waren und mehr
oder weniger miteinander rivalisierten, gab es nun eine individualisierende »Taktik«, die das Kennzeichen einer Reihe von Mächten wie der
Familie, der Medizin, der Psychiatrie, der Erziehung, der Arbeitgeber
usw. war.“72
Ein weiteres Ergebnis der Säkularisierung der Pastoralmacht ist die
Entstehung der Gouvernementalität, welche ihrerseits das bekannte
„Wohlfahrtsstaat-Problem“ zum Vorschein bringt 73 und vielfältige
Sicherheitsdispositive für die Menschen als Gesamtheit und als Individuum einführt. Dies wird im nächsten Abschnitt detailliert besprochen.
D. Die Geschichte der Gouvernementalität
I. Die frühneuzeitlichen durch Staatsräson und Polizei säkularisierten
Sicherheitsdispositive
Ab dem 16. Jahrhundert geriet die abendländische Gesellschaft
wegen der Reformation in heftige Auseinandersetzungen. Anstelle der
mittelalterlichen, hierarchischen, feudalen Lehnsordnung breiteten sich
allmählich die zentralisierenden Machtbildungsprozesse über das ganze
Abendland aus. Dies führt schließlich zur Geburt des modernen souverä71
72
73
Dazu siehe Kapitel 1, B.
SM, S. 249f.
Vgl. KpV, S. 60. Vgl. auch Steinkamp (Fn.48), S. 33.
99
nen Staates.74 Während der Staat sich die feudalen Mächte aneignete und
das Gewaltmonopol bildete, entwickelten sich im Rahmen staatlicher
Institutionen, welche dieses Gewaltmonopol innehatten, zugleich die
komplexen Sicherheitsdispositive, welche als das säkularisierte Heil in
dieser Welt zu verstehen sind. Diese Sicherheitsdispositive werden nach
Foucault vor allem durch zwei spezifische Regierungstechnologien geprägt: Diese sind die Staatsräson und die Polizei.75
Mit der Herauslösung des politischen Denkens aus der universalen
Idee des mittelalterlichen corpus christianum und der christlichen
traditionellen Regierungsform, deren Endziel beispielweise nach Thomas
von Aquin ist, durch das „tugendvolle Leben in den Genuss der göttlichen
Verheißungen“ zu gelangen76, ist der Boden bereitet für einen säkularisierten und rein politischen Gedanken der Staatsräson, welcher vor allem
eine hohe Rationalität und Zweckmäßigkeit in der Selbsterhaltung des
Staates fordert. Im Prinzip wird Machiavelli als der erste politische
Theoretiker anerkannt, der die Idee der Staatsräson, also die „Ethik“ der
Selbsterhaltung des Staates aufgebracht hat, obwohl bei ihm der Begriff
Staatsräson oder ragione di stato noch nicht vorkommt.77 Foucault ist
74
75
76
77
100
Vgl. Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende
Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München
1999, S. 16.
Mit Hilfe der Erforschung dieser politischen Regierungstechnologien und ihrer
spezifischen Rationalität möchte Foucault herausfinden, „wie wir zu Gefangenen
unserer eigenen Geschichte geworden sind“, und wie es kommt, „dass die
Rationalisierung zur Raserei der Macht führt.“ Dieser Gedanke ist bereits in
Überwachen und Strafen zu erkennen, nämlich „die Geschichte der Gegenwart zu
schreiben“. KpV, S. 58; WK, S. 24; ÜS, S. 43. Außerdem ist diese historische
Untersuchung genau ein Teil der Foucaultschen Arbeit von der sogenannten
„historische[n] Ontologie unserer selbst“, die sich auf drei Hauptfragen bezieht:
„Wie haben wir uns als Subjekte unseres eigenen Wissens konstituiert? Wie
haben wir uns als Subjekte konstituiert, die Machtbeziehungen ausüben oder sich
ihnen unterwerfen? Wie haben wir uns als moralische Subjekte unserer
Handlungen konstituiert?“ WA, S. 52; vgl. auch SM, S. 243; Aub, S. 699-702.
Vgl. Thomas von Aquin, Über die Herrschaft der Fürsten, Stuttgart 1999, S. 54.
Vgl. PTI, S. 173; KpV, S. 64f.
Vgl. Friedrich Meinecke, Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte, 2.
Aufl., München u. Berlin 1925, S. 36; Herfried Münkler, Machiavelli. Die
Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik
Florenz, Frankfurt a.M. 1995, S. 282-284; Reinhold Zippelius, Allgemeine
Staatslehre. Politikwissenschaft, 12. Aufl., München 1994, S. 3; Helmut Coing,
Grundzüge der Rechtsphilosophie, 5. Aufl., Berlin u.a. 1993, S. 30; Christian
Ruby, Einführung in die politische Philosophie, Berlin 1997, S. 71. Außerdem
wird Machiavelli aufgrund seines Gedankens der Selbsterhaltung des Staates
jedoch der Meinung, dass die Theoretiker der Staatsräson versuchten,
sich von der christlichen Regierungsform wie auch von Machiavelli
fernzuhalten. Denn während Machiavellis gesamte Analyse sich nach
Foucault damit beschäftigt, was die Verbindung zwischen Fürst und Staat
erhält oder stärkt, geht es bei der Idee der Staatsräson um die Existenz
und die Natur des Staates selbst.78
In Foucaults Augen wird die Staatsräson strategisch als neue Kunst
der Regierung erfunden, deren Ziel es gerade nicht ist, die Macht oder die
Sicherheit des Fürsten zu stärken, sondern die Stärke des Staates in den
heftigen Auseinandersetzungen zwischen den kriegerischen territorialen
Entitäten aufrechtzuerhalten. 79 Durch die Staatsräson lässt sich das
Regieren des Staates vor allem von Sitte und Tradition loslösen und zu
rationalem Wissen hinwenden. Das heißt: Der Staat sollte sich in erster
Linie nach rationalen Gesetzen regieren lassen, die ihm oder seiner Natur
eigen sind. Deshalb ist es wichtig geworden, die Fähigkeiten des Staates
und die Mittel, diese Fähigkeiten zu erweitern, durch die „politische
Arithmetik“, das heißt die Statistik, bekannt zu machen.80
Im allgemeinen Rahmen der Staatsräson wurden nach Foucault zwei
wichtige Technologien für die Stärkung des Staates entwickelt: nämlich
das Dispositiv des Militärs und der Diplomatie, nach welchem der
Mechanismus des zwischenstaatlichen Machtgleichgewichts in Europa
herausgestellt wird, und das Dispositiv der Polizei, nach welchem die
Bevölkerung einerseits mittels der Statistik und andererseits mittels der
Disziplin reguliert wird.81 Schon im 15. bis 17. Jahrhundert, aber auch
78
79
80
81
noch als der erste politische Theoretiker der Neuzeit angesehen, der die Politik
und den Staat vom christlichen Seelenheil befreit und ihnen eine zuvor nicht
gekannte Autonomie verleiht. Deshalb ist dieser Paradigmenwechsel in der
Geschichte der politischen Theorie immer wieder mit dem kosmologischen
Paradigmenwechsel des Kopernikus verglichen worden, wie Münkler
folgendermaßen beschreibt: „Wie Kopernikus die Erde in einen Planeten der
Sonne verwandelt habe, so habe Machiavelli den Staat aus einem Planeten in eine
Sonne verwandelt.“ Münkler, aaO, S. 99f.
Vgl. KpV, S. 64. Vgl. auch PTI, S. 172-174; StW, S. 29, 33.
Vgl. StW, S. 10; PTI, S. 174.
Vgl. PTI, S. 172-75; Gouv, S. 56; StW, S. 29-33; KpV, S. 64.
Vgl. StW, S. 36f.; FCF, S. 240; Gouv, S. 67. Zur Entwicklung des
zwischenstaatlichen Machtgleichgewichts in Europa siehe etwa Wolfgang
Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, München 1999, S. 378ff.; Hagen Schulze,
Staat und Nation in der europäischen Geschichte, 2. Aufl., München 1995, 84ff.;
Otfried Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München 1999, S.
242, 258, 272.
101
noch im 18. Jahrhundert beinhaltete der Begriff Polizei einen „Zustand
guter Ordnung im Gemeinwesen“, „wo der Bürger oder Untertan sich
ordentlich, züchtig, gesittet, ehrbar verhielt, wo das menschliche
Zusammenleben im Gemeinwesen geordnet war“. 82 Der polizeiliche
Zustand guter Ordnung bezog sich nicht nur auf die Herstellung von
Ruhe und Ordnung, sondern auch auf die Regulierung des Glückes und
der Wohlfahrt der Individuen.83 Der Einsatz der Polizei zielte daher nicht
allein auf das Streben nach einer guten Ordnung ab, in der das
Zusammenleben der Menschen, der Wohlstand, das Glück und das gute
Leben der Bevölkerung besser gesichert werden können. Ziel war außerdem noch eine „arbeitsethische“ Gesellschaft, in welcher allen Bürgern
ein einheitliches und allumfassendes Tätigkeitsmuster aufgezwungen
werden sollte, damit jeder einzelne sich vollkommen entwickele und
geheilt werde.84
Zwar wird die Förderung der menschlichen Vollkommenheit unter
der „Politik der Zuversicht“, wie Michael Oakeshott sie genannt hat, zur
wesentlichen
Aufgabe
der
frühneuzeitlichen
polizeilichen
Sicherheitsdispositive und der entsprechenden Tätigkeit des Regierens.85
82
83
84
85
102
Franz-Ludwig Knemeyer, Polizeibegriffe in Gesetzen des 15. bis 18. Jahrhunderts.
Kritische Bemerkungen zur Literatur über die Entwicklung des Polizeibegriffs, in:
AöR 92 (1967), S. 155.
Vgl. Eckart Pankoke, Von „guter Policey“ zu „socialer Politik“. „Wohlfahrt“,
„Glückseligkeit“ und „Freiheit“ als Wertbindung aktiver Sozialstaatlichkeit, in:
Christoph Sachße/Florian Tennstedt (Hrsg.), Soziale Sicherheit und soziale
Disziplinierung. Beiträge zu einer historischen Theorie der Sozialpolitik,
Frankfurt a.M. 1986, S. 148, 150ff.
Vgl. Oakeshott (Fn.46), S. 118, 122f.
Vgl. ebd, S. 56, 61-65, 93. Durch die Untersuchung der zwei entgegengesetzten
Prinzipien neuzeitlicher Politik, nämlich der „Politik der Zuversicht“ und der
„Politik der Skepsis“, versucht Oakeshott zwischen der Legitimation der
Regierung und der Tätigkeit der Regierung zu unterscheiden. Interessant ist, dass
diese zwei Forschungsaspekte genau den beiden von Foucault aufgestellten
Machttypen von Souveränität und Gouvernementalität entsprechen. Oakeshott
interessiert sich nicht für die Frage, wer aufgrund welcher Legitimation regieren
sollte (diese Frage lautet bei Foucault, wie die souveräne Macht legitimiert
werden sollte), sondern dafür, was die Aufgabe einer Regierung sein sollte, die in
der von uns für richtig gehaltenen Weise zusammengesetzt und autorisiert ist
(diese Frage gehört ebenso zum Problembereich der Gouvernementalität bei
Foucault). Vgl. S. 18. Oakeshott hat zwar auch schon bemerkt, dass die
Gesellschaft sich eines Tages wegen der uneingeschränkten Zuständigkeit
schließlich in ein panoptisches System verwandeln wird. Vgl. S. 64f. Es muss
aber angemerkt werden, dass das panoptische System oder die Disziplin in
Oakeshotts Analyse der Regierungstätigkeit bloß als ein Phänomen angesehen
Tatsächlich steht dieses Anliegen aber im Dienste der Kraftbildungsprozesse des Staates. Im Rahmen der Staatsräson ist allein der Staat sein
eigener Zweck. Demzufolge wurden die polizeilichen Sicherheitsdispositive eingesetzt, um das Individuum zu einem für den Staat wichtigen
Element zu machen. Von da an wird der positive Wert der Bevölkerung
als Faktor für die Stärkung des Staates angesehen. In den Augen der
Merkantilisten des 17. Jahrhunderts, so Foucault, seien Bevölkerung,
Grundlegung des Reichtums, Produktivkraft und Einordnung ein- und
dasselbe.86 Sie alle sind die notwendigen Bedingungen für die Stärkung
des Staates. Daher muss alles, was passiert, von der Polizei erfasst
werden. Von der Taufe, der Kindererziehung, der Hochzeit, dem
Berufszustand jedes Einzelnen über die Nothilfe für die Armen, Alten
und Kranken bis hin zu den Nahrungsmitteln, den Gütern, dem Handel,
den Märkten, den Bodenschätzen, den Straßen sowie Unfälle oder Unglücke wie Hungersnot und Epidemien, die Geburten- und Sterberate innerhalb der Bevölkerung, sie alle sind zum Gegenstand der Polizeiüberwachung und -verwaltung geworden.87 Die Polizei versucht also mit allen
Kräften, die Menschen programmmäßig zu disziplinieren und zu regulieren.88 „Mit dem neuen Polizei-Staat hat die Regierung es nun mit Individuen zu tun, und zwar nicht nur, soweit deren rechtlicher Status betroffen
ist, sondern mit Individuen als lebendigen, arbeitenden, wirtschaftenden
Wesen.“89 Das wahre Objekt der Polizei, wie Louis Turquet de Mayenne
zu Beginn des 17. Jahrhunderts bereits geschildert hat, ist also der
86
87
88
89
wird, das sich aus dem Streben nach der menschlichen Verbesserung und
Vollkommenheit notwendigerweise ergibt. Im Vergleich zur Machtanalyse von
Foucault sieht Oakeshott weder die Disziplin noch die Gouvernementalität als
selbständige Technologien der Macht an.
StW, S. 10. Zu der Bevölkerungspolitik im Merkantilismus siehe etwa Karl-Heinz
Schmidt, Merkantilismus, Kameralismus, Physiokratie, in: Otmar Issing (Hrsg.),
Geschichte der Nationalökonomie, 3. Aufl., München 1994, S. 43-45.
In diesem Sinne meinte das Wort Polizei nach Knemeyer außerdem noch „Gesetz,
gerichtet auf die Herstellung und (oder) Erhaltung des Zustandes guter Ordnung
des Gemeinwesens“. Knemeyer (Fn.82), S. 165.
Vgl. KpV, S. 64-66; PTI, S. 180-182.
PTI, S. 180. Hier hat der von Foucault gebrauchte Begriff „Polizei-Staat“ mit der
ebenfalls oft als „Polizeistaat“ bezeichneten Willkürherrschaft moderner
Diktaturen wenig zu tun. Im Rahmen der Gouvernementalität bezieht sich
„Polizei-Staat“ auf den wohlfahrtsstaatlichen Polizeibegriff. Vgl. auch Hans. J.
Wolff/Otto Bachof/Rolf Stober, Verwaltungsrecht I, 11. Aufl., München 1999, S.
105.
103
Mensch.90
Die Polizei gilt nun in der Machtanalytik Foucaults als eine
Kombination aus Gouvernementalität, Disziplin und Souveränität.91 Sie
ist also nicht allein der für Souverän zur Verfügung stehende Machtapparat, der versucht gemeinsam mit den Gesetzen die unterworfenen
Rechtssubjekte zu prägen. Sie ist zugleich auch die Disziplinarinstitution,
die die Individuen überwacht und kontrolliert, und die gouvernementale
Regierungstechnologie, die die Bevölkerung global ökonomisch reguliert.92 Dank der Polizei hat Foucault eine eigene Form der Rationalität
der Staatsmacht herausgefunden, welche ihm immer reflexiv und sich
ihrer Eigenart vollkommen bewusst zu sein scheint.93
II. Der Machtexzess durch die Gouvernementalisierung des Staates
Die bisherigen Darlegungen, von der alten Machttechnik des Pastorats bis zur Entstehung der frühneuzeitlichen polizeilichen
Sicherheitsdispositive, in denen das Machtdreieck von Souveränität,
Disziplin und Gouvernementalität zu sehen ist, kann man zu dem
zusammenfassen, was Foucault als die Gouvernementalisierung des
Staates bezeichnet. 94 Mit diesem Begriff möchte Foucault vor allem
darauf hinweisen, dass durch den Prozess der Gouvernementalisierung
dem Staat die Möglichkeit verliehen wurde, nicht nur innerhalb des
ständigen internationalen Wettstreits zwischen Mächten weiter zu überleben, sondern auch seine Tätigkeit von der Sicherheit der Bevölkerung her
statt von der Sicherheit des Territoriums neu zu definieren.
Davon ausgehend ist der Staat für Foucault weder als „eine Art
politischer Universalie“ noch als eine „an sich autonome Quelle der
Macht“ zu verstehen. Der Staat hat kein Wesen und ist nichts anderes als
„der bewegliche Effekt eines Regimes vielfältiger Gouvernementalität“,
welcher den Prozess einer „ständigen Verstaatlichung oder ständiger Ver90
91
92
93
94
104
Vgl. PTI, S. 180.
Zur Betrachtung der Machtfunktion der frühneuzeitlichen Polizei aus der
Perspektive der Disziplin und der Souveränität siehe Kapitel 2, D. I., II.
Vgl. Erik Grawert-May, Zur Geschichte von Polizei- und Liebeskunst. Versuch
einer anderen Geschichte des Auges, Tübingen 1980, S. 67.
Vgl. KpV, S. 63.
Wie Foucault sagt: „Vielleicht ist das wirklich Wichtige für unsere Moderne, d.h.
für unsere Aktualität, nicht die Verstaatlichung der Gesellschaft, sondern das,
was ich eher die »Gouvernementalisierung« des Staates nennen würde.“ Gouv, S.
65.
staatlichungen“ ermöglicht, in dem all „die Finanzangelegenheiten, die
Investitionsweisen, die Entscheidungszentren, die Formen und Typen der
Kontrolle und die Beziehungen zwischen den lokalen Mächten und der
zentralen Autorität“ verändert, verschoben, umgestürzt oder allmählich
ins Rutschen gebracht werden.95 Dank dieser unterschiedlichen Praktiken
der Gouvernementalität ist das zu bestimmen, „was in die Zuständigkeit
des Staates gehört und was nicht in die Zuständigkeit des Staates gehört,
was öffentlich ist und was privat ist, was staatlich ist und was nicht staatlich ist“. Wie Foucault darlegt: „Also darf man den Staat in seinem
Überleben und den Staat in seine Grenzen nur von den allgemeinen
Taktiken der Gouvernementalität her verstehen.“96
Durch die Gouvernementalisierung des Staates lässt sich die strategische Position desselben in den ganzen Machtverhältnissen verstärken.
Das bedeutet: In bezug auf die Menschenregierung spielt der Staat nun
eine immer wichtigere Rolle. Die Funktion des Staates ist es, „die allgemeine Hülle, die Instanz umfassender Kontrolle, das Regulierungs- und
in gewissem Maß auch Verteilungsprinzip aller Machtverhältnisse in
einem gegebenen gesellschaftlichen Gebilde darzustellen“. 97 Diese
Verstärkung der strategischen Position des Staates wird in den folgenden
Diskursen Foucaults deutlich: „Seit mehreren Jahrhunderten ist der Staat
eine der bemerkenswertesten und zugleich respektheischendsten Formen
menschlicher Führung. Bezeichnenderweise hat die politische Kritik dem
Staat vorgeworfen, zugleich Individualisierungsfaktor und totalitäres
Prinzip zu sein. Ein Blick auf die sich herausbildende Staatsrationalität
und darauf, was ihr erstes Polizei-Projekt war, macht klar, dass der Staat
schon von Anfang an sowohl individualisierend als auch totalitär ist. Ihm
das Individuum und dessen Interessen entgegenzustellen, ist nicht weniger gewagt, als es der Gemeinschaft und ihren Bedürfnissen
entgegenzustellen.“98 Im Anschluss daran sagt er weiter: „Von der Idee,
dass der Staat ein eigenes Wesen und eine eigentümliche Bestimmung besitzt, bis hin zu dem Begriff vom Menschen als einem lebendigen Individuum oder einem Teil einer Bevölkerung, die in Wechselwirkung mit der
Umwelt steht, erkennen wir, dass der Zugriff des Staates auf das Dasein
des Einzelnen immer nachdrücklicher wird, dass die Probleme des
95
96
97
98
SP, S. 69f.
Gouv, S. 66.
SM, S. 258.
KpV, S. 66.
105
Lebens für die politische Gewalt an Bedeutung gewinnen und dass sich
neue Arbeitsfelder für die Sozial- und Humanwissenschaften herausbilden, insofern sie sich mit den Themen individuellen Verhaltens innerhalb
der Bevölkerung sowie mit den Beziehungen zwischen einer Bevölkerung
und ihrer Umwelt befassen.“99
Mit dem Ziel der frühneuzeitlichen Bevölkerungsführung hätte diese
Verstärkung der strategischen Position des Staates das Streben nach dem
Wohl für alle und jeden einzelnen begünstigen sollen. In Wirklichkeit beschleunigt sie jedoch die Entstehung eines „Machtexzesses“100, innerhalb
dessen es die stetige Korrelation zwischen einer wachsenden
Individualisierung und einer immer stärker werdenden Totalisierung gibt
und von dem die Menschen heimgesucht werden. Im Vergleich zur
Machtsteigerung des absolutistischen Polizeistaates, in dem die drei
unterschiedlichen
Modi
von
der
zentralisierend-souveränen,
individualisierend-disziplinären
und
regulierend-gouvernementalen
101
Macht bereits zu spüren sind , ist die Raserei der Macht durch den
gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstehenden evolutionistischen, biologisch-medizinischen Staatsrassismus der bemerkenswertere.102
99
100
101
102
106
PTI, S. 185.
Die von Foucault abwechselnd gebrauchten Begriffe, wie etwa der „Machtexzess“,
die „Machtsteigerung“ oder die „Raserei der Macht“, weisen nach Foucault
eigentlich auf eine „Krise der Regierung“ hin. Vgl. WK, S. 19f., 24; ME, S.
118-120.
Aber ob die Staatsmacht sich in dem absolutistischen Polizeistaat in Wirklichkeit
doch individualisierend und totalisierend auf alle und jeden einzelnen auswirkte,
wie Foucault unterstellt, ist umstritten. Zum Beispiel meint Oestreich: „Die
absolutistische Administration kannte keine volle »Erfassung« einer nivellierten
Massengesellschaft bis in die Familien, sie griff nicht in das Ganze des privaten
Lebens des Einzelnen ein, sie besaß nicht den brutalen Willen und die ihm
entsprechenden Möglichkeiten zur Meinungs- und Stimmungslenkung im Sinne
einer einheitlichen offiziellen Staats- und Parteiideologie (C. J. Friedrich). Von
einer totalen Kontrolle der öffentlichen und der persönlichen Sphäre durch den
absolutistischen Staat kann nicht die Rede sein. Schon 1935 urteilte ein
unverdächtiger Zeuge, der historisch so bewanderte Soziologe Karl Mannheim:
»Der Absolutismus war nur scheinbar totalitär. Meist besaß er gar nicht die Mittel
zur Beherrschung sämtlicher Lebensbereiche aller Einwohner des betreffenden
Territoriums.«“ Gerhard Oestreich, Geist und Gestalt des frühmodernen Staates.
Ausgewählte Aufsätze, Berlin 1969, S. 180f.
Vgl. VG, S. 94, 297f. Über den Staatsrassismus sprach Foucault bereits in seiner
früheren Arbeit bezüglich der Bio-Macht und der anschließenden
Regulierungstechnologie. Für ihn ist dieser eine der konkreten Entwicklungen der
„Verstaatlichung des Biologischen“. VG, S. 276. Dazu sagt er: „Mit dem
Aufkommen der Bio-Macht zieht der Rassismus in die Mechanismen des Staates
In diesem Staatsrassismus ist und wird der Staat nach Foucault „zum
Beschützer der Integrität, der Überlegenheit und Reinheit der Rasse“.
Dementsprechend sieht der Staat es als seine Aufgabe an, „die Gesellschaft gegen alle biologischen Gefahren“ zu verteidigen, die von der
„Unter-Rasse“ ausgehen, damit „die Reinheit des Blutes“ und „die Reinigung der Rasse“ gewährleistet werden können.103 Hier drängt sich natürlich als das schrecklichste Beispiel der Nazistaat auf, der in Foucaults
Augen als eine der Transformationen des Staatsrassismus im 20. Jahrhundert gilt.104 Zum Machtexzess dieses nationalsozialistischen Staatsrassismus sagt Foucault: „Wir haben in der Nazigesellschaft mithin diesen
außergewöhnlichen Sachverhalt vorliegen, dass sie als Gesellschaft die
Bio-Macht absolut verallgemeinert, aber gleichzeitig das souveräne Recht
zu töten generalisiert. Die beiden Mechanismen, der klassische, archaische, der dem Staat das Recht auf Leben und Tod über die Bürger verlieh,
und dieser neue rund um die Disziplin, die Regulierung, kurz die
Bio-Macht organisierte Mechanismus, fügen sich ineinander. So lässt sich
schließlich sagen: Der Nazistaat hat das Feld des Lebens, das er verbes-
103
104
ein. Ab da schreibt sich der Rassismus als grundlegender Mechanismus der
Macht ein, wie sie in den modernen Staaten eingesetzt wird, und bedingt, dass es
kaum ein modernes Funktionieren des Staates gibt, das sich nicht zu einem
bestimmten Zeitpunkt, an einer gewissen Grenze und unter bestimmten
Bedingungen des Rassismus bedient.“ „Die Besonderheit des modernen
Rassismus, seine Spezifik, ist nicht an Mentalitäten, Ideologien und Lügen der
Macht gebunden. Sie ist an die Technik der Macht, an die Technologie der Macht
gebunden.“ Sie ist weiter an „das Funktionieren des Staates“ gebunden, wodurch
„eine ganze Politik der Bevölkerung, der Familie, der Ehe, der Erziehung, der
gesellschaftlichen Hierarchisierung, des Eigentums und eine lange Reihe
ständiger Eingriffe, in den Körper, in das Verhalten, in die Gesundheit, in das
Alltagsleben“ in Gang gesetzt werden. VG, S. 295, 299; WW, S. 178.
VG, S. 75, 95, 299; WW, S. 178.
Im Vergleich zur „dramatischen und theatralischen Transformation“ des Nazismus
gibt es nach Foucault noch eine andere Transformation sowjetischen Typs. Dazu
sagt Foucault: „Der revolutionäre Diskurs der gesellschaftlichen Kämpfe [...]
wird wiederaufgenommen und einer polizeilichen Führung zugewiesen, die die
stille Hygiene einer geordneten Gesellschaft sicherzustellen hat. Was der
revolutionäre Diskurs als Klassenfeind bezeichnete, wird im sowjetischen
Staatsrassismus zu einer Art biologischer Gefahr. Wer ist nun der Klassenfeind?
Nun, es ist der Kranke, der Abweichler, der Verrückte. Folglich kann die Waffe,
die seinerzeit gegen den Klassenfeind [...] geführt wurde, jetzt nur mehr eine
medizinische Polizei sein, die den Klassenfeind wie einen Rassenfeind
eliminiert.“ VG, S. 97; vgl. auch, S. 303f. Aufgrund dieser sowjetischen
Erfahrung seit den zwanziger Jahren und jener deutschen Erfahrung des
Nationalsozialismus ist außerdem das allmählich entstanden, was Foucault als
„Anti-Etatismus“ oder als „Staatsphobie“ bezeichnet. Vgl. SP, S. 68.
107
sert, schützt, absichert und biologisch kultiviert, und zugleich das Recht
des Souveräns, jemanden – nicht nur die anderen, sondern auch die
eigenen Leute – zu töten, absolut zur Deckung gebracht. Es gab bei den
Nazis die Koinzidenz zwischen einer verallgemeinerten Bio-Macht und
einer
absoluten
Diktatur,
die
durch
dieses
schreckliche
Übersetzungsverhältnis zwischen dem Recht zu töten und der Auslieferung des gesamten Gesellschaftskörpers an den Tod gekennzeichnet war.
Der Nazismus ist ein absolut rassistischer Staat, ein absolut mörderischer
und selbstmörderischer Staat.“105
III. Die anderen Sicherheitsdispositive des Liberalismus und seine
spezifische Regierungstechnologie – der Verfassungsstaat
Die oben dargelegten Machtexzesse, die sich in den unterschiedlichen Formen vom absolutistischen Polizeistaat bis zum Nazistaat
präsentieren und von vielfältigen Regierungstechniken wie zum Beispiel
der Polizei unterstützt werden, zeigen zwar die Tendenz zur stetigen
Korrelation zwischen einer wachsenden Individualisierung und einer
immer stärker werdenden Totalisierung – somit zu mehr oder weniger
freiheitsmangelnden Herrschaftszuständen, von denen die einzelnen
Individuen erfasst werden. Aber die Geschichte der Menschheit wird
nicht ausschließlich von den Machtexzessen geschrieben. Parallel zu
diesen, in denen die Regierungsentfaltung und die Entwicklung vielfältiger Regierungstechniken unheimlich schnell und effektiv sind, gibt es
nach Foucault in der abendländischen Gesellschaft stets eine kritische
Kunst, die sich mit dem folgenden Problem ununterbrochen beschäftigt,
nämlich: „Wie ist es möglich, dass man nicht derartig, im Namen dieser
Prinzipien da, zu solchen Zwecken und mit solchen Verfahren regiert
wird – dass man nicht so und nicht dafür und nicht von denen da regiert
wird?“ 106 Wie in den vorangegangenen Darlegungen bezüglich der
strategischen Machtspiele erwähnt, ist diese kritische Haltung nichts
anderes als die Kunst der freiwilligen Unknechtschaft.107
Diese in der abendländischen Gesellschaft lang zurückreichende
Tradition der Kritik, die nach Foucault zunächst religiöser Art auf die
105
106
107
108
VG, S. 301; vgl. S. 96, 300-302; WW, S. 178; Giorgio Agamben, Homo sacer.
Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a.M. 2002, S. 153-159.
WK, S. 11f.
Vgl. WK, 15.
Zweifel an der „Autorität der Kirche“, am „Lehramt der Heiligen
Schrift“ zurückzuführen ist108, nahm im Namen des Naturrechts auch am
Kampf gegen den durch den monarchisch-absolutistischen Polizeistaat
ausgelösten Machtexzess teil.109 Dies führte zur Entstehung einer kritischen Reflexion über das polizeistaatliche Regierungsprogramm, welches
nach Foucault stets ein Zuwenig an Regierung befürchtete. Diese kritische Reflexion, der ebenfalls die politisch-ökonomische Rationalität der
Gouvernementalität zugrunde lag und die nach einem dem Polizeistaat
diametralen
Regierungsprogramm
und
entsprechenden
Sicherheitsdispositiven suchte, ist nämlich der Liberalismus. Dieser wird
von Foucault weder als eine „Theorie“ noch als eine „Ideologie“, sondern
als eine „Praktik“ betrachtet, das heißt als „a principle and a method of
rationalizing the exercise of government, a rationalization that obeys –
and this is its specificity – the internal rule of maximum economy”.110
Diese innere Regel der Maximalökonomie ist nämlich der sich
selbstregulierende Marktmechanismus, der nach Adam Smith von einer
unsichtbaren Hand geleitet wird. In diesem Marktmechanismus strebt
jeder einzelne zwar lediglich nach eigenem Gewinn. „Tatsächlich fördert
er in der Regel nicht bewusst das Allgemeinwohl, noch weiß er, wie hoch
der eigene Beitrag ist.“111 Demgemäss werden neue Individuen geschaffen: Sie brauchen im Prinzip nicht von den anderen regiert zu werden. Sie
werden sich selbst regieren und für sich sorgen.112 Durch dieses neue
Menschenbild des autonomen homo oeconomicus ist eine dem liberalen
Regierungsprogramm eigene grundlegende Problemstellung entstanden,
nämlich: Warum muss noch regiert werden? Oder warum ist eine Regierung notwendig?113 Diese fundamentale Problemstellung führt in der Tat
nicht zur „Regierungslosigkeit“, sondern zu einer „Minimalregierung“114,
108
109
110
111
112
113
114
Dieser religiöse Zweifel ist nach Foucault eng verbunden mit den Fragen: Was ist
in der Heiligen Schrift authentisch, tatsächlich geschrieben worden? Welche Art
von Wahrheit wird von der Schrift gesagt? Wie findet man den Zugang zu dieser
Wahrheit der Schrift in der Schrift und vielleicht trotz des Geschriebenen?
Schließlich, ist die Schrift tatsächlich wahr? Vgl. WK, S. 13.
Dazu meint Foucault, dass das Naturrecht seit dem 16. Jahrhundert eine kritische
Funktion angenommen habe, die es immer behalten werde. Auf die Frage „Wie
nicht regiert werden?“ antwortet das Naturrecht nach Foucault: „Welches sind die
Grenzen des Rechts zu regieren?“ WK, S. 14.
BB, S. 73f.
Vgl. Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen, 6. Aufl., München 1993, S. 371.
Vgl. Rose (Fn.34), S. 45.
BB, S. 75. Vgl. Lemke (Fn.14), S. 174.
Vgl. Oakeshott (Fn. 46), S. 198.
109
deren grundlegende Fragestellung darin besteht, zu ermitteln, wodurch
sich die Maximalökonomie und der selbstregulierende Marktmechanismus weiterentwickeln lassen können. Damit das liberale
Minimalregierungsprogramm zu erreichen ist, werden zwei strategische
Regierungstechnologien erfunden. Die eine ist die Gesellschaft, also die
Trennung von Gesellschaft und Staat, und die andere ist die Einrichtung
des Verfassungsstaates.
Geschichtlich betrachtet wird die Gesellschaft nach Foucault vom
Liberalismus als Instrument der Kritik an der allumfassenden
Regierungstätigkeit erfunden.115 Die Gesellschaft, oder wie Hegel sagt
die bürgerliche Gesellschaft, ist ihrer Natur nach ein System der Bedürfnisse.116 Dieses ist sozusagen ein Kraftfeld, in dem die Befriedigung der
Interessen jedes einzelnen und die Förderung des allgemeinen
Wohlstands automatisch nach der unsichtbaren Hand funktionieren kann.
In diesem Sinne gilt die Gesellschaft als Synonym für den
selbstregulierenden Marktmechanismus. Sie ist ein „unerkennbares“ ökonomisches Wesen, dessen innere Regel sich außerhalb der Grenzen menschlicher Erkenntnis befindet. Die Unerkennbarkeit des
wirtschaftlichen Prozesses führt weiterhin zur Unfähigkeit des Staates.
Das bedeutet: Der Staat ist nicht in der Lage, die Gesamtheit der
ökonomischen Prozesse zu erfassen und zu lenken. Folglich gibt der Staat
der Ökonomie und der Gesellschaft nicht mehr sein Gesetz vor, sondern
regiert nur nach ihren Gesetzen. Daraus ergibt sich die kritische Trennung
von Gesellschaft und Staat, wodurch staatliche Eingriffe in den
Wirtschaftsprozess möglichst verhindern werden sollen, damit der Wirtschaftsmarkt auf natürliche Weise nach seinen Gesetzen in Gang
115
116
110
Zu diesem Gedanken hat sich Foucault in einem Interview ausführlich geäußert.
Er sagt: „It seems to me that at that very moment it became apparent that if one
governed too much, one did not govern at all – that one provoked results contrary
to those one desired. What was discovered at that time – and this was one of the
great discoveries of political thought at the end of the 18th century – was the idea
of society. That is to say, that government not only has to deal with a territory,
with a domain, and with its subjects, but that it also has to deal with a complex
and independent reality that has its own laws and mechanisms of disturbance.
This new reality is society. From the moment that one is to manipulate a society,
one cannot consider it completely penetrable by police. One must take into
account what it is. It becomes necessary to reflect upon it, upon its specific
characteristics, its constants and its variables…” Flive, S. 337. Vgl. auch BB, S.
75f.; Gouv, S. 54; PTI, S. 65; Burchell (Fn.19), S. 28.
Vgl. G.W.F. Hegel, Grundlinie der Philosophie des Rechts, Frankfurt a.M. 1993,
§188.
kommt.117 Die Aufgabe des Staates beschränkt sich also nach Smith auf
die Erhaltung des äußeren und inneren Friedens sowie auf die Errichtung
öffentlicher Infrastruktureinrichtungen.118
Damit die optimale Maximalökonomie hergestellt werden kann,
bedarf es nach dem Liberalismus vor allem einer nach dem
Laisser-faire-Prinzip orientierten Minimalregierung und einer
entsprechenden Regierungstechnologie, die in der Lage ist, sowohl die
Grenze zwischen Gesellschaft und Staat zu erhalten und zu überwachen
als auch das Zuviel an Regierung und die exzessive staatliche Intervention in den Wirtschaftsprozess effektiv auszuschließen. Im Gegensatz
zum polizeistaatlichen Regierungsprogramm, welches von der Existenz,
der Stärke und dem Selbstzweck des Staates ausgeht, ist also jene liberale
Regierungstechnologie auf eine selbstregulierende Gesellschaft gerichtet.
Das, was vom Liberalismus genau als die ideale und effiziente
Regierungstechnologie zum Erlangen der optimalen Maximalökonomie
erfunden wird, ist nämlich das Rechtssystem des Verfassungsstaates, der
in Foucaults Augen zugleich als the rule of law und als Rechtsstaat gilt.
Diesbezüglich sagt Foucault: „Liberalism does not derive from juridical
thought any form than it does from an economic analysis. It is not the
idea of a political society founded on a contractual tie that gave birth to it;
but in the search for a liberal technology of government, it appeared that
regulation through the juridical form constituted a far more effective tool
than the wisdom or moderation of the governors. […] Liberalism sought
that regulation in »the law«, not through a legalism that would be natural
to it but because the law defines forms of general intervention excluding
particular, individual, or exceptional measures; and because the participation of the governed in the formulation of the law, in a parliamentary
117
118
Vgl. Gordon (Fn.1), S. 15ff.; Dean (Fn.19), S. 50; Lemke (Fn.14), S. 176f.;
Schmidt (Fn.86), S. 48, 56.
Zum Beispiel meint Adam Smith, dass der Staat lediglich drei Aufgaben zu
erfüllen hat: „Erstens die Pflicht, das Land gegen Gewalttätigkeit und Angriff
anderer unabhängiger Staaten zu schützen, zweitens die Aufgabe, jedes Mitglied
der Gesellschaft soweit wie möglich vor Ungerechtigkeit oder Unterdrückung
durch einen Mitbürger in Schutz zu nehmen oder ein zuverlässiges Justizwesen
einzurichten, und drittens die Pflicht, bestimmte öffentliche Anstalten und
Einrichtungen zu gründen und zu unterhalten, die ein einzelner oder eine kleine
Gruppe aus eignem Interesse nicht betreiben kann, weil der Gewinn ihre Kosten
niemals decken könnte, obwohl er häufig höher sein mag als die Kosten für das
ganze Gemeinwesen.“ Smith (Fn.111), S. 582. Vgl. auch Zippelius (Fn.77), S.
276f., 281ff.; Wolf/Bachof/Stober (Fn. 89), S. 110f.
111
system, constitutes the most effective system of governmental
economic.”119
In dieser technischen Weise bedeutet der Verfassungsstaat für den
Liberalismus
die
effizienteste
ökonomisch-politische
Regierungstechnologie, welche sich wiederum der Institutionen wie der
Freiheitsgarantie, der Gewaltenteilung und der parlamentarischen
Demokratie als die technischen Bedingungen bedient, damit die liberale
rationale Minimalregierung hergestellt werden kann. 120 Mit anderen
Worten: Das Hauptziel des liberalen Verfassungsstaates ist zunächst und
vor allem die Aufrechterhaltung des selbstregulierenden Marktmechanismus als die Garantie der Freiheiten. Die Freiheitsrechtsgarantie und die
Gewaltenteilung gelten als die technischen Bedingungen der liberalen
rationalen Regierung.121
IV. Die Krise der Regierung – die Erschütterungen der
Sicherheitsdispositive vom liberalen Verfassungsstaat bis zum
nachfolgenden sozialen Verfassungsstaat
In den vorausgegangenen Abschnitten wurde erklärt, dass der
Verfassungsstaat sich ursprünglich aus dem Liberalismus heraus entwickelte, damit die Gesellschaft sich aus dem Zuviel an Regierung durch
die polizeistaatlichen Sicherheitsdispositive befreien konnte. Diese
Konzeption der selbstregulierenden Gesellschaft, welche sich aus den
Menschen im Sinne des homo oeconomicus zusammensetzt, ist zugleich
das Planziel und die theoretische Bedingung des liberalen
Verfassungsstaates.122 So ideal selbstregulierend verläuft diese Gesell119
120
121
122
112
BB, S. 76f. In diesem Sinne scheint die Definition des Frühliberalismus bei Dieter
Langewiesche zu eng zu sein, wenn er bloß als die „politische
Verfassungsbewegung, die den Rechts- und Verfassungsstaat durchsetzen, den
einzelnen gegen den Staat absichern, aber auch zur Teilhabe am Staat befähigen
wollte“, gelesen wird. Vgl. Dieter Langewiesche, Liberalismus in Deutschland,
Frankfurt a.M. 1988, S. 12.
Vgl. BB, S. 75, 77; vgl. auch Wilhelm Schmid, Auf der Suche nach einer neuen
Lebenskunst. Die Frage nach dem Grund und die Neubegründung der Ethik bei
Foucault, Frankfurt a.M. 1991, S. 62, 375; Neuenhaus (Fn.32), S. 73f.; Lemke
(Fn.14), S. 173f.; Lemke/Krasmann/Bröckling (Fn.1), S. 14; Francisco Ortega,
Michel Foucault. Rekonstruktion der Freundschaft, München 1997, S. 129.
Vgl. Burchell (Fn.19), S. 24; Lemke (Fn.14), S. 185; Dean (Fn.19), S. 50f.
Dass das Zustandekommen des Verfassungsstaates dieses Gesellschaftsbild
voraussetzt, ist zum Beispiel bereits in der Déclaration des droits de l’homme et
du citoyen zu sehen. Dazu sagt Böckenförde: „Indem die Französische
schaft in Wirklichkeit jedoch nicht. Im Gegenteil ist die abendländische
Gesellschaft, sei es am Ende des Mittelalters, sei es im Zeitalter des 18.
und 19. Jahrhunderts oder heute, in Foucaults Augen immer unerwartet in
das geraten, was er gerne als „die Krise der Regierung“ bezeichnet.123
Diese, der sich die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts unvorhergesehen
gegenüber sah, war die immer schwieriger gewordene soziale Frage. Für
Foucault ist diese durch die Erschütterung der liberalen
Sicherheitsdispositive mit ihrem verknöcherten bürgerlichen Rechtssystem und durch die bereits über die Fabriken verstreuten
Disziplinarmechanismen ausgelöst worden.124
Die Auflösung des Polizeistaates durch den Einsatz der liberalen Sicherheitsdispositive und der Rechtstechnologie des Verfassungsstaates
hat die Macht der Disziplin nicht gehindert, sich aktiv fortzuentwickeln.
Im Gegenteil verbreitete sich die Disziplin unter der raschen Entwicklung
123
124
Revolution in der déclaration als Prinzip der gesellschaftlichen und staatlichen
Ordnung die einzelne, freie, sich selbst bestimmende Persönlichkeit setzt,
begründet sie nicht nur eine neue, d.h. die staatsbürgerliche Gesellschaft, sondern
verleiht auch dem historischen Staat einen neuen Charakter und Inhalt.“ „Der
Staat wird Staat der staatsbürgerlichen Gesellschaft, in der das Individuum
Subjekt des Soziallebens ist und die ihm als seine Basis vorausgeht. Das bedeutet
zugleich, dass in der Bewegung zwischen Staat und Gesellschaft – prinzipiell und
strukturell gesehen – nunmehr die Gesellschaftsordnung die Staatsverfassung,
nicht die Staatsverfassung die Gesellschaftsordnung bestimmt. Die staatliche
Verfassung ist, auf dem Boden der staatsbürgerlichen Ordnung, Konsequenz,
nicht Bedingung der Gesellschaftsordnung.“ Ernst-Wolfgang Böckenförde, Recht,
Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und
Verfassungsgeschichte, Frankfurt a.M. 1991, S. 183f.
Vgl. ME, S. 118-120. Vgl. auch Lemke (Fn.14), S. 239f.
Dies ist der entscheidende Punkt, wo Foucaults Machtanalytik vom Marxismus
stark kritisiert wird. Nach Nicos Poulantzas geht die Machtkonzeption des
Marxismus in erster Linie davon aus: „Power always has a precise basis. In the
case of class division and struggle, this takes the form of: (a) exploitation (under
capitalism extraction of surplus-value); (b) the place of the different classes in the
various power apparatuses and mechanisms, and not just in the state – a place
which is essential in the organization of the extra-state apparatuses themselves;
and (c) the state apparatus, which, while evidently not embracing the totality of
power apparatuses and mechanisms, does not thereby remain sealed against those
located outside its own space.“ Im Gegensatz dazu basieren die
Machtverhältnisse für Foucault nicht auf dem Klassenunterschied und der
dadurch ausgelösten Klassenausbeutung. Die echte Basis der Machtverhältnisse
bei Foucault ist nach Poulantzas allein in ihnen selbst zu finden und dies führt
schließlich zur Unmöglichkeit irgendeines Widerstandes. Nicos Poulantzas, State,
Power, Socialism, London 1980, S. 148f. Zu Foucaults Beantwortung dieser
marxistischen Kritik siehe etwa Flive, S. 260, 386; MM, S. 114-118.
113
des industriellen Kapitalismus sogar schneller als früher und die Gesellschaft entwickelte sich zur Disziplinargesellschaft. Nach Foucault ist der
liberale Verfassungsstaat auch nicht denselben allgegenwärtigen
Disziplinarmachtgefechten entkommen und wurde schließlich durch sie
kolonisiert.125 Dabei sind zwei Punkte besonders hervorzuheben, nämlich:
Durch diese Kolonisierung lässt sich der liberale Verfassungsstaat nicht
nur negativ zur äußeren Garantie des tatsächlichen Laufes der
Disziplinarmechanismen entwickeln, in denen die Individuen ständig
überwacht und kontrolliert werden126, sondern auch positiv zum Teil des
Normalisierungsprozesses der Disziplin, durch welchen die Spaltung und
die Feindseligkeit zwischen den tugendhaften Bürgern und den
Delinquenten erzeugt werden. Die Disziplinarmechanismen der Fabrik
des 19. Jahrhunderts liefern dafür ein gutes Beispiel. Zum einen liegt der
treibende Faktor einer effizienten Fabrik in der Machttechnologie der
Disziplin, durch die die Körper der Arbeiter fügsam, gelehrig und
leistungsfähig gemacht werden. 127 Zum anderen kommen solche
disziplinierenden Arbeitsverhältnisse innerhalb der Fabrik aber erst aufgrund der formell egalitären Vertragsfreiheiten zustande, die vom liberalen Verfassungsstaat uneingeschränkt geschützt werden. Im Ergebnis
wurde der „freie“ Arbeitsvertrag zu einem Instrument der
125
126
127
114
Dazu sagt Foucault: „Dass die Macht in unseren Tagen zugleich durch das Recht
und seine Techniken ausgeübt wird und diese Techniken der Disziplin und diese
aus der Disziplin hervorgegangenen Diskurse in das Recht eindringen, dass die
Normalisierungsvorgänge mehr und mehr die Gesetzverfahren kolonisieren, kann
das
globale
Funktionieren
dessen
erklären,
was
ich
»Normalisierungsgesellschaft« nennen würde.“ VG, S. 49.
Vgl. ÜS, S. 285f. Dazu meint Foucault, „dass die rechtlichen Systeme nach
allgemeinen Normen Rechtssubjekte qualifizieren, während die Disziplinen
charakterisieren, klassifizieren, spezialisieren; sie verteilen die Individuen entlang
einer Skala, ordnen sie um eine Norm herum an, hierarchisieren sie untereinander
und am Ende disqualifizieren sie sie zu Invaliden“. ÜS, S. 286.
Dazu sagt Ewald: „Das Problem der Produktion stellte sich also nicht nur als
technisches Problem der Fabrikation und Betriebsführung, sondern auch und vor
allem als Problem der Macht und der Menschenführung. Insofern, als sich das
Problem der Produktion als Problem der Führung einer Arbeitskraft darstellte, die
es auszubilden und zu disziplinieren galt, musste der Industrielle die Organisation
seines Unternehmens einem Kalkül unterwerfen, das nicht mehr nur ökonomisch
sein durfte: die Techniken der Produktion mussten untrennbar Technologien der
Macht sein.“ Ewald (Fn.33), S. 145. Die exemplarische Maßnahme für diese
Technologien der Macht ist die Einrichtung des Arbeitsbuchs. Durch das
Arbeitsbuch wird nicht nur der Arbeiter besser kontrolliert und überwacht.
Dadurch ist zugleich auch eine stabile, reguläre und permanente Arbeitskraft zu
garantieren. Vgl. VG, S. 290; Ewald (Fn.33), S. 141f.
sozial-wirtschaftlichen Herrschaft der Arbeitgeber und zu einem der
Ausbeutung der Arbeiter.128
Eigentlich hätte dieses verblüffende Zusammenwirken der liberalen
Regierungstechnologie
des
Verfassungsstaates
mit
der
die
Leistungsfähigkeit steigernden Machttechnologie der Disziplin sowohl
die Maximalökonomie als auch den größtmöglichen Wohlstand aller und
jedes einzelnen realisieren sollen. Tatsächlich aber wird die neue
„künstliche Armut“ des Industriearbeiters, das heißt der Pauperismus
des Proletariers erzeugt. 129 In den liberalen Dispositiven der
Armutsbekämpfung ist die Armut nichts anderes als „das Produkt und
Zeichen eines subjektiven Willens“, der für seine eigene Armut moralisch
und rechtlich allein verantwortlich sein sollte.130 Was die armen Arbeiter
und die eigentumslosen Schichten nach der liberalen Doktrin von der
Gesellschaft und dem Staat zu erwarten haben, ist nicht die Solidarität
durch das Recht bzw. das Recht auf Unterstützung, sondern allein die
moralisch-ökonomische Arbeitsdisziplin und die rechtlich disziplinierenden Maßnahmen zum Schutz des bürgerlichen Privateigentums.131
Diese ökonomisch-rechtlich disziplinierende Armutsbekämpfung des
liberalen Verfassungsstaates führt schließlich einmal zur Vertiefung der
Kluft zwischen Reichen und Armen und einmal zur Verankerung der
bourgeoisen Moral des Bürgertums, durch die die Feindseligkeit zwischen den tugendhaften Bürgern und den Delinquenten etabliert wird. Bei
der Durchführung dieser bourgeoisen Moral nimmt der liberale
Verfassungsstaat zum ersten Mal materiell und positiv an den
Normalisierungsprozessen der Disziplin teil. Dies hat Foucault klar skizziert: „Bis zum 17. Jahrhundert konnte man aus dem Banditen oder Räuber ohne weiteres einen Volkshelden machen. Mandrin, Guiellery und
128
129
130
131
Vgl. Hans Herbert v. Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland,
München 1984, S. 70.
Vgl. Christoph Sachße/Florian Tennstedt, Sicherheit und Disziplin: Eine Skizze
zur Einführung, in: Sachße/Tennstedt (Hrsg.), Soziale Sicherheit und soziale
Disziplinierung. Beiträge zu einer historischen Theorie der Sozialpolitik,
Frankfurt a.M. 1986, S. 25.
Lemke (Fn.14), S. 202. Für eine detaillierte Diskussion über die liberale
Rechtsauffassung, wonach jeder für sein Los, für sein Leben, für sein Schicksal
selbst verantwortlich sei und darum die Lasten seiner Existenz, die
Schicksalsschläge und Unglücksfälle auf niemanden abwälzen dürfe, siehe Ewald
(Fn.33), S. 63-102.
Vgl. Lemke (Fn.14), S. 201f., 220f.; Sachße/Tennstedt (Fn. 129), S. 23, 25f., 28,
40.
115
andere haben in der Mythologie des Volkes ein Bild hinterlassen, das bei
allen Schatten sehr positiv war. Dasselbe gilt für korsische und sizilianische Banditen, für neapolitanische Räuber... Diese vom Volk tolerierte
Gesetzwidrigkeit wurde schließlich zu gefährlich, als die üblichen Diebereien und Betrügereien in der Industrie und im Leben der Stadt zu hohe
Ausfälle verursachten. Darum wurde allen Klassen der Gesellschaft eine
neue ökonomische Disziplin auferlegt (Rechtschaffenheit, Genauigkeit,
Sparsamkeit, absoluter Respekt des Eigentums). Man musste einerseits
den Reichtum besser schützen und andererseits dafür sorgen, dass das
Volk gegenüber den Gesetzwidrigkeiten eine eindeutig negative Haltung
annehme. Auf diese Weise hat die Macht – mit Hilfe des Gefängnisses –
ein Delinquentenmilieu geschaffen, das ohne wirkliche Kommunikation
mit den Volkschichten war und von ihnen kaum geduldet wurde und das
aufgrund dieser Isolierung von der Polizei leicht durchsetzt werden
konnte – und im Laufe des 19. Jahrhunderts eben eine Ideologie des
»Milieus« entwickelt hat. Man darf sich heute nicht wundern, in der
Bevölkerung ein Misstrauen, eine Verachtung, einen Hass gegen den
Delinquenten zu finden: es handelt sich um das Resultat von 150 Jahren
politischer, polizeilicher, ideologischer Arbeit.“132
Der liberale Verfassungsstaat bezieht sich nach außen auf die formell
egalitären, von den sozialen Umständen isolierten Rechtssubjekte, aber
nach innen hat er schon lange am Normalisierungsprogramm der „neuen
ökonomischen Disziplin“ teilgenommen, um einerseits die bürgerlich
tugendhaften Disziplinarindividuen zu formieren und andererseits die
Delinquenten auszusortieren und sie wiederum zu disziplinieren. Die
heute in der Strafrechtslehre anerkannte Generalprävention und
Spezialprävention
sind
sozusagen
die
Erbschaft
dieser
133
Normalisierungsfunktion des liberalen Verfassungsstaates. So ist der
Diskurs über Recht und Gesetz, welcher dem liberalen Verfassungsstaat
inhärent ist, nichts anderes als der Diskurs desjenigen, der die Norm
angibt, desjenigen, der die Individuen überwacht und kontrolliert, der die
Unterscheidung in bürgerliche Tugenden und Delikte vornimmt, um die
fügsame, gelehrige und taugliche Körper zu erhalten.134 Diese erstaunli-
132
133
134
116
MM, S. 73.
Zur Generalprävention und Spezialprävention siehe etwa Claus Roxin, Strafrecht.
Allgemeinteil, Bd. I. Grundlagen, der Aufbau der Verbrechenslehre, 3. Aufl.,
München 1997, S. 44-53. Vgl. dazu auch Kapitel 2, D. III.
Vgl. MM, S. 123.
che Zusammenarbeit des liberalen Verfassungsstaates und der Macht der
Disziplin ist in dem folgenden, subtilen und immer in den einschlägigen
Literaturen zitierten Kommentar Foucaults dargestellt:
„Der historische Prozess, durch den die Bourgeoisie im Laufe des 18.
Jahrhunderts zur politisch dominierenden Klasse wurde, hat sich hinter
der Einführung eines ausdrücklichen, kodifizierten und formell egalitären
rechtlichen Rahmens verstellt und ist als Organisation eines parlamentarischen und repräsentativen Regimes aufgetreten. Die Entwicklung und
Verallgemeinerung der Disziplinaranlagen bildeten jedoch die dunkle
Kehrseite dieser Prozesse. Die allgemeine Rechtsform, die ein System
prinzipiell gleicher Rechte garantierte, ruhte auf jenen unscheinbaren,
alltäglichen und physischen Mechanismen, auf jenen wesenhaft ungleichen und asymmetrischen Systemen einer Mikromacht – den Disziplinen.
Wenn es das repräsentative Regime formell ermöglicht, dass der Wille
aller, direkt oder indirekt, mit oder ohne Vermittlung, die fundamentale
Instanz der Souveränität bildet, so garantieren doch die Disziplinen im
Unterbau die Unterwerfung der Kräfte und der Körper. Die wirklichen
und körperlichen Disziplinen bildeten die Basis und das Untergeschoss zu
den formellen und rechtlichen Freiheiten. Mochte auch der Vertrag als
ideale Grundlegung des Rechts und der politischen Macht erdacht werden:
der Panoptismus stellte das allgemein verbreitete technische
Zwangsverfahren dar. Und er hat nicht aufgehört, an den Rechtsstrukturen der Gesellschaft von unten her zu arbeiten, um die wirklichen
Machtmechanismen im Gegensatz zu ihrem formellen Rahmen wirken zu
lassen. Die »Aufklärung«, welche die Freiheiten entdeckt hat, hat auch
die Disziplinen erfunden.“135
Nun
wurde
das
Versprechen
der
liberalen
Armutsbekämpfungsdispositive, die Armut durch eigenverantwortliche
Arbeit und durch den Mechanismus des freien Arbeitsmarktes aufzulösen,
letztlich wegen ihres Nichtinterventionismus nicht erfüllt.136 Anstelle der
135
136
ÜS, S. 284f.
Vgl. Lemke (Fn.14), S. 205; Giovanna Procacci, Social Economy and the
Government of Poverty, in: Graham Burchell/Colin Gordon/Peter Miller (Hrsg.),
The Foucault Effect. Studies in Governmentality, Chicago 1991, S. 163f. Die
Kopplung von Armut und Arbeit ist bereits in der Armenfürsorge seit der frühen
Neuzeit zu finden. Diese ist zwar auch auf die Beseitigung der Armut gerichtet.
Aber das Mittel, dessen sie sich bedient, ist die Zwangsarbeit in den Zucht- oder
Arbeitshäusern. Diese Internierungsmaßnahmen, durch die den Häftlingen die
Arbeitspflicht als Askese und Strafe auferlegt wird, sind zugleich disziplinierend
und ökonomisch orientiert: Die Müßigkeit der Armen und die Arbeitslosigkeit
117
Beseitigung der Armut, wie bereits erwähnt, ergab sich unerwartet das
neue Phänomen des Pauperismus, der wegen seiner expansiven Ausdehnung und andauernden Intensität als Gefahr und Bedrohung für die
Gesellschaft betrachtet wurde.137 Mit diesem Aufkommen eröffnete sich
schließlich in Absetzung von der liberalen politischen Ökonomie eine
neue Epoche der sozialen Ökonomie oder der Sozialpolitik.138 Dieser
sozialen Ökonomie zufolge zeugt die Armut nicht länger von einer
moralischen Unordnung. Sie ist vielmehr das „Resultat der industriellen
Arbeit“ und begleitet „die Industrialisierung, wenn nicht als deren Bedingung, so zumindest als deren Konsequenz, als deren Schlagschatten“.139
So meint François Ewald weiter: „Von nun an wird man vom Armen
nicht mehr erwarten können, dass er selbst sein verhalten bessert, er wird
ständig angeleitet und gelenkt werden müssen.“ „Nicht nur der Arbeiter
selbst war für seine Sicherheit verantwortlich, sondern auch der Reiche
und die Gesellschaft. Die zivile Sicherheit war nicht mehr eine
ausschließlich individuelle Verpflichtung; sie wurde zur sozialen
Verpflichtung einer Klasse einer anderen gegenüber. […] Mit der neuen
Politik der Sicherheit stellt die Wohltätigkeit eine notwendige Beziehung
zwischen zwei Klassen her; ihre Logik ist eine Logik der Interdependenz
und Solidarität. Es genügt nicht, dass die Regierung sich darauf beschränkt, den strengen, durch positives Recht anerkannten rechtlichen
und vertraglichen Beziehungen Respekt zu verschaffen; sie muss
weitreichendere und umfassendere Aufgaben erfüllen: Um die zivile
Sicherheit wirklich garantieren zu können, kann, ja muss sie bestimmte
moralische Verpflichtungen in gesetzliche Verpflichtungen umwan-
137
138
139
118
werden gleichzeitig bekämpft. Vgl. WG, S. 80-88, 93-97. Vgl. auch Robert Jütte,
Disziplinierungsmechanismen in der städtischen Armenfürsorge der Frühneuzeit,
in: Christoph Sachße/Florian Tennstedt (Hrsg.), Soziale Sicherheit und soziale
Disziplinierung. Beiträge zu einer historischen Theorie der Sozialpolitik,
Frankfurt a.M. 1986, S. 101-118; Hannes Stekl, »Labore et fame« Sozialdisziplinierung in Zucht- und Arbeitshäusern des 17. und 18. Jahrhunderts,
in: Ebenda, S. 119-147.
Vgl. Ewald (Fn.33), S. 111-113; Procacci (Fn.136), S. 158, 161f.
Vgl. Ewald (Fn.33), S. 95, 115; Procacci (Fn.136), S. 153; Lemke (Fn.14), S.
207-211; v. Arnim (Fn. 128), S. 75-78; Jacques Donzelot, Die Förderung des
Sozialen, in: Richard Schwarz (Hrsg.), Zur Genealogie der Regulation.
Anschlüsse an Michel Foucault, Mainz 1994, S. 113f.; Görg Haverkate,
Verfassungslehre. Verfassung als Gegenseitigkeitsordnung, München 1992, S.
262-267.
Ewald (Fn.33), S. 113.
deln.“140
Außerdem sollte die Armut noch von ihrem Entstehungsmilieu her
betrachtet und versucht werden, entsprechende Gegenmaßnahmen
einzurichten, um die im Pauperismus noch nicht völlig erschlossenen
Arbeitskräfte wieder in den Prozess der Produktion zu integrieren. Oder
wie François Ewald sagt: „[M]it den Armen konnte nicht mehr nur in der
Intimität einer Gewissenslenkung umgegangen werden; man musste von
nun an auf die physischen, materiellen Bedingungen einwirken, die ihr
Verhalten bestimmten, musste Eingriffe ins Milieu vornehmen. Eine neue
Politik der Armut, die vor allem in der Wohnungsfrage Anwendung
finden sollte. Man beginnt nun, Überlegungen über die Wohnbedingungen der Armen anzustellen, und schreibt ihnen die Verantwortung für den
moralischen Niedergang, den physischen und moralischen Verfall der
Arbeiter zu. Aber dies war nicht die einzige Ursache: Das Milieu umfasste ebenso das Familienleben, die beengten Wohnbedingungen der
Arbeiter, ihr Zusammengepferchtsein. Die Geburt einer problematischen
Beziehung des Menschen zur Umwelt, zum Raum, einer ökologischen
Problematik, die ein Le Play unter der Bezeichnung »soziale Ökonomie«
ausarbeiten sollte.“141
Im Zusammenhang mit den „Prinzipien des Patronatswesens“ entwickelt die soziale Ökonomie zunächst „eine Politik der zivilen
Sicherheit“, welche den Arbeitgeber bei der Führung seiner Geschäfte für
die Sicherheit des Arbeiters verantwortlich macht.142 Demnach gilt der
Arbeitgeber nicht mehr als derjenige, der bloß den Lohn für die Arbeit
seines Arbeiters zu zahlen braucht, sondern darüber hinaus als ein „patron“, der die „moralische und materielle Verbesserung“ seines Arbeiters
im Auge haben muss, der ihn aufnimmt, über ihn mit der Aufmerksamkeit eines Familienvaters wacht und sich ihm widmet, um aus ihm einen
Menschen zu machen.143 Daraus ergab sich eine globale, kohärente und
rationale Strategie gegen den Pauperismus, nämlich die Errichtung einer
Arbeiterstadt. In dieser werden die vielfältigen Bedürfnisse des Arbeiters
vor allem durch entsprechende Maßnahmen der Unternehmer befriedigt:
eine Unterkunft durch den Bau von Arbeitersiedlungen, die Gewährleistung von Gesundheit durch die Gründung von Krankenkassen und die
140
141
142
143
AaO, S. 116.
AaO, S. 114f.
Vgl. aaO, S. 132f.
Vgl. aaO, S. 134, 152.
119
Bereitstellung medizinischer Versorgung, eine Altersvorsorge durch
Rentenkassen, die Sicherung der Kindererziehung durch betriebseigene
Schulen und eine Lebensmittelversorgung durch betriebseigene
Einkaufsstellen.144 Durch diese globale Planung der Arbeiterstadt lässt
sich die strategische Wiederauffüllung des Dispositivs wieder einmal
beobachten: Mit Hilfe der Errichtung der Arbeiterstadt hat man die
Negativität des Pauperismus wiederum ins Positive gekehrt, die im
Pauperismus implizierten undisziplinierten, mobilen und regellosen
Arbeitskräfte stabilisiert, fixiert und sich wieder zunutze gemacht.145
Diese Institutionen der Patronatsökonomie, welche aus Strategie und
Kalkül wohltätig dem Arbeiter gegenüber sind, um seine Kraft auf
nutzbringende und effiziente Weise einzusetzen, sind aber wegen der
steigenden Anzahl von Arbeitsunfällen in einen Konflikt der
Verantwortlichkeiten geraten. 146 François Ewald meint hierzu: „Für
einen Arbeiter bedeutet ein Unfall Arbeitslosigkeit, vielleicht auch partielle oder vollständige Erwerbsunfähigkeit, im schlimmsten Fall den Tod.
Wie sollen er und seine Familie unter solchen Umständen leben, dem
Elend, der Armut und der Fürsorge entrinnen können?“147 Wer soll rechtlich gesehen dann für den Arbeitsunfall und die nachfolgenden Kosten
verantwortlich sein, der Arbeiter oder der Unternehmer? Wie ist die
Arbeitsunfallhaftung zwischen Arbeitern und Unternehmern geeignet zu
verteilen? Die im Code civil 1804 eingerichteten Haftungssysteme, in
144
145
146
147
120
Vgl. aaO, S. 146. Diese durch die Patronatsökonomie aufgestellten Strategien,
mittels derer die Arbeiter der ersten Schwerindustriezentren an dem Ort, an dem
sie arbeiteten, festgehalten wurden, gehören nach Foucault zum Diskurs der
Philanthropie, der auf die Moralisierung der Arbeiterklasse gerichtet ist. Vgl. DM,
S. 133f.
Außerdem zeugt die Errichtung einer Arbeiterstadt oder Fabrikstadt noch von
einem komplexen Modus der Menschenführung. Sie ist also eine Kombination
aus den drei unterschiedlichen Machttypen der Souveränität, Disziplin und
Gouvernementalität. Für Foucault ist die Arbeiterstadt ein schönes und
exemplarisches
Beispiel
für
die
Zusammenarbeit
von
den
Disziplinarmechanismen der Macht und den regulatorischen Mechanismen der
Macht. Siehe dazu, VG, S. 289f. Darüber hinaus ist auch die Machtfunktion der
Souveränität zu beobachten. Wie François Ewald folgendermaßen sagt: „Der
patron, der Eigentümer des Unternehmens, muss in dessen »Mittelpunkt«
wohnen. Nur unter dieser Voraussetzung wird er zugleich dessen Haupt und Herz
sein können, derjenige, von dem alles ausgeht und bei dem alles zusammenläuft,
die »Seele dieses großen Körpers«, den sein Unternehmen bildet.“ Ewald (Fn.33),
S. 154.
Vgl. aaO, S. 169f.
AaO, S. 280.
denen Arbeitsunfälle nicht vorgesehen waren, führten dazu, dass
Unternehmer und Arbeiter wie Feinde gegenüber standen. Demzufolge
wurden die Arbeitsunfälle schließlich „zu einem ständigen Element der
Zwietracht, Feindseligkeit und Opposition zwischen Unternehmern und
Arbeitern“.148
Dieser vor allem durch die Arbeitsunfälle ausgelöste Konflikt der
Verantwortlichkeiten wurde erst durch die Technik der Versicherung
gelöst. Anstelle des liberalen Gerechtigkeitsgedankens, demzufolge derjenige für den erlittenen Schaden verantwortlich sein soll, der ihn verursacht hat, schlägt die Technik der Versicherung mit ihrer Vergesellschaftung des Risikos den Gedanken der Umverteilung vor: Der von jemanden
erlittene Schaden wird von allen getragen.149 So sind der durch den
Arbeitsunfall ausgelöste Schaden und die nachfolgenden Kosten
gesellschaftlich zu verteilen, aber auch die auf Krankheit, Alter und
Arbeitslosigkeit zurückzuführenden Verluste. Darüber hinaus sind diese
sich auf die Daseinsvorsorge beziehenden Probleme durch eine Fülle
staatlicher Sozialleistungen zu lösen, die sich vor allem in Rechtsansprüchen artikulieren. Nicht nur „das »Recht« auf das Leben, auf den Körper,
auf die Gesundheit, auf das Glück, auf die Befriedigung der Bedürfnisse“,
sondern auch „das »Recht« auf die Wiedergewinnung alles dessen, was
man ist oder sein kann“, sollten in ihrer Komplexität und zwar im Rahmen der Sicherheitsdispositive berücksichtigt werden. 150 Dank dieser
Sozialleistungen durch Rechtsansprüche und jener Versicherungstechnik
ergibt sich schließlich zum einen ein solidarisches Sozialrecht als
Alternative zum liberal-bürgerlichen Recht, zum anderen eine neue
Epoche der sozialen wohlfahrtsstaatlichen Sicherheitsdispositive, die dem
Staat die Pflicht und die Verantwortung auferlegen, eine aktive gouvernementale Regulierungs-, Ausgleichs-, Verteilungs- und Sicherheitspolitik
148
149
150
Vgl. aaO, S. 283, 310.
Vgl. aaO, S. 220f.; auch Rose (Fn.34), S. 48. Außerdem lässt sich die
Versicherung nach François Ewald noch als Technologie des Risikos definieren.
Im Gegensatz zur Unkalkulierbarkeit der Risiken bei Ulrich Beck geht der
Begriff des Risikos bei Ewald von den drei folgenden Merkmalen aus: Das
Risiko ist kalkulierbar, stets kollektiv und ein Kapital. Vgl. Ewald, aaO, S.
213-218; ders., Die Versicherungs-Gesellschaft, in: Ulrich Beck, Politik in der
Risikogesellschaft. Essays und Analysen. Mit Beiträgen von Oskar Lafontaine
u.a., Frankfurt a.M. 1991, S. 295-296; Lemke (Fn.35), S. 35.
Vgl. WW, S. 173; auch François Ewald, Bio-Power, in: Barry Smart (Hrsg.),
Michel Foucault. Critical Assessments, vol. V, London u. New York 1995, S.
282.
121
zu gestalten.151
Durch die sozialen wohlfahrtsstaatlichen Sicherheitsdispositive werden zwar die soziale Frage und die Probleme der Daseinsvorsorge mehr
oder weniger gelöst und der liberale Verfassungsstaat in den sozialen
Verfassungsstaat verwandelt. Aber im Angesicht der integrierenden
sozial-wirtschaftlichen Wohlfahrtsregulierungen und der dadurch
entstehenden vielfältigen Disziplinarmaßnahmen, die weiterhin ein
Milieu der Normalisierung gestalten, in dem Sozialarbeiter und Experten
für Kinder, Alte, Behinderte, Alkoholiker, Drogenabhängige, Strafgefangene, Arbeitslose, alleinerziehende Mütter ständig, und zwar case by case,
arbeiten, sind die Individuen immer mehr von den sozialen
wohlfahrtsstaatlichen Sicherheitsdispositiven abhängig. In ihnen verlieren
sie schließlich sogar ihre eigene Selbständigkeit, die ironischerweise
genau von den sozialen Sicherheitsdispositiven versprochen worden
ist.152 Daher sagt Foucault: „Social security, whatever its positive effects,
has also had »perverse effects«: an increasing rigidity of certain mechanisms and a growth in dependence. One notes the following fact, which is
inherent in the functional mechanisms of the machinery: on the one hand,
more security is being given to people and, on the other, they are being
151
152
122
Vgl. Ewald, ebd.; Rose (Fn.34), S. 48; Donzelot (Fn.138), S. 111; Böckenförde
(Fn.122), S. 233-243; Haverkate (Fn.138), S. 260-264; Zippelius (Fn.77), S.
344-346; Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik
Deutschland, 20. Aufl., Heidelberg 1999, Rn. 210f.
Vgl. Hesse (Fn. 151), Rn. 210; Zippelius (Fn.77), S. 352; Rose (Fn.34), S. 52.
Außerdem hat Rose den Prozess der Normalisierung des Sozialstaates treffend
geschildert: „Social work, correlatively, operates within a strategy in which
security is to be secured by enjoining the responsibilities of citizenship upon
individuals incapable or aberrant members of society. It acts on specific
problematic cases, radiating out to them from locales of individualized judgement
on particular conducts judges as pathological in relation to social norms. The
juvenile court, the school, the child guidance clinic operate as centers of
adjudication and co-ordination of these strategies, targeted not so much at the
isolated individual citizen, but at individuals associated within the matrix of the
family. The everyday activities of living, the hygienic care of household members,
the previously trivial features of interactions between adults and children, were to
be anatomized by experts, rendered calculable in terms of norms and deviations,
judged in terms of their social costs and consequences and subject to regimes of
education or reformation. […] Complex assemblages would constitute the
possibility of State departments, government offices and so forth acting as centres,
by enabling their deliberations to be relayed into a whole variety of micro-locales
within which the conduct of the citizen could be problematized and acted upon in
terms of norms that calibrated personal normality in a way that was inextricably
linked to its social consequences.“ Rose, aaO, S. 49.
made increasingly dependent. But what one ought to be able to expect
from security is that it gives each individual autonomy in relation to the
dangers and situations likely to lower his status or subject him.“153 Dabei
ist wieder eine andere Erschütterung des Dispositivs zu sehen.
Dass die Menschen heute allmählich im System der Sozialsicherheit
ihre Selbständigkeit verlieren und dass die Menschen immer noch von
dem auf einer bestimmten parteiischen Moral und bestimmten
Weltanschauungen basierenden disziplinierenden Rechtssystem erfasst
werden, gehört zur von Foucault befürchteten Krise der Regierung154, von
der der heutige soziale Verfassungsstaat unvermeidlich betroffen ist. In
bezug auf diese scheint Foucault die Funktion und insbesondere die
Rechtsstruktur des heutigen sozialen Verfassungsstaates als sehr zweifelhaft anzusehen: „Seit dem 19. Jahrhundert schlich sich in Gesellschaften,
die sich als Rechtsgesellschaften – mit Parlamenten, Gesetzgebung,
Gesetzbücher, Gerichten – darstellen, tatsächlich ein anderer
Machtmechanismus ein, der keinen juristischen Formen gehorchte,
dessen fundamentales Prinzip nicht das Gesetz, sondern eher die Norm
war und dessen Instrumente nicht die Gerichte, das Gesetz und der
Justizapparat waren, sondern die Medizin, die sozialen Kontrollen, die
Psychiatrie, die Psychologie. Wir befinden uns also in einer Welt der
Disziplin, in einer Welt der Regulierung. Wir glauben, wir befänden uns
noch in einer Welt des Gesetzes, aber tatsächlich ist es ein anderer Typus
von Macht, der auf dem Weg ist, sich zu bilden, mit Hilfe von
Zwischenstationen, die nicht mehr juristisch sind.“155 Damit will Foucault nicht sagen, „dass sich das Gesetz auflöst oder dass die Institutionen
der Justiz verschwinden, sondern dass das Gesetz immer mehr als Norm
funktioniert, und die Justiz sich immer mehr in ein Kontinuum von
Apparaten (Gesundheits-, Verwaltungsapparaten), die hauptsächlich
regulierend wirken, integriert. Verglichen mit den Gesellschaften vor dem
153
154
155
PPC, S. 160. Vgl. auch Lemke (Fn.14), S. 239f.
Dazu sagt Foucault: „Mir scheint in der Tat, dass sich hinter der gegenwärtigen
ökonomischen Krise und den großen Gegensätzen und Konflikten, die zwischen
reichen und armen Nationen (industrialisierten und nicht industrialisierten
Ländern) absehbar werden, eine Krise der Regierung abzeichnet. Unter
Regierung verstehe ich die Gesamtheit der Institutionen und Praktiken, mittels
deren man die Menschen lenkt, von der Verwaltung bis zur Erziehung. Diese
Gesamtheit von Prozeduren, Techniken, Methoden, welche die Lenkung der
Menschen untereinander gewährleisten, scheint mir heute in die Krise geraten zu
sein.“ ME, S. 118f.
MaM, S. 40.
123
18. Jahrhundert befinden wir uns jetzt in einer Phase, in der das Rechtliche im Rückgang ist. Lassen wir uns nicht täuschen durch die Erfindung
geschriebener Verfassungen auf der ganzen Welt seit der Französischen
Revolution, durch die zahllosen und ständig novellierten Gesetzbücher,
durch eine unaufhörliche und lärmende Gesetzgebungstätigkeit: das alles
sind Formen, die eine wesenhaft normalisierende Macht annehmbar
machen.“156
V. Die Machtlosigkeit des Verfassungsstaates gegenüber der Krise der
Regierung
Darüber kann wohl kein Zweifel bestehen, dass man aus dieser im
heutigen sozialen Verfassungsstaat auftauchenden Krise der Regierung
entkommen sollte, welche zugleich durch die unablässig störenden
Machtgefechte der Disziplin und der Gouvernementalität ausgelöst wird.
Foucault scheut deswegen keine Mühe, „Mechanismen der effektiven
Machtausübung zu erfassen“, weil er glaubt, dass „diejenigen, die in
diese Machtbeziehungen eingebunden sind, die in sie verwickelt sind, in
ihrem Handeln, in ihrem Widerstand und in ihrer Rebellion diesen
Machtbeziehungen entkommen können, sie transformieren können, kurz,
ihnen nicht mehr unterworfen sein müssen“.157 In Hinsicht auf diese
Befreiung von der Krise der Regierung und den Machtgefechten der
Disziplin und der Gouvernementalität geht Foucault zwar von „dem
Postulat eines unbedingten Optimismus“ aus.158 Die Arbeit der Befreiung
bedient sich jedoch weder der Rechtstechniken des Verfassungsstaates
noch anderer möglicher objektiver Institutionen bzw. Programme. Was
dieser zugrunde liegt, liegt für Foucault vielmehr in der historisch-kritischen Ontologie des Selbst. Durch diese historisch-kritische
Ontologie des Selbst werden zunächst die Grenzen herausgefunden, die
156
157
158
124
WW, S. 172.
ME, S. 117.
ME, S. 117. Siehe auch: „My optimism would consist rather in saying that so
many things can be change, fragile as they are, bound up more with
circumstances than necessities, more arbitrary than self-evident, more a matter of
complex, but temporary, historical circumstances than with inevitable
anthropological constants.“ PPC, S. 156. Demnach vertritt Foucault eher „die
praktische Kritik“, welche nicht nur das, was selbstverständlich aussieht und als
legitim gilt, in Frage stellt, sondern auch dies weiter zu ändern und zu
transformieren versucht. Diese praktische Kritik verbindet sich nach Foucault
schließlich mit der Arbeit der Transformation. Vgl. PPC, S. 155.
das Subjekt gelegentlich prägen, bestimmen und unterwerfen159, und dann
„neue Formen der Subjektivität“ aufgebracht, die diese unterwerfenden
Grenzen, das heißt „die Art von Individualität, die man uns jahrhundertlang auferlegt hat“, zurückdrängen können.160
Dies führt also zu einer weiteren Forschungsverschiebung in Foucaults Spätwerk hin zum Thema der Genealogie der Ethik, in der untersucht wird, „welches die Formen und die Modalität des Verhältnisses zu
sich sind, durch die sich das Individuum als Subjekt konstituiert und
erkennt“, damit es sich selber eines Tages transformieren, sich in seinem
besonderen Sein modifizieren und aus seinem Leben ein Werk machen
kann.161 Diese neue Forschungsrichtung der Genealogie der Ethik bedeutet jedoch nicht, dass Foucault zum Subjekt zurückkehrte und den Begriff
des Subjekts wiederentdeckte, den er immer verleugnet hatte. Das
Subjekt, was Foucault untersuchen möchte, hat keine Metaphysik, keine
Substanz und kein Wesen. Es ist auf keinen Fall die Bedingung der
159
160
161
Vgl. WA, S. 48-50, 52f.; Aub, S. 699f.; Flive, S. 472. Zu dieser
historisch-kritischen Ontologie des Selbst sagt Mitchell Dean: „There is rather a
multiplicity of presents, a multiplicity of ways of experiencing those presents and
a multiplicity of the »we« who are subjects of that experience. […], these
multiple ontologies are different ways of thinking about who we are, how we
should act and how we should act upon ourselves. What is at issue here is not so
much what human beings really are or have become but how they think about
who they are, and the consequences of this. What we seek to establish, then, is
not a theory or even a history of being, but a history of truth, or a history of
thought […].” Mitchell Dean, Foucault, Government and the Enfolding of
Authority, in: Andrew Barry/Thomas Osborne/Nikolas Rose (Hrsg.), Foucault
and Political Reason. Liberalism, Neo-Liberalism and Rationalities of
Government, London 1996, S. 210.
Vgl. SM, S. 250.
Vgl. GL, S. 12, 18; GE, S. 274; FL, S. 83. Erst in den Praktiken der Pastoralmacht,
wie man seinen Geist, seinen Körper und seine Handlung regiert, findet Foucault
den Verbindungspunkt, „an dem die Form der Lenkung der Individuen durch
andere mit der Weise ihrer Selbstführung verknüpft ist“. Zitiert aus Lemke (Fn.1),
S. 119. Vgl. auch BH, S. 203f. Die neue Entdeckung dieser „Verbindung
zwischen den Technologien der Beherrschung anderer und den Technologien des
Selbst“, die Foucault die „Kontrollmentalität“ nennt, führt also zu einer Wende
des Forschungsschwerpunktes hin zur Selbsttechnologie. Dies wurde von
Foucault 1980 bereits kundgetan: „Nachdem ich das Feld der Machtverhältnisse
von den Herrschaftstechniken aus betrachtet hatte, möchte ich in den kommenden
Jahren Machtbeziehungen von den Selbsttechniken aus untersuchen. Diese
Selbsttechnologie impliziert wohl in jeder Kultur eine Reihe von
Wahrheitsverpflichtungen: die Wahrheit aufdecken, durch die Wahrheit
erleuchtet werden, die Wahrheit sagen. All das soll für die Konstitution oder für
die Transformation des Selbst wichtig sein.“ FL, S. 36. Vgl. auch TS, S. 27.
125
Möglichkeit einer Erfahrung. Im Gegenteil wird ein Subjekt oder genauer
eine Subjektivität erst durch die Erfahrung konstituiert. Demnach ist das
Subjekt das Produkt der Subjektivierung, die „selbstverständlich nur eine
der gegebenen Möglichkeiten der Organisation des Bewusstseins seiner
selbst“ ist. 162 Dazu sagt Foucault, „dass es kein souveränes und
konstitutives Subjekt gibt, keine universelle Form des Subjekts, die man
überall wiederfinden könnte“. „Einer solchen Konzeption vom Subjekt
stehe ich sehr skeptisch, ja feindlich gegenüber. Ich denke hingegen, dass
das Subjekt sich über Praktiken der Unterwerfung konstituiert bzw. – auf
autonomere Art und Weise – über Praktiken der Befreiung und der Freiheit.“163
Dass jeder einzelne sich wie ein Kunstwerk begründen, herstellen
und anordnen kann und muss, ist nämlich das, was Foucault als „die
Ästhetik der Existenz“ bezeichnet, welche dem Einzelnen die Möglichkeit gibt, sich sowohl negativ aus den von außen regierten Zuständen zu
befreien als auch positiv selbst regieren zu können.164 Daraus entsteht
eine dem Einzelnen zukommende relative Autonomie bzw. ein Freiheitsund Verhaltensspielraum gegenüber den sozialen und politischen
Verhältnissen, sei es gegenüber der Normalisierungswirkung durch die
disziplinierenden Gesetze, sei es gegenüber der Gefahr des
Selbständigkeitsverlustes
durch
die
global
integrierenden
Sozialsicherheitsdispositive, die dem heutigen sozialen Verfassungsstaat
inhärent sind.165
Dieser sich zur Ethik hinwendende Versuch von Foucault, den
Einzelnen statt durch die objektive Institutionsgarantie eher durch die
subjektive Ästhetik der Existenz und die entsprechenden Selbsttechniken
aus der Krise der Regierung und den Machtmechanismen der Disziplin
und der Gouvernementalität zu befreien, damit er sich schließlich als ein
eigenartiges und selbstbestimmtes Lebenswerk konstituieren kann, zeigt
162
163
164
165
126
Vgl. RM, S. 144; StW, S. 60; Gilles Deleuze, Das Leben als ein Kunstwerk. Ein
Gespräch mit Didier Eribon, in: Wilhelm Schmid (Hrsg.), Denken und Existenz
bei Michel Foucault, Frankfurt a.M. 1991, S. 164f.; François Ewald, Eine Macht
ohne Draußen, in: François Ewald/Bernhard Waldenfels (Hrsg.), Spiele der
Wahrheit. Michel Foucaults Denken, Frankfurt a.M. 1991, S. 167f.
FL, S. 137f.
Vgl. FL, S. 80f.; GL, S. 18-20; vgl. auch Markus Schroer, Ethos des Widerstands.
Michel Foucaults postmoderne Utopie der Lebenskunst, in: Rolf
Eickelpasch/Armin Nassehi (Hrsg.), Utopie und Moderne, Frankfurt a.M. 2000, S.
159; Schmid (Fn. 120), S. 11f.
Vgl. Fink-Eitel (Fn.38), S. 125.
auf der einen Seite schwere Enttäuschung über die vorhandenen
Rechtstechniken des sozialen Verfassungsstaates und auf der anderen
Seite das extreme Misstrauen gegenüber möglichen Institutionen bzw.
Programmen.
Der Grund dafür liegt einfach darin, dass für Foucault „die Idee
eines Programms mit Vorschlägen“ einfach gefährlich ist. „Sobald ein
Programm vorliegt, wird es zum Gesetz, d.h. es verbietet andere Entwürfe
und Erfindungen.“166 In einem Interview sagt Foucault: „Without a program does not mean blindness – to be blind to thought. [...] in my opinion,
being without a program can be very useful and very original and creative,
if it does not mean without proper reflection about what is going on, or
without very careful attention to what’s possible.“167 Wenn aber irgendein Programm unbedingt verlangt werden muss, damit man seine Freiheit
der Entunterwerfung gegen die Fremdregierung in den strategischen
Machtspielen lange behalten kann, dann kann es laut Foucaults historisch-kritischer Ontologie des Selbst nur „leer“ sein. Dazu sagt Foucault:
„Man muss einen Hohlraum schaffen, zeigen, wie die Dinge historisch
zufällig eingetreten sind, zwar aus diesem oder jenem verstehbaren Grund,
aber nicht notwendig. Man muss das Verstehbare auf dem Hintergrund
des Leeren erscheinen lassen, Notwendigkeiten verneinen und denken,
dass das Vorhandene noch lange nicht alle möglichen Räume ausfüllt.
Das heißt, eine wirkliche unumgehbare Herausforderung aus der Frage
machen: womit kann man spielen und wie ein Spiel erfinden?“168
Sind aber die Funktionen der Rechtstechniken des Verfassungsstaates in bezug auf die Überwindung der Krise der Regierung und der anderen lästigen Probleme, die aus den Machtmechanismen der Disziplin und
der Gouvernementalität entstehen, tatsächlich so machtlos wie Foucault
meint? Bedarf die ethische Freiheit auf der regierten Seite und die
entsprechenden Selbsttechniken wirklich keiner objektiven Institutionen
wie der Rechtstechniken des Verfassungsstaates als Strategien – im Sinne
der strategischen Wiederauffüllung des Dispositivs – gegen die ebenfalls
durch diese Rechtstechniken ausgelösten störenden Probleme, damit der
Verhaltensspielraum für die eigene selbstbestimmte Existenz innerhalb
der agonalen Machtverhältnisse institutionell gesichert werden kann?
In der Tat liegt Foucaults Diagnose der Entkräftung des Verfassungs166
167
168
FL, S. 92.
Flive, S. 390.
FL, S. 92f.
127
staates gegenüber der Krise der Regierung und der Machtgefechte der
Disziplin und der Gouvernementalität eigentlich noch die überholte
Vorstellung des frühliberalen Verfassungsstaates zugrunde, der sich vor
allem an dem formell egalitären Rechtssubjekt und der formellen
Gesetzmäßigkeit orientiert. In den vergangenen zweihundert Jahren hat
die ursprünglich vom Liberalismus erfundene Regierungstechnologie des
Verfassungsstaates viel geändert, welche nicht nur erneut auf das freiheitlich-soziale Prinzip gerichtet ist, sondern auch den formellen Rechtsstaat
in den materiellen Rechtsstaat umgewandelt hat. 169 Innerhalb dieses
materiellen Rechtsstaatrahmens sind die unterwerfenden Machtwirkungen wie die disziplinierenden Wahrheiten, die Maßnahmen sowie die
sozial-wirtschaftlich gouvernementale Globalsteuerung durch die Bindung aller öffentlichen Gewalt an die Grundrechte, die öffentlichen Parlamentsdebatten und die Verfassungsgerichtsbarkeit usw. zu korrigieren.
Foucaults Unterschätzung des Verfassungsstaates in bezug auf die Verhütung und Bekämpfung der Krise der Regierung und der einschlägigen
Machtwirkungen wird zum Beispiel von Michel Walzer stark kritisiert.
Für Walzer gilt der Mangel an einem positiven institutionellen Programm,
welches in der Lage ist, „einen neuen Kontext“ aufzubauen und „neue
Codes und Kategorien“ zu entwerfen, als nichts anderes als „die katastrophale Schwäche“ von Foucaults politischer Theorie und seiner Sozialkritik.170 Diese harte Kritik Walzers ist vor allem auf Foucaults negative
Einschätzung des Verfassungsstaates gegenüber den Disziplinarwirkungen gerichtet. Dazu sagt Walzer:
„Foucault hat sicherlich recht, wenn er sagt, dass die konventionellen Wahrheiten über Moral, Gesetz, Medizin und Psychiatrie bei der
Machtausübung stillschweigend vorausgesetzt werden. Das ist ein
169
170
128
Zum formellen und materiellen Rechtsstaat siehe etwa Eberhard Schmidt-Aßmann,
Der Rechtsstaat, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des
Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1. Grundlagen von Staat und
Verfassung, 2. Aufl., S. 997f.; Christoph Degenhart, Staatsrecht I.
Staatsorganisationsrecht, 17. Aufl., Heidelberg 2001, Rn. 234-237.
Vgl. Michel Walzer, Die einsame Politik des Michel Foucault, in: Ders., Zweifel
und Einmischung. Gesellschaftskritik im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1991, S.
286. Außerdem gibt es noch eine andere Kritik insbesondere aus der
marxistischen Perspektive: Wegen keines echten Stützpunkts außerhalb der
Machtverhältnisse werde der Widerstand bei Foucault nicht nur zu „a guerrilla
war and scattered acts of harassment of power”, sondern auch schließlich sogar
zu einer leeren Idee, bei der es keinen Raum für irgendeinen Widerstand gibt. Vgl.
Poulantzas (Fn.124), S. 149. Vgl. auch (Fn. 124); DM, S. 210.
Faktum, das von konventionell unvoreingenommenen Natur- und
Sozialwissenschaftlern und sogar von Philosophen nur allzu leicht außer
acht gelassen wird. Aber eben diese Wahrheiten regulieren auch die
Machtausübung. [...] Ein liberal- oder sozialdemokratischer Staat ist ein
Staat, der die Grenzen der ihn konstituierenden Disziplin und disziplinären Institutionen aufrechterhält und ihre inneren Prinzipien verstärkt. Autoritäre und totalitäre Staaten dagegen überschreiten diese
Grenzen, [...] Die Agenten jeder disziplinären Institution streben natürlich
danach, ihren Einflussbereich zu vergrößern und ihren Ermessensspielraum zu erweitern. Auf lange Sicht kann nur politisches Handeln und
staatliche Macht sie bremsen. Jeder Akt lokalen Widerstandes ist ein Ruf
nach politischer oder gesetzlicher Intervention vom Zentrum her. Man
vergleiche beispielweise die Aufstände der Fabrikarbeiter in den dreißiger
Jahren dieses Jahrhunderts, die in den USA zur Einführung kollektiver
Arbeitsverträge und Beschwerdeverfahren Anlass gaben, mit kritischen
Einschränkungen des wissenschaftlichen Managements – einer der
Disziplinen Foucaults, obwohl er nur gelegentlich darauf anspielt. Der
Erfolg erforderte nicht nur die Solidarität der Arbeiter, sondern auch die
Unterstützung des liberalen und demokratischen Staates. Und der Erfolg
war nicht für irgendeinen, sondern für einen Staat dieser Art funktional.
Wir können uns durchaus andere »gesellschaftliche Ganze« vorstellen,
die andere Arten von Fabrikdisziplin erforderten.“171
Solche Vorwürfe sind Foucault wahrscheinlich bewusst. Dazu sagt
er: „Ich meine, dass die Fragen, die ich versuche zu stellen, nicht von
einem vorher festgelegten politischen Standpunkt bestimmt sind und
nicht nach der Realisation eines politischen Projektes streben. Das ist
zweifellos, was man meint, wenn man mir vorwirft, keine allumfassende
Theorie zu präsentieren. Aber ich glaube gerade, dass die
Totalisationsformen, die die Politik immer anbietet, tatsächlich sehr begrenzt sind. Ich versuche im Gegenteil, weg von jeder Totalisation – die
gleichzeitig abstrakt und begrenzt wäre – Probleme zu erschließen, die so
konkret und zugleich allgemein wie möglich sind; Probleme, die sich der
Politik von hinten nähern und Gesellschaften in der Diagonale schneiden;
Probleme, die sowohl unsere Geschichte bestimmen, als auch von dieser
bestimmt werden: zum Beispiel das Problem der Beziehung zwischen
gesundem Verstand und Wahnsinn, die Frage nach Krankheit, Verbrechen oder Sexualität. Und es war notwendig, diese sowohl als gegenwär171
Walzer (Fn.170), S. 283-285.
129
tige wie auch als historische Fragen zu stellen, als moralische,
epistemologische und politische Probleme.“172 Anstatt ein Programm mit
Vorschlägen bzw. bestimmte politische Projekte zu erstellen, welche nach
Foucault tatsächlich abstrakt und sehr begrenzt sind, versucht er lieber,
die konkreten Probleme herauszufinden und in der Weise darzustellen,
„wie und warum bestimmte Dinge (Verhalten, Erscheinungen, Prozesse)
zum Problem wurden“173 bzw. „wie ein unproblematisches Erfahrungsfeld oder eine Reihe von Praktiken, die als selbstverständlich akzeptiert
wurden, die vertraut und »unausgesprochen« sind, also außer Frage
stehen, zum Problem werden, Diskussionen und Debatten hervorruft,
neue Reaktionen anregt und eine Krise der bisherigen stillschweigenden
Verhaltensweisen, Gewohnheiten, Praktiken und Institutionen
bewirkt“.174 Diese spezielle Denkweise ist laut Foucault die sogenannte
Geschichte des Denkens, welche vor allem auf den obigen Prozess der
Problematisierung gerichtet ist.175
Wie sind das störende Problem des Selbständigkeitsverlustes des
Einzelnen in der globalstaatlichen regulierenden Sozialsicherheitsdispositive zum einen und das Problem der intensiven Normalisierung durch das
auf der Moral und der Weltanschauung der Mehrheit basierenden
disziplinierenden Rechtssystem zum anderen durch die Zusammenarbeit
des heutigen freiheitlichen, demokratischen, sozialen Verfassungsstaates
mit Foucaults Ästhetik der Existenz geeignet zu lösen? Zur Beantwortung
dieser von Foucault abgelehnten Frage sollte man die Rechtsstruktur des
Verfassungsstaates aus dem Blickwinkel der strategischen Machtspiele,
genauer: der strategischen Wiederauffüllung des Dispositivs, erneut
betrachten, das heißt eher aus einer positiven Perspektive der Integration
des Verfassungsstaates in jene zwei Machtmechanismen von Disziplin
und Gouvernementalität statt aus der abschätzigen Perspektive der
Kolonisierung des Verfassungsstaates durch diese zwei Machtmechanismen. Eine solche Rekonstruktion des Verfassungsstaates, welche einerseits von der Machtanalytik Foucaults ausgeht und sich andererseits positiv weiterentwickelt, bildet den Schwerpunkt der nächsten Kapitel dieser
Arbeit.
172
173
174
175
130
PE, S. 47.
DW, S. 178.
DW, S. 78.
Vgl. DW, S. 77; GL, S. 17-21.
Zweiter Abschnitt
Rekonstruktion des Verfassungsstaates
Kapitel 4
Der Übergang von der Machtanalytik Foucaults zur
Rekonstruktion des Verfassungsstaates
A. Auf der Suche nach einem neuen Recht
I. Machtanalytik und anarchistische Machtkritik
Seitdem Foucault die Positivität und Produktivität der Macht von der
Technologie her analysiert hat, ist er auch davon überzeugt, dass die
Menschen sich schon seit langem in den Maschen der Macht verfangen
haben, in denen asymmetrische Machtbeziehungen auf Dauer vorherrschten. Dennoch sind diese asymmetrischen Machtbeziehungen für
Foucault nicht ein für allemal gegeben. Sie sind vielmehr Teil von strategischen Spielen und können durch bestimmte Kampfstrategien geändert
werden. Unter Berücksichtigung dieser strategischen Machtspiele beschäftigt sich Foucault in seiner Machtanalytik daher nicht allein mit der
Frage, unter welchen wirtschaftlich-politischen Bedingungen und mittels
welcher Macht- oder Regierungstechniken die asymmetrischen Machtbeziehungen zustande gekommen sind, sondern auch damit, wie man neue
Machtbeziehungen schaffen kann, um nicht mehr wie bisher regiert werden zu müssen.1 Während es sich bei der ersten Frage um das Verhältnis
zwischen „ratio und Macht“ handelt, das heißt um das Verhältnis zwischen dem Vorgang spezifischer Rationalisierung in Bereichen wie
Wahnsinn, Krankheit, Armenfürsorge, Verbrechen, Sexualität und der
entsprechenden Machtsteigerung, geht es bei der zweiten Frage um die
Machtkritik. 2 Erst durch diese Machtkritik und den entsprechenden
Kampf und Widerstand vervollständigt sich die Machtanalytik Foucaults.
Die Machtkritik ist also nicht nur das Endziel der Machtanalytik, sondern
auch ihr Ausgangspunkt.3
1
2
3
Vgl. Flive, S. 259f.
Vgl. WK, S. 20, 23f.; WA, S. 48-50; SM, S. 245.
Dazu sagt Foucault: „Ich möchte einen Weg in Richtung einer neuen Ökonomie
der Machtverhältnisse vorschlagen, der empirischer und direkter auf unsere gegenwärtige Situation bezogen ist, und der mehr Beziehungen zwischen Theorie
und Praxis umfasst. Sein Ausgangspunkt sind die Formen des Widerstands ge131
Um die Übergriffe der Macht zu bekämpfen, hat Foucault eine Gegenstrategie der anarchistischen Anthropologie entwickelt. 4 Statt der
Präsentation eines regulativen politischen Programms, unter dessen Anleitung bestimmte Institutionen abgeschafft, modifiziert oder eingeführt
werden müssen, strebt diese anarchistische Anthropologie nach einem
ständigen Kampf, der die bestehenden asymmetrischen Machtverhältnisse
unablässig provoziert und die von ihnen bestimmten Grenzen immer in
Frage stellt.5 „Wo es Macht gibt“, sagt Foucault, „gibt es Widerstand.“6
Für Foucault ist der Widerstand keine „Negativform“, „die letzten Endes
immer nur die passive und unterlegene Seite sein wird“. In den Machtbeziehungen ist er vielmehr „die andere Seite, das nicht wegzudenkende
Gegenüber“. Nur dank einer Vielfalt von Widerstandspunkten könnten
die Machtbeziehungen existieren, für die sie die Rolle von Gegnern,
Zielscheiben, Stützpunkten, Einfallstoren spielen. Nur wegen der „mobilen und transitorischen Widerstandspunkte“, die überall im Machtnetz
präsent sind, werden verschiebende Spaltungen und Umgestaltung in eine
Gesellschaft eingeführt, Einheiten zerbrochen und Umgruppierungen
hervorgerufen, durch die die strategischen Machtpositionen des Individuums neu arrangiert werden können.7
II. Ein neues Recht – im objektiven oder subjektiven Sinne?
Trotz dieses anarchistischen Kampfes hat Foucault bei einer Gelegenheit, als er die asymmetrischen Machtverhältnisse vom Resonanzdreieck von Macht, Wahrheit und Recht her analysierte8 und anschlie-
4
5
6
7
8
132
genüber den verschiedenen Machttypen. Metaphorisch gesprochen heißt das, den
Widerstand als chemischen Katalysator zu gebrauchen, mit dessen Hilfe man die
Machtverhältnisse ans Licht bringt, ihre Positionen ausmacht und ihre Ansatzpunkte und Verfahrenswesen herausbekommt.“ SM, S. 245.
Vgl. Jean Améry, Michel Foucaults Vision des Kerker-Universums, in: Merkur
1977, S. 390, 392; Urs Marti, Michel Foucault, S. 125; Hinrich Fink-Eitel,
Michel Foucault zur Einführung, 4. Aufl., Hamburg 2002, S. 120-125; Michael
Walzer, Die einsame Politik des Michel Foucault, in: Ders., Zweifel und Einmischung. Gesellschaftskritik im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1991, S. 276f.
Vgl. SubW, S. 120f.; PE, S. 52; SM, S. 246, 256.
WW, S. 116.
WW, S. 117f.
Im Gegensatz zu der von der traditionellen politischen Philosophie und Rechtstheorie vorgenommenen Betrachtung von Macht, Wahrheit und Recht, welche
ständig um die souveräne und königliche Macht kreist und immer nach den
Wahrheitsdiskursen bezüglich der Legitimität und Rechtsgrenze dieser Macht
ßend überlegte, wie man sich im Kampf gegen diese weiter einsetzen
sollte, eine ungewöhnliche Konzeption der Suche nach einem neuen
Recht präsentiert. In seinen 1976 unter dem Titel Il faut défendre la société am Collège de France gehaltenen Vorlesungen findet sich diese rätselhafte Konzeption der Suche nach einem neuen Recht. In der Vorlesung
vom 14. Januar sagt Foucault: „Angesichts der Übergriffe der Disziplinarmechanismen, angesichts des Aufstiegs einer mit dem szientistischen
Wissen verbundenen Macht bleibt uns in der gegenwärtigen Situation
allein die scheinbar solide Zuflucht oder die Rückkehr zu jenem Recht,
das um die Souveränität herum organisiert ist und auf diesem alten Prinzip beruht. Was macht man also konkret, wenn man den Disziplinen und
den Wissen- und Machtwirkungen, die mit ihnen verbunden sind, etwas
entgegensetzen möchte? Was macht man im Leben? Was machen die
Richtergewerkschaft und vergleichbare Institutionen? Was macht man
anders, als sich genau auf dieses Recht zu berufen, dieses berühmte formale und Bürgerliche Recht, das in Wirklichkeit das Recht der Souveränität ist? Ich denke, wir befinden uns hier in einer Art Sackgasse und
können das nicht ewig so weiterlaufen lassen: Die Wirkungen der Disziplinarmacht können nicht durch Berufung auf die Souveränität gegen die
Disziplin begrenzt werden. […] Im Kampf gegen die Disziplinen oder
vielmehr gegen die Disziplinarmacht, auf der Suche nach einer
nicht-disziplinarischen Macht, sollte man sich besser nicht an das alte
Recht der Souveränität wenden; eher an ein neues Recht, das
anti-disziplinarisch, aber zugleich vom Prinzip der Souveränität befreit
wäre.“9
Warum kommt Foucault plötzlich auf die Idee der Suche nach einem
neuen Recht? Will er damit sagen, dass die ständige Provokation nicht
mehr ausreicht, um gegen die Disziplinarmacht zu kämpfen, und dass
man deswegen eines anderen Rechts bedarf, um diesen Kampf fortsetzen
zu können? In derselben Vorlesung, in der diese Idee der Suche nach
einem neuen Recht auftaucht, erklärt Foucault außerdem seinen Gebrauch
des Begriffs des Rechts. Er misst diesem eine sehr weite Bedeutung zu,
nämlich: „[W]enn ich Recht sage, denke ich nicht nur an das Gesetz,
9
fragt, stellt Foucault eine andere Frage, nämlich: „Welche Rechtsregeln setzen
die Machtbeziehungen ins Werk, um Wahrheitsdiskurse zu produzieren? Oder
anders: Welcher Machttyp ist in der Lage, Wahrheitsdiskurse zu produzieren,
denen in einer Gesellschaft wie der unsrigen derart mächtige Wirkungen verliehen werden?“ VG, S. 32. Vgl. auch SM, S. 243.
VG, S. 50.
133
sondern an die Gesamtheit der Apparate, Institutionen und Verordnungen,
die das Recht zur Anwendung bringen.“10 Wenn man dieses sehr weite
Verständnis des Rechts zusammen mit der Suche nach einem neuen Recht
betrachtet, was ist dann daraus zu schließen? Spiegelt diese Konzeption
der Suche nach einem neuen Recht den Bedarf an einem regulativen politischen Programm wider, das eine andere Art von rechtlichen Apparaten,
Institutionen und Gesetzgebungen anbieten könnte, damit sich die bestehenden Wechselwirkungen von Macht, Wahrheit und Recht in den neuen
Rechtsdispositiven zersetzen? Ein neues Recht als solches – in dieser
objektiv-institutionellen Art und Weise – kann in Foucaults anarchistischer Politik eigentlich nicht akzeptiert werden. Denn der politische
Kampf ist für Foucault Selbstzweck. Was nach dieser anarchistischen Politik konkret zu tun ist, ist nicht der Aufbau eines alternativen institutionellen politischen Projekts, sondern der ständige Kampf und Widerstand.
Wenn die Suche nach einem neuen Recht auf kein politisches Projekt gerichtet ist, dem zufolge eine neue objektive Rechtsordnung programmiert
werden sollte, nach welcher neuen Art von Recht, das weder dem Prinzip
der Souveränität noch der Disziplin unterworfen ist, sucht Foucault dann
eigentlich? Kann man diese Suche nach einem neuen Recht von der
Suche nach einer Art subjektiven Rechts her analysieren? Falls ja, wie
sollte diese neue Art subjektiven Rechts weiter gedacht werden? In welchem Zusammenhang steht sie mit der anarchistischen Politik Foucaults?
Meint sie bereits die Revision seiner anarchistischen Politik?
Erst nachdem das Forschungsinteresse Foucaults sich auf die Themen der Gouvernementalität und der Ethik (der Praxis der Freiheit) verschoben hat, werden diese rätselhaften Fragen eine nach der anderen entschlüsselt. Die Suche nach einem neuen Recht sollte mit einer neuen Art
subjektiven Rechts beginnen. Diese neue Art subjektiven Rechts ist nämlich das, was später von Foucault als das Recht des Regierten bezeichnet
und in den Augen mancher Kommentatoren als eine neue Art von Menschenrecht interpretiert wird.11
10
11
134
VG, S. 35.
Vgl. Bernhard H. F. Taureck, Michel Foucault, Hamburg 1997, S. 119f.; Thomas
Osborne, Critical Spirituality. On Ethics and Politics in the Later Foucault, in:
Samantha Ashenden/David Owen (Hrsg.), Foucault contra Habermas. Recasting
the Dialogue beween Genealogy and Critical Theory, London u.a. 1999, S. 53.
B. Die kritische Praxis der Freiheit
I. Der Kampf für eine neue Subjektivität
Während Foucault sich zur makrophysikalischen Dimension der
Machtsteigerungen durch die Gouvernementalisierung des Staates hin
wendet und versucht, die Machtverhältnisse vom Regieren als Führen der
Führungen her erneut zu betrachten, richtet er seine Aufmerksamkeit
zugleich auf die Praxis der Freiheit. Er möchte darauf hinweisen, dass
Macht und Freiheit sich nicht in einem Ausschließungsverhältnis (wo
immer Macht ausgeübt wird, verschwindet die Freiheit) gegenüber stehen.
Vielmehr ständen Freiheit und Macht immer in einem sehr viel komplexeren Verhältnis, in dem die Freiheit sich nicht nur als die Existenzbedingung der Macht, sondern auch als die Quelle aller Kämpfe gegen die
Macht präsentiert.12 Durch diese kritische Praxis der Freiheit lässt sich
die Forschungsarbeit Foucaults schließlich nicht nur an das Thema der
Aufklärung anschließen, sondern auch weiter als die historisch-kritische
Ontologie des Selbst definieren.
In seiner Beantwortung der Frage „Was ist Aufklärung?“ bezeichnet
Kant die Aufklärung als den „Ausgang des Menschen aus seiner selbst
verschuldeten Unmündigkeit“. Die Ursache dieser Unmündigkeit liegt
nach Kant nicht „am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung
und des Mutes“, seine eigene Freiheit und Vernunft ohne die Anweisung
irgendeiner Autorität zu gebrauchen. 13 Während Kant die Kritik als
Handbuch des legitimen Gebrauchs der Freiheit und Vernunft betrachtet
und sich nur dafür interessiert, welche Grenzen für den Gebrauch der
Freiheit und Vernunft nicht überschritten werden dürfen, sucht Foucault
nach einem anderen Ethos der Kritik, indem er fragt, wie die Überschreitung der bestehenden Grenzen überhaupt möglich ist, damit wir nicht
länger dabei bleiben, was wir sind, tun oder denken. Genau in diesem
anderen Ethos der Kritik konstituiert sich „eine Ontologie unserer
selbst“.14 Mittels dieser Ontologie und der entsprechenden Selbsttechniken lernt man nicht nur, wie man den rechten Gebrauch seiner Freiheit
12
13
14
Vgl. SM, S. 256.
Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Wilhelm Weischedel
(Hrsg.), Immanuel Kant. Werkausgabe, Bd. XI, Schriften zur Anthropologie,
Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1, Frankfurt a.M. 1991, S. 53.
WAWR, S. 11; vgl. auch WA, S. 40f., 48f.
135
reflektieren und praktizieren kann, sondern auch, wie man sich als freies
Wesen mit der Ästhetik seiner Existenz innerhalb der asymmetrischen
Machtverhältnisse beschäftigen kann.15
Angesichts der sich immer mehr verbreitenden Machtsteigerungen
glaubt Foucault nicht mehr allein an den anarchistischen Kampf, sondern
darüber hinaus an die Freiheit der Menschen, die sich einen effektiveren
Widerstand gegen jenen verbreiteten Typ von Macht leisten könnten.16
Aufgrund der Freiheit und der dadurch zustande gebrachten neuen Form
der Subjektivität seien die Menschen nun in der Lage, andere Lebensweisen zu bestimmen und zu entwickeln. 17 Genau deshalb hat sich
Foucault zuletzt von seiner anarchistischen Anthropologie verabschiedet
und begonnen, den Kampf für eine neue Subjektivität zu führen.18 Bei
diesem Kampf für eine neue Subjektivität ist zwar von keinem
regulativen politischen Programm die Rede, unter dessen Anleitung
bestimmte Institutionen und Gesetze neu organisiert werden sollten, aber
doch von einer ethisch-politischen Arbeit, durch die der Einzelne eine
relative Autonomie gegenüber den sozialen und politischen Verhältnissen
gewinnen sollte.19 Diese ethisch-politische Arbeit, die ständig auf die
Suche nach einer neuen Subjektivität und einer alternativen Lebensweise
gerichtet ist und darum als nichts anderes als die Praxis der Freiheit
angesehen wird, ist für Foucault die einzige effektive Garantie für die
Freiheit selbst. Über seinen festen Glauben an die Freiheit hat sich
Foucault in einem Interview geäußert:
„[T]here may, in fact, always be, a number of projects whose aim is
to modify some constraints, to loosen, or even to break them, but none of
these projects can, simply by its nature, assure that people will have liberty automatically: that it will be established by the project itself. The
15
16
17
18
19
136
FS, S. 12-15; WA, S. 48-53.
Vgl. WMS, 21; James W. Bernauer/Michael Mahon, Foucaults Ethik, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 42 (1994), S. 599.
Die homosexuelle Lebensweise, die in der abendländischen Gesellschaft lange
sittlich und rechtlich herabgewürdigt wurde, ist eine der möglichen Lebensweise,
die Foucault zu bestimmen und zu entwickeln versucht. Vgl. FL, S. 89, 109f.; SM,
S. 250.
Vgl. Fink-Eitel (Fn.4), S. 125; Urs Marti (Fn.4), S. 131.
Vgl. Fink-Eitel (Fn.4), S. 125; Bernauer/Mahon (Fn.16), S. 599; Wolfgang Detel,
Macht, Moral, Wissen, Foucault und die klassische Antike, Frankfurt a.M., 1998,
S. 13; Paul Patton, Taylor and Foucault on Power and Freedom, in: Barry Smart
(Hrsg.), Michel Foucault. Critical Assessments, vol. V, London u. New York
1995, S. 358; Thomas L. Dumm, Michel Foucault and the Politics of Freedom,
Thousand Oaks u.a. 1996, S. 137, 141-144.
liberty of men is never assured by the institutions and laws that are intended to guarantee them. This is why almost all of these laws and institutions are quite capable of being turned around.” “[O]nce again, I think
that it can never be inherent in the structure of things to guarantee the exercise of freedom. The guarantee of freedom is freedom.”20
II. Eine andere Art der Menschenrechte
Eingedenk dieses festen Glaubens an die Freiheit werden die Menschenrechte, die nach Foucault keine transzendentale Substanz darstellen
und in ihrer Praxis schon mit dem Macht-Wissen-Komplex verbunden
worden sind21, in der letzten Phase der Machtanalytik Foucaults wieder
thematisiert. Anstatt über die Frage zu diskutieren, kraft welcher Machtmechanismen bestimmte Formen der Wahrheit und Ethik zum Muster der
Menschenrechte erklärt werden, gibt es Foucault nun darum, ob es mehr
mögliche Freiheiten und weitere zukünftige Erfindungen in Form der
Menschenrechte geben könnte, denen zufolge die Menschen nicht mehr
regiert würden und eine ihnen eigene Lebensweise entfalten könnten.
Foucault ist der Meinung, dass wir die Menschenrechte nicht unbedingt
fallen lassen müssen.22 Trotz ihrer Verflechtung mit den bestehenden
Mechanismen von Macht und Wissen seien die Menschenrechte nun auch
in der Praxis der Freiheit, und zwar im Kampf für eine neue Subjektivität,
strategisch positiv einsetzbar. Diesmal werden die Menschenrechte nicht
mehr als die allgemeinen Rechte angesehen, die angeblich von jedem
einzelnen einfach kraft ihres Status besessen würden. Vielmehr gelten sie
als die Rechte des Regierten, die den Menschen allein wegen ihres in den
asymmetrischen Machtverhältnissen auferlegten Status des Regierten
zukommen. 23 Dank dieses Status des Regierten sind wir alle nach
20
21
22
23
Flive, S. 339f.; vgl. WMS, S.21.
Es gibt in Wirklichkeit immer bestimmte sittliche Einstellungen, die als dogmatische Prinzipien für die Auslegung der Menschenrechte vorausgesetzt werden. Bei
manchen umstrittenen Rechtsstreitigkeiten geht es dementsprechend nicht nur um
das Problem der Rechtsauslegung, sondern auch um das der ethischen Weltanschauung, die der Rechtsauslegung zugrunde liegt. Für diese Diskussion siehe
Kapitel 5. C der vorliegenden Arbeit.
WMS, S. 22.
Vgl. Osborne (Fn.11), S. 53. Die Infragestellung der allgemeinen Menschenrechte
von Foucault sollte im Zusammenhang mit seiner Kritik an dem homo oeconomicus und dem dadurch zustande gebrachten Rechtssubjekt betrachtet werden.
Für die einschlägige Diskussion siehe Kapitel 2, C.III.3 der vorliegenden Arbeit.
137
Foucault sowohl solidarisch als auch berechtigt, uns gemeinsam gegen
jede Form von Machtmissbrauch zu erheben, welche vor allem durch
diejenigen ausgelöst werden, die sich als die Regierenden unter dem
Deckmantel des Glücks der Gesellschaft das Recht anmaßen, „das Unglück der Menschen als Gewinn oder Verlust zu rechnen, das ihre Entscheidungen hervorruft oder das ihre Nachlässigkeiten erlaubt“.24
C. Die Parrhesia und das Recht des Regierten
I. Das Spiel der Parrhesia
Das, womit der Regierte gegen den Machtmissbrauch der Regierenden kämpfen kann, ist die Tätigkeit der sogenannten parrhesia, die nach
Foucault schon seit der Antike eine entscheidende Rolle in der westlichen
kritischen Tradition gespielt hat.25 Das Wort parrhesia, das aus dem
Griechischen stammt, wird im Englischen gewöhnlich mit free speech
und im Deutschen mit Freimütigkeit oder Aufrichtigkeit übersetzt. 26
Foucault zufolge bezeichnet das Wort parrhesia einerseits ein Spiel von
Wahrheit, in dem manchen Leuten die Freiheit zukommt, die Wahrheit zu
sprechen, und andererseits ein Spiel von Risiko, in dem der Sprecher
wegen seiner Wahrheitsäußerung, die von den Regierenden immer als
Kritik betrachtet wird, eine gewisse Gefahr der Bestrafung oder gar des
Todes eingehen muss. 27 Zusammenfassend lässt sich sagen, „dass
parrhesia eine Art von verbaler Tätigkeit ist, bei der der Sprecher dank
seiner Freimütigkeit eine spezielle Beziehung zur Wahrheit hat, durch die
Gefahr eine spezielle Beziehung zu seinem eigenen Leben, und durch die
Kritik (Selbstkritik oder Kritik anderer Menschen) eine spezielle Beziehung zu sich selber oder zu anderen Menschen, und durch die Freiheit
24
25
26
27
138
Vgl. Taureck (Fn.11), S. 120; Osborne (Fn.11), S. 53. Unter Berücksichtigung
seiner Solidarisierbarkeit, der zufolge alle Regierten sich verbinden können,
werden das Recht der Regierten von Foucault weiter auf die internationale Ebene
erhöht und eine internationale Staatsbürgerschaft unterstellt, „die ihre Rechte und
Pflichten hat und dazu verpflichtet [ist], sich gegen jeden Machtmissbrauch zu
erheben, gleichgültig wer der Urheber [ist] oder wer die Opfer sind“. Zitiert von
Taureck, ebd.
FL, S. 139.
DW, S. 9; vgl. auch Didier Eribon, Michel Foucault. Eine Biographie, Frankfurt
a.M. 1993, S. 477.
Vgl. DW, S. 10-18.
und die Pflicht eine spezielle Beziehung zum moralischen Gesetz.“28
Durch die genealogische Erforschung der Praxis der parrhesia seit der
Antike möchte Foucault die Antwort darauf finden, wie die kritische
Haltung im Westen entstanden ist, welche Problematisierungsphasen sie
bisher durchlaufen hat, wie und warum bestimmte Dinge (Verhalten, Erscheinungen, Prozesse) in der Praxis der Kritik zum Problem wurden.29
II. Das Recht des Regierten
Foucault hat auf diese Weise die kritische Tradition der abendländischen Gesellschaft mit seiner Machtanalytik (inklusive seiner Praxis der
Freiheit) geschickt miteinander in Zusammenhang gebracht, und genau in
diesem Zusammenhang hat er auch seine Konzeption des Rechts des Regierten erarbeitet. Demzufolge ist das Recht des Regierten nichts anderes
als das Recht der parrhesia. Konkret bedeutet dies folgendes: In seinem
negativen Sinne gilt das Recht des Regierten als die Berechtigung, Anfragen an die Regierung zu stellen – „im Namen des Wissens und der Erfahrung, die er als Staatsbürger besitzt“. Damit kann der Regierte fragen,
„was der andere macht, fragen nach dem Sinn seines Handelns und nach
den Entscheidungen, die dieser gefällt hat“. Dies ist für Foucault „das
gute Recht, Fragen nach der Wahrheit zu stellen“.30 In seinem positiven
Sinne ist das Recht des Regierten zugleich das Recht der Redefreiheit und
der Kritik, die es gestatten alles auszusprechen, was in den bestehenden
Macht- und Regierungsverhältnissen wirklich passiert und unerträglich
ist.
Dieses durch die parrhesia entstehende Recht des Regierten, das
einerseits mit dem Verlangen nach Wahrheit, der Redefreiheit und der
Kritik verbunden ist und andererseits dem Regierten nach einer neuen
Subjektivität und einer anderen Lebensweise streben hilft, ist gleichermaßen die Fortsetzung und die Umschreibung des anarchistischen
Kampfs des frühen Foucault. Als Foucault sich Anfang der 1970er Jahre
mit dem GIP (Arbeitskreis zur Information über die Gefängnisse) beschäftigte, hat er in seinem Kampf gegen das sich immer dichter zusammenziehende Netz polizeilicher Überwachung schon eine bestimmte
Form von parrhesia ausgerufen, obwohl diese ihm damals noch gar nicht
28
29
30
DW, S. 19.
DW, S. 178.
FL, S. 139.
139
bekannt war.31 In seinem ersten Heft, das im Mai 1971 mit dem auffallenden Titel Intolérable erschien, hat der GIP seine Motive und Ziele
folgendermaßen geschildert: „Nur wenige Informationen dringen aus den
Gefängnissen; sie sind eines der am besten versteckten Gebiete unseres
Sozialsystems; sie ähneln einer Blackbox unseres Lebens. Wir haben das
Recht auf Wissen, und wir wollen wissen. [...] Wir wollen wissen, was
das Gefängnis ist: wer dort hineinkommt, wie und warum man dorthin
kommt, was dort geschieht, wie die Gefangenen und auch wie die Aufseher leben, wie die Baulichkeiten beschaffen sind, wie es um das Essen,
die Hygiene, die internen Regelungen, die ärztliche Versorgung und die
Werkstätten bestellt ist, wie man dort wieder herauskommt und was es
heißt, nach der Entlassung aus dem Gefängnis in unserer Gesellschaft zu
leben.“32 „Es handelt sich nicht um eine soziologische Untersuchung.
Vielmehr sollen Menschen zu Wort kommen, die Erfahrung mit dem Gefängnis haben. [...] Unsere Untersuchung soll nicht unser Wissen vermehren, sondern unsere Intoleranz stärken und zu einer aktiven Intoleranz
machen. Werden wir intolerant gegenüber den Gefängnissen, der Justiz,
dem Krankenhaussystem, der psychiatrischen Praxis, dem Militärdienst
usw.“33
In der Transformation des Rechts auf Bescheidwissen zum Recht des
Regierten, dem zugleich die Praxis der Freiheit und der parrhesia
zugrunde liegen, hatte Foucault endlich die von ihm 1976 angekündigte
Arbeit der Suche nach einem neuen Recht abgeschlossen. Mittels dieses
neuen Rechts als das Recht des Regierten sollte nicht nur ein effektiverer
Widerstand gegen einen verbreiteten Typ von Macht eingeführt werden.
Auf die Basis dieses neuen Rechts des Regierten werden zugleich der von
Foucault später kundgemachte Kampf für eine neue Subjektivität und der
Versuch einer anderen Lebensweise gestellt. Alle bisherigen Darlegungen
späterer Arbeit Foucaults, von der Praxis der Freiheit über die neue Art
von Menschenrechten, das Recht des Regierten bis zur parrhesia, weisen
darauf hin, dass Foucault in der letzten Phase seiner Arbeit nicht mehr bei
seiner anarchistischen Anthropologie bleibt, sondern sich schon einer
31
32
33
140
Zum Beispiel hat sich Foucault im Zuge der Affäre Jaubert auf Artikel 15 berufen,
der in der Menschenrechtserklärung von 1789 niedergelegt ist, um Rechenschaft
über die Wahrheit von der Polizei zu verlangen. Artikel 15 lautet: „Die Gesellschaft hat das Recht, von jedem Inhaber eines öffentlichen Amtes Rechenschaft
über seine Amtsführung zu verlangen.“ Vgl. DE II, S. 242, 246, 523.
DE II, S. 212f.; vgl. auch Eribon (Fn.26), S. 318f.
DE II, S. 213f.
„postmodernen Utopie der Lebenskunst“ zuwendet, bzw. einer „Vision
der Vielfältigkeit und Pluralität, die die »Ein-Heils-Imaginationen« der
Moderne ablöst“.34
III. Appell zu moralischem Mut oder Garantie durch eine institutionelle
Mindestbedingung
Gleichwohl ist es keine einfache Aufgabe, diese postmoderne Utopie
der Lebenskunst für alle Regierten allein mittels des Rechts des Regierten
und ohne weitere institutionelle Unterstützung zu verwirklichen. Es ist ja
nicht leicht, die Wahrheit zu sagen und von der Regierung die Wahrheit
zu verlangen, insbesondere dann nicht, wenn man sich in einem tyrannischen oder totalitären Regime befindet. In einem solchen Extremfall ist
der Gebrauch der parrhesia oder des Rechts des Regierten immer gleichbedeutend mit einem Spiel auf Leben und Tod. Die Praxis der parrhesia,
wie Foucault sie uns gezeigt hat, ist deswegen immer mit Mut verbunden.
In diesem Sinne kommt der Gebrauch der parrhesia allein demjenigen zu,
der den Mut hat, das Risiko des Spiels der parrhesia einzugehen.35 Wenn
der Gebrauch des Rechts des Regierten aber nur auf dem ethischen Mut
des einzelnen basiert und nicht durch eine institutionelle Mindestbedingung unterstützt wird, ist der Kampf gegen die Machtmechanismen dann
noch so effektiv fortzusetzen, wie sich Foucault das gedacht hat? Wird
das Recht des Regierten am Ende nicht zu einer leeren Idee, die nichts
anderes als ein schöner moralischer Appell ist?
Aufgrund dieser praktischen Schwierigkeiten stellt sich die Frage, ob
man dem Recht des Regierten mit Hilfe der Unterstützung durch eine
institutionelle Mindestbedingung eine andere objektiv-rechtliche Geltung
verleihen kann, damit der Gebrauch dieses Rechts nicht willkürlich durch
die Regierung mit irgendeinem Verwaltungs- und Strafmittel ausgeschlossen werden kann. Nur wenn die Regierung überhaupt an das Recht
des Regierten als das objektive Recht gebunden ist, besteht die Chance,
dass das Recht des Regierten von einem moralischen Appell zu einem
wirklichen Recht wird. 36 Diejenige institutionelle Mindestbedingung,
34
35
36
Markus Schroer, Ethos des Widerstands. Michel Foucaults postmoderne Utopie
der Lebenskunst, in: Rolf Eickelpasch/Armin Nassehi (Hrsg.), Utopie und Moderne, Frankfurt a.M. 1996, S. 136, 160.
Vgl. DW, S. 14f.
Statt ein moralischer Appell ein wirkliches Recht zu sein, das ist das Bewusstsein
des Verfassungsstaates, wie es Martin Kriele geschildert hat: „[…] dass men141
durch die erst die objektiv-rechtliche Geltung des Rechts des Regierten
garantiert werden kann, ist das, was ich den Doppeldisziplinierungsmechanismus des Verfassungsstaates nennen möchte. Durch die Berufung
auf diesen Doppeldisziplinierungsmechanismus wird die Diskussion über
die positive Rolle des Verfassungsstaates im Kampf gegen die Übergriffe
der Macht wieder angeregt. All dies wird im kommenden Kapitel weiter
diskutiert.
schenrechtliche Forderungen in der Wirklichkeit nichts erreichen können ohne
eine institutionelle Mindestbedingung: die Gewaltenteilung“. Martin Kriele, Befreiung und politische Aufklärung. Plädoyer für die Würde des Menschen, Freiburg i.B. 1986, S. 45.
142
Kapitel 5
Doppeldisziplinierungsmechanismus des Verfassungsstaates
A. Entstehung des Doppeldisziplinierungsmechanismus des
Verfassungsstaates
I. Eine andere Richtung der Disziplinierung – die Disziplinierung der
Staatsmacht
In seinem Urteil über die Disqualifizierung des Verfassungsstaates
im Kampf gegen die Übergriffe der Macht hat Foucault nur die Hälfte der
Wahrheit gesagt. Sicherlich hat er recht, wenn er meint, dass der Verfassungsstaat seit seiner Einrichtung am Ende des 18. Jahrhunderts mehr und
mehr durch die Normalisierungsvorgänge kolonisiert worden ist. Dabei
wird zum einen eine bestimmte Form von Wahrheit mit Unterstützung der
Disziplinarmechanismen zum Muster und Prinzip der Freiheiten und Gesetze erklärt. Zum anderen werden die Menschen, die nun unter dem Regiment des Verfassungsstaates stehen, gezwungen, ihre Lebensführung an
diesen durch den Macht-Wissen-Komplex manipulierten Freiheiten und
Gesetzen auszurichten. Dies, was man als die Disziplinierung des Staatsbürgers bezeichnen kann, ist nach Foucault genau der heikle Punkt, dem
der heutige Verfassungsstaat und die gesamte Rechtsgesellschaft sich
nicht entziehen können. Nichtsdestotrotz ist zu fragen, ob der Verfassungsstaat allein deswegen im Kampf gegen die Macht disqualifiziert
werden muss. Während Foucault die Kolonisierung des Verfassungsstaates stets von der Seite der Disziplinierung des Staatsbürgers her betrachtet,
scheint es seiner Aufmerksamkeit entgangen zu sein, dass es in der Praxis
des Verfassungsstaates noch einen anderen Disziplinierungsprozess gibt.
Dieser von Foucault nicht ernst genommene Disziplinierungsprozess ist
die Disziplinierung der Staatsmacht.
Als die Disziplinierung der Staatsmacht auch mit Hilfe der Machttechnologie der Disziplin in Gang gesetzt wurde, trat sie sofort in eine
Spannungsbeziehung zur Disziplinierung des Staatsbürgers. Trotzdem
wird die Disziplinierung der Staatsmacht nicht um der Ausschaltung der
Disziplinierung des Staatsbürgers willen eingesetzt. Sie fordert nur, dass
die Disziplinierung des Staatsbürgers auf eine angemessene Weise
vorgenommen werden muss. Man kann diese, durch die Disziplinierung
143
der Staatsmacht entstehende, Begrenzung der Disziplinierung des
Staatsbürgers somit als die Disziplinierung der Disziplinierung
bezeichnen. Durch die Disziplinierung der Disziplinierung lässt sich der
Verfassungsstaat schließlich nicht nur zu einer institutionellen Garantie
für die kritische Praxis der Freiheit, sondern auch zu einem
Doppeldisziplinierungsmechanismus entwickeln, in dem Staatsbürger und
Staatsmacht gleichermaßen zu disziplinieren sind.
II. Das Spannungs- und Koordinierungsverhältnis zwischen der
Disziplinierung des Staatsbürgers und der Disziplinierung der
Staatsmacht
Innerhalb des Doppeldisziplinierungsmechanismus des Verfassungsstaates gibt es einerseits das Spannungsverhältnis zwischen der Disziplinierung der Staatsmacht und der Disziplinierung des Staatsbürgers. Andererseits gibt es aber auch ein Koordinierungsverhältnis zwischen beiden
Polen. Dabei steht die Disziplinierung der Staatsmacht nicht mehr der
Disziplinierung des Staatsbürgers entgegen. Umgekehrt gewährleistet die
Disziplinierung der Staatsmacht in einem bestimmten Fall sogar die Disziplinierung des Staatsbürgers. Wie bereits erwähnt, ist die Disziplinierung der Staatsmacht im Verfassungsstaat nicht gänzlich auf die Ausschließung der Disziplinierung des Staatsbürgers ausgerichtet, sondern
auf ihre Begrenzung und Mäßigung. Bis zu einem gewissen Grade bedarf
es der Disziplinierung des Staatsbürgers, damit das Zusammenleben der
Menschen sich in einer Gesellschaft reibungslos entwickeln kann. Die
Verankerung einer Reihe rechtlicher Bürgertugenden (etwa die Rechtskonformität und die Rechtstreue) durch den normalisierenden Rechtsdiskurs und das koordinierende System von Polizei/Strafjustiz/Gefängnis
liefert hierfür ein schönes Beispiel.1 Die Verankerung dieser Rechtsdisziplinen im Bewusstsein des Bürgers stellt eine Reihe von Anforderungen
an die Rechtssicherheit wie die Eindeutigkeit, die Beständigkeit und die
effektive Durchsetzbarkeit des Gesetzes.2 Erst wenn das Gesetz eindeutig
1
2
144
Für die einschlägige Diskussion darüber siehe Kapitel 2, D. III der vorliegenden
Arbeit.
Die Rechtssicherheit wird in der heutigen Literatur des öffentlichen Rechts als
ein wesentliches Element des Rechtsstaatsprinzips angesehen. Vgl. Eberhard
Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.),
Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschlands, Bd. 1, Grundlagen
von Staat und Verfassung, 2. Aufl., Heidelberg 1995, §24, Rn. 81. Zum Begriff
vorgeschrieben, stabil aufrechterhalten und notfalls mit Zwang durchgesetzt wird, kann der Bürger vorab nach dem, was das Gesetz von ihm erwartet, über seine Privatangelegenheiten disponieren. Genau auf diese
Weise – durch die Schaffung von Rechtssicherheit – werden die Rechtskonformität und die Rechtstreue allmählich im Bewusstsein der Bevölkerung verwurzelt.
Die Eindeutigkeit, die Beständigkeit und die effektive Durchsetzbarkeit des Gesetzes sind aber nicht immer gegeben. In Wirklichkeit wird
das Gesetz von den Regierenden immer wieder willkürlich interpretiert,
geändert oder sogar missachtet. Die größtmögliche Sicherheit und Berechenbarkeit der Rechtsordnung ist letztlich nur durch die institutionelle
Mindestbedingung des Verfassungsstaates mit seiner Disziplinierung der
Disziplinierung zu gewährleisten. Wenn es stimmt, dass die Ausbildung
der Rechtsdisziplinen nicht nur den normalisierenden Rechtsdiskurs und
das durch ihn hergestellte Delinquentenmilieu, sondern auch eine Reihe
von Anforderungen an die Rechtssicherheit voraussetzt, die nur durch die
Disziplinierung der Staatsmacht gewährleistet sind, dann zeigt sich, dass
die Disziplinierung der Staatsmacht dank der Vermittlung der Rechtssicherheit nicht immer der Disziplinierung des Staatsbürgers entgegen steht.
Bis zu einem gewissen Grade bedarf die Disziplinierung des Staatsbürgers auch der Unterstützung durch die Disziplinierung der Staatsmacht,
damit einige Rechtsdisziplinen im Rechtsbewusstsein des Bürgers verwurzelt werden. Genau in diesem Zusammenhang lässt sich sehen, dass
im Doppeldisziplinierungsmechanismus des Verfassungsstaates zugleich
das Spannungs- und Koordinierungsverhältnis zwischen der Disziplinierung des Staatsbürgers und der Disziplinierung der Staatsmacht herrscht.
Alles zusammen genommen kann der Verfassungsstaat in Foucaults
Augen zwar seinem Schicksal der Kolonisierung durch die Disziplinierungs- und Normalisierungsvorgänge nicht entgehen. Auf eine nicht vorgesehene Weise – mit Hilfe der Machttechnologie der Disziplin – hat er
aber dennoch den Doppeldisziplinarmechanismus entwickelt, um die
Disziplinierung des Staatsbürgers umgekehrt zu überwachen und zu disziplinieren. Genau bei dieser Gestaltung des Doppeldisziplinierungsmechanismus erlebt der Verfassungsstaat einen Prozess dessen, was Foucault
der Rechtssicherheit siehe außerdem Winfried Brugger, Liberalismus, Pluralismus, Kommunitarismus. Studien zur Legitimation des Grundgesetzes, Baden-Baden 1999, S. 45f.; Reinhold Zippelius, Rechtsphilosophie, 3. Aufl., München 1994, S. 161ff.
145
als die strategische Wiederauffüllung des Dispositivs bezeichnet. Wie
wird diese von Foucault vernachlässigte Disziplinierung der Staatsmacht
im Rahmen des Verfassungsstaates durch die Machttechnologie der Disziplin in Gang gesetzt, die ebenfalls der Disziplinierung des Bürgers
zugrunde liegt? Diese Frage bildet der Schlüssel zur Rekonstruktion des
Verfassungsstaates und wird im kommenden Abschnitt weiter diskutiert.
B. Zur Anwendung der Disziplinarinstrumente auf die Überwachung der
Staatsmacht
I. Die Freisetzung der Disziplinarinstrumente der Macht
Von der Disziplinierung der Staatsmacht wird in der einschlägigen
öffentlich-rechtlichen Diskussion über den Verfassungsstaat häufig gesprochen.3 Dabei meint die Disziplinierung der Staatsmacht nichts anderes als die Begrenzung und Kontrolle staatlicher Herrschaft. Das Verblüffende ist, dass alle im heutigen Verfassungsstaat verankerten rechtstaatlichen Maßnahmen zur Kontrolle und Beherrschung der Staatsmacht – von
den formellen Rechtsstaatsmaßnahmen wie der Gewaltenteilung, der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und der Unabhängigkeit der Gerichte bis
zu den materiellen Rechtsstaatsregelungen wie der Bindung aller Staatsgewalt an die Verfassung und die Grundrechte und der Verfassungsgerichtsbarkeit zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit staatlichen Handelns4 – unter dem Aspekt der Machttechnologie der Disziplin neu betrachtet werden können. Diese ist diesmal nicht auf den Staatsbürger,
sondern auf die Staatsmacht gerichtet.
Wie im Vorhergehenden schon festgestellt wurde, wurde die Machttechnologie der Disziplin ab dem 17. Jahrhundert in den unterschiedlichen geschlossenen Institutionen angewendet, damit die Nützlichkeit der
individuellen Kräfte erhöht und diese zugleich politisch fügsam gemacht
3
4
146
Vgl. Werner Weber, Spannungen und Kräfte im westlichen Verfassungssystem, 3.
Aufl., Berlin 1975, S. 164f.; Stefan Korioth, „Monarchisches Prinzip“ und Gewaltenteilung – unvereinbar? Zur Wirkungsgeschichte der Gewaltenteilungslehre
Montesquieus im deutschen Frühkonstitutionalismus, in: Der Staat, 37 (1998), S.
45; Hans Herbert v. Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, München 1984, S. 381.
Vgl. Schmidt-Aßmann (Fn.2), Rn. 18f.; Christoph Degenhart, Staatsrecht I.
Staatsorganisationsrecht, 17. Aufl., Heidelberg 2001, Rn. 233-238; Reinhold
Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 12. Aufl., München 1994, S. 287f.
werden konnte. Dieser spezifische Machttechnologie bedient sich nach
Foucault dreier miteinander koordinierter und auf den Körper ausgerichteter Instrumente, nämlich der hierarchischen Überwachung, der normierenden Sanktion und der individualisierenden Prüfung. Obwohl alle diese
Disziplinarinstrumente der Macht auf den Körper abstellen, so sind sie
darum doch nicht allein auf ihn bezogen. Eigentlich sind die Disziplinarinstrumente der Macht bereits zu einer Art gemeinsamer Sprache und
Kommunikation zwischen allen Arten von Apparaten und Institutionen
geworden, die einer effektiven Form der Kontrolle dringend bedürfen.5
Als der effektive Mechanismus zur Homogenisierung, Normalisierung
und Disziplinierung sind die Disziplinarinstrumente der Macht daher zu
jeder Zeit auf jeden Bereich und Gegenstand anzuwenden. Nicht nur im
Bereich der Wissenschaft zeigt sich nach Foucault, dass sich ab dem 18.
Jahrhundert „eine andere Form der Disziplinierung“ entwickelte, die
nicht mehr nur den Körper, sondern auch das Wissen anging.6 Wie im
Vorhergehenden erwähnt, gestaltet sich in der Praxis des Verfassungsstaates auch eine andere Form der Disziplinierung, die statt auf die Disziplinierung des Staatsbürgers auf die Disziplinierung der Staatsmacht
gerichtet ist. Erst durch diese, sich ebenfalls auf die Disziplinarinstrumente der Macht berufende, Disziplinierung der Staatsmacht wird die
Grundlage der diversen rechtsstaatlichen Maßnahmen zur Kontrolle und
5
6
Vgl. François Ewald, Eine Macht ohne Draußen, in: François Ewald/Bernhard
Waldenfels (Hrsg.), Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken, Frankfurt
a.M. 1991, S. 164f.; ders., Norms, Discipline, and the Law, in: Robert Post
(Hrsg.), Law and the Order of Culture, Berkeley u.a. 1991, S. 140ff.; Ulrich
Bröckling, Totale Mobilmachung. Menschenführung im Qualitäts- und Selbstmanagement, in: Ders./Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hrsg.), Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt
a.M. 2000, S. 145ff.
Dazu sagt Foucault: „Das 18. Jahrhundert war das Jahrhundert der Disziplinierung der Wissen, d.h. der internen Organisation jedes Wissens als einer Disziplin,
die in ihrem eigenen Feld zugleich Auswahlkriterien hat, um das falsche Wissen,
das Nicht-Wissen, Formen der Normalisierung und Homogenisierung der Inhalte,
Formen der Hierarchisierung und schließlich eine interne Organisation der Zentralisierung dieser Wissen rund um eine Art faktischer Axiomatisierung fernzuhalten.“ Genau dadurch ist eine Form von effektiver Kontrolle entstanden, die
nicht nur die Ebenen, Qualität und Quantität des Wissens, sondern auch „die Regelmäßigkeit der Äußerungen“ festlegt, die vor allem auf die folgenden Fragen
bezogen ist, nämlich „wer gesprochen hat, ob er qualifiziert war zu sprechen, auf
welcher Ebene sich diese Aussage ansiedelt, in welche Gesamtheit sie sich einfügen lässt, worin und in welchem Maße sie mit anderen Formen und anderen
Typologien des Wissens konform ist“. VG, S. 211, 213f.
147
Beherrschung der Staatsmacht gelegt.
II. Die optische Disziplinararchitektur des Verfassungsstaates
1. Die hierarchische Überwachung des Rechtsstufenbaus
Die Disziplinierung der Staatsmacht beginnt mit dem Aufbau einer
auf die Transparenz der Staatsmacht abzielenden optischen Disziplinararchitektur, in der jede Einzelheit staatlichen Handelns ihren fest zugewiesenen Platz erhält und daher gezwungen ist, sich den hierarchischen,
überkreuzten Überwachungen zu unterwerfen. In dieser optischen Disziplinararchitektur des Verfassungsstaates wird die Transparenz der Staatsmacht zunächst durch den Prozess der Verrechtlichung geschaffen. Demnach werden die Vielzahl und Vielfalt der Staatsmacht sowohl horizontal
nach ihrer Funktionalität – im Sinne der Gewaltenteilung – als auch vertikal nach dem Grad ihrer Konkretisierung zu verschiedenartigen
Rechtsnormen umgeschrieben und klassifiziert. Daraus ergeben sich unterschiedlichen Staatsorganen zugeordnete Rechtsnormen wie die der gesetzgebenden Gewalt eigenen Gesetze, die der vollziehenden Gewalt eigenen Verordnungen, Satzungen und Verwaltungsakte sowie die der
rechtsprechenden Gewalt eigenen Urteile.7 Diese Rechtsnormen werden
im Verfassungsstaat in einer an die Verfassung gebundenen Über- und
Unterordnung vom Generellen zum Individuum bzw. vom Abstrakten
zum Konkreten auf einer hierarchischen und rangmäßigen Weise weiter
eingestuft. Dies führt schließlich zur Entstehung einer räumlich-hierarchischen Rangfolge der Rechtsnormen, welche sich von der
höchstrangigen Verfassung über generelle Gesetze und Rechtsverordnungen bis zu einzelnen Verwaltungsakten und Gerichtsurteilen entfaltet.8
Die räumlich-hierarchische Rangfolge der Rechtsnormen ist das, was
Hans Kelsen als den „Stufenbau der Rechtsordnung“ bezeichnet.9
7
8
9
148
Vgl. Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Wien 2000, S. 236, 242; Dirk
Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen. Elemente
einer Theorie der autoritativen Normgeltungsbeendigung, Tübingen 1997, S.
146-148; Theodor Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, Berlin 1994, S. 91ff.
Diese hierarchische Struktur der Rechtsnormen kann aber auch von „der Intensität der demokratischen Legitimation“ her betrachtet werden. Für die detaillierte
Diskussion siehe Heckmann, aaO, S. 146-148.
Vgl. Kelsen (Fn.7), S. 228ff. Was in dieser hierarchischen Rangbestimmung der
Rechtsnormen zu sichern ist, ist nach Görg Haverkate nicht nur die Einheitlich-
Es liegt auf der Hand, dass diese Konzeption des Stufenbaus der
Rechtsordnung bei Kelsen durchweg raumorientiert ist. Er selbst meint
dazu folgendes: „Die Beziehung zwischen der die Erzeugung einer anderen Norm regelnden und der bestimmungsgemäß erzeugten Norm kann in
dem räumlichen Bild der Über- und Unterordnung dargestellt werden.
Die die Erzeugung regelnde ist die höhere, die bestimmungsgemäß erzeugte ist die niedere Norm. Die Rechtsordnung ist nicht ein System von
gleichgeordneten, nebeneinanderstehenden Rechtsnormen, sondern ein
Stufenbau verschiedener Schichten von Rechtsnormen.“ 10 Bei Kelsen
wird dieser räumlich-hierarchische Stufenbau der Rechtsordnung vor
allem als Erklärung für die Frage nach dem Geltungsgrund einer Rechtsnorm angesehen.11 Demnach wird der Geltungsgrund einer niederrangigen Rechtsnorm durch eine höherrangige Rechtsnorm gewährleistet.
Damit ist einerseits gemeint, dass niederrangige Rechtsnormen ihren Entstehungsgrund in höherrangigen Rechtsnormen finden können. Umgekehrt haben höherrangige Rechtsnormen auch die Kraft, auf Bestand und
Inhalt niederrangiger Rechtsnormen einzuwirken und diese gegebenenfalls aufzuheben.12
Aus dem Blickwinkel der Machttechnologie der Disziplin lässt sich
dieser räumlich-hierarchische Stufenbau der Rechtsordnung auch als eine
optische Disziplinararchitektur betrachten, in der die Staatsmacht dank
des Prozesses der Verrechtlichung und der entsprechenden rangmäßigen
10
11
12
keit des Rechts im Raum, sondern auch die Einheitlichkeit des Rechts in der Zeit.
Haverkate, Materiale und formale Hierarchien im Recht. Anmerkungen zum
Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem mitgliedstaatlichen Recht, in:
Hans-Joachim Cremer/Thomas Giegerich/Dagmar Richter/Andreas Zimmermann
(Hrsg.), Tradition und Weltoffenheit des Rechts. Festschrift für Helmut Steinberger, Berlin u.a. 2002, S. 1178f.
Kelsen, aaO, S. 228. Diesbezüglich meint Karl Engisch, dass diese im Stufenbau
der Rechtsordnung eingestuften verschiedenen Schichten von Rechtsnormen
bildlich als „Stockwerke in einem festgefügten, in sich geschlossenen Rechtsgebäude“ zu betrachten sind und „also sozusagen in einer neuen Dimension – uns
zwar einer Höhen- und Tiefendimension – aufeinander bezogen werden“. Karl
Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, Heidelberg 1935, S. 10. Außerdem ist
Engisch der Meinung, dass die Stufentheorie des Rechts zunächst auf Ernst
Rudolf Bierling zurückging und dann in der österreichischen Schule so eifrige
Pflege fand. AaO, S. 9.
Kelsen, aaO, S. 196.
Daraus ergeben sich nach Dirk Heckmann zwei Aspekte der Hierarchie, nämlich
der Stufenbau nach der rechtlichen Bedingtheit (Hierarchie als Delegation) und
der Stufenbau nach der derogatorischen Kraft (Hierarchie als Derogation).
Heckmann (Fn.7), S. 145f.
149
Einstufung zu einem zu beobachtenden Gegenstand der hierarchischen
Überwachung wird. Mit Unterstützung dieser optischen Disziplinararchitektur des Verfassungsstaates wird ein lückenloses Überwachungsnetz
hergestellt, in dem jeder einzelne Strang der Staatsmacht verfolgt und
hierarchisch kontrolliert wird. Erst aus dieser Perspektive lässt sich die
sogenannte „hierarchische Bindung des Rechts“ verstehen, die schon im
Grundgesetz zum zentralen Baustein der rechtsstaatlichen Kontrolle der
Staatsmacht geworden ist.13
2. Die normierende Sanktion der Nichtigkeit
Im Stufenbau der Rechtsordnung wird jeder Einsatz der Staatsmacht
zunächst nach der Funktionalität und dem Grad der Konkretisierung mit
Rechtsnormen unterschiedlicher Ränge umschrieben und dann hierarchisch überwacht. Der Verstoß einer niederrangigen Rechtsnorm gegen
eine höherrangige Rechtsnorm, welche sich auf die formellen Anforderungen an die Rechtsentstehung (Zuständigkeit, Form, Verfahren) oder
auf den materiellen Inhalt beziehen kann, wird eine Sanktion nach sich
ziehen, das heißt: Rechtsnormen, die gegen ein höherrangiges Recht verstoßen, sollen nicht gelten.14
Die Sanktion der Nichtigkeit für eine rechtswidrige Rechtsnorm – im
Sinne des Verstoßes gegen eine höherrangige Rechtsnorm – ist sozusagen
die korrigierende und normierende Strafe für den unrechtmäßigen Einsatz
der Staatsmacht, damit die Vielfalt der Staatsmacht und die ihr entsprechenden Rechtsnormen im Stufenbau der Rechtsordnung auf den Gel-
13
14
150
Vgl. Helmuth Schulze-Fielitz, Rechtsstaat, in: Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz.
Kommentar, Bd. 2. Artikel 20-82, Tübingen 1998, S. 163.
Heckmann (Fn.7), S. 49, 148. Nach Kelsen sollte die für rechtswidrig erklärte
Rechtsnorm in der Rechtsordnung vernichtbar sein . Sie wird darum entweder nur
mit Wirkung für die Zukunft aufgehoben, so dass die unter ihr bereits entstandenen Rechtswirkungen unberührt bleiben, oder mit rückwirkender Kraft für die
Vergangenheit aufgehoben, so dass alle unter ihr entstandenen Rechtswirkungen
rückgängig gemacht werden. Kelsen (Fn.7), S. 280. Es ist jedoch zu bemerken,
dass ein Gesetz in der Dogmatik und Praxis bei seiner Unvereinbarkeit mit dem
Grundgesetz nicht bloß als vernichtbar gilt, sondern grundsätzlich von Anfang an
(ex tunc) und ohne weiteren gestaltenden Akt (ipso iure) als unwirksam (nichtig).
Dieses verfassungswidrige Gesetz wird darum von der vollziehenden Gewalt und
der Rechtssprechung nicht mehr angewendet. Vgl. Schulze-Fielitz (Fn.13), S.
164f.; Klaus Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht. Stellung, Verfahren, Entscheidungen, 4. Aufl., München 1997, Rn 343-350.
tungsbefehl der Verfassung zurückzugeführt werden können.15 Demzufolge werden nicht nur die Rechtsstaatsprinzipien wie der Vorrang der
Verfassung und die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (inklusive des Vorrangs und Vorbehaltes des Gesetzes), sondern auch die besonders auf den
Wert der Grundrechte ausgerichtete Einheit und Homogenität der Rechtsordnung zur Sprache gebracht.16
Zu bemerken ist fernerhin, dass die Überwachung und Kontrolle der
Staatsmacht, die in der optischen Disziplinararchitektur des Verfassungsstaates stattfindet, nicht allein im allgemeinen Staat-Bürger-Verhältnis gilt.
Sie sollte darüber hinaus auch in den sogenannten besonderen Gewaltverhältnissen (etwa in den Verhältnissen des Beamten, des Soldaten, des
Schülers einer öffentlichen Schule sowie demjenigen des Strafgefangenen)
gelten, die eine engere Beziehung des einzelnen zum Staat begründen und
dem einzelnen eine Reihe von besonderen, über die allgemeinen Rechte
und Pflichten des Staatsbürgers hinausgehenden Pflichten auferlegen.17
Demnach steht der Einsatz der Staatsmacht in diesen besonderen Gewaltverhältnissen nicht mehr in einem rechtsfreien Raum, in dem der
einzelne als Gewaltunterworfener keine Grundrechte besitzt oder zumindest in deren Ausübung grundsätzlich und weitgehend beschränkt ist und
der der gerichtlichen Kontrolle nicht unterliegt. In der optischen Disziplinararchitektur des Verfassungsstaates werden all die besonderen Gewaltverhältnisse und die darin stattfindenden staatlichen Maßnahmen
ausnahmslos auch verrechlicht und hierarchisch überwacht. Dies führt
schließlich dazu, dass die Grundrechte und der Gesetzvorbehalt auch für
die besonderen Gewaltverhältnisse gültig sein sollten.18
15
16
17
18
Vgl. Heckmann (Fn.7), S. 148.
Vgl. Engisch (Fn.10), S. 11; Zippelius (Fn.2), S. 195; Klaus F. Röhl, Allgemeine
Rechtslehre, Köln u.a. 1994, S. 458.
Zur Problematik der besonderen Gewaltverhältnisse, die heute eher als Sonderstatusverhältnisse oder verwaltungsrechtliche Sonderbeziehungen bezeichnet
werden, siehe etwa Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl., Heidelberg 1999, Rn. 321-327; Jörn Ipsen,
Allgemeines Verwaltungsrecht, 2. Aufl., Köln u.a. 2001, Rn. 75, 192-194.;
Hans-Uwe Erichsen (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 11. Aufl., Berlin u.a.
1998, §4, 20; §9, 17f.; Christoph Degenhart, Staatsrecht I. Staatsorganisationsrecht, 18. Aufl., Heidelberg 2002, Rn. 343f.
Vgl. Michael Stolleis, Verwaltungsrechtswissenschaft in der Bundesrepublik
Deutschland, in: Dieter Simon (Hrsg.), Rechtswissenschaft in der Bonner Republik. Studien zur Wissenschaftsgeschichte der Jurisprudenz, Frankfurt a.M. 1994,
S. 242.
151
3. Die gerichtliche Prüfung
Ob eine niederrangige Rechtsnorm sich innerhalb des durch eine
höherrangige Rechtsnorm ermächtigten Gestaltungsraums gestaltet und
darum die formelle und materielle Rechtmäßigkeit erhält19, wird in der
optischen Disziplinarstruktur des Verfassungsstaates vor allem durch bestimmte gerichtliche Prüfungsverfahren (besonders durch die Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit und durch ein entsprechendes
Rechtsmittelsystem wie Berufung, Revision und Beschwerde) nach den
sich in der Dogmatik und Praxis entwickelnden Prüfungsmethoden20 und
Interpretationsmethoden21 stufenweise nachgeprüft.
Eigentlich spielt die gerichtliche Prüfung im ganzen Mechanismus
der Disziplinierung der Staatsmacht nicht nur die Rolle des Kontrolleurs,
der die Rechtmäßigkeit der Staatsmacht überprüft und demnach die entsprechende normierende Sanktion der Nichtigkeit beschließt. Die gerichtliche Prüfung bildet zugleich die Schlüsseltechnik zur Konstituierung
eines Objektivierungsmechanismus, durch den die Staatsmacht sowohl in
ein Feld der Überwachung als auch in ein Netz der Registrierung hinein
gezwungen wird. Hinsichtlich der in den Prüfungsverfahren vorgeführten
Einzelheiten der Staatsmacht wird nicht nur im Einzelfall nachgeprüft, ob
sie dem durch eine höherrangige Rechtsnorm ermächtigten Gestaltungsraum entsprechen. Die anschließenden Prüfungsergebnisse äußern sich
schließlich auch in Form des Urteils, in dem alle in den Prüfungsverfahren dargelegten Argumentationen fixiert und dokumentiert werden. Durch
19
20
21
152
Diese Frage wird bei Kelsen als „Konflikt zwischen Normen verschiedener
Stufen“ behandelt. Vgl. Kelsen (Fn.7), S. 271ff.
Dabei geht es zum Beispiel um die die Freiheitsgrundrechte schützende
Drei-Schritt-Prüfung, die sich in vier Schritten vollziehende Übermaßverbotsprüfung und die Schritte rechtlicher Prüfung von Verwaltungsakten. Vgl.
Pieroth/Schlink, Grundrechte. Staatsrechte II, 17. Aufl., Heidelberg 2001, Rn.
195ff.; Jörn Ipsen, Staaterecht II (Grundrechte), 4. Aufl., Neuwied u.a. 2001, Rn.
105ff.; ders. (Fn.17), Rn. 612ff.
Hierbei handelt es sich besonders um die sich im Anschluss an Friedrich Carl von
Savigny entwickelnden klassischen Auslegungskanons im Sinne von der grammatischen, systematischen, historischen und teleologischen Auslegung. Vgl.
Brugger (Fn.2), S. 62; Peter Raisch, Juristische Methoden. Vom antiken Rom bis
zur Gegenwart, Heidelberg 1995, S. 104f., 138ff.; Ulrich Schroth, Philosophie
und juristische Hermeneutik, in: Arthur Kaufmann/Winfried Hassemer (Hrsg.),
Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 6. Aufl.,
Heidelberg 1994, S. 356f.; Reinhold Zippelius, Einführung in das juristische
Denken, 9. Aufl., München 1971, S. 57; Peter Kohler, Theorie des Rechts. Eine
Einführung, 2. Aufl., Wien u.a. 1997, S. 212ff.
diese sich im Einzelfall konstituierende Dokumentierung der Rechtmäßigkeit bzw. Rechtswidrigkeit der Staatsmacht wird ein lückenlos überwachendes Speichersystem ermöglicht, in dem alles aufgezeichnet wird,
was der Staat tun bzw. nicht tun darf.22
Die Gesamtheit der Staatstätigkeit, die stets die Möglichkeit enthält,
auf das Handeln anderer einzuwirken, reduziert sich jedoch nicht auf eine
Art substanzieller Universalie des Staates. Sie erwächst aus dem Zusammenwirken von Akten und Entscheidungen bestimmter Personen, denen
die Amtsautorität und Vollmacht verliehen wurde, im Namen der staatlichen Allgemeinheit zu handeln. 23 Wenn die gerichtliche Prüfung die
rechtlichen Grenzen für den Einsatz der Staatsmacht aufrechterhält und
die Ergebnisse dessen, was der Staat – oder genauer gesagt, der Amtsverwalter (etwa als Abgeordneter, Kanzler, Minister, Polizist, Richter
oder Gerichtsvollzieher) – rechtlich tun bzw. nicht tun darf, im
kontinuierlich überwachenden Speichersystem registriert, dann wird
zugleich ein Ethos des Amtes eingerichtet, dem zufolge jeder Träger von
Staatsgewalt bei seiner Wahrnehmung staatlicher Aufgaben statt der stets
auf Privatinteressen gerichteten Herrschaft von Menschen ausschließlich
der Herrschaft des Rechts folgen soll, die immer den uneigennützigen
Dienst für die Sache der Allgemeinheit fordert.
Dies, was man nach Josef Isensee schließlich auf „das Ethos des
Gemeinwohls“ und auf die Inschrift des „Obliti privatorum/curate publica“ (Frei übersetzt nach Isensee: „Lasst Eure Privatinteressen draußen
zurück, verdeckt sie mit dem Schleier des Nichtwissens, sorgt ausschließ22
23
In diesen lückenlos überwachenden Speichersystemen spielen die sogenannten
Präjudizien eine entscheidende Rolle, weil die in ihnen festgelegten Argumentationen genau die Art und Weise darstellen, wie ein bestimmter Einsatz der
Staatsmacht rechtswidrig vorgenommen wird. In der Praxis des Fallrechts von
England und den USA wird die Präjudizeinbindung (die sogenannte
Stare-Decisis-Doktrin) traditionell anerkannt, aber in Deutschland kennt das
geltende Recht nur die unmittelbare Bindung des Verfassungsorgans des Bundes
und der Länder an die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Raisch,
aaO, S. 190. Vgl. auch Martin Kriele, Recht und praktische Vernunft, Göttingen
1979, 91ff.; Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, Frankfurt a.M. 1994, S.
504ff.; Georg Seyfarth, Die Änderung der Rechtsprechung durch das
Bundesverfassungsgericht, Berlin 1998, S. 27ff.
Vgl. Josef Isensee, Das Amt als Medium des Gemeinwohls in der freiheitlichen
Demokratie, in: Gunnar Folke Schnuppert/Friedhelm Neidhardt (Hrsg.), Gemeinwohl – Auf der Suche nach Substanz, Berlin 2002, S. 248; Martin Kriele,
Einführung in die Staatslehre, 5 Aufl., Opladen 1994, S. 22f.; Böckenförde,
Recht, Staat und Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt a.M. 1991, S. 219.
153
lich für das öffentliche Wohl!“) zurückführen kann24, gilt als eine andere
disziplinierende Forderung, die im Verfahren der Disziplinierung der
Staatsmacht auf jeden amtlichen Träger von Staatsgewalt bezogen ist und
ihm eine Reihe dienstlicher Pflichten zur Wahrnehmung staatlicher Aufgaben auferlegt.
C. Die Rolle der überprüfenden Verfassungsgerichtsbarkeit im
Doppeldisziplinierungsmechanismus des Verfassungsstaates
I. Die Einrichtung der Verfassungsgerichtsbarkeit und
das hermeneutische Problem der Verfassungsauslegung
Im Vorhergehenden wurde schon wiederholt auf die Eigentümlichkeit eines anderen, in der Praxis des Verfassungsstaates stattfindenden
Disziplinierungsprozesses hingewiesen: die Staatsmacht durch die ebenfalls auf den Disziplinarinstrumenten beruhende optische Disziplinararchitektur zu kontrollieren. Realistisch betrachtet wurden diese optische
Disziplinararchitektur des Verfassungsstaates und das dadurch eingerichtete Überwachungsnetz zur Kontrolle der Staatsmacht aber erst mit Hilfe
der sich in der Praxis des amerikanischen Supreme Court entwickelnden
Verfassungsgerichtsbarkeit zur Geltung gebracht.25 In der optischen Disziplinararchitektur des Verfassungsstaates wird die Verfassungsgerichtsbarkeit als Kontrolleur tätig. Sie verfügt über eine überwachende, normierende und bestrafende Instanz, welche die Letztentscheidungsbefugnis behält, gegen die höchstrangige Rechtsnorm der Verfassung verstoßende Gesetze bzw. Rechtsverordnungen als nichtig zu verwerfen. Sie
ist also die entscheidende Technik zur Disziplinierung der Staatsmacht.
Die Verfassungsgerichtsbarkeit wurde im berühmten Fall Marbury v.
Madison von 1803 eingerichtet.26 Das Urteil dieses Falls wurde vom
24
25
26
154
Isensee, aaO, S. 248f.; vgl. auch ders., Gemeinwohl und Staatsaufgaben im
Verfassungsstaat, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des
Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III, 2. Aufl., Heidelberg 1996,
§57, Rn. 64ff.
In den USA wird die gerichtliche Überprüfung von Akten staatlicher Gewalten
anhand der Verfassung als judicial review bezeichnet. Winfried Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika,
Tübingen 1987, S. 1.
Obwohl die Quellen der Verfassungsgerichtsbarkeit im Heiligen Römischen
Reich Deutscher Nation gesucht werden könnten, gibt es eine Verfassungsgerichtsbarkeit im modernen Sinne seinerzeit noch nicht. Gerd Roellecke, Aufgaben
Chief Justice John Marshall geschrieben, und die einschlägigen Argumente lauten wie folgt: „Certainly all those who have framed written
constitutions contemplate them as forming the fundamental and paramount law of the nation, and consequently the theory of every such government must be, that an act of the legislature repugnant to the constitution is void. This theory is essentially attached to a written constitution,
and is consequently to be considered by this court as one of the fundamental principles of our society. […] It is emphatically the province and
duty of the judicial department to say what the law is. Those who apply
the rule to particular cases, must of necessary expound and interpret that
rule. If two laws conflict with each other, the courts must decide on the
operation of each. So if a law be in opposition to the constitution: if both
the law and the constitution apply to a particular case, so that the court
must either decide that case conformably to the law, disregarding the
constitution; or conformably to the constitution, disregarding the law: the
court must determine which of these conflicting rules governs the case.
This is of the very essence of judicial duty. If then the courts are to regard
the constitution; and the constitution is superior to any ordinary act of the
legislature; the constitution, and not such ordinary act, must govern the
case to which they both apply.“27
In diesen Argumenten wird nicht nur der Vorrang der Verfassung,
sondern auch das Privileg der Gerichte bekräftigt, über die Normenkontrolle zu verfügen, um ein Gesetz als Verfassungswidrigkeit zu verwerfen
und dieses in einem konkreten Fall nicht anzuwenden.28 Dabei ist indessen zu bedenken, dass die Normenkontrolle der Verfassungsgerichtsbarkeit von der Interpretation des Richters abhängig ist, obwohl sie an die
Verfassung als Prüfungsmaßstab gebunden ist. Dies hat schon Justice
27
28
und Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Verfassungsgefüge, in: Josef
Isenss/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik
Deutschland, Bd. II, 2. Aufl., Heidelberg 1998, §53, Rn. 11-13. Vgl. auch
Helmut Simon, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Ernst Benda/ Werner
Maihofer/Hans-Jochen Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts der
Bundesrepublik Deutschland, Teil 2, Berlin 1984, S. 1258; Schlaich (Fn.14), Rn.
105.
Marbury v. Madison, 5 U.S. 137, 177f. (1803). Für die einschlägige Diskussion
dazu siehe Brugger (Fn.25), S. 5-9; auch ders., Einführung in das öffentliche
Recht der USA, München 1993, S. 7-10.
Es gibt unterschiedliche Varianten der Verfassungsgerichtsbarkeit. Für die Einzelheiten hierzu siehe Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Nation, Europa. Studien zur Staatslehre, Verfassungstheorie und Rechtsphilosophie, Frankfurt a.M.
1999, S. 170-176; Schlaich (Fn.14), Rn. 103-114.
155
Charles E. Hughes 1907 in einem kurzen und bündigen Satz unterstrichen:
„We are under a Constitution, but the constitution is what the judges say
it is.“29 Ähnlich äußert sich auch Rudolf Smend im Festvortrag zur Feier
des zehnjährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts am 26. Januar
1962: „Das Grundgesetz gilt nunmehr praktisch so, wie das Bundesverfassungsgericht es auslegt, und die Literatur kommentiert es in diesem
Sinne.“30 Außerdem lehrt uns Hans-Georg Gadamer, wie sehr das Vorverständnis das Verstehen eines Textes beeinflussen kann. Wer einen Text
versteht und interpretiert, bringt immer schon gewisse Sinnerwartungen
in seinen Verstehensprozess mit ein.31 Damit kommt den politischen und
sozialen Vorverständnissen, Weltanschauungen und Überzeugungen der
Richter nicht nur bei der Verfassungsauslegung ein besonderes Gewicht
zu. Angesichts der vagen Unbestimmtheit vieler Verfassungstexte besteht
weiterhin ein in Grenzfällen nicht zu umgehender und schließlich auf unterschiedliche Vorverständnisse der Richter zurückzuführender Pluralismus in Methode und Ergebnis der Verfassungsinterpretation.32 Der beste
Beleg dafür ist die sogenannte abweichende Meinung, die sich im amerikanischen Supreme Court in Form der dissenting opinion oder im Bundesverfassungsgericht in Form des Sondervotums äußert.33
Im Prinzip wird die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes im Rahmen des Kollegialgerichts mit Mehrheit vorgenommen. In der
Theorie scheint dieser insbesondere innerhalb des Kollegialgerichts
durchgeführte Mehrheitsentscheidungsmechanismus eine effektive Vorkehrung gegen die durch einseitige Vorurteile des Richters entstehende
Willkür zu sein, indem er eine Chance anbietet, nicht nur alle relevanten
Meinungen pluralistischer Gesellschaftsinteressen zu berücksichtigen,
sondern auch die subjektiven Sinnerwartungen des Richters durch die
Führung eines rationalen Argumentationsdiskurses zu Bewusstsein zu
führen, zu entfernen und am Ende – ideal gesprochen – eine richtige Entscheidung möglichst einstimmig zu beschließen. Aber leider sieht dies in
29
30
31
32
33
156
Charles E. Hughes, Speech, Elimira, New York, May 3, 1907. Zitiert von Brugger
(Fn.27), S. 7.
Rudolf Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 3. Aufl.,
Berlin 1994, S. 582.
Vgl. Hans-Georg Gadamer, Hermeneutik I, Wahrheit und Methode, Tübingen
1986, S. 270; Emerich Coreth, Grundfragen der Hermeneutik, Freiburg u.a. 1969,
S. 26f.; Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie, 2. Aufl., München 1997, S. 44.
Vgl. v. Arnim (Fn.3), S. 380; Schlaich (Fn.14), Rn. 48.
Vgl. Winfried Brugger, Demokratie, Freiheit, Gleichheit. Studien zum Verfassungsrecht der USA, Berlin 2002, S. 16.
der Realität manchmal oder auch öfter anders aus. Die den Richtern
eigenen politischen und sozialen Vorverständnisse werden nicht nur nicht
beseitigt. Im Gegenteil verwandeln sie sich in Grenzfällen im Verlauf des
Argumentationsdiskurses sogar in zwei (oder sogar mehrere) miteinander
kollidierende Meinungen, die auch zu zwei miteinander unvereinbaren
Ergebnissen führen, welche schließlich nur durch die kopfzählende
Mehrheitsentscheidung gelöst werden können. 34 Dafür liefert der im
Jahre 1995 in der Gesellschaft heftig umstrittene Kruzifix-Beschluss des
Bundesverfassungsgerichts ein gutes Beispiel.35
II. Konflikt zwischen unterschiedlichen Verfassungsverständnissen – das
Beispiel des Streits um den Kruzifix-Beschluss
Im Mittelpunkt des Kruzifix-Beschlusses steht die Frage, ob das
Anbringen eines Kreuzes oder Kruzifixes in den Unterrichtsräumen einer
staatlichen Pflichtschule, die keine Bekenntnisschule ist, gegen die in Art.
4 Abs. 1 GG garantierte Religionsfreiheit verstößt.36 Dabei wird nicht
nur der Konflikt zwischen dem in Art. 7 Abs. 1 GG verankerten staatlichen Erziehungsauftrag und der negativen Religionsfreiheit des Nichtchristen oder Atheisten, sondern auch die Kollision zwischen dieser negativen Religionsfreiheit und der ebenfalls in Art. 4 Abs. 1 GG geschützten positiven Religionsfreiheit der christlichen Schüler und Eltern thema34
35
36
Vgl. dazu Robert Alexy, Theorie der juristischen Argumentation. Die Theorie des
rationalen Diskurses als Theorie der juristischen Begründung, Frankfurt a.M.
1991, S.256f.; ders., Recht, Vernunft, Diskurs. Studien zur Rechtsphilosophie,
Frankfurt a.M. 1995, S. 123f.
Zu beachten ist, dass die amerikanischen Supreme Court-Richter oft von unterschiedlichen Haltungen geprägt sind, die – wie Brugger erwähnt – von „liberal“ bis „konservativ“, von „aktivistisch“ bis „zurückhaltend“ reichen und diverse
Mischformen umfassen. „Die Mehrheitsentscheidungen des Gerichts“, sagt
Brugger, „stellen dementsprechend höchst unterschiedliche „Gestalten“ dar: Das
Spektrum reicht von einstimmigen Grundsatzentscheidungen bis zu knappen
5:4-Entscheidungen […]. Im Extremfall kann eine Entscheidung aus einem kurzen per curiam-Abschnitt des Gerichts und neun verschiedenen Begründungen
bestehen.“ Ders. (Fn.33), S. 127.
BVerfGE 93, 1 (1). Zur einschlägigen Diskussion für und gegen diese Entscheidung siehe etwa Basilius Steithofen (Hrsg.), Das Kruzifixurteil: Deutschland vor
einem neuen Kulturkampf?, Frankfurt a.M. u.a. 1995; Hans Maier (Hrsg.), Das
Kreuz im Widerspruch: Der Kruzifix-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts
in der Kontroverse, Freiburg u.a. 1996; Winfried Brugger/Stefan Huster (Hrsg.),
Der Streit um das Kreuz in der Schule. Zur religiös-weltanschaulichen Neutralität
des Staates, Baden-Baden 1998.
157
tisiert. Während die negative Religionsfreiheit einen jeden in weltanschaulich-religiösen Fragen vor staatlichen Zwängen schützt, darf ein
jeder sich auf die positive Religionsfreiheit berufen, um seine Religion
frei zu bekennen und die entsprechende Religionsausübung vorzunehmen.
Diese nicht einfach zu lösende Frage hat das Bundesverfassungsgericht
schließlich in zwei entgegengesetzte Lager gespalten, die jeweils auf
ihren Standpunkten zum Verstehen einschlägiger Sachverhalte und Verfassungsbestimmungen beharren.
Zunächst ist die Senatsmehrheit folgender Meinung: „Das Kreuz
gehört nach wie vor zu den spezifischen Glaubenssymbolen des Christentums. Es ist geradezu sein Glaubenssymbol schlechthin.“ „Die Ausstattung eines Gebäudes oder eines Raums mit einem Kreuz wird bis
heute als gesteigertes Bekenntnis des Besitzers zum christlichen Glauben
verstanden. Für den Nichtchristen oder den Atheisten wird das Kreuz gerade wegen der Bedeutung, die ihm das Christentum beilegt und die es in
der Geschichte gehabt hat, zum sinnbildlichen Ausdruck bestimmter
Glaubensüberzeugungen und zum Symbol ihrer missionarischen Ausbreitung.“37 Angesichts dieses konfessionellen Verstehens des Kreuzes
und des verfassungsrechtlichen Schutzes der negativen Glaubensfreiheit,
dem zufolge der Staat dem Einzelnen einen Glauben oder eine Religion
weder vorschreiben noch verbieten darf, ist es verboten, das Kreuz in
öffentlichen Volksschulen in jedem Klassenzimmer anzubringen,
jedenfalls wenn Widerspruch vorgebracht wird.
Im Gegensatz dazu vertreten die Minderheitsvotanten die Meinung,
dass das durch das Kreuz zu vermittelnde Christentum nicht unbedingt in
einem konfessionellen Sinne verstanden werden muss und das Kreuz daher durchaus auch Ausdruck einer abendländischen Tradition sein kann.
Mit anderen Worten: „Die Bejahung des Christentums bezieht sich nicht
auf die Glaubensinhalte, sondern auf die Anerkennung des prägenden
kultur- und Bildungsfaktors und ist damit auch gegenüber Nichtchristen
durch die Geschichte des abendländischen Kulturkreises gerechtfertigt.“38
Die Schüler sind daher „nicht zu besonderen Verhaltensweisen oder religiösen Übungen vor dem Kreuz verpflichtet“ und sie werden „auch nicht
in verfassungsrechtlich unzulässiger Weise missionarisch beeinflusst“.39
Im Gegenteil würden die durch das Kreuz zu vermitteln37
38
39
158
BVerfGE 93, 1, (19f.).
BVerfGE 93, 1, (27).
BVerfGE 93, 1, (33).
den überkonfessionellen christlich-abendländischen Werte und ethischen
Normen, die von den Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder gewünscht
werden, den Lehren und Schülern sinnbildlich vor Augen geführt. Unter
Berücksichtigung dieses Symbolverstehens des Kreuzes, der positiven
Religionsfreiheit und des im Grundgesetz zugelassenen staatlichen Erziehungsauftrags, dem zufolge dem Staat die Befugnis zukommt, kulturelle Werte und ethische Normen als Erziehungsziele festzulegen und
möglichst weiterhin zu vermitteln, ist es verfassungsrechtlich vielmehr
zulässig, das Kreuz in öffentlichen Volksschulen in jedem Klassenzimmer
anzubringen.
Wie im Vorhergehenden erwähnt, bringen die Richter ihr eigenes politisches und soziales Vorverständnis in die Auslegung unbestimmter
Verfassungstexte mit ein. Die in Grenzfällen ausgelösten verfassungsrechtlichen Auseinandersetzungen sind deswegen oft auf grundsätzlich
unterschiedliche weltanschauliche Überzeugungen der Richter zurückzuführen. Die im Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts bezüglich des
Kruzifix-Beschlusses vorhandene Divergenz wird auch in der Literatur
sowohl aus liberaler Sicht als auch aus kommunitaristischer Sicht bzw.
aus der Perspektive des sogenannten – wie Winfried Brugger meint –
Neutralitätsliberalismus und liberalen Kommunitarismus thematisiert. 40
Beiden theoretischen Standpunkten liegt ein unterschiedliches Verfas40
Vgl. Erhard Denninger, Der Einzelne und das allgemeine Gesetz, in: Kritische
Justiz 28 (1995), S. 428f.; Winfried Brugger, Zum Verhältnis von Neutralitätsliberalismus und liberalem Kommunitarismus. Dargestellt am Streit über das
Kreuz in der Schule in: Brugger/Stefan (Fn.36), S. 109-153; Stefan Huster, Die
religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates. Das Kreuz in der Schule aus liberaler Sicht, in: Brugger/Stefan (Fn.36), S. 69-108; Otfried Höffe, Wieviel Politik ist dem Verfassungsgericht erlaubt?, in: Der Staat 38 (1999), S. 188. Zu beachten ist, dass der Kommunitarismus nicht unbedingt als „anti-liberal“ betrachtet werden sollte. Schon Philip Selznick hat darauf hingewiesen: „Die heutigen
Kommunitaristen sind nämlich keineswegs anti-liberal, sofern man unter Liberalismus ein starkes Engagement für politische Freiheit und soziale Gerechtigkeit,
für verfassungsmäßige Grundrechte, für Rechtsstaatlichkeit, Staatsbürgerrechte
und die besondere Sorge um die Armen und Unterdrückten versteht. Wenn wir
Kommunitaristen einige spezifische liberale Doktrinen kritisieren, so folgt daraus
jedenfalls nicht, dass wir die Hauptideen und -institutionen des Liberalismus ablehnen oder nicht zu schätzen wüssten.“ Ders., Kommunitaristischer Liberalismus,
in: Der Staat 32 (1995), S. 487. Die theoretische Ausdifferenzierung des konservativen, liberalen und universalistischen Kommunitarismus von Brugger ist daher
als ein weitergehender Versuch im Anschluss an den kommunitaristischen Liberalismus Selznicks zu betrachten. Vgl. Brugger, aaO, S. 117f.; auch ders. (Fn.2),
S. 258ff.
159
sungsverständnis bezüglich der Reichweite der Pflicht des Staates zu religiös-weltanschaulicher Neutralität zugrunde, welches im Kruzifix-Beschluss auch zu den Streitpunkten zwischen der Senatsmehrheit
und der abweichenden Meinung zählt.41
Nach Meinung Bruggers folgt die Senatsmehrheitsauffassung vor
allem dem Neutralitätsliberalismus, dem zufolge die Pflicht des Staates
zur religiös-weltanschaulichen Neutralität strikt einzuhalten ist.42 Angesichts dieser Pflicht des Staates zur religiös-weltanschaulichen Neutralität
und der sich mit bestimmten religiösen Glaubensüberzeugungen tief verbindenden missionarischen Bedeutung, die im Symbol des Kreuzes eingeschlossen ist, darf das Kreuz keinesfalls in einer öffentlichen Anstalt
gebraucht werden. Im Gegensatz dazu gehen die Minderheitsvotanten
vom Standpunkt des liberalen Kommunitarismus aus, dem zufolge die
strikte Neutralität gegenüber den unterschiedlichen Religionen und
Bekenntnissen zwar ebenfalls geboten ist und der Staat dem einzelnen
einen Glauben oder eine Religion weder vorschreiben noch verbieten
darf.43 Trotzdem ist damit nicht gemeint, dass diese strikte Neutralität auf
allen Ebenen unbeschränkt zu beanspruchen ist. „Strikte Neutralität“, wie
Brugger argumentiert, „ist aber nicht unbedingt geboten, soweit der Bereich der eigentlichen Glaubenswahrheit überschritten und alternativ oder
ergänzend allgemein-kulturelle weltliche Traditionen, Symbole, Haltungen oder Handlungen ins Spiel kommen, die für die Legitimität des
Staatsverbandes oder sein Funktionieren bedeutsam sind.“44 Angesichts
seiner überkonfessionellen kulturellen und ethischen Werte wie etwa Solidarität, Toleranz, Mitleid, Nächstenliebe, Ehrfurcht vor dem menschlichen Leben und der menschlichen Würde45, welche für die Prägung der
individuellen Eigenverantwortlichkeit und der Gemeinwesenszugehörigkeit unentbehrlich sind, darf das Kreuz daher verfassungsmäßig in einer
öffentlichen Anstalt gebraucht werden, damit die oben dargelegten säkularen Werte und ethischen Normen den Betroffenen sinnbildlich vor Augen geführt und fortwährend bewahrt werden können.
Angesichts dieser hinter dem Kruzifix-Beschluss stehenden zwei
grundsätzlich unterschiedlichen weltanschaulichen Überzeugungen und
41
42
43
44
45
160
Vgl. BVerfGE 93, 1, (16f., 29).
Bugger (Fn.40), S, 114, 117; Vgl. auch ders (Fn.2), S. 282f., 285, 287-290.
Brugger (Fn.40), S. 117.
Brugger (Fn.2), S. 288f.; vgl. auch ders. (Fn.40), S. 150ff.
Vgl. Brugger (Fn.2), S. 289.
der dadurch entstehenden einander widersprechenden Rechtsfolgen, die
nicht durch einheitliche, überzeugende Vorrang- bzw. Güterabwägungen
zu lösen sind46, wurden die acht Richter des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts schließlich gezwungen, die Entscheidung durch
demokratischen Mehrheitsbeschluss mit knappen 5:3 Stimmen zugunsten
der negativen Religionsfreiheit der Beschwerdeführer zu fällen. Als diese
Entscheidung kundgegeben wurde, erntete das Bundesverfassungsgericht
sofort heftige Kritik. Inzwischen scheint das Bundesverfassungsgericht in
eine Legitimationskrise geraten zu sein, in der das in Jahrzehnten aufgebaute Vertrauen der Allgemeinheit jäh zerstört wurde.47
III. Zurückgehen auf den Doppeldisziplinierungsmechanismus des
Verfassungsstaates
1. Loslösung von der Suche nach legitimen Grenzen der
Verfassungsgerichtsbarkeit
Wie lässt sich eigentlich die Verfassungsgerichtsbarkeit im demokratischen Staat legitimieren?48 Widerspricht die Verfassungsgerichtsbarkeit
nicht dem Prinzip der demokratischen Verantwortlichkeit, wenn die Entscheidungen des direkt vom Volk gewählten Gesetzgebers von einigen
Verfassungsrichtern als verfassungswidrig verworfen werden? Treten
schließlich die hinter dieser gerichtlichen Konkretisierung stehenden
weltanschaulichen und politischen Überzeugungen bei der Auslegung der
offen und abstrakt formulierten Verfassungstexte nicht an die Stelle des
demokratisch legitimierten Gesetzgebers, dem eigentlich die politische
Gestaltungsfreiheit zukommt?49 Diese Fragen, die auf die Legitimation
46
47
48
49
Schon Robert Alexy vertritt die Meinung, dass miteinander kollidierende Prinzipien in konkreten Fällen immer unterschiedliche Gewichte haben. Die Aufgabe
des Richters besteht also darin, unter Bezug auf den Fall bestimmte Bedingungen
zu finden, damit das eine Prinzip mit seinem größeren Gewicht dem anderen
vorgeht. Vgl. ders., Theorie der Grundrechte, Frankfurt a.M. 1994, S. 78ff.
Josef Isensee, Bundesverfassungsgericht – quo vadis?, in: JZ 22 (1996), S. 1086.
Vgl. Böckenförde (Fn.28), S. 161, 176ff.
Vgl. Höffe (Fn.40), S. 172-175; Thomas Würtenberger, Auslegung von Verfassungsrecht – realistisch betrachtet, in: Joachim Bohnert u.a. (Hrsg.), Verfassung –
Philosophie – Kirche. Festschrift für Alexander Hollerbach zum 70. Geburtstag,
Berlin 2001, S. 223; Christian Hillgruber, Die Herrschaft der Mehrheit. Grundlagen und Grenzen des demokratischen Majoritätsprinzips, in: AöR 127 (2002), S.
472f. Diese Frage wird in den USA unter dem Begriff der sogenannten
„counter-majoritarian difficulty“ behandelt. Vgl. Brugger (Fn.25), S. 2f.; ders.
161
und die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit bezogen sind, werden
nicht erst durch den Kruzifix-Beschluss aufgeworfen, aber erreichen
durch diesen eine bisher nicht gekannte Brisanz.50
Angesichts ihrer letztinstanzlichen Interpretationsmacht über die
Verfassung, die sich keinen anderen Staatsgewalten unterordnet, ist die
Verfassungsgerichtsbarkeit letztlich allein durch sich selbst zu kontrollieren. Dementsprechend werden in der Praxis der Verfassungsgerichtsbarkeit eine Reihe von Maßnahmen zur richterlichen Selbstbeschränkung
entwickelt, welche alle auf den Begriff des sogenannten „judicial
self-restraint“ zurückgeführt werden können. 51 Theoretisch betrachtet
geht die heutige Diskussion um die Legitimation und die Grenzen der
Verfassungsgerichtsbarkeit meistens von dem Gedanken der Gewaltenteilung und der dahinter stehenden Idee des Machtgleichgewichts (checks
und balances) aus52 und kann darum am Ende kaum umhin, sich Fragen
wie den folgenden zuzuwenden: „Wieviel Politik ist dem Verfassungsgericht erlaubt (Otfried Höffe)?“53 bzw. “Wieviel Macht soll den Verfassungsgerichten zustehen, im Verhältnis zur Deliberation und Entscheidung der politisch verantwortlichen Organe (Winfried Brugger)?“54 Eigentlich zählt die Denkweise, die in der obigen Diskussion um die Legitimation und die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit bzw. um die
Machtbalance zwischen der Judikative und der Legislative zu Tage tritt,
zu dem, was Foucault als die „Theorie des Rechts“ bezeichnet.55 Nach
Foucault steht die Theorie des Rechts schon seit der Wiederbelebung des
römischen Rechts im Mittelalter in enger Verbindung mit der königlichen
Macht und dem Problem der Souveränität. Demnach werden immer die
Fragen aufgestellt, „inwiefern man die Macht des Souveräns begrenzen
muss, welchen Rechtsregeln er sich beugen muss, gemäß welcher und
50
51
52
53
54
55
162
(Fn.27), S. 12f.; Ulrich R. Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokratie und
Misstrauen. Das Bundesverfassungsgericht in einer Verfassungstheorie zwischen
Populismus und Progressivismus, Berlin 1998, S. 21.
Vgl. Ulrich R. Haltern, Demokratische Verantwortlichkeit und Verfassungsgerichtsbarkeit. Nachbemerkungen zur Diskussion um den Kruzifix-Beschluss, in:
Der Staat 35 (1996), S. 551.
Vgl. Schlaich (Fn.14), Rn. 469; Simon (Fn.26), S. 1278f.; Brugger (Fn.27), S.
16ff.; Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II,
München 1980, S. 958ff.
Vgl. Schlaich, aaO, Rn. 467f.; Simon, aaO, S. 1275f.; Roellecke (Fn.26), Rn. 18.
Höffe (Fn.40), S. 171.
Brugger (Fn.33), S. 12.
VG, S. 34.
innerhalb welcher Grenzen er seine Macht nur ausüben darf, damit die
Macht ihre Legitimität behält“.56 Über die legitimen Grenzen der Macht
zu bestimmen, ist also der Brennpunkt der alten Theorie des Rechts, der
noch der heutigen Diskussion der Verfassungsgerichtsbarkeit zugrunde
liegt.
In der einschlägigen verfassungsrechtlichen Literatur sind die
Legitimation und die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit schon
ausführlich diskutiert worden.57 Mit der vorliegenden Arbeit soll dieser
Diskussion nicht noch eine weitere Position hinzu gefügt werden. Statt
die verfassungsgerichtliche Macht nach ihrer verfassungsrechtlichen
Begründung und ihren legitimen Grenzen zu befragen, geht es hier vielmehr darum, die Verfassungsgerichtsbarkeit unter dem Aspekt des Doppeldisziplinierungsmechanismus des Verfassungsstaates neu zu betrachten.
2. Machtantagonismus zwischen der Disziplinierung des Staatsbürgers
und der Disziplinierung der Staatsmacht
Wie bereits erwähnt, gilt die Verfassungsgerichtsbarkeit wegen ihrer
letztinstanzlichen Verwerfungskompetenz als die entscheidende Technik
zur Disziplinierung der Staatsmacht. Die Disziplinierung der Staatsmacht
darf nicht – wie dies in der einschlägigen öffentlich-rechtlichen Diskussion häufig geschieht – nur als ein Synonym für die Begrenzung und
Kontrolle der Staatsmacht verstanden werden. Vielmehr stellt die Disziplinierung der Staatsmacht eine andere, der Disziplinierung des Staatsbürgers entgegengesetzte, Richtung der Normalisierungsvorgänge dar, die
ebenfalls auf den Disziplinarinstrumenten der Macht beruht und sich
zugleich aus der hierarchischen Überwachung des Rechtsstufenbaus, der
normierenden Sanktion der Nichtigkeit und der gerichtlichen Prüfung
zusammensetzt. Wegen ihrer normierenden Grenzziehung befindet sich
die Disziplinierung der Staatsmacht immer im Spannungsverhältnis zur
Disziplinierung des Staatsbürgers und wird mit dieser ständig konfrontiert.
Parlamente, Gesetzgebungen, Verordnungen und sogar Justizapparate mit
Polizei, Gefängnissen und Gerichten, all dies, was sich nach Foucault auf
den Begriff des Rechts reduzieren lässt und schließlich auf die Diszipli-
56
57
Ebd.; vgl. auch SM, S. 243.
Vgl. oben (Fn.48) bis (Fn.54).
163
nierung und Normalisierung des Staatsbürgers bezogen ist58, wird umgekehrt auch durch die Verfassungsgerichtsbarkeit und den dahinter stehenden überwachenden Mechanismus zur Disziplinierung der Disziplinierung kontrolliert. Die für die Disziplinierung des Staatsbürgers bestimmten rechtlichen Maßnahmen (Gesetze oder Verordnungen) als verfassungswidrig zu verwerfen, damit sie von der vollziehenden Gewalt
und der Rechtsprechung nicht mehr angewandt werden, ist die Kompetenz, die die Disziplinierung der Staatsmacht der Verfassungsgerichtsbarkeit erlaubt.
Statt einfach von der Machtbalance zwischen politischen Kräften –
im Sinne von „le pouvoir arrête le pouvoir“ nach Montesquieu59 –, und
vor allem zwischen dem demokratisch legitimen Parlamentarismus und
der Verfassungsgerichtsbarkeit, sollte man hier besser von einem Machtantagonismus sprechen, in dem die zwei einander gegenüber stehenden
disziplinierenden Kräfte, die Disziplinierung des Staatsbürgers und die
Disziplinierung der Staatsmacht, sich ständig messen und gegenseitig
provozieren. Dieser sich ständig im Doppeldisziplinierungsmechanismus
des Verfassungsstaates befindende Machtantagonismus ist also nicht nur
der Schlüssel zum Kampf gegen die Disziplinarmacht und die durch sie
ausgelöste Disziplinierung des Staatsbürgers. Er ist zugleich die Triebkraft, mit der der Verfassungsstaat lebt und sich unaufhörlich weiter
entwickelt.60
3. Die List der Disziplinarmacht: Förderung der Disziplinierung des
Staatsbürgers durch die Disziplinierung der Staatsmacht
Zwar verfangen sich die Disziplinierung des Staatsbürgers und die
Disziplinierung der Staatsmacht immer in einem Machtantagonismus, der
die einschlägigen disziplinierenden Rechtsmaßnahmen schließlich zu
einem verfassungswidrigen und in der Regel von Anfang an ipso iure
unwirksamen Ende führt. Aber neben diesem antagonistischen Spannungsverhältnis gibt es im Doppeldisziplinierungsmechanismus des Verfassungsstaates noch ein anderes Koordinierungsverhältnis, in dem die
Disziplinierung der Staatsmacht und die Disziplinierung des Staatsbür58
59
60
164
Vgl. MaM, S. 40; VG, S. 35.
Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, Bd. 1, 2. Aufl., Tübingen 1992, S. 213. Vgl.
auch Weber (Fn.3), S. 152ff.
Vgl. Isensee (Fn.47), S. 1086f.
gers sich gegenseitig unterstützen. Wie schon am Anfang dieses Kapitels
erwähnt, wird die Disziplinierung des Staatsbürgers durch die Disziplinierung der Staatsmacht unterstützt, indem bei der Einführung einschlägiger rechtlicher Maßnahmen zur Disziplinierung des Staatsbürgers eine
bestimmte Sicherheit und Berechenbarkeit der Rechtsordnung vorausgesetzt wird, die allein durch die Disziplinierung der Staatsmacht zu gewährleisten ist. Außerdem kann die Disziplinierung des Staatsbürgers bis
zu einem gewissen Grad noch durch die Disziplinierung der Staatsmacht
weiter gefördert werden, wenn die rechtlich disziplinierenden Regelungen
durch die Verfassungsgerichtsbarkeit als verfassungsmäßig anerkannt
werden. In der bisherigen Praxis der Verfassungsgerichtsbarkeit sowohl
in Deutschland als auch in den USA gibt es eine Reihe von Fällen, die
diese Förderung der Disziplinierung des Staatsbürgers durch die Disziplinierung der Staatsmacht versinnbildlichen. Von ihnen werden hier nur
zwei Fälle als Beispiel ausgewählt. Es handelt sich um die sogenannte
Homosexuellen-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 10.
Mai 195761 und der im Jahr 1896 durch den U.S. Supreme Court entschiedene Fall Plessy v. Ferguson62.
In der Homosexuellen-Entscheidung vertrat das Bundesverfassungsgericht die Auffassung, dass die damaligen Strafvorschriften gegen
die männliche Homosexualität (§175 StGB63) nicht gegen das Grundrecht
auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) verstoßen und
darum noch im Bereich der verfassungsmäßigen Ordnung bleiben. Denn
zum einen verstößt die männliche homosexuelle Betätigung nach Auffassung des Gerichts eindeutig gegen das Sittengesetz, dem eigentlich die
auf große Teile des Volks zurückzuführenden sittlichen Anschauungen
der Religionsgemeinschaften zugrunde liegen, und zum anderen kann
auch nicht eindeutig festgestellt werden, dass jedes öffentliche Interesse
61
62
63
BVerfGE, 6, 389. Mit der Frage, ob die Kriminalisierung homosexueller Betätigung verfassungsmäßig ist, hat sich der Supreme Court auch im Fall Bowers v.
Hardwick, 478 U.S. 186 (1986), beschäftigt. Für die einschlägige Diskussion
siehe Brugger (Fn.33), S. 251ff.
Plessy v. Ferguson, 163 U.S. 537 (1896).
Die bis 1969 gültige Vorschrift des §175 StGB lautete: (1) Ein Mann, der mit
einem anderen Mann Unzucht treibt oder sich von ihm zur Unzucht missbrauchen
lässt, wird mit Gefängnis bestraft. (2) Bei einem Beteiligten, der zur Tatzeit noch
nicht 21 Jahre alt war, kann das Gericht in besonderes leichten Fällen von Strafe
absehen. Zit. von Jörg Risse, Der verfassungsrechtliche Schutz der Homosexualität, Baden-Baden 1998, S. 41.
165
an Bestrafung dieser Homosexualität fehlt.64 Im Fall Plessy v. Ferguson
war der Supreme Court der Meinung, dass das Gesetz des Staates Louisiana für die zwangsweise Trennung der Rassen bei Reisen in Eisenbahnen keine unvernünftige Regelung ist und deshalb nicht gegen Amendment 14 (equal protection of law) verstößt, da schon in seinem Gesetzgebungsverfahren die einschlägigen Umstände (etwa „the established
usages“, „customs“, „traditions of the people“, „the promotion of their
comfort“, „the preservation of the public peace and good order“) berücksichtigt wurden.65 Damit wurde die auf die Rassendiskriminierung bezogene „separate but equal doctrine“ festgelegt, die erst im Jahre 1954 im
Fall Brown v. Board of Education revidiert wurde.66
In diesen beiden Fällen lässt sich genau erkennen, dass sowohl das
Bundesverfassungsgericht als auch der Supreme Court wegen ihrer
jeweiligen verfassungskonformen Auslegung zugunsten der einschlägigen staatlichen Rechtsregeln, die anfangs für die Disziplinierung des
Staatsbürgers bestimmt waren, am Ende auch die Politik für die
Ablehnung männlicher Homosexualität und für die Rassendiskriminierung unterstützten. Handelt es sich hierbei nicht um eine Art strategischer List der Disziplinarmacht, sich der Verfassungsgerichtsbarkeit und
des dahinter stehenden ganzen Verfahrens der Disziplinierung der
Staatsmacht zu bedienen, um die Disziplinierung des Staatsbürgers umgekehrt zu unterstützen? Dies mag sein. Denn angesichts der
Alles-oder-Nichts-Problematik des Falles67, in dem die durch die Verfas64
65
66
67
166
Vgl. BVerfGE, 6, 389, (434ff.). 1969 wurde §175 StGB in eine reine Schutzvorschrift für Jugendlich bis 21 Jahre umgestaltet. Seither war die Schutzperspektive
des §175 StGB nicht mehr am „Sittengesetz“ angerichtet. Statt dessen bezweckte
die Vorschrift, entsprechend der Orientierung am Rechtsgüterschutz, die „ungestörte sexuelle Entwicklung“ des jungen Mannes, also den Jugendschutz. 1973
brachte die Herabsetzung des Schutzalters auf 18 Jahre. 1994 wurde die
Strafbarkeit homosexuellen Verhaltens mit der ersatzlosen Streichung des §175
StGB endgültig abgeschafft. Vgl. Risse, aaO, S. 39ff.; Lorenz Böllinger, Die
Strafbarkeit der Homosexualität – eine Überprüfung aus kriminologischer Sicht,
in: Herbert Jäger/Eberhard Schorsch (Hrsg.), Sexualwissenschaft und Strafrecht,
Stuttgart 1987, S. 10.
Plessy v. Ferguson, 163 U.S. 550f.
Brown v. Board of Education, 347 U.S. 483. Die deutsche Literatur zu den Fällen
Plessy v. Ferguson und Brown v. Board of Education siehe Brugger (Fn.25),
S.150ff; ders. (Fn.27), S. 114ff.; Markus Schefer, Konkretisierung von Grundrechten durch den U.S.-Supreme Court. Zur sprachlichen, historischen und
demokratischen Argumentation im Verfassungsrecht, Berlin 1997, S. 52ff.
Man kann den Gedanken der Alles-oder-Nichts-Problematik des Falls aus einer
anderen Perspektive betrachten. Zum Beispiel ist diese Problematik bei Winfried
sungsgerichtsbarkeit überprüfte Staatsmacht und die anschließenden
Rechtsregeln entweder als verfassungsmäßig oder als verfassungswidrig
beurteilt werden, verfängt sich die Disziplinierung der Staatsmacht dementsprechend auch in einem Entweder-Oder-Verhältnis zur Disziplinierung des Staatsbürgers, in dem die Disziplinierung des Staatsbürgers
durch die Disziplinierung der Staatsmacht entweder gefördert oder zurückgewiesen wird. Es gibt also keinen dritten Weg zwischen der Disziplinierung des Staatsbürgers und der Disziplinierung der Staatsmacht.
Wenn diese unerwartete Begünstigung für die Disziplinierung des
Staatsbürgers tatsächlich der List der Disziplinarmacht entstammt,
braucht man das Verdienst des Doppeldisziplinierungsmechanismus des
Verfassungsstaates deswegen nicht unbedingt herabzuwürdigen. Denn bis
zu einem gewissen Grad hat er doch eine mögliche institutionelle Mindestbedingung bewahrt, um die Disziplinarmacht und die anschließende
Disziplinierung des Staatsbürgers zu bekämpfen.
Brugger auf die Abtreibungsfrage bezogen, bei der es um Leben oder Tod geht.
Vgl. ders., (Fn.33), S. 236.
167
Kapitel 6
Gemeinwohlmanagement des Verfassungsstaates
A. Eine Horizonterweiterung des Verfassungsstaates – vom
Doppeldisziplinierungsmechanismus zum Gemeinwohlmanagement
Während des Aufbaus des Doppeldisziplinierungsmechanismus hat
sich der Horizont des Verfassungsstaates allmählich erweitert. Seit
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war der Verfassungsstaat
unerwartet in eine Legitimationskrise geraten. Statt des Wohles und
Glückes, welches er jedem einzelnen mit Hilfe seines laisser-faire-Minimalregierungsprogramms versprochen hatte, war er nun mit
wachsenden sozialen Problemen konfrontiert, die eine aktive soziale Politik dringend erforderlich machten. Seither beschränkt sich die Aufgabe
des Verfassungsstaates nicht mehr negativ auf die Überwachung der
Staatsmacht. Zusätzlich muss er eine Reihe positiver Regulierungs-, Ausgleichs-, und Verteilungsmechanismen etablieren, die unterschiedlichen
Bedürfnisse und Interessen Rechnung tragen, damit soziale Spannungen
und Ungleichheit relativiert werden.1 Schon Georg Jellinek und Philippe
Nonet und Philip Selznick haben aufgezeigt, wie diese Horizonterweiterung des Verfassungsstaates sowohl unter dem Aspekt der subjektiven
Rechte des einzelnen gegenüber dem Staat (vom status negativus zum
status positivus)2 als auch unter dem Aspekt des objektiven „developmental model of law“ (vom „autonomous law” zum „responsive law“)3
1
2
3
Ernst-Wolfgang Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt a.M. 1991, S. 233; Otfried Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München 1999, S. 163;
Karl H. Metz, Solidarität und Geschichte. Institution und sozialer Begriff der Solidarität in Westeuropa im 19. Jahrhundert, in: Kurt Bayertz (Hrsg.), Solidarität.
Begriff und Problem, Frankfurt a.M. 1998, S. 186ff.
Georg Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, Darmstadt 1963, S.
94ff.; ders., Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., Darmstadt 1960, S. 418ff.
In diesem „developmental model of law“ gibt es außerdem noch den dritten
Rechtstyp, das „repressive law“. Mit dem „developmental model of law“ möchten Nonet/Selznick darauf hinweisen, dass es in der Tat unterschiedliche Etappen
der Rechtsevolution gibt. Jeder Rechtstyp entspricht genau einem ihm eigenen
politisch-sozialen Bedürfnis: Das „repressive law“ gilt als „the servant of repressive power“, das „autonomous law“ als „a differentiated institution capable of
taming repression and protecting its own integrity“ und das „responsive law“ als
„a facilitator of response to social needs and aspirations“. Nonet/Selznick, Law
169
betrachtet werden kann. Aus der Machtanalytik Foucaults lässt sich überdies ersehen, dass es außerdem noch einen anderen, umfassenderen Faktor gibt, der diese Horizonterweiterung des Verfassungsstaates erklären
kann. Es handelt sich um die Machtpraxis der Gouvernementalität. Nicht
nur die später entstandene Forderung positiver Staatsleistungen, die der
Solidarität und Daseinsvorsorge dienen, sondern auch das ganze Rechtssystem des Verfassungsstaates, der ursprünglich um der Überwachung der
Staatsmacht willen eingerichtet wurde, fällt unter das, was Foucault als
Sicherheitsdispositive bezeichnet. 4 Berücksichtigt werden dabei gleichermaßen spezifische Zielsetzungen wie auch eine Reihe strategischer
Institutionen, Verfahren, Analysen und Reflexionen, Berechnungen und
Taktiken zur Erreichung dieser Zielsetzungen. All diese in die Konzeption der Gouvernementalität und der Sicherheitsdispositive eingeschlossenen Elemente sind mit einem anderen, gängigeren Neologismus besser zu
begreifen. Es handelt sich um das, was ich das Gemeinwohlmanagement
nennen möchte.
B. Zum Begriff des Gemeinwohlmanagements
I. Warum Gemeinwohlmanagement?
Dank seiner hohen Abstraktheit wurde und wird das Gemeinwohl
häufig als das höchste Ziel aller politisch-staatlichen Ordnung betrachtet.5
Alles, was im Rahmen der Gouvernementalisierung des Staates zu möglichen Zwecksetzungen des Regierens und entsprechenden Sicherheitsdispositiven zählt, kann man in den Begriff des Gemeinwohls einbezie-
4
5
170
and Society in Transition. Toward Responsive Law, New York u.a. 1978, S. 14ff.,
18. Im Vergleich zu den drei Foucaultschen Machttypen kann man zwar das „repressive law” von der Souveränität her und das „responsive law” von der Gouvernementalität her analysieren. Aber es fehlt im „developmental Model of
law“ ein Rechtstyp, der mit der Disziplinarmacht zu vergleichen ist. Das „autonomous law” und seine wichtigste Funktion vom „taming repression“ können
aber nur vom Doppeldisziplinierungsmechanismus her in geeigneter Weise verstanden werden.
Vgl. Gouv. S. 42.
Vgl. Josef Isensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat, in:
ders./Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch der Staatslehre der Bundesrepublik, Bd.
III, 2 Aufl., Heidelberg 1996, §57, Rn. 2; Winfried Brugger, Gemeinwohl als Ziel
von Staat und Recht, in: Dietrich Murswiek u.a. (Hrsg.), Staat – Souveränität –
Verfassung. Festschrift für Helmut Quaritsch zum 70. Geburtstag, Berlin 2000, S.
45.
hen. Denn das Gemeinwohl, welches die Idee vom guten Zustand des
Gemeinwesens und vom Gedeihen aller seiner Glieder verkörpern sollte6,
bildet genau den Inbegriff dessen, was das Heil in dieser Welt braucht.
Wie wird das Gemeinwesen regiert, durch wen, bis zu welchem Punkt
und durch welche Methoden? Dies gehört nicht nur zur alten Problematik
des Regierens, die sich nach Foucault ab dem 16. Jahrhundert in der
abendländischen Gesellschaft ausbreitete7, sondern auch zu einer neuen
Problematik des Managements, die heutzutage ebenso wie das Thema des
Gemeinwohls eine Hochkonjunktur erlebt.8
Der Terminus Management, welcher ursprünglich dem Bereich der
Wirtschaft entstammt, habe sich heute – wie Otto Nigsch meint – schon
in spektakulärer Weise ausgebreitet und sich in steigendem Maß zum
gemeinsamen Nenner unvermeidlicher Reorganisationsprozesse entwickelt. 9 Nicht nur Unternehmen und Fabriken müssen besser „gemanagt“ werden, sondern auch Schulen, Krankenhäuser, Gefängnisse, die
Armee, Behörden, ebenso wie Karrieren, Beziehungsprobleme und der
Familienalltag.10 Aufgrund seiner engen Verbindung mit einer Reihe positiv besetzter Assoziationen wie Transparenz, Klarheit, Unkompliziertheit, Sachlichkeit, Kompetenz und Effizienz präsentiert sich das Management letztlich als eine Art umfassender, langfristiger, strategieorientierter und kalkulierender Rationalität11, die genau die Künste des Regie6
7
8
9
10
11
Isensee, ebd.
Gouv. S. 41f.
Trotz seines Missbrauchs in der nationalsozialistischen Zeit (siehe hierzu Michael Stolleis, Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht, Berlin 1974, S.
76ff.) wird der Gemeinwohldiskurs in den jüngsten sozialphilosophischen und
politiktheoretischen Debatten rehabilitiert. Zur heutigen Hochkonjunktur der
Gemeinwohlsdiskussion siehe etwa Herfried Münkler/Harald Bluhm/Karsten
Fischer (Hrsg.), Forschungsberichte der interdisziplinären Arbeitsgruppe „Gemeinwohl und Gemeinsinn“ der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaft. I-IV. Berlin 2001/2002; Gunnar Folke Schuppert/Friedheim Neidhardt
(Hrsg.), Gemeinwohl – Auf der Suche nach Substanz, Berlin 2002; Winfried
Brugger/Stefan Kirste/Michael Anderheiden (Hrsg.), Gemeinwohl in Deutschland, Europa und der Welt, Baden-Baden 2002.
Otto Nigsch, Management – ein Weg zur gesellschaftlichen Generalsanierung?,
in: Soziale Welt, 48. Jg., 1997, S. 417f.
Nigsch, aaO, S. 418; Ulrich Bröckling, Totale Mobilmachung. Menschenführung
im Qualitäts- und Selbstmanagement, in: ders./Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hrsg.), Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des
Sozialen, Frankfurt a.M., 2000., S. 131.
Nigsch, ebd.; vgl. auch Christoph Deutschmann, Reflexive Verwissenschaftlichung und kultureller „Imperialismus“ des Managements, in: Soziale Welt, 40.
171
rens benötigen. Schon Ulrich Bröckling hat gezeigt, wie die Gouvernementalität der Gegenwart auch von der „Grammatik“ des Managements
her erneut analysiert werden kann.12
II. Vom Gemeinwohl- zum Krisenmanagement
Die wichtigste Funktion des Managements ist die Thematisierung
und Reduzierung der Komplexität. Dies wird besonders beim Management des Gemeinwohls hervorgehoben, da schon der Begriff Gemeinwohl eine Art verwickelte Kompliziertheit darstellt und es in freiheitlichen Demokratien keine ein- für allemal feststehende Gemeinwohldefinition mehr geben kann.13 Trotz dieser Komplexitätsthematisierung und
-reduzierung sind das Management und die dahinter stehende programmierende Rationalität dem szientistischen Reduktionismus nicht gleichzusetzen. Dem szientistischen Reduktionismus liegt eine Art mathematisch-physikalisch linearer Denkweise zugrunde, der zufolge komplexe
Probleme in der Weise zu lösen seien, dass sie als ein Zusammenspiel
einfacher Gesetze angesehen werden. Undurchschaute lebensweltliche
Komplexitäten seien demnach lösbar, wenn man nur lange genug Einzelursachen verfolgt.14
Im Gegensatz dazu präsentieren sich die komplexen Systeme
menschlicher Lebenswelten oft als dynamische Prozesse, die sich wegen
kleiner Abweichungen in den Ausgangsbedingungen in eine nicht
vorhergesehene Richtung entwickeln. Die Redewendung „Kleine Ursache,
große Wirkung“ erweist sich als zutreffende Beschreibung der Undeterminiertheit und Instabilität komplexer Systeme.15 Genau deswegen sollte
12
13
14
15
172
Jg., 1989, S. 374.
Bröckling (Fn.10), S. 135.
Herfried Münkler/Karsten Fischer, Einleitung: Gemeinwohl-Konkretisierung und
Gemeinsinn-Erwartungen im Recht, in: Münkler/Fischer (Hrsg.), Forschungsberichte der interdisziplinären Arbeitsgruppe „Gemeinwohl und Gemeinsinn“ der
Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaft. Bd. III. Gemeinwohl und
Gemeinsinn im Recht. Konkretisierung und Realisierung öffentlicher Interessen,
Berlin 2002, S. 9; vgl. auch Winfried Brugger/Stefan Kirste/Michael Anderheiden, Einleitung, in: Brugger/Kirste/Anderheiden (Fn.8), S. 9f.; Christoph Engel,
Offene Gemeinwohldefinition, in: Rechtstheorie 32 (2001), S. 23ff.
Gerhard Struck, Gesetz und Chaos in Naturwissenschaft und Rechtswissenschaft,
in: JuS 1993, S. 933; vgl. auch Sibylle Tönnies, Komplexität und Chaos, in:
Rechtstheorie 23 (1992), S. 533ff.
Vgl. Struck, aaO, S. 996; Michel Paroussis, Chaosforschung und Recht, in: Joachim Bohnert u.a. (Hrsg.), Verfassung – Philosophie – Kirche. Festschrift für
das Management der „Emergenz von Nicht-Linearität“16, das heißt dem
Chaos, das Zufälligkeit und Unvorhersehbarkeit erlaubt, Raum geben.
Das Management hat stets mit Ambivalenz und Widersprüchlichkeit, Erschütterungen und Krisen zu rechnen und diese, wenn es nötig ist, strategisch und produktiv wieder in sich zu investieren.17 Dadurch lässt sich
das ganze Gemeinwohlmanagement schließlich auch als eine Art von
„Krisenmanagement“18 betrachten, vermöge dessen jede Krise und Erschütterung umgekehrt als konstruktiver Faktor zum Revidieren bzw. zur
Weiterentwicklung des vorhandenen Programms angesehen werden kann.
Angesichts seiner immer vielfältiger und zunehmender gewordenen
„responsiveness“, nämlich der „Bereitschaft und Fähigkeit, auf Bedürfnisse und Interessen rascher und stärker zu antworten“19, hat sich das gesamte Gemeinwohlmanagement zu einem umfassenden Netz der Macht
zum Leben entwickelt, wobei die thematische Spannweite vom Lebens-,
Eigentums- und Freiheitsschutz über die Daseinsvorsorge und Umverteilung bis zu heute neu erscheinenden Themen wie Umweltschutz, Embryonenforschung, Terrorismusbekämpfung, Europäischer Integration und
Globalisierung reicht.20 Selbst auf die im Prinzip autonomen Bereiche
von Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst und Religion nimmt das Gemeinwohlmanagement einen erheblichen Einfluss. Dieser manifestiert sich
entweder direkt in finanziellen Zuwendungen, Subventionen, Arbeitsplatzbeschaffungsmaßnahmen oder indirekt in der Gestaltung notwendiger Rahmenbedingungen.21 Die heutige Krise des Sozial- bzw. Wohlfahrtstaates, über die schon seit der zweiten Hälfte der 70er Jahre des
16
17
18
19
20
21
Alexander Hollerbach zum 70. Geburtstag, Berlin 2000, S. 568f.
Paroussis, aaO, S. 569.
Vgl. Thomas Lemke, Neoliberalismus, Staat und Selbsttechnologien. Ein kritischer Überblick über die governmentality studies, in: Politische Vierteljahresschrift, 41 Jg., 2000, S. 42f.; Alan Hunt/Gary Wickham, Foucault and Law. Towards a Sociology of Law as Governance, London 1994, S. 80ff., 104ff.; Pat
O’Malley, Indigenous Governance, in: Economy and Society, vol. 25, 1996, S.
310ff.
Vgl. Höffe (Fn.1), S. 157; Wolfgang Reinhard, Das Wachstum der Staatsgewalt,
in: Der Staat 31 (1992), S. 71.
Höffe, aaO, S. 163.
Für die einschlägige Diskussion zu den dargelegten neuen Gemeinwohlthemen
siehe Winand Gellner/Gerd Strohmeier (Hrsg.), Freiheit und Gemeinwohl. Politikfelder und Politikvermittlung zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Baden-Baden
2002.
Höffe (Fn.1), S. 159f., 162f.; vgl. auch Görg Haverkate, Verfassungslehre. Verfassung als Gegenseitigkeitsordnung, München 1992, S. 212ff.
173
letzten Jahrhunderts immer wieder gesprochen worden ist, zeigt sich nicht
nur in der Finanzkrise der öffentlichen Haushalte im allgemeinen und der
Sozialversicherungshaushalte im besonderen22, sondern auch in der Gefahr des Selbständigkeitsverlustes: Zum einem ist die Lebensführung des
einzelnen immer mehr von der weitläufigen sozialen Daseinsvorsorge
abhängig, und zum anderen wird ihm zugleich eine neue gesellschaftliche
Disziplinierung und Normalisierung auferlegt, die diesmal im Namen der
Solidarität und der sozialen Sicherheit vorgenommen wird.23
Wie sollten diese Krisen besser „gemanagt“ werden? Und wohin
sollte das ganze Gemeinwohlmanagement weiter gehen? Dafür gibt es bis
heute schon eine Vielzahl neuartiger Vorstellungen und Strategien aus
dem Neoliberalismus24 bzw. der New-Public-Management-Bewegung25.
Sie verlangen mehr Deregulierung, Dezentralisierung, Dekonzentrierung,
Entbürokratisierung, Privatisierung und Subsidiarität.26 All diese neuartigen Strategien kehren nicht zu den laisser-faire-Utopien des klassischen
wirtschaftlichen Liberalismus zurück. Sie richten sich vielmehr, wie Nikolas Rose meint, nach dem „governing at a distance“, das heißt: „to gov22
23
24
25
26
174
Vgl. Georg Vobruba, Politik mit dem Wohlfahrtstaat, Frankfurt a.M. 1983, 1ff.;
Hans Herbert v. Armin, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, München
1984, S. 165, 170; Rupert Scholz, Sozialstaat und Globalisierung, in: Hans Joachim Cremer u.a. (Hrsg.), Tradition und Weltoffenheit des Rechts. Festschrift für
Helmut Steiberger, Berlin u.a. 2002, S. 619.
Vgl. WA, S. 51; Nikolas Rose, Governing “Advanced” Liberal Democracies, in:
Andrew Barry/Thomas Osborne/Nikolas Rose (Hrsg.), Foucault and Political
Reason. Liberalism, Neo-Liberalism and Rationalities of Government, Chicago u.
a. 1996, S. 48ff.
Rose, aaO, S. 53ff.; Lemke (Fn.17), S. 37ff.; Mitchell Dean, Governmentality.
Power and Rule in Modern Society, London u.a. 1999, S. 149ff.
Das Ziel des New-Public-Management liegt in der Steigerung der Transparenz
und Effizienz im öffentlichen Sektor. Dies führt zur Neubewertung der
Staatsaufgaben und Neuorganisation der Aufgabenerledigung, welche insbesondere unter dem Aspekt der Einführung einer marktgesteuerten, kundenorientierten öffentlichen Dienstleistungsproduktion diskutiert wird. Jörg Bogumil, Modernisierung des Staates durch Public Management. Stand der aktuellen Diskussion, in: Edgar Grande/Rainer Prätorius (Hrsg.), Modernisierung des Staates,
Baden-Baden 1997, S. 21ff.; vgl. auch Frieder Naschhold/Jörg Bogumil, Modernisierung des Staates. New Public Management in deutscher und internationaler
Perspektive, 2. Aufl., Opladen 2000; Eckhard Schröter/Hellmut Wollmann, New
Public Management, in: Bernhard Blanke u.a. (Hrsg.), Handbuch zur Verwaltungsreform, 2. Aufl., Opladen 2001, S. 71ff.
Der sogenannte „Thatcherismus“ bzw. die „Reaganomics“ sind exemplarisch für
diese Strategien. Vgl. Rolf Stober, Dimensionen der Deregulierung: interdisziplinär betrachtet, in: ders. (Hrsg.), Deregulierung im Wirtschafts- und Umweltrecht, Köln u.a. 1990, S. 1; Dean (Fn.24), S. 151.
govern through the regulated and accountable choices of autonomous
agents – citizens, consumers, parents, employees, managers, investors –
and to govern through intensifying and acting upon their allegiance to
particular »communities«”.27 Demnach sollten die Bürger nicht mehr nur
passive Adressaten von staatlichen Dienstleistungen sein. Sie müssten im
Gegenteil lernen, „Unternehmer ihrer selbst“ zu sein, um ihr Leben wieder eigenverantwortlich zu führen.28
Das heute im Verwaltungsrecht eingeführte Modell informellen, kooperativen oder konsensualen Verwaltungshandelns liefert ein schönes
Beispiel dafür. Schon in seinem im Jahr 1979 veröffentlichten Artikel
Der kooperative Staat. Bemerkungen zum Verhältnis von Staat und Wirtschaft hat Ernst-Hasso Ritter darauf hingewiesen: „Die Entscheidungsfindung zur Lösung der gemeinsamen Probleme und die Verhaltensabstimmung zwischen Staat und Wirtschaft können durch einseitiges Vorgehen und durch den Einsatz hoheitlicher Machtmittel nicht mehr bewältigt werden.“ „Der planende Staat hat mit der Komplexität der Umwelt
nicht nur zu rechnen, er muss ihr seinerseits komplexe und differenzierte
Strategien entgegensetzen.“ „Das Prinzip der Einseitigkeit“ muss „durch
sein Gegenteil“ ersetzt werden, also: „durch das Prinzip der Zweiseitigkeit oder der Zusammenarbeit“. 29 Dabei werden administrative Entscheidungen nicht mehr einseitig-hoheitlich durch eine Behörde gefällt.
Durch kommunikative Beteiligung des Gesetzesadressaten an der Gesetzesauslegung und Gesetzesanwendung werden sowohl die Akzeptanz und
Legitimation staatlicher Entscheidungen als auch die Verfahrensökonomie und Steuerungsfähigkeit der Verwaltung erheblich erhöht. 30 Am
wichtigsten ist jedoch, dass die Bürger in diesem kooperativen Kommu27
28
29
30
Rose (Fn.23), S. 56, 61; vgl. ders., The Death of the Social? Re-figuring the Territory of Government, in: Economy and Society, vol. 25, 1996, S. 327ff.; Peter
Miller/Nikolas Rose, Das ökonomische Leben regieren, in: Jacques Donzelot u.a.
(Hrsg.), Zur Genealogie der Regulation. Anschlüsse an Michel Foucault, Mainz
1994, S. 79ff.
Lemke (Fn.17), S. 38ff.; vgl auch Brugger, Liberalismus, Kommunitarismus,
Pluralismus. Studien zur Legitimation des Grundgesetzes, Baden-Baden 1999, S.
79ff., 132ff., 173ff., 377ff.
Ernst-Hasso Ritter, Der kooperative Staat. Bemerkungen zum Verhältnis von
Staat und Wirtschaft, in: AöR 104 (1979), S. 391. Vgl. Erhard Treutner, Kooperativer Rechtsstaat. Das Beispiel Spezialverwaltung, Baden-Baden 1998, S. 48ff.
Vgl. Helmuth Schulze-Fielitz, Kooperatives Recht im Spannungsfeld von Rechtsstaatsprinzip und Verfahrensökonomie, in: Deutsches Verwaltungsblatt, 109 Jg.,
1994, S. 657ff.; Hans-Uwe Erichsen, Das Verwaltungshandeln, in: ders. (Hrsg.),
Allgemeines Verwaltungsrecht, Berlin 1998, §32, S. 457ff.
175
nikationsverfahren die Chance bekommen, an den öffentlichen, aber
zugleich auch privat betroffenen Angelegenheiten zu partizipieren. Dies,
was man als das kooperative Recht bezeichnet, hat eine andere Tür für
den Unternehmer des Selbst im weiteren Sinne geöffnet.
C. Parlamentarisches Gemeinwohlmanagement im Rahmen des
Doppeldisziplinierungsmechanismus des Verfassungsstaates
Eigentlich sind diese neuartigen Strategien aus dem Neoliberalismus,
der New-Public-Management-Bewegung bzw. dem kooperativen Recht
nichts anderes als einige der möglichen Konzepte, die im Rahmen des
Gemeinwohlmanagements eingesetzt werden können. Ob sie im Vergleich zu anderen effektiver und praktikabler sind, um die vorhandenen
Krisen zu berwältigen, dafür gibt es keine einheitliche Antwort. Selbst
wenn wir schließlich gezwungen sind, über das „Wozu“ und das
„Wie“ des Gemeinwohlmanagements durch die öffentliche Debatte und
den demokratischen Parlamentarismus zu entscheiden, bedeutet dies nicht,
dass demokratische Mehrheiten immer recht bzw. unterlegene Minderheiten immer unrecht hätten. Der demokratische Parlamentarismus ist nur
eines der möglichen Entscheidungsverfahren. Dank der populären Partizipation und öffentlichen Kommunikation sind wir bereit und auch diszipliniert genug, an die Legitimation des demokratischen Parlamentarismus zu glauben und diesen als faire und angemessene „Prozedur[…] der
Gemeinwohlkonkretisierung“ zu betrachten.31
Vermittels des demokratischen Entscheidungsverfahrens kann eigentlich weder eine richtige noch eine gerechte Entscheidung gewährleistet werden. Die Konkretisierung des Gemeinwohlmanagements durch
demokratische Prozeduren kann am Ende auch zu unrichtigen oder ungerechten Ergebnissen führen. Es bedarf deshalb gleichzeitig einer institutionellen Mindestbedingung, die das parlamentarische Gemeinwohlmanagement überwacht und kontrolliert. Damit sind wir wieder zum
Doppeldisziplinierungsmechanismus des Verfassungsstaates zurückgekehrt. Erst durch den Doppeldisziplinierungsmechanismus werden die
Einzelheiten des parlamentarischen Gemeinwohlmanagements hierarchisch und stufenweise nachgeprüft, solange sie im Rahmen des Staates
stattfinden und sich in irgendeiner Form auf die zentralisierend-souveräne,
individualisierend-disziplinäre oder regulierend-gouvernementale Macht
31
176
Vgl. Brugger (Fn.5), S. 59ff.
berufen.
Aber wie schon erwähnt kann der ganze Doppeldisziplinierungsmechanismus des Verfassungsstaates gewissermaßen doch eine Art strategischer List der Disziplinarmacht sein. Demnach werden vorhandene Maßnahmen zur Disziplinierung des Staatsbürgers im Gegenteil durch den
Doppeldisziplinierungsmechanismus aufrechterhalten. Diese strategische
List der Disziplinarmacht herrscht bis zu einem gewissen Grade auch im
Verhältnis zwischen dem parlamentarischen Gemeinwohlmanagement
und dem Doppeldisziplinierungsmechanismus, wobei ein Teil des auf sozialen Wandel reagierenden Gemeinwohlmanagements durch die Verfassungsgerichtsbarkeit als verfassungswidrig verworfen wird und bestimmte, um der Disziplinierung des Staatsbürgers willen eingeführte Institutionen unberührt weiter bestehen bleiben. Exemplarisch dafür ist die
Entwicklung einschlägiger Entscheidungen des U.S. Supreme Court,
welche seit dem Ende des 19. Jahrhunderts um das Problem kreisen, ob
die sozialen Regelungen, die die ungleiche Verhandlungsmacht der
Vertragspartner durch die Einschränkung der Vertragsfreiheit ausgleichen,
um angemessene Arbeitsbedingungen für Arbeiter zu schaffen, für
verfassungsmäßig oder verfassungswidrig gehalten werden sollten.32
Im Fall Lochner v. New York (1905)33 erklärte der Supreme Court
das Gesetz des Staates New York zum Zweck der Einschränkung der Arbeitszeit von Angestellten in Bäckereien auf höchstens 10 Stunden pro
Tag und 60 Stunden pro Woche für verfassungswidrig, da es gegen die in
der due-process-Klausel des 14. Amendment geschützte Vertragsfreiheit
verstößt. Zum einem fiel die Regelung mit der arbeits- und sozialrechtlichen Motivation nach der Auffassung des Gerichts nicht unter die „police
power“. Denn „[t]here is no contention that bakers as a class are not equal
in intelligence and capacity to men in other trades or manual occupations,
or that they are not able to assert their rights and care for themselves
without the protecting arm of the state, interfering with their independence of judgment and of action. They are in no sense wards of the
32
33
Winfried Brugger, Einführung in das öffentliche Recht der USA, München 1993,
S. 96f.
Lochner v. People of State of New York, 198 U.S. 45 (1905). Für die einschlägige Diskussion zu diesem Fall siehe Brugger, aaO, S. 97f.; ders., Grundrechte und
Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika, Tübingen
1987, S. 54ff.; Markus Schefer, Konkretisierung von Grundrechten durch den
U.S.-Supreme Court. Zur sprachlichen, historischen und demokratischen Argumentation im Verfassungsrecht, Berlin 1997, S. 74f.
177
state.“34 Zum anderen bestand diese Regelung auch nicht die Prüfung
anhand der strikten Mittel-Zweck-Analyse, selbst wenn der Staat New
York sie unter dem Gesichtspunkt der öffentlichen Gesundheit erlassen
hatte und diese im Prinzip unter die Zuständigkeit der „police power“ fiel.
Die Begründung des Gerichts lautete wie folgt: „The act must have a
more direct relation, as a means to an end, and the end itself must be appropriate and legitimate […].”35 „Clean and wholesome bread does not
depend upon whether the baker works but ten hours per day or only sixty
hours a week. The limitation of the hours of labor does not come within
the police power on that ground.“36 In den folgenden drei Jahrzehnten
erklärte der U.S. Supreme Court ungefähr 200 legislative Wirtschaftsregulierungsregelungen für verfassungswidrig.37
Erst im Fall West Coast Hotel Co. v. Parrish (1937)38 hat sich der
Supreme Court letztendlich durch die „responsive interpretation“39 von
seinen Präjudizien befreit. In der Entscheidung dieses Falls sagt Chief
Justice Hughes: „The Constitution does not speak of freedom of contract.
It speaks of liberty and prohibits the deprivation of liberty without due
process of law. In prohibiting that deprivation, the Constitution does not
recognize an absolute and uncontrollable liberty. Liberty in each of its
phases has its history and connotation. But the liberty safeguarded is liberty in a social organization which requires the protection of law against
the evils which menace the health, safety, morals, and welfare of the people. Liberty, under the Constitution is thus necessarily subject to the restraints of due process, and regulation which is reasonable in relation to
its subject and is adopted in the interests of the community is due process.“40 „In dealing with the relation of employer and employed, the Legislature has necessarily a wide field of discretion in order that there may
be suitable protection of health and safety, and that peace and good order
may be promoted through regulations designed to insure wholesome con34
35
36
37
38
39
40
178
Lochner v. People of State of New York, 198 U.S. 45, 57 (1905).
Ebd.
Ebd.
Brugger (Fn.32), S. 98.
West Coast Hotel Co. v. Parrish, 300 U.S. 379 (1937). Siehe hierzu Brugger, aaO,
S. 99; Schefer (Fn.33), S. 76, 287f.
Der Begriff „responsive interpretation“ wird von Robert Post im Anschluss an das
Rechtsmodell des „responsive law“ von Philippe Nonet und Philip Selznick präsentiert. Dazu siehe Post, Theories of Constitutional Interpretation, in: ders.
(Hrsg.), Law and the Order of Culture, Berkeley u.a. 1991, S. 23ff.
West Coast Hotel Co. v. Parrish, 300 U.S. 379, 391 (1937).
ditions of work and freedom from oppression.“41
Eigentlich geht es in dieser sogenannten Lochner-Ära nicht nur um
das Spannungsverhältnis zwischen der Judikative und der Legislative,
sondern auch weitergehend um einen anderen Machtantagonismus zwischen dem Doppeldisziplinierungsmechanismus und dem parlamentarischen Gemeinwohlmanagement. In diesem lange andauernden Machtantagonismus wurden zwar eine große Menge von sozialen und wirtschaftregulierenden Gesetzgebungen, die zur Relativierung der sozialen Spannungen beitragen könnten, immer wieder durch den Supreme Court
zurückgewiesen, und die Arbeiter mussten nach wie vor unter dem Ethos
der Vertragsfreiheit die schlechten Arbeitsbedingungen ertragen. Aber
muss man deswegen diesen Machtantagonismus als die fatale Schwäche
des Doppeldisziplinierungsmechanismus des Verfassungsstaates betrachten?
Trotz ihres hartnäckigen Widerstands gegen das parlamentarische
Gemeinwohlmanagement haben die Verfassungsgerichtsbarkeit und der
dahinter stehende Doppeldisziplinierungsmechanismus die Meinungsfreiheit, die Kanäle öffentlicher Kommunikation und die initiativ-programmierende Befugnis des Parlaments zur Gemeinwohldefinition
nicht ausgeschaltet. Nachdem die Weltwirtschaftskrise in den 30er Jahren
ausgebrochen war, wurde in der Öffentlichkeit immer stärkere Kritik am
Supreme Court laut. Es zeigt sich, dass der Supreme Court letztendlich im
Fall West Coast Hotel Co. v. Parrish seinen Jahrzehnte andauernden Widerstand gegen legislative Sozial- und Wirtschaftsregulierungen aufgab
und Präsident Franklin D. Roosevelt sich mit seiner New Deal-Politik
durchsetzen konnte.42
Alles zusammen genommen ist das Rechtssystem des Verfassungsstaates wegen der sozial- bzw. wohlfahrtsstaatlichen Krise und der dadurch ausgelösten Gefahr des Selbständigkeitsverlusts nicht unbedingt in
eine Sackgasse geraten. Im Gegenteil gestattet es das parlamentarische
Gemeinwohlmanagement im Rahmen des Doppeldisziplinierungsmechanismus des Verfassungsstaates, eine Reihe neuartiger Strategien zu entwickeln, um diese Krise und Gefahr zu bewältigen. Es gibt zwar überdies
noch den Machtantagonismus zwischen dem parlamentarischen Gemeinwohlmanagement und dem Doppeldisziplinierungsmechanismus,
wobei „gute“ und „gerechte“ legislative Regulierungspolitik durch die
41
42
AaO, S. 393.
Vgl. Brugger (Fn.32), S. 43, 98; Schefer (Fn.33), S. 288.
179
Verfassungsgerichtsbarkeit als verfassungswidrig verworfen werden kann.
Aber „schlechte“ und „ungerechte“ Politik kann auch durch die Verfassungsgerichtsbarkeit verhindert werden. Am wichtigsten ist vielmehr,
dass in diesem Machtantagonismus die Meinungsfreiheit, die Kanäle der
öffentlichen Debatte und die legislativen Befugnisse zum Gemeinwohlmanagement durch die Verfassungsgerichtsbarkeit und den dahinter stehenden Doppeldisziplinierungsmechanismus nicht ausgeschaltet werden.
Dadurch werden sie im Gegenteil gewährleistet und weiter gefördert. In
seiner bisherigen Geschichte erweist sich das ganze Rechtssystem des
Verfassungsstaates – mit seinem Doppeldisziplinierungsmechanismus
und dem parlamentarischen Gemeinwohlmanagement – als die effektive
institutionelle Mindestbedingung, die den Kampf gegen die Übergriffe
der Macht fortsetzen kann.
180
Schluss:
Eine Machtgeschichte des Verfassungsstaates
Schon seit langem haben wir uns in den Maschen der Macht zum
Leben verfangen. Selbst der Verfassungsstaat, der uns von dem Absolutismus und seiner Machtvollkommenheit befreit hat, ist diesem Schicksal
nicht entkommen. Durch seine mikro- und makrophysikalische Machtanalytik der Disziplin und der Gouvernementalität hat Foucault uns gezeigt, wie das gesamte Rechtssystem des Verfassungsstaates mit Parlamenten, Gesetzgebungen, Verwaltungen und Gerichten zu Gefangenen
einer zugleich individualisierenden und totalisierenden Form der Macht
geworden ist. Im Kampf gegen die Übergriffe der Macht scheint der Verfassungsstaat bei Foucault in ein feines Spinnennetz geraten zu sein, in
dem er kraftlos seine Flügel schwingt, ohne von der Stelle zu kommen.
Wenn aber der Verfassungsstaat sowohl durch die Normalisierungsvorgänge der Disziplin als auch durch die Gouvernementalisierung kolonisiert worden ist, so befindet er sich deswegen noch nicht in einer Sackgasse. Im Gegenteil: Der Verfassungsstaat hat sich unterschiedlicher Methoden bedient, um sich einerseits zum Doppeldisziplinierungsmechanismus und andererseits zur Rahmenbedingung für das Gemeinwohlmanagement zu entwickeln. Dank seines nicht gänzlich vorhersehbaren
Doppeldisziplinierungsmechanismus ist der Verfassungsstaat nun nicht
nur in der Lage, die störende Disziplinierung des Staatsbürgers zu überwachen und zu disziplinieren. Im Rahmen dieses Doppeldisziplinierungsmechanismus bietet er uns darüber hinaus eine günstige und faire
institutionelle Mindestbedingung für das Gemeinwohlmanagement an,
um die von der Komplexität und Krisen durchdrungene Lebenswelt mittels einer Vielzahl neuartiger Strategien zu regieren. Zwar kann der ganze
Doppeldisziplinierungsmechanismus des Verfassungsstaates mit seiner
Verfassungsgerichtsbarkeit bis zu einem gewissen Grade auch eine Art
strategischer List der Disziplinarmacht sein, um auf der einen Seite die
Disziplinierung des Staatsbürgers zu unterstützen und auf der anderen
Seite das durch das demokratische Mehrheitsentscheidungsverfahren abgestimmte „gute“ und „gerechte“ Gemeinwohlmanagement als verfassungswidrig zu verwerfen. Aber die Meinungsfreiheit, die Kanäle der öffentlichen Kommunikation und die Debatten sowie der demokratische
Parlamentarismus werden durch diesen Doppeldisziplinierungsmechanismus nicht arglistig eingeschränkt. Dank ihm werden sie im Gegenteil
181
gewährleistet und sogar angespornt. Die Menschen- und Grundrechte,
egal ob sie unter dem Aspekt des Foucaultschen Rechts des Regierten
verstanden werden, können nur im Rahmen dieser institutionellen Mindestbedingung des Doppeldisziplinierungsmechanismus des Verfassungsstaates besser geschützt und entwickelt werden.
Den bisherigen Versuch des Umdenkens und der Rekonstruktion des
Verfassungsstaates, dem die postmoderne Machtanalytik Foucaults
zugrunde liegt, möchte ich gerne als eine Machtgeschichte des Verfassungsstaates betrachten. Genau durch diese Machtgeschichte des Verfassungsstaates lässt sich nicht nur das Geheimnis des Überlebens und der
Weiterentwicklung des heutigen Verfassungsstaates lüften. Dadurch machen wir uns zugleich bewusst, dass wir uns ständig in einem endlos weit
gespannten und unendlich eng geknüpften Machtnetz der Interdependenz
befinden. Dabei könnte es wohl überall Grenzen für die Freiheit geben,
aber auf keinen Fall geht sie für immer verloren. In diesem Sinne möchte
ich die Arbeit mit einem Zitat von Nikolas Rose abschließen: „The practices of modern freedom have been constructed out of an arduous, haphazard and contingent concatenation of problematizations, strategies of
government and techniques of regulation. This is not to say that our freedom is a sham. It is to say that the agonistic relation between liberty and
government is an intrinsic part of what we have come to know as freedom.
And thus, I suggest, a key task for intellectual engagement with contemporary relations of power is the critical analysis of these practices of
freedom.“1
1
182
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