Umdenken des Verfassungsstaates im Anschluß an
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Umdenken des Verfassungsstaates im Anschluß an
13:20 Seite 1 Wenn aber der Verfassungsstaat der postmodernen mikround makrophysikalischen Machtanalytik Foucaults zufolge sowohl durch die Normalisierungsvorgänge der Disziplin als auch durch die Gouvernementalisierung kolonisiert worden ist, so befindet er sich deswegen noch nicht in einer Sackgasse. Im Gegenteil: Der Verfassungsstaat, so der Verfasser, hat sich unterschiedlicher Methoden bedient, um sich einerseits zum Doppeldisziplinierungsmechanismus und andererseits zur Rahmenbedingung für das Gemeinwohlmanagement zu entwickeln. Dank seines sich nicht gänzlich vorhersehbaren Doppeldisziplinierungsmechanismus ist der Verfassungsstaat nun nicht nur in der Lage, die störende Disziplinierung des Staatsbürgers zu überwachen und zu disziplinieren. Im Rahmen dieses Doppeldisziplinierungsmechanismus bietet er uns darüber hinaus eine günstige und faire institutionelle Mindestbedingung für das Gemeinwohlmanagement an, um die von der Komplexität und Krisen durchdrungene Lebenswelt mittels einer Vielzahl neuartiger Strategien zu regieren. Yu-Lin Chiang, geboren 1968 in Taipeh, Taiwan. 1991 Bachelor of Laws und 1994 Master of Laws an der National Taiwan University. 1999 LL.M. in Heidelberg. Von 1991 bis 1993 Assistent an der Juristischen Fakultät der National Taiwan University. Von 1994 bis 1996 Assistent an der Juristischen Fakultät des National Defence Management College (Wehrdienst). Von 1997 bis 2002 Stipendiat des DAAD. ISBN 3-86504-025-X 26 Euro Yu-Lin Chiang Umdenken des Verfassungsstaates im Anschluß an Michel Foucault 14.01.04 50 Juristische Reihe TENEA/ Chiang.qxd YU-LIN CHIANG Umdenken des Verfassungsstaates im Anschluß an Michel Foucault Juristische Reihe TENEA/ Bd. 50 13:20 Seite 1 Wenn aber der Verfassungsstaat der postmodernen mikround makrophysikalischen Machtanalytik Foucaults zufolge sowohl durch die Normalisierungsvorgänge der Disziplin als auch durch die Gouvernementalisierung kolonisiert worden ist, so befindet er sich deswegen noch nicht in einer Sackgasse. Im Gegenteil: Der Verfassungsstaat, so der Verfasser, hat sich unterschiedlicher Methoden bedient, um sich einerseits zum Doppeldisziplinierungsmechanismus und andererseits zur Rahmenbedingung für das Gemeinwohlmanagement zu entwickeln. Dank seines sich nicht gänzlich vorhersehbaren Doppeldisziplinierungsmechanismus ist der Verfassungsstaat nun nicht nur in der Lage, die störende Disziplinierung des Staatsbürgers zu überwachen und zu disziplinieren. Im Rahmen dieses Doppeldisziplinierungsmechanismus bietet er uns darüber hinaus eine günstige und faire institutionelle Mindestbedingung für das Gemeinwohlmanagement an, um die von der Komplexität und Krisen durchdrungene Lebenswelt mittels einer Vielzahl neuartiger Strategien zu regieren. Yu-Lin Chiang, geboren 1968 in Taipeh, Taiwan. 1991 Bachelor of Laws und 1994 Master of Laws an der National Taiwan University. 1999 LL.M. in Heidelberg. Von 1991 bis 1993 Assistent an der Juristischen Fakultät der National Taiwan University. Von 1994 bis 1996 Assistent an der Juristischen Fakultät des National Defence Management College (Wehrdienst). Von 1997 bis 2002 Stipendiat des DAAD. ISBN 3-86504-025-X 26 Euro Yu-Lin Chiang Umdenken des Verfassungsstaates im Anschluß an Michel Foucault 14.01.04 50 Juristische Reihe TENEA/ Chiang.qxd YU-LIN CHIANG Umdenken des Verfassungsstaates im Anschluß an Michel Foucault Juristische Reihe TENEA/ Bd. 50 TENEA Juristische Reihe TENEA/ Bd. 50 Tenea (‘η Τενέα), Dorf im Gebiet von Korinth an einem der Wege in die → Argolis, etwas s. des h. Chiliomodi. Sehr geringe Reste. Kult des Apollon Teneates. T. galt im Alt. sprichwörtl. als glücklich, wohl wegen der Kleinheit […] Aus: K. Ziegler, W. Sontheimer u. H. Gärtner (eds.): Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike. Bd. 5, Sp. 585. München (Deutscher Taschenbuch Verlag), 1979. YU-LIN CHIANG Umdenken des Verfassungsstaates im Anschluß an Michel Foucault Yu-Lin Chiang: Umdenken des Verfassungsstaates im Anschluß an Michel Foucault (Juristische Reihe TENEA/www.jurawelt.com; Bd. 50) Zugleich Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Dissertation 2003 Gedruckt mit Unterstützung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes Gedruckt auf holzfreiem, säurefreiem, alterungsbeständigem Papier © TENEA Verlag für Medien Berlin 2003 Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Digitaldruck und Bindung: Digital-Print-Service · 10119 Berlin Umschlaggestaltung: nach Roland Angst, München TENEA-Graphik: Walter Raabe, Berlin Printed in Germany 2003 ISBN 3-86504-025-X Vorwort Diese Arbeit lag der Juristischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg im Sommersemester 2003 als Dissertation vor. Großen Dank schulde ich dem Betreuer meiner Arbeit, Herrn Prof. Dr. Winfried Brugger, der nicht nur stets zu lehrreicher Diskussion bereit war, sondern mir auch sehr viel Freiheit bei der Entwicklung der Gedanken gewährt hat. Herrn Prof. Dr. Görg Haverkate möchte ich herzlichst danken für die Erstellung des Zweitgutachtens. Zu danken habe ich des weiteren Herrn Ingmar Heise, Frau Alexandra Dziuba und Herrn Dr. Michael Meyer für sprachliche Verbesserungen des Manuskripts, der Familie Metz für die während meiner Studienaufenthalt in Deutschland gewährte Gastfreundschaft sowie dem DAAD für die langjährige finanzielle Unterstützung. Gewidmet ist das Buch meiner Frau Huang-Yu Wang, meinem Sohn Dai-Ruei und meinen Eltern. Heidelberg, im Juni 2003 Yu-Lin Chiang Inhaltsverzeichnis Einleitung ......................................................................................................... 1 Erster Abschnitt Die Lokalisierung des Verfassungsstaates in Foucaults Machtanalytik Kapitel 1: Einführung in die Machtanalytik Foucaults .................................... A. Drei Machtebenen von strategischen Machtspielen, Herrschaftszuständen und Regierungstechnologien ....................................................................... B. Die doppelgesichtige Machttechnologie des Lebens .................................. C. Das Machtdreieck von Souveränität, Disziplin und Gouvernementalität ... Kapitel 2: Die Mikrophysik der Macht: Disziplin ........................................... A. Auf der Suche nach einem anderen Typ der Macht .................................... B. Zum Begriff der Disziplin ........................................................................... I. Die Disziplin im Sinne des alltäglichen Sprachgebrauchs .................. II. Die anthropologisch-psychisch-negative Verdrängung durch die Disziplin .............................................................................................. III. Die mikrophysikalisch-ökonomisch-positive Technologie der Disziplin .............................................................................................. C. Die technischen Instrumente der Disziplin ................................................. I. Die hierarchische Überwachung ......................................................... II. Die normierende Sanktion .................................................................. III. Die individualisierende Prüfung …………………………................. 1. Die Umkehrung der Sichtbarkeit ................................................... 2. Die Dokumentierbarmachung der Individualität ........................... 3. Die Produktion des Disziplinarindividuums durch die Fallforschung ................................................................................. D. Die Entstehung der Disziplinargesellschaft ................................................ I. Von der institutionsimmanenten Disziplin zur gesellschaftlichen Disziplin .............................................................................................. II. Die Funktionsweise der panoptischen Disziplinargesellschaft – im Vergleich zur Sozialdisziplinierung nach Gerhard Oestreich ............. III. Die Kolonisierung der Rechtsgesellschaft – die Herstellung sowohl 9 9 14 21 23 23 25 25 26 32 34 34 40 45 45 46 50 54 54 57 v eines tugendhaften Bürgers wie auch eines Delinquenten .................. 66 E. Der Übergang von der mikrophysikalischen Disziplinierung des Körpers zum makrophysikalischen Regieren der Bevölkerung ............................... 74 Kapitel 3: Die Makrophysik der Macht: Gouvernementalität ......................... A. Die Verschiebung der Machtanalytik auf die Problematik der Gouvernementalität ..................................................................................... B. Zum Begriff der Gouvernementalität ......................................................... I. Entstehung und Eigenart der Gouvernementalität .............................. II. Der Einsatz der strategisch orientierten Sicherheitsdispositive .......... C. Die Machttechnik des Pastorats .................................................................. I. Rückkehr zur Pastoralmacht ............................................................... II. Die Eigenart der Pastoralmacht ........................................................... III. Die Säkularisierung der Pastoralmacht ............................................... D. Die Geschichte der Gouvernementalität ..................................................... I. Die frühneuzeitlichen durch Staatsräson und Polizei säkularisierten Sicherheitsdispositive .......................................................................... II. Der Machtexzess durch die Gouvernementalisierung des Staates ...... III. Sicherheitsdispositive des Liberalismus und seine Regierungstechnologie – der Verfassungsstaat ................................... IV. Die Krise der Regierung – die Erschütterungen der Sicherheitsdispositive vom liberalen Verfassungsstaat bis zum nachfolgenden sozialen Verfassungsstaat ........................................... V. Die Machtlosigkeit des Verfassungsstaates gegenüber der Krise der Regierung ............................................................................................ 77 77 79 79 84 91 91 93 97 99 99 104 108 112 124 Zweiter Abschnitt Rekonstruktion des Verfassungsstaates Kapitel 4: Der Übergang von der Machtanalytik Foucaults zur Rekonstruktion des Verfassungsstaates ......................................... A. Auf der Suche nach einem neuen Recht ..................................................... I. Machtanalytik und Machtkritik ........................................................... II. Ein neues Recht – im objektiven oder subjektiven Sinne ................... B. Die kritische Praxis der Freiheit ................................................................. I. Der Kampf für eine neue Subjektivität ............................................... vi 131 131 131 132 135 135 II. Eine andere Art der Menschenrechte .................................................. C. Die Parrhesia und das Recht des Regierten ............................................... I. Das Spiel der Parrhesia ...................................................................... II. Das Recht des Regierten ..................................................................... III. Appell zu moralischem Mut oder Garantie durch eine institutionelle Mindestbedingungen ........................................................................... 137 138 138 139 141 Kapitel 5: Doppeldisziplinierungsmechanismus des Verfassungsstaates ........ 143 A. Entstehung des Doppeldisziplinierungsmechanismus des Verfassungsstaates ...................................................................................... 143 I. Eine andere Richtung der Disziplinierung – die Disziplinierung der Staatsmacht ......................................................................................... 143 II. Das Spannungs- und Koordinierungsverhältnis zwischen der Disziplinierung des Staatsbürgers und der Disziplinierung der Staatsmacht ......................................................................................... 144 B. Zur Anwendung der Disziplinarinstrumente auf die Überwachung der Staatsmacht ................................................................................................. 146 I. Die Freisetzung der Disziplinarinstrumente der Macht ...................... 146 II. Die optische Disziplinararchitektur des Verfassungsstaates ............... 148 1. Die hierarchische Überwachung des Rechtsstufenbaus ................. 148 2. Die normierende Sanktion der Nichtigkeit .................................... 150 3. Die gerichtliche Prüfung ................................................................ 152 C. Die Rolle der überprüfenden Verfassungsgerichtsbarkeit im Doppeldisziplinierungsmechanismus des Verfassungsstaates .................... 154 I. Die Einrichtung der Verfassungsgerichtsbarkeit und das hermeneutische Problem der Verfassungsauslegung .......................... 154 II. Konflikt zwischen unterschiedlichen Verfassungsverständnissen – das Beispiel des Streits um den Kruzifix-Beschluss ........................... 157 III. Zurückgehen auf den Doppeldisziplinierungsmechanismus des Verfassungsstaates ............................................................................... 161 1. Loslösung von der Suche nach legitimen Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit ............................................................ 161 2. Machtantagonismus zwischen der Disziplinierung des Staatsbürgers und der Disziplinierung der Staatsmacht ................. 163 3. Die List der Disziplinarmacht – Förderung der Disziplinierung des Staatsbürgers durch die Disziplinierung der Staatsmacht ....... 164 vii Kapitel 6: Gemeinwohlmanagement des Verfassungsstaates .......................... 169 A. Eine Horizonterweiterung des Verfassungsstaates – vom Doppeldisziplinierungsmechanismus zum Gemeinwohlmanagement ....... 169 B. Zum Begriff des Gemeinwohlmanagements .............................................. 170 I. Warum Gemeinwohlmanagement? ..................................................... 170 II. Vom Gemeinwohl- zum Krisenmanagement ...................................... 172 C. Parlamentarische Gemeinwohlmanagement im Rahmen des Doppeldisziplinierungsmechanismus des Verfassungsstaates ................... 176 Schluss: Eine Machtgeschichte des Verfassungsstaates .................................. 181 Literaturverzeichnis ......................................................................................... 183 A. Sigelverzeichnis der Schriften Foucaults .................................................... 183 B. Andere Literatur .......................................................................................... 185 viii Einleitung Schon seit seiner Entstehung ist der Verfassungsstaat in die unaufhörlichen Kämpfe gegen die Macht mit hineingezogen worden. Verfassungsgeschichtlich betrachtet wurde der Verfassungsstaat vom Liberalismus erfunden, um gegen den Absolutismus und seine uneingeschränkte Machtvollkommenheit zu kämpfen. 1 Die Menschenrechtsgarantie und die Gewaltenteilung sind die zwei ursprünglichen, sich ergänzenden Grundelemente des Verfassungsstaates.2 Während die Gewaltenteilung versucht, die Macht mit Hilfe der Macht zu bremsen, bemüht sich die Menschenrechtsgarantie darum, „[…] eine strenge Scheidelinie zwischen dem ursprünglichen, dem Staatsmitglied verbliebenen Freiheitsanteil und der Staatsmacht“ zu ziehen (Georg Jellinek), damit die Freiheitsrechte des einzelnen vor der „Bedrohung durch die Staatsmacht“ gesichert werden können (Ernst-Wolfgang Böckenförde).3 Indem der Verfassungsstaat der Staatsmacht entgegensteht, verbindet er sich schicksalhaft mit der Macht. In diesem Kampf des Verfassungsstaates gegen die Staatsmacht scheint die Macht vor allem im Staatsapparat lokalisiert und ihrer Natur nach negativ, repressiv sowie expansiv zu sein. Das heißt: Die Macht be1 2 3 Vgl. etwa Georg Jellinek, Die Entstehung der modernen Staatsidee, in: Ders., Ausgewählte Schriften und Reden, Zweiter Band, Berlin 1911, S. 50ff.; Carl Schmitt, Verfassungslehre, 8. Aufl., Berlin 1993, S. 36ff., 125; Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre, 5. Aufl., Opladen 1994, S. 121f.; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Nation, Europa. Studien zur Staatstheorie, Verfassungstheorie und Rechtsphilosophie, Frankfurt a.M. 1999, S. 127ff.; Dieter Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, Frankfurt a.M. 1988, S. 12ff. Zu den entscheidenden Bestandteilen des Verfassungsstaates zählen die Menschenrechtsgarantie und die Gewaltenteilung zum Beispiel schon im berühmten Artikel 16 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789. Er lautet: „Jede Gesellschaft, in der weder die Gewährleistung der Rechte zugesichert noch die Gewaltenteilung festgelegt ist, hat keine Verfassung.“ Vgl. Charles de Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, Stuttgart 1994, S. 215; Georg Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, Darmstadt 1963, S. 95; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt a.M. 1976, S. 224. Zur Abwehrfunktion der Menschenrechte gegen die staatliche Macht sagt Gerhard Oestreich: „Dem Staate müssen Grenzen gesetzt werden. Im Kampf gegen die ständige Ausweitung staatlicher Macht, insbesondere gegen den monarchischen Absolutismus, der in seinem Machtstreben die Rechte seiner Untertanen missachtete und verletzte, sind die Grundrechte gewachsen; sie sollten dazu dienen, dem Staatsbürger eine eigene freie Sphäre zu sichern.“ Ders., Die Idee der Menschenrechte, 5. Aufl., Berlin 1974, S. 10. 1 droht nicht nur die Freiheiten der Bürger. Sie nutzt auch jede Gelegenheit aus, um die ihr zugewiesenen Grenzen zu überschreiten.4 Angesichts der riesigen Potentaten und Interessen, die von der Macht angereizt werden, wird der Machthaber niemals aufhören, nach immer mehr Macht zu streben. „Das Streben nach Macht“, wie Friedrich Meinecke meint, ist „[…] ein urmenschlicher, ja vielleicht animalischer Trieb, der blind um sich greift, bis er äußere Schranken findet.“5 Von diesem expansiven Drang der Macht werden Menschen dazu getrieben, nicht nur sich in machiavellistische Kämpfe um die Macht zu verstricken, sondern auch die Macht zu missbrauchen, sobald sie sie in Händen halten.6 Dieses negative, repressive, expansive und im Staat lokalisierte Machtbild ist Foucault zufolge auf das sogenannte juridische Modell der Macht bzw. auf das Rechtsmodell der Souveränität oder einfach auf die königliche Macht zurückzuführen.7 In seinem Buch Der Wille zum Wissen, der Studie über Macht und Sexualität, zeigt Foucault, dass die Analyse der Macht gewöhnlich vom System von Souverän und Gesetz, von Repression und Verbot ausgeht. Die dadurch geprägte juridische Konzeption der Macht besteht Foucaults Meinung nach aus fünf Hauptmerkmalen. Das erste Merkmal ist „die negative Beziehung“. Die Macht präsentiert sich nur in negativen Formen, nämlich: Verwerfung, Ausschließung, Verweigerung, Versperrung, Verstellung oder Maskierung. Das zweite Merkmal ist „die Instanz der Regel“. Die reine Form der Macht ist wesenhaft in der Funktion des Gesetzgebers zu finden. Das heißt: Die Macht schreibt ihren Adressaten eine Ordnung vor und bestimmt, was ziemlich/unziemlich oder erlaubt/verboten ist. Das dritte Merkmal ist „der Zyklus der Untersagung“. Die Macht ist einfach das Verbot. Das Ziel der Macht liegt vor allem in der Entsagung dessen, was die Macht ablehnt, und ihre Methode ist die Androhung einer Strafe. Das vierte Merkmal ist „die Logik der Zensur“. Um das Verbotene im Wirklichen zu vernichten, verwendet die Macht die Zensurmechanismen, denen drei Formen 4 5 6 7 2 Vgl. Alexander Hamilton/James Madison/John Jay, Die Federalist-Artikel. Politische Theorie und Verfassungskommentar der amerikanischen Gründerväter, hrsg. von Angela Adams/Willi Paul Adams, Paderborn 1994, 48. Artikel, S. 299. Friedrich Meinecke, Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte, 2. Aufl., München u. Berlin 1925, S. 5. Vgl. Montesquieu (Fn.3), S. 213; Hamilton/Madison/Jay (Fn.4), 48. Artikel, S. 299; Meinecke (Fn. 5), S. 16; Erhard Friedberg, Ordnung und Macht. Dynamiken organisierten Handelns, Frankfurt a.M. 1995, S. 260. Vgl. WW, S. 101f.; DM, S. 34f., 37f., 109, 209; MaM, S. 23f.; VG, S. 33-36, 52-54, 306; Gouv, S. 62-65. zugrunde liegen, nämlich die Behauptung, dass etwas nicht erlaubt ist, die Verhinderung, dass das gesagt wird, und die Verneinung, dass das existiert. Das fünfte Merkmal ist „die Einheit des Dispositivs“. Die Macht prägt die allgemeine Form der Unterwerfung. Der Adressat, der gegenüber dem von der Macht erlassenen Gesetz steht, ist das gehorchende Subjekt, das zum Untertanen geworden ist. Diese allgemeine Form der Unterwerfung vollzieht sich auf allen Ebenen in gleicher Weise, egal ob beim Untertanen des Monarchen, beim Bürger des Staates, beim Kind der Eltern oder beim Schüler des Lehrers.8 In bezug auf dieses langfristig wirksame juridische Modell der Macht fragt Foucault: „Warum akzeptiert man diese juridische Konzeption der Macht so ohne weiteres?“ Und „[w]oher kommt da die Tendenz, die Macht nur in der negativen und fleischlosen Form des Verbotes zur Kenntnis zu nehmen? Woher kommt die Neigung, die Dispositive der Herrschaft auf die Prozedur des Untersagungsgesetzes zu reduzieren?“9 Foucaults Ansicht zufolge bestehen die Gründe dafür vor allem in der Entstehung der monarchischen Machtinstitutionen, die sich seit dem Mittelalter gegenüber den vielfältigen und kriegerischen Feudalmächten entwickelt haben. Laut Foucault ist die Monarchie die „Instanz[…] der Regelung, der Schiedsgerichtsbarkeit und der Grenzziehung“, und ihre Aufgabe ist es, die Ordnung, „pax et iustitia“, zwischen den Feudalmächten und zwischen den sich privatrechtlich auseinandersetzenden Individuen einzuführen. Das wirksame Instrument, mit dem es der Monarchie gelingt, diese Aufgabe zu erfüllen und die Formen und Mechanismen ihrer eigenen Macht zu bestimmen, insbesondere auf Kosten der Feudalmächte, ist das Recht. Mit Hilfe des Rechts haben sich die großen monarchischen Machtinstitutionen allmählich „[...] als einheitliches Ganzes konstituiert, haben ihren Willen mit dem Gesetz identifiziert und sich mittels Untersagungs- und Sanktionierungsmechanismen durchgesetzt“.10 Die Wiederbelebung des römischen Rechts im Mittelalter und das Auftauchen der frühneuzeitlichen Souveränitätstheorie sind die zwei effizienten Mittel zur Stabilisierung dieser monarchischen Machtinstitutionen und ihrer gesetzgebenden Autorität. Während die am römischen Recht geschulten Juristen des späten Mittelalters den Königen und Landesfürs8 9 10 Vgl. WW, S. 103-106. WW, S. 106f. Dieselbe Fragestellung siehe auch DM, S. 209; MaM, S. 25. Vgl. WW, S. 107f. 3 ten die Gewalt (potestas) als Instrument anbieten, um gegenüber dem päpstlichen Machtprimat weltliches Recht festzulegen und damit die Regeln zu bestimmen, nach denen der Staat regiert werden sollte, wird die monarchische Macht durch die Souveränitätslehre Bodins erneut eingegliedert und reorganisiert. Demzufolge ist die monarchische Macht vor allem summa legibus soluta potestas, also eine oberste, auch über den staatlichen Gesetzen stehende Gewalt. 11 Dementsprechend sollte die monarchische Macht zu einer fundamentalen und begründenden Einheit der Macht werden, die in der Lage ist, nicht nur die vielfältigen Mächte in sich aufzunehmen, sondern auch sich unverteilt in den absoluten Machtinstitutionen zu einer homogenen Staatsgewalt zu konsolidieren.12 Das hervorragendste Merkmal dieser Staatsgewalt ist laut Bodin die „Machtvollkommenheit, Gesetze für alle und für jeden einzelnen zu erlassen, ohne dass irgendjemand zustimmen müsste“.13 Dadurch wird der königliche Wille nicht nur mit Gesetzen identifiziert. Er wird mit Hilfe seiner souveränen Macht und der monopolisierten, legitimen Gewaltsamkeit auch gegen Widerstand durchgesetzt.14 Die souveräne Macht wird darum 11 12 13 14 4 Diesbezüglich schreibt Bodin in der lateinischen Fassung von „Six livres de la République“ einen entscheidenden Satz, der später als Kennzeichen des Absolutismus gilt: „Majestas est summa in cives ac subditos legibusque soluta potestas“ (Souveränität ist die höchste, rechtlich unbeschränkte Gewalt über die Bürger und die Untergebenen. Übersetzung von Martin Kriele (Fn.1), S. 58f.) Jean Bodin, Über den Staat, Stuttgart 1999, S. 19; vgl. dazu Rudolf Weber-Fas, Über die Staatsgewalt. Von Platons Idealstaat bis zur Europäischen Union, München 2000, S. 96; Gerhard Oestreich, Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Ausgewählte Aufsätze, München 1969, S. 179f. Vgl. WW, S. 108; MaM, S. 25f.; VG, S. 52f.; Adolf Laufs, Rechtsentwicklungen in Deutschland, 5. Aufl., Berlin 1996, S. 54; Hagen Schulze, Staat und Nation in der europäischen Geschichte, 2. Aufl., München 1995, S. 28; Reinhold Zippelius, Allgemeine Staatslehre. Politikwissenschaft, 12. Aufl., München 1994, S. 158. Die Konsolidierung der monarchischen Macht gilt nach Jellinek zugleich auch als die Entstehung des modernen Staates, der gegen drei Mächte, gegen Kirche, Reich und ständische Macht, zu kämpfen hat. Vgl. Jellinek (Fn.1), S. 46ff. Vgl. Bodin (Fn.11), S. 42. Diesbezüglich wird die Macht von Max Weber aus der Perspektive der Intention des Machtinhabers so definiert: „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eignen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“ Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Johannes Winkelmann (Hrsg.), 5. Aufl., Tübingen 1980, S. 28. Vgl. dazu auch Petra Neuenhaus, Max Weber und Michel Foucault. Über Macht und Herrschaft in der Moderne, Pfaffenweiler 1993, S. 12. Im Gegensatz zu diesem weberischen Verstehen von Macht, die sich mit dem subjektiven Sinne verbindet, glaubt Foucault eher, „dass die Macht sich nicht ausgehend von (individuellen oder kollektiven) Willen bildet, auch nicht, dass sie sich von Interessen ableitet“. DM, S. 110. als nichts anderes als Repression gegenüber den Untertanen und als zu übertragender und anzueignender Reichtum der Fürsten betrachtet, dessen auffälligsten Charakter das Recht über Leben und Tod ist. Dazu sagt Foucault: „Eines der charakteristischsten Privilegien der souveränen Macht war lange Zeit das Recht über Leben und Tod. Es leitet sich von der alten patria potestas her, die dem römischen Familienvater das Recht einräumte, über das Leben seiner Kinder wie über das seiner Sklaven zu »verfügen«: er hatte es ihnen »gegeben«, er konnte es ihnen wieder entziehen. Bei den klassischen Theoretikern ist das Recht über Leben und Tod schon erheblich abgeschwächt. Als Recht des Souveräns gegenüber seinen Untertanen darf es nicht mehr absolut und bedingungslos ausgeübt werden, sondern nur für den Fall, dass sich der Souverän in seiner Existenz bedroht sieht: ein Recht der Gegenwehr. [...] Auf jeden Fall ist das Recht über Leben und Tod sowohl in seiner modernen relativen und beschränkten Form wie auch in seiner alten absoluten Form ein asymmetrisches Recht. Der Souverän übt sein Recht über das Leben nur aus, indem er sein Recht zum Töten ausspielt – oder zurückhält. Er offenbart seine Macht über das Leben nur durch den Tod, den zu verlangen er imstande ist. Das sogenannte Recht »über Leben und Tod« ist in Wirklichkeit das Recht, sterben zu machen und leben zu lassen. Sein Symbol war ja das Schwert.“15 Schon seit langem ist die Macht mit dem König, dem Souverän, dem Staat, dem Recht, dem Gesetz, dem Verbot und der Repression eng verbunden worden.16 Das dadurch ausgelöste negative Vorverständnis der juridischen Machtkonzeption bleibt weithin in den modernen Staatstheorien erhalten.17 Es wird sogar in den Verstehensprozess und die Praxen 15 16 17 Mit anderen Worten: Die Macht sollte nicht „auf der Ebene der Intention oder der Entscheidung„ analysiert oder „von innen her“ erfasst werden. Man sollte also nicht die Frage stellen: „Wer hat Macht? Was hat dieser im Sinn? Und wonach strebt der, der die Macht hat?“ VG, S. 37. WW, S. 161f.; vgl. ÜS, S. 64; VG, S. 277f. Vgl. MaM, S. 25f.; VG, S. 33-35; DM, S. 38, 109f., 208; WW, S. 106-110. Dazu sagt Foucault: „Es ist bekannt, welche Faszination heute die Liebe zum Staat und das Erschrecken vor dem Staat ausüben; es ist bekannt, wie sehr man sich die Geburt des Staates, seine Geschichte, seine Verstöße, seine Macht und seine Missbräuche angelegen sein lässt.“ Gouv, S. 65. Weiter: „Eine Tradition, die ins 17. oder ins 19. Jahrhundert zurückreicht, hat uns daran gewöhnt, die absolute monarchische Macht auf die Seite des Unrechts zu setzen: wir denken an die Willkür, die Missbräuche, die Laune, die Gunst, die Privilegien und die Ausnahme, die beharrliche Fortschleppung von Zuständen. Aber dabei vergisst man die grundlegende historische Tatsache, dass die abendländischen Monarchien als 5 des Verfassungsstaates eingebracht. Die heutigen Grundrechte, die bestimmte Freiheitsrechte gegen staatliche Eingriffe, Einschränkungen, Beschränkungen oder Verletzungen schützen, haben sich zum Beispiel gemeinsam mit dem negativen, repressiven Staatsmachtsbild entwickelt.18 In diesem langfristigen Kampf des Verfassungsstaates gegen die schlechte, böse Staatsmacht scheint Foucault der Kopf des Königs noch nicht abgeschlagen zu sein. Diesbezüglich sagt Foucault: „Im Grunde ist die Repräsentation der Macht über die unterschiedlichen Epochen und Zielsetzungen hinweg doch im Bann der Monarchie verblieben. Im politischen Denken und in der politischen Analyse ist der Kopf des Königs noch immer nicht gerollt. Daher rührt die Bedeutung, die man in der Theorie der Macht immer noch dem Problem des Rechts und der Gewalt beimisst, dem Problem des Gesetzes und der Gesetzwidrigkeit, des Willens und der Freiheit und vor allem dem Problem des Staates und der Souveränität (auch wenn diese nicht mehr in der Person des Königs sondern in einem kollektiven Wesen gesucht wird).“ Also: „Man hängt nach wie vor an einem bestimmten Bild der Gesetzes-Macht, der Souveränitätsmacht, das von den Theoretikern des Rechts und von der monarchischen Institution gezeichnet worden ist. Von diesem Bild, d.h. von der theoretischen Privilegierung des Gesetzes und der Souveränität, muss man sich lösen, wenn man eine Analyse der Macht durchführen will, die das konkrete und historische Spiel ihrer Verfahren erfassen soll. Man muss eine Analytik der Macht bauen, die nicht mehr das Recht als Modell und als Code nimmt.“19 Was man nun braucht “[…] ist eine politische Philosophie, die nicht um das Problem der Souveränität, also des Gesetzes, des Verbots herum konstituiert ist. Man muss dem König den Kopf abschlagen: das 18 19 6 Rechtssysteme entstanden sind, dass sie sich in Rechtstheorien reflektiert und ihre Machtmechanismen in der Form des Rechts durchgesetzt haben.“ WW, S. 108. Vgl. dazu auch Günter Frankenberg, In Hinsicht auf die Souveränität des Staates, in: Rechtshistorisches Journal 19 (2000), S. 208. Dies ist die sogenannte Abwehrfunktion der Grundrechte, die nach Jellinek als der negative Status oder status libertatis bezeichnet wird. Die Grundrechte werden darum als Abwehrrechte betrachtet. Vgl. Jellinek (Fn.3), S. 94; Pieroth, Bodo/Schlink, Bernhard, Grundrechte. Staatsrecht II, 17. Aufl., Heidelberg 2001, Rn. 58. WW, S. 110f. Bei dieser „Analytik“ der Macht handelt es sich nach Foucault nicht um eine „Theorie“ der Macht. Er sagt: „Die Analytik kann sich, wie mir scheint, nur unter der Bedingung konstituieren, dass man reinen Tisch macht und sich von einer bestimmten Vorstellung der Macht löst, die ich die »juridisch-diskursive« nennen möchte.“ WW, S. 102. hat man in der politischen Theorie noch nicht getan.“20 Zwar ist die traditionelle juridische Machtkonzeption der Souveränität nach Foucault nicht geeignet für den Ausgangspunkt seiner Machtanalytik, weil die Theorie der Souveränität einfach „die große Falle ist“, „in die man bei der Machtanalyse hineinzugeraten droht“.21 Dies bedeutet aber nicht, dass der Machttyp der Souveränität nie mehr in Foucaults Machtanalytik thematisiert werden soll. Im Gegenteil wird er schließlich in der Machtanalytik Foucaults zu einem unentbehrlichen Element des sogenannten Machtdreiecks, welches außerdem noch die zwei anderen Machttypen beinhaltet, nämlich die Mikrophysik der Disziplin und die Makrophysik der Gouvernementalität.22 Nach Foucault werden diese drei Machttypen nach und nach alle in der Form staatlicher Institutionen ausgearbeitet, rationalisiert und zentralisiert. Dadurch sind nicht nur verschiedene Machtexzesse ausgelöst worden wie zum Beispiel die des absolutistischen Polizeistaates, des Nazistaates und des sowjetischen Staates, sondern es sind auch unterschiedliche Krisen der Regierung entstanden, wie zum Beispiel die heutigen sozial-wohlfahrtsstaatlichen Probleme. Das Rechtssystem des Verfassungsstaates, der ursprünglich von der liberalen gouvernementalen Rationalität erfunden wurde, wird zwar als die effektive Regierungstechnologie gegenüber dieser Raserei der Macht angesehen, in der das Zuviel an Regierung beständig vorhanden ist. Aber ist der Verfassungsstaat, der nach Foucault schon seit langem auch durch die Disziplinarmechanismen kolonisiert worden ist, weiter in der Lage, die heutige soziale Krise der Regierung zu lösen? Die Antwort Foucaults ist leider pessimistisch. Dies führt zwar nicht zur Destruktion des Verfassungsstaates, aber doch zu einer großen Enttäuschung über seine Leistungsfähigkeit. Muss aber die Machtanalytik Foucaults unbedingt zur solchen negativen Folge führen? Kann man nicht im Gegenteil eine positive Bewertung der Leistungsfähigkeit des Verfassungsstaates von seiner postmodernen Machtanalytik her ableiten? Hinsichtlich dieser Frage liegt der vorliegenden Arbeit eher ein Optimismus zugrunde, und es wird versucht, eine Rekonstruktion des Verfassungsstaates insbesondere im Anschluss an Foucaults Machtanalytik vorzunehmen. Die entsprechenden Diskussionen sollten aber zunächst vom folgenden Thema ausgehen, wo der Verfassungsstaat in Foucaults Machtanalytik lokalisiert ist. 20 21 22 DM, S. 38. VG, S. 44, 52. Vgl. Gouv, S. 64. 7 Erster Abschnitt Die Lokalisierung des Verfassungsstaates in Foucaults Machtanalytik Kapitel 1 Einführung in die Machtanalytik Foucaults A. Drei Machtebenen von strategischen Machtspielen, Herrschaftszuständen und Regierungstechnologien Für Foucault ist die Macht weder das Böse noch eine Substanz, die wie Reichtum bzw. ein Gut von einer Gruppe von Leuten oder einer Klasse besessen werden kann. 1 Sie ist nicht mit der Kategorie der Souveränität zu erfassen und darum nicht im Staatsapparat lokalisiert.2 Die Macht ist Foucaults späterer Meinung nach vielmehr „nur ein bestimmter Typ von Beziehungen zwischen Individuen“, in denen es „eine Handlungsweise“ gibt, welche „nicht direkt und unmittelbar auf die anderen einwirkt, sondern eben auf deren Handeln“. Das heißt: Die 1 2 Vgl. FS, S. 25; MM, S. 114f.; VG, S. 38; KpV, S. 66; SM, S. 251; Flive, S. 416. Vgl. auch „What I am attentive to is the fact that every human relation is to some degree a power relation. We move in a world of perpetual strategic relations. Every power relation is not bad in itself, but it is a fact that always involves danger.“ PPC, S. 168. Nach der Meinung von Foucault formuliert man die Macht auf der Rechten immer in Begriffen von Verfassung, Souveränität usw., d.h. in juristischen Termini, und auf Seiten des Marxismus eher in Begriffen des Staatsapparats. Vgl. StW, S. 59. Diesbezüglich sagt Foucault in einem Interview: „One impoverishes the question of power if one poses it solely in terms of legislation and constitution, in terms of solely of the state and the state apparatus. Power is quite different from and more complicated, dense and pervasive than a set of laws or a state apparatus.” PK, S. 158. Dazu sagt Foucault weiter: „Das Problem auf den Staat bezogen stellen, heißt nach wie vor es im Sinne von Souverän und Souveränität stellen, also in Kategorien des Gesetzes. Beschreibt man all diese Erscheinungen der Macht in ihrer Abhängigkeit vom Staatsapparat, so heißt dies, sie im wesentlichen in ihrer repressiven Funktion begreifen: das Heer als Macht des Todes, Polizei und Justiz als Strafinstanzen usw. Ich will nicht sagen, dass der Staat nicht wichtig ist; was ich sagen will, ist, dass die Machtverhältnisse und infolgedessen die Analyse, der man sie unterziehen muss, über den Staat hinausgehen müssen.” DM, S. 38f. Vgl. auch MM, S. 110, 114-116. Diese Meinung Foucaults, dass man bei der Machtanalyse den Staat umgehen sollte, wird später revidiert, nachdem er die These der Gouvernementalisierung des Staates aufgestellt hat. Zur Diskussion dazu siehe Kapitel 3, D. II. 9 Eigenart der Macht, oder genauer die der Machtverhältnisse, ist nämlich die Einwirkung eines Handelns „auf ein Handeln, auf mögliche oder wirkliche, künftige oder gegenwärtige Handlungen“.3 Demnach gehören die Machtverhältnisse laut Foucault eher zum Problem der „Regierung“ (Gouvernement), die in einem sehr weiten Sinne verstanden werden sollte. Das Wort Regierung bezieht sich nach Foucault nicht nur auf politische Strukturen und auf die Verwaltung der Staaten, sondern auch weitgehend auf die Weise, wie Individuen oder Gruppen gelenkt werden. Dazu sagt er: „Das Problem der Regierung bricht im 16. Jahrhundert gleichzeitig anlässlich sehr unterschiedlicher Fragen und unter vielfältigen Aspekten hervor. Zum Beispiel das Problem des Regierens seiner selbst. Die Rückkehr zum Stoizismus dreht sich im 16. Jahrhundert um die Reaktualisierung des Problems: »Wie sich selbst regieren?« Oder auch das Problem, die Seelen und die Lebensführungen zu regieren – das Problem, mit dem es das katholische oder protestantische Pastorat zu tun hatte. Oder das Problem, die Kinder zu regieren, die große Problematik der richtigen Erziehung, wie sie im 16. Jahrhundert auftaucht und sich entwickelt. Und schließlich – doch vielleicht nur an letzter Stelle – die Regierung der Staaten durch die Fürsten.“4 Demnach gibt es in Wirklichkeit verschiedene Praktiken der Regierung, zum Beispiel: das „Regiment der Kinder, der Seelen, der Gemeinden, der Familien, der Kranken. Es deckte nicht bloß eingesetzte und legitime Formen der politischen oder wirtschaftlichen Unterwerfung ab, sondern auch mehr oder weniger bedachte und berechnete Handlungsweisen, die dazu bestimmt waren, auf die Handlungsmöglichkeiten anderer Individuen einzuwirken. Regieren heißt also in diesem Sinne, das Feld eventuellen Handelns der anderen zu strukturieren.“5 In diesen Macht- bzw. Regierungsverhältnissen versuchen zwar die einen, das Verhalten der anderen zu lenken und zu bestimmen. Die Machtverhältnisse zwischen Regierenden und Regierten sind aber nicht ein für allemal festgelegt. Sie sind vielmehr „beweglich, umkehrbar und instabil“. Die Machtverhältnisse sind daher zu verändern und zu korrigieren.6 Denn eigentlich gelten die Machtverhältnisse in Foucaults Augen stets als „strategische Spiele“, „in denen die einen das Verhalten der ande3 4 5 6 10 KpV, S. 66; SM, S. 254. Gouv, S. 41f.; vgl. auch SM, S. 255; WK, S. 10f. SM, S. 255. Vgl. FS, S. 11, 19f., 26f. ren zu bestimmen versuchen, worauf die anderen mit dem Versuch antworten, sich darin nicht bestimmen zu lassen oder ihrerseits versuchen, das Verhalten der anderen zu bestimmen“.7 Der Schlüssel zur Gestaltung dieser strategischen Spiele liegt nämlich in der Freiheit des Subjekts.8 Dazu sagt Foucault: „Wenn es in jedem gesellschaftlichen Feld Machtbeziehungen gibt, dann deshalb, weil es überall Freiheit gibt“.9 Es bedarf aber auf der regierten Seite nicht nur der widerspenstigen Freiheit, damit die vorhandenen Machtbeziehungen geändert werden können. Die regierende Seite braucht auch die Freiheit, über bestimmte Strategien und gewisse Instrumente zu verfügen, um die Freiheit der anderen zu kontrollieren, zu bestimmen und zu begrenzen. Mit anderen Worten: „Macht und Freiheit stehen sich also nicht in einem Ausschließungsverhältnis gegenüber (wo immer Macht ausgeübt wird, verschwindet die Freiheit), sondern innerhalb eines sehr viel komplexeren Spiels: in diesem Spiel erscheint die Freiheit sehr wohl als die Existenzbedingung von Macht (sowohl als ihre Vorraussetzung, da es der Freiheit bedarf, damit Macht ausgeübt werden kann, wie auch als ihr ständiger Träger, denn wenn sie sich völlig der Macht, die auf sie ausgeübt wird, entzöge, würde auch diese verschwinden und dem schlichten und einfachen Zwang der Gewalt weichen); aber sie erscheint auch als das, was sich nur einer Ausübung von Macht entgegenstellen kann, die letztendlich darauf ausgeht, sie vollkommen zu bestimmen. Das Machtverhältnis und das Aufbegehren der Freiheit sind also nicht zu tren7 8 9 FS, S. 25; vgl. auch KpV, S. 66; SM, S. 251. Außerdem sagt Foucault in einer Talk Show: „Relations of power are strategic relations. Every time one side does something, the other one responds by deploying a conduct, a behaviour that counter-invests it, tries to escape it, diverts it, turns the attack against itself, etc. Thus nothing is ever stable in these relations of power.“ Flive, S. 144. Vgl. SM, S. 255. FS, S. 20. Im Vergleich zu dieser „handlungstheoretischen“ Auffassung von Macht, welche die Freiheit des handelnden Subjekts voraussetzt, ist Foucaults frühe Machtanalytik nach Hinrich Fink-Eitel vielmehr „kräftetheoretisch“ orientiert und geht von der „Vielfältigkeit von Kraftverhältnissen“ aus, in denen es zwar überall unaufhörliche Kämpfe und Auseinandersetzungen gibt, aber keinen Platz für die Freiheit des Subjekts. Vgl. Fink-Eitel, Michel Foucault zur Einführung, 3. Aufl., Hamburg 1997, S. 100f. Vgl. auch WW, S. 113. Im Gegensatz zu dieser Interpretation von Fink-Eitel versucht Gilles Deleuze, von den Kraftverhältnissen her die Wirkungsweise der Handlungen zu verstehen. Demnach sieht Deleuze in der Einwirkung einer Handlung auf andere Handlungen ein dauerndes Kräfteverhältnis zwischen Spontaneität und Rezeptivität, nämlich: affizieren und affiziert werden. Vgl. Deleuze, Foucault, Frankfurt a.M. 1987, S. 99-101. 11 nen […]; im Zentrum der Machtbeziehung stecken die Widerspenstigkeit des Wollens und die Intransitivität der Freiheit, die diese Machtbeziehung ständig »provozieren«. Statt von einem wesentlichen »Antagonismus« sollte man besser von einem »Agonismus« sprechen, von einem Verhältnis, das zugleich gegenseitige Anstachelung und Kampf ist, weniger von einer Opposition Kopf an Kopf, die sie einander gegenüber blockiert, als von einer fortwährenden Provokation.“10 Demzufolge befinden sich diese strategischen Machtbeziehungen immer in einem Zustand der Auseinandersetzung, der durch zwei diametrale Kräfte gebildet wird. Während die eine Kraft mit Hilfe der Regierungstechnologien die andere lenkt, versucht die andere immer eine Art der Gegenkunst zu finden, um nicht regiert zu werden. 11 Diese Gegenkunst ist laut Foucault die Kritik, die als die Kunst der freiwilligen Unknechtschaft, der reflektierten Unfügsamkeit und der Entunterwerfung zu verstehen ist.12 Wenn es stimmt, dass es auf beiden Seiten innerhalb der agonalen Machtverhältnisse wenigstens eine gewisse Form der Freiheit gibt, dann 10 11 12 12 SM, S. 256. Vgl. ME, S. 98, 118. Vgl. auch „[W]hat I mean by power relations is the fact that we are in a strategic situation towards each other. For instance, being homosexuals we are in a struggle with the government, and the government is in a struggle with us. When we deal with the government, the struggle, of course, is not symmetrical, the power situation is not the same, but we are in this struggle, and the continuation of this situation can influence the behavior or nonbehavior of the other. So we are not trapped. We are always in this kind of situation. It means that we always have possibilities, there are always possibilities of changing the situation. We cannot jump outside the situation, and there is no point where you are free from all power relations. But you can always change it. So what I’ve said does not mean that we are always trapped, but that we are always free. Well anyway, that there is always the possibility of changing.“ Flive, S. 386. Vgl. WK, S. 12-15; Regina Benjowski, Philosophie als Werkzeug, in: Wilhelm Schmid (Hrsg.), Denken und Existenz bei Michel Foucault, Frankfurt a.M. 1991, S. 177. Die Kritik ist für Foucault als Grenzhaltung zu verstehen. Dabei geht es nach Foucault nicht um ein Verhalten der Ablehnung. „Wir müssen an den Grenzen sein. Kritik besteht gerade in der Analyse der Grenzen und ihrer Reflexion. Aber wenn es die kantische Frage war zu wissen, welche Grenzen die Erkenntnis nicht überschreiten darf, scheint es mir, dass die kritische Frage heute in eine positive gekehrt werden muss: Welchen Ort nimmt in dem, was uns als universal, notwendig und verpflichtend gegeben ist, das ein, was einzig, Kontingent und das Produkt willkürlicher Beschränkungen ist? Alles in allem geht es darum, die in Form der notwendigen Begrenzung ausgeübte Kritik in eine praktische Kritik in Form einer möglichen Überschreitung zu transformieren.“ WA, S. 48. ist es logisch und verstehbar, wieso Foucault zwischen den „strategischen Spielen zwischen Freiheiten“ und den freiheitsmangelnden „Herrschaftszuständen“ unterscheiden muss. Gemäss Foucaults Definition sind die Herrschaftszustände, die das sind, was man üblicherweise Macht nennt, derart fest geworden, dass sie permanent unsymmetrisch sind und der Freiheitsspielraum äußerst beschränkt ist.13 Das heißt: „In einem solchen Zustand gibt es keine Freiheitspraktiken oder nur auf einer Seite, oder sie sind extrem eingeschränkt und begrenzt.“ Die Herrschaftszustände, die vielmehr als eine spezifische Form, ein Sonderfall oder ein Extrempunkt von Machtbeziehungen gelten, sind also „blockiert und erstarrt, statt beweglich zu sein“. „Und sie gestatten denen, die an den Machtbeziehungen teilhaben, nicht, eine Strategie zu verfolgen, mit der sie diese verändern können.“14 Demnach ist die Herrschaft oder der Herrschaftszustand, der manchmal von Foucault auch als „die politische Macht“ bezeichnet wird15, vielmehr die Umschreibung jener juridischen souveränen Macht, in deren Ausübung vor allem die dauernden, einseitigen Unterwerfungsbeziehungen zu sehen sind.16 Der entscheidende Wendepunkt innerhalb der Machtverhältnisse zwischen den strategischen Spielen und den freiheitsmangelnden Herrschaftszuständen liegt nach Foucault in den Regierungs-, Macht- bzw. Herrschaftstechnologien, welche die Lenkung der Menschen untereinander gewährleisten. Die Analyse dieser Techniken ist für Foucault erforderlich, nicht nur, weil sich häufig mit ihrer Hilfe die Herrschaftszustände errichten und aufrechterhalten lassen, sondern auch, weil die strategischen Machtspiele aufgrund der Technologieweisen, „wie regiert werden, durch wen, bis zu welchem Punkt, zu welchen Zwecken, durch welche Methoden?“, unaufhörlich weiterentwickelt werden. 17 Die Wichtigkeit dieser Regierungs- oder Machttechnologien, die zunächst die juridische Konzeption der Macht umgehen18 und dann gemeinsam mit 13 14 15 16 17 18 FS, S. 20, 26. Vgl. FS, S. 11. Vgl. auch Thomas Lemke, Gouvernementalität, in: Marcus S. Kleiner (Hrsg.), Michel Foucault. Eine Einführung in sein Denken, Frankfurt a.M. 2001, S. 118. Vgl. FS, S. 27. Vgl. Markus Schroer, Ethos des Widerstands. Michel Foucaults postmoderne Utopie der Lebenskunst, in: Rolf Eickelpasch/Armin Nassehi (Hrsg.), Utopie und Moderne, Frankfurt a.M. 1996, S. 154. Vgl. FS, S. 26; Gouv, S. 42; vgl. auch Lemke (Fn. 14), S. 120f. Dazu sagt Foucault: „Ich will versuchen, eine Analyse der Macht zu entwickeln oder besser: die Richtung zu zeigen, in der man eine Analyse der Macht versu13 den anderen zwei Ebenen von strategischen Spielen und Herrschaftszuständen die ganze Foucaultsche Machtanalytik bilden, ist im folgenden Zusammenhang zu sehen: „Es ist klar, dass es nicht darum geht, die »Macht« nach ihrem Ursprung, ihren Prinzipien oder legitimen Grenzen zu begreifen; sondern es handelt sich darum, das Verfahren und die Techniken zu studieren, die in verschiedenen institutionellen Kontexten benutzt werden, um auf das Verhalten von Individuen – als einzelne oder in Gruppen – einzuwirken, es zu formen, zu lenken, zu verändern, um ihrer Untätigkeit Sinn zu geben oder sie in umfassende Strategien einzubinden. Diese Strategien sind ebenso vielfältig in ihrer Form wie in den Stätten ihrer Anwendung; sie sind aber auch verschieden in den Verfahren und den Techniken, derer sie sich bedienen. Diese Machtbeziehungen charakterisieren die Art und Weise, in der Menschen voneinander »regiert« werden, und ihre Analyse zeigt, wie durch bestimmte Formen der »Regierung« der Verrückten, Kranken, Kriminellen etc. das verrückte, kranke, kriminelle Subjekt objektiviert wird. Eine solche Analyse will also nicht behaupten, dass es der Missbrauch dieser oder jener Macht gewesen ist, der die Verrückten, Kranken oder Kriminellen aus dem Nichts geschaffen hat; sondern dass die unterschiedlichen und besonderen Formen der »Regierung« von Individuen in den verschiedenen Modi der Objektivierung des Subjekts bestimmend gewesen sind.“19 B. Die doppelgesichtige Machttechnologie des Lebens Bevor Foucaults Machtanalyse sich 1978 zum Regierungsproblem hinwendet, werden zwei Machttechnologien von ihm bereits thematisiert: die mikrophysikalische, individualisierende Disziplinartechnologie des Körpers und die makrophysikalische, massenkonstituierende Regulierungstechnologie der Bevölkerung. Während letztere im Grunde auf die Bevölkerung zielt und ständig um ihre Sicherheit bemüht ist, konzentriert sich erstere auf den individuellen Körper, um einerseits die winzigsten Elemente des Körpers zu überwachen und zu kontrollieren, andererseits Leistungen und Fähigkeiten der Individuen zu steigern und 19 14 chen könnte, die nicht einfach eine juristische, negative Auffassung der Macht wäre, sondern die Macht als Technologie begreift.“ MaM, S. 23. Aub, S. 702. zu vervielfältigen.20 Nach Foucault vollzogen sich die Disziplinierungstechnologie und die durch sie hergestellte Anatomo-Politik seit dem 17. Jahrhundert vor allem „auf lokaler Ebene, in intuitiven, empirischen, bruchstückhaften Formen, und im begrenzten Rahmen von Institutionen wie der Schule, dem Hospital, der Kaserne, der Werkstatt usw.“21 Im Vergleich dazu wird die Bio-Politik durch die Regulierungstechnologie ausgelöst, die als die „Anpassung an die globalen Phänomene, an die Bevölkerungsphänomene mitsamt der biologischen und biosoziologischen Prozesse von Menschenmassen“ gilt. 22 Um diese umfassenden und vielfältigen Bevölkerungsphänomene zu regulieren, ergeben sich nach Foucault „selbstverständlich komplexe Organe zur Koordinierung und Zentralisierung“. 23 Diese komplexen Organe konstituieren nämlich den Staat. Dementsprechend gibt es also zwei Serien, die genau die zwei unterschiedlichen Verfahrensorientierungen einmal von der Disziplin und einmal von der Regulierung darstellen, nämlich die Serie „Körper – Organismus – Disziplin – Institutionen“ und die Serie „Bevölkerung – biologische Prozesse – Regulierungsmechanismen – Staat“.24 Trotz ihrer unterschiedlichen Machtfunktionen sind die Disziplinierungstechnologie und die Regulierungstechnologie nach Foucault in den meisten Fällen miteinander verknüpft.25 Zum Beispiel sind diese zwei Machttechnologien im Bereich der Sexualität durch die frühneuzeitliche Verwaltung der „Polizei“ vereint, welche zugleich ein Disziplinar- und ein Staatsapparat ist26 : Zum einen wird körperliches Verhalten durch 20 21 22 23 24 25 26 Vgl. MaM, S. 31, 33f.; VG, S. 280, 288; WW, S. 173f. VG, S. 289. VG, S. 289. VG, S. 280, 288f.; vgl. auch WW, S. 166; MaM, S. 34. VG, S. 289. Vgl. VG, S. 279. Vgl. VG, S. 289; WW, S. 36f. Die Aufgabe der frühneuzeitlichen Polizei liegt nicht ausschließlich in der Aufrecherhaltung der öffentlichen Ruhe und Sicherheit sowie der Gefahrenabwehr, wie man diese der heutigen im engen Sinne versteht. Seit dem frühen 16. Jahrhundert verbindet sich die Polizei eng mit der „guten Ordnung“ und versucht, nicht nur das öffentliche, sondern auch das private Leben zu reglementieren. Nach Gerhard Oestreich bedeutet die damalige Polizei „so viel wie Regiment, das ein gut geordnetes städtisches oder territoriales Gemeinwesen bewirken soll“. Vgl. Gerhard Oestreich, Strukturprobleme der frühen Neuzeit, S. 367-370. Demnach befindet sich die Machtfunktion der Polizei nicht nur in der Unterdrückung der Unordnung durch strikte Verbote, um Ruhe und Ordnung herzustellen. Sie kümmert sich auch um das Glück und die Wohlfahrt der Indivi15 vielfältige individualisierende Disziplinarkontrollen überwacht und kontrolliert, zum anderen die Förderung oder Einschränkung der Fortpflanzung durch ökonomische Kalkulation reguliert.27 Genau aufgrund dieser zwei sich nicht wechselseitig ausschließenden und miteinander verbindenden Machttechnologien eröffnet sich die neue Epoche der „Macht zum Leben“ bzw. der „Bio-Macht“. Die beiden Machttechnologien werden darum von Foucault zugleich als 28 Zusammenfassend sagt „Lebens-Macht-Technologien“ bezeichnet. 27 28 16 duen. Sie ist also zugleich eine individualisierende Disziplinarinstitution und eine Regierungstechnik der Bevölkerung. Erst mit dem Vordringen naturrechtlicher Vorstellungen wurde diese Aufgabe der Polizei auf die Funktionen der Gefahrenabwehr und der Sicherung der öffentlichen Ruhe und Ordnung beschränkt. Diese Aufgabenverschiebung ist vor allem im preußischen Allgemeinen Landrecht § 10 II 17 zu sehen: „Die nöthigen Anstalten zur Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung, und zur Abwendung der dem Publico, oder einzelnen Mitgliedern desselben, bevorstehenden Gefahr zu treffen, ist das Amt der Polizey.“ Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794. Textausgabe. Frankfurt a.M. u. Berlin 1970, S. 620. Vgl. auch Reinhold Zippelius, Kleine deutsche Verfassungsgeschichte, 3. Aufl., München 1996, S. 106; ders., Allgemeine Staatslehre, S. 276; Gerhard Köbler, Deutsche Rechtsgeschichte. Ein systematischer Grundriss, 5. Aufl., München 1996, S. 151; Reinhard Popp, Disziplinierung durch Polizeirecht: Die Tauf- und Hochzeitsordnungen für die Stadt Leutershausen in der Neuzeit, Diss., Univ. Regensburg 1995, S. 7-14. Vgl. WW, S. 173f.; VG, S. 289-292. Wie diese zwei Machttechnologien zugleich auf die Sexualität ausgeübt werden, ist in der folgenden Zusammenfassung von Foucault zu sehen: „Das Geschlecht ist im Grunde genau in die Gelenkstelle zwischen der individuellen Disziplinierung des Körpers und der Regulierung der Bevölkerung gefügt. Vom Geschlecht aus kann die Überwachung der Individuen gesichert werden, und es ist zu verstehen, warum im 18. Jahrhundert und gerade in den Internatsschulen die Sexualität der Heranwachsenden zu einem medizinischen, einem moralischen, fast zu einem politischen Problem ersten Ranges wurde, denn durch die Kontrolle der Sexualität hindurch – und unter diesem Vorwand – konnte man die Heranwachsenden in ihrem ganzen Leben, in jedem Augenblick, selbst im Schlaf überwachen. Das Geschlecht wird also ein Instrument der »Disziplinierung«, es wird zu einem der wichtigsten Elemente der Anatomo-Politik, von der ich gesprochen habe; andererseits sichert das Geschlecht aber auch die Reproduktion der Bevölkerung, und mit dem Geschlecht, mit einer Politik des Geschlechts ist es möglich, die Beziehung zwischen Geburten- und Sterblichkeitsrate zu verändern. In jedem Fall gliedert sich die Politik des Geschlechts in jene Lebenspolitik ein, die im 19. Jahrhundert so wichtig werden wird. Das Geschlecht liegt am Berührungspunkt zwischen Anatomo-Politik und Bio-Politik, am Schnittpunkt von Disziplin und Regulierung, und in dieser Funktion ist es am Ende des 19. Jahrhunderts eines der wichtigsten politischen Mittel geworden, um aus dem Geschlecht eine Produktionsmaschine zu machen.“ MaM, S. 34f. Vgl. WW, S. 181. Foucault hierzu: „Konkret hat sich die Macht zum Leben seit dem 17. Jahrhundert in zwei Hauptformen entwickelt, die keine Gegensätze bilden, sondern eher zwei durch ein Bündel von Zwischenbeziehungen verbundene Pole. [...] Die Disziplinen des Körpers und die Regulierungen der Bevölkerung bilden die beiden Pole, um die herum sich die Macht zum Leben organisiert hat. Die Installierung dieser großen doppelgesichtigen – anatomischen und biologischen, individualisierenden und spezifischen, auf Körperleistungen und Lebensprozesse bezogenen – Technologie charakterisiert eine Macht, deren höchste Funktion nicht mehr das Töten sondern die vollständige Durchsetzung des Lebens ist. Die alte Mächtigkeit des Todes, in der sich die Souveränität symbolisierte, wird nun überdeckt durch die sorgfältige Verwaltung der Körper und die rechnerische Planung des Lebens.“29 Also: „Früher hat es nur Untertanen gegeben, Recht-Subjekte, deren Güter, auch deren Leben im übrigen, man entziehen konnte. Jetzt gibt es Körper und Bevölkerung. Die Macht ist materialistisch geworden. Sie hört auf, wesentlich juristisch zu sein. Sie muss mit jenen reellen Dingen umgehen, die der Körper, das Leben sind.“30 Diese große doppelgesichtige Machttechnologie des Lebens wird aber seit Foucaults Brennpunktverschiebung zum Regierungsproblem hin erneut behandelt.31 Die Macht- bzw. Herrschaftstechnologie wird nun 29 30 31 WW, S. 166f. Vgl. auch VG, S. 287f. MaM, S. 34. Im Vergleich zu seinen früheren Machtuntersuchungen, die sich überwiegend auf lokale Praktiken und spezifische Institutionen wie das Krankenhaus oder das Gefängnis richteten, ohne den Staat selbst als Resultante gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse zu begreifen, gilt Foucaults späteres (seit dem Jahr 1978) Zurückgreifen auf die „Genealogie des modernen Staates“, die in einer allgemeinen Ökonomie der Macht, und zwar im Regierungsdenken (Gouvernementalität), neu dargestellt wird, eher als „Weiterentwicklung“ und „Korrektur“ seiner Machtanalytik. Vgl. Lemke (Fn.14), S. 108f.; ders., Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität, Hamburg 1997, S. 151f. Vgl. auch StW, S. 16. Trotzdem meint Colin Gordon, dass es noch keine methodische oder materielle Diskontinuität bei dieser Richtungswende in Foucaults Machtanalytik gibt. Vgl. Gordon, Governmental Rationality: An Introduction, in: Colin Gordon/Graham Burchell/Peter Miller (Hrsg.), The Foucault Effect. Studies in Governmentality. With two Lectures by and an Interview with Michel Foucault, Chicago 1991, S. 4. Vgl. dazu auch Mitchell Dean, Critical and Effective Histories: Foucault’s Methods and Historical Sociology, London 1994, S. 179; Andrew Barry/Thomas Osborne/Nikolas Rose, Introduction, in: Barry/Osborne/Rose (Hrsg.), Foucault and Political Reason. Liberalism, Neo-Liberalism and Rationalities of Government, Chicago 1996, S. 7f.; James 17 zugleich als Regierungstechnologie bezeichnet, die außerdem mit Produktionstechnologie, Kommunikationstechnologie und 32 Zu einem Teil der Selbsttechnologie Seite an Seite steht. Regierungstechnologie gehört zwar noch die individualisierende Machttechnologie der Disziplin, die vor allem im institutionellen oder lokalen Rahmen ausgeübt wird.33 Aber über die massenkonstituierende Regulierungstechnologie wird von Foucault weniger gesprochen. Die komplexe Arbeit, die zur Regulierungstechnologie gehört und erst mit Hilfe des Staates zu erledigen ist, wird nun durch den anderen Machttyp der sogenannten Gouvernementalität übernommen. Diese Machtform der Gouvernementalität richtet sich zwar noch auf die Bio-Politik, das heißt auf die Sicherheit der Bevölkerung.34 Aber die Gouvernementalität ist nicht bloß als Technologie der Regierung zu 32 33 34 18 Miller, Die Leidenschaft des Michel Foucault, Köln 1995, S. 439. Hier gibt Foucault zu, dass seine Klassifikation in Produktions-, Kommunikations- und Herrschaftstechnologie durch drei Haupttypen von Techniken von Habermas inspiriert wird. Über die Bedeutung dieser verschiedenen Technologien siehe FL, S. 35; TS, S. 26; SM, S. 252. Aber Foucaults Meinung nach sollte es noch den vierten Typ von Technik geben, das heißt: „Techniken, die es Individuen ermöglichen, mit eigenen Mitteln bestimmte Operationen mit ihren eigenen Körpern, mit ihren eigenen Seelen, mit ihrer eigenen Lebensführung zu vollziehen, und zwar so, dass sie sich selber transformieren, sich selber modifizieren und einen bestimmten Zustand von Vollkommenheit, Glück, Reinheit, übernatürlicher Kraft erlangen.“ Das ist also die Selbsttechnologie. FL, S. 35f. Außerdem meint Foucault, dass diese vier Typen der Techniken immer ineinander verschachtelt sind, sich gegenseitig stützen und als Werkzeug benutzen. Dementsprechend werden die Machtbeziehungen nicht nur ausschließlich durch die Machttechnologien bestimmt, sondern auch in gewisser Weise durch die anderen drei verschiedenen Technologien gefördert. Zur ausführlichen Erklärung hierzu siehe TS, S. 27; FS, S. 27; BH, S. 203f.; WA, S. 51. Diesbezüglich sagt Foucault: „Als ich Asyle, Gefängnisse usw. studierte, insistierte ich vielleicht zu sehr auf den Herrschaftstechniken. Was wir die Disziplin nennen, ist etwas wirklich Wichtiges in dieser Art Institution. Aber es ist nur ein Aspekt der Kunst der Menschenregierung in unseren Gesellschaften.“ FL, S. 36. Vgl. auch BH, S. 204. Von der Gouvernementalität her betrachtet ist die Bio-Politik nun mehr und mehr auf die politisch-ökonomische Rationalität gerichtet. Zu dieser Bio-Politik sagt Foucault: „By that I mean the endeavor, begun in the eighteenth century, to rationalize the problems presented to governmental practice by the phenomena characteristic of a group of living human beings constituted as a population: health, sanitation, birthrate, longevity, race…We are aware of the expanding place these problems have occupied since the nineteenth century, and of the political and economic issues they have constituted up to the present day.“ BB, S. 73. verstehen. In Foucaults Augen erscheint die Gouvernementalität vielmehr zugleich als die Denkweise von der politisch-ökonomischen Rationalität und als der entsprechende Verlauf der Rationalisierung in Praktiken. Davon ausgehend gilt die Gouvernementalität für Foucault nämlich als „die Gesamtheit, gebildet aus den Institutionen, den Verfahren, Analysen und Reflexionen, den Berechnungen und den Taktiken, die es gestatten, diese recht spezifische und doch komplexe Form der Macht auszuüben, die als Haupzielscheibe die Bevölkerung, als Hauptwissensform die politische Ökonomie und als wesentliches technisches Instrument die Sicherheitsdispositive hat“.35 Bei ihrer globalen Führung der Bevölkerung ist der Machttyp der Gouvernementalität zwar noch massenkonstituierend orientiert wie die Regulierungstechnologie. Dies bedeutet aber nicht, dass in den Prozessen der Gouvernementalisierung keine Spuren der individualisierenden Form der Disziplinarmacht zu finden sind. Im Gegenteil ist die Disziplin in jenen Prozessen kaum eliminiert. Wie Foucault erwähnt: „Doch auch die Disziplin war niemals wichtiger und wurde niemals höher bewertet als von dem Zeitpunkt an, da man versuchte, die Bevölkerung zu führen. Die Bevölkerung zu führen heißt nicht, allein die kollektive Masse an Phänomenen oder die Bevölkerung allein auf der Ebene ihrer globalen Befunde zu führen; die Bevölkerung zu führen heißt, sie gleichermaßen in der Tiefe, in der Feinheit und im Detail zu führen.“36 Demnach muss die Gouvernementalität bei der Führung der Bevölkerung eng mit der Disziplin kooperieren. Durch die Kooperation mit der Disziplin werden zwar zugleich bestimmte Disziplinarmachtwirkungen wie beispielweise die Erhöhung der körperlichen Fügsamkeit, Arbeitskraft und Produktivität ausgelöst. Aber was durch die gouvernementale Führung der Bevölkerung mit Hilfe der Disziplin am meisten angestrebt wird, ist die Versicherung des Wohls, des Glücks und der Lebensqualität der Menschen. Da die individualisierend orientierte Machtfunktion der Disziplin nun als Taktik in die Gouvernementalität einbezogen wird, geht es bei der gouvernementalen Führung der Bevölkerung daher nicht ausschließlich um eine kollektive Masse von Menschen, die zusammenleben, sondern auch um jedes in der Gesellschaft lebende, arbeitende, wirtschaftende Individuum, damit das menschliche Leben zugleich massenkonstituierend und individualisierend 35 36 Gouv, S. 64. Gouv, S. 63. 19 gut versorgt, gesichert und regiert werden kann.37 Demzufolge ist dieser zugleich massenkonstituierend und individualisierend orientierte Machttyp der Gouvernementalität zu einem ganz eigentümlichen Machttyp der Kombination von „omnes et singultim“ geworden, der laut Foucaults Geschichte der Gouvernementalität vor allem aus der sogenannten Pastoralmacht entstand, welche sich nicht nur um die Gemeinde insgesamt, sondern auch um jedes einzelne Individuum während seines ganzen Lebens kümmerte. Aber im Vergleich zum „Seelenheil in der anderen Welt“ strebt die Gouvernementalität nach dem „Heil in dieser Welt“, das nach Foucault „Gesundheit, Wohlergehen (das heißt: ausreichende Mittel, Lebensstandard), Sicherheit, Schutz gegen Unfälle“ usw. beinhaltet. 38 Es bedarf dementsprechend eines sehr komplexen Regierungssystems, das sowohl die alte Machttechnik der Pastoren als auch die neue der Disziplin als Taktik des Regierens übernehmen sollte und daher fähig ist, immer raffinierter werdende Individualisierungstechniken und Regulierungsverfahren zu entwickeln, um die schwierige säkulare Aufgabe des Wohls für alle und jeden einzelnen zu erfüllen. Dieses Regierungssystem, das nicht allein bei der massenkonstituierenden Wirkung der Bio-Regulierung bleibt, sondern sich in „einer zugleich individualisierenden und totalisierenden Form der Macht“ präsentiert, ist nämlich der „moderne Staat“, der von Foucault nun als „eine neue Form der Pastoralmacht“ angesehen wird.39 37 38 39 20 Vgl. PTI, S. 182. Dazu sagt Lemke: „Michel Foucault hat in seinen Arbeiten die Biomacht als ein spezifisches Charakteristikum der modernen Gouvernementalität identifiziert. [...] Foucault unterschied historisch und analytisch zwei Dimensionen dieser »Macht zum Leben«: die Disziplinierung des individuellen Körpers auf der einen und die soziale Regulation des Bevölkerungskörpers auf der anderen Seite.“ Thomas Lemke, Die Regierung der Risiken. Von der Eugenik zur genetischen Gouvernementalität, in: Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hrsg.), Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt a.M. 2000, S. 257. SM, S. 248f.; KpV, S. 58; Gouv, S. 66f. Nach Foucault zielt die Pastoralmacht in erster Linie auf die Sicherung des individuellen Seelenheils in der anderen Welt. Die Pastoralmacht ist für Foucault durch das Hirten-Herde-Verhältnis zu verstehen, das heißt: „Diese Form der Macht ist auf das Seelenheil gerichtet (im Gegensatz zur politischen Macht). Sie ist selbstlos (im Gegensatz zum Prinzip der Souveränität) und individualisierend (im Gegensatz zur juridischen Macht). Sie erstreckt sich über das gesamte Leben und begleitet es ununterbrochen; sie ist mit einer Produktion von Wahrheit verbunden, der Wahrheit des Individuums selbst.“ SM, S. 248. Vgl. KpV, S. 58-62; StW, S. 17-25; FCF, S. 239. Vgl. SM, S. 248f. Die ausführliche Diskussion zum Verhältnis zwischen der gouvernementalen Funktion des modernen Staates und der Pastoralmacht siehe 3. C. Das Machtdreieck von Souveränität, Disziplin und Gouvernementalität Trotz dieser Betrachtung der Staatsmacht zugleich aus der Perspektive der Disziplin und der Gouvernementalität ist das Problem der Souveränität, die schon seit langem für den modernen Staat bezeichnend ist, keineswegs eliminiert. Durch das Auftauchen der Gouvernementalität wird die Begründung der Souveränität im Gegenteil sogar verschärft wie auch die Notwendigkeit, die Disziplinarmacht zu entwickeln. 40 Unter dieser Verschärfung durch die Gouvernementalität entwickelt sich die Souveränität mit ihrem summa legibus soluta potestas schließlich auch zu einer Taktik derselben, da sie als juristische und physische Garantie zugleich für die effektive Umsetzung der gouvernementalen Führung der Bevölkerung und der Disziplinierung der Individuen gilt. Dadurch ist nicht nur ein Machtdreieck aus Souveränität, Disziplin und Gouvernementalität entstanden. 41 Diese drei unterschiedlichen Machtverhältnisse, nämlich die Unterwerfung der Rechtssubjekte durch Gesetze, die Disziplinierung der Individuen und die Regulierung der Bevölkerung, sind außerdem noch am Ende gemeinsam unter dem Schirm staatlicher Institutionen ausgearbeitet, rationalisiert und zentrali- 40 41 Kapitel C., D. Vgl. Gouv, S. 62-64. Vgl. Gouv, S. 64. Zu diesem Machtdreieck meint Foucault: „Daher darf man die Dinge mitnichten als Ersetzung einer Gesellschaft der Souveränität durch eine Gesellschaft der Disziplin und anschließend einer Gesellschaft der Disziplin durch eine, sagen wir, Regierungsgesellschaft verstehen. In Wirklichkeit hat man ein Dreieck: Souveränität – Disziplin – gouvernementale Führung, dessen Hauptzielscheibe die Bevölkerung ist und dessen wesentliche Mechanismen die Sicherheitsdispositive sind.“ Ebd. Außerdem ist dieses Machtdreieck in der Tat eine weitgehende Ergänzung zu Foucaults früherem Machtparallelismus von Souveränität und Disziplin. Zu diesem Machtparallelismus sagt Foucault: „Ich glaube, dass der Prozess, der den Diskurs der Humanwissenschaften grundsätzlich ermöglicht hat, in der Parallel- oder Gegenüberstellung zweier Mechanismen und zweier Typen absolut heterogener Diskurse besteht: in der Organisation des Rechts rund um die Souveränität einerseits, im Mechanismus der von den Disziplinen ausgeübten Zwänge andererseits.“ Also: „Souveränität und Disziplin, Gesetzgebung, Recht der Souveränität und Disziplinarmechanismen sind die beiden absolut konstitutiven Bestandteile der allgemeinen Machtmechanismen unserer Gesellschaft.“ VG, S. 49f. Zur weiteren Erklärung des Unterschieds in den Machtfunktionen von Souveränität, Disziplin und Gouvernementalität nimmt Foucault die Themen von der Behandlung von Seuchen und Epidemien vom Mittelalter bis ins 18 Jahrhundert, der Stadtplanung und der Lebensmittelknappheit als Beispiele. Vgl. StW, S. 2-5, 7f.; Lemke (Fn.31), S. 188-194. 21 siert worden. Das, was Foucault als die „Etatisierung von Machtverhältnissen“ bezeichnet 42 , ist also die Vorraussetzung für die Entstehung des „Machtexzesses“ 43 , innerhalb dessen es die stete Korrelation zwischen einer wachsenden Individualisierung und einer immer stärker werdenden Totalisierung gibt und von dem die Menschen sowohl als Individuum als auch als Gattungswesen durchaus heimgesucht werden.44 Die Machtsteigerungen des absolutistischen Polizeistaates und des evolutionistischen, biologisch-medizinischen Staatsrassismus, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstand und vor allem im Nazistaat und sowjetischen Staat durchgeführt wurde, sind für Foucault Beispiel für die Raserei der Macht. Wie wird dieser Machtexzess von der Machtanalytik Foucaults her verstanden, und welche Rolle spielt der Verfassungsstaat in Hinsicht auf diesen? Diese Fragen werden in den folgenden Kapiteln weiter diskutiert. 42 43 44 22 Mit dieser Etatisierung von Machtverhältnissen möchte Foucault vor allem darauf hinweisen, „dass der Staat in den gegenwärtigen Gesellschaften nicht bloß eine der Formen und einer der Orte ist, sondern dass in gewisser Weise alle anderen Typen von Machtverhältnissen sich auf ihn beziehen“. „Aber dies rührt nicht daher, dass alles von ihm abstammt, sondern eher daher, dass sich eine stetige Etatisierung von Machtverhältnissen ergeben hat.“ SM, S. 258f. Bevor Foucault die These der Etatisierung von Machtverhältnissen durch die Gouvernementalität aufstellt, ist ihm das einschlägige Phänomen aber bereits bekannt. Zum Beispiel hat er „die Verstaatlichung des Biologischen“ bereits in seiner Vorlesung In Verteidigung der Gesellschaft im Jahr 1976 erwähnt. Er sagt: „Mir scheint, dass eines der grundlegenden Phänomene des 19. Jahrhunderts in dem bestand und noch besteht, was man die Vereinnahmung des Lebens durch die Macht nennen könnte: wenn Sie so wollen, eine Machtergreifung über den Menschen als Lebensweise, eine Art Verstaatlichung des Biologischen oder zumindest eine gewisse Tendenz hin zu dem, was man die Verstaatlichung des Biologischen nennen könnte.“ VG, S. 276. Die von Foucault abwechselnd gebrauchten Begriffe, wie etwa der „Machtexzess“, die „Machtsteigerung“ oder die „Raserei der Macht“, bezeichnen Foucault eigentlich eine „Krise der Regierung“. Während man danach fragt: „Für welche Machtsteigerungen, für welche Regierungsentfaltung, die umso unabwendbarer sind als sie sich auf Vernunft berufen, ist diese Vernunft selbst historisch verantwortlich?“, beginnt man bereits mit der Arbeit der „Kritik“, die als die „Kunst der Entunterwerfung“, oder anders die „Kunst der freiwilligen Unknechtschaft, der reflektierten Unfügsamkeit“, definiert wird. Vgl. WK, S. 15, 19f., 24; FS, S. 11, 19f., 25ff.; ME, S. 118-120; KpV, S. 58. Vgl. PTI, S. 186. Kapitel 2 Die Mikrophysik der Macht: Disziplin A. Auf der Suche nach einem anderen Typ der Macht Wie bereits im vorausgegangenen Kapitel erwähnt, ist die Disziplin, welche nach Foucault als die mikrophysikalische Machttechnologie gilt, schon seit dem 17. Jahrhundert im Rahmen der Schule, des Spitals, der Werkstätte, des Militärs, des Gefängnisses usw. eingeführt worden. Durch die Ausdehnung der Disziplinarmechanismen lässt sich nicht nur der gesamte Gesellschaftskörper allmählich in die Disziplinar- und Normalisierungsgesellschaft verwandeln. Vielmehr ist das Verblüffende, dass auch die erst am Ende des 18. Jahrhunderts entstehenden bürgerlichen Rechtssysteme des Verfassungsstaates heimlich durch dieselben Disziplinarmechanismen kolonisiert werden. Das ist also das unumgängliche Ergebnis der Ausweitung der Disziplinarmechanismen.1 Nach Foucault ist die mikrophysikalische Machttechnologie der Disziplin vor allem auf die Körper der Menschen gerichtet und bedient sich im Prinzip der Instrumente der hierarchischen Überwachung, der normierenden Sanktion und der individualisierenden Prüfung. 2 Durch 1 2 Die Ausweitung der Disziplinarmechanismen ist nach Foucault ebenfalls in der Disziplinierung des Wissens zu beobachten, welche durch vier Operationen durchgeführt wird. Es sind dies: die Auswahl (inklusive der Eliminierung und der Disqualifizierung), die Normalisierung, die hierarchische Klassifizierung und die pyramidale Zentralisierung. Vgl. VG, S. 207-216. Der ursprüngliche Gedanke dieser Disziplinierung des Wissens ist zwar schon in Foucaults Inauguralvorlesung Die Ordnung des Diskurses am Collège de France 1970 zu finden. (Nach der damaligen Meinung Foucaults gibt es vier Prozeduren der Kontrolle und Einschränkung des Diskurses, nämlich der Kommentar, der Autor, die Disziplinen – nicht im Sinne der Wissenschaften – und die Verknappung der sprechenden Subjekte. Vgl. OD, S. 17-27.) Aber der Text Die Ordnung des Diskurses und die darin dargelegten Kontrollverfahren desselben basieren noch auf der traditionellen juridischen Konzeption der Macht. Nach Foucault sollte man Die Ordnung des Diskurses als einen Text betrachten, der in einer „Übergangssituation“ geschrieben wurde. Seit er ab 1971 an Aktivitäten gegen die Strafjustiz teilgenommen hat, scheint ihm diese juridische Machtkonzeption inadäquat zu sein, und er fängt an, die Macht von Technologieformen her anstatt von Rechtsformen zu verstehen. Vgl. DM, S. 104f.; hierzu auch unten Fn.148. Vgl. ÜS, S. 220. Nach François Ewald gelten diese drei Disziplinarinstrumente als drei Gebrauchsweisen ein und derselben Technologie, welche der Norm zugrunde liegt und darauf hinzielt, „die traditionellen Probleme der Macht zu 23 diese technischen Instrumente werden die Körper abgerichtet, wie ihre Kräfte zugleich effektiv gesteigert und geschwächt werden, damit einerseits die ökonomische Nützlichkeit erhöht und andererseits dieselben Kräfte politisch fügsam gemacht werden.3 Demzufolge befindet sich der zu disziplinierende Körper zunächst in einer hierarchischen Raumordnung, die nach dem Prinzip eingerichtet wird, dass derjenige, der gesehen wird, nicht selber sehen kann. Unter dem überwachenden Disziplinarblick wird dem Körper eine Serie von qualifizierten Verhaltensweisen zugeteilt. Jegliche Abweichung von der Regel zieht eine entsprechende Strafe nach sich. Die Strafe ist darum eines der unumgänglichen Mittel zur Erreichung der Homogenität und der Normalisierung. Ein anderes Mittel, das den Körper zum Objekt der Beobachtung macht und seinen entsprechenden Grad der Dressur dokumentiert, klassifiziert sowie korrigiert, ist die Prüfung. Durch die Prüfung wird nicht nur die Technik der überwachenden Hierarchie mit derjenigen der normierenden Sanktion kombiniert. Die ganzen Disziplinarmechanismen werden erst überhaupt durch die Prüfung zum Leben erweckt.4 Durch diese in verschiedenen Institutionen praktisch ausgeübten Techniken, denen die minutiöse Beobachtung der Kleinigkeiten zugrunde liegt, wird „eine bestimmte politische und detaillierte Besetzung des Körpers“ festgelegt. Genau in diesem Sinne gilt die mikrophysikalische Machttechnologie der Disziplin nach Foucault eher als „eine politische Anatomie des Details“.5 Dadurch unterscheidet sich diese insbesondere aus der technologischen Perspektive betrachtete Disziplin also von dem im Alltag gebräuchlichen und vom anthropologisch-psychischen Ansatz her gesehenen Begriff der Disziplin. 3 4 5 24 lösen: die Vielheiten zu ordnen, das Ganze und seine Teile zu artikulieren, sie miteinander in Beziehung zu setzen“. Vgl. François Ewald, Eine Macht ohne Draußen, in: François Ewald/Bernhard Waldenfels (Hrsg.), Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken, Frankfurt a.M. 1991, S. 165. Vgl. ÜS, S. 177; Thomas Lemke, Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität, Hamburg 1997, S. 71. Siehe die detaillierte Diskussion über die Funktionen dieser technischen Disziplinarinstrumente unter C. dieses Kapitels. Vgl. ÜS, S. 178-181; auch Petra Neuenhaus, Max Weber und Michel Foucault. Über Macht und Herrschaft in der Moderne, Pfaffenweiler 1993, S. 55. B. Zum Begriff der Disziplin I. Die Disziplin im Sinne des alltäglichen Sprachgebrauchs Der Begriff der Disziplin leitet sich vom lateinischen Wort disciplina ab. Die ursprüngliche Bedeutung umfasst Unterricht, Lehre, Kenntnis und Wissenschaft. Demnach tritt disciplina häufig in Verbindung mit Teilgebieten des Wissens wie in disciplina iuris civilis (Wissenschaft vom Zivilrecht) oder disciplina militiae (die Kenntnis und Beherrschung des Militärwesens) auf. Erst im Spätlatein erhält der Begriff auch den Sinn von Ordnung und Zucht.6 Im heutigen Sprachgebrauch hat der Begriff Disziplin hauptsächlich drei Bedeutungen. Zunächst wird die Disziplin als Bezeichnung eines Fachgebietes verstanden (zum Beispiel wissenschaftliche oder sportliche Disziplin). Darüber hinaus meint die Disziplin einmal die Forderung des Fachgebietes und einmal die der Sozialnormen. Die Forderung des Fachgebietes erwartet eine Person (einen discipulus), die am Sachgebiet geistig interessiert und daher auch willentlich bereit ist, die Mühen des Aneignens auf sich zu nehmen (um zum Beispiel ein großer Künstler, Musiker, Sportler oder Wissenschaftler zu werden).7 Nach dem Sprachgebrauch gilt ein Mensch, der die Forderung des Fachgebietes erfüllt, als eine Person „mit geistiger Disziplin“ oder „mit einem disziplinierten Geist“. Außerdem wird im Alltag noch von „Menschen mit Disziplin“ gesprochen. Diese Redewendung bezieht sich eher auf die Forderung der Sozialnormen als auf die des Fachgebietes. Disziplin in einem solchen Sinne bedeutet die Bereitschaft und Fähigkeit, die individuellen Anschauungen, Wünsche, Bestrebungen und Verhaltensweisen der Forderung der Sozialnormen unterzuordnen.8 Diszipliniert ist also derjenige, der die sozialen Verhaltensnormen einhält, zum Beispiel als Schüler, Soldat, Arbeiter, Gefangener oder Bürger. 6 7 8 Vgl. Heinz-Jürgen Ipfling, Das Disziplinproblem in pädagogischer Sicht, in: Ders. (Hrsg.), Disziplin ohne Zwang. Begründung und Verwirklichung, München 1976, S. 9; Ernst Ell, Disziplin in der Schule, Freiburg u.a. 1996, S. 1. Vgl. Ell (Fn.6), S. 2. Vgl. aaO, S. 3. 25 II. Die anthropologisch-psychisch-negative Verdrängung durch die Disziplin Man erwartet schon gewissermaßen, dass ein Disziplinaradressat bereit und imstande ist, sein Verhalten mit gegebenen sozialen Verhaltensnormen in Übereinstimmung zu bringen. Demnach impliziert der Begriff Disziplin von Anfang an eine Selbstdisziplin bzw. innere Disziplin.9 Anthropologisch betrachtet, wird die Selbstdisziplin erst durch die Fremddisziplin bzw. äußere Disziplin erreicht.10 Aber egal ob im Sinne der Selbstdisziplin oder der Fremddisziplin, ist der Begriff stets die enge Verbindung mit dem Zwang eingegangen. Zum Beispiel liegt der Selbstdisziplin bei Kant immer der innere Zwang des Gewissens zugrunde und der Fremddisziplin stets der äußere Zwang des Rechts.11 Angesichts dieser unumgänglichen Bindung mit dem Zwang wird der Disziplin von Kant daher eine ausschließlich negative Funktion verliehen. Mit der Disziplin ist immer das Einschränken, Abhalten, Bändigen, Verhindern, 9 10 11 26 Vgl. aaO, S. 3; Ipfling (Fn.6), S. 11f.; Aloys Fischer, Der Begriff der Disziplin, in: Hermann Röhrs (Hrsg.), Die Disziplin in ihrem Verhältnis zu Lohn und Strafe, Frankfurt a.M. 1968, S. 14-25; Walter Horney, Über innere und äußere Disziplin, auch in: Hermann Röhrs (Hrsg.), Die Disziplin in ihrem Verhältnis zu Lohn und Strafe, S. 77-81; diesbezüglich meint Hans-Werner Goetz: „Für die »Selbstdisziplin« gibt es überhaupt keinen mittellateinischen Begriff, sondern nur Umschreibungen. Sie spielt gleichwohl eine Rolle und ist gewissermaßen bereits in der »Disziplin« enthalten: Disziplin (als Verhaltensnorm) beruht stets auf einer Selbstdisziplin.” Ders., Selbstdisziplin als Herrschertugend?, in: Gerhard Jaritz (Hrsg.), Disziplinierung im Alltag des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Wien 1999, S. 31. Davon ausgehend ist der Wert der Fremddisziplin nur so groß, als es ihr gelingt, die Selbstdisziplin und die Selbstbestimmung herbeizuführen. Vgl. Fischer aaO, S. 23; Ekkehard Marschelke, Begriff und Funktion der Disziplin in der Erziehung, Mannheim 1971, S. 3, 5, 35. Dazu sagt Kant: „Zum Charakter unserer Gattung gehört auch: dass sie, zur bürgerlichen Verfassung strebend, auch einer Disziplin durch Religion bedarf, damit, was durch äußeren Zwang nicht erreicht werden kann, durch innern (des Gewissens) bewirkt werde.” Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Wilhelm Weischedel (Hrsg.), Immanuel Kant. Werkausgabe, Bd. XII, S. 689; vgl. auch „Der Pflichtbegriff ist an sich schon der Begriff von einer Nötigung (Zwang) der freien Willkür durchs Gesetz; dieser Zwang mag nun ein äußerer oder ein Selbstzwang sein.“ „Die Tugendpflicht ist von der Rechtspflicht wesentlich darin unterschieden: dass zu dieser ein äußerer Zwang moralisch-möglich ist, jene aber auf dem freien Selbstzwange allein beruht.“ Ders., Die Metaphysik der Sitten, in: Wilhelm Weischedel (Hrsg.), Immanuel Kant. Werkausgabe, Bd. VIII, S. 508, 512. Verhüten, Aufheben und Vertilgen gemeint.12 In der Pädagogik wird die Disziplin von Kant zum Ausgangspunkt für den Prozess der Menschwerdung.13 In diesem Menschwerdungsprozess bewirkt die Disziplin nämlich, „dass der Mensch nicht durch seine tierischen Antriebe von seiner Bestimmung, der Menschheit, abweiche“. Sie muss den Menschen einschränken, „dass er sich nicht wild und unbesonnen in Gefahren begebe“.14 Demnach soll die Disziplin nichts anderes als „die negative Leitung“ sein. Ihre Aufgabe besteht darin, die Wildheit des Menschen zu zähmen und ihn davon abzuhalten, Fehler zu begehen, damit der Mensch sich so früh wie möglich daran gewöhnt, sich „der Ordnung und Regel“, „den Gesetzen der Menschheit“ und den „Vorschriften der Vernunft“ zu unterwerfen.15 Darüber hinaus ist die Disziplin für Kant nicht allein im Bereich der Pädagogik anwendbar. Sie hat in den Kritiken (insbesondere in der Methodenlehre) und in der Anthropologie die gleiche Grundbedeutung wie in der Pädagogik.16 Zum Beispiel meint Kant in seiner Kritik der reinen theoretischen Vernunft, dass die Vernunft unbedingt einer Disziplin bedarf, „die ihren Hang zur Erweiterung, über die engen Grenzen möglicher Erfahrung, bändige“. Denn die Disziplin ist Kant zufolge, wie bereits erwähnt, der Zwang, „wodurch der beständige Hang, von gewissen Regeln abzuweichen, eingeschränkt, und endlich vertilget wird“. Die Disziplin ist also „die warnende Negativlehre“, welche imstande ist, Irrtümer zu verhüten.17 12 13 14 15 16 17 Vgl. Marschelke (Fn.10), S. 143. Vgl. Immanuel Kant, Über Pädagogik, in: Wilhelm Weischedel (Hrsg.), Immanuel Kant. Werkausgabe, Bd. XII, S. 699; auch Marschelke (Fn.10), S. 28-34. Neben dieser negativen Leitung durch die Disziplin gibt es bei der Pädagogik nach Kant noch drei andere positive Ausbildungsmethoden, damit der Mensch sich zur Vervollkommnung seiner Menschheit entwickelt. Diese positiven Ausbildungsmethoden sind nämlich die Kultivierung, Zivilisierung und Moralisierung. Unter Kultivierung ist die Ausbildung der Geschicklichkeit zu verstehen; die Zivilisierung erfordert Manieren, Artigkeit und eine gewisse Klugheit; die Moralisierung zielt auf gute Zwecke und die Gesinnung. Vgl. Kant, aaO, S. 706f.; ders., Kritik der reinen Vernunft 2, in: Wilhelm Weischedel (Hrsg.), Immanuel Kant. Werkausgabe, Bd. IV, S. 610f.; vgl. dazu auch Gerhard Funke, Kants Stichworte für unsere Aufgabe: Disziplinieren, Kultivieren, Zivilisieren, Moralisieren, in: Ders., Von der Aktualität Kants, Bonn 1979, S. 128f. Kant, Über Pädagogik, aaO, S. 697f. Vgl. aaO, S. 669, 698, 706, 709. Für eine ausführliche Erklärung über Kants Bestimmung der Disziplin siehe Marschelke (Fn.10), S. 142-153. Kant, Kritik der reinen Vernunft 2 (Fn.13), S. 610-612; vgl. auch Hans Michael 27 Seit Freud kann jener verinnerlichte Prozess von der Fremddisziplin zur Selbstdisziplin prägnant mit der Aufrichtung eines Über-Ichs erläutert werden.18 Die psychische Instanz des Über-Ichs ist eine verinnerlichte Autorität, die immer versucht, das Ich mittels ihrer die Triebe unterdrückenden Macht zur Schuld zu verurteilen. Dadurch entfaltet sich eine Beziehung der Strenge zwischen Über-Ich und Ich. 19 Die Instanz des Über-Ichs funktioniert, nicht nur indem sie das Ich ständig beobachtet, sondern auch indem sie ihm Befehle gibt, es richtet und ihm mit Strafe droht.20 Außerdem ist die Funktion des Über-Ichs auch im Gewissen, in den Schuldgefühlen, im Strafbedürfnis sowie in der Reue zu finden. All diese Begriffe beziehen sich in der Tat auf dasselbe Verhältnis, benennen aber verschiedene Seiten desselben. 21 Da sich diese innere Verdrängungsfunktion des Über-Ichs in Form des Verbotes präsentiert, wird dies als Repressionstheorie bezeichnet.22 Freud zufolge werden die Einzelheiten der Beziehung zwischen Ich und Über-Ich durchweg aus der Zurückführung auf das Verhältnis des Kindes zu seinen Eltern verständlich. Trotzdem sind natürlich nicht alle Facetten des Über-Ichs nur aus dem persönlichen Wesen der Eltern entstanden, sondern auch zugleich aus dem durch die Eltern weitergegebenen Einfluss von Familien- und Volkstraditionen sowie aus den von ihnen vertretenen Anforderungen des jeweiligen sozialen Milieus. Außerdem nimmt das Über-Ich im Laufe seiner individuellen Entwicklung auch Beiträge von Seiten späterer Ersatzpersonen der Eltern auf, wie Erzieher, öffentliche Vorbilder, in der Gesellschaft verehrte Ideale.23 18 19 20 21 22 23 28 Baumgartner, Kants „Kritik der reinen Vernunft“. Anleitung zur Lektüre, 4. Aufl., München 1996, S. 125f. Vgl. Marschelke (Fn.10), S. 24. Während die Hauptleistung des Über-Ichs nach Freud die Einschränkung der Befriedigungen bleibt, besteht die Aufgabe des Ichs eher darin, sich am Leben zu erhalten und sich durch die Angst vor Gefahren zu schützen. Vgl. Sigmund Freud, Abriss der Psychoanalyse. Einführende Darstellungen, Frankfurt a.M. 2001, S. 44, 95. Vgl. Freud, ebenda, S. 101. Für die ausführlichen Darlegungen dazu siehe Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur. Und andere kulturtheoretische Schriften, Frankfurt a.M. 2001, S. 86-91, 98f. Vgl. MaM, S. 23; Patrick H. Hutton, Foucault, Freud und die Technologien des Selbst, in: Luther H. Martin/Huch Gutman/P. H. Hutton (Hrsg.), Technologien des Selbst, Frankfurt a.M. 1993, S. 149f.; Francisco Ortega, Michel Foucault. Rekonstruktion der Freundschaft, München 1997, S. 40. Vgl. Freud (Fn.19), S. 43. Alle diese verschiedenen Quellen, die die innere verdrängende Macht des Über-Ichs unaufhörlich versorgen und vervollständigen, sind nach Freud in dem Begriff der Kultur zusammenzufassen. Das Wesen der Kultur bezeichnet laut Freud „die ganze Summe der Leistungen und Einrichtungen, in denen sich unser Leben von dem unserer tierischen Ahnen entfernt und die zwei Zwecken dienen: dem Schutz des Menschen gegen die Natur und der Regelung der Beziehungen der Menschen untereinander“.24 Die Kultur ist darum „durch Verzicht auf Triebbefriedigung gewonnen worden und fordert von jedem neu Ankommenden, dass er denselben Triebverzicht leiste“.25 Daraus entsteht eine kollektive Repressionssubstanz, die von Freud als „Kultur-Über-Ich“ bezeichnet wird, welches mit Hilfe der Analogie zwischen dem Kulturprozess und dem Entwicklungsweg des Individuums gebildet wird.26 Für Freud stellt das Kultur-Über-Ich zwar ganz wie das Über-Ich des einzelnen strenge Idealforderungen auf, die durch Gewissensangst befolgt werden. In der Tat werden sie jedoch zuvor durch den äußeren Zwang der Erziehung eingehalten. Daraus zieht Freud den Schluss: „Während des individuellen Lebens findet eine beständige Umsetzung von äußerem Zwange in inneren Zwang statt. Die Kultureinflüsse leiten dazu an, dass immer mehr von den eigensüchtigen Strebungen durch erotische Zusätze in altruistische, soziale verwandelt werden. Man darf endlich annehmen, dass aller innere Zwang, der sich in der Entwicklung des Menschen geltend macht, ursprünglich, d.h. in der Menschheitsgeschichte nur äußerer Zwang war.“27 Dieser von Freud angenommene Prozess der Kulturentwicklung vom äußeren Zwang zum inneren Zwang, von der Fremddisziplin zur inneren Selbstdisziplin, wird später von Norbert Elias in seiner Untersuchung Über den Prozess der Zivilisation übernommen.28 Für Elias entwickelt 24 25 26 27 28 Freud (Fn.21), S. 55f. AaO, S. 143; vgl. auch S. 116. Diesbezüglich sagt Hutton: „Zwar ist die Erzeugung einer Kultur ein Schöpfungsprozess; aber sie ist zugleich ein präskriptiver Vorgang, insofern das Vokabular, dessen wir uns bedienen, und die Institutionen, durch die wir handeln, uns mit Mustern versorgen, die künftigen schöpferischen Entwürfen die Richtung vorgeben und Grenzen ziehen.“ Hutton (Fn.22), S. 145. Vgl. Freud (Fn.21), S. 104. Mehr über diese Analogie siehe S. 102f. Freud, ebenda, S. 143. Dazu sagt Elias: „ Es braucht dabei kaum gesagt zu werden, aber es mag hier einmal ausdrücklich hervorgehoben sein, wie viel diese Untersuchung den vorausgehenden Forschungen Freuds und der psycho-analytischen Schule verdankt. Die Beziehungen sind für jeden Kenner des psycho-analytischen Schrifttums klar, 29 sich der Zivilisationsprozess nämlich von „dem gesellschaftlichen Zwang zum Selbstzwang“.29 Nach Elias wird der Einzelne schon ab seiner Geburt mehr und mehr in ein Verflechtungsgewebe eingesponnen. Darin wird das Verhalten der Menschen aufeinander abgestimmt und immer differenzierter, gleichmäßiger sowie stabiler reguliert. Es ist diese Verflechtungsordnung, die dem Prozess der Zivilisation zugrunde liegt.30 Die eigentümliche Stabilität dieses Zivilisationsprozesses wird aber laut Elias erst durch „die Ausbildung von Monopolinstituten der körperlichen Gewalttat“ und durch „die wachsende Stabilität der gesellschaftlichen Zentralorgane“ garantiert.31 Dazu sagt Elias: „Gesellschaften ohne stabiles Gewaltmonopol sind immer zugleich Gesellschaften, in denen die Funktionsteilung relativ gering und die Handlungsketten, die den Einzelnen binden, verhältnismäßig kurz sind. Umgekehrt: Gesellschaften mit stabilen Gewaltmonopolen, verkörpert zunächst stets durch einen größeren Fürsten- oder Königshof, sind Gesellschaften, in denen die Funktionsteilung mehr oder weniger weit gediehen ist, in denen die Handlungsketten, die den Einzelnen binden, länger und die funktionellen Abhän- 29 30 31 30 und es schien unnötig, an einzelnen Punkten darauf hinzuweisen, zumal sich das nicht ohne ausführlichere Auseinandersetzung hätte tun lassen. Die nicht unbeträchtlichen Unterschiede zwischen dem ganzen Ansatz Freuds und dem der vorliegenden Untersuchung sind ebenfalls hier explicite nicht hervorgehoben worden, besonders da sich vielleicht über sie nach einiger Diskussion ohne allzu große Schwierigkeiten ein Einverständnis herstellen ließe. Es erschien wichtiger, ein Gedankengebäude möglichst klar und anschaulich aufzubauen, als an dieser oder jener Stelle eine Auseinandersetzung zu führen.“ Ders., Über den Prozess der Zivilisation: Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Bd. 1. Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes, 15. Aufl., Frankfurt a.M. 1990, Anmerkung 77, S. 324. Für eine nähere Erläuterung des Vergleichs von Elias und Freud siehe etwa John Goudsblom, Zum Hintergrund der Zivilisationstheorie von Norbert Elias: Das Verhältnis zu Huizinga, Weber und Freud, in: Peter Gleichmann/John Goudsblom/Hermann Korte (Hrsg.), Macht und Zivilisation. Materialien zu Norbert Elias’ Zivilisationstheorie 2, Frankfurt a.M. 1984, S. 138f. Elias, Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Bd. 2. Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation, 15. Aufl., Frankfurt a.M. 1990, S. 312. Bei Elias sind die Begriffe von Selbstdisziplin, Selbstzwang, Selbstüberwachung, Selbstkontrolle, Selbstbeherrschung und Selbstregulierung als synonym zu betrachten. Vgl. Hans-Günther Heiland, Selbst- und Fremddisziplinierung im Zivilisationsprozess, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. XV, 1993, Anmerkung 2, S. 322. Vgl. Elias (Fn.29), S. 314, 317. AaO, S. 320. gigkeiten des einen Menschen von anderen größer sind.“32 Trotzdem bedeutet dies nicht, wenn Elias von der Notwendigkeit des Gewaltmonopols spricht, dass er an die Manipulierbarkeit des Selbstdisziplinierungsvorgangs durch dieses Gewaltmonopol glaubt. Ganz im Gegenteil denkt er eher an die Blindheit und Unplanbarkeit des Zivilisationsprozesses. 33 Diese Unmanipulierbarkeit des Zivilisationsprozesses vom Fremdzwang zum Selbstzwang kennzeichnet also den speziellen Charakter der Sozialdisziplinierung bei Elias.34 Für Elias meint die Umwandlung des gesellschaftlichen Fremdzwangs in den Selbstzwang nicht nur die automatische, zur selbstverständlichen Gewohnheit gewordene „Dämpfung der spontanen Wallungen“ und die „Zurückhaltung der Affekte“, sondern auch die „Weitung des Gedankenraums über den Augenblick hinaus in die vergangenen Ursache-, die zukünftigen Folgenketten“.35 Dieser vielfältige Aspekt in der psychischen Selbstdisziplinapparatur ist weiter durch das sogenannte „anthropologische Kreuz der Entscheidung“ abzuklären, welches von Winfried Brugger im Anschluss an Freuds psychische Apparatur aufgestellt wird. Mit dem umgangssprachlichen Ausdruck „Es ist ein Kreuz mit ...“ möchte Brugger darauf hinweisen, dass es oft eine heikle Sache ist, eine Entscheidung in der Lebensführung oder im Rechtsleben zu tref- 32 33 34 35 AaO, S. 321. Vgl. aaO, S. 312-314, 316. In der Tat wird schon Elias’ Zivilisationsprozess vom Fremdzwang zum Selbstzwang als eines der wichtigsten Sozialdisziplinierungsmodelle betrachtet und immer mit Max Weber, Gerhard Oestreich und Michel Foucault verglichen. Vgl. Mohammed Rassen, Bemerkungen zur „Sozialdisziplinierung“ im frühmodernen Staat, in: Zeitschrift für Politik, 30. Jg., 1983, S. 217; Stefan Breuer, Sozialdisziplinierung. Probleme und Problemverlagerungen eines Konzepts bei Max Weber, Gerhard Oestreich und Michel Foucault, in: Christof Sachße/Florian Tennstedt (Hrsg.), Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung. Beiträge zu einer historischen Theorie der Sozialpolitik, Frankfurt a.M. 1986, S. 45-69; Ulrich Brökling, Disziplin. Soziologie und Geschichte militärischer Gehorsamsproduktion, München 1997, S. 12, 23; Gerhard Jaritz, Vorwort, in: Ders. (Hrsg.), Disziplinierung im Alltag des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Wien 1999, S. 5f.; Heinz Schilling, Profil und Perspektiven einer interdisziplinären und komparatistischen Disziplinierungsforschung jenseits einer Dichotomie von Gesellschaftsund Kulturgeschichte, in: Ders. (Hrsg.), Institutionen, Instrumente und Akteure sozialer Kontrolle und Disziplinierung im frühneuzeitlichen Europa, Frankfurt a.M. 1999, S. 8f. Für eine weitere Vergleichserörterung besonders von Foucaults Disziplinargesellschaft, Oestreichs Sozialdisziplinierung und Webers Disziplinierung als Begleiterscheinung der Rationalisierung siehe Kapitel 2, D. II. Elias (Fn.29), S. 322, 343. 31 fen.36 Dabei muss man nicht nur relevante Überlegungen in verschiedene Richtungen und in bezug auf weitreichende und identitätsbestimmende Konsequenzen anstellen, sondern auch Umstände und Reaktionen der anderen berücksichtigen.37 Das „anthropologische Kreuz der Entscheidung“ kennzeichnet daher den komplexen Charakter eines gegenwärtigen individuellen Entscheidungsvorgangs, der gleichzeitig „»rückwärts«, in die Vergangenheit, »vorwärts«, in die Zukunft, »aufwärts«, zu den einschlägigen Werten, und »abwärts«, zu den Grundbedürfnissen“, blickt.38 Diesbezüglich sagt Brugger: „Diese Ideale und Werte belehren uns, wie wir mit unseren Antrieben umgehen sollen, ob und wieweit wir sie im Eigen- und Sozialinteresse akzeptieren, limitieren, disziplinieren und kultivieren sollen.“ „Der Mensch muss Freuds Ansicht nach im Laufe seines Lebens – das heißt: in der Zeitschiene Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft – eine Balance finden zwischen den Anforderungen ‚von oben’ und ‚von unten’.“39 III. Die mikrophysikalisch-ökonomisch-positive Technologie der Disziplin In den dargelegten Diskussionen scheint die Disziplin durchweg in Form des negativ einschränkenden, verdrängenden, repressiven Zwangs positiv bestimmte Ziele zu erreichen, etwa die Gewöhnung an Vorschriften der Vernunft (Kant), ein Verhalten entsprechend den Kulturanforderungen (Freud) oder entsprechend einer interdependente Verflechtungsordnung (Elias) bzw. das Zustandekommen einer komplex motivierten Entscheidung (Brugger). Eigentlich verleugnet Foucault nicht jene negativ verdrängende Funktion der Disziplin, die überwiegend durch den Fremd- oder Selbstzwang auf eine sich automatisch den Verhaltensnormen unterwerfende Willensbestimmung zielt. Im Gegenteil meint die Disziplin für Foucault eben „das Ergebnis negativen Denkens: es ist etwas zu tun. Determiniert ist, was man zu tun hat; das Undeterminierte ist Verboten“. Dementsprechend teilen die Disziplinarmechanismen alles nach ihrem Code auf (erlaubt/verboten) und determinieren die Pflichten.40 36 37 38 39 40 32 Vgl. Winfried Brugger, Liberalismus, Pluralismus, Kommunitarismus: Studien zur Legitimation des Grundgesetzes, Baden-Baden 1999, S. 23. Vgl. aaO, S. 23, 30. Brugger, Das anthropologische Kreuz der Entscheidung, Jus 1996, S. 674. Brugger (Fn.36), S. 25f. StW, S. 7. Trotzdem lässt sich die Disziplin nach Foucault nicht allein auf den negativen Zwang reduzieren; ebenso wenig bezieht sie sich nur auf das Innere und die psychische Aktivität des Subjekts, dem bzw. der zufolge das Verhalten mit den Sozialnormen in Übereinstimmung gebracht wird. Die Disziplin ist vielmehr zugleich in der Form und dem Effekt sowohl positiv wie auch produktiv, das heißt: Mit Hilfe ihrer mikrophysikalisch subtilen Techniken, die den negativ verdrängenden Zwang einerseits mit der positiv hierarchisierenden Überwachung, der normierenden Sanktion sowie der individualisierenden Prüfung andererseits in Verbindung bringen, ist die Disziplin imstande, eine positive Ökonomie herzustellen.41 Dabei handelt es sich also um „die Funktionsumkehr bei den Disziplinen“.42 Dazu meint Foucault: „Erwartete man von den Disziplinen ursprünglich die Bannung von Gefahren, die Bindung unnützer oder unruhiger Bevölkerungen, das In-Schach-Halten großer Menschenansammlungen, so fordert man nun von ihnen, dass sie, wozu sie auch fähig sind, eine positive Rolle spielen und die mögliche Nützlichkeit von Individuen vergrößern. Die militärische Disziplin ist nicht mehr einfach ein Mittel, mit dem das Plündern, die Desertation und die Befehlsverweigerung verhindert werden solle; sie wird zu einer technischen Voraussetzung dafür, dass die Armee nicht mehr als ein zusammengelesener Haufen existiert, sondern als eine Einheit, die gerade aus ihrer Einheit eine Steigerung ihrer Kräfte schöpft; die Disziplin vergrößert die Geschicklichkeit eines jeden, koordiniert diese Geschicklichkeit, beschleunigt die Bewegungen, vervielfacht die Feuerkraft, erweitert die Angriffsfronten, ohne die Angriffskraft zu schwächen, stärkt die Widerstandskraft usw. Die Arbeitsdisziplin hat zwar weiterhin die Aufgabe, den Respekt der Reglements und Autoritäten zu sichern sowie Diebstähle und Verschwendung zu verhindern, aber sie soll auch die Fähigkeiten, die Geschwindigkeiten, die Arbeitserträge und damit die Gewinne erhöhen; sie hat die Verhaltensweisen sittlich zu heben, aber sie soll sie vor allem auf ihr Ziel ausrichten und die Körper in eine Maschinerie, die Kräfte in eine Ökonomie integrieren.“43 Während die Disziplin dieser Funktionsumkehr zufolge nicht mehr 41 42 43 Vgl. ÜS, S. 175, 198; dazu auch Hutton (Fn.22), S. 150; Ortega (Fn.22), S. 40; Hinrich Fink-Eitel, Michel Foucault. Zur Einführung, 4. Aufl., Hamburg 2002, S. 76. ÜS, S. 269. Vgl. auch Ewald (Fn.2), S. 163, 165. ÜS, S. 269f. 33 allein auf die Übereinstimmung des Verhaltens mit bestimmten Sozialnormen gerichtet ist, sondern weiterhin auf die Herstellung einer positiven Ökonomie und einer möglichst großen Nützlichkeit der Individuen, wendet sich der Blick der Disziplin gleichzeitig auf den menschlichen Körper, „den man manipuliert, formiert und dressiert, der gehorcht, antwortet, gewandt wird und dessen Kräfte sich mehren“.44 Um „die peinliche Kontrolle der Körpertätigkeiten und die dauerhafte Unterwerfung ihrer Kräfte“ zu ermöglichen und sie gelehrig und nützlich zu machen, setzt die Disziplin die einfachen Instrumente „des hierarchischen Blicks, der normierenden Sanktion und ihrer Kombination im Verfahren der Prüfung“ ein.45 Daraus ergibt sich also eine neue „Mechanik der Macht“, nämlich der Disziplinarmechanismus, der nicht mehr anthropologisch-psychisch, sondern vielmehr technologisch-ökonomisch orientiert ist. Dazu sagt Foucault: „Der historische Augenblick der Disziplinen ist der Augenblick, in dem eine Kunst des menschlichen Körpers das Licht der Welt erblickt, die nicht nur die Vermehrung seiner Fähigkeiten und auch nicht bloß die Vertiefung seiner Unterwerfung im Auge hat, sondern die Schaffung eines Verhältnisses, das in einem einzigen Mechanismus den Körper um so gefügiger macht, je nützlicher er ist, und umgekehrt. So formuliert sich eine Politik der Zwänge, die am Körper arbeiten, seine Elemente, seine Gesten, seine Verhaltensweisen kalkulieren und manipulieren. Der menschliche Körper geht in eine Machtmaschinerie ein, die ihn durchdringt, zergliedert und wieder zusammensetzt. Eine »politische Anatomie«, die auch eine »Mechanik der Macht« ist, ist im Entstehen.“46 C. Die technischen Instrumente der Disziplin I. Die hierarchische Überwachung Wie oben aufgezeigt, liegt dem Erfolge der Disziplinarmacht der Einsatz der technischen Instrumente der hierarchischen Überwachung, 44 45 46 34 ÜS, S. 174. ÜS, S. 175, 220. Zu diesen drei Disziplinarinstrumenten sagt Ewald: „ Es handelt sich vielleicht weniger um drei Instrumente als um drei Gebrauchsweisen ein und derselben Technologie, die der Norm zugrunde liegt. Es handelt sich gewissermaßen nur um Instrumente, die darauf hinzielen, die traditionellen Probleme der Macht zu lösen: die Vielheiten zu ordnen, das Ganze und seine Teile zu artikulieren, sie miteinander in Beziehung zu setzen.“ Ewald (Fn. 2), S. 165. ÜS, S. 176. der normierenden Sanktion und der individualisierenden Prüfung zugrunde. Der perfekte Disziplinarapparat sollte zunächst einen Disziplinarblick beinhalten, welcher es ermöglicht, alles zu sehen, ohne selbst gesehen zu werden. Durch diesen Disziplinarblick werden alle Tätigkeiten und Fehler nicht nur wahrgenommen und registriert, sondern auch beurteilt und korrigiert. 47 Die von Foucault aufgestellte hierarchische Überwachung ist genau das Instrument, diesen Disziplinarblick zu verwirklichen. Laut Foucault beruht die Errichtung dieser hierarchischen Überwachung zuvor auf der räumlichen Architektur, der „die Kunst der Verteilungen“ zugrunde liegt.48 Dementsprechend wird ein Disziplinarraum nach den Prinzipien der „Klausur“, der „Parzellierung“, der „Zuweisung von Funktionsstellen“ und des „Ranges“ eingerichtet. Mit Klausur ist „die bauliche Abschließung eines Ortes von allen anderen Orten“ gemeint.49 Ihre Funktion hängt im Prinzip von der einzelnen Institution ab. Zum Beispiel bedeutet die Klausur bei Kasernen: „Die Armee, diese umherschweifende Masse, muss festgesetzt werden; Plünderungen und Gewalttätigkeiten müssen verhindert werden; die Bevölkerung, die umherziehende Truppen schlecht erträgt, muss beruhigt werden; die Konflikte mit den zivilen Autoritäten müssen vermieden werden; der Fahnenflucht muss Einhalt geboten werden; die Ausgaben müssen unter Kontrolle gebracht werden.“50 Bei der Fabrik meint die Klausur: „In dem Maße, in dem sich die Produktionskräfte konzentrieren, gilt es, möglichst viele Vorteile daraus zu ziehen und die Unannehmlichkeiten zu neutralisieren (Diebstähle, Arbeitsunterbrechungen, Ruhestörungen und »Kabalen«); gilt es, die Materialien und Werkzeuge zu schützen und die Arbeitskräfte zu meistern.“51 Die Funktion der Parzellierung richtet sich „gegen die ungewissen Verteilungen, gegen das unkontrollierte Verschwinden von Individuen, gegen ihr diffuses Herumschweifen, gegen ihre unnütze und gefährliche Anhäufung: eine Antidesertions-, Antivagabondage-, Antiagglomerationstaktik.“ „Es geht darum, die Anwesenheiten und Abwesenheiten festzusetzen und festzustellen; zu wissen, wo und wie man die Individuen finden kann; die nützlichen Kommunikationskanäle zu installieren und 47 48 49 50 51 Vgl. ÜS, S. 221, 224f. Dazu sagt Foucault: „Die Disziplin macht sich zunächst an die Verteilung der Individuen im Raum.“ ÜS, S. 181. ÜS, S. 181. ÜS, S. 181f. ÜS, S. 183. 35 die anderen zu unterbrechen; jeden Augenblick das Verhalten eines jeden überwachen, abschätzen und sanktionieren zu können; die Qualitäten und die Verdienste zu messen. Es handelt sich also um eine Prozedur zur Erkennung, zur Meisterung und zur Nutzbarmachung. Die Disziplin organisiert einen analytischen Raum.“52 Die Zuweisung von Funktionsstellen versucht vor allem, einen nutzbaren Raum zu schaffen. Zum Beispiel müssen in den Fabriken am Ende des 18. Jahrhunderts „nicht nur die Individuen in einem Raum verteilt werden, wo man sie isolieren und feststellen kann, sondern diese Verteilung muss noch an einen Produktionsapparat angeschlossen werden, der seine eigenen Erfordernisse hat. In der Verteilung der »Posten« sind also die Aufteilung der Körper, die räumliche Organisation des Produktionsapparates und die verschiedenen Tätigkeitsformen miteinander in Einklang zu bringen.“ Dies führt dazu: „Jede Variable der Arbeitskraft – Stärke, Schnelligkeit, Geschicklichkeit, Ausdauer – kann beobachtet, charakterisiert, eingeschätzt, verrechnet und dem dafür Zuständigen berichtet werden.“53 Die Kunst der Einteilung in Ränge funktioniert, indem ein serieller Raum hierarchisch organisiert wird, in welchem jeder einzelne nach seinem Alter, seinen Leistungen, seinem Benehmen individualisiert, klassifiziert und lokalisiert wird und daher einen entsprechenden Platz erhält.54 Dies ist in dem von J.-B. de la Salle geträumten Schulraum des Elementarunterrichts zu sehen: „In allen Klassen werden allen Schülern aller Lektionen Plätze zugeteilt sein, so dass sich die Schüler derselben Lektion immer an ein und demselben Platz befinden. Die Schüler der höchsten Lektionen werden in den Bänken sitzen, die der Mauer am nächsten sind, und die anderen werden sich in der Reihenfolge der Lektionen der Mitte der Klasse annähern ... Jeder der Schüler wird seinen festgelegten Platz haben und keiner wird ihn verlassen oder wechseln ohne die Anordnung und Zustimmung des Inspektors der Schulen“.55 Nach Foucault ist das geometrische Bauprojekt des Militärlagers ein beinahe ideales Muster für die räumliche Gestaltung der hierarchischen Überwachungen, welches sich zugleich der Prinzipien der Klausur, der Parzellierung, der Zuweisung von Funktionsstellen und des Ranges be52 53 54 55 36 ÜS, S. 183f. ÜS, S. 185f. Vgl. ÜS, S. 187. Zit. aus ÜS, S. 189. dient. „[D]ie Geometrie der Alleen, die Anzahl und Verteilung der Zelte, die Richtung ihrer Eingänge, die Anordnung der Reihen und Linien“, sie alle werden nach der bestimmten Raumordnung festgelegt.56 Dazu zitiert Foucault eine Anordnung vom preußischen Reglement für die Infanterie, in welcher man sehen kann, wie ein System der hierarchischen Überwachung einfach durch die Raumverteilung automatisch in Gang gesetzt wird: „Auf der Place d’Armes kommen 5 Linien, die ersten 16 Fuß vor der zweyten, die übrigen sind 8 Fuß voneinander und die Letzte ist 8 Fuß von den Gewehr-Mäntels. Die Gewehr-Mäntels sind 10 Fuß vor den Unter-Officiers-Zelten, gerade gegen der vordersten Stange. Eine Compagnie-Gasse ist 51 Fuß breit ... Die Zelter stehen überall 2 Fuß von einander. Die Subalternes-Zelter stehen gegen die Brand-Gassen von ihren Compagnien, die hinterste Stange 8 Fuß von dem letzten Gemeinen-Zelt, und die Thüre ist nach den Capitaines-Zeltern zu ... Der Capitaines-Zelter stehen gegen ihren Compagnie-Gassen, die Thüre nach der Compagnie ...“57 Diese in dem Militärlager angeordnete zellförmige Raumordnung, die gleichzeitig die Verteilungsforderungen von Klausur, Parzellierung, Zuweisung von Funktionsstellen und Rängen befolgt, ist zu einem Netz der Überwachung geworden, in dem sowohl die allgemeine Sichtbarkeit als auch die sich einander kontrollierenden Blicke eingerichtet sind. Diese zellenförmige Raumstruktur gilt auch als das Architekturmodell, das bei der Errichtung von Arbeitersiedlungen, Spitälern, Asylen, Gefängnissen oder Erziehungsheimen umfassend angewandt wurde. Obwohl der Bauplan des Militärlagers sozusagen als ein beinahe ideales Muster für die hierarchische Überwachung zu betrachten ist, wird noch ein anderes, vollkommeneres Programm zur Verwirklichung dieser hierarchischen Überwachung in der Theorie aufgestellt. Dieses ist das von Jeremy Bentham 1787 konzipierte, von Foucault als Architekturparadigma der Disziplinarmacht angesehene Panopticon.58 56 57 58 ÜS, S. 221. ÜS, S. 221f. Vgl. ÜS, S. 256; Fink-Eitel (Fn.41), S. 76. Verglichen mit der theoretischen Großartigkeit des Panopticon scheint für Foucault die persönliche Gefängnisbesichtigung in Attica 1974, welche für ihn eine erstmalige Erfahrung war, vielleicht sogar eindrucksvoller und bemerkenswerter gewesen zu sein, weil sie die Veränderung seiner Gefängnisvorstellung von einer rein negativen Ausschließungsfunktion zu einer positiven beschleunigt hat. In einem Gespräch, das einen Tag nach dieser Gefängnisbesichtigung stattfand, sagte Foucault: „Aber schon auf den ersten Blick hat man den Eindruck, hier mehr als eine schlichte Fabrik zu 37 Die Einrichtung des Panopticon zeigt nicht, von wem die Macht ausgeübt und kontrolliert wird, sondern wie die Macht automatisch in Gang gesetzt wird. Denn in der Anlage des Panopticon hängt das Prinzip der Macht weniger von „einer Person“ als vielmehr von „einer konzentrierten Anordnung von Körpern, Oberflächen, Lichtern und Blicken“ ab. Daher hat es wenig Bedeutung, „wer die Macht ausübt“.59 Im Panopticon werden Einzelzellen um einen zentralen Beobachtungsturm herum eingerichtet. Alle Eingeschlossenen werden von unsichtbaren, zentralen Wächtern beobachtet.60 Wie Foucault erwähnt: „Das Panopticon ist eine Maschine zur Scheidung des Paares Sehen/Gesehenwerden: im Außenring wird man vollständig gesehen, ohne jemals zu sehen; im Zentralraum sieht man alles, ohne je gesehen zu werden.“ „Vom Standpunkt des Aufsehers aus handelt es sich um eine abzählbare und kontrollierbare Vielfalt; vom Standpunkt der Gefangenen aus um eine erzwungene und beobachtete Einsamkeit. Daraus ergibt sich die Hauptwirkung des Panopticon: die 59 60 38 besuchen – man hat den Eindruck, eine Maschine, das Innere einer Maschine vor sich zu haben. Natürlich stellt man sich nun folgende Frage: Was produziert die Maschine? Wozu dient diese gigantische Installation, und was kommt dabei heraus?“ DE II, S. 654f.; vgl. auch MM, S. 55. Im Vergleich zu seinen früher rein negativen Ausschließungsfunktionen scheint das Gefängnis für Foucault nun „ein zu komplexer Mechanismus“ zu sein. „Seine Kosten, seine Wichtigkeit, der Verwaltungsaufwand, die Rechtfertigungen, die man dafür zu geben bestrebt ist, scheinen darauf hinzudeuten, dass es positive Funktionen besitzt. Das Problem besteht darin, herauszufinden, welche Rolle die kapitalistische Gesellschaft ihrem Strafrechtssystem zuweist, welches das gesuchte Ziel ist und welche Ergebnisse durch all diese Straf- und Ausschließungsprozesse erzielt werden. Welches ist ihr Platz im ökonomischen Prozess, worin besteht ihre Wichtigkeit bei der Ausübung und Erhaltung der Macht? Welches ist ihre Rolle im Klassenkampf?“ MM, S. 57; vgl. auch DE II, S. 656f. ÜS, S. 259. Eine detaillierte Erläuterung des Panopticon siehe folgendermaßen aus: „An der Peripherie ein ringförmiges Gebäude; in der Mitte ein Turm, der von breiten Fenstern durchbrochen ist, welche sich nach der Innenseite des Rings öffnen; das Ringgebäude ist in Zellen unterteilt, von denen jede durch die gesamte Tiefe des Gebäudes reicht; sie haben jeweils zwei Fenster, eines nach innen, das auf die Fenster des Turms gerichtet ist, und eines nach außen, so dass die Zelle auf beiden Seiten von Licht durchdrungen wird. Es genügt demnach, einen Aufseher im Turm aufzustellen und in jeder Zelle einen Irren, einen Kranken, einen Sträfling, einen Arbeiter oder einen Schüler unterzubringen. Vor dem Gegenlicht lassen sich vom Turm aus die kleinen Gefangenensilhouetten in den Zellen des Ringes genau ausnehmen. Jeder Käfig ist ein kleines Theater, in dem jeder Akteur allein ist, vollkommen individualisiert und ständig sichtbar. Die panoptische Anlage schafft Raumeinheiten, die es ermöglichen, ohne Unterlass zu sehen und zugleich zu erkennen.“ ÜS, S. 256f. Vgl. auch Flive, S. 226f. Schaffung eines bewussten und permanenten Sichtbarkeitszustandes beim Gefangenen, der das automatische Funktionieren der Macht sicherstellt.“ 61 Dementsprechend braucht man keine Gittertore mehr, keine Ketten und keine schweren Schlösser. Denn es genügt schon, „wenn die Trennungen sauber und die Öffnungen richtig sind. Die Wucht der alten »Sicherheitshäuser« mit ihrer Festungsarchitektur lässt sich durch die einfache und sparsame Geometrie eines »Gewissheitshauses« ersetzen.“62 In dieser panoptischen Disziplinaranlage kann man auf Gewaltmittel verzichten und darum eine wirkliche Unterwerfung erreichen. Die Idee des Panopticon, das zugleich „Überwachung und Beobachtung, Sicherheit und Wissen, Individualisierung und Totalisierung, Isolierung und Transparenz“ darstellt, hat nach Foucault im Gefängnis seinen bevorzugten Realisierungsort gefunden.63 Dazu sagt er: „Das Panopticon ist in den Jahren 1830-1840 zum architektonischen Programm der meisten Gefängnisprojekte geworden. Es bildete die direkteste Methode, »die Intelligenz der Disziplin in den Stein zu übertragen«; die Architektur für die Handhabung der Macht transparent zu machen; Gewalt und Zwang durch die sanfte Wirksamkeit einer bruchlosen Überwachung zu ersetzen; den Raum entsprechend der jüngsten Vermenschlichung der Gesetze und der neuen Straftheorie zu gestalten: »Sowohl die Autorität wie der Architekt müssen wissen, ob die Gefängnisse im Sinne einer Milderung der Strafen zu organisieren sind oder zur Besserung der Schuldigen und in Übereinstimmung mit einer Gesetzgebung, die, zum Ursprung der Volkslaster zurückgehend, ein Regenerationsprinzip der notwendigen Tugenden wird.«“64 Obwohl die hierarchische Überwachung zuvor mit Hilfe der architektonischen Raumordnung versachlicht wird, kommt sie erst durch den Einsatz einer ganzen Reihe von Verbindungsoffizieren als interne Relaisstationen vollkommen in Gang.65 Demnach wird niederes und höheres 61 62 63 64 65 ÜS, S. 258f. ÜS, S. 260. ÜS, S. 319. ÜS, S. 320. Außerdem sagt Foucault: „Bentham’s conception was therefore more than a mere architectural figure meant to resolve a specific problem, such as that raised by prisons or schools or hospitals. Bentham himself proclaims the Panopticon to be a »revolutionary discovery,« that it was »Columbus’ egg.« And indeed it was Bentham who proposed a solution to the problem faced by doctors, penologists, industrialists and educators: he invented a technology of power capable of resolving the problems of surveillance.“ Flive, S. 227. Vgl. ÜS, S. 225-229; MaM, S. 28, 32. 39 Personal geschaffen, zum Beispiel „Angestellte, Aufseher, Kontrolleure, Vorarbeiter“ in Werkstätten, und „Intendanten, Beobachter, Monitoren, Repetitoren, Vorbeter, Vorschreiber, Tintenmeister, Almosenmeister, Visitatoren“ in Schulen.66 Mit Hilfe dieser pyramidenförmigen Kontrolltechnik werden alle fundamentalen Einheiten, die sich wie Soldaten, Schüler, Arbeiter und Gefangene in bestimmten Disziplinarmechanismen befinden, nun nicht mehr isoliert behandelt, sondern in ein komplexes, hierarchisches, einheitliches Zusammenspiel gebracht, in dem sowohl die individuelle Fähigkeit und Leistung als auch die gesamte Produktivität gesteigert werden kann. Der einzelne Körper wird daher nach Foucault „zu einem Element, das man platzieren, bewegen und an andere Elemente anschließen kann“. In den subtilen, hierarchischen Disziplinarräumen wird der Körper in Foucaults Augen nicht mehr durch „seine Tüchtigkeit oder seine Kraft“ definiert, sondern durch „den Platz, den er einnimmt, den Abstand, den er überbrückt, die Regelmäßigkeit und Geordnetheit seiner Stellungswechsel“. „Der Körper wird auf seine Funktion reduziert und gleichzeitig wird dieser segmentierte Körper seinerseits als ein Segment in eine Gesamtheit eingefügt.“67 Für Foucault stellt diese hierarchisierte, stetige und funktionelle Disziplinarüberwachung eine genaue, vollkommene, autonome und anonyme Machtausübung dar. Er sagt: „Die Disziplin hält eine aus Beziehungen bestehende Macht in Gang, die sich durch ihre eigenen Mechanismen selber stützt und aufsehenerregenden Kundmachungen ein lückenloses System kalkulierter Blicke vorzieht. Dank der Techniken der Überwachung vollzieht die »Physik« der Macht ihren Zugriff auf den Körper nach den Gesetzen der Optik und der Mechanik und in einem Spiel von Räumen, Linien, Schirmen, Bündeln, Stufen und verzichtet zumindest im Prinzip auf Ausschreitung und Gewalt. Diese Macht ist scheinbar um so weniger körperlich und physisch, je gelehrter und physikalischer sie ist.“68 II. Die normierende Sanktion Unter dem hierarchischen, pyramidenförmigen Disziplinarblick wird den Disziplinaradressaten weiter eine Serie von Anforderungen aufge66 67 68 40 ÜS, S. 225-227. ÜS, S. 212. ÜS, S. 229. zwungen, welche mit dem Doppelgleis-System von Bestrafung und Belohnung umgesetzt werden, damit einerseits die Tätigkeit gemäss der qualifizierten Verhaltensweisen korrigiert, homogenisiert und normalisiert wird und andererseits der Körper sich unter der größmöglichsten Reduzierung der Abweichungen zu einem leistungsstarken Apparat entwickelt, bei dem die Kräfte effizient kombinatorisch eingesetzt werden. Eigentlich funktioniert die normierende Sanktion nicht ohne entsprechende Disziplinaranforderungen. Das heißt: Sie setzt „ein präzises Befehlssystem“69 voraus. Strafbar ist daher alles, was von der Regel, der Anforderung bzw. dem Befehl abweicht.70 Trotzdem meint die Disziplinarstrafe nach Foucault nicht „die Rache des verletzten Gesetzes“, sondern die Reduzierung der Abweichungen. Demnach ist die Disziplinarstrafe ihrer Natur nach eher „korrigierend“ und sucht „den erwarteten Besserungseffekt“ daher weniger in „Sühne und Reue“ als vielmehr direkt in „der Mechanik einer Dressur“. Also bedeutet strafen abrichten.71 Nach Foucault ist die Ordnung, die durch die normierende Sanktion verwirklicht und respektiert wird, sowohl eine künstlich-rechtliche, „die ausdrücklich durch ein Gesetz, ein Programm, ein Reglement gesetzt ist“, wie auch eine natürliche Ordnung, in der „die Dauer einer Lehre, die Zeit einer Übung, das Niveau einer Tauglichkeit von natürlichen Regelmäßigkeiten“ abhängen. 72 In dieser doppelsinnigen Ordnung bildet sich dementsprechend ein neuer „natürlicher Körper“ aus, der Foucault zufolge nicht nur als „ein Träger von Kräften und Sitz einer Dauer“ gilt, sondern auch als ein Empfänger „für spezifische Operationen mit ihrer Ordnung, ihrer Zeit, ihren inneren Bedingungen, ihren Aufbauelementen“.73 Demnach wird zunächst alles bezüglich dieses natürlichen Körpers in Einzelheiten zerlegt und codiert, das heißt von den kleinsten Körperelementen über die Gesten, die Zeitdauer aller Bewegungen bis zum Ver69 70 71 72 73 ÜS, S. 214. Dieses präzise Befehlssystem gilt nicht nur als Bedingung der normierenden Sanktion. Es ist nach Foucault auch die Voraussetzung für eine „sorgfältige abgestimmte Kombination der Kräfte“. In bezug auf die Eigenart des Befehls meint Foucault: „Der Befehl wird weder erläutert noch gar begründet; er hat allein das gewollte Verhalten auszulösen. Das Verhältnis des Zuchtmeisters zum Zögling läuft über Signale: es geht nicht um das Verstehen des Befehls, sondern um die Wahrnehmung des Signals und die alsbaldige Reaktion darauf entsprechend einem vorgegebenen Code.“ ÜS, S. 214. Vgl. ÜS, S. 231. ÜS, S. 232. ÜS, S. 231. Vgl. ÜS, S. 199. 41 hältnis zwischen dem Körper und dem manipulierten Objekt. Danach werden diese unterschiedlichen codierten Einzelheiten in eine Reihenfolge gebracht und schließlich unter entsprechenden Befehlen durch Übungen und Manöver organisch zusammengeschaltet.74 Das Training mit der Waffe ist für Foucault ein ideales Beispiel dafür, wie der gesamte Körper mit dem von ihm manipulierten Objekt in einem Organismus verschmolzen wird. Diesem Training liegt eine Serie „der instrumentellen Codierung“ des Körpers und der Waffe zugrunde. Zunächst werden die Reihe der Körperelemente (rechte Hand, linke Hand, verschiedene Finger, Knie, Auge, Ellbogen) und die Reihe der manipulierten Objektelemente (Lauf, Kerbe, Hahn, Schraube) ins Spiel gebracht, dann die Reihe der Verzahnung dieser beiden (stützen, beugen) und schließlich die Reihenfolge, in der jede dieser Korrelationen einen bestimmten Platz einnimmt.75 In diesem Training mit der Waffe werden die Haltung des Körpers, der Glieder, der Gelenke festgelegt, jeder Bewegung eine Richtung, ein Ausschlag, eine Dauer zugeordnet und die Reihenfolge vorgeschrieben. Dadurch wird nicht nur die zeitliche Durcharbeitung des Körpers76, sondern auch die leistungsstarke Geste ausgelöst77. 74 75 76 42 Vgl. ÜS, S. 195-197, 216. Für Foucault meint die Übung nämlich „jene Technik, mit der man den Körpern Aufgaben stellt, die sich durch Wiederholung, Unterschiedlichkeit und Abstufung auszeichnen. Indem sie das Verhalten auf einen Endzustand ausrichtet, ermöglicht die Übung eine ständige Charakterisierung des Individuums: entweder in bezug auf dieses Ziel oder in bezug auf die anderen Individuen oder in bezug auf eine bestimmte Gangart. Auf diese Weise gewährleistet sie in der Form der Stetigkeit und des Zwangs sowohl Steigerung wie Beobachtung und Qualifizierung.“ ÜS, S. 207f. Vgl. ÜS, S. 197. Vgl. ÜS, S. 194f. Nach Foucault ist die Zeitplanung ein altes Erbe: „In den klösterlichen Gemeinschaften hatte sich ein strenges Schema entwickelt, das sich rasch ausbreitete. Seine drei Elemente – Festsetzung von Rhythmen, Zwang zu bestimmten Tätigkeiten, Regelung der Wiederholungszyklen – tauchen in den Kollegs, den Werkstätten, den Spitälern wieder auf.“ ÜS, S. 192. Während die traditionelle Zeitreglementierung nach Foucault noch auf einem wesenhaft negativen Prinzip beruht, das heißt auf dem „Prinzip des Nicht-Müßiggangs“ und des Verbotes, Zeit zu verlieren, wird der Zeitregulierung durch die Disziplin im Gegenteil eine positive Ökonomie verliehen. Das zeitliche Tätigkeitsprogramm arbeitet das Individuum durch, um sich daran zu gewöhnen, möglichst die einzelnen Elemente seines Körpers optimal zu regulieren, den Zeitverlust zu verringern und schließlich die Aufgaben schnell und richtig durchzuführen. Dementsprechend setzt die Disziplin „auf das Prinzip einer theoretisch endlos wachsenden Zeitnutzung. Nicht nur Einsatz, sondern Ausschöpfung. Es geht darum, aus der Zeit immer noch mehr verfügbare Augenblicke und aus jedem Augenblick immer noch mehr nutzbare Kräfte herauszuholen. Man muss darum versuchen, die Zu diesen Disziplinarkontrollen des Körpers und seiner Tätigkeit meint Foucault: „Desgleichen haben die Disziplinarkontrollen der Tätigkeit ihren Platz unter den theoretischen und praktischen Versuchen zur natürlichen Mechanik der Körper – aber sie beginnen damit, spezifische Prozesse zu entdecken. Das Verhalten und seine organischen Anforderungen verdrängen allmählich die einfache Physik der Bewegung. Der Körper, der bis in die kleinsten Operationen hinein gelehrig zu sein hat, bringt dagegen die einem Organismus eigenen Funktionsbedingungen zur Geltung. Der Disziplinarmacht entspricht eine Individualität, die nicht nur analytisch und »zellenförmig« ist, sondern auch natürlich und »organisch«.“78 Die Disziplinarordnung und die entsprechenden Anforderungen werden nach der Codierung des Körpers und seiner Tätigkeit organisch festgesetzt, darüber hinaus noch nach Rängen und Reihen festgelegt, welche diesmal nicht von der Raumverteilung her, sondern von der „Organisation von Entwicklung“ „evolutiv“ bestimmt werden.79 In der normierenden Sanktion hat die Anforderung nach Rängen eine zweifache Aufgabe. Zum einen sollte sie nach der zeitlichen Entwicklung die Abstände markieren, die Qualitäten, Kompetenzen und Fähigkeiten hierarchisieren, zum anderen sollte sie aber auch Mittel zur Bestrafung und Belohnung sein.80 Die Entwicklung der menschlichen Lernfähigkeit hängt auch von natürlichen Regelmäßigkeiten ab. Die Lernfähigkeit ist demnach evolutiv und zeitlich kontrollierbar. Dies führt also zur Einrichtung der einreihenden Ränge. Es ist zum Beispiel pädagogisch völlig richtig, dass Kinder nicht in eine Klasse eingegliedert werden dürfen, für die sie noch nicht geeignet sind, „weil man sie damit der Gefahr aussetzen würde, nichts lernen zu können“.81 „Die »Einreihung« der Tätigkeit eröffnet die Möglichkeit einer Besetzung der Dauer durch die Macht: die Möglichkeit einer detaillierten Kontrolle und pünktlichen Intervention (einer differen- 77 78 79 80 81 Ausnutzung des geringsten Augenblicks zu intensivieren, als ob die Zeit gerade in ihrer Zersplitterung unerschöpflich wäre oder man durch eine immer feinere Detaillierung auf einen Punkt gelangen könnte, wo die größte Schnelligkeit mit der höchsten Wirksamkeit eins ist.“ ÜS, S. 197f. Vgl. ÜS, S. 195ff. ÜS, S. 200f. Vgl. ÜS, S. 201, 205-207. Vgl. ÜS, S. 205f., 234. ÜS, S. 231. 43 zierenden, korrigierenden, strafenden, ausschaltenden Intervention) in jedem Moment der Zeit; die Möglichkeit des Beurteilens und damit des Einsatzes der Individuen je nach dem Niveau, das sie auf ihren Laufbahnen erreicht haben; die Möglichkeit der Akkumulierung, Einholung, Totalisierung und Ausnutzung der Zeit und der Tätigkeit im Endresultat, das die endgültige Tauglichkeit des Individuums ist“.82 Dafür führt Foucault die Unterteilung des Lesenlernens in sieben Niveaus von Demia als Beispiel an: „Das erste Niveau für die Schüler, die gerade die Buchstaben zu erkennen anfangen; das zweite für die, welche das Buchstabieren lernen; das dritte für diejenigen, welche die Silben zu verbinden lernen; das vierte für diejenigen, die Latein satzweise lesen; das fünfte für diejenigen, die Französisch zu lesen beginnen; das sechste für die besseren Leser; das siebte für diejenigen, welche Handschriften lesen.“83 Jedes Individuum ist also „in eine Zeitreihe eingespannt, die sein Niveau und seinen Rang definiert“.84 Während man anfängt, die Zeit durch Verleihung von Rängen zu akkumulieren und auszunutzen, versucht man gleichzeitig, Abweichungen ebenfalls durch die Verleihung und Zurücksetzung von Rängen und Plätzen zu reduzieren und zu korrigieren. Die Anordnung nach Rängen hat insoweit eine normierende Wirkung, als dass irgendeine Abweichung von der Regel eine entsprechende Strafe nach sich zieht. Im Gegensatz dazu wird ein korrektes Verhalten durch Ehrenverleihung oder Klassenaufstieg belohnt.85 Dadurch werden die Menschen, die sich in der Disziplinarinstitution befinden und durch den allgegenwärtigen Disziplinarblick überwacht werden, verglichen, differenziert, hierarchisiert, homogenisiert und bei Abweichung ausgeschlossen. Dieses lückenlose Sanktionssystem, das alle Punkte und alle Augenblicke der Disziplinaranstalten erfasst und kontrolliert, wirkt also „normend, normierend und normalisierend“.86 Die Disziplinartechniken dienen nichts anderem als der Normalisierung.87 82 83 84 85 86 87 44 ÜS, S. 206. ÜS, S. 205f. ÜS, S. 205. Vgl. ÜS, S. 232-235. ÜS, S. 236. Vgl. Fink-Eitel (Fn.41), S. 77. III. Die individualisierende Prüfung Das dritte Instrument, das nach Foucault die Technik der überwachenden Hierarchie mit derjenigen der normierenden Sanktion kombiniert, ist die Prüfung. Die Prüfung hat nicht nur zu zeigen, ob das Individuum das vorgeschriebene Niveau erreicht hat, sondern auch, ob es bereits fähig ist, seine Kräfte kombinatorisch zusammenzusetzen.88 Demzufolge hat die Prüfung nach Foucault drei wichtige Funktionen: Erstens macht sie das Individuum sichtbar, zweitens dokumentierbar und drittens zu einem als ein Fall zu behandelnden Disziplinarindividuum.89 1. Die Umkehrung der Sichtbarkeit Laut Foucault kehrt die Prüfung zunächst „die Ökonomie der Sichtbarkeit in der Machtausübung“ um.90 Während die traditionell souveräne Macht sich immer in politischen Ritualen sehen lässt, bleibt umgekehrt die Disziplinarmacht durch die Prüfung im Dunkeln. Die Untertanen, die früher etwa bei einem Fest der Marter mit ihren eigenen Augen sehen, wie die von Verbrechen verletzte Souveränität wieder hergestellt wird, sind die anonyme Masse. Aber in der Disziplin sind sie es nun, die gesehen werden müssen und daher im Scheinwerferlicht stehen, damit der Zugriff der Macht gesichert bleibt.91 Die Prüfung zwingt also den Menschen die Sichtbarkeit auf und bringt sie in einen Objektivierungsmechanismus, in dem sie sich in die zu objektivierenden Gebilde verwandeln. Die Prüfung ist insofern die „Zeremonie dieser Objektivierung“, welche gleichsam eine neue Epoche der Disziplin gegenüber der alten der Souveränität eröffnet.92 Dazu sagt Foucault: „Die politische Zeremonie war immer eine überwältigende, aber geregelte Entfaltung von Macht gewesen: ein verschwenderischer Ausdruck von Kraft; eine übermäßige, aber codierte »Verausgabung«, aus der die Macht ihre Kraft schöpfte. Mehr oder weniger glich sie immer dem Triumph. Das feierliche Auftreten des Souveräns hatte etwas von Weihe, Krönung und Sieg an sich. Bis zu den Totenfeierlichkeiten gab es nichts, was sich nicht im Feuerwerk 88 89 90 91 92 Vgl. ÜS, S. 204, 209, 211f., 216, 238. Vgl. ÜS, S. 241, 243, 246. ÜS, S. 241. Vgl. ÜS, S. 64f., 74-76, 238, 241; MM, S. 122. Vgl. ÜS, S. 242. 45 der Machtentfaltung abspielte. Ein ganz anderer Typ von Zeremonie entspricht der Disziplin: nicht die übermächtige Sichtbarkeit des Triumphes, sondern die Übersichtlichkeit der Parade. In dieser prunkvollen Spielart der Prüfung werden die »Subjekte« als Objekte einer Macht zur Beobachtung vorgeführt, die sich nur durch ihren Blick kundtut. Sie empfangen nicht direkt das Bild der souveränen Macht, sondern bringen deren Wirkungen nur in ihren genau lesbar und gelehrig gewordenen Körpern zur Geltung.“93 2. Die Dokumentierbarmachung der Individualität Das zweite Merkmal der Prüfung ist die Dokumentierbarmachung der Individualität. Was in den obigen Objektivierungsverfahren zu ermitteln ist, muss alles mit einer zu speichernden Form von Dokumenten fixiert und in „ein Netz des Schreibens und der Schrift“ transformiert werden, damit man auf Register jederzeit zurückgreifen und über das Fortschreiten des Geprüften urteilen kann.94 Durch die ausführliche Registrierung werden in der Tat nicht nur die dem Individuum eigenen besonderen Züge und Entwicklungsphasen vermerkt und gespeichert. In diesen vielfältigen individuellen Daten und Archiven verstecken sich darüber hinaus zugleich die fruchtbaren globalen Informationen bezüglich der Bevölkerung, welche erst weiter durch die subtilen Aufzeichnungs- und Dokumentationsmethoden wie etwa die Klassifizierung, Kategorienbildung, Durchschnittsermittlung und Normenfixierung entschlüsselt werden.95 In diesen Dokumentationsmethoden sind die Techniken der Statistik und der Tabellierung ganz besonders eindrucksvoll.96 Die Statistik ist 93 94 95 96 46 ÜS, S. 242. Vgl. ÜS, S. 243f. Nach Foucault waren besonders die Spitäler des 18. Jahrhunderts große Laboratorien für die Aufzeichnungs- und Dokumentationsmethoden, zum Beispiel „die Führung der Register, ihre Spezialisierung sowie ihre Übertragung aufeinander, ihr Zirkulieren während der Visiten, ihre gegenseitige Konfrontierung im Lauf regelmäßiger Sitzungen der Ärzte und Verwalter, die Weiterleitung ihrer Daten an zentrale Stellen [...], die Buchführung über die Krankheiten, die Heilungen und die Todesfälle innerhalb eines Spitals oder einer Stadt oder gar der gesamten Nation“. „All das bildet den Prozess, in dem die Spitäler dem Disziplinarsystem unterworfen worden sind.“ ÜS, S. 245. Außerdem ist das spätere Aufkommen des Karteisystems mit Einzelblättern auffällig, das ab 1833 nach dem Vorbild der „Naturforscher, der Bibliothekare, der Händler, der Geschäftsleute“ im Bereich der Strafjustiz eingeführt wurde. Mit nichts anderes als die Technik des Entzifferns. Seit dem Zeitalter der Staatsräson ist die Statistik nach Foucault das effektive Instrument geworden, den tatsächlichen Bevölkerungszustand und die übrigen Informationen über die Größe und die Ressourcen eines Landes zu ermitteln. Erst durch die Statistik wird ein kollektives Wissen über die Bevölkerung, ihre Arbeitskräfte bzw. die Stärke eines Staates eingerichtet. Dementsprechend gilt die Statistik nach Foucault eher als „die politische Arithmetik“.97 Die Technik der Tabellierung oder des Tableaus ist ebenfalls wie die Statistik ein Wissensverfahren, welches nach Foucault zu den großen Problemen der wissenschaftlichen, politischen und ökonomischen Technologie des 18. Jahrhunderts gehörte und in den verschiedenen Bereichen verwandt wurde.98 Bei dieser Tabellierungstechnik geht es vor allem um die Transformation der unübersichtlichen, unnützen und gefährlichen Mengen in geordnete Vielheiten, das heißt um „die Organisation des Vielfältigen, das überschaut und gemeistert, dem eine »Ordnung« verliehen werden muss“.99 Mit der eigenartigen „Schriftmacht“ und der entsprechenden subtilen Dokumentationstechniken führt die Prüfung nach Foucault also zwei miteinander zusammenhängende Mechanismen der Registrierungen: Einerseits konstituiert sich ein individuelles Archivsystem, in dem das Individuum zum beschreibbaren, analysierbaren Gegenstand wird und alle ermittelten individuellen Ergebnisse von der eigenen gewöhnlichen Verhaltensweise bis zum winzigen Übel der alltäglichen Lebensführung regist- 97 98 99 diesem Karteisystem lassen sich neue Daten und zu jedem gesuchten Individuum gehörige Informationen leicht einbauen. Vgl. ÜS, S. 362f. Vgl. PTI, S. 175; StW, S. 33, 38; Gouv, S. 56. Vgl. Rassem (Fn.34), S. 223-227. Eines der bekannten Beispiele dieser Tabellierungstechnik im Bereich der Wirtschaftstheorie ist das „Tableau économique“ von François Quesnay. Danach wird der Wirtschaftsprozess in Analogie zum Blutkreislauf auch als ein Kreislauf betrachtet. Das heißt: Der Kreislauf der Waren und des Geldes wird in Form eines ökonomischen Tableaus beobachtet, kontrolliert und reguliert, damit das Wirtschaftswachstum gesichert wird. Vgl. Karl-Heinz Schmidt, Merkantilismus, Kameralismus, Physiokratie, in: Otmar Issing (Hrsg.), Geschichte der Nationalökonomie, 3. Aufl., München 1994, S. 50-55. Außerdem kann man den Gebrauch des Tableaus auch in verschiedenen Bereichen finden. Diese sind zum Beispiel die „Anlegung der Pflanzen- und Tiergärten und gleichzeitig rationale Klassifizierung der Lebewesen“, die „Inspektion der Menschen, Feststellung ihrer Anwesenheit und Abwesenheit und Aufstellung eines allgemeinen und beständigen Registers der bewaffneten Kräfte“, die „Aufteilung der Kranken und ihre Absonderung voneinander, sorgfältige Absichtung des Spitalraums und systematische Klassifizierung der Krankheiten“. ÜS, S. 190. ÜS, S. 190. 47 riert, verschlüsselt und gesammelt werden; andererseits baut sich ein Vergleichssystem auf, in dem kollektive Informationen zu erfassen sind, nicht nur die biologischen Konstanten und Variationen der Bevölkerung wie Geburtenrate, Sterblichkeit, Lebensdauer, Fruchtbarkeit, Gesundheitszustand, Krankheitshäufigkeit und Ernährungsweise, sondern auch die globalen ökonomischen Phänomene wie die Arbeitsfähigkeit der Bevölkerung, die Arbeitslosigkeit, die Lebensmittelknappheit usw.100 Durch diese subtilen Mechanismen der Registrierung und ihre ermittelnden Dokumentationstechniken lässt sich nicht nur der Zugriff der Disziplinarmacht auf „das Gewöhnliche des Lebens“ möglich machen. Ausgelöst wird zugleich auch ein ganz neuer Typ von Beziehungen zwischen „der Macht, dem Diskurs und dem Alltag“, der mit der „Diskursivierung des Alltäglichen“ bezeichnet wird.101 Demzufolge können und dürfen „all diese Dinge, die das Gewöhnliche, das unwichtige Detail, das Dunkle, die ruhmlosen Tage, das gemeine Leben ausmachen“, geprüft, ermittelt, gesagt und in Dossiers und Archiven beschrieben, abgeschrieben, registriert und akkumuliert werden.102 Mit Hilfe ihrer subtilen Techniken der Registrierung ist die Disziplinarmacht in der Lage, nicht nur den Diskurs über den zu disziplinierenden Gegenstand zu vermehren, das heißt die Diskursivierung auszulösen, sondern auch zugleich die Humanwissenschaften wie Medizin, Psychiatrie, Kriminologie und den „Wille[n] zum Wissen“ zu begründen.103 Dazu sagt Foucault: 100 101 102 103 48 Vgl. ÜS, S. 245. LiM, S. 29f. Vgl. LiM, S. 35f. Nicht nur die Humanwissenschaften werden durch die Disziplinarschrifttechniken begründet. Nach Foucault entsteht zugleich „eine Kunst des Sprechens“, deren Aufgaben nicht mehr sind, vom Unwahrscheinlichen wie „das Heldentum“, „die Großtat“, „die Abenteuer“, „die Vorsehung und die Gnade“ zu singen, sondern das erscheinen zu lassen, „was nicht erscheint – nicht erscheinen kann oder darf: die letzten und unscheinbarsten Stufen des Wirklichen zu sagen“. Demnach sollte die Literatur ihre zeremoniellen Funktionen allmählich umgehen und erneut danach suchen, „was am schwierigsten wahrzunehmen ist, was am tiefsten verborgen ist, was am unbequemsten zu sagen und zu zeigen ist, schließlich was am meisten untersagt und anstößig ist“. LiM, S. 44-46. Diese neue Aufgabe der Literatur sollte weiter mit der Funktion der höfischen Tragödie zusammengenommen betrachtet werden. Denn „[m]an darf nicht vergessen, dass im 17. Jahrhundert und nicht nur in Frankreich die Tragödie eine der großen rituellen Formen war, in welcher sich das öffentliche Recht kundtat und die Probleme erörtert wurden. Die »historischen« Tragödien Shakespeares sind Tragödien des Rechts und des Königs, die wesentlich um das Problem der Usurpation und des Niedergangs, der Ermordung der Könige und um die Geburt eines neuen Wissens krei- „Man muss sich bei jenen Aufzeichnungs- und Registrierungsverfahren, bei den Überprüfungsmechanismen, bei der Formierung der Disziplinaranlagen und bei der Herausbildung eines neuen Typs von Macht über die Körper umsehen. Die Geburt der Wissenschaften vom Menschen hat sich wohl in jenen ruhmlosen Archiven zugetragen, in denen das moderne System der Zwänge gegen die Körper, die Gesten, die Verhaltensweisen erarbeitet worden ist.“104 Davon ausgehend sind zum Beispiel „die Diskursivierung des Sexes“ und die Begründung der „Wissenschaft von der Sexualität“ zu erklären.105 Im Gegensatz zur sogenannten „Repressionshypothese“, die behauptet, dass der Diskurs über Sex lange Zeit unterdrückt würde, nimmt Foucault an: „Das Wesentliche aber ist die Vermehrung der Diskurse über den Sex, die im Wirkungsbereich der Macht selbst stattfindet: institutioneller Anreiz, über den Sex zu sprechen, und zwar immer mehr darüber zu sprechen; von ihm sprechen zu hören und ihn zu Sprechen zu bringen in ausführlicher Erörterung und endloser Detailanhäufung.“ „Alle diese negativen Elemente – Verbote, Verweigerungen, Zensuren, Verneinungen –, die die Repressionshypothese in einem großen zentralen Mechanismus zusammenfasst, der auf Verneinung zielt, sind zweifellos nur Stücke, die eine lokale und taktische Rolle in einer Diskursstrategie zu spielen haben: in einer Machttechnik und in einem Willen zum Wissen, die sich keineswegs auf Repression reduzieren lassen.“ Demnach behauptet Foucault, „dass seit Ende des 16. Jahrhunderts die »Diskursivierung« des Sexes nicht einem Restriktionsprozess, sondern im Gegenteil einem Mechanismus zunehmenden Anreizes unterworfen gewesen ist; dass die auf den Sex wirkenden Machttechniken nicht einem Prinzip strenger Selektion, sondern einem Prinzip der Ausstreuung und der Einpflanzung polymorpher Sexualitäten gehorcht haben und dass der Wille 104 105 sen, wie es die Krönung eines Königs hervorbringt. [...] Mir scheint, dass es eine grundlegende und entscheidende Zusammengehörigkeit von Tragödie und Recht, von Tragödie und öffentlichem Recht gibt, genau wie es wahrscheinlich eine entscheidende Zusammengehörigkeit von Roman und Normproblemen gibt. Tragödie und Recht, Roman und Norm: Das müsste man näher betrachten.“ VG, S. 201f. Zur Frage, wie der König sich der Formen und Symbole in der Architektur des Hofes, beim Zeremoniell, beim Ritual, im Roman und in anderen Kunstwerken bedient, um seine politische Macht zu konsolidieren, siehe etwa Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999, S. 80-100. ÜS, S. 246. Bezüglich des Aufkommens der Kriminologie siehe ÜS, S. 319-327. 49 zum Wissen nicht vor einem unaufhebbaren Tabu haltgemacht, sondern sich vielmehr eifrigst bemüht hat – sei es auch durch viel Irrtümer hindurch – eine Wissenschaft von der Sexualität zu konstituieren.“106 3. Die Produktion des Disziplinarindividuums durch die Fallforschung Schließlich wird das Individuum nach Foucault in den Prüfungsverfahren als ein „Fall“ behandelt, der zugleich „Gegenstand für eine Erkenntnis“ und „Zielscheibe für eine Macht“ ist. Demgemäss wird das Individuum sowohl zu einem vergegenständlichten Objekt, das beschrieben, abgeschätzt, gemessen, mit anderen und sogar mit ihm selbst verglichen wird, als auch zu einem sich der Disziplinarmacht unterwerfenden Subjekt, das dressiert, korrigiert, klassifiziert, normalisiert und schließlich ausgeschlossen wird. Foucault zufolge werden das Kind, der Kranke, der Wahnsinnige, der Verurteilte seit dem 18. Jahrhundert ständig fallweise zum „Gegenstand individueller Beschreibungen und biologischer Berichte“ gemacht. Jedem der Beobachteten wird in der ihn einfangenden Fallforschung seine eigene Individualität als Stand zugewiesen, „in der er auf die ihn charakterisierenden Eigenschaften, Maße, Abstände und »Noten« festgelegt wird“.107 Die von Foucault herausgegebene Studie über den Fall Pierre Rivière, der wegen Mutter- und Geschwistermordes im Jahr 1835 zum Tode verurteilt, später zu lebenslanger Haft begnadigt worden war und sich schließlich im Gefängnis 1840 erhing, gilt als ein Versuch Foucaults, das Verhältnis zwischen Macht, Wissen und Wahrheit mittels der Dokumente darzustellen. Denn in Foucaults Augen erlauben Dokumente wie die über den Fall Rivière, „die Bildung und den Fluss eines Wissens (wie das Wissen der Medizin, der Psychiatrie, der Psychopathologie) in ihren Beziehungen mit den Institutionen und den Rollen, die dort gespielt werden müssen (Gericht, Gutachter, Angeklagter, Krimineller/Wahnsinniger usw.), zu analysieren“. Die Dokumente ermöglichen zugleich „eine Aufschlüsselung der Macht-, Herrschafts- und Kampfverhältnisse, in deren Rahmen sich die Diskurse abspielen“, und „eine Analyse des Diskurses (und sogar wissenschaftlicher Diskurse), die zugleich Tatsachenanalyse und politische, also strategische, Analyse ist“. „Schließlich lässt sich an diesem Beispiel die Verwirrung ermessen, die ein Diskurs wie der Rivi106 107 50 WW, S. 28, 22f. ÜS, S. 246f. ères stiftet; es lassen sich all die Taktiken aufzeigen, mit denen man versucht, ihn zuzuschütten, ihn einzuordnen, ihn als Diskurs eines Wahnsinnigen oder eines Kriminellen zu qualifizieren.“108 Mit Hilfe dieser Fallforschung entwickelt sich die Prüfung also zu einer individualisierenden Technik, welche nicht nur die „klinischen“ Wissenschaften vom Menschen konsolidiert, in denen das Individuum als Effekt und Objekt von Wissen konstituiert wird, sondern auch das zu erkennende Individuum in ein zu disziplinierendes transformiert, das hierbei eher als Effekt und Objekt von Macht konstituiert wird.109 Dieses gleichzeitig zu erkennende und zu disziplinierende Individuum ist in der Tat ein sich ständig in dem durch die Disziplinarmacht manipulierten Objektivierungsprozess konstituierendes Subjekt. In Wirklichkeit lässt sich also kein Subjekt jenseits der Machtbeziehungen voraussetzen.110 Demnach steht die Prüfung in Foucaults Augen im Zentrum der gesamten Disziplinarprozeduren111, die sich nicht mehr für das Verfahren der „aufsteigenden“ Individualisierung interessieren, welches stets auf das Herrschaftszentrum der Souveränität gerichtet ist, sondern im Gegenteil versuchen, ein anderes der „absteigenden“ Individualisierung zu bilden, welches nach dem Übelsten, Geheimsten, Unerträglichsten und Unverschämtesten sucht.112 Während letzteres vermittels Überwachungen, Beobachtungen und vergleichenden Messungen aus dem Gewöhnlichen, dem winzigen Detail des alltäglichen Lebens ein „Disziplinarindividuum“ macht, das inhaltlich weiter um die oben erwähnte zellenförmige, organische, evolutive und kombinatorische Individualität ergänzt wird, bleibt ersteres noch im alten Feudalsystem verhaftet und hört niemals auf, 108 109 110 111 112 Einf, S. 11. In diesem Buch werden die Dossiers bezüglich des Falls Rivière, angefangen vom Verbrechen und der Verhaftung über die Ermittlung, das Memoire Pierre Rivières, die gerichtsmedizinischen Gutachten und den Prozess bis hin zum Strafvollzug und seinem Tod umfangreich herausgegeben. Vgl. Einf, S. 17-201; DE II, S. 490. Vgl. ÜS, S. 246f. Vgl. Urs Marti, Michel Foucault, 2. Aufl., München 1999, S. 86. Dazu sagt Foucault: „Indem sie hierarchische Überwachung und normierende Sanktion kombiniert, erbringt die Prüfung die großen Disziplinarleistungen der Verteilung und Klassifizierung, der maximalen Ausnutzung der Kräfte und Zeiten, der stetigen Anhäufung und optimalen Zusammensetzung der Fähigkeiten. Also der Herstellung der zellenförmigen, organischen, evolutiven und kombinatorischen Individualität. Die Prüfung ritualisiert jene Disziplinen, die man mit einem Wort charakterisieren kann, indem man sagt, sie sind eine Spielart der Macht, für die der individuelle Unterschied entscheidend ist.“ ÜS, S. 247f. Vgl. ÜS, S. 248; LiM, S. 44f., 47. 51 Heldentaten, Mächtigkeiten, Adeligkeiten in Ritualen, Zeremonien und Genealogien zu prägen.113 Dazu sagt Foucault: „Die Disziplinen markieren die Umkehrung der politischen Achse der Individualisierung. In den Gesellschaften, für die das Feudalsystem nur ein Beispiel ist, erreicht die Individualisierung ihren höchsten Grad in den höheren Bereichen der Macht und am Ort der Souveränität. Je mehr Macht oder Vorrechte einer innehat, um so mehr wird er durch Rituale, Diskurse oder bildliche Darstellungen als Individuum ausgeprägt. [...] Als man von den traditionell-rituellen Mechanismen der Individualisierung zu den wissenschaftlich-disziplinären Mechanismen überging, als das Normale den Platz des Altehrwürdigen einnahm und das Maß den Platz des Standes, als die Individualität des berechenbaren Menschen die Individualität des denkwürdigen Menschen verdrängte und die Wissenschaften vom Menschen möglich wurden – da setzten sich eine neue Technologie der Macht und eine andere politische Anatomie des Körpers durch.“114 Davon ausgehend sind das Disziplinarindividuum und das Atomindividuum, das zu disziplinierende Subjekt und das abstrakte Rechtssubjekt zu differenzieren.115 Diesem von Foucault verworfenen isolierten Atomindividuum oder Rechtssubjekt liegt seiner Meinung nach eher der homo oeconomicus zugrunde. Der homo oeconomicus, der von den Ökonomen frei erfunden wird, ist nach Foucault der Mensch ohne Geschichte und Vergangenheit. Er wird allein von seinen Bedürfnissen gesteuert und tauscht Produkte seiner Arbeit gegen andere. Folglich ist er nichts anderes als ein „Tauschhändler der Rechte und Güter“. Als Tauschhändler der Güter konstituiert er die bürgerliche Gesellschaft, deren Natur nach sie ein System der Bedürfnisse ist. Als Tauschhändler der Rechte verwandelt er sich zuvor in ein Rechtssubjekt, schließt dann den Gesellschaftsvertrag 113 114 115 52 Vgl. ÜS, S. 207, 216, 248f., 291, 397; VG, S. 39f. Vgl. auch Markus Schroer, Das Individuum der Gesellschaft. Synchrone und diachrone Theorieperspektiven, Frankfurt a.M. 2000, S. 85-103. ÜS, S. 248f. Im Anschluss daran sagt Foucault weiter: „[W]enn vom Mittelalter bis heute das »Abenteuer« die Erzählung von der Individualität kennzeichnet, so verweisen doch die Übergänge vom Epos zum Roman, von der Großtat zur heimlichen Besonderheit, von den Kämpfen zu den Phantasmen auf die Formierung einer Disziplinargesellschaft.“ ÜS, S. 249. Entsprechend dieser Gegenstandswende ändert sich die Aufgabe der Literatur. Die Literatur ist insofern nicht mehr auf „das Fabelhafte“, sondern vielmehr auf „das Niedrigste“, „das gänzlich Unrühmliche“ bzw. auf „das Infame“ gerichtet. Vgl. LiM, S. 45; vgl. dazu auch Fn. 103. Vgl. Stefan Breuer, Foucaults Theorie der Disziplinargesellschaft. Eine Zwischenbilanz, in: Leviathan 15 (1987), S. 320f. ab und verlangt deswegen eine Verfassung, in der der Staat und die Souveränität begründet werden.116 Dieses völlig von den historischen Bedingungen abstrahierte Rechtssubjekt und der von ihm abgeschlossene abstrakte Gesellschaftsvertrag wurden zwar vom Bürgertum, das heißt vom Dritten Stand, als ein universeller und zwar allgemeingültiger Anspruch gegenüber dem monarchischen Absolutismus und seiner Machtvollkommenheit gebraucht.117 Dies verändert aber weder das Faktum der Fiktion des Rechtssubjekts noch die Realität der Konstituierung des Disziplinarindividuums durch die Disziplinarmacht. Daraus schließt Foucault: „Man sagt oft, das Modell einer Gesellschaft, die wesentlich aus Individuen bestehe, sei den abstrakten Rechtsformen des Vertrags und des Tausches entlehnt. Die Warengesellschaft habe sich als eine vertragliche Vereinigung von isolierten Rechtssubjekten verstanden. Mag sein. Die politische Theorie des 17. und 18. Jahrhunderts scheint diesem Schema tatsächlich häufig zu entsprechen. Doch darf man nicht vergessen, dass es in derselben Epoche eine Technik gab, mit deren Hilfe die Individuen als Macht- und Wissenselemente wirklich hergestellt worden sind. Das Individuum ist zweifellos das fiktive Atom einer »ideologischen« Vorstellung der Gesellschaft: es ist aber auch eine Realität, die von der spezifischen Machttechnologie der »Disziplin« produziert worden ist. Man muss aufhören, die Wirkungen der Macht immer negativ zu beschreiben, als ob sie nur »ausschließen«, »unterdrücken«, »verdrängen«, »zensieren«, »abstrahieren«, »maskieren«, »verschleiern« würde. In Wirklichkeit ist die Macht produktiv; und sie produziert Wirkliches. Sie produziert Gegenstandsbereiche und Wahrheitsrituale: das Individuum und seine Erkenntnis sind Ergebnisse dieser Produktion.“ 118 116 117 118 Vgl. VG, S. 225. Im Vergleich zur Monarchie und Aristokratie hat das Bürgertum nach Foucault weniger Interesse daran, seine politischen Projekte in die Geschichte einzubringen, weil es sich selbst als historisches Subjekt kaum vor dem Mittelalter im Spiel der Kräfteverhältnisse wieder finden konnte. Dazu sagt er: „Wie hätte man etwas der Ordnung des Dritten Standes oder des Bürgertums Entsprechendes finden können, solange man die Merowinger, Karolinger, die fränkische Invasion oder sogar Karl den Großen dahingehend befragte? Daraus wird erklärlich, warum das Bürgertum entgegen den üblichen Behauptungen im 18. Jahrhundert gegenüber der Geschichte am zurückhaltendsten, am widerständigsten war. Die Aristokratie war zutiefst historisch. Die Monarchie war es, die Parlamentarier waren es ebenfalls. Aber das Bürgertum blieb lange Zeit anti-historistisch oder anti-historisch, wenn Sie so wollen.“ VG, S. 243. ÜS, S. 249f. Vgl. auch: „Die Rechtstheorie kannte im Grunde nur das Individuum und die Gesellschaft: das vertragsschließende Individuum und den Gesell53 D. Die Entstehung der Disziplinargesellschaft I. Von der institutionsimmanenten Disziplin zur gesellschaftlichen Disziplin Die Disziplin, die nach Foucault vor allem als Technik betrachtet wird und dementsprechend stets auf die Fabrikation von gelehrigen und nutzbringenden Körpern gerichtet ist, entwickelt sich zunächst innerhalb bestimmter geschlossener Institutionen wie Schulen, Fabriken, Krankenhäuser und Kasernen, tendiert aber allmählich dazu, „sich über die Institutionen hinaus auszuweiten, sich zu »deinstitutionalisieren«, ihre geschlossenen Festungen zu verlassen und »frei« zu wirken“. 119 Diese fortschreitende Ausweitung der Disziplinarmechanismen führt also im Lauf des klassischen Zeitalters des 17. und 18. Jahrhunderts zur Formierung der „Disziplinargesellschaft“, innerhalb derer „ein lückenlos überwachendes und durchdringendes Netzwerk“ im ganzen Gesellschaftskörper aufzuspüren ist. In diesem Sinne gilt Benthams Konzeption vom Panopticon, welche „auf der Ebene eines einfachen und leicht zu übertragenden Mechanismus das elementare Funktionieren einer von Disziplinarmechanismen vollständig durchsetzten Gesellschaft“ programmiert120, nicht nur als das Manifest für die Entstehung dieser Disziplinargesellschaft, sondern auch als eine Art gemeinsame Sprache, mittels derer alle Arten von Institutionen und Mechanismen innerhalb der Gesellschaft in Kommunikation gebracht werden. Eben wie François Ewald anführt: „Die Disziplinargesellschaft ist eine Gesellschaft der absoluten Kommunikation; die Verbreitung der Disziplinen wird es gestatten, dass alles mit allem – einem Spiel von unendlichen Redundanzen und Homologien folgend – kommuniziert.“121 Von der Praxis her gesehen ist die Ausweitungstendenz von der institutionsimmanenten Disziplin zur gesellschaftlichen Disziplin, das heißt die Verallgemeinerung der Disziplinarmechanismen quer durch die Gesamtgesellschaft, von drei Aspekten her zu betrachten. Zunächst nehmen 119 120 121 54 schaftskörper, der durch den freiwilligen oder implizierten Vertrag der Individuen konstituiert worden war. Die Disziplinen hatten es praktisch mit dem Individuum und seinem Körper zu tun.“ VG, S. 283. Vgl. auch S. 39, 291, 391. ÜS, S. 271. ÜS, S. 268f. Ewald (Fn.2), S. 165. Vgl. auch ders., Norms, Discipline, and the Law, in: Robert Post (Hrsg.), Law and the Order of Culture, Berkeley u.a. 1991, S. 141. die geschlossenen Disziplinarinstitutionen nach Foucault neben ihrer spezifischen inneren Disziplinarfunktion zugleich „nach außen hin eine Überwachungsrolle“ wahr, indem sie die Zone um sich herum kontrollieren.122 Zum Beispiel hat die christliche Schule nach Foucault mit Hilfe der Nachfrage über die Familienzustände bezüglich der Lebensweise, Einkommensverhältnisse, Frömmigkeit und Sitten zur Überwachung der Eltern beigetragen. Insofern bildet die Schule „winzige Gesellschaftsobservatorien“ und übt „über die Erwachsenen eine regelmäßige Kontrolle“ aus. In ähnlicher Weise gilt das Spital als „Stützpunkt“ und spielt eine immer wichtigere Rolle für „die medizinische Überwachung der Bevölkerung“.123 Zweitens: Anstatt der geschlossenen Institutionen kann die Funktion der gesellschaftlichen Disziplinierung nach Foucault mit Hilfe der in der Gesellschaft verstreuten „Kontrollpunkte[...]“ in Gang gesetzt werden. Diese Kontrollpunkte ergeben sich meistens aus privaten Initiativen, religiösen Gruppen oder aus Wohltätigkeitsvereinen. Ihre Aufgaben sind vielfältig und nach Foucault möglicherweise „religiös (Bekehrung und Moralisierung), wirtschaftlich (Hilfeleistung oder Anhaltung zur Arbeit), politisch (Kampf gegen Unzufriedenheit oder Aufruhr)“.124 Schließlich übernimmt auch die Organisation der zentralisierten Polizei, die lange als „der unmittelbarste Ausdruck des königlichen Absolutismus“ galt und „direkt ans Zentrum der politischen Souveränität“ angeschlossen war, die Funktion der gesellschaftlichen Disziplinierung. 125 Damit eine infinitesimale Disziplinarkontrolle gelingen kann, welche über die ganze Gesellschaft verstreut ist, entwickelt sich die Polizeigewalt nach Foucault zum hierarchischen Netz „einer ununterbrochenen, erschöpfenden, allgegenwärtigen Überwachung“, die imstande ist, nicht nur alles außer sich selbst sichtbar zu machen, sondern auch jederzeit eine detaillierte Prüfung vorzunehmen. Dabei werden die kleinsten Machtinstanzen, von „den Familien, den Werkmeistern, den Notablen, den Nachbarn, den Pfarrherrn“ über „die regelmäßig bezahlten »Beobachter«, die tageweise entlohnten Spitzel, die für Sonderaufgaben eingesetzten Denunzianten“ bis hin zu „den Prostituierten“, überall in der Gesellschaft postiert. Diese kleinsten Machtinstanzen sind nämlich die beweglichen und ständig wachsamen Disziplinarblicke, von denen alles, was passiert, 122 123 124 125 Vgl. ÜS, S. 271. ÜS, S. 271f. ÜS, S. 272f. Vgl. ÜS, S. 273f. 55 erfasst wird. Diese vielfältigen und fruchtbaren Beobachtungsergebnisse werden später durch die komplexe dokumentarische Organisation der Polizei in einer Reihe von Berichten und Registern angehäuft, welche dann schrittweise von unten nach oben weiter abgegeben und schließlich in die Hand des Königs überreicht werden.126 Mit Hilfe der Polizei wird also nicht nur die absolute souveräne Macht des Monarchen an jene kleinsten in der Gesellschaft verstreuten Machtinstanzen geknüpft, sondern auch am Ende ein „Verbindungsnetz“ gespannt, das die von den geschlossenen Disziplinarinstitutionen offengelassenen Lücken füllt und die nicht-disziplinierten Räume diszipliniert. So ist die Polizei zugleich das effektive Regierungs- und Disziplinierungsinstrument des monarchischen Absolutismus, womit das Volk „zur Ordnung und zum Gehorsam“ gebracht wird.127 Im Vergleich zu den obig dargelegten privaten Gruppen stellt die Funktion der gesellschaftlichen Disziplinierung durch die Polizei zwar „die Verstaatlichung der Disziplinarmechanismen“ dar. Daraus kann man jedoch nicht schließen, „dass die Disziplinarfunktionen ein für allemal von einem Staatsapparat konfisziert und absorbiert worden sind“. Denn die Disziplin, wie Foucault sie uns vorstellt, wird weder mit einer Institution noch mit einem Apparat identifiziert. Sie ist genau „ein Typ von Macht; eine Modalität der Ausübung von Gewalt; ein Komplex von Instrumenten, Techniken, Prozeduren, Einsatzebenen, Zielscheiben; sie ist eine »Physik« oder eine »Anatomie« der Macht, eine Technologie“.128 Die Disziplin kann daher institutionsimmanent in der Schule, der Fabrik, der Amtsverwaltung und weiterhin institutionstranszendent in der ganzen Gesellschaft eingesetzt werden, damit bestimmte Ziele erreicht werden. Durch diese Entwicklung von der institutionsimmanenten Disziplin zur gesellschaftlichen Disziplin wird also nicht nur „eine infinitesimale Verteilung der Machtbeziehungen“ in der Gesellschaft gewährleistet. Dadurch verwandelt sich die Gesellschaft zugleich auch in eine Disziplinargesellschaft, in welcher der „endlos verallgemeinerungsfähige Mechanismus des Panoptismus“ ununterbrochen in Betrieb ist.129 126 127 128 129 56 Vgl. ÜS, S. 274. ÜS, S. 276. ÜS, S. 273, 276f. Vgl. ÜS, S. 277. II. Die Funktionsweise der panoptischen Disziplinargesellschaft – im Vergleich zur Sozialdisziplinierung nach Gerhard Oestreich Wie oben erwähnt, gilt die frühneuzeitliche Polizei zwar immer als der unmittelbarste Ausdruck des königlichen Absolutismus und seiner repressiven, souveränen Macht. Aber ihre inneren Organisationsprinzipien und Einsatztypen sind nur von der Technik der Disziplin her zu verstehen. Demnach ist die Einsetzung der gesellschaftlichen Disziplin nach Foucault zur wesentlichen Aufgabe der frühneuzeitlichen Polizei geworden.130 Eigentlich ist Foucault nicht die einzige Person, die die Aufgabe der Polizei im Zeitalter des monarchischen Absolutismus von der Disziplinierung her betrachtet. In einem für die einschlägige Diskussion mittlerweile klassisch gewordenen Artikel Strukturproblem des europäischen Absolutismus aus dem Jahr 1968131 bemerkte Gerhard Oestreich schon die Disziplinierungsfunktion der Polizei und prägte diesbezüglich den Begriff der „Sozialdisziplinierung“132, um zu zeigen, dass diese das politische und soziale Ergebnis des monarchischen Absolutismus gewesen sei.133 Nach Oestreich vollzog sich der Vorgang der Sozialdisziplinierung in den verschiedenen Gebieten und veränderte die Grundstrukturen des politischen und gesellschaftlichen Lebens. Demzufolge nimmt Oestreich an: „Bürokratismus, Militarismus und Merkantilismus, ziviler, militärischer und ökonomischer Staatsdienst, bildeten gleichsam Erscheinungsformen der Sozialdisziplinierung auf den Gebieten der Verwaltung, des Heerwesens und der Wirtschaft. Die zivilen Minister und Beamten, die Offiziere und Soldaten, die ökonomischen Unternehmer und Handwerker, nicht zuletzt überhaupt alle Untertanen wurden in ihrer Arbeit und ihrer Haltung diszipliniert.“134 Für Oestreich hat dieser generelle Vorgang der So130 131 132 133 134 Vgl. ÜS, S. 277. Dieser Artikel erschien zuerst in: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 55 (1968), S. 319-347, und später in der Aufsatzsammlung Gerhard Oestreich: Geist und Gestalt des frühmodernen Staates, Berlin 1969, S. 179-197. Der nachfolgenden Diskussion liegt dies Aufsatzsammlung zugrunde. Vgl. Rassen (Fn.34), S. 217. Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1. Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600-1800, München 1988, S. 337. Vgl. Oestreich (Fn.131), S. 188. AaO, S. 191. Nach Oestreich wurde nicht nur der Mensch „in seinem Wollen und seiner Äußerung“ diszipliniert, sondern auch die Natur „in den kunstvoll beschnittenen Hecken und Bäumen der barocken Schlossparkanlagen und Gärten“. 57 zialdisziplinierung eine tiefdringende und bedeutsame gesellschaftliche Wirkung, welche die Umgestaltung des inneren Menschen, nämlich „die geistig-moralische und psychologische Strukturveränderung des politischen, militärischen, wirtschaftlichen Menschen“ ist.135 Eigentlich möchte Oestreich gegenüber dem Rationalisierungsprozess von Max Weber, der die Rationalisierung als die Grundlegung der europäischen Lebensgestaltung betrachtet, darauf hinweisen, dass eher die Sozialdisziplinierung der „Fundamentalvorgang“, die „Grundtatsache“ und die „Leitidee“ des monarchischen Absolutismus ist.136 Nach Oestreich wurde dieser gemeineuropäische Vorgang der Sozialdisziplinierung durch den werdenden monarchischen Absolutismus bewusst gefördert, damit dem langjährigen, durch die Glaubensspaltung ausgelösten Misstrauen und den grausamen Auseinandersetzungen gegenüber eine neue Über- und Unterordnung insbesondere unter dem Namen des Staates in Gang gesetzt wurde. Diese neue staatliche Ordnung, nach welcher die Sozialdisziplinierung ununterbrochen strebt, richtet sich nicht mehr auf das mittelalterliche persönliche Status-Treueverhältnis, sondern auf das Prinzip von Befehl und Gehorsam, welches genau dem modernen Regierungsverhältnis zwischen dem Souverän und seinen Untertanen zugrunde liegt.137 Obwohl Oestreich die Meinung vertritt, dass nicht die Rationalisierung, sondern die Sozialdisziplinierung der Fundamentalvorgang im Zeitalter des monarchischen Absolutismus ist, ist er sich hinsichtlich des Verständnisses von Disziplinierung mit Weber einig, nämlich: Man sollte die Disziplin und die Disziplinierung vor allem vom Prinzip des Befehls und Gehorsams her verstehen, welches auf ein Macht- oder Herrschaftszentrum zurückgeht. In direktem Zusammenhang mit den Begriffen „Macht“ und „Herrschaft“ wird die Disziplin von Weber in seinem Buch Wirtschaft und Gesellschaft als „die Chance“ definiert, „kraft eingeübter Einstellung für einen Befehl prompten, automatischen und schematischen 135 136 137 58 S. 193. AaO, S. 188. Vgl. auch Michael Prinz, Sozialdisziplinierung und Konfessionalisierung. Neuere Fragestellungen in der Sozialgeschichte der frühen Neuzeit, in: Westfälische Forschung 42 (1992), S. 10; Winfried Schulze, Gerhard Oestreichs Begriff „Sozialdisziplinierung in der frühen Neuzeit“, in: Zeitschrift für historische Forschung 14 (1987), S. 268. Oestreich (Fn.131), S. 187f., 194. Vgl. Oestreich (Fn.131), S. 188f., 195; Schulze (Fn.135), S. 266. Gehorsam bei einer angebbaren Vielheit von Menschen zu finden“.138 Während Oestreich sich überwiegend auf die innere Motivbildung des Menschen konzentriert, durch welche die Individuen als tugendhafte Bürger bereit sind, dem einseitig vom Herrschaftszentrum erteilten Befehl zu gehorchen, schätzt Weber ferner die in der Disziplin implizierte „rationale Uniformierung des Gehorsams einer Vielheit von Menschen“. Davon ausgehend ist die Disziplinierung für Weber eher die Begleiterscheinung des Rationalisierungsprozesses, weil sie „inhaltlich nichts anderes als die konsequent rationalisierte, d.h. planvoll eingeschulte, präzise, alle eigene Kritik bedingungslos zurückstellende, Ausführung des empfangenen Befehls und die unablässige innere Eingestelltheit ausschließlich auf diesen Zweck“ ist.139 Der überwiegend am Prinzip von Befehl und Gehorsam orientierte Disziplinbegriff und der auf die Umgestaltung des inneren Menschen gerichtete Anspruch der Sozialdisziplinierung von Oestreich gehen in der Tat von „einer umfassenden und tiefdringenden Definition“ der Disziplin vom Humanisten Justus Lipsius (1547-1606) aus. Nach Oestreich ist Lipsius derjenige, der den Disziplinbegriff mit der stoischen Lehre von Seneca und Epiktet erneut bearbeitet und auf das Militär des ausgehenden 16. Jahrhunderts anwendet, damit sich die Soldaten mittels der stoisch-erzieherischen Selbstdisziplin zu „Stärke und Mannheit“ entwickeln.140 An das stoische Vorbild der Selbsterhaltung und Selbstbehauptung anschließend ist die Disziplin nach Lipsius durch vier Teile weiter abzuklären. Diese sind die Übung (exercitium), die Ordnung (ordo), der Zwang (coerctio) und die Beispielgebung (exempla). Zu den Operationen dieser vier Elemente sagt Oestreich: „Während Übung und Ordnung der Stärke dienen, führt die Zucht-Selbstzucht (der zeitgenössische Übersetzer bringt „Bezwang“ von „sich bezwingen“) zur Mannheit und Tugend, die exempla (Belohnung und Strafe) bewirkt aber beides. Die neue Kriegsdisziplin soll zur virtù ordinata Machiavellis, zur äußeren Stärke und inneren Kraft des Heeres, zur körperlichen und sittlichen Tüchtigkeit 138 139 140 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriss der verstehenden Soziologie, Johannes Winckelmann (Hrsg.), 5. Aufl., Tübingen 1980, S. 28. Aao, S. 681. Vgl. Breuer (Fn.34), S. 46f. Vgl. Oestreich (Fn.131), S. 13f., 19f., 164. Zur stoischen Lehre von Seneca und Epiktet siehe Gerhard Oestreich, Antiker Geist und moderner Staat bei Justus Lipsius (1547-1606). Der Neustoizismus als politische Bewegung, Göttingen 1989, S. 61-67. Vgl. auch Breuer (Fn.34), S. 53f. 59 des einzelnen führen.“141 Diese zuerst auf die absolutistische Armee angewandte Disziplin erstreckt sich später allmählich über die ganze Gesellschaft, von der Verwaltung über die Wirtschaft bis zum alltäglichen Leben der Bürger und führt nach Oestreich schließlich zur Entstehung des generellen Vorgangs der Sozialdisziplinierung. Erst in dieser sich ständig um die Tugend und Bereitschaft zur Zucht und Ordnung, zu Gehorsam und Unterwerfung bemühenden gemeineuropäischen Bewegung der Sozialdisziplinierung sieht Oestreich nicht nur den Trend des gesellschaftlichen Zwangs zum Selbstzwang von Elias142, sondern auch die Notwendigkeit eines entsprechenden Rationalisierungsprozesses, durch welchen alle Angelegenheiten, ob groß oder klein, exakt und konkret bestimmt werden. 143 Demnach spielt das von Weber zusammengefasste Phänomen der Rationalisierung in Oestreichs Augen nicht „die allein führende Rolle“, sondern gilt vielmehr als „ein Teilvorgang“, welcher dem Fundamentalvorgang der Sozialdisziplinierung untergeordnet ist. Dazu sagt Oestreich: „Max Weber hat in dem Vordringen des Rationalismus der Lebensgestaltung die alles überragende Tendenz der abendländischen politischen und gesellschaftlich-wirtschaftlichen Entwicklung gesehen. In unserem Zeitabschnitt scheint mir jener Vorgang nicht die allein führende Rolle zu spielen. Vielmehr handelt es sich hier zuerst um den großen Tatbestand einer Disziplinierung und Subordinierung in allen Lebensbereichen. Die Rationalisierung erscheint so als ein Teilvorgang, wenn sie auch keineswegs zu einer bloßen Randerscheinung wird. Im Vordergrund der europäischen Staats- und Menschenbildung steht die im Sinne der werdenden politischen Gebilde und Formen geforderte Unterordnung, das Prinzip des Gehorsams. Die Disziplinierung der Menschen – der militärischen Führer wie Geführten, der ökonomischen Unternehmer und Handwerker, der zivilen Minister und Beamten wie überhaupt aller Untertanen [...], bildet eine Voraussetzung zur Disziplinierung der Institutionen und dann 141 142 143 60 Oestreich (Fn.131), S. 20, 194. Vgl. auch Breuer (Fn.34), S. 53f. Vgl. Gerhard Oestreich, Strukturprobleme der frühen Neuzeit. Ausgewählte Aufsätze, Berlin 1980, S. 377. Trotzdem muss man auf folgendes achten: Während der Zivilisationsprozess vom Fremdzwang zum Selbstzwang bei Elias als unmanipulierbar betrachtet wird, liegt der Sozialdisziplinierung bei Oestreich eher der epochenbewusste monarchische Absolutismus zugrunde. Vgl. Schulze (Fn.135), S. 266; Martin Dinges, Frühneuzeitliche Armenfürsorge als Sozialdisziplinierung? Probleme mit einem Konzept, in: Geschichte und Gesellschaft 17 (1991), S. 9. Vgl. Oestreich (Fn.131), S. 194. folgenden Rationalisierung. Forderungen nach Zucht der Arbeit, der Sprache, des Gedankens im geistigen Bereich entsprechen der erstrebten politisch-soldatischen Zucht im öffentlichen Leben. [...] Die Idee der Disziplin steht nun im Dienste der Vereinheitlichungstendenzen, der politischen Einheitsideale der Staatsmänner des absolutistischen Zeitalters.“144 In diesem sich über die ganze Gesellschaft erstreckenden Trend der Sozialdisziplinierung wird die Polizei, die sich im 17. und 18. Jahrhundert immer mit der guten Ordnung zur Regulierung des öffentlichen und privaten Lebens verband, nach Oestreich genau zum vom Souverän effektiv gebrauchten Gewaltmittel, um die dem monarchischen Absolutismus unterworfenen Bürgertugenden zur Geltung zu bringen.145 Der Gedanke der guten Polizei und die Idee der Disziplin wurden in engen Zusammenhang gebracht. Der Polizei wurde daher von Oestreich weiter eine Disziplinierungsfunktion verliehen, durch die der Mensch in seinem Wollen und seiner Äußerung diszipliniert wurde.146 Auf den ersten Blick scheint es viele Ähnlichkeiten zwischen Foucaults Disziplinargesellschaft und Oestreichs Sozialdisziplinierung zu geben. Aber die Art und Weise, wie sich der Prozess der gesellschaftlichen Disziplinierung vollzieht, ist der entscheidende Unterschied zwischen Foucaults Disziplinargesellschaft und Oestreichs Sozialdisziplinierung. Für Oestreich geht die Sozialdisziplinierung stets einseitig vom obrigkeitlichen Herrschaftszentrum des monarchischen Absolutismus aus und sucht darum immer nach einer auf dem unbedingten Gehorsam beruhenden Über- und Unterordnung, welche sich auf Kosten der Freiheit der Untertanen ergibt. In seiner kleinen Schrift Die Idee der Menschenrechte in ihrer geschichtlichen Entwicklung weist Oestreich klar darauf hin: „Im dynastischen Absolutismus des 16. bis 18. Jahrhunderts, einem großen Disziplinierungsprozess auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens, erreichte das Streben nach innerer Machtfülle einen ersten Höhepunkt. Alle Gewalt wurde beim Herrscher, der das Gemeinwesen verkörperte, konzentriert und in ihm vereinheitlicht; er allein galt als Quelle des positiven Rechts und der legitimen Gewalt; die Untertanen sollten zu unbedingtem Gehorsam verpflichtet werden. Über ihr Leben und Eigentum gebot der Staat als der alleinige Repräsentant des Gemeinwohls nach sei144 145 146 Oestreich (Fn.131), S. 236f. Vgl. Oestreich (Fn.142), S. 367f., 370. Vgl. Oestreich (Fn.131), S. 192f. 61 nen Gesetzen unter Zurückdrängung der Privilegien und Freiheiten.“147 Eigentlich sind dieser vom obrigkeitlichen Herrschaftszentrum der Souveränität ausgehende Disziplinierungsprozess und die dadurch ausgelösten Polizeimaßnahmen, durch welche den Untertanen die Tugend des unbedingten Gehorsams auferlegt wurde, auch in Foucaults früherer Untersuchung Wahnsinn und Gesellschaft aus dem Jahr 1961 zu finden, wo er die technologische Macht der Disziplin noch nicht erkannt hatte, sondern nur die repressive Macht der Souveränität. In einem Gespräch im Jahr 1977 gab Foucault zu, dass er lange „die traditionelle Konzeption der Macht als eine[n] im wesentlichen juridischen Mechanismus“ akzeptiert hatte, nämlich „als das, was Gesetz sagt, was untersagt, was nein sagt, mit einer ganzen Litanei negativer Wirkungen: Ausschließung, Verwerfung, Versperrung, Verneinungen, Verschleierungen usw.“148 In Wahnsinn und Gesellschaft wurde diese vor allem an den negativen Wirkungen orientierte Machtkonzeption von Foucault nicht nur als Analysematrix für die Behandlung des Wahnsinns im 17. und 18. Jahrhundert betrachtet, als die Macht seiner Meinung nach „zweifellos gegen den Wahnsinn überwiegend mit Ausschließung“ vorgegangen ist149, sondern auch als Grundlage der neuzeitlichen Polizeiverwaltung. Die Machtfunktion der Polizei zeigt sich in erster Linie in den Formen der Gesetze und der Repression. Ihr wurde der Auftrag erteilt, mittels dieser eine vollkommene „Republik des Guten“ einzurichten, welche zugleich als Endziel der Sozialdisziplinierung von Oestreich zu betrachten ist. In dieser moralischen und tugendhaften Republik, die laut Foucault nach dem Internierungsmodell des „Hôpital général“ mittels der bewaffneten Polizeigewalt eingerichtet werden sollte, würde es keinen Unterschied zwischen den Rechtsgesetzen 147 148 149 62 Gerhard Oestreich, Die Idee der Menschenrechte in ihrer geschichtlichen Entwicklung, 5. Aufl., Berlin 1974, S. 14. DM, S. 104f. Erst nachdem Foucault Anfang 1971 den „Groupe d’information sur les prisons“ (Arbeitskreis zur Information über die Gefängnisse, G.I.P.) gebildet und an anderen Aktivitäten gegen die Strafjustiz teilgenommen hat, scheint ihm diese negative Machtkonzeption ungenügend zu sein. Dazu sagt er: „Der Fall der Strafjustiz hat mich überzeugt, dass es nicht so sehr um Rechtsformen, sondern um Technologieformen, um solche von Taktik und Strategie, geht, und die Ersetzung eines juridischen und negativen Rasters durch ein technisches und strategisches habe ich in »Überwachen und Strafen« zu bewerkstelligen versucht, um es dann in »Sexualität und Wahrheit« zu benutzen.“ DM, S. 105. Zum Ziel und der Tätigkeit des G.I.P. siehe DE II, S. 211ff.; MM, S. 16-22; Didier Eribon, Michel Foucault. Eine Biographie, Frankfurt a.M. 1993, S. 318-333; Daniel Defert, Zeittafel, in: DE I, S. 56f. DM, S. 105. und den Moralgesetzen geben.150 In seiner Funktion oder seinem Zweck nach gehört das Hôpital général, welches nach dem Dekret im Jahr 1656 in Paris gegründet wurde, in Foucaults Augen zu keiner medizinischen Idee. Es ist viel eher eine moralisch-polizeiliche Reaktionsmaßnahme gegenüber wirtschaftlichen Problemen wie Arbeitslosigkeit und Müßiggang. Durch die autoritären Formen des Zwangs und des Gesetzes sollte eine neue Arbeitsmoral in Gang gesetzt werden. Für all die Armen von Paris sowohl in wie außerhalb des Hôpital général ist die Macht der Direktoren zuständig, in welcher „jede Entscheidungsgewalt über Leitung, Verwaltung, Handel, Polizei, Rechtsprechung, Bestrafung und Inhaftierung“ eingeschlossen ist. So ist das Hôpital général „eine eigenartige Macht, die der König zwischen der Polizei und der Justiz an den Grenzen des Gesetzes etabliert: die dritte Gewalt der Repression“.151 In diesem Ort des Zwanges ergibt sich nach Foucault „eine erstaunliche Synthese aus moralischer Verpflichtung und bürgerlichem Gesetz“: Man wurde „in den Stätten der reinen Sittlichkeit“ eingeschlossen, „wo das Gesetz, das über die Herzen herrschen soll, ohne Kompromiss, ohne Nachgiebigkeit in den strengen Formen physischen Zwanges angewandt wird“. Die Moral lässt sich daher wie der Handel oder die Wirtschaft auch durch den Staat und die Polizei, durch den Zwang und die Gesetze verwalten.152 Dazu sagt Foucault: „So sieht 150 151 152 Vgl. WG, S. 94-97. Vgl. WG, S. 71-73, 80f. Vgl. WG, S. 94. Ähnliche Beobachtungsergebnisse sind auch bei Michael Oakeshott in seiner Untersuchung von der neuzeitlichen Politik der Zuversicht zu finden. Für Oakeshott sollte die Tätigkeit des neuzeitlichen Regierens in der Politik der Zuversicht „im Dienste der Vervollkommnung der Menschheit“ stehen. Demnach versuchten sämtliche europäische Regierungen des 17. Jahrhunderts „durch mehr oder weniger engmaschige Regulierungen ihren Bürgern ein umfassendes Tätigkeitsschema aufzuzwingen“. Dieses von der Regierung einseitig aufgezwungene Tätigkeitsschema, durch das die Vervollkommnung der Menschheit verwirklicht werden soll, wird von Oakeshott als „arbeitsethisch“ bezeichnet. Vgl. ders., Zuversicht und Skepsis. Zwei Prinzipien neuzeitlicher Politik, Berlin 2000, S. 54ff., 121ff. Eigentlich sieht die von Oakeshott angesprochene „Tätigkeit des Regierens“, welche sich von der „Legitimation der Regierung“ unterscheiden sollte, ähnlich wie die Thematisierung der Gouvernementalität von Foucault aus. Während die Tätigkeit des Regierens sich beständig darum kümmert, „was soll die Aufgabe einer Regierung sein, die in der von uns für richtig gehaltenen Weise zusammengesetzt und autorisiert ist?“, interessiert sich die Gouvernementalität dafür „wie regiert wird, durch wen, bis zu welchem Punkt, durch welche Methoden?“ Vgl. aaO, S. 18; Gouv, S. 42. Trotz ihrer inhaltlichen Ähnlichkeit mit Oakeshotts Untersuchung der Tätigkeit des Regierens wird die Gouvernementalität von Fou63 man unter den Institutionen der absoluten Monarchie – sogar unter denen, die lange Zeit Symbole ihrer Willkür bleiben – die große bürgerliche Idee, die sich bald die Republik zu eigen macht, dass die Tugend ebenfalls eine Angelegenheit des Staates sei, dass man Dekrete erlassen könne, um sie herrschen zu lassen, dass man eine Autorität einsetzen könne, um ihr Respekt zu verschaffen. In gewissem Sinne schließen die Mauern der Internierungshäuser das Negativ dieser moralischen Gemeinschaft ein, von der das bürgerliche Bewusstsein im siebzehnten Jahrhundert zu träumen anfängt: eine moralische Gemeinschaft, die denen vorbehalten bleibt, die sich von Anbeginn ihr unterwerfen, wo das Recht nur durch die Kraft unerbittlicher Stärke herrscht – eine Art Souveränität des Guten, in der nur die Drohung triumphiert und wo die Tugend (so groß ist ihr innerer Wert) keine andere Belohnung hat, als der Bestrafung entgangen zu sein. Im Schatten der bürgerlichen Gemeinschaft entsteht diese eigenartige Republik des Guten, das man gewaltsam all denen auferlegt, die man verdächtigt, dem Bösen anzugehören. Das ist die Kehrseite des großen Traums und der großen Beschäftigung des Bürgertums in der Zeit der französischen Klassik: die Gesetze des Staates und die Gesetze des Herzens endlich identisch.“153 Sowohl bei dieser moralischen Republik des Guten, die in Foucaults früherer Arbeit Wahnsinn und Gesellschaft behandelt wurde, als auch bei jener Sozialdisziplinierung, die nach Oestreich durch den monarchischen Absolutismus bewusst gefördert wurde, handelt es sich um „die ursprüngliche Existenz eines Mittelpunktes“, nämlich um „die Sonne der Souveränität“ und „die Einheit der Macht“, von welcher sich verschiedene unterstehende Formen, Aspekte, Gesetze, Zwänge, Mechanismen und Machtinstitutionen ableiten lassen.154 Im Vergleich dazu ergibt sich nun die Disziplinargesellschaft in Überwachen und Strafen nicht aus dem politischen Zentrum des Souveräns, sondern eher aus den in der ganzen Gesellschaft verstreuten und besonders von unten kommenden Machtinstanzen oder Kontrollpunkten, die alle durch die Techniken der Disziplin zusammenhängen.155 Wenngleich die Vollendung der Disziplinargesellschaft schließlich die Polizei benötigt, die sich insgesamt noch in der 153 154 155 64 Gouvernementalität von Foucault weiterhin als eigener Machttyp angesehen. Vgl. auch (Fn.85) in Kapitel 3. WG, S. 94f. Vgl. WW, S. 114; VG, S. 52f. Vgl. Breuer (Fn.34), S. 59; Brökling (Fn.34), S. 17, 20f.; Dinges (Fn.142), S. 9. Hand des Souveräns befindet, so funktioniert sie nach Foucault doch nicht nur in einer einzigen, vom Herrschaftszentrum ausstrahlenden Richtung. Wie bereits im vorigen Abschnitt dargelegt, gibt es bei der Funktionsweise des Polizeieinsatzes neben seinem direkten Anschluss an den Königsbefehl noch eine andere, von unten kommende Einsatzrichtung, welche es erlaubt, einen ununterbrochenen, erschöpfenden, allgegenwärtigen und hierarchischen Disziplinarblick durch die überall in der Gesellschaft postierten kleinsten Machtinstanzen einzurichten.156 Zwar wird die Polizei noch ans Herrschaftszentrum der Souveränität angeschlossen. Aber ihre Funktionsweise hinsichtlich der Disziplinierung und die Entstehung der Disziplinargesellschaft sind eher von den Technologieformen als von den negativ wirkenden Rechtsformen her zu verstehen. Erst durch diese Technologieformen der Disziplin lässt sich die folgende eindrucksvolle Schilderung der hochdifferenzierten polizeilichen Überwachung von Proudhon besser verstehen, welche Oestreich am Ende seines oben erwähnten Artikels Strukturproblem des europäischen Absolutismus zitiert: „Regiert sein, das heißt unter polizeilicher Überwachung stehen, inspiziert, spioniert, dirigiert, mit Gesetzen überschüttet, reglementiert, eingepfercht, belehrt, bepredigt, kontrolliert, eingeschätzt, zensiert, kommandiert zu werden ..., bei jeder Handlung, bei jedem Geschäft, bei jeder Bewegung notiert, registriert, erfasst, taxiert, gestempelt, vermessen, bewertet, versteuert, patentiert, lizensiert, autorisiert, befürwortet, ermahnt, verhindert, reformiert, ausgerichtet, bestraft zu werden.“157 In dieser Disziplinargesellschaft, deren Disziplinarwirkung nach Foucault vor allem von unten ausgeht, beschränkt sich die Aufgabe der Polizeiverwaltung daher nicht mehr auf die Jagd nach „dem Gegner des Souveräns“, der sich der Autorität einer Majestät widersetzt, oder nach „dem Feind der Gesellschaft“, der ein allgemeines Interesse verletzt. Die 156 157 Diesbezüglich sagt Foucault: „Wichtig ist nicht […], eine Art Deduktion der Macht vorzunehmen, die von einem Zentrum ausginge und untersuchte, wie weit sie sich nach unten fortsetzt, in welchem Maße sie sich reproduziert, bis hin zu den kleinsten Teilchen der Gesellschaft. Ich denke, man sollte viel eher […] eine aufsteigende Machtanalyse vornehmen, d.h. von den unendlich kleinen Mechanismen ausgehen, die ihre eigene Geschichte, ihren eigenen Weg, ihre eigene Technik und Taktik haben, um dann zu erforschen, wie diese Machtmechanismen, die ihre Stabilität und in gewisser Weise ihre eigene Technologie haben, von immer allgemeineren Mechanismen und globaleren Herrschaftsformen besetzt, kolonisiert, verwendet, umgebogen, transformiert, verlagert und ausgedehnt wurden und immer noch werden.“ VG, S. 39f. Oestreich (Fn.131), S. 195f. 65 Polizei sucht zugleich nach der „Sub-Delinquenz“ wie „die Vergehen der Ruhestörung, des Aufruhrs, des Ungehorsams, des schlechten Benehmens“, also nach dem „Abweichler“, der von einer Regel, einem Durchschnitt, einer Anforderung, einer Norm abweicht. 158 Gemeinsam mit Hilfe der Relaisstation der Polizei bilden alle in der Gesellschaft angelegten Disziplinareinrichtungen für Foucault nun ein großes „Kerkernetz“, in dem die Normalitätskontrollen über vielfältige „Normalitätsrichter“ in der gesamten Gesellschaft durchgeführt werden. Das heißt: „Wir leben in der Gesellschaft des Richter-Professors, des Richter-Arztes, des Richter-Pädagogen, des Richter-Sozialarbeiters; sie alle arbeiten für das Reich des Normativen; ihm unterwirft ein jeder an dem Platz, an dem er steht, den Körper, die Gesten, die Verhaltensweisen, die Fähigkeiten, die Leistungen. In seinen kompakten und diffusen Formen, mit seinen Eingliederungs-, Verteilungs-, Überwachungs- und Beobachtungssystemen war das Kerkersystem in der modernen Gesellschaft das große Fundament der Normalisierungsmacht.“159 III. Die Kolonisierung der Rechtsgesellschaft – die Herstellung sowohl eines tugendhaften Bürgers wie auch eines Delinquenten Die gesamte bisherige Darlegung weist darauf hin, dass sich durch die ständig fortschreitende Ausweitung der Disziplinarmechanismen die Gesellschaft schließlich zur Disziplinar- und Normalisierungsgesellschaft entwickelt, in welcher die Fabrikation eines gelehrigen und tauglichen Körpers ununterbrochen stattfindet. Selbst die sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts entwickelnde Rechtsgesellschaft, die sich stets um die Einrichtung einer allgemeinen Rechtsform bemüht, in welcher die formell egalitäre Rechtssubjektivität jedes einzelnen und die allen prinzipiell gleich zukommenden Rechte und Freiheiten garantiert werden, ist in Foucaults Augen diesem Netz der Disziplinarmacht nicht entkommen und wird durch die Normalisierungsvorgänge der Disziplin kolonisiert.160 In diesem Kolonisierungsprozess ist es nach Foucault die wesentliche Aufgabe des Rechts, denjenigen, der nach außen als das egalitäre 158 159 160 66 Vgl. ÜS, S. 275, 386f. ÜS, S. 392f. Vgl. MaM, S. 40; VG, S. 49; WW, S. 172; ÜS, S. 295. Vgl. auch Michel Walzer, Die einsame Politik des Michel Foucault, in: ders., Zweifel und Einmischung. Gesellschaftskritik im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1991, S. 273f. Rechtssubjekt behandelt wird, zu einem dem Industriekapitalismus entsprechenden bürgertugendhaften Disziplinarindividuum zu machen. Folglich entwickelt sich der Rechtsdiskurs zu einem normalisierenden Diskurs, der mit dem Zwang verbunden ist. Mittels der neuen Strafgesetze und -theorie erlegt der Rechtsdiskurs nicht nur allen Klassen der Gesellschaft neue Verhaltensnormen und Bürgertugenden auf, sondern nimmt auch über die Kategorien des Legalen und des Illegalen, des Schuldigen und des Unschuldigen weiter die Scheidung in das Normale und das Anormale vor, um die Nicht-Disziplinierten, die Anormalen und die Delinquenten, deren Verbrechen eher aus den Instinkten, den Trieben, den Tendenzen heraus oder aufgrund des Charakters entstehen als aus dem freien und bewussten Willen, durch die therapeutische Besserungsstrafe umzuformen und zu redisziplinieren. Genau aus diesem Grunde werden die guten Bürger und die Verurteilten unter demselben normalisierenden Rechtsdiskurs behandelt.161 Dazu sagt Foucault: „Wir sind in einen Gesellschaftstyp eingetreten, in dem die Macht des Gesetzes dabei ist, zwar nicht zurückzugehen, aber sich in eine viel allgemeinere Macht zu integrieren, nämlich in die der Norm. Schauen Sie, wie schwer es heute der Strafjustiz fällt, den Akt zu vollziehen, für den sie eigentlich geschaffen ist, nämlich ein Urteil zu fällen. Anscheinend weil die Bestrafung eines Verbrechens keinen Sinn mehr hat, setzt man den Verbrecher immer mehr mit einem Kranken gleich, und die Verurteilung möchte als eine therapeutische Vorschrift gelten. Das ist charakteristisch für eine Gesellschaft, die sich von einer wesentlich am Gesetz orientierten Rechtsgesellschaft zu einer wesentlich an der Norm ausgerichteten Gesellschaft entwickelt.“162 Die Entstehung des normierenden Rechtsdiskurses und der entsprechenden Strategie zur Umformung der Kriminellen, die besonders in den Praxen der Strafjustiz verwendet wird, reflektiert nach Foucault den großen Kampf gegen die Gefahr einer neuen volkstümlichen Gesetzeswidrigkeit, wobei die Spannweite von den Verweigerungen der Steuer, der Wehrpflicht und der Grundlasten über die Plünderungen von Geschäftsoder Lagerhäusern bis zur Gründung von Arbeitervereinen reicht. Diese volkstümliche Gesetzeswidrigkeit wurde laut Foucault zwischen 1789 und 1848 meistens von den Bauern und Arbeitern begangen, um sich gegen politische Regime, gegen die Industrialisierung und gegen die wirt161 162 Vgl. Ewald (Fn.2), S. 169. MM, S. 84. 67 schaftlichen Krisen zu wenden.163 Gegenüber diesen Massengesetzwidrigkeiten entstand damals „die Utopie einer allgemein und öffentlich strafenden Gesellschaft, in der ständig in Betrieb befindliche Strafmechanismen ohne Verzug, ohne Vermittelung und ohne Ungewissheit arbeiten sollten“. Demnach müsse ein Gesetz gegeben sein, das nicht nur alle rechtswidrigen Tätigkeiten von vornherein berechnen und blockieren könnte, sondern auch im Bewusstsein eines jeden Bürgers verwurzelt sein sollte.164 Strategisch betrachtet bedarf die Überwindung dieser volkstümlichen Massengesetzwidrigkeiten somit sowohl einer Reihe neuer Bürgertugenden, die zur Stabilisierung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft beitragen können, als auch eines Gefängnisses, welches nach dem panoptisch-architektonischen Programm eingerichtet werden sollte, damit die fortschreitende Besserung jedes Häftlings durch die ununterbrochene Überwachung und Beobachtung erreicht wird. Nach Foucault fordern jene neuen Bürgertugenden, die allen Klassen der Gesellschaften (besonders den armen Klassen) durch den zwingenden Rechtsdiskurs auferlegt werden sollten, zunächst eine Reihe von ökonomischen Disziplinen wie die Rechtschaffenheit, die Genauigkeit, die Sparsamkeit, die Arbeitsgehorsamkeit, den absoluten Respekt des Eigentums165 und dann eine an die Stelle der Gewohnheitsrechte tretende und wesentlich an dem Strafrechtssystem ausgerichtete „Grundgesetzlichkeit“166, welche meiner Meinung nach durch die rechtlichen Disziplinen wie die Rechtskonformität und die Rechtstreue weiter abzuklären ist.167 Während die Rechtskonformität bloß eine zumindest äußerliche Übereinstimmung des Verhaltens mit den gegebenen Rechtspflichten fordert, stellt die Rechtstreue im Gegenteil die innere Bereitschaft zur Rechtskonformität dar. Man entscheidet, sich rechtskonform zu verhalten, vielleicht, weil man damit Profit erzielen kann oder glücklicher leben will, oder einfacher, weil man Angst vor Bestrafung hat. Folglich stellt die Rechtskonformität nur eine negative Rechtsbürgertugend dar, die durch den äußerlichen Rechtszwang gefordert werden kann. Im Vergleich dazu wird die Rechtstreue eher als eine positive Rechtsbürgertugend angesehen, weil sie zugleich den aus der Pflicht entstehenden Bewegungsgrund für 163 164 165 166 167 68 Vgl. ÜS, S. 351-354. Vgl. ÜS, S. 351. Vgl. MM, S. 73; ÜS, S. 368. Vgl. ÜS, S. 368. Zur Rechtskonformität und Rechtstreue siehe etwa Otfried Höffe, Demokratisierung im Zeitalter der Globalisierung, München 1999, S. 196f. ein rechtskonformes Handeln verlangt. Eigentlich steht die Rechtstreue im engen Zusammenhang mit der Anerkennung des Rechts. Wenn man keine Zweifel an der Geltung oder der Legitimität des Rechts hat, ist man eher bereit, sich rechtskonform zu verhalten.168 Deshalb gilt die Rechtstreue als nichts anderes als die ideale Bürgertugend, die der normalisierende Rechtsdiskurs von der Allgemeinheit mit aller Kraft fordern möchte. In diesem Sinne ist die in der heutigen Strafrechtslehre erwähnte positive Generalprävention die rechtliche Disziplinartechnik, welche imstande ist, diese Rechtstreue ins Volksbewusstsein einzupflanzen.169 Es ist zwar sowohl vom ökonomischen wie vom politischen Standpunkt her sehr wichtig, alle Schichten der Gesellschaft zu disziplinieren und zu „moralisieren“, indem ihnen die oben dargelegten ökonomischen und rechtlichen Bürgertugenden mittels des zwingenden normalisierenden Rechtsdiskurses auferlegt werden. 170 Aber nach Foucault ist es ebenfalls wichtig, „eine eindeutig negative Haltung gegenüber den Gesetzwidrigkeiten“ im Herz des Volkes einzurichten. Erst dadurch wurde „ein Delinquentenmilieu“ geschaffen, „das ohne wirkliche Kommunikation mit den Volksschichten war und von ihnen kaum geduldet wurde und das aufgrund dieser Isolierung von der Polizei leicht durchsetzt werden konnte“.171 Alles, was in diesem Delinquentenmilieu sowohl als Rechtswidrigkeit als auch als geringere Verhaltensstörung passiert, wird nicht nur von den Bürgern angezeigt, sondern auch mittels der durch die Polizei hierarchisch organisierten und überall in der Gesellschaft eingesetzten kleinsten Disziplinarblickinstanzen wie den Denunzianten und den Spitzeln erfasst. Parallel zu diesem von der Gesellschaft isolierten und durch die Polizei leicht zu kontrollierenden Delinquentenmilieu ergibt sich dementsprechend eine spezialisierte Disziplinarinstitution, welche vor 168 169 170 171 Vgl. aaO, S. 197. Vgl. Claus Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil. Bd. 1. Grundlagen. Der Aufbau der Verbrechenslehre, 3. Aufl., München 1997, §3, Rn. 26. Vgl. ÜS, S. 368. Vgl. MM, S. 73; ÜS, S. 368. Nach Foucault gab es bis zum 18. Jahrhundert noch nicht die Feindseligkeit zwischen der Bevölkerung und den Delinquenten. Bis dahin wurden zum Beispiel die Diebereien und Betrügereien vom Volk toleriert. Außerdem gab es mehr und mehr eine Delikttypenverschiebung, nämlich: „Die Eigentumsdelikte scheinen die Gewaltverbrechen abzulösen. Diebstahl und Betrug verdrängten Mord, Körperverletzung und Handgreiflichkeiten.“ Diese Gesetzwidrigkeiten wurden schließlich so gefährlich, dass sie der Entwicklung des Industriekapitalismus und dem Leben in der Stadt hohe Ausfälle und Kosten verursachten. Vgl. MM, S. 72f.; ÜS, S. 96, 99. 69 allem mittels der Freiheitsberaubung und der Disziplinartechniken auf die Umformung der nicht-disziplinierten, rechtsbrechenden Individuen gerichtet ist. Diese die positive, technische Rolle spielende, spezialisierte Disziplinarinstitution ist das Gefängnis, das „eine legale Haft mit dem Zweck der Besserung bzw. ein Unternehmen zur Veränderung von Individuen“ bedeutet.172 Nach Foucault bedient sich das Unternehmen zur Transformation der Individuen im Gefängnis dreier unterschiedlicher Modelle, nämlich des „politisch-moralischen Modell[s] der individuellen Isolierung und der Hierarchie“, des „ökonomischen Modell[s] der zu Zwangsarbeit eingesetzten Kraft“ und des „technisch-medizinischen Modell[s] der Heilung und der Normalisierung“.173 So sollte das Gefängnis „ein erschöpfender Disziplinarapparat“ sein und als „eine Gesamtdisziplin“ gelten, durch die sämtliche Aspekte des Gefangenen angefangen von seiner physischen Dressur, seiner Arbeitseignung über sein alltägliches Verhalten, seine moralische Einstellung, seine Anlagen bis hin zu seiner Besserung und Heilung erfasst werden.174 Eigentlich hätte dieses vielseitige Programm des Gefängnisses die Massengesetzwidrigkeiten verhindern sollen. Tatsächlich werde aber, so Foucault, die Kriminalität nicht durch die Einrichtung der Gefängnisse vermindert. Die Zahl der Verbrechen und der Verbrecher bleibe im Gegenteil stabil oder steige sogar. Darüber hinaus werde der Rückfall zugleich durch die Haft gefördert.175 Dieses Versagen des Gefängnisses ist nach Foucault auf unterschiedliche Ursachen zurückzuführen. Zum Beispiel erlernen die Häftlinge in dem widernatürlichen und die Freiheit entziehenden Gefängnis in Wirklichkeit weder das Gewissen noch die tiefe Unterwerfung, obwohl manche Reformer seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts davon träumten, dass die Gefangenen durch die isolierte Haft gezwungen würden, auf ihr Gewissen zu hören, und dadurch ein neues sittliches Leben führen könnten. Was die Gefangenen tatsächlich spüren, ist nach Foucault vielmehr das zunehmende Gefühl der Ungerechtigkeit, das sich aus dem Machtmiss172 173 174 175 70 ÜS, S. 297. Diese an der Umformung der Häftlinge ausgerichtete Besserungsstrafe ist später durch die Theorie der Spezialprävention abzuklären. Vgl. Roxin (Fn. 169), §3, Rn. 11-15. ÜS, S. 318. Für die ausführliche Erklärung darüber siehe ÜS, S. 302-318. Zum „technisch-medizinischen Modell der Heilung und der Normalisierung“ siehe außerdem MM, S. 84; Flive, S. 246, 417. Vgl. ÜS, S. 301. Vgl. ÜS, S. 341f. brauch durch die willkürliche Verwaltung und die Wächter ergibt, die im Prinzip aus entlassenen Soldaten und Männern ohne Bildung und ohne Einsicht in ihren Dienst bestehen. Die Häftlinge befinden sich sozusagen in einer Welt, welche nicht nur von Korruption, sondern auch von heimlichen Assoziationen durchdrungen ist. Durch die Korruption der Aufseher wird die Sicherheit des Häftlings gewährleistet; durch die heimliche Assoziation entwickelt sich die Organisation eines solidarischen und hierarchischen Delinquentenmilieus, was zu künftigen Komplizenschaften beitragen kann. Davon ausgehend kann das Gefängnis gar nicht anders, wie Foucault es sieht, als Delinquenten zu fabrizieren. Es sind also die „Kasernen des Verbrechens“, in denen die „Armee der Delinquenten“ beständig im Training ist.176 Sehr bald wurde das Versagen des Gefängnisses in bezug auf den Kampf gegen die Kriminalität (Fortbestand der Kriminalität, Rückfälligkeit, Umwandlung des Gelegenheitstäters in einen Gewohnheitsdelinquenten, Organisation eines geschlossenen Delinquentenmilieus etc.) als „eine große Niederlage der Strafjustiz“ bezeichnet. 177 Es gibt immer wieder den Versuch, diesen Misserfolg des Gefängnisses zu korrigieren und die Strafvollzugstechniken zu verbessern. Daraus ergeben sich „die sieben Universalmaximen des angemessenen Strafvollzugs“, die nach Foucault seit beinahe 150 Jahren die Grundprinzipien jeder Gefängnisreform darstellen. Sie sind das Prinzip der Besserung, der Klassifikation, der Flexibilität der Strafen, der Arbeit als Pflicht und als Recht, der Besserungsstrafe als Erziehung, der technischen Kontrolle der Haft und der Anschlussinstitutionen. 178 Diese ideale Vervielfältigung der Strafvollzugsreform führt in Foucaults Augen jedoch nicht zur Verbesserung des Gefängnisses. 179 Die „verkehrte Wirkung“ des Gefängnisses, nämlich „die tatsächliche Aufrechterhaltung oder gar Verstärkung einer Krimina176 177 178 179 Vgl. ÜS, S. 298, 302-307, 342-344; MM, S. 49. Vgl. ÜS, S. 340. Vgl. ÜS, S. 346-348. Diese seit den letzten 150 Jahren immer wiederholte ideale Strafvollzugsreform gilt in Foucaults Augen als »idle chatter«. Dazu meint er: „I have the impression that the difficulties and contradictions that penal practice has experienced over the last two centuries have never been deeply re-examined. And now, one hundred and fifty years later, the same notions, the same themes, as if nothing had changed, and in a sense, indeed nothing has. From the moment when an institution presents so many drawbacks, arouses so much criticism, and can only give rise to the indefinite repetition of the same discourse, »idle chatter« is a serious symptom.“ Flive, S. 425. 71 lität, die eigentlich durch das Gefängnis beseitigt werden sollte“, bleibt nach Foucault immer noch bestehen und gehört schließlich sogar zur Komponente eines komplexen „Kerkersystems“, das zugleich die utopische Verdopplung der ständigen Strafvollzugsreform und die zwei anderen Elemente der Übermacht und des angeschlossenen Wissens mit einschließt. Nach dem Prinzip des angeschlossenen Wissens wird eine Gegenständlichkeit, eine Technik und eine Rationalität des Strafvollzugs hergestellt; nach dem Prinzip der Übermacht wird das Gefängnis als ein Disziplinarapparat mit Mauern, Personal, Reglementierungen und Gewaltsamkeit eingerichtet.180 Genau in diesem komplexen Kerkersystem sieht Foucault eine „allgemeine Ökonomie der Gesetzwidrigkeiten“, das heißt „die Verwaltung der Gesetzwidrigkeiten“.181 Demnach sollte nach Foucault das Gefängnis weniger diejenigen gefügig machen, die Gesetze überschreiten, als die Überschreitung der Gesetze in einer allgemeiner Taktik der Unterwerfung zweckmäßig organisieren, damit die Gesetzwidrigkeiten effektiv bewirtschaftet werden. In diesem Sinne ist die Gesetzwidrigkeit für Foucault weder „Missgeschick“ noch „mehr oder weniger vermeidbare Unvollkommenheit“. Sie ist vielmehr „ein absolut positives gesellschaftliches Funktionselement, dessen Rolle in der Gesamtstrategie der Gesellschaft vorgesehen ist“.182 Demzufolge sind das Gefängnis und überhaupt die Strafmittel in Foucaults Augen nicht dazu bestimmt, Straftaten zu unterdrücken, sondern sie zu differenzieren, zu ordnen und nutzbar zu machen.183 Die oben bereits erwähnte Delinquenz, die durch das Gefängnis 180 181 182 183 72 Vgl. ÜS, S. 349. Dazu sagt Foucault: „Es ist also nicht so, als wären die Einführung des Gefängnisses, seine »Niederlage« und seine mehr oder weniger gelungene Reform drei aufeinanderfolgende Phasen. Vielmehr handelt es sich um ein simultanes System, das sich historisch über die bloße Freiheitsberaubung gelegt hat.“ Dieses komplexe System, nämlich das „Kerkersystem“, wird nach Foucault durch die bereits erwähnten vier Elemente konstituiert: dem Element der Übermacht, des angeschlossenen Wissens, der verkehrten Wirkung und der utopischen Verdopplung. Genau aufgrund dieser vier Elemente schließt das Kerkersystem für Foucault also „Diskurse und Architekturen, Zwangsregelungen und wissenschaftliche Thesen, wirkliche gesellschaftliche Effekte und nicht aus der Welt zu schaffende Utopien, Programme zur Besserung der Delinquenten und Mechanismen zur Verfestigung der Delinquenz zu einem einzigen Komplex“ zusammen. ÜS, S. 349. Vgl. ÜS, S. 351, 364. MM, S. 51. Vgl. ÜS, S. 351. Dazu sagt Foucault zusammenfassend am Ende desselben Buchs: „Die Begriffe der Unterdrückungs-, Verwerfungs-, Ausschließungs- oder Ver- herausgehoben und organisiert wird, ist genau das effektive Instrument zur Differenzierung, Ordnung und Kontrolle der Gesetzwidrigkeiten.184 Im Vergleich zu den über die Bevölkerung verstreuten gelegentlichen und unvorhersehbaren rechtswidrigen Praktiken und den durch Landstreicher (Arbeitslose, Bettler und Arbeitsverweigerer) ausgelösten unbeständigen Ausschreitungen und Plünderungen scheint nach Foucault die Delinquenz nicht unbedingt „die intensivste und die schädlichste Form der Gesetzwidrigkeit“ zu sein, „die darum von der Strafjustiz mit Hilfe des Gefängnisses niedergehalten werden müsste“.185 Mittels der Schaffung eines geschlossenen und leicht zu handhabenden Delinquentenmilieus wird die Delinquenz nicht nur zu einem Objekt der polizeilichen Überwachung.186 In Form von entlohnten und zu organisierenden Spitzeln werden Delinquenten gleichzeitig zu einem von der Polizei bevorzugten Instrument sowohl zur ständigen Überwachung der Bevölkerung als auch zur Bewältigung und Ausbeutung der Gesetzeswidrigkeiten (Prostitution, Waffen- und Drogenhandel etc.). 187 Genau aus diesem Grunde würde das System Polizei/Strafjustiz/Gefängnis für Foucault die Gesetzeswidrigkeiten nicht einfach verfolgen und unterdrücken, sondern sie differenzieren und unter ihnen eine leicht zu kontrollierende und nutzbare Delinquenz absondern, um am Ende einen positiven Verwal- 184 185 186 187 drängungsinstitutionen reichen folglich nicht aus, um zu beschreiben, wie sich im Zentrum der Kerkerstadt die hinterhältigen Menschlichkeiten, die uneingestehlichen Bosheiten, die kleinlichen Listen, die sorgfältig kalkulierten Verfahren, die Techniken, die »Wissenschaften« formieren, welche die Fabrikation des Disziplinarindividuums gestatten. In dieser zentralen und zentralisierten Humanität, die Effekt und Instrument komplexer Machtbeziehungen ist, sind Körper und Kräfte durch vielfältige »Einkerkerungs«-Anlagen unterworfen und für Diskurse objektiviert, die selber Elemente der Strategie sind.“ ÜS, S. 397. Vgl. ÜS, S. 350f., 356f. Darüber hinaus sollte die Delinquenz nach Foucault zugleich weniger vom Gesetz als vielmehr von der Norm her als „pathologische Verfehlung der menschlichen Spezies“ wissenschaftlich spezifiziert werden wie ein „Krankheitssyndrom“ oder eine „Missgeburt“. Vgl. ÜS, S. 325. ÜS, S. 356. Nach Foucault wird dieses geschlossene und leicht zu handhabende Delinquentenmilieu zuerst durch das Vollzugsverfahren des Gefängnisses hergestellt. Nach der Entlassung der Gefangenen wird dieses Delinquentenmilieu vor allem durch dürftige, unsichere soziale Existenzbedingungen (Arbeitslosigkeit und Diskriminierung durch Feindseligkeiten aus der Bevölkerung und durch die Kriminalberichterstattung) und durch die strenge Polizeikontrollen (das ausführlich registrierende Karteisystem mit Einzelblättern, die geheimen Agenten und Spitzel sowie das Arbeitsverbot) von der Gesellschaft isoliert und dadurch weiterhin aufrechterhalten. Vgl. ÜS, S. 358f., 361-364, 368-371. Vgl. ÜS, S. 359-363; MM, S. 50. 73 tungsmechanismus der Kriminalität zu entwickeln.188 Es lässt sich mit Foucaults folgender Schilderung zusammenfassend sagen: „Anstatt von einem Versagen des Gefängnisses bei der Eindämmung der Kriminalität sollte man vielleicht davon sprechen, dass es dem Gefängnis sehr gut gelungen ist, die Delinquenz als einen spezifischen, politisch und wirtschaftlich weniger gefährlichen und sogar nützlichen Typ von Gesetzwidrigkeit zu produzieren; es ist ihm gelungen, die Delinquenz als ein anscheinend an den Rand gedrängtes, tatsächlich aber zentral kontrolliertes Milieu zu produzieren; es ist ihm gelungen, den Delinquenten als pathologisiertes Subjekt zu produzieren. Es ist die großartige Leistung des Gefängnisses, in den Kämpfen um Gesetz und Gesetzwidrigkeit eine »Delinquenz« auszubilden. […] Das Strafsystem produziert also eine geschlossene, abgesonderte und nützliche Gesetzwidrigkeit – und daher rührt auch seine Langlebigkeit. Der Kreislauf der Delinquenz ist nicht das Nebenprodukt eines Gefängnisses, das beim Bessern versagt; er ist vielmehr das unmittelbare Ergebnis eines Strafsystems, das zur Kontrolle der Gesetzwidrigkeiten einige davon in einen Mechanismus von »Bestrafung/Bewahrung« einschlisst, dessen wichtigste Elemente die Verwahranstalten sind.“189 E. Der Übergang von der mikrophysikalischen Disziplinierung des Körpers zum makrophysikalischen Regieren der Bevölkerung Im vorausgegangenen Abschnitt ist deutlich geworden, dass in der Disziplinargesellschaft nicht nur die tugendhaften Bürger durch den zwingenden normalisierenden Rechtsdiskurs erzeugt werden, sondern 188 189 74 Vgl. ÜS, S. 351, 364. Dazu sagt Foucault: „Man könnte darum von einem Komplex aus drei Elementen sprechen (Polizei/Gefängnis/Delinquenz), die sich aufeinander stützen und einen ununterbrochenen Zirkel bilden. Die polizeiliche Überwachung liefert dem Gefängnis die Straftäter, die dieses zu Delinquenten transformiert, welche dann zu Zielscheiben und Hilfskräften der Polizei werden und einige aus ihren Reihen regelmäßig wiederum ins Gefängnis bringen.“ Darüber hinaus spielt die Strafjustiz gegenüber den Gesetzwidrigkeiten „die Rolle der differenzierenden Kontrolle, der legalen Absicherung und Fortpflanzung“. Sie ist also neben der Polizei, dem Gefängnis und der Delinquenz „eine Relaisstation innerhalb der allgemeinen Ökonomie der Gesetzwidrigkeiten“. ÜS, S. 363f. ÜS, S. 357f. Dieser Kreislauf der Delinquenz, welcher sich zu einem unentbehrlichen Element der Ökonomie der Gesetzwidrigkeiten entwickelt, wird später von Foucault nochmals aus der Sicht der sogenannten „strategischen Wiederauffüllung des Dispositivs“ betrachtet. Für die Diskussion darüber siehe Kapitel 3, B. II. auch die widerspenstigen und fügsamen Delinquenten, die ihre zweideutige Stellung gegenüber dem überwachenden Polizeiapparat erhalten, der zugleich gegen sie und mit ihnen arbeitet.190 Von der Ökonomie der Gesetzwidrigkeiten her gesehen, gilt die Delinquenz folglich nicht unbedingt als das zu unterdrückende und von der Gesellschaft völlig auszuschließende Übel, sondern vielmehr als ein von der Polizei benutztes strategisches Instrument zur Differenzierung, Kontrollierung und Verwaltung der Gesetzwidrigkeiten. 191 Davon ausgehend ist diese Ökonomie der Gesetzwidrigkeiten, in die die Strafjustiz, die Polizei, das Gefängnis, das Delinquentenmilieu und sogar der normalisierende Rechtsdiskurs eingeschlossen sind, dem umfangreichen Programm der Disziplinargesellschaft untergeordnet. Demnach wird die Delinquenz sowohl zu einer an den Rand der Gesellschaft geschobenen Heterogenität als auch zu einem Kontrast zum bürgertugendhaften Ethos gedrängt, damit das bürgerlich-moralische Bewusstsein der Bevölkerung gestärkt wird. Mittels dieser globalen Strategie der Peripherisierung der Delinquenz bringt man die Bevölkerung allmählich und irreversibel zur Anerkennung der Notwendigkeit der Bürgertugenden und veranlasst jeden einzelnen von ihnen, seinen Sozialrang möglichst zu erhöhen und in das Zentrum der Gesellschaft einzutreten. Man lernt also durch das Anormale das Normale, durch den Delinquenten den tugendhaften Bürger kennen. Genau in diesem Sinne ist die Ökonomie der Gesetzwidrigkeiten nicht nur eine Sache der gesellschaftlichen Disziplinierung. Sie ist zugleich eine Sache des Regierens der Bevölkerung, welches globale Verwaltungsprozeduren erfordert, damit die Bevölkerung in den Zustand der Sicherheit gebracht wird und ihre kollektiven Kräfte garantiert werden. Dadurch lässt sich die Ökonomie der Gesetzwidrigkeiten oder gar die Kriminalität überhaupt zu einem Räderwerk der Machtmechanismen entwickeln.192 Wie sich die Ökonomie des Diskurses über den Sex an der Kreuzung von Körper und Bevölkerung befindet193, steht die Ökonomie 190 191 192 193 Vgl. ÜS, S. 365. Neben dieser Ökonomie der Gesetzwidrigkeiten gibt es in der Disziplinargesellschaft noch die Ökonomie des Sexes, welche ebenfalls nicht unterdrückt, sondern strategisch mittels der Einpflanzung von vielfältigen Perversionen angereizt, ausdifferenziert, verwaltet und schließlich nützlich für das Wachstum der Bevölkerung und die Produktivität gemacht wird. Für die ausführliche Diskussion über diese Ökonomie des Sexes, welche durch die sich entfaltenden, aber nicht unterdrückenden Machtmechanismen entsteht, siehe WW, S. 50-65. Vgl. ÜS, S. 365. Vgl. VG, S. 291. Vgl. auch: „Durch die Politische Ökonomie der Bevölkerung 75 der Gesetzwidrigkeiten nun ebenfalls an einer Kreuzung, an der sich die zwei Machttechnologien (die infinitesimale Disziplinartechnologie des Körpers und die globale Regierungstechnologie der Bevölkerung) überschneiden.194 Die Zukunft und das Glück eines Landes hängen also nicht nur von der Arbeitskraft, der Produktivität und der rechtlich-ökonomischen Tugend seiner Bürger ab, sondern auch von der Verwaltung der Kriminalität und der Deliktskategorien. Daraus ergeben sich in der heutigen Kriminologie unterschiedliche Forschungsthemen wie die Kriminalstatistik, die Hell- und Dunkelfeldforschung, die Aufklärungsquote, die Kriminalitätsarten sowie die Kriminalität nach Alter und Geschlecht etc., deren Analyse einer massenkonstituierenden Perspektive bedarf. Dies führt zur Diskussion der Makrophysik der Macht: der Gouvernementalität. 194 76 hindurch bildet sich ein ganzer Raster von Beobachtungen über den Sex. An der Grenze des Biologischen und des Ökonomischen entsteht die Analyse der sexuellen Verhaltensweisen, ihrer Determinationen und Wirkungen. Es kommt nun auch zu jenen systematischen Feldzügen, die jenseits der traditionellen Mittel – moralische und religiöse Ermahnungen, fiskalische Maßnahmen – aus dem Sexualleben der Ehepartner ein ökonomisch und politisch abgestimmtes Verhalten zu machen versuchen. […] Der Staat muss wissen, wie es um den Sex der Bürger steht und welchen Gebrauch sie davon machen. Aber auch jeder einzelne muss fähig sein, den Gebrauch, den er vom Sex macht, zu kontrollieren. Der Sex ist zum Einsatz, zum öffentlichen Einsatz zwischen Staat und Individuum geworden.“ WW, S. 39. Zwar gibt es in Überwachen und Strafen (1975) noch nicht diese Konzeption der globalen Regulierungstechnologie der Bevölkerung, welche erst in Der Wille zum Wissen (1976) auftaucht und sich dann in den Vorlesungen von 1978 und 1979 am Collège de France zur Konzeption der Gouvernementalität weiter entwickelt. Dies bedeutet aber nicht, dass manche Begriffe wie die Ökonomie der Gesetzwidrigkeiten nicht von der Konzeption der globalen Regulierungstechnologie der Bevölkerung her neu betrachtet werden können. Von der Gouvernementalität her gesehen wird die Ökonomie der Gesetzwidrigkeiten, durch welche die Negativität der Produktion der Delinquenten ins Positive gekehrt wird, im Gegenteil genau zum Bestandteil der Regierung der Bevölkerung. Kapitel 3 Die Makrophysik der Macht: Gouvernementalität A. Die Verschiebung der Machtanalytik auf die Problematik der Gouvernementalität Nachdem Überwachen und Strafen 1975 veröffentlicht worden war, wurde Foucaults mikrophysikalische Machtanalytik scharf kritisiert. Aufgrund ihrer Konzentration auf die lokalen Disziplinierungspraktiken, so hieß es, versage sie bei der globalen Problematik der Politik, nämlich bei den Beziehungen zwischen Gesellschaft und Staat.1 Diese Kritik lehnte Foucault zwar ab2, aber seither versuchte er, eine Makrophysik der Macht zu entwickeln, welche nicht mehr auf die Disziplinierung und Normalisierung des Körpers, sondern eher auf die Regulierung und Sicherheit der Bevölkerung gerichtet ist. Während die Mikrophysik der Macht zur Anatomo-Politik führt, die auf die Produktion des Disziplinarindividuums und des zugleich nützlichen und gelehrigen Kör1 2 Vgl. Colin Gordon, Governmental Rationality: An Introduction, in: Graham Burchell/Colin Gordon/Peter Miller (Hrsg.), The Foucault Effect. Studies in Governmentality with two Lectures by and an Interview with Michel Foucault, Chicago 1991, S. 4; Barry Smart, Michel Foucault, Chichester, London u. New York 1985, S. 124; Alan Hunt/Gary Wickham, Foucault and Law. Towards a Sociology of Law as Governance, London u. Chicago 1994, S. 17f.; Thomas Lemke/Susanne Krasmann/Ulrich Bröckling, Gouvernementalität, Neoliberalismus und Selbsttechnologien. Eine Einleitung, in: dieselben (Hrsg.), Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt a.M. 2000, S. 7f.; Thomas Lemke, Gouvernementalität, in: Marcus S. Kleiner (Hrsg.), Michel Foucault. Eine Einführung in sein Denken, Frankfurt a.M. 2001, S. 108. In bezug auf seine frühen Untersuchungen sagt Foucault: „I tried to show how these découpages, these relationships of force, these institutions and this entire network of power were able to establish themselves at a given moment. And beginning from what? Beginning from these economic and demographic processes which appear clearly at the end of the 16th century, when the problem of the poor, of the homeless, of fluctuating populations, is raised as an economic and political problem.“ Flive, S. 259. Vgl. auch folgende Passage: „[O]b es nun um den Wahnsinn, um die Konstitution dieser Kategorie, um dieses natürliche Quasi-Objekt »Geisteskrankheit« oder auch um die Organisation einer klinischen Medizin oder um die Integration der Disziplinarmechanismen, -techniken und -technologien innerhalb des Strafsystems geht – in jedem Fall habe ich die fortschreitende, gewiss zerstückelte, aber dennoch kontinuierliche Verstaatlichung stets kenntlich gemacht; die Verstaatlichung einer bestimmten Anzahl von Praktiken, Handlungsweisen und, wenn Sie so wollen, einer Gouvernementalität.“ SP, S. 69. 77 pers zielt, ergibt sich im Gegensatz dazu aus der Makrophysik der Macht die Bio-Politik, welche die der Bevölkerung eigenen massenkonstituierenden Phänomene mittels der Globalsteuerungstechnologien reguliert und durch ein globales Gleichgewicht so etwas wie „Homöostase“, das heißt „die Sicherheit des Ganzen vor seinen inneren Gefahren“, anstrebt. 3 Von dieser Bio-Politik her betrachtet ist nicht nur die Regulierung der Bevölkerung als eine Sache der politischen Ökonomie zu verstehen. Der Staat wird darum auch als „eine verwickelte Kombination von Individualisierungstechniken und Totalisierungsverfahren“ angesehen, welche zur Globalsteuerung der Bevölkerung beitragen kann.4 Die Entwicklung dieser Makrophysik der Macht, welche mit Der Wille zum Wissen 1976 begann 5 , eröffnete schließlich die neue „Forschungsrichtung“ der Gouvernementalität, die von Foucault im Rahmen der Vorlesungen von 1978 und 1979 am Collège de France vorgestellt wurde.6 In der Forschungsrichtung der Gouvernementalität wird von Foucault nicht nur noch einmal festgelegt, dass Macht keine Substanz, sondern nur ein bestimmter Typ von Beziehungen zwischen Individuen ist.7 Die Machtbeziehungen, die sich insbesondere auf die Regierung der Bevölkerung beziehen, sollten nach Foucault darüber hinaus von ihrer fortlaufenden Rationalisierung her, und zwar im einzelnen von den einschlägigen frühneuzeitlichen politischen Technologien wie der Staatsräson und den Polizeimechanismen her, weitergehend analysiert werden. Durch diese politischen Technologien, welche für Foucault in der Vorstellung der Pastoralmacht verwurzelt sind, sind die Machtbeziehungen schließlich mit dem Staat verknüpft.8 Damit möchte Foucault darauf hinweisen, „dass der Staat schon von Anfang an sowohl individualisierend als auch totalitär ist“.9 Demnach wird alles, was das Leben des Menschen als eines lebendigen Individuums oder als eines Teiles einer Bevölkerung angeht, unter dem Globalsteuerungsprogramm 3 4 5 6 7 8 9 78 Vgl. VG, S. 288. Vgl. WW, S. 37-39, 166-171; SM, S. 248. Diese Konzeption der Makrophysik der Macht kann außerdem noch in der letzten der Vorlesungen am Collège de France von 1975-76 vom 17. März 1976 gesehen werden. Vgl. VG, S. 276-305. Vgl. StW, S. 1-44; KpV, S. 66. Vgl. KpV, S. 66; Flive, S. 410. Vgl. KpV, S. 66. KpV, S. 66. des Staates regiert. Der Staat ist nichts anderes als „der bewegliche Effekt eines Regimes vielfältiger Gouvernementalität“.10 Mittels dieser Analyse der „Geschichte der Gouvernementalität“ wird sich zeigen, dass der Staat sich Schritt für Schritt „gouvernementalisiert“ hat.11 B. Zum Begriff der Gouvernementalität I. Entstehung und Eigenart der Gouvernementalität Der Begriff der Gouvernementalität wird von Foucault neu geprägt. Er kombiniert semantisch Regieren (gouverner) und Denkweise (mentalité) und bezeichnet eine „Kunst des Regierens“, welche mittels der Gesamtheit von Institutionen, Prozeduren und Techniken auf die Globalsteuerung der Bevölkerung und ihre Sicherheit zielt. 12 Dieser Konzeption der Gouvernementalität liegt vor allem der Begriff des Regierens zugrunde, welcher nach Foucault in dem sehr weiten Sinne verstanden werden sollte, den er im 16. Jahrhundert hatte. Von dem Regiment der Seelen über das der Familie, des Hauses, der Kinder bis hin zu dem der Gemeinden, der Kranken, der Armen und der Bettler, all diese Regimente gehören zu den Regierungspraktiken, welche der Gesellschaft selbst oder dem Staat innewohnen.13 Davon ausgehend bezieht sich der 10 11 12 13 SP, S. 70. Vgl. Gouv, S. 64f. Vgl. Thomas Lemke/Susanne Krasmann/Ulrich Bröckling (Fn.1), S. 8; Lemke (Fn.1), S. 109. Vgl. Gouv, S. 41f., 46f.; SM, S. 255; WK, S. 10f. Während die Regierung sich bei Machiavelli, so Foucault, vor allem auf das Regiment des Staates durch den Fürsten bezieht und auf die „Geschicklichkeit des Fürsten bei der Erhaltung seines Fürstentums“ gerichtet ist, geht Guillaume de La Perrière in seinem Buch Le Miroir politique, contenant diverses manières de gouverner, welches aus dem Jahr 1555 stammte und als antimachiavellistische Literatur galt, von einer Mannigfaltigkeit der Regierungsformen aus. Demnach sagt de La Perrière: „Regent kann jeder Monarch, Kaiser, König, Fürst, Lehnsherr, Magistrat, Prälat, Richter und dergleichen genannt werden.“ (Zit. nach Gouv, S. 46.) Dazu meint Foucault: „Tatsächlich ist der Fürst, so wie er bei Machiavelli oder in den Darstellungen Machiavellis durch andere erscheint, per definitionem […] singulär in seinem Fürstentum und nimmt diesem gegenüber eine Position der Exteriorität und Transzendenz ein. Regieren tun dagegen viele: der Familienvater, der Superior eines Klosters, der Erzieher und der Lehrer im Verhältnis zum Kind oder Schüler, und daran sieht man, dass der Regent und die Praktik des Regierens zum einen einem Feld mannigfaltiger Praktiken angehören. Deshalb gibt es auch viele Regierungen, und die des Fürsten, der seinen Staat regiert, ist nur eine 79 Begriff des Regierens für Foucault nicht nur „auf politische Strukturen und auf die Verwaltung der Staaten“, sondern auch weitergehend „auf die Weise, in der die Führung von Individuen oder Gruppen“ erfolgt. Das Regieren ist also das „Führen der Führungen“ (conduire des conduites), nämlich die Einwirkung auf die Handlung anderer Individuen.14 Dazu sagt Foucault: „Vielleicht eignet sich ein Begriff wie Führung gerade kraft seines Doppelsinns gut dazu, das Spezifische an den Machtverhältnissen zu erfassen. »Führung« ist zugleich die Tätigkeit des »Anführens« anderer (vermöge mehr oder weniger strikter Zwangsmechanismen) und die Weise des Sich-Verhaltens in einem mehr oder weniger offenen Feld von Möglichkeiten. Machtausübung besteht im »Führen der Führungen« und in der Schaffung der Wahrscheinlichkeit. Im Grunde ist Macht weniger von der Art der Konfrontation zweier Gegner oder der Verpflichtung des einen gegenüber dem anderen, als von der des »Gouvernement«.“15 Dieses Verständnis von Regieren als das Führen der Führungen bzw. das der Lebensführungen wird zu einem der wichtigen Brennpunkte von Foucaults späterer Machtanalytik.16 Demzufolge wäre „die der Macht eigene Verhältnisweise“ für Foucault „weder auf Seiten der Gewalt und des Kampfes, noch auf Seiten des Vertrags und der Willensbande“ zu suchen, sondern „vielmehr auf Seiten dieser einzigartigen, weder kriegerischen noch juridischen Weise des Handelns: des Gouvernement“. 17 Demnach sind Machtverhältnisse nichts anderes als Regierungsverhältnisse, in denen das Regiment – im weitesten Sinne dieses Wortes – der Menschen untereinander beständig vorhanden ist. Die 14 15 16 17 80 Unterart davon. Alle diese Regierungen sind zum anderen der Gesellschaft selbst oder dem Staat innerlich. Der Familienvater regiert seine Familie und der Superior des Klosters sein Kloster innerhalb des Staates. So gibt es zugleich Pluralität der Regierungsformen und Immanenz der Regierungspraktiken im Verhältnis zum Staat, bestehen zugleich Mannigfaltigkeit und Immanenz dieser Aktivitäten, die in einem radikalen Gegensatz zur transzendenten Singularität des Fürsten von Machiavelli stehen.“ Gouv, S. 46f. Vgl. SM, S. 255; Aub, S. 702; BH, S. 203f.; Pref, S. 338; Flive, S. 410; DE IV, S. 237, 582. Vgl. auch Colin Gordon, The Soul of the Citizen: Max Weber and Michel Foucault on Rationality and Government, in: Barry Smart (Hrsg.), Michel Foucault. Critical Assessments, vol. IV, London u.a. 1995, S. 430; Gordon (Fn.1), S. 2f.; Lemke, Eine Kritik der politischen Vernunft, Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität, Hamburg 1997, S. 149. SM, S. 255. Vgl. auch (Fn.148) in Kapitel 2. Gouv, S. 255. Menschen, die in Gesellschaft leben, miteinander auf Handlungen einwirken und darum gezwungen sind, in Macht- oder Regierungsverhältnisse zu treten18, können zugleich die sich dem Souverän und seinen Gesetzen unterwerfenden Rechtssubjekte, die mikrophysikalisch zu disziplinierenden Individuen und die makrophysikalisch zu regulierende Bevölkerung sein. Diese den Menschen auferlegten heterogenen Identitäten sind für Foucault die Produkte des Machtdreiecks, welches aus den unterschiedlichen Macht- oder Regierungsverhältnissen Souveränität, Disziplin und Gouvernementalität besteht. Dementsprechend ist die Konzeption der Gouvernementalität nicht mit der des Regierens gleichzusetzen. Die Gouvernementalität ist vielmehr eine der möglichen Modalitäten der Macht, deren Eigenart durch das Regieren der Menschen untereinander charakterisiert wird. 19 Das Regieren innerhalb der Gouvernementalität unterscheidet sich von dem Regieren innerhalb der Souveränität und dem innerhalb der Disziplin in folgender Weise: Während die Machtwirkungsweise – im Sinne der Einwirkungsweise auf Handlungen – der Souveränität vor allem auf den Gehorsam der Untertanen und die Achtung der Gesetze und die der Disziplin auf die Normalisierung des Körpers und seines Verhaltens gerichtet sind, zielt die Gouvernementalität auf die Bevölkerung, die ihre eigenen Regelmäßigkeiten wie Geburten-, Sterbe- und Krankheitsraten sowie Unfallhäufigkeiten hat, und versucht, diese mittels der integrierenden Steuerungsmaßnahmen, und zwar des globalen Kalküls des Staates, zu regieren. 20 Nach Foucault führt das Aufkommen der 18 19 20 Vgl. SM, S. 257. Vgl. Mitchell Dean, Governmentality. Power and Rule in Modern Society, London u.a. 1999, S. 19; Graham Burchell, Liberal Government and Techniques of the Self, in: Andrew Barry/Thomas Osborne/Nikolas Rose (Hrsg.), Foucault and Political Reason. Liberalism, Neo-Liberalism and Rationalities of Government, London 1996, S. 19. Trotzdem sind diese Begriffe des Regierens, der Kunst des Regierens und der Gouvernementalität bei Foucault manchmal austauschbar. Vgl. Gordon (Fn.1), S. 20; Dean (Fn.19), S. 20; Lemke (Fn.14), S. 188. Zur Bevölkerung sagt Foucault: „Eine der großen Neuerungen in den Machttechniken des 18. Jahrhunderts bestand im Auftreten der »Bevölkerung« als ökonomisches und politisches Problem: die Bevölkerung als Reichtum, die Bevölkerung als Arbeitskraft oder Arbeitsfähigkeit, die Bevölkerung im Gleichgewicht zwischen ihrem eigenen Wachstum und dem ihrer Ressourcen. Die Regierungen entdecken, dass sie es nicht nur mit Untertanen, auch nicht bloß mit einem »Volk«, sondern mit einer »Bevölkerung« mit spezifischen Problemen und eigenen Variablen zu tun haben wie Geburtenrate, Sterblichkeit, Lebensdauer, Fruchtbarkeit, 81 Gouvernementalität seit dem 18. Jahrhundert nicht zum Verschwinden der Souveränität und der Disziplin. Ganz im Gegenteil: „[D]as Problem der Begründung der Souveränität“ und „die Notwendigkeit, die Disziplinen zu entwickeln“, werden durch „die Idee der Regierung der Bevölkerung“ verschärft. Weiterhin werden die Souveränität und die Disziplin sogar zu Taktiken der Gouvernementalität, damit die Bevölkerung nicht allein auf der Ebene ihrer globalen Befunde, sondern auch in ihrer Vielseitigkeit, in ihrer Tiefe, in ihrer Feinheit und in ihrem Detail geführt werden kann.21 Mit Hilfe der Definition der Regierung von Guillaume de La Perrière, nach welcher Regieren „das richtige Verfügen über die Dinge [ist], deren man sich annimmt, um sie dem angemessenen Zweck zuzuführen“22, weist Foucault darauf hin, dass die Kunst des Regierens nicht in der Souveränität oder in der absoluten Unterwerfung der Untertanen gesucht werden sollte, sondern vielmehr in den von der Regierung geleiteten Dingen, das heißt in den Menschen und ihren Beziehungen mit anderen Dingen, von den Reichtümern, den Bodenschätzen, den Nahrungsmitteln und dem Klima über die Sitten und Gebräuche, die Handlungs- und 21 22 82 Gesundheitszustand, Krankheitshäufigkeit, Ernährungsweise und Wohnverhältnissen.“ WW, S. 37f. Vgl. Gouv, S. 62-64; Dean (Fn.19), S. 19f. Außerdem hat Foucault in seinem Preface to the History of Sexuality, Volume II zum Beispiel die Geschichte der Disziplinen aus dieser Perspektive der Gouvernementalität erneut betrachtet. In bezug auf die Analyse der Gestaltung einer bestimmten „strafenden Rationalität“ sagt er: „[I]t seemed to me far wiser to look at the workings of Power. I was concerned not with some omnipresent power, almighty and above all clairvoyant, diffusing itself throughout the social body in order to control it down to the tiniest detail, but with the refinement, the elaboration and installation since the seventeenth century, of techniques for “governing” individuals – that is, for “guiding their conduct” – in domains as different as the school, the army and the workshop. The new punitive rationality must be relocated in the context of this technology, itself linked to the demographic, economic, and political changes which accompany the development of industrial states. Accordingly, the analysis does not revolve around the general principle of the Law or the myth of Power, but concerns itself with the complex and multiple practices of a “governmentality” which presupposes, on the one hand, rational forms, technical procedures, instrumentations through which to operate and, on the other hand, strategic games which subject the power relations they are supposed to guarantee to instability and reversal. Starting from an analysis of these forms of “government,” one can see how criminality was constituted as an object of knowledge, and how a certain “consciousness” of criminality could be formed […].“ Pref, S. 337f. Gouv, S. 50. Denkweisen bis zu den potenziellen Unfällen oder Unglücken wie Hungersnöte, Epidemien und Tod.23 Davon ausgehend sollte man eine Vielzahl spezifischer Zielsetzungen festlegen, welche sich dem Gesamtziel der Bevölkerungssicherheit unterordnen. Beispielsweise sollte man nicht nur nach der Produktion der größtmöglichen Reichtümer, der hinreichenden Versorgung mit Nahrungsmitteln oder strengen Kontrollmaßnahmen gegen Epidemie trachten 24 , sondern auch nach komplexen und umfassenden Mechanismen der Sicherheit, mit denen der allgemeine Wohlstand auch in Zukunft gewährleistet werden kann. 25 Schließlich sollten diese vielfältigen Zielsetzungen mit bestimmten Mitteln und Taktiken erreicht werden, und zwar „in der Vervollkommnung, Maximierung oder Intensivierung der von der Regierung geleiteten Vorgänge“.26 Genau in diesem Punkt der Suche nach einer Optimierung des Zweck-Mittel-Verhältnisses und sogar des Kosten-Nutzen-Verhältnisses lässt sich die Gouvernementalität nach Foucault nicht nur von Anfang an mit der Ökonomie verknüpfen, sondern auch am Ende mit der politischen Ökonomie, welche in Foucaults Augen wesentlich als die „Interventionstechnik der Regierung“ in das der Bevölkerung eigene Realitätsfeld gilt.27 Entsprechend dieser vielfältigen Probleme und ihrer Lösungsstrate23 24 25 26 27 Vgl. Gouv, S. 51. Gouv, S. 54. Dazu sagt Bentham: “Among the objects of the law, security is the only one which embraces the future; subsistence, abundance, equality, may be regarded for a moment only; but security implies extension in point of time with respect to all the benefits to which it is applied. Security is therefore the principal object.” Zit. von Gordon (Fn.1), S. 19. Vgl. Gouv, S. 54. Nach Foucault bezeichnet das Wort Ökonomie ursprünglich die „weise Regierung des Hauses zum gemeinschaftlichen Wohl der ganzen Familie“. Bereits im 16. Jahrhundert wurde das Problem diskutiert, wie sich das ökonomische Regierungsmodell der Familie in die Lenkung eines Staates einführen ließe. Im Anschluss an den Artikel Économie politique von Jean-Jacques Rousseau sagt Foucault: „Um einen Staat zu regieren, wird man die Ökonomie einsetzen müssen, eine Ökonomie auf der Ebene des Staates als Ganzem, d.h. man wird die Einwohner, die Reichtümer und die Lebensführung aller und jedes Einzelnen unter eine Form von Überwachung und Kontrolle stellen, die nicht weniger aufmerksam ist als die des Familienvaters über die Hausgemeinschaft und ihre Güter.“ Dieser Ausdruck Ökonomie, welcher im 16. Jahrhundert im Prinzip eine Regierungsform der Familie meinte, erhielt nach Foucault im 18. Jahrhundert zum Beispiel bei Quesnay seine moderne Bedeutung, welche „ein Realitätsniveau“ und „ein Interventionsfeld“ bezeichnet. Gouv, S. 49f. 83 gien und -taktiken, welche alle die allgemeine Problematik der Bevölkerungsregulierung umkreisen, nämlich wie die Bevölkerung regiert wird, durch wen, bis zu welchem Punkt, zu welchen Zwecken und durch welche Methoden und Technologien28, bildet sich seit dem 18. Jahrhundert allmählich eine neue Machtausübungsdimension der Gouvernementalität heraus, deren Hauptziel in der Sicherheit der Bevölkerung besteht. Angesichts der oben dargelegten Komplexität und Heterogenität, welche der Gouvernementalität innewohnen, wird die Gouvernementalität von Foucault in erster Linie als „die Gesamtheit“ definiert, „gebildet aus den Institutionen, den Verfahren, Analysen und Reflexionen, den Berechnungen und den Taktiken, die es gestatten, diese recht spezifische und doch komplexe Form der Macht auszuüben, die als Hauptzielscheibe die Bevölkerung, als Hauptwissensform die politische Ökonomie und als wesentliches technisches Instrument die Sicherheitsdispositive hat.“29 II. Der Einsatz der strategisch orientierten Sicherheitsdispositive Die Konzeption der Sicherheit in der oben erwähnten Definition der Gouvernementalität beschränkt sich nicht negativ auf die innere und äußere Gefahrenabwehr, das heißt auf die sogenannte innere und äußere Sicherheit. Sie erstreckt sich weiter auf die soziale Sicherheit, nach welcher die Daseinsvorsorge und die Wohlstandsförderung für jeden einzelnen gewährleistet wird. Dementsprechend müssen beispielsweise Unsicherheit und soziale Risiken wie Armut, Unfälle, Arbeitslosigkeit, Krankheit etc. mittels staatlicher Globalsteuerungsmaßnahmen abgemildert und reguliert werden. 30 Davon ausgehend wird die 28 29 30 84 Vgl. Gouv, S. 42; Flive, S. 258. Gouv, S. 64. Vgl. auch folgende Passage: „When I say »govern someone«, it is simply in the sense that one can determine one’s behaviour in terms of a strategy by resorting to a number of tactics. Therefore, if you like, it is governmentality in the wide sense of the term, as the group of relations of power and techniques which allow these relations of power to be exercised, that is what I studied.“ Flive, S. 410. Dieser Meinung sind auch Alan Hunt und Gary Wickham: „The English word ‘security’ does not convey the sense of Foucault’s discussion; the term ‘welfare’ is probably closer.” Hunt/Wickham (Fn.1), S. 54. Zur Diskussion über die innere, äußere und soziale Sicherheit, welche Teil der Staatsaufgaben ist, siehe etwa Roman Herzog, Ziele, Vorbehalte und Grenzen der Staatstätigkeit, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III, 2. Aufl., Heidelberg 1996, § 58, Rn 38ff.; Volkmar Götz, Gouvernementalität von Foucault nicht nur als eine biopolitische Machttechnologie betrachtet, welche erlaubt, eine Art Homöostase innerhalb der Bevölkerung mit den großen Verwaltungs-, Wirtschafts- und politischen Organismen zu etablieren31, sondern auch als eine Form der politischen Rationalität32, die es gestattet, entsprechende Mechanismen der Sicherheit einzusetzen, damit die allgemeine Problematik der Bevölkerungsregierung geeignet behandelt wird. Diese von der politisch-ökonomisch globalsteuerungsorientierten Rationalität eingesetzten 31 32 Innere Sicherheit, in: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III, §79, Rn. 1-28; Wolfgang Rüfner, Daseinfürsorge und soziale Sicherheit, auch in: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III, §80; Gerhard Robbers, Sicherheit als Menschenrecht. Aspekt der Geschichte, Begründung und Wirkung einer Grundrechtsfunktion, Baden-Baden 1987, S. 29-35. Vgl. MaM, S. 34; VG, S. 284. Diese gouvernementale Rationalität sollte nach Foucault eher in den spezifischen historischen Rationalitätstypen als von einem weberisch idealtypischen, übergreifenden Prozess der Rationalisierung her analysiert werden. Dazu sagt Foucault: „Ich halte das Wort »Rationalisierung« für gefährlich. Wir sollten spezifische Rationalitäten untersuchen, statt ständig vom Fortschreiten der Rationalisierung im allgemeinen zu reden.“ SM, S. 245. Diesbezüglich hat auch Petra Neuenhaus gesagt: „Es ist wichtig, nicht zu übersehen, dass Foucault sich stets auf spezifische »Rationalitätstypen« bezieht, die soziale Praktiken organisieren, und nicht, wie Axel Honneth unterstellt, auf einen übergreifenden Prozess der Rationalisierung.“ Neuenhaus, Max Weber und Michel Foucault. Über Macht und Herrschaft in der Moderne, Pfaffenweiler 1993, S. 68f. In einem Gespräch äußert sich Foucault ausdrücklich zum Unterschied zwischen seiner spezifischen programmierenden Rationalität und der idealtypischen Rationalisierung von Max Weber: „Schematically one can say that the »ideal type« is a category of historical interpretation; it's a structure of understanding for the historian who seeks to integrate, after the fact, a certain set of data: it allows him to recapture an »essence« (Calvinism, the state, the capitalist enterprise), working from general principles which are not at all present in the thought of the individuals whose concrete behaviour is nevertheless to be understood on their basis. When I try to analyze the rationalities proper to penal imprisonment, the psychiatrization of madness, or the organization of the domain of sexuality, and when I lay stress on the fact that the real functioning of institutions isn't confined to the unfolding of this rational schema in its pure form, is this an analysis in terms of »ideal types«? I don't think so, for a number of reasons. The rational schemas of the prison, the hospital or the asylum are not general principles which can be rediscovered only through the historian's retrospective interpretation. They are explicit programmes; we are dealing with sets of calculated, reasoned prescriptions in terms of which institutions are meant to be reorganized, spaces arranged, behaviours regulated. If they have an ideality, it is that of a programming left in abeyance, not that of a general but hidden meaning.” QM, S. 80. 85 Mechanismen sind also das, was Foucault als die Dispositive der Sicherheit bezeichnet. In diesen Dispositiven der Sicherheit sind nicht nur die Einsätze der Armee, der Diplomatie und des Komplexes von Polizei, Strafjustiz und Gefängnis eingeschlossen, sondern auch die Maßnahmen zur Regulierung der Armut, der Arbeitslosigkeit, der Gesundheit, der Hygiene, der Pädagogik, der nationalen und sogar internationalen Wirtschaft usw.33 Eigentlich ist der Einsatz dieser heterogenen Sicherheitsdispositive im Prinzip vom Verhältnis zwischen Programm, Strategie und Technologie her zu analysieren. Im Mittelpunkt dieses Verhältnisses steht der Gedanke der Strategie, welche nach Foucault in Situationen der Gegnerschaft sowohl die Ziele des Regierens als auch die Wahl der Mittel und Taktiken zu ihrer effizienten Erreichung bestimmen sollte. Anschließend werden entsprechende Regierungstechnologien erfunden, damit das Regierungsprogramm perfektioniert wird und sich unaufhörlich weiterentwickelt. 34 Aus dieser Reihe von Programm, Strategie und Technologie die Sicherheitsdispositive zu betrachten heißt aber nicht, dass diese Dispositive der Sicherheit vom Problem der Anwendung oder Übertragung her einfach wie die Aufbauarbeit nach einem architektonischen Entwurf zu verstehen sind. In Wirklichkeit kommt es immer wieder zum Scheitern von Programmen und unintendierten Effekten. Trotzdem kann seine Negativität nach Foucault durch heterogene Strategien und neue Technologien wieder positiv ins Programm investiert werden. 35 Dies ist das, was von Foucault als die „strategische Wiederauffüllung des Dispositivs“ bezeichnet wird.36 Die im vorigen Kapitel dargelegte ver33 34 35 36 86 StW, S. 36f.; Gouv, S. 67; FCF, S. 240f. Vgl. auch Dean (Fn.19), S. 20, 52, 194f; Gordon (Fn.1), S. 19f.; François Ewald, Der Vorsorgestaat, Frankfurt a.M. 1993, S. 137-141; Barry Hindess, Neo-Liberalism and the National Economy, in: Mitchell Dean/Barry Hindess (Hrsg.), Governing Australia. Studies in Contemporary Rationalities of Government, Cambridge 1998, S. 212-218. Vgl. SM, S. 259; Lemke (Fn.14), S. 146f.; Nikolas Rose, Governing “Advanced” Liberal Democracies, in: Andrew Barry/Thomas Osborne/Nikolas Rose (Hrsg.), Foucault and Political Reason. Liberalism, Neo-Liberalism and Rationalities of Government, Chicago u. a. 1996, S. 42; Peter Miller/Nikolas Rose, Das ökonomische Leben regieren, in: Richard Schwarz (Hrsg.), Zur Genealogie der Regulation. Anschlüsse an Michel Foucault, Mainz 1994, S. 54; Dean (Fn.19), S. 20-22; Neuenhaus (Fn.32), S. 68. Lemke/Krasmann/Bröckling (Fn.1), S. 22f.; Thomas Lemke, Neoliberalismus, Staat und Selbsttechnologien. Ein kritischer Überblick über die governmentality studies, in: Politische Vierteljahresschrift, 41. Jg., H.1, 2000, S. 42f. Vgl. DM, S. 120f. kehrte Wirkung des Gefängnisses, nämlich die Herstellung der Delinquenz anstatt der Beseitigung der Kriminalität, ist eines der treffenden Beispiele für die Erklärung dieses Prozesses der strategischen Wiederauffüllung. Wie bereits geschildert, galt die Haftstrafe seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts allmählich als „das wirksamste und vernünftigste Instrument“ zum Kampf gegen die Kriminalität und zur Umformung der Kriminellen. Trotzdem wurden weder die Kriminalität noch der Rückfall durch das Gefängnis verhindert oder vermindert. Ganz im Gegenteil, kam es zu einem im vorhinein nicht vorhergesehenen Effekt, nämlich „der Konstituierung eines Milieus der Delinquenz“. Gemäß Foucaults Beobachtung erlebte man ungefähr seit den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts „eine unmittelbare Wiedernutzbarmachung dieses unfreiwilligen und negativen Effekts in einer neuartigen Strategie, die in gewisser Weise den leeren Raum wiederaufgefüllt, oder anders gesagt, dessen Negativität ins Positive gekehrt hat: das Milieu der Delinquenz wurde zu diversen politischen und ökonomischen Zwecken (etwa um aus der Lust Profit zu schlagen – mithilfe der Organisierung der Prostitution) ausgenutzt.“37 Demnach hat man mit Blick auf das Gefängnisdispositiv seinen Misserfolg, die Herstellung der Delinquenz, strategisch wieder investiert, um einerseits die Gesetzwidrigkeiten innerhalb einer allgemeinen Ökonomie zu verwalten und andererseits von ihnen zu profitieren. Allgemein gesagt wurde die Konzeption des Dispositivs von Foucault bereits seit Überwachen und Strafen und Der Wille zum Wissen als 37 DM, S. 121f. Dazu sagt Foucault in einem Interview: „Different things must be distinguished in the analysis of an institution. First, what one could call its rationality or its end, that is to say the objectives that it proposes and the means it has of reaching these objectives; in short, the program of the institution as it has been defined; for example, Bentham’s conception of the prison. Secondly, there is the question of effect. Obviously the effects only rarely coincide with the ends; thus the objective of the corrective prison, of the means of rehabilitating the individual, has not been met; the effect has been rather the reverse, and the prison has dealt with the behavior of delinquency. But when the effect does not coincide with the end there are several possibilities: either one reforms or one utilizes these effects for something that wasn’t foreseen at the beginning but which can well have a meaning and a use. This is what one could call the usage: the prison, unable to rehabilitate, has served rather as a mechanism of elimination. The fourth level of the analysis is what one could call the “strategic configurations” – in other words, beginning from these usages in some new and unforeseen way, one can construct new rational behaviors, different from the initial program but which fulfil their objective, and in which play between different social groups can take place.“ Flive, S. 425. 87 die begriffliche Grundlage gebraucht, um die Frage nach dem Komplex von Macht und Wissen zu beantworten, nämlich: Wie wird das Wissen durch ein immer in das Spiel der Macht eingeschriebenes Dispositiv hergestellt, das seinerseits ebenfalls von ihm gestützt wird?38 Von dieser Frage her betrachtet ist das Dispositiv für Foucault vornehmlich als ein sich selbst herstellendes Machtnetz zu verstehen, welches diffuse Elemente bündelt, damit bestimmte strategische Zielsetzungen erreicht werden. Das Dispositiv umfasst nach Foucault „Diskursive, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes“. Davon ausgehend gilt das Dispositiv als nichts anderes als „ein entschieden heterogenes Ensemble“, welches diese diffusen Elemente in einen Zusammenhang bringt, ob sie diskursiv oder nichtdiskursiv, sagbar oder sichtbar (gemäß Deleuzes Schema) sind.39 Obwohl es nach Foucault in einem Dispositiv immer „die Prävalenz einer strategischen Zielsetzung“ gibt, welche sich zu einem historischen Zeitpunkt aus einer bestimmten Not ergibt, bedeutet der Ablauf des Dispositivs keineswegs, wie oben dargelegt, dass seine anvisierte Zielsetzung einfach mittels entsprechender Technologien in die Realität über38 39 88 Vgl. DM, S. 123; Hinrich Fink-Eitel, Michel Foucault zur Einführung, 4. Aufl., Hamburg 2002, S. 80. Zur Frage nach dem Komplex von Macht und Wissen sagt Foucault zum Beispiel im Vorwort zur deutschen Ausgabe von Der Wille zum Wissen: „Es ist das Problem, das fast alle meine Bücher bestimmt: Wie ist in den abendländischen Gesellschaften die Produktion von Diskursiven, die (zumindest für eine bestimmte Zeit) mit einem Wahrheitswert geladen sind, an die unterschiedlichen Machtmechanismen und -institutionen gebunden.“ WW, S. 8. Zu den Stützungsbeziehungen zwischen Macht und Wissen sagt Foucault außerdem in Überwachen und Strafen: „Eher ist wohl anzunehmen, dass die Macht Wissen hervorbringt (und nicht bloß fördert, anwendet, ausnutzt); dass Macht und Wissen einander unmittelbar einschliessen; dass es keine Machtbeziehung gibt, ohne dass sich ein entsprechendes Wissensfeld konstituiert, und kein Wissen, das nicht gleichzeitig Machtbeziehungen voraussetzt und konstituiert. Diese Macht/Wissen-Beziehungen sind darum nicht von einem Erkenntnissubjekt aus zu analysieren, das gegenüber dem Machtsystem frei oder unfrei ist. Vielmehr ist in Betracht zu ziehen, dass das erkennende Subjekt, das zu erkennende Objekt und die Erkenntnisweisen jeweils Effekte jener fundamentalen Macht/Wissen-Komplexe und ihrer historischen Transformationen bilden.“ ÜS, S. 39. Vgl. auch DM, S. 51f.; StW, S. 66; VG, S. 32f. Vgl. DM, S. 119f., 123; Gilles Deleuze, Foucault, S. 69-71, 73; auch ders., Was ist ein Dispositiv?, in: François Ewald/Bernhard Waldenfels (Hrsg.), Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken, Frankfurt a.M. 1991, S. 153f. setzt oder realisiert wird. In Wirklichkeit funktioniert das Dispositiv selten so, wie es geplant war; es kommt beständig zu im voraus nicht zu erwartenden Erschütterungen, Krisen und Situation des Scheiterns. Das Dispositiv ist laut Foucault gezwungen, die aus diesen Erschütterungen, Krisen und Scheitern entstehenden unintendierten und negativen Effekte strategisch und produktiv in sich wieder zu reinvestieren. Dank dieses Prozesses der strategischen Wiederauffüllung wird das Dispositiv nicht als ein einheitliches und widerspruchsfreies System angesehen, sondern vielmehr als ein von Strategien durchdrungenes Kraftfeld, in dem alle von ihm eingeschlossenen heterogenen Elemente miteinander in Einklang oder Widerspruch treten, sich messen, verschränken, sogar siegen, unterliegen oder einen Ausgleich finden.40 Genau in diesem Sinne sieht Deleuze zwei wichtige Folgerungen für Foucaults Philosophie des Dispositivs. Es handelt sich um die Folgerung der „Zurückweisung der Universalien“ und die der „Änderung der Orientierung“. Während das Dispositiv diesem Orientierungswechsel zufolge jederzeit bereit ist, nach der Variation, Vielheit, Neuartigkeit und Kreativität zu suchen, hört es aufgrund jener Universalienabsage auf, sich nach der konstanten Koordinate und dem Ewigen zu orientieren.41 Genau in dieser ständigen Suche nach möglichen Abweichungen von den gegebenen Richtungen, welche ihre Energie gerade aus den Erschütterungen, Krisen und dem Scheitern gewinnt, hat Foucault die genealogischen42 Spuren der Sicherheitsdispositive, das heißt die „Ge40 41 42 Vgl. Deleuze, Was ist ein Dispositiv? (Fn.39), S. 153; Lemke (Fn.35), S. 42f.; Lemke/Krasmann/Brökling (Fn.1), S. 22f. Vgl. Deleuze, Was ist ein Dispositiv? (Fn.39), S. 157f. Daraus ergibt sich ein Problem, das man Foucault oft entgegen gehalten hat. Deleuze formuliert es wie folgt, „[W]ie man nämlich den relativen Wert eines Dispositivs einschätzen kann, insofern man sich nicht auf transzendentale Geltungen als universale Koordinaten berufen kann?“ Mit anderen Worten: „Wollen wir behaupten, dass alle Dispositive den gleichen Wert haben (Nihilismus)?“ Dazu meint er: „Bereits vor langer Zeit haben Denker wie Spinoza oder Nietzsche gezeigt, dass die Existenzweisen nach immanenten Kriterien zu gewichten wären, nach ihrem Gehalt an »Möglichkeiten«, an Freiheit, an Kreativität – ohne irgendeinen Appell an transzendentale Geltungen. Foucault wird sogar auf »ästhetische« Kriterien anspielen, verstanden als Lebenskriterien, welche jeweils die Anmaßungen eines transzendentalen Urteils durch eine immanente Bewertung ersetzen. Wenn wir die letzten Bücher Foucaults lesen, so müssen wir das Programm, das er seinen Lesern vorlegt, so gut wie wir nur können, begreifen. Eine intrinsische Ästhetik der Existenzweisen als letzte Dimension der Dispositive?“ AaO, S. 158. Im Anschluss an Nietzsche lehnt Foucault bei seiner genealogischen Methode die Suche nach dem Ursprung ab. Für ihn gibt es in der Geschichte keine Konstanz, 89 schichte der Gouvernementalität“, gefunden. In dieser Geschichte der Gouvernementalität wird vor allem die alte Machttechnik des christlichen Pastorats untersucht, welche erlaubt, säkulare Sicherheitsdispositive mit Hilfe der Globalsteuerung und des Kalküls des Staates zu gestalten, damit das „Heil in dieser Welt“ für die Menschen insgesamt und für jeden einzelnen gesichert werden kann. Darüber hinaus werden in der Geschichte der Gouvernementalität noch die Regierungspraxen des Polizeistaates und des Liberalismus analysiert, welche für die spätere Diskussion der Rekonstruktion des Verfassungsstaates im 4. Kapitel unentbehrlich sind. Während der Polizeistaat sich für Foucault immer darum sorgt, dass zu wenig regiert wird, will der Liberalismus im Gegensatz dazu ein Zuviel an Regierung vermeiden. Die entsprechenden Regierungstechniken, welche jeweils dem Polizeistaat und dem Liberalismus eigen sind, sind die Polizei und die Gesellschaft. Wenn die Technik der Polizei im Kontext der Frühneuzeit wegen ihrer allseitigen Zuständigkeit eine Art von „Künstlichkeit“ darstellt, auf welche die Sicherheitsdispositive für die Wohlfahrt der Individuen gestützt werden, dann geht die Technik der Gesellschaft von einer „Natürlichkeit“ aus, die beim Einsatz der Sicherheitsdispositive respektiert werden muss.43 Genau in diesem Sinne kritisiert der Liberalismus den Polizeistaat nicht aufgrund des Ziels der Herstellung einer „guten Ordnung und Sicherheit“, sondern wegen der Technik der umfassenden Polizei, mit der dieses Ziel erreicht wird. Die Herstellung einer „guten Ordnung und Sicherheit“ wird vom Liberalismus ebenfalls als das Hauptziel des Regierens erkannt, gebraucht wird aber eine völlig andere Technik, wie zum Beispiel die sich natürlich selbstregulierende Gesellschaft. 44 Erst durch dieses Umkodieren der Sicherheitspolitik und -technik lässt sich erklären, wie die bisherigen abendländischen Sicherheitsdispositive immer wieder ihre Kreativitäten und Aktualitäten erhalten, nachdem sie Krisen und Zusammenbrüche erlebt haben, und wie der Verfassungsstaat angesichts der durch den Polizeistaat ausgelösten Regierungskrise vom Liberalismus als eine 43 44 90 keine Kontinuität, welche uns in die Vergangenheit führen kann. „Die Historie wird »wirklich« in dem Maße sein, in dem sie das Diskontinuierliche in unser eigenes Sein einführen wird.“ Vgl. SubW, S. 83-89, 95. Vgl. StW, S. 42f. Vgl. Gordon (Fn.1), S. 26f.; Lemke (Fn.14), S.187; Dean (Fn.19), S. 116-118; ders., Critical and Effective Histories. Foucault’s Methods and Historical Sociology, London u.a. 1994, S. 191. ökonomische und rationale Regierungstechnologie erfunden wurde, welche parallel zur liberalen Technik der Gesellschaft steht, damit die „gute Ordnung und Sicherheit“ gewährleistet wird. Die oben dargelegten zwei Problematiken, die alte Machttechnik des christlichen Pastorats zum einen und die zwei entgegen gesetzten frühneuzeitlichen Regierungspraxen vom Polizeistaat und Liberalismus und ihre entsprechenden Regierungstechniken (beim Polizeistaat: die Polizei und beim Liberalismus: die Gesellschaft und der Verfassungsstaat) zum anderen, werden in den nächsten zwei Abschnitten weiter thematisiert. C. Die Machttechnik des Pastorats I. Rückkehr zur Pastoralmacht Wie oben erwähnt, entwickeln sich seit der Frühneuzeit in der abendländischen Gesellschaft allmählich die gouvernementalen Sicherheitsdispositive. Der Betrieb dieser gouvernementalen Sicherheitsdispositive ist zwar vor allem der Entstehung des Staates und seiner umfassenden Instanz der Regulierung und Kontrolle zu verdanken, aber das Hauptziel, welches diesen Sicherheitsdispositiven inhärent ist, besteht nicht in der Aufrechterhaltung der Souveränität eines Fürsten über sein Territorium und seine Untertanen, sondern in der Fürsorge für die gesamte Bevölkerung und jeden einzelnen Menschen. Neben der politisch zunehmend zentralisierten und zentralisierenden Macht des Staates seit der Frühneuzeit, welche sich in der Form der Souveränität äußert und stets die Blicke der Theoretiker und Historiker auf sich zog, ist die Macht des Staates von den gouvernementalen Aktivitäten her zudem „eine zugleich individualisierende und totalisierende Form der Macht“. Wie wurde die Entstehung dieser Machttechniken in Gang gebracht, die sowohl auf Individuen als auch auf die Bevölkerung zielen und beide auf stetige Weise lenken sollen? Wie sind die abendländischen Gesellschaften zu Gefangenen dieser Kombination von Individualisierungstechniken und Totalisierungsverfahren innerhalb der politischen Struktur des Staates geworden? Dabei geht es Foucault nicht darum, dem Staat das Geheimnis seines Seins und seines Wesens zu entreißen. Es geht vielmehr darum, das Problem des Staates von der Geschichte und den Praktiken der Gouvernementalität her zu erkunden, damit man die „Art von 91 politischem »double-bind«“ abschütteln kann, der in der gleichzeitigen Individualisierung und Totalisierung durch moderne Machtstrukturen des Staates besteht.45 Die Suche nach den genealogischen Spuren der Kumulation dieser beiden Machttechniken führt Foucault auf die Thematik des christlichen Pastorats, dessen Praxen in Foucaults Augen als das Urmodell der Gouvernementalität gelten können. Im Vergleich zum Seelenheil im Jenseits scheint Foucault das Ziel der gouvernementalen Sicherheitsdispositive das Heil in dieser Welt zu sein, welches mehrere säkulare Bedeutungen beinhalten kann, wie zum Beispiel die der Gesundheit, des Wohlergehens (das heißt: ausreichende Mittel, Lebensstandard), des Schutzes gegen Unfälle, der öffentlichen Hygiene, der Lebensdauer und der Reproduktion der Bevölkerung.46 Mittels dieses Vergleiches möchte er darauf hinweisen, dass der Einsatz der gouvernementalen Sicherheitsdispositive vor allem auf das Vorbild des christlichen Pastorats gestützt ist, das sich in einer eigentümlichen Form von Macht, nämlich der des „omnes et singulatim“ äußert.47 Genau in diesem Sinne sollte man den modernen abendländischen Staat nicht nur als eine Verkörperung der Konzeption der Souveränität ansehen, sondern auch als eine Verwirklichung der alten Machttechnik der Pastoralmacht. Denn erst durch Anleihen bei dieser Pastoralmacht entstanden die gouvernementalen Sicherheitsdispositive, die denn jahrhundertjahrlang unter dem Schirm staatlicher Institutionen ausgearbeitet, rationalisiert und zentralisiert wurden.48 45 46 47 48 92 Vgl. KpV, S. 58; SM, S. 250; SP, S. 70. Vgl. SM, S. 249. „Das bekannte „Wohlfahrtstaat-Problem“ bringt nicht nur die Bedürfnisse oder die neuen Regierungstechniken der heutigen Welt zum Vorschein. Es muss als das erkannt werden, was es ist: eines der zahlreichen Reformulierungen der heiklen Abstimmung zwischen der auf Rechtssubjekte ausgeübten politischen und der auf lebendige Individuen ausgeübten Pastoralmacht.“ KpV, S. 60. Diesbezüglich meint Michael Oakeshott, dass im Kontext der frühneuzeitlichen Politik der Zuversicht aus Sicherheit zuerst Wohlfahrt und dann Heil abgeleitet wird. Vgl. Michael Oakeshott, Zuversicht und Skepsis. Zwei Prinzipien neuzeitlicher Politik, Berlin 2000, S. 123. Vgl. StW, S. 18; KpV, S. 58f. Vgl. SM, S. 248, 259; Hermann Steinkamp, Die sanfte Macht der Hirten. Die Bedeutung Michel Foucaults für die Praktische Theologie, Mainz 1999, S. 19. II. Die Eigenart der Pastoralmacht Die Eigenart der christlichen Pastoralmacht erklärt Foucault mit der Hirtenmetapher. 49 Ihm zufolge ist die Hirtenmetapher weder griechischen noch römischen Ursprungs. Sie tauchte vielmehr zuerst in Ägypten auf und wurde von den Hebräern weiterentwickelt. Anstatt der Hirtenmetapher entwickelte sich in der griechischen und römischen Antike eine Metapher des Schiffs. Im Vergleich zu dieser Schiffsmetapher impliziert jene Hirtenmetapher nach Foucault in erster Linie, dass es nicht Gebiete oder Länder (Schiff), sondern Menschen (Herde) sind, welche zu den wichtigsten Gegenständen der Regierung gehören sollten. Anders als im griechischen Denkmodell, in dessen Mittelpunkt die Idee der Streitschlichtung durch Gesetze steht, damit der Bestand des Gemeinwesens gewährleistet wird, ist die Macht des Hirten, der seine Herde versammelt, leitet und führt, grundsätzlich wohltätig. „Es geht dabei nicht nur um die Rettung aller, aller zusammen, wenn die Gefahr naht. Vielmehr geht es um dauernde, individualisierende und zielgerichtete Hut.“50 Dementsprechend muss der Hirte seine Herde insgesamt und im einzelnen kennen. „Er muss nicht nur gute Weiden, die Gesetze der Jahreszeiten und die Ordnung der Dinge, sondern auch die besonderen Bedürfnisse eines jeden einzelnen kennen.“51 In diesem Sinne ist die Macht des Hirten eine Machttechnik, die sich genau an dem Prinzip des omines et singulatim orientiert. Außerdem ist die Macht des Hirten in der Hirtenmetapher nach Foucault noch dadurch zu charakterisieren, dass die Machtausübung eine „Pflicht“ darstellt. Natürlich gibt es in der griechischen Vorstellung auch eine Pflicht des Führers, der zufolge dieser seine Entscheidungen im Interesse aller treffen muss und seine persönlichen Interessen nicht voranstellen darf. Doch ist diese Pflicht in Foucaults Augen „eine glorreiche“! Selbst wenn die Pflichterfüllung zum Tod des Führers führt, wird dieses Opfer des Führers in das Heldentum und die Großtat transformiert und durch die Lobpreisung der „Unsterblichkeit“ wettgemacht. „Demgegenüber ist die Hut des Hirten“, so Foucault, „der »Hingabe« weit näher.“ „Was der Hirte auch tut, es ist auf das Wohl 49 50 51 Für die folgende Diskussion über das Thema der Hirtenmetapher siehe KpV, S. 58f.; StW, S. 17f. Vgl. auch Steinkamp (Fn.48), S. 24-27; Lemke (Fn.14), S. 153f. KpV, S. 59. Ebd. 93 seiner Herde ausgerichtet. Ihr gilt seine stete Sorge. Wenn sie schläft, hält er Wache.“52 Hingabe und Wache: In diesen beiden Motiven und ihrer Verschränkung verdichtet sich also gleichsam das sozialpsychologische Substrat der Hirtenmetapher.53 Diese dem hebräisch-religiösen Kontext entstammende Hirtenmetapher wurde später vom christlichen Pastorat angenommen und auf vier Weisen abgewandelt, welche alle zu Merkmalen der Pastoralmacht wurden. Es handelt sich um das Seelenheil in der anderen Welt, das Verantwortungsbewusstsein des Pastors, die Gehorsamstugend des Gläubigen und die Wahrheitstechniken. Nach Foucault gehört „das Christentum zu den Heilsreligionen, zu jenen Religionen, die von sich behaupten, den Einzelnen aus einer Realität in eine andere, vom Tod zum Leben, aus der Zeit in die Ewigkeit zu führen“.54 Dies ist ein Gedanke von Absterben und neuer Geburt, also eine Dialektik zwischen Diesseits und Jenseits. Das Seelenheil durch den Selbstverzicht in dieser Welt scheint Foucault vielleicht der wichtigste Charakter des Christentums. Im Vergleich dazu gibt es zwar in der griechischen Vorstellung Themen bezüglich des Selbstverzichts, aber dabei geht es nach Foucault vielmehr um ein Opfer für die Stadt: die Rettung der Stadt anstelle der des Selbst in der anderen Welt.55 Im „Hirte-Herde-Spiel“, wie Foucault es bezeichnet, ist der Pastor nun der einzige, der von Gott den Auftrag erhielt, den Gläubigen aus seinem Sündenfall zu retten. Dabei muss der Pastor die Verantwortung für das Schicksal der ganzen Herde und jedes einzelnen Schafes auf sich nehmen. Um seiner Herde zum Heil zu verhelfen, läuft der Pastor manchmal Gefahr, selbst verloren zu gehen. Dieses Riskieren seines Lebens ist jedoch sein Weg zum Heil. So bildet sich eine Schicksalsgemeinschaft von Pastoren und seinen Gläubigen, in welcher der Pastor die Verantwortung für die Gläubigen trägt und diese wiederum ihm absoluten Gehorsam leisten müssen. Der Wille des Pastors muss befolgt werden, „nicht bloß weil und soweit er dem Gesetz entspricht, sondern grundsätzlich weil es sein Wille ist“. Nach Foucault ist Gehorsam im Christentum eine Tugend. Er ist nicht „ein vorläufiges Mittel zu einem Zweck, sondern eher ein Selbstzweck“. Er ist außerdem noch ein „Dauerzustand“: „Die 52 53 54 55 94 Ebd.. Steinkamp (Fn.48), S. 26. TS, S. 51. Vgl. auch KpV, S. 62. Vgl. KpV, S. 62. Schafe müssen ihrem Hirten beständig untertan sein: subditi“. Der Gehorsam ist also der ewige Verzicht auf eigenen Willen und das Akzeptieren der permanenten Kontrolle des Pastors.56 Schließlich herrscht nach Foucault eine ganz besondere Kenntnis in der Beziehung des Pastors zu einem jeden seiner Schafe: „Der Hirte muss die materiellen Bedürfnisse jedes Mitglieds der Herde kennen und sie wenn nötig befrieden. Er muss wissen, was vor sich geht, was jedes von ihnen tut – seine offenbaren Sünden. Endlich muss er wissen, was in der Seele eines jeden vorgeht, das heißt seine heimlichen Sünden, sein Fortschritt auf dem Weg zur Heiligkeit.“57 Dadurch gibt es einerseits eine Reihe von strengen Wahrheitsverpflichtungen, welche fordern, dass jeder die Gewissensprüfung aufnehmen versuchen muss, Fehler, Versuchungen und Begierden in sich selbst ausfindig zu machen und diese Dinge anderen Leuten gegen sich selbst mitzuteilen.58 Andererseits entstehen entsprechende Wahrheitstechniken, mit deren Hilfe der bei der Gewissensprüfung zuhörende Pastor in der Lage ist, dem Aussagenden zu helfen, sich sowohl der Fehler als auch der innersten Geheimnisse bewusst zu werden, welche er weder sehen noch dechiffrieren kann. Hierdurch befindet er sich in einem Zustand, in welchem er seinem Lenker seine Seelentiefen völlig offenbart und sich ihm dauernd unterwirft. Dies ist also eine verwickelte Kombination aus Wahrheitsspiel und Machtspiel. Während innerhalb des Wahrheitsspiels ständig das Ritual der Wahrheitsenthüllung und Wahrheitsproduktion stattfindet, gibt es innerhalb des Machtspiels stets den Prozess der Subjektivierung, welcher die Menschen schließlich in ein Netz der vollständigen Knechtschaft bringt. Die dem Christentum eigenen Geständnis- bzw. Beichtverfahren sind Teil dieser eigentümlichen Wahrheitstechniken, die gleichzeitig zum Wahrheitsspiel und zum Machtspiel gehören.59 Diesbezüglich sagt Fou56 57 58 59 Vgl. KpV, S. 62; TS, S. 57f.; StW, S. 23f. KpV, S. 62. Vgl. TS, S. 52; FL, S. 36f. Außerdem meint Foucault, dass es noch andere Wahrheitsverpflichtungen gibt: „So gibt es da die Pflicht, eine Reihe von Sätzen, die das Dogma bilden, für Wahrheit zu halten; es gibt die Pflicht, gewisse Bücher als eine bleibende Wahrheitsquelle zu betrachten; und die Pflicht, die Entscheidungen gewisser Autoritäten in Wahrheitsangelegenheiten zu akzeptieren.“ FL, S. 36. Vgl. WW, S. 75-93; DW, S. 150; TS, S. 51; StW, S. 24f. Für Foucault sind diese christlichen Geständnis- bzw. Beichtverfahren eigentlich den hellenischen Selbsttechniken der Selbstprüfung und Gewissenserforschung entlehnt. Aber während die Selbsttechniken für den Stoiker den Weg zur Vollkommenheit und 95 cault: „Nun ist das Geständnis ein Diskursritual, in dem das sprechende Subjekt mit dem Objekt der Aussage zusammenfällt, und zugleich ist es ein Ritual, das sich innerhalb eines Machtverhältnisses entfaltet, denn niemand leistet sein Geständnis ohne die wenigstens virtuelle Gegenwart eines Partners, der nicht einfach Gesprächspartner, sondern Instanz ist, die das Geständnis fordert, erzwingt, abschätzt und die einschreitet, um zu richten, zu strafen, zu vergeben, zu trösten oder zu versöhnen; ein Ritual, in dem die Wahrheit sich an den Hindernissen und Widerständen bewährt, die sie überwinden musste, um zutagezutreten; ein Ritual schließlich, wo die bloße Äußerung schon – unabhängig von ihren äußeren Konsequenzen – bei dem, der sie macht, innere Veränderungen bewirkt: sie tilgt seine Schuld, kauft ihn frei, reinigt ihn, erlöst ihn von seinen Verfehlungen, befreit ihn und verspricht ihm das Heil.“60 Das christliche Pastorat hat also „diesen erstaunlichen Zwang erfunden und einem jeden auferlegt, alles zu sagen, um alles auszulöschen, auch noch die geringsten Fehler in einem ununterbrochenen, erbitterten, erschöpfenden Murmeln zu formulieren, dem nichts entwischen durfte, das aber auch nicht einen Augenblick sich selber überleben durfte.“61 Angesichts der oben dargelegten Merkmale des Seelenheils, der Verantwortung des Pastors, des Gehorsams des Gläubigen und der individuellen Wahrheitstechniken lässt sich die dem christlichen Pastorat eigene Form der Macht mit der folgenden Schilderung Foucaults zusammenfassen: „Diese Form von Macht ist auf das Seelenheil gerichtet (im Gegensatz zur politischen Macht). Sie ist selbstlos (im Gegensatz zum Prinzip der Souveränität) und individualisierend (im Gegensatz zur juridischen Macht). Sie erstreckt sich über das gesamte Leben und begleitet es ununterbrochen; sie ist mit einer Produktion von Wahrheit verbun- 60 61 96 Selbstbeherrschung weisen, sind dieselben Techniken beim christlichen Pastorat auf den Verzicht auf das Selbst, das heißt auf die Selbstentsagung gerichtet. Vgl. KpV, S. 62; TS, S. 56, 62; FL, S. 37f.; DW, S. 151. Außerdem gestaltet sich das Verhältnis des Subjekts zu sich selbst in der christlichen Beichte eher in Form einer juristischen Beziehung, bei der der Angeklagte dem Richter gegenübersteht. Dem Beichtenden wird wegen seiner vergangenen Verfehlungen, die man Sünde nennt, ein Schuldspruch auferlegt. Statt als Sündebeurteilung und als Gerichtsverfahren gilt nach Foucault die Gewissensprüfung zum Beispiel bei Seneca eher als Verwaltungspraxis, „die ihn in die Lage versetzt, verschiedene Regeln oder Maximen zu reaktivieren, um sie für künftiges Verhalten lebendiger, dauerhafter und wirksamer zu machen“. Vgl. DW, S. 155-158, 175; TS, S. 44f.; SS, S. 85f. WW, S. 79f. LiM, S. 28. den, der Wahrheit des Individuums selbst.“62 III. Die Säkularisierung der Pastoralmacht Eigentlich wird die Pastoralmacht von Foucault von Anfang an als Kunst der Regierung der Menschen definiert, das heißt „die Menschen zu führen, zu lenken, und zu leiten, ihnen zu folgen und sie anzutreiben“. Ihre Aufgabe ist nicht nur, alle Menschen ihr ganzes Leben lang in Obhut zu nehmen, sondern auch, sie zur Erlösung und zum Heil in der anderen Welt zu führen.63 Dabei geht es um ein merkwürdiges Spiel, dessen Elemente nach Foucault „Leben, Tod, Wahrheit, Gehorsam, Individuen, Identität“ sind.64 Seit dem 16. Jahrhundert wurde diese pastorale Kunst der Menschenführung wegen der sozialpolitisch-wirtschaftlichen Strukturwandlung65 allmählich säkularisiert. Außer der Regierung der Seelen gab es seither noch andere Problematiken des Regierens: Wie werden Kinder in der Familie und in der Schule, Soldaten in der Armee, Arbeiter in der Werkstatt, Arme und Kranke in der Gemeinde, in der Stadt und im Staat regiert? Bei dieser Multiplizierung und Vervielfälti62 63 64 65 SM, S. 248. Vgl. StW, S. 22; SM, S. 248. Vgl. auch „Die christliche Pastoral bzw. die christliche Kirche, insofern sie eben eine spezifisch pastorale Aktivität entfaltete, hat die einzigartige und der antiken Kultur wohl gänzlich fremde Idee entwickelt, dass jedes Individuum unabhängig von seinem Alter, von seiner Stellung sein ganzes Leben hindurch und bis ins Detail seiner Aktionen hinein regiert werden müsse und sich regieren lassen müsse: dass es sich zu seinem Heil lenken lassen müsse und zwar von jemandem, mit dem es in einem umfassenden und zugleich peniblen Gehorsamsverhältnis verbunden sei. Und diese Operation der Lenkung zum Heil in einem Gehorsamsverhältnis mit jemandem muss sich in einem dreifachen Verhältnis zur Wahrheit vollziehen: Wahrheit verstanden als Dogma; Wahrheit auch insofern, als diese Lenkung eine spezielle und individualisierende Erkennung der Individuen impliziert; und schließlich auch insofern, als diese Lenkung sich als eine reflektierte Technik entpuppt, die allgemeine Regeln, besondere Erkenntnis, Vorschriften und Methoden für Untersuchungen, Geständnisse, Gespräch usw. enthält.“ WK, S. 9f. Vgl. KpV, S. 62. Diese Strukturwandlung seit dem 16. Jahrhundert ist nach Foucault mit zwei sich überschneidenden Prozessen zu erklären: „Zum einen selbstverständlich der Prozess, der durch Auflösung der feudalen Strukturen allmählich die großen Territorial-, Verwaltungs- und Kolonialstaaten einrichtet und aufbaut. Und sodann eine ganz andere Bewegung – im übrigen nicht frei von Überlagerungen mit der ersten -, die zunächst mit der Reformation, dann der Gegenreformation von neuem die Frage aufwirft, wie man hier auf Erden geistlich zu seinem Heil geleitet werden will.“ Gouv, S. 42; vgl. auch KpV, S. 62f.; StW, S. 28. 97 gung der Menschenregierung ging es nicht mehr um das Seelenheil in der anderen Welt, sondern vielmehr um das Heil in dieser Welt. Aus der Säkularisierung der Pastoralmacht, deren Wirkungsweise von Anfang an auf omnes et singulatim gerichtet war, entwickelten sich schließlich zwei entgegengesetzte Machttechnologien. Diese sind die global, quantitativ orientierte und auf die Bevölkerung zielende Machttechnologie der Gouvernementalität und die analytisch orientierte und auf das Individuum und seinen Körper zielende Machttechnologie der Disziplin.66 Angesichts ihrer vielfältigen individualisierenden Wirkungsweisen (der Suche nach dem individuellen Seelenheil, dem persönlichen Gehorsamsverhältnis zwischen dem Subjekt und seinem Seelenlenker sowie der speziellen und individualisierenden Kenntnis der Individuen durch die Geständnisverfahren) wird die Pastoralmacht von Foucault außerdem als eine Art von individualisierender Macht betrachtet.67 Die Pastoralmacht ist zwar mit der Disziplinarmacht, deren Wirkungsweise ebenfalls individualisierend orientiert ist68, nicht völlig gleichzusetzen. Wenn man allerdings diese beiden von dem ihnen gemeinsamen Macht-Wissen-Komplex her versteht, erkennt man die Pastoralmacht als Wurzel der Disziplinierungstechniken.69 Bereits in den christlichen Geständnis- und Beichtverfahren, wie oben geschildert, ist die Kombination von Wahrheitsspiel und Machtspiel vorhanden. So sind nicht nur die Verfahren der Wahrheitsenthüllung und Wahrheitsproduktion zu finden, sondern auch die der Subjektivierung und Unterwerfung, durch die das Subjekt sich in den Netzen des Gehorsams verfängt. Dieser sich besonders in den christlichen Geständnis- und Beichtverfahren gestaltende Macht-Wissen-Komplex wird später von der Disziplinarmacht, und zwar von einem ihrer technischen Instrumente, der Prüfung, als die „innere Logik“ übernommen.70 In der Machtausübung der Disziplin wird also ebenfalls ein dauerhaftes Unterwerfungsverhältnis und eine Art von analytischem Wissen gebildet, in dem jeder seine eigene Individualität erhalten kann. Trotz dieser Gemeinsamkeit sind die Pastoralmacht und die Disziplinarmacht in bezug auf ihre Zielrichtung zu 66 67 68 69 70 98 Vgl. SM, S. 249. Vgl. KpV, S. 58; SM, S. 248f. Vgl. MaM, S. 31-33; ÜS, S. 187, 237, 243-250, 254, 261, 288. Vgl. Steinkamp (Fn.48), S. 40-49. Vgl. aaO, S. 44. Für Foucault steht die Prüfung genau im Zentrum der Prozeduren, „die das Individuum als Effekt und Objekt von Macht, als Effekt und Objekt von Wissen konstituieren“. ÜS, S. 247. Dazu siehe Kapitel 2. C. III. unterscheiden. Während die Pastoralmacht schließlich für das individuelle Seelenheil in der Welt des Jenseits sorgt, ist die Disziplinarmacht säkularisiert orientiert. Nicht nur die Vertiefung der Unterwerfung, sondern auch die Schaffung eines Verhältnisses, in dem der Körper immer gefügiger und nützlicher gemacht und seine Kräfte effizient gesteigert werden, sind Ergebnisse der Säkularisierung der Pastoralmacht, welche sich im Bereich der Disziplin äußern und in Form der individualisierenden „Taktik“ allmählich über die ganze Gesellschaft ausbreiten. 71 Dies lässt sich mit den folgenden Worten Foucaults zusammenfassen: „Eine der Konsequenzen ist, dass Macht vom pastoralen Typ, die jahrhundertelang, ja länger als ein Jahrtausend an eine bestimmte Institution gebunden gewesen war, plötzlich den gesamten Gesellschaftskörper durchdrang; dabei konnte sie sich auf eine Menge von Institutionen stützen. Anstelle einer pastoralen und einer politischen Macht, die mehr oder weniger miteinander im Bunde waren und mehr oder weniger miteinander rivalisierten, gab es nun eine individualisierende »Taktik«, die das Kennzeichen einer Reihe von Mächten wie der Familie, der Medizin, der Psychiatrie, der Erziehung, der Arbeitgeber usw. war.“72 Ein weiteres Ergebnis der Säkularisierung der Pastoralmacht ist die Entstehung der Gouvernementalität, welche ihrerseits das bekannte „Wohlfahrtsstaat-Problem“ zum Vorschein bringt 73 und vielfältige Sicherheitsdispositive für die Menschen als Gesamtheit und als Individuum einführt. Dies wird im nächsten Abschnitt detailliert besprochen. D. Die Geschichte der Gouvernementalität I. Die frühneuzeitlichen durch Staatsräson und Polizei säkularisierten Sicherheitsdispositive Ab dem 16. Jahrhundert geriet die abendländische Gesellschaft wegen der Reformation in heftige Auseinandersetzungen. Anstelle der mittelalterlichen, hierarchischen, feudalen Lehnsordnung breiteten sich allmählich die zentralisierenden Machtbildungsprozesse über das ganze Abendland aus. Dies führt schließlich zur Geburt des modernen souverä71 72 73 Dazu siehe Kapitel 1, B. SM, S. 249f. Vgl. KpV, S. 60. Vgl. auch Steinkamp (Fn.48), S. 33. 99 nen Staates.74 Während der Staat sich die feudalen Mächte aneignete und das Gewaltmonopol bildete, entwickelten sich im Rahmen staatlicher Institutionen, welche dieses Gewaltmonopol innehatten, zugleich die komplexen Sicherheitsdispositive, welche als das säkularisierte Heil in dieser Welt zu verstehen sind. Diese Sicherheitsdispositive werden nach Foucault vor allem durch zwei spezifische Regierungstechnologien geprägt: Diese sind die Staatsräson und die Polizei.75 Mit der Herauslösung des politischen Denkens aus der universalen Idee des mittelalterlichen corpus christianum und der christlichen traditionellen Regierungsform, deren Endziel beispielweise nach Thomas von Aquin ist, durch das „tugendvolle Leben in den Genuss der göttlichen Verheißungen“ zu gelangen76, ist der Boden bereitet für einen säkularisierten und rein politischen Gedanken der Staatsräson, welcher vor allem eine hohe Rationalität und Zweckmäßigkeit in der Selbsterhaltung des Staates fordert. Im Prinzip wird Machiavelli als der erste politische Theoretiker anerkannt, der die Idee der Staatsräson, also die „Ethik“ der Selbsterhaltung des Staates aufgebracht hat, obwohl bei ihm der Begriff Staatsräson oder ragione di stato noch nicht vorkommt.77 Foucault ist 74 75 76 77 100 Vgl. Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999, S. 16. Mit Hilfe der Erforschung dieser politischen Regierungstechnologien und ihrer spezifischen Rationalität möchte Foucault herausfinden, „wie wir zu Gefangenen unserer eigenen Geschichte geworden sind“, und wie es kommt, „dass die Rationalisierung zur Raserei der Macht führt.“ Dieser Gedanke ist bereits in Überwachen und Strafen zu erkennen, nämlich „die Geschichte der Gegenwart zu schreiben“. KpV, S. 58; WK, S. 24; ÜS, S. 43. Außerdem ist diese historische Untersuchung genau ein Teil der Foucaultschen Arbeit von der sogenannten „historische[n] Ontologie unserer selbst“, die sich auf drei Hauptfragen bezieht: „Wie haben wir uns als Subjekte unseres eigenen Wissens konstituiert? Wie haben wir uns als Subjekte konstituiert, die Machtbeziehungen ausüben oder sich ihnen unterwerfen? Wie haben wir uns als moralische Subjekte unserer Handlungen konstituiert?“ WA, S. 52; vgl. auch SM, S. 243; Aub, S. 699-702. Vgl. Thomas von Aquin, Über die Herrschaft der Fürsten, Stuttgart 1999, S. 54. Vgl. PTI, S. 173; KpV, S. 64f. Vgl. Friedrich Meinecke, Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte, 2. Aufl., München u. Berlin 1925, S. 36; Herfried Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, Frankfurt a.M. 1995, S. 282-284; Reinhold Zippelius, Allgemeine Staatslehre. Politikwissenschaft, 12. Aufl., München 1994, S. 3; Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 5. Aufl., Berlin u.a. 1993, S. 30; Christian Ruby, Einführung in die politische Philosophie, Berlin 1997, S. 71. Außerdem wird Machiavelli aufgrund seines Gedankens der Selbsterhaltung des Staates jedoch der Meinung, dass die Theoretiker der Staatsräson versuchten, sich von der christlichen Regierungsform wie auch von Machiavelli fernzuhalten. Denn während Machiavellis gesamte Analyse sich nach Foucault damit beschäftigt, was die Verbindung zwischen Fürst und Staat erhält oder stärkt, geht es bei der Idee der Staatsräson um die Existenz und die Natur des Staates selbst.78 In Foucaults Augen wird die Staatsräson strategisch als neue Kunst der Regierung erfunden, deren Ziel es gerade nicht ist, die Macht oder die Sicherheit des Fürsten zu stärken, sondern die Stärke des Staates in den heftigen Auseinandersetzungen zwischen den kriegerischen territorialen Entitäten aufrechtzuerhalten. 79 Durch die Staatsräson lässt sich das Regieren des Staates vor allem von Sitte und Tradition loslösen und zu rationalem Wissen hinwenden. Das heißt: Der Staat sollte sich in erster Linie nach rationalen Gesetzen regieren lassen, die ihm oder seiner Natur eigen sind. Deshalb ist es wichtig geworden, die Fähigkeiten des Staates und die Mittel, diese Fähigkeiten zu erweitern, durch die „politische Arithmetik“, das heißt die Statistik, bekannt zu machen.80 Im allgemeinen Rahmen der Staatsräson wurden nach Foucault zwei wichtige Technologien für die Stärkung des Staates entwickelt: nämlich das Dispositiv des Militärs und der Diplomatie, nach welchem der Mechanismus des zwischenstaatlichen Machtgleichgewichts in Europa herausgestellt wird, und das Dispositiv der Polizei, nach welchem die Bevölkerung einerseits mittels der Statistik und andererseits mittels der Disziplin reguliert wird.81 Schon im 15. bis 17. Jahrhundert, aber auch 78 79 80 81 noch als der erste politische Theoretiker der Neuzeit angesehen, der die Politik und den Staat vom christlichen Seelenheil befreit und ihnen eine zuvor nicht gekannte Autonomie verleiht. Deshalb ist dieser Paradigmenwechsel in der Geschichte der politischen Theorie immer wieder mit dem kosmologischen Paradigmenwechsel des Kopernikus verglichen worden, wie Münkler folgendermaßen beschreibt: „Wie Kopernikus die Erde in einen Planeten der Sonne verwandelt habe, so habe Machiavelli den Staat aus einem Planeten in eine Sonne verwandelt.“ Münkler, aaO, S. 99f. Vgl. KpV, S. 64. Vgl. auch PTI, S. 172-174; StW, S. 29, 33. Vgl. StW, S. 10; PTI, S. 174. Vgl. PTI, S. 172-75; Gouv, S. 56; StW, S. 29-33; KpV, S. 64. Vgl. StW, S. 36f.; FCF, S. 240; Gouv, S. 67. Zur Entwicklung des zwischenstaatlichen Machtgleichgewichts in Europa siehe etwa Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, München 1999, S. 378ff.; Hagen Schulze, Staat und Nation in der europäischen Geschichte, 2. Aufl., München 1995, 84ff.; Otfried Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München 1999, S. 242, 258, 272. 101 noch im 18. Jahrhundert beinhaltete der Begriff Polizei einen „Zustand guter Ordnung im Gemeinwesen“, „wo der Bürger oder Untertan sich ordentlich, züchtig, gesittet, ehrbar verhielt, wo das menschliche Zusammenleben im Gemeinwesen geordnet war“. 82 Der polizeiliche Zustand guter Ordnung bezog sich nicht nur auf die Herstellung von Ruhe und Ordnung, sondern auch auf die Regulierung des Glückes und der Wohlfahrt der Individuen.83 Der Einsatz der Polizei zielte daher nicht allein auf das Streben nach einer guten Ordnung ab, in der das Zusammenleben der Menschen, der Wohlstand, das Glück und das gute Leben der Bevölkerung besser gesichert werden können. Ziel war außerdem noch eine „arbeitsethische“ Gesellschaft, in welcher allen Bürgern ein einheitliches und allumfassendes Tätigkeitsmuster aufgezwungen werden sollte, damit jeder einzelne sich vollkommen entwickele und geheilt werde.84 Zwar wird die Förderung der menschlichen Vollkommenheit unter der „Politik der Zuversicht“, wie Michael Oakeshott sie genannt hat, zur wesentlichen Aufgabe der frühneuzeitlichen polizeilichen Sicherheitsdispositive und der entsprechenden Tätigkeit des Regierens.85 82 83 84 85 102 Franz-Ludwig Knemeyer, Polizeibegriffe in Gesetzen des 15. bis 18. Jahrhunderts. Kritische Bemerkungen zur Literatur über die Entwicklung des Polizeibegriffs, in: AöR 92 (1967), S. 155. Vgl. Eckart Pankoke, Von „guter Policey“ zu „socialer Politik“. „Wohlfahrt“, „Glückseligkeit“ und „Freiheit“ als Wertbindung aktiver Sozialstaatlichkeit, in: Christoph Sachße/Florian Tennstedt (Hrsg.), Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung. Beiträge zu einer historischen Theorie der Sozialpolitik, Frankfurt a.M. 1986, S. 148, 150ff. Vgl. Oakeshott (Fn.46), S. 118, 122f. Vgl. ebd, S. 56, 61-65, 93. Durch die Untersuchung der zwei entgegengesetzten Prinzipien neuzeitlicher Politik, nämlich der „Politik der Zuversicht“ und der „Politik der Skepsis“, versucht Oakeshott zwischen der Legitimation der Regierung und der Tätigkeit der Regierung zu unterscheiden. Interessant ist, dass diese zwei Forschungsaspekte genau den beiden von Foucault aufgestellten Machttypen von Souveränität und Gouvernementalität entsprechen. Oakeshott interessiert sich nicht für die Frage, wer aufgrund welcher Legitimation regieren sollte (diese Frage lautet bei Foucault, wie die souveräne Macht legitimiert werden sollte), sondern dafür, was die Aufgabe einer Regierung sein sollte, die in der von uns für richtig gehaltenen Weise zusammengesetzt und autorisiert ist (diese Frage gehört ebenso zum Problembereich der Gouvernementalität bei Foucault). Vgl. S. 18. Oakeshott hat zwar auch schon bemerkt, dass die Gesellschaft sich eines Tages wegen der uneingeschränkten Zuständigkeit schließlich in ein panoptisches System verwandeln wird. Vgl. S. 64f. Es muss aber angemerkt werden, dass das panoptische System oder die Disziplin in Oakeshotts Analyse der Regierungstätigkeit bloß als ein Phänomen angesehen Tatsächlich steht dieses Anliegen aber im Dienste der Kraftbildungsprozesse des Staates. Im Rahmen der Staatsräson ist allein der Staat sein eigener Zweck. Demzufolge wurden die polizeilichen Sicherheitsdispositive eingesetzt, um das Individuum zu einem für den Staat wichtigen Element zu machen. Von da an wird der positive Wert der Bevölkerung als Faktor für die Stärkung des Staates angesehen. In den Augen der Merkantilisten des 17. Jahrhunderts, so Foucault, seien Bevölkerung, Grundlegung des Reichtums, Produktivkraft und Einordnung ein- und dasselbe.86 Sie alle sind die notwendigen Bedingungen für die Stärkung des Staates. Daher muss alles, was passiert, von der Polizei erfasst werden. Von der Taufe, der Kindererziehung, der Hochzeit, dem Berufszustand jedes Einzelnen über die Nothilfe für die Armen, Alten und Kranken bis hin zu den Nahrungsmitteln, den Gütern, dem Handel, den Märkten, den Bodenschätzen, den Straßen sowie Unfälle oder Unglücke wie Hungersnot und Epidemien, die Geburten- und Sterberate innerhalb der Bevölkerung, sie alle sind zum Gegenstand der Polizeiüberwachung und -verwaltung geworden.87 Die Polizei versucht also mit allen Kräften, die Menschen programmmäßig zu disziplinieren und zu regulieren.88 „Mit dem neuen Polizei-Staat hat die Regierung es nun mit Individuen zu tun, und zwar nicht nur, soweit deren rechtlicher Status betroffen ist, sondern mit Individuen als lebendigen, arbeitenden, wirtschaftenden Wesen.“89 Das wahre Objekt der Polizei, wie Louis Turquet de Mayenne zu Beginn des 17. Jahrhunderts bereits geschildert hat, ist also der 86 87 88 89 wird, das sich aus dem Streben nach der menschlichen Verbesserung und Vollkommenheit notwendigerweise ergibt. Im Vergleich zur Machtanalyse von Foucault sieht Oakeshott weder die Disziplin noch die Gouvernementalität als selbständige Technologien der Macht an. StW, S. 10. Zu der Bevölkerungspolitik im Merkantilismus siehe etwa Karl-Heinz Schmidt, Merkantilismus, Kameralismus, Physiokratie, in: Otmar Issing (Hrsg.), Geschichte der Nationalökonomie, 3. Aufl., München 1994, S. 43-45. In diesem Sinne meinte das Wort Polizei nach Knemeyer außerdem noch „Gesetz, gerichtet auf die Herstellung und (oder) Erhaltung des Zustandes guter Ordnung des Gemeinwesens“. Knemeyer (Fn.82), S. 165. Vgl. KpV, S. 64-66; PTI, S. 180-182. PTI, S. 180. Hier hat der von Foucault gebrauchte Begriff „Polizei-Staat“ mit der ebenfalls oft als „Polizeistaat“ bezeichneten Willkürherrschaft moderner Diktaturen wenig zu tun. Im Rahmen der Gouvernementalität bezieht sich „Polizei-Staat“ auf den wohlfahrtsstaatlichen Polizeibegriff. Vgl. auch Hans. J. Wolff/Otto Bachof/Rolf Stober, Verwaltungsrecht I, 11. Aufl., München 1999, S. 105. 103 Mensch.90 Die Polizei gilt nun in der Machtanalytik Foucaults als eine Kombination aus Gouvernementalität, Disziplin und Souveränität.91 Sie ist also nicht allein der für Souverän zur Verfügung stehende Machtapparat, der versucht gemeinsam mit den Gesetzen die unterworfenen Rechtssubjekte zu prägen. Sie ist zugleich auch die Disziplinarinstitution, die die Individuen überwacht und kontrolliert, und die gouvernementale Regierungstechnologie, die die Bevölkerung global ökonomisch reguliert.92 Dank der Polizei hat Foucault eine eigene Form der Rationalität der Staatsmacht herausgefunden, welche ihm immer reflexiv und sich ihrer Eigenart vollkommen bewusst zu sein scheint.93 II. Der Machtexzess durch die Gouvernementalisierung des Staates Die bisherigen Darlegungen, von der alten Machttechnik des Pastorats bis zur Entstehung der frühneuzeitlichen polizeilichen Sicherheitsdispositive, in denen das Machtdreieck von Souveränität, Disziplin und Gouvernementalität zu sehen ist, kann man zu dem zusammenfassen, was Foucault als die Gouvernementalisierung des Staates bezeichnet. 94 Mit diesem Begriff möchte Foucault vor allem darauf hinweisen, dass durch den Prozess der Gouvernementalisierung dem Staat die Möglichkeit verliehen wurde, nicht nur innerhalb des ständigen internationalen Wettstreits zwischen Mächten weiter zu überleben, sondern auch seine Tätigkeit von der Sicherheit der Bevölkerung her statt von der Sicherheit des Territoriums neu zu definieren. Davon ausgehend ist der Staat für Foucault weder als „eine Art politischer Universalie“ noch als eine „an sich autonome Quelle der Macht“ zu verstehen. Der Staat hat kein Wesen und ist nichts anderes als „der bewegliche Effekt eines Regimes vielfältiger Gouvernementalität“, welcher den Prozess einer „ständigen Verstaatlichung oder ständiger Ver90 91 92 93 94 104 Vgl. PTI, S. 180. Zur Betrachtung der Machtfunktion der frühneuzeitlichen Polizei aus der Perspektive der Disziplin und der Souveränität siehe Kapitel 2, D. I., II. Vgl. Erik Grawert-May, Zur Geschichte von Polizei- und Liebeskunst. Versuch einer anderen Geschichte des Auges, Tübingen 1980, S. 67. Vgl. KpV, S. 63. Wie Foucault sagt: „Vielleicht ist das wirklich Wichtige für unsere Moderne, d.h. für unsere Aktualität, nicht die Verstaatlichung der Gesellschaft, sondern das, was ich eher die »Gouvernementalisierung« des Staates nennen würde.“ Gouv, S. 65. staatlichungen“ ermöglicht, in dem all „die Finanzangelegenheiten, die Investitionsweisen, die Entscheidungszentren, die Formen und Typen der Kontrolle und die Beziehungen zwischen den lokalen Mächten und der zentralen Autorität“ verändert, verschoben, umgestürzt oder allmählich ins Rutschen gebracht werden.95 Dank dieser unterschiedlichen Praktiken der Gouvernementalität ist das zu bestimmen, „was in die Zuständigkeit des Staates gehört und was nicht in die Zuständigkeit des Staates gehört, was öffentlich ist und was privat ist, was staatlich ist und was nicht staatlich ist“. Wie Foucault darlegt: „Also darf man den Staat in seinem Überleben und den Staat in seine Grenzen nur von den allgemeinen Taktiken der Gouvernementalität her verstehen.“96 Durch die Gouvernementalisierung des Staates lässt sich die strategische Position desselben in den ganzen Machtverhältnissen verstärken. Das bedeutet: In bezug auf die Menschenregierung spielt der Staat nun eine immer wichtigere Rolle. Die Funktion des Staates ist es, „die allgemeine Hülle, die Instanz umfassender Kontrolle, das Regulierungs- und in gewissem Maß auch Verteilungsprinzip aller Machtverhältnisse in einem gegebenen gesellschaftlichen Gebilde darzustellen“. 97 Diese Verstärkung der strategischen Position des Staates wird in den folgenden Diskursen Foucaults deutlich: „Seit mehreren Jahrhunderten ist der Staat eine der bemerkenswertesten und zugleich respektheischendsten Formen menschlicher Führung. Bezeichnenderweise hat die politische Kritik dem Staat vorgeworfen, zugleich Individualisierungsfaktor und totalitäres Prinzip zu sein. Ein Blick auf die sich herausbildende Staatsrationalität und darauf, was ihr erstes Polizei-Projekt war, macht klar, dass der Staat schon von Anfang an sowohl individualisierend als auch totalitär ist. Ihm das Individuum und dessen Interessen entgegenzustellen, ist nicht weniger gewagt, als es der Gemeinschaft und ihren Bedürfnissen entgegenzustellen.“98 Im Anschluss daran sagt er weiter: „Von der Idee, dass der Staat ein eigenes Wesen und eine eigentümliche Bestimmung besitzt, bis hin zu dem Begriff vom Menschen als einem lebendigen Individuum oder einem Teil einer Bevölkerung, die in Wechselwirkung mit der Umwelt steht, erkennen wir, dass der Zugriff des Staates auf das Dasein des Einzelnen immer nachdrücklicher wird, dass die Probleme des 95 96 97 98 SP, S. 69f. Gouv, S. 66. SM, S. 258. KpV, S. 66. 105 Lebens für die politische Gewalt an Bedeutung gewinnen und dass sich neue Arbeitsfelder für die Sozial- und Humanwissenschaften herausbilden, insofern sie sich mit den Themen individuellen Verhaltens innerhalb der Bevölkerung sowie mit den Beziehungen zwischen einer Bevölkerung und ihrer Umwelt befassen.“99 Mit dem Ziel der frühneuzeitlichen Bevölkerungsführung hätte diese Verstärkung der strategischen Position des Staates das Streben nach dem Wohl für alle und jeden einzelnen begünstigen sollen. In Wirklichkeit beschleunigt sie jedoch die Entstehung eines „Machtexzesses“100, innerhalb dessen es die stetige Korrelation zwischen einer wachsenden Individualisierung und einer immer stärker werdenden Totalisierung gibt und von dem die Menschen heimgesucht werden. Im Vergleich zur Machtsteigerung des absolutistischen Polizeistaates, in dem die drei unterschiedlichen Modi von der zentralisierend-souveränen, individualisierend-disziplinären und regulierend-gouvernementalen 101 Macht bereits zu spüren sind , ist die Raserei der Macht durch den gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstehenden evolutionistischen, biologisch-medizinischen Staatsrassismus der bemerkenswertere.102 99 100 101 102 106 PTI, S. 185. Die von Foucault abwechselnd gebrauchten Begriffe, wie etwa der „Machtexzess“, die „Machtsteigerung“ oder die „Raserei der Macht“, weisen nach Foucault eigentlich auf eine „Krise der Regierung“ hin. Vgl. WK, S. 19f., 24; ME, S. 118-120. Aber ob die Staatsmacht sich in dem absolutistischen Polizeistaat in Wirklichkeit doch individualisierend und totalisierend auf alle und jeden einzelnen auswirkte, wie Foucault unterstellt, ist umstritten. Zum Beispiel meint Oestreich: „Die absolutistische Administration kannte keine volle »Erfassung« einer nivellierten Massengesellschaft bis in die Familien, sie griff nicht in das Ganze des privaten Lebens des Einzelnen ein, sie besaß nicht den brutalen Willen und die ihm entsprechenden Möglichkeiten zur Meinungs- und Stimmungslenkung im Sinne einer einheitlichen offiziellen Staats- und Parteiideologie (C. J. Friedrich). Von einer totalen Kontrolle der öffentlichen und der persönlichen Sphäre durch den absolutistischen Staat kann nicht die Rede sein. Schon 1935 urteilte ein unverdächtiger Zeuge, der historisch so bewanderte Soziologe Karl Mannheim: »Der Absolutismus war nur scheinbar totalitär. Meist besaß er gar nicht die Mittel zur Beherrschung sämtlicher Lebensbereiche aller Einwohner des betreffenden Territoriums.«“ Gerhard Oestreich, Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Ausgewählte Aufsätze, Berlin 1969, S. 180f. Vgl. VG, S. 94, 297f. Über den Staatsrassismus sprach Foucault bereits in seiner früheren Arbeit bezüglich der Bio-Macht und der anschließenden Regulierungstechnologie. Für ihn ist dieser eine der konkreten Entwicklungen der „Verstaatlichung des Biologischen“. VG, S. 276. Dazu sagt er: „Mit dem Aufkommen der Bio-Macht zieht der Rassismus in die Mechanismen des Staates In diesem Staatsrassismus ist und wird der Staat nach Foucault „zum Beschützer der Integrität, der Überlegenheit und Reinheit der Rasse“. Dementsprechend sieht der Staat es als seine Aufgabe an, „die Gesellschaft gegen alle biologischen Gefahren“ zu verteidigen, die von der „Unter-Rasse“ ausgehen, damit „die Reinheit des Blutes“ und „die Reinigung der Rasse“ gewährleistet werden können.103 Hier drängt sich natürlich als das schrecklichste Beispiel der Nazistaat auf, der in Foucaults Augen als eine der Transformationen des Staatsrassismus im 20. Jahrhundert gilt.104 Zum Machtexzess dieses nationalsozialistischen Staatsrassismus sagt Foucault: „Wir haben in der Nazigesellschaft mithin diesen außergewöhnlichen Sachverhalt vorliegen, dass sie als Gesellschaft die Bio-Macht absolut verallgemeinert, aber gleichzeitig das souveräne Recht zu töten generalisiert. Die beiden Mechanismen, der klassische, archaische, der dem Staat das Recht auf Leben und Tod über die Bürger verlieh, und dieser neue rund um die Disziplin, die Regulierung, kurz die Bio-Macht organisierte Mechanismus, fügen sich ineinander. So lässt sich schließlich sagen: Der Nazistaat hat das Feld des Lebens, das er verbes- 103 104 ein. Ab da schreibt sich der Rassismus als grundlegender Mechanismus der Macht ein, wie sie in den modernen Staaten eingesetzt wird, und bedingt, dass es kaum ein modernes Funktionieren des Staates gibt, das sich nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt, an einer gewissen Grenze und unter bestimmten Bedingungen des Rassismus bedient.“ „Die Besonderheit des modernen Rassismus, seine Spezifik, ist nicht an Mentalitäten, Ideologien und Lügen der Macht gebunden. Sie ist an die Technik der Macht, an die Technologie der Macht gebunden.“ Sie ist weiter an „das Funktionieren des Staates“ gebunden, wodurch „eine ganze Politik der Bevölkerung, der Familie, der Ehe, der Erziehung, der gesellschaftlichen Hierarchisierung, des Eigentums und eine lange Reihe ständiger Eingriffe, in den Körper, in das Verhalten, in die Gesundheit, in das Alltagsleben“ in Gang gesetzt werden. VG, S. 295, 299; WW, S. 178. VG, S. 75, 95, 299; WW, S. 178. Im Vergleich zur „dramatischen und theatralischen Transformation“ des Nazismus gibt es nach Foucault noch eine andere Transformation sowjetischen Typs. Dazu sagt Foucault: „Der revolutionäre Diskurs der gesellschaftlichen Kämpfe [...] wird wiederaufgenommen und einer polizeilichen Führung zugewiesen, die die stille Hygiene einer geordneten Gesellschaft sicherzustellen hat. Was der revolutionäre Diskurs als Klassenfeind bezeichnete, wird im sowjetischen Staatsrassismus zu einer Art biologischer Gefahr. Wer ist nun der Klassenfeind? Nun, es ist der Kranke, der Abweichler, der Verrückte. Folglich kann die Waffe, die seinerzeit gegen den Klassenfeind [...] geführt wurde, jetzt nur mehr eine medizinische Polizei sein, die den Klassenfeind wie einen Rassenfeind eliminiert.“ VG, S. 97; vgl. auch, S. 303f. Aufgrund dieser sowjetischen Erfahrung seit den zwanziger Jahren und jener deutschen Erfahrung des Nationalsozialismus ist außerdem das allmählich entstanden, was Foucault als „Anti-Etatismus“ oder als „Staatsphobie“ bezeichnet. Vgl. SP, S. 68. 107 sert, schützt, absichert und biologisch kultiviert, und zugleich das Recht des Souveräns, jemanden – nicht nur die anderen, sondern auch die eigenen Leute – zu töten, absolut zur Deckung gebracht. Es gab bei den Nazis die Koinzidenz zwischen einer verallgemeinerten Bio-Macht und einer absoluten Diktatur, die durch dieses schreckliche Übersetzungsverhältnis zwischen dem Recht zu töten und der Auslieferung des gesamten Gesellschaftskörpers an den Tod gekennzeichnet war. Der Nazismus ist ein absolut rassistischer Staat, ein absolut mörderischer und selbstmörderischer Staat.“105 III. Die anderen Sicherheitsdispositive des Liberalismus und seine spezifische Regierungstechnologie – der Verfassungsstaat Die oben dargelegten Machtexzesse, die sich in den unterschiedlichen Formen vom absolutistischen Polizeistaat bis zum Nazistaat präsentieren und von vielfältigen Regierungstechniken wie zum Beispiel der Polizei unterstützt werden, zeigen zwar die Tendenz zur stetigen Korrelation zwischen einer wachsenden Individualisierung und einer immer stärker werdenden Totalisierung – somit zu mehr oder weniger freiheitsmangelnden Herrschaftszuständen, von denen die einzelnen Individuen erfasst werden. Aber die Geschichte der Menschheit wird nicht ausschließlich von den Machtexzessen geschrieben. Parallel zu diesen, in denen die Regierungsentfaltung und die Entwicklung vielfältiger Regierungstechniken unheimlich schnell und effektiv sind, gibt es nach Foucault in der abendländischen Gesellschaft stets eine kritische Kunst, die sich mit dem folgenden Problem ununterbrochen beschäftigt, nämlich: „Wie ist es möglich, dass man nicht derartig, im Namen dieser Prinzipien da, zu solchen Zwecken und mit solchen Verfahren regiert wird – dass man nicht so und nicht dafür und nicht von denen da regiert wird?“ 106 Wie in den vorangegangenen Darlegungen bezüglich der strategischen Machtspiele erwähnt, ist diese kritische Haltung nichts anderes als die Kunst der freiwilligen Unknechtschaft.107 Diese in der abendländischen Gesellschaft lang zurückreichende Tradition der Kritik, die nach Foucault zunächst religiöser Art auf die 105 106 107 108 VG, S. 301; vgl. S. 96, 300-302; WW, S. 178; Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a.M. 2002, S. 153-159. WK, S. 11f. Vgl. WK, 15. Zweifel an der „Autorität der Kirche“, am „Lehramt der Heiligen Schrift“ zurückzuführen ist108, nahm im Namen des Naturrechts auch am Kampf gegen den durch den monarchisch-absolutistischen Polizeistaat ausgelösten Machtexzess teil.109 Dies führte zur Entstehung einer kritischen Reflexion über das polizeistaatliche Regierungsprogramm, welches nach Foucault stets ein Zuwenig an Regierung befürchtete. Diese kritische Reflexion, der ebenfalls die politisch-ökonomische Rationalität der Gouvernementalität zugrunde lag und die nach einem dem Polizeistaat diametralen Regierungsprogramm und entsprechenden Sicherheitsdispositiven suchte, ist nämlich der Liberalismus. Dieser wird von Foucault weder als eine „Theorie“ noch als eine „Ideologie“, sondern als eine „Praktik“ betrachtet, das heißt als „a principle and a method of rationalizing the exercise of government, a rationalization that obeys – and this is its specificity – the internal rule of maximum economy”.110 Diese innere Regel der Maximalökonomie ist nämlich der sich selbstregulierende Marktmechanismus, der nach Adam Smith von einer unsichtbaren Hand geleitet wird. In diesem Marktmechanismus strebt jeder einzelne zwar lediglich nach eigenem Gewinn. „Tatsächlich fördert er in der Regel nicht bewusst das Allgemeinwohl, noch weiß er, wie hoch der eigene Beitrag ist.“111 Demgemäss werden neue Individuen geschaffen: Sie brauchen im Prinzip nicht von den anderen regiert zu werden. Sie werden sich selbst regieren und für sich sorgen.112 Durch dieses neue Menschenbild des autonomen homo oeconomicus ist eine dem liberalen Regierungsprogramm eigene grundlegende Problemstellung entstanden, nämlich: Warum muss noch regiert werden? Oder warum ist eine Regierung notwendig?113 Diese fundamentale Problemstellung führt in der Tat nicht zur „Regierungslosigkeit“, sondern zu einer „Minimalregierung“114, 108 109 110 111 112 113 114 Dieser religiöse Zweifel ist nach Foucault eng verbunden mit den Fragen: Was ist in der Heiligen Schrift authentisch, tatsächlich geschrieben worden? Welche Art von Wahrheit wird von der Schrift gesagt? Wie findet man den Zugang zu dieser Wahrheit der Schrift in der Schrift und vielleicht trotz des Geschriebenen? Schließlich, ist die Schrift tatsächlich wahr? Vgl. WK, S. 13. Dazu meint Foucault, dass das Naturrecht seit dem 16. Jahrhundert eine kritische Funktion angenommen habe, die es immer behalten werde. Auf die Frage „Wie nicht regiert werden?“ antwortet das Naturrecht nach Foucault: „Welches sind die Grenzen des Rechts zu regieren?“ WK, S. 14. BB, S. 73f. Vgl. Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen, 6. Aufl., München 1993, S. 371. Vgl. Rose (Fn.34), S. 45. BB, S. 75. Vgl. Lemke (Fn.14), S. 174. Vgl. Oakeshott (Fn. 46), S. 198. 109 deren grundlegende Fragestellung darin besteht, zu ermitteln, wodurch sich die Maximalökonomie und der selbstregulierende Marktmechanismus weiterentwickeln lassen können. Damit das liberale Minimalregierungsprogramm zu erreichen ist, werden zwei strategische Regierungstechnologien erfunden. Die eine ist die Gesellschaft, also die Trennung von Gesellschaft und Staat, und die andere ist die Einrichtung des Verfassungsstaates. Geschichtlich betrachtet wird die Gesellschaft nach Foucault vom Liberalismus als Instrument der Kritik an der allumfassenden Regierungstätigkeit erfunden.115 Die Gesellschaft, oder wie Hegel sagt die bürgerliche Gesellschaft, ist ihrer Natur nach ein System der Bedürfnisse.116 Dieses ist sozusagen ein Kraftfeld, in dem die Befriedigung der Interessen jedes einzelnen und die Förderung des allgemeinen Wohlstands automatisch nach der unsichtbaren Hand funktionieren kann. In diesem Sinne gilt die Gesellschaft als Synonym für den selbstregulierenden Marktmechanismus. Sie ist ein „unerkennbares“ ökonomisches Wesen, dessen innere Regel sich außerhalb der Grenzen menschlicher Erkenntnis befindet. Die Unerkennbarkeit des wirtschaftlichen Prozesses führt weiterhin zur Unfähigkeit des Staates. Das bedeutet: Der Staat ist nicht in der Lage, die Gesamtheit der ökonomischen Prozesse zu erfassen und zu lenken. Folglich gibt der Staat der Ökonomie und der Gesellschaft nicht mehr sein Gesetz vor, sondern regiert nur nach ihren Gesetzen. Daraus ergibt sich die kritische Trennung von Gesellschaft und Staat, wodurch staatliche Eingriffe in den Wirtschaftsprozess möglichst verhindern werden sollen, damit der Wirtschaftsmarkt auf natürliche Weise nach seinen Gesetzen in Gang 115 116 110 Zu diesem Gedanken hat sich Foucault in einem Interview ausführlich geäußert. Er sagt: „It seems to me that at that very moment it became apparent that if one governed too much, one did not govern at all – that one provoked results contrary to those one desired. What was discovered at that time – and this was one of the great discoveries of political thought at the end of the 18th century – was the idea of society. That is to say, that government not only has to deal with a territory, with a domain, and with its subjects, but that it also has to deal with a complex and independent reality that has its own laws and mechanisms of disturbance. This new reality is society. From the moment that one is to manipulate a society, one cannot consider it completely penetrable by police. One must take into account what it is. It becomes necessary to reflect upon it, upon its specific characteristics, its constants and its variables…” Flive, S. 337. Vgl. auch BB, S. 75f.; Gouv, S. 54; PTI, S. 65; Burchell (Fn.19), S. 28. Vgl. G.W.F. Hegel, Grundlinie der Philosophie des Rechts, Frankfurt a.M. 1993, §188. kommt.117 Die Aufgabe des Staates beschränkt sich also nach Smith auf die Erhaltung des äußeren und inneren Friedens sowie auf die Errichtung öffentlicher Infrastruktureinrichtungen.118 Damit die optimale Maximalökonomie hergestellt werden kann, bedarf es nach dem Liberalismus vor allem einer nach dem Laisser-faire-Prinzip orientierten Minimalregierung und einer entsprechenden Regierungstechnologie, die in der Lage ist, sowohl die Grenze zwischen Gesellschaft und Staat zu erhalten und zu überwachen als auch das Zuviel an Regierung und die exzessive staatliche Intervention in den Wirtschaftsprozess effektiv auszuschließen. Im Gegensatz zum polizeistaatlichen Regierungsprogramm, welches von der Existenz, der Stärke und dem Selbstzweck des Staates ausgeht, ist also jene liberale Regierungstechnologie auf eine selbstregulierende Gesellschaft gerichtet. Das, was vom Liberalismus genau als die ideale und effiziente Regierungstechnologie zum Erlangen der optimalen Maximalökonomie erfunden wird, ist nämlich das Rechtssystem des Verfassungsstaates, der in Foucaults Augen zugleich als the rule of law und als Rechtsstaat gilt. Diesbezüglich sagt Foucault: „Liberalism does not derive from juridical thought any form than it does from an economic analysis. It is not the idea of a political society founded on a contractual tie that gave birth to it; but in the search for a liberal technology of government, it appeared that regulation through the juridical form constituted a far more effective tool than the wisdom or moderation of the governors. […] Liberalism sought that regulation in »the law«, not through a legalism that would be natural to it but because the law defines forms of general intervention excluding particular, individual, or exceptional measures; and because the participation of the governed in the formulation of the law, in a parliamentary 117 118 Vgl. Gordon (Fn.1), S. 15ff.; Dean (Fn.19), S. 50; Lemke (Fn.14), S. 176f.; Schmidt (Fn.86), S. 48, 56. Zum Beispiel meint Adam Smith, dass der Staat lediglich drei Aufgaben zu erfüllen hat: „Erstens die Pflicht, das Land gegen Gewalttätigkeit und Angriff anderer unabhängiger Staaten zu schützen, zweitens die Aufgabe, jedes Mitglied der Gesellschaft soweit wie möglich vor Ungerechtigkeit oder Unterdrückung durch einen Mitbürger in Schutz zu nehmen oder ein zuverlässiges Justizwesen einzurichten, und drittens die Pflicht, bestimmte öffentliche Anstalten und Einrichtungen zu gründen und zu unterhalten, die ein einzelner oder eine kleine Gruppe aus eignem Interesse nicht betreiben kann, weil der Gewinn ihre Kosten niemals decken könnte, obwohl er häufig höher sein mag als die Kosten für das ganze Gemeinwesen.“ Smith (Fn.111), S. 582. Vgl. auch Zippelius (Fn.77), S. 276f., 281ff.; Wolf/Bachof/Stober (Fn. 89), S. 110f. 111 system, constitutes the most effective system of governmental economic.”119 In dieser technischen Weise bedeutet der Verfassungsstaat für den Liberalismus die effizienteste ökonomisch-politische Regierungstechnologie, welche sich wiederum der Institutionen wie der Freiheitsgarantie, der Gewaltenteilung und der parlamentarischen Demokratie als die technischen Bedingungen bedient, damit die liberale rationale Minimalregierung hergestellt werden kann. 120 Mit anderen Worten: Das Hauptziel des liberalen Verfassungsstaates ist zunächst und vor allem die Aufrechterhaltung des selbstregulierenden Marktmechanismus als die Garantie der Freiheiten. Die Freiheitsrechtsgarantie und die Gewaltenteilung gelten als die technischen Bedingungen der liberalen rationalen Regierung.121 IV. Die Krise der Regierung – die Erschütterungen der Sicherheitsdispositive vom liberalen Verfassungsstaat bis zum nachfolgenden sozialen Verfassungsstaat In den vorausgegangenen Abschnitten wurde erklärt, dass der Verfassungsstaat sich ursprünglich aus dem Liberalismus heraus entwickelte, damit die Gesellschaft sich aus dem Zuviel an Regierung durch die polizeistaatlichen Sicherheitsdispositive befreien konnte. Diese Konzeption der selbstregulierenden Gesellschaft, welche sich aus den Menschen im Sinne des homo oeconomicus zusammensetzt, ist zugleich das Planziel und die theoretische Bedingung des liberalen Verfassungsstaates.122 So ideal selbstregulierend verläuft diese Gesell119 120 121 122 112 BB, S. 76f. In diesem Sinne scheint die Definition des Frühliberalismus bei Dieter Langewiesche zu eng zu sein, wenn er bloß als die „politische Verfassungsbewegung, die den Rechts- und Verfassungsstaat durchsetzen, den einzelnen gegen den Staat absichern, aber auch zur Teilhabe am Staat befähigen wollte“, gelesen wird. Vgl. Dieter Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, Frankfurt a.M. 1988, S. 12. Vgl. BB, S. 75, 77; vgl. auch Wilhelm Schmid, Auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst. Die Frage nach dem Grund und die Neubegründung der Ethik bei Foucault, Frankfurt a.M. 1991, S. 62, 375; Neuenhaus (Fn.32), S. 73f.; Lemke (Fn.14), S. 173f.; Lemke/Krasmann/Bröckling (Fn.1), S. 14; Francisco Ortega, Michel Foucault. Rekonstruktion der Freundschaft, München 1997, S. 129. Vgl. Burchell (Fn.19), S. 24; Lemke (Fn.14), S. 185; Dean (Fn.19), S. 50f. Dass das Zustandekommen des Verfassungsstaates dieses Gesellschaftsbild voraussetzt, ist zum Beispiel bereits in der Déclaration des droits de l’homme et du citoyen zu sehen. Dazu sagt Böckenförde: „Indem die Französische schaft in Wirklichkeit jedoch nicht. Im Gegenteil ist die abendländische Gesellschaft, sei es am Ende des Mittelalters, sei es im Zeitalter des 18. und 19. Jahrhunderts oder heute, in Foucaults Augen immer unerwartet in das geraten, was er gerne als „die Krise der Regierung“ bezeichnet.123 Diese, der sich die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts unvorhergesehen gegenüber sah, war die immer schwieriger gewordene soziale Frage. Für Foucault ist diese durch die Erschütterung der liberalen Sicherheitsdispositive mit ihrem verknöcherten bürgerlichen Rechtssystem und durch die bereits über die Fabriken verstreuten Disziplinarmechanismen ausgelöst worden.124 Die Auflösung des Polizeistaates durch den Einsatz der liberalen Sicherheitsdispositive und der Rechtstechnologie des Verfassungsstaates hat die Macht der Disziplin nicht gehindert, sich aktiv fortzuentwickeln. Im Gegenteil verbreitete sich die Disziplin unter der raschen Entwicklung 123 124 Revolution in der déclaration als Prinzip der gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung die einzelne, freie, sich selbst bestimmende Persönlichkeit setzt, begründet sie nicht nur eine neue, d.h. die staatsbürgerliche Gesellschaft, sondern verleiht auch dem historischen Staat einen neuen Charakter und Inhalt.“ „Der Staat wird Staat der staatsbürgerlichen Gesellschaft, in der das Individuum Subjekt des Soziallebens ist und die ihm als seine Basis vorausgeht. Das bedeutet zugleich, dass in der Bewegung zwischen Staat und Gesellschaft – prinzipiell und strukturell gesehen – nunmehr die Gesellschaftsordnung die Staatsverfassung, nicht die Staatsverfassung die Gesellschaftsordnung bestimmt. Die staatliche Verfassung ist, auf dem Boden der staatsbürgerlichen Ordnung, Konsequenz, nicht Bedingung der Gesellschaftsordnung.“ Ernst-Wolfgang Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt a.M. 1991, S. 183f. Vgl. ME, S. 118-120. Vgl. auch Lemke (Fn.14), S. 239f. Dies ist der entscheidende Punkt, wo Foucaults Machtanalytik vom Marxismus stark kritisiert wird. Nach Nicos Poulantzas geht die Machtkonzeption des Marxismus in erster Linie davon aus: „Power always has a precise basis. In the case of class division and struggle, this takes the form of: (a) exploitation (under capitalism extraction of surplus-value); (b) the place of the different classes in the various power apparatuses and mechanisms, and not just in the state – a place which is essential in the organization of the extra-state apparatuses themselves; and (c) the state apparatus, which, while evidently not embracing the totality of power apparatuses and mechanisms, does not thereby remain sealed against those located outside its own space.“ Im Gegensatz dazu basieren die Machtverhältnisse für Foucault nicht auf dem Klassenunterschied und der dadurch ausgelösten Klassenausbeutung. Die echte Basis der Machtverhältnisse bei Foucault ist nach Poulantzas allein in ihnen selbst zu finden und dies führt schließlich zur Unmöglichkeit irgendeines Widerstandes. Nicos Poulantzas, State, Power, Socialism, London 1980, S. 148f. Zu Foucaults Beantwortung dieser marxistischen Kritik siehe etwa Flive, S. 260, 386; MM, S. 114-118. 113 des industriellen Kapitalismus sogar schneller als früher und die Gesellschaft entwickelte sich zur Disziplinargesellschaft. Nach Foucault ist der liberale Verfassungsstaat auch nicht denselben allgegenwärtigen Disziplinarmachtgefechten entkommen und wurde schließlich durch sie kolonisiert.125 Dabei sind zwei Punkte besonders hervorzuheben, nämlich: Durch diese Kolonisierung lässt sich der liberale Verfassungsstaat nicht nur negativ zur äußeren Garantie des tatsächlichen Laufes der Disziplinarmechanismen entwickeln, in denen die Individuen ständig überwacht und kontrolliert werden126, sondern auch positiv zum Teil des Normalisierungsprozesses der Disziplin, durch welchen die Spaltung und die Feindseligkeit zwischen den tugendhaften Bürgern und den Delinquenten erzeugt werden. Die Disziplinarmechanismen der Fabrik des 19. Jahrhunderts liefern dafür ein gutes Beispiel. Zum einen liegt der treibende Faktor einer effizienten Fabrik in der Machttechnologie der Disziplin, durch die die Körper der Arbeiter fügsam, gelehrig und leistungsfähig gemacht werden. 127 Zum anderen kommen solche disziplinierenden Arbeitsverhältnisse innerhalb der Fabrik aber erst aufgrund der formell egalitären Vertragsfreiheiten zustande, die vom liberalen Verfassungsstaat uneingeschränkt geschützt werden. Im Ergebnis wurde der „freie“ Arbeitsvertrag zu einem Instrument der 125 126 127 114 Dazu sagt Foucault: „Dass die Macht in unseren Tagen zugleich durch das Recht und seine Techniken ausgeübt wird und diese Techniken der Disziplin und diese aus der Disziplin hervorgegangenen Diskurse in das Recht eindringen, dass die Normalisierungsvorgänge mehr und mehr die Gesetzverfahren kolonisieren, kann das globale Funktionieren dessen erklären, was ich »Normalisierungsgesellschaft« nennen würde.“ VG, S. 49. Vgl. ÜS, S. 285f. Dazu meint Foucault, „dass die rechtlichen Systeme nach allgemeinen Normen Rechtssubjekte qualifizieren, während die Disziplinen charakterisieren, klassifizieren, spezialisieren; sie verteilen die Individuen entlang einer Skala, ordnen sie um eine Norm herum an, hierarchisieren sie untereinander und am Ende disqualifizieren sie sie zu Invaliden“. ÜS, S. 286. Dazu sagt Ewald: „Das Problem der Produktion stellte sich also nicht nur als technisches Problem der Fabrikation und Betriebsführung, sondern auch und vor allem als Problem der Macht und der Menschenführung. Insofern, als sich das Problem der Produktion als Problem der Führung einer Arbeitskraft darstellte, die es auszubilden und zu disziplinieren galt, musste der Industrielle die Organisation seines Unternehmens einem Kalkül unterwerfen, das nicht mehr nur ökonomisch sein durfte: die Techniken der Produktion mussten untrennbar Technologien der Macht sein.“ Ewald (Fn.33), S. 145. Die exemplarische Maßnahme für diese Technologien der Macht ist die Einrichtung des Arbeitsbuchs. Durch das Arbeitsbuch wird nicht nur der Arbeiter besser kontrolliert und überwacht. Dadurch ist zugleich auch eine stabile, reguläre und permanente Arbeitskraft zu garantieren. Vgl. VG, S. 290; Ewald (Fn.33), S. 141f. sozial-wirtschaftlichen Herrschaft der Arbeitgeber und zu einem der Ausbeutung der Arbeiter.128 Eigentlich hätte dieses verblüffende Zusammenwirken der liberalen Regierungstechnologie des Verfassungsstaates mit der die Leistungsfähigkeit steigernden Machttechnologie der Disziplin sowohl die Maximalökonomie als auch den größtmöglichen Wohlstand aller und jedes einzelnen realisieren sollen. Tatsächlich aber wird die neue „künstliche Armut“ des Industriearbeiters, das heißt der Pauperismus des Proletariers erzeugt. 129 In den liberalen Dispositiven der Armutsbekämpfung ist die Armut nichts anderes als „das Produkt und Zeichen eines subjektiven Willens“, der für seine eigene Armut moralisch und rechtlich allein verantwortlich sein sollte.130 Was die armen Arbeiter und die eigentumslosen Schichten nach der liberalen Doktrin von der Gesellschaft und dem Staat zu erwarten haben, ist nicht die Solidarität durch das Recht bzw. das Recht auf Unterstützung, sondern allein die moralisch-ökonomische Arbeitsdisziplin und die rechtlich disziplinierenden Maßnahmen zum Schutz des bürgerlichen Privateigentums.131 Diese ökonomisch-rechtlich disziplinierende Armutsbekämpfung des liberalen Verfassungsstaates führt schließlich einmal zur Vertiefung der Kluft zwischen Reichen und Armen und einmal zur Verankerung der bourgeoisen Moral des Bürgertums, durch die die Feindseligkeit zwischen den tugendhaften Bürgern und den Delinquenten etabliert wird. Bei der Durchführung dieser bourgeoisen Moral nimmt der liberale Verfassungsstaat zum ersten Mal materiell und positiv an den Normalisierungsprozessen der Disziplin teil. Dies hat Foucault klar skizziert: „Bis zum 17. Jahrhundert konnte man aus dem Banditen oder Räuber ohne weiteres einen Volkshelden machen. Mandrin, Guiellery und 128 129 130 131 Vgl. Hans Herbert v. Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, München 1984, S. 70. Vgl. Christoph Sachße/Florian Tennstedt, Sicherheit und Disziplin: Eine Skizze zur Einführung, in: Sachße/Tennstedt (Hrsg.), Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung. Beiträge zu einer historischen Theorie der Sozialpolitik, Frankfurt a.M. 1986, S. 25. Lemke (Fn.14), S. 202. Für eine detaillierte Diskussion über die liberale Rechtsauffassung, wonach jeder für sein Los, für sein Leben, für sein Schicksal selbst verantwortlich sei und darum die Lasten seiner Existenz, die Schicksalsschläge und Unglücksfälle auf niemanden abwälzen dürfe, siehe Ewald (Fn.33), S. 63-102. Vgl. Lemke (Fn.14), S. 201f., 220f.; Sachße/Tennstedt (Fn. 129), S. 23, 25f., 28, 40. 115 andere haben in der Mythologie des Volkes ein Bild hinterlassen, das bei allen Schatten sehr positiv war. Dasselbe gilt für korsische und sizilianische Banditen, für neapolitanische Räuber... Diese vom Volk tolerierte Gesetzwidrigkeit wurde schließlich zu gefährlich, als die üblichen Diebereien und Betrügereien in der Industrie und im Leben der Stadt zu hohe Ausfälle verursachten. Darum wurde allen Klassen der Gesellschaft eine neue ökonomische Disziplin auferlegt (Rechtschaffenheit, Genauigkeit, Sparsamkeit, absoluter Respekt des Eigentums). Man musste einerseits den Reichtum besser schützen und andererseits dafür sorgen, dass das Volk gegenüber den Gesetzwidrigkeiten eine eindeutig negative Haltung annehme. Auf diese Weise hat die Macht – mit Hilfe des Gefängnisses – ein Delinquentenmilieu geschaffen, das ohne wirkliche Kommunikation mit den Volkschichten war und von ihnen kaum geduldet wurde und das aufgrund dieser Isolierung von der Polizei leicht durchsetzt werden konnte – und im Laufe des 19. Jahrhunderts eben eine Ideologie des »Milieus« entwickelt hat. Man darf sich heute nicht wundern, in der Bevölkerung ein Misstrauen, eine Verachtung, einen Hass gegen den Delinquenten zu finden: es handelt sich um das Resultat von 150 Jahren politischer, polizeilicher, ideologischer Arbeit.“132 Der liberale Verfassungsstaat bezieht sich nach außen auf die formell egalitären, von den sozialen Umständen isolierten Rechtssubjekte, aber nach innen hat er schon lange am Normalisierungsprogramm der „neuen ökonomischen Disziplin“ teilgenommen, um einerseits die bürgerlich tugendhaften Disziplinarindividuen zu formieren und andererseits die Delinquenten auszusortieren und sie wiederum zu disziplinieren. Die heute in der Strafrechtslehre anerkannte Generalprävention und Spezialprävention sind sozusagen die Erbschaft dieser 133 Normalisierungsfunktion des liberalen Verfassungsstaates. So ist der Diskurs über Recht und Gesetz, welcher dem liberalen Verfassungsstaat inhärent ist, nichts anderes als der Diskurs desjenigen, der die Norm angibt, desjenigen, der die Individuen überwacht und kontrolliert, der die Unterscheidung in bürgerliche Tugenden und Delikte vornimmt, um die fügsame, gelehrige und taugliche Körper zu erhalten.134 Diese erstaunli- 132 133 134 116 MM, S. 73. Zur Generalprävention und Spezialprävention siehe etwa Claus Roxin, Strafrecht. Allgemeinteil, Bd. I. Grundlagen, der Aufbau der Verbrechenslehre, 3. Aufl., München 1997, S. 44-53. Vgl. dazu auch Kapitel 2, D. III. Vgl. MM, S. 123. che Zusammenarbeit des liberalen Verfassungsstaates und der Macht der Disziplin ist in dem folgenden, subtilen und immer in den einschlägigen Literaturen zitierten Kommentar Foucaults dargestellt: „Der historische Prozess, durch den die Bourgeoisie im Laufe des 18. Jahrhunderts zur politisch dominierenden Klasse wurde, hat sich hinter der Einführung eines ausdrücklichen, kodifizierten und formell egalitären rechtlichen Rahmens verstellt und ist als Organisation eines parlamentarischen und repräsentativen Regimes aufgetreten. Die Entwicklung und Verallgemeinerung der Disziplinaranlagen bildeten jedoch die dunkle Kehrseite dieser Prozesse. Die allgemeine Rechtsform, die ein System prinzipiell gleicher Rechte garantierte, ruhte auf jenen unscheinbaren, alltäglichen und physischen Mechanismen, auf jenen wesenhaft ungleichen und asymmetrischen Systemen einer Mikromacht – den Disziplinen. Wenn es das repräsentative Regime formell ermöglicht, dass der Wille aller, direkt oder indirekt, mit oder ohne Vermittlung, die fundamentale Instanz der Souveränität bildet, so garantieren doch die Disziplinen im Unterbau die Unterwerfung der Kräfte und der Körper. Die wirklichen und körperlichen Disziplinen bildeten die Basis und das Untergeschoss zu den formellen und rechtlichen Freiheiten. Mochte auch der Vertrag als ideale Grundlegung des Rechts und der politischen Macht erdacht werden: der Panoptismus stellte das allgemein verbreitete technische Zwangsverfahren dar. Und er hat nicht aufgehört, an den Rechtsstrukturen der Gesellschaft von unten her zu arbeiten, um die wirklichen Machtmechanismen im Gegensatz zu ihrem formellen Rahmen wirken zu lassen. Die »Aufklärung«, welche die Freiheiten entdeckt hat, hat auch die Disziplinen erfunden.“135 Nun wurde das Versprechen der liberalen Armutsbekämpfungsdispositive, die Armut durch eigenverantwortliche Arbeit und durch den Mechanismus des freien Arbeitsmarktes aufzulösen, letztlich wegen ihres Nichtinterventionismus nicht erfüllt.136 Anstelle der 135 136 ÜS, S. 284f. Vgl. Lemke (Fn.14), S. 205; Giovanna Procacci, Social Economy and the Government of Poverty, in: Graham Burchell/Colin Gordon/Peter Miller (Hrsg.), The Foucault Effect. Studies in Governmentality, Chicago 1991, S. 163f. Die Kopplung von Armut und Arbeit ist bereits in der Armenfürsorge seit der frühen Neuzeit zu finden. Diese ist zwar auch auf die Beseitigung der Armut gerichtet. Aber das Mittel, dessen sie sich bedient, ist die Zwangsarbeit in den Zucht- oder Arbeitshäusern. Diese Internierungsmaßnahmen, durch die den Häftlingen die Arbeitspflicht als Askese und Strafe auferlegt wird, sind zugleich disziplinierend und ökonomisch orientiert: Die Müßigkeit der Armen und die Arbeitslosigkeit 117 Beseitigung der Armut, wie bereits erwähnt, ergab sich unerwartet das neue Phänomen des Pauperismus, der wegen seiner expansiven Ausdehnung und andauernden Intensität als Gefahr und Bedrohung für die Gesellschaft betrachtet wurde.137 Mit diesem Aufkommen eröffnete sich schließlich in Absetzung von der liberalen politischen Ökonomie eine neue Epoche der sozialen Ökonomie oder der Sozialpolitik.138 Dieser sozialen Ökonomie zufolge zeugt die Armut nicht länger von einer moralischen Unordnung. Sie ist vielmehr das „Resultat der industriellen Arbeit“ und begleitet „die Industrialisierung, wenn nicht als deren Bedingung, so zumindest als deren Konsequenz, als deren Schlagschatten“.139 So meint François Ewald weiter: „Von nun an wird man vom Armen nicht mehr erwarten können, dass er selbst sein verhalten bessert, er wird ständig angeleitet und gelenkt werden müssen.“ „Nicht nur der Arbeiter selbst war für seine Sicherheit verantwortlich, sondern auch der Reiche und die Gesellschaft. Die zivile Sicherheit war nicht mehr eine ausschließlich individuelle Verpflichtung; sie wurde zur sozialen Verpflichtung einer Klasse einer anderen gegenüber. […] Mit der neuen Politik der Sicherheit stellt die Wohltätigkeit eine notwendige Beziehung zwischen zwei Klassen her; ihre Logik ist eine Logik der Interdependenz und Solidarität. Es genügt nicht, dass die Regierung sich darauf beschränkt, den strengen, durch positives Recht anerkannten rechtlichen und vertraglichen Beziehungen Respekt zu verschaffen; sie muss weitreichendere und umfassendere Aufgaben erfüllen: Um die zivile Sicherheit wirklich garantieren zu können, kann, ja muss sie bestimmte moralische Verpflichtungen in gesetzliche Verpflichtungen umwan- 137 138 139 118 werden gleichzeitig bekämpft. Vgl. WG, S. 80-88, 93-97. Vgl. auch Robert Jütte, Disziplinierungsmechanismen in der städtischen Armenfürsorge der Frühneuzeit, in: Christoph Sachße/Florian Tennstedt (Hrsg.), Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung. Beiträge zu einer historischen Theorie der Sozialpolitik, Frankfurt a.M. 1986, S. 101-118; Hannes Stekl, »Labore et fame« Sozialdisziplinierung in Zucht- und Arbeitshäusern des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Ebenda, S. 119-147. Vgl. Ewald (Fn.33), S. 111-113; Procacci (Fn.136), S. 158, 161f. Vgl. Ewald (Fn.33), S. 95, 115; Procacci (Fn.136), S. 153; Lemke (Fn.14), S. 207-211; v. Arnim (Fn. 128), S. 75-78; Jacques Donzelot, Die Förderung des Sozialen, in: Richard Schwarz (Hrsg.), Zur Genealogie der Regulation. Anschlüsse an Michel Foucault, Mainz 1994, S. 113f.; Görg Haverkate, Verfassungslehre. Verfassung als Gegenseitigkeitsordnung, München 1992, S. 262-267. Ewald (Fn.33), S. 113. deln.“140 Außerdem sollte die Armut noch von ihrem Entstehungsmilieu her betrachtet und versucht werden, entsprechende Gegenmaßnahmen einzurichten, um die im Pauperismus noch nicht völlig erschlossenen Arbeitskräfte wieder in den Prozess der Produktion zu integrieren. Oder wie François Ewald sagt: „[M]it den Armen konnte nicht mehr nur in der Intimität einer Gewissenslenkung umgegangen werden; man musste von nun an auf die physischen, materiellen Bedingungen einwirken, die ihr Verhalten bestimmten, musste Eingriffe ins Milieu vornehmen. Eine neue Politik der Armut, die vor allem in der Wohnungsfrage Anwendung finden sollte. Man beginnt nun, Überlegungen über die Wohnbedingungen der Armen anzustellen, und schreibt ihnen die Verantwortung für den moralischen Niedergang, den physischen und moralischen Verfall der Arbeiter zu. Aber dies war nicht die einzige Ursache: Das Milieu umfasste ebenso das Familienleben, die beengten Wohnbedingungen der Arbeiter, ihr Zusammengepferchtsein. Die Geburt einer problematischen Beziehung des Menschen zur Umwelt, zum Raum, einer ökologischen Problematik, die ein Le Play unter der Bezeichnung »soziale Ökonomie« ausarbeiten sollte.“141 Im Zusammenhang mit den „Prinzipien des Patronatswesens“ entwickelt die soziale Ökonomie zunächst „eine Politik der zivilen Sicherheit“, welche den Arbeitgeber bei der Führung seiner Geschäfte für die Sicherheit des Arbeiters verantwortlich macht.142 Demnach gilt der Arbeitgeber nicht mehr als derjenige, der bloß den Lohn für die Arbeit seines Arbeiters zu zahlen braucht, sondern darüber hinaus als ein „patron“, der die „moralische und materielle Verbesserung“ seines Arbeiters im Auge haben muss, der ihn aufnimmt, über ihn mit der Aufmerksamkeit eines Familienvaters wacht und sich ihm widmet, um aus ihm einen Menschen zu machen.143 Daraus ergab sich eine globale, kohärente und rationale Strategie gegen den Pauperismus, nämlich die Errichtung einer Arbeiterstadt. In dieser werden die vielfältigen Bedürfnisse des Arbeiters vor allem durch entsprechende Maßnahmen der Unternehmer befriedigt: eine Unterkunft durch den Bau von Arbeitersiedlungen, die Gewährleistung von Gesundheit durch die Gründung von Krankenkassen und die 140 141 142 143 AaO, S. 116. AaO, S. 114f. Vgl. aaO, S. 132f. Vgl. aaO, S. 134, 152. 119 Bereitstellung medizinischer Versorgung, eine Altersvorsorge durch Rentenkassen, die Sicherung der Kindererziehung durch betriebseigene Schulen und eine Lebensmittelversorgung durch betriebseigene Einkaufsstellen.144 Durch diese globale Planung der Arbeiterstadt lässt sich die strategische Wiederauffüllung des Dispositivs wieder einmal beobachten: Mit Hilfe der Errichtung der Arbeiterstadt hat man die Negativität des Pauperismus wiederum ins Positive gekehrt, die im Pauperismus implizierten undisziplinierten, mobilen und regellosen Arbeitskräfte stabilisiert, fixiert und sich wieder zunutze gemacht.145 Diese Institutionen der Patronatsökonomie, welche aus Strategie und Kalkül wohltätig dem Arbeiter gegenüber sind, um seine Kraft auf nutzbringende und effiziente Weise einzusetzen, sind aber wegen der steigenden Anzahl von Arbeitsunfällen in einen Konflikt der Verantwortlichkeiten geraten. 146 François Ewald meint hierzu: „Für einen Arbeiter bedeutet ein Unfall Arbeitslosigkeit, vielleicht auch partielle oder vollständige Erwerbsunfähigkeit, im schlimmsten Fall den Tod. Wie sollen er und seine Familie unter solchen Umständen leben, dem Elend, der Armut und der Fürsorge entrinnen können?“147 Wer soll rechtlich gesehen dann für den Arbeitsunfall und die nachfolgenden Kosten verantwortlich sein, der Arbeiter oder der Unternehmer? Wie ist die Arbeitsunfallhaftung zwischen Arbeitern und Unternehmern geeignet zu verteilen? Die im Code civil 1804 eingerichteten Haftungssysteme, in 144 145 146 147 120 Vgl. aaO, S. 146. Diese durch die Patronatsökonomie aufgestellten Strategien, mittels derer die Arbeiter der ersten Schwerindustriezentren an dem Ort, an dem sie arbeiteten, festgehalten wurden, gehören nach Foucault zum Diskurs der Philanthropie, der auf die Moralisierung der Arbeiterklasse gerichtet ist. Vgl. DM, S. 133f. Außerdem zeugt die Errichtung einer Arbeiterstadt oder Fabrikstadt noch von einem komplexen Modus der Menschenführung. Sie ist also eine Kombination aus den drei unterschiedlichen Machttypen der Souveränität, Disziplin und Gouvernementalität. Für Foucault ist die Arbeiterstadt ein schönes und exemplarisches Beispiel für die Zusammenarbeit von den Disziplinarmechanismen der Macht und den regulatorischen Mechanismen der Macht. Siehe dazu, VG, S. 289f. Darüber hinaus ist auch die Machtfunktion der Souveränität zu beobachten. Wie François Ewald folgendermaßen sagt: „Der patron, der Eigentümer des Unternehmens, muss in dessen »Mittelpunkt« wohnen. Nur unter dieser Voraussetzung wird er zugleich dessen Haupt und Herz sein können, derjenige, von dem alles ausgeht und bei dem alles zusammenläuft, die »Seele dieses großen Körpers«, den sein Unternehmen bildet.“ Ewald (Fn.33), S. 154. Vgl. aaO, S. 169f. AaO, S. 280. denen Arbeitsunfälle nicht vorgesehen waren, führten dazu, dass Unternehmer und Arbeiter wie Feinde gegenüber standen. Demzufolge wurden die Arbeitsunfälle schließlich „zu einem ständigen Element der Zwietracht, Feindseligkeit und Opposition zwischen Unternehmern und Arbeitern“.148 Dieser vor allem durch die Arbeitsunfälle ausgelöste Konflikt der Verantwortlichkeiten wurde erst durch die Technik der Versicherung gelöst. Anstelle des liberalen Gerechtigkeitsgedankens, demzufolge derjenige für den erlittenen Schaden verantwortlich sein soll, der ihn verursacht hat, schlägt die Technik der Versicherung mit ihrer Vergesellschaftung des Risikos den Gedanken der Umverteilung vor: Der von jemanden erlittene Schaden wird von allen getragen.149 So sind der durch den Arbeitsunfall ausgelöste Schaden und die nachfolgenden Kosten gesellschaftlich zu verteilen, aber auch die auf Krankheit, Alter und Arbeitslosigkeit zurückzuführenden Verluste. Darüber hinaus sind diese sich auf die Daseinsvorsorge beziehenden Probleme durch eine Fülle staatlicher Sozialleistungen zu lösen, die sich vor allem in Rechtsansprüchen artikulieren. Nicht nur „das »Recht« auf das Leben, auf den Körper, auf die Gesundheit, auf das Glück, auf die Befriedigung der Bedürfnisse“, sondern auch „das »Recht« auf die Wiedergewinnung alles dessen, was man ist oder sein kann“, sollten in ihrer Komplexität und zwar im Rahmen der Sicherheitsdispositive berücksichtigt werden. 150 Dank dieser Sozialleistungen durch Rechtsansprüche und jener Versicherungstechnik ergibt sich schließlich zum einen ein solidarisches Sozialrecht als Alternative zum liberal-bürgerlichen Recht, zum anderen eine neue Epoche der sozialen wohlfahrtsstaatlichen Sicherheitsdispositive, die dem Staat die Pflicht und die Verantwortung auferlegen, eine aktive gouvernementale Regulierungs-, Ausgleichs-, Verteilungs- und Sicherheitspolitik 148 149 150 Vgl. aaO, S. 283, 310. Vgl. aaO, S. 220f.; auch Rose (Fn.34), S. 48. Außerdem lässt sich die Versicherung nach François Ewald noch als Technologie des Risikos definieren. Im Gegensatz zur Unkalkulierbarkeit der Risiken bei Ulrich Beck geht der Begriff des Risikos bei Ewald von den drei folgenden Merkmalen aus: Das Risiko ist kalkulierbar, stets kollektiv und ein Kapital. Vgl. Ewald, aaO, S. 213-218; ders., Die Versicherungs-Gesellschaft, in: Ulrich Beck, Politik in der Risikogesellschaft. Essays und Analysen. Mit Beiträgen von Oskar Lafontaine u.a., Frankfurt a.M. 1991, S. 295-296; Lemke (Fn.35), S. 35. Vgl. WW, S. 173; auch François Ewald, Bio-Power, in: Barry Smart (Hrsg.), Michel Foucault. Critical Assessments, vol. V, London u. New York 1995, S. 282. 121 zu gestalten.151 Durch die sozialen wohlfahrtsstaatlichen Sicherheitsdispositive werden zwar die soziale Frage und die Probleme der Daseinsvorsorge mehr oder weniger gelöst und der liberale Verfassungsstaat in den sozialen Verfassungsstaat verwandelt. Aber im Angesicht der integrierenden sozial-wirtschaftlichen Wohlfahrtsregulierungen und der dadurch entstehenden vielfältigen Disziplinarmaßnahmen, die weiterhin ein Milieu der Normalisierung gestalten, in dem Sozialarbeiter und Experten für Kinder, Alte, Behinderte, Alkoholiker, Drogenabhängige, Strafgefangene, Arbeitslose, alleinerziehende Mütter ständig, und zwar case by case, arbeiten, sind die Individuen immer mehr von den sozialen wohlfahrtsstaatlichen Sicherheitsdispositiven abhängig. In ihnen verlieren sie schließlich sogar ihre eigene Selbständigkeit, die ironischerweise genau von den sozialen Sicherheitsdispositiven versprochen worden ist.152 Daher sagt Foucault: „Social security, whatever its positive effects, has also had »perverse effects«: an increasing rigidity of certain mechanisms and a growth in dependence. One notes the following fact, which is inherent in the functional mechanisms of the machinery: on the one hand, more security is being given to people and, on the other, they are being 151 152 122 Vgl. Ewald, ebd.; Rose (Fn.34), S. 48; Donzelot (Fn.138), S. 111; Böckenförde (Fn.122), S. 233-243; Haverkate (Fn.138), S. 260-264; Zippelius (Fn.77), S. 344-346; Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl., Heidelberg 1999, Rn. 210f. Vgl. Hesse (Fn. 151), Rn. 210; Zippelius (Fn.77), S. 352; Rose (Fn.34), S. 52. Außerdem hat Rose den Prozess der Normalisierung des Sozialstaates treffend geschildert: „Social work, correlatively, operates within a strategy in which security is to be secured by enjoining the responsibilities of citizenship upon individuals incapable or aberrant members of society. It acts on specific problematic cases, radiating out to them from locales of individualized judgement on particular conducts judges as pathological in relation to social norms. The juvenile court, the school, the child guidance clinic operate as centers of adjudication and co-ordination of these strategies, targeted not so much at the isolated individual citizen, but at individuals associated within the matrix of the family. The everyday activities of living, the hygienic care of household members, the previously trivial features of interactions between adults and children, were to be anatomized by experts, rendered calculable in terms of norms and deviations, judged in terms of their social costs and consequences and subject to regimes of education or reformation. […] Complex assemblages would constitute the possibility of State departments, government offices and so forth acting as centres, by enabling their deliberations to be relayed into a whole variety of micro-locales within which the conduct of the citizen could be problematized and acted upon in terms of norms that calibrated personal normality in a way that was inextricably linked to its social consequences.“ Rose, aaO, S. 49. made increasingly dependent. But what one ought to be able to expect from security is that it gives each individual autonomy in relation to the dangers and situations likely to lower his status or subject him.“153 Dabei ist wieder eine andere Erschütterung des Dispositivs zu sehen. Dass die Menschen heute allmählich im System der Sozialsicherheit ihre Selbständigkeit verlieren und dass die Menschen immer noch von dem auf einer bestimmten parteiischen Moral und bestimmten Weltanschauungen basierenden disziplinierenden Rechtssystem erfasst werden, gehört zur von Foucault befürchteten Krise der Regierung154, von der der heutige soziale Verfassungsstaat unvermeidlich betroffen ist. In bezug auf diese scheint Foucault die Funktion und insbesondere die Rechtsstruktur des heutigen sozialen Verfassungsstaates als sehr zweifelhaft anzusehen: „Seit dem 19. Jahrhundert schlich sich in Gesellschaften, die sich als Rechtsgesellschaften – mit Parlamenten, Gesetzgebung, Gesetzbücher, Gerichten – darstellen, tatsächlich ein anderer Machtmechanismus ein, der keinen juristischen Formen gehorchte, dessen fundamentales Prinzip nicht das Gesetz, sondern eher die Norm war und dessen Instrumente nicht die Gerichte, das Gesetz und der Justizapparat waren, sondern die Medizin, die sozialen Kontrollen, die Psychiatrie, die Psychologie. Wir befinden uns also in einer Welt der Disziplin, in einer Welt der Regulierung. Wir glauben, wir befänden uns noch in einer Welt des Gesetzes, aber tatsächlich ist es ein anderer Typus von Macht, der auf dem Weg ist, sich zu bilden, mit Hilfe von Zwischenstationen, die nicht mehr juristisch sind.“155 Damit will Foucault nicht sagen, „dass sich das Gesetz auflöst oder dass die Institutionen der Justiz verschwinden, sondern dass das Gesetz immer mehr als Norm funktioniert, und die Justiz sich immer mehr in ein Kontinuum von Apparaten (Gesundheits-, Verwaltungsapparaten), die hauptsächlich regulierend wirken, integriert. Verglichen mit den Gesellschaften vor dem 153 154 155 PPC, S. 160. Vgl. auch Lemke (Fn.14), S. 239f. Dazu sagt Foucault: „Mir scheint in der Tat, dass sich hinter der gegenwärtigen ökonomischen Krise und den großen Gegensätzen und Konflikten, die zwischen reichen und armen Nationen (industrialisierten und nicht industrialisierten Ländern) absehbar werden, eine Krise der Regierung abzeichnet. Unter Regierung verstehe ich die Gesamtheit der Institutionen und Praktiken, mittels deren man die Menschen lenkt, von der Verwaltung bis zur Erziehung. Diese Gesamtheit von Prozeduren, Techniken, Methoden, welche die Lenkung der Menschen untereinander gewährleisten, scheint mir heute in die Krise geraten zu sein.“ ME, S. 118f. MaM, S. 40. 123 18. Jahrhundert befinden wir uns jetzt in einer Phase, in der das Rechtliche im Rückgang ist. Lassen wir uns nicht täuschen durch die Erfindung geschriebener Verfassungen auf der ganzen Welt seit der Französischen Revolution, durch die zahllosen und ständig novellierten Gesetzbücher, durch eine unaufhörliche und lärmende Gesetzgebungstätigkeit: das alles sind Formen, die eine wesenhaft normalisierende Macht annehmbar machen.“156 V. Die Machtlosigkeit des Verfassungsstaates gegenüber der Krise der Regierung Darüber kann wohl kein Zweifel bestehen, dass man aus dieser im heutigen sozialen Verfassungsstaat auftauchenden Krise der Regierung entkommen sollte, welche zugleich durch die unablässig störenden Machtgefechte der Disziplin und der Gouvernementalität ausgelöst wird. Foucault scheut deswegen keine Mühe, „Mechanismen der effektiven Machtausübung zu erfassen“, weil er glaubt, dass „diejenigen, die in diese Machtbeziehungen eingebunden sind, die in sie verwickelt sind, in ihrem Handeln, in ihrem Widerstand und in ihrer Rebellion diesen Machtbeziehungen entkommen können, sie transformieren können, kurz, ihnen nicht mehr unterworfen sein müssen“.157 In Hinsicht auf diese Befreiung von der Krise der Regierung und den Machtgefechten der Disziplin und der Gouvernementalität geht Foucault zwar von „dem Postulat eines unbedingten Optimismus“ aus.158 Die Arbeit der Befreiung bedient sich jedoch weder der Rechtstechniken des Verfassungsstaates noch anderer möglicher objektiver Institutionen bzw. Programme. Was dieser zugrunde liegt, liegt für Foucault vielmehr in der historisch-kritischen Ontologie des Selbst. Durch diese historisch-kritische Ontologie des Selbst werden zunächst die Grenzen herausgefunden, die 156 157 158 124 WW, S. 172. ME, S. 117. ME, S. 117. Siehe auch: „My optimism would consist rather in saying that so many things can be change, fragile as they are, bound up more with circumstances than necessities, more arbitrary than self-evident, more a matter of complex, but temporary, historical circumstances than with inevitable anthropological constants.“ PPC, S. 156. Demnach vertritt Foucault eher „die praktische Kritik“, welche nicht nur das, was selbstverständlich aussieht und als legitim gilt, in Frage stellt, sondern auch dies weiter zu ändern und zu transformieren versucht. Diese praktische Kritik verbindet sich nach Foucault schließlich mit der Arbeit der Transformation. Vgl. PPC, S. 155. das Subjekt gelegentlich prägen, bestimmen und unterwerfen159, und dann „neue Formen der Subjektivität“ aufgebracht, die diese unterwerfenden Grenzen, das heißt „die Art von Individualität, die man uns jahrhundertlang auferlegt hat“, zurückdrängen können.160 Dies führt also zu einer weiteren Forschungsverschiebung in Foucaults Spätwerk hin zum Thema der Genealogie der Ethik, in der untersucht wird, „welches die Formen und die Modalität des Verhältnisses zu sich sind, durch die sich das Individuum als Subjekt konstituiert und erkennt“, damit es sich selber eines Tages transformieren, sich in seinem besonderen Sein modifizieren und aus seinem Leben ein Werk machen kann.161 Diese neue Forschungsrichtung der Genealogie der Ethik bedeutet jedoch nicht, dass Foucault zum Subjekt zurückkehrte und den Begriff des Subjekts wiederentdeckte, den er immer verleugnet hatte. Das Subjekt, was Foucault untersuchen möchte, hat keine Metaphysik, keine Substanz und kein Wesen. Es ist auf keinen Fall die Bedingung der 159 160 161 Vgl. WA, S. 48-50, 52f.; Aub, S. 699f.; Flive, S. 472. Zu dieser historisch-kritischen Ontologie des Selbst sagt Mitchell Dean: „There is rather a multiplicity of presents, a multiplicity of ways of experiencing those presents and a multiplicity of the »we« who are subjects of that experience. […], these multiple ontologies are different ways of thinking about who we are, how we should act and how we should act upon ourselves. What is at issue here is not so much what human beings really are or have become but how they think about who they are, and the consequences of this. What we seek to establish, then, is not a theory or even a history of being, but a history of truth, or a history of thought […].” Mitchell Dean, Foucault, Government and the Enfolding of Authority, in: Andrew Barry/Thomas Osborne/Nikolas Rose (Hrsg.), Foucault and Political Reason. Liberalism, Neo-Liberalism and Rationalities of Government, London 1996, S. 210. Vgl. SM, S. 250. Vgl. GL, S. 12, 18; GE, S. 274; FL, S. 83. Erst in den Praktiken der Pastoralmacht, wie man seinen Geist, seinen Körper und seine Handlung regiert, findet Foucault den Verbindungspunkt, „an dem die Form der Lenkung der Individuen durch andere mit der Weise ihrer Selbstführung verknüpft ist“. Zitiert aus Lemke (Fn.1), S. 119. Vgl. auch BH, S. 203f. Die neue Entdeckung dieser „Verbindung zwischen den Technologien der Beherrschung anderer und den Technologien des Selbst“, die Foucault die „Kontrollmentalität“ nennt, führt also zu einer Wende des Forschungsschwerpunktes hin zur Selbsttechnologie. Dies wurde von Foucault 1980 bereits kundgetan: „Nachdem ich das Feld der Machtverhältnisse von den Herrschaftstechniken aus betrachtet hatte, möchte ich in den kommenden Jahren Machtbeziehungen von den Selbsttechniken aus untersuchen. Diese Selbsttechnologie impliziert wohl in jeder Kultur eine Reihe von Wahrheitsverpflichtungen: die Wahrheit aufdecken, durch die Wahrheit erleuchtet werden, die Wahrheit sagen. All das soll für die Konstitution oder für die Transformation des Selbst wichtig sein.“ FL, S. 36. Vgl. auch TS, S. 27. 125 Möglichkeit einer Erfahrung. Im Gegenteil wird ein Subjekt oder genauer eine Subjektivität erst durch die Erfahrung konstituiert. Demnach ist das Subjekt das Produkt der Subjektivierung, die „selbstverständlich nur eine der gegebenen Möglichkeiten der Organisation des Bewusstseins seiner selbst“ ist. 162 Dazu sagt Foucault, „dass es kein souveränes und konstitutives Subjekt gibt, keine universelle Form des Subjekts, die man überall wiederfinden könnte“. „Einer solchen Konzeption vom Subjekt stehe ich sehr skeptisch, ja feindlich gegenüber. Ich denke hingegen, dass das Subjekt sich über Praktiken der Unterwerfung konstituiert bzw. – auf autonomere Art und Weise – über Praktiken der Befreiung und der Freiheit.“163 Dass jeder einzelne sich wie ein Kunstwerk begründen, herstellen und anordnen kann und muss, ist nämlich das, was Foucault als „die Ästhetik der Existenz“ bezeichnet, welche dem Einzelnen die Möglichkeit gibt, sich sowohl negativ aus den von außen regierten Zuständen zu befreien als auch positiv selbst regieren zu können.164 Daraus entsteht eine dem Einzelnen zukommende relative Autonomie bzw. ein Freiheitsund Verhaltensspielraum gegenüber den sozialen und politischen Verhältnissen, sei es gegenüber der Normalisierungswirkung durch die disziplinierenden Gesetze, sei es gegenüber der Gefahr des Selbständigkeitsverlustes durch die global integrierenden Sozialsicherheitsdispositive, die dem heutigen sozialen Verfassungsstaat inhärent sind.165 Dieser sich zur Ethik hinwendende Versuch von Foucault, den Einzelnen statt durch die objektive Institutionsgarantie eher durch die subjektive Ästhetik der Existenz und die entsprechenden Selbsttechniken aus der Krise der Regierung und den Machtmechanismen der Disziplin und der Gouvernementalität zu befreien, damit er sich schließlich als ein eigenartiges und selbstbestimmtes Lebenswerk konstituieren kann, zeigt 162 163 164 165 126 Vgl. RM, S. 144; StW, S. 60; Gilles Deleuze, Das Leben als ein Kunstwerk. Ein Gespräch mit Didier Eribon, in: Wilhelm Schmid (Hrsg.), Denken und Existenz bei Michel Foucault, Frankfurt a.M. 1991, S. 164f.; François Ewald, Eine Macht ohne Draußen, in: François Ewald/Bernhard Waldenfels (Hrsg.), Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken, Frankfurt a.M. 1991, S. 167f. FL, S. 137f. Vgl. FL, S. 80f.; GL, S. 18-20; vgl. auch Markus Schroer, Ethos des Widerstands. Michel Foucaults postmoderne Utopie der Lebenskunst, in: Rolf Eickelpasch/Armin Nassehi (Hrsg.), Utopie und Moderne, Frankfurt a.M. 2000, S. 159; Schmid (Fn. 120), S. 11f. Vgl. Fink-Eitel (Fn.38), S. 125. auf der einen Seite schwere Enttäuschung über die vorhandenen Rechtstechniken des sozialen Verfassungsstaates und auf der anderen Seite das extreme Misstrauen gegenüber möglichen Institutionen bzw. Programmen. Der Grund dafür liegt einfach darin, dass für Foucault „die Idee eines Programms mit Vorschlägen“ einfach gefährlich ist. „Sobald ein Programm vorliegt, wird es zum Gesetz, d.h. es verbietet andere Entwürfe und Erfindungen.“166 In einem Interview sagt Foucault: „Without a program does not mean blindness – to be blind to thought. [...] in my opinion, being without a program can be very useful and very original and creative, if it does not mean without proper reflection about what is going on, or without very careful attention to what’s possible.“167 Wenn aber irgendein Programm unbedingt verlangt werden muss, damit man seine Freiheit der Entunterwerfung gegen die Fremdregierung in den strategischen Machtspielen lange behalten kann, dann kann es laut Foucaults historisch-kritischer Ontologie des Selbst nur „leer“ sein. Dazu sagt Foucault: „Man muss einen Hohlraum schaffen, zeigen, wie die Dinge historisch zufällig eingetreten sind, zwar aus diesem oder jenem verstehbaren Grund, aber nicht notwendig. Man muss das Verstehbare auf dem Hintergrund des Leeren erscheinen lassen, Notwendigkeiten verneinen und denken, dass das Vorhandene noch lange nicht alle möglichen Räume ausfüllt. Das heißt, eine wirkliche unumgehbare Herausforderung aus der Frage machen: womit kann man spielen und wie ein Spiel erfinden?“168 Sind aber die Funktionen der Rechtstechniken des Verfassungsstaates in bezug auf die Überwindung der Krise der Regierung und der anderen lästigen Probleme, die aus den Machtmechanismen der Disziplin und der Gouvernementalität entstehen, tatsächlich so machtlos wie Foucault meint? Bedarf die ethische Freiheit auf der regierten Seite und die entsprechenden Selbsttechniken wirklich keiner objektiven Institutionen wie der Rechtstechniken des Verfassungsstaates als Strategien – im Sinne der strategischen Wiederauffüllung des Dispositivs – gegen die ebenfalls durch diese Rechtstechniken ausgelösten störenden Probleme, damit der Verhaltensspielraum für die eigene selbstbestimmte Existenz innerhalb der agonalen Machtverhältnisse institutionell gesichert werden kann? In der Tat liegt Foucaults Diagnose der Entkräftung des Verfassungs166 167 168 FL, S. 92. Flive, S. 390. FL, S. 92f. 127 staates gegenüber der Krise der Regierung und der Machtgefechte der Disziplin und der Gouvernementalität eigentlich noch die überholte Vorstellung des frühliberalen Verfassungsstaates zugrunde, der sich vor allem an dem formell egalitären Rechtssubjekt und der formellen Gesetzmäßigkeit orientiert. In den vergangenen zweihundert Jahren hat die ursprünglich vom Liberalismus erfundene Regierungstechnologie des Verfassungsstaates viel geändert, welche nicht nur erneut auf das freiheitlich-soziale Prinzip gerichtet ist, sondern auch den formellen Rechtsstaat in den materiellen Rechtsstaat umgewandelt hat. 169 Innerhalb dieses materiellen Rechtsstaatrahmens sind die unterwerfenden Machtwirkungen wie die disziplinierenden Wahrheiten, die Maßnahmen sowie die sozial-wirtschaftlich gouvernementale Globalsteuerung durch die Bindung aller öffentlichen Gewalt an die Grundrechte, die öffentlichen Parlamentsdebatten und die Verfassungsgerichtsbarkeit usw. zu korrigieren. Foucaults Unterschätzung des Verfassungsstaates in bezug auf die Verhütung und Bekämpfung der Krise der Regierung und der einschlägigen Machtwirkungen wird zum Beispiel von Michel Walzer stark kritisiert. Für Walzer gilt der Mangel an einem positiven institutionellen Programm, welches in der Lage ist, „einen neuen Kontext“ aufzubauen und „neue Codes und Kategorien“ zu entwerfen, als nichts anderes als „die katastrophale Schwäche“ von Foucaults politischer Theorie und seiner Sozialkritik.170 Diese harte Kritik Walzers ist vor allem auf Foucaults negative Einschätzung des Verfassungsstaates gegenüber den Disziplinarwirkungen gerichtet. Dazu sagt Walzer: „Foucault hat sicherlich recht, wenn er sagt, dass die konventionellen Wahrheiten über Moral, Gesetz, Medizin und Psychiatrie bei der Machtausübung stillschweigend vorausgesetzt werden. Das ist ein 169 170 128 Zum formellen und materiellen Rechtsstaat siehe etwa Eberhard Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1. Grundlagen von Staat und Verfassung, 2. Aufl., S. 997f.; Christoph Degenhart, Staatsrecht I. Staatsorganisationsrecht, 17. Aufl., Heidelberg 2001, Rn. 234-237. Vgl. Michel Walzer, Die einsame Politik des Michel Foucault, in: Ders., Zweifel und Einmischung. Gesellschaftskritik im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1991, S. 286. Außerdem gibt es noch eine andere Kritik insbesondere aus der marxistischen Perspektive: Wegen keines echten Stützpunkts außerhalb der Machtverhältnisse werde der Widerstand bei Foucault nicht nur zu „a guerrilla war and scattered acts of harassment of power”, sondern auch schließlich sogar zu einer leeren Idee, bei der es keinen Raum für irgendeinen Widerstand gibt. Vgl. Poulantzas (Fn.124), S. 149. Vgl. auch (Fn. 124); DM, S. 210. Faktum, das von konventionell unvoreingenommenen Natur- und Sozialwissenschaftlern und sogar von Philosophen nur allzu leicht außer acht gelassen wird. Aber eben diese Wahrheiten regulieren auch die Machtausübung. [...] Ein liberal- oder sozialdemokratischer Staat ist ein Staat, der die Grenzen der ihn konstituierenden Disziplin und disziplinären Institutionen aufrechterhält und ihre inneren Prinzipien verstärkt. Autoritäre und totalitäre Staaten dagegen überschreiten diese Grenzen, [...] Die Agenten jeder disziplinären Institution streben natürlich danach, ihren Einflussbereich zu vergrößern und ihren Ermessensspielraum zu erweitern. Auf lange Sicht kann nur politisches Handeln und staatliche Macht sie bremsen. Jeder Akt lokalen Widerstandes ist ein Ruf nach politischer oder gesetzlicher Intervention vom Zentrum her. Man vergleiche beispielweise die Aufstände der Fabrikarbeiter in den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts, die in den USA zur Einführung kollektiver Arbeitsverträge und Beschwerdeverfahren Anlass gaben, mit kritischen Einschränkungen des wissenschaftlichen Managements – einer der Disziplinen Foucaults, obwohl er nur gelegentlich darauf anspielt. Der Erfolg erforderte nicht nur die Solidarität der Arbeiter, sondern auch die Unterstützung des liberalen und demokratischen Staates. Und der Erfolg war nicht für irgendeinen, sondern für einen Staat dieser Art funktional. Wir können uns durchaus andere »gesellschaftliche Ganze« vorstellen, die andere Arten von Fabrikdisziplin erforderten.“171 Solche Vorwürfe sind Foucault wahrscheinlich bewusst. Dazu sagt er: „Ich meine, dass die Fragen, die ich versuche zu stellen, nicht von einem vorher festgelegten politischen Standpunkt bestimmt sind und nicht nach der Realisation eines politischen Projektes streben. Das ist zweifellos, was man meint, wenn man mir vorwirft, keine allumfassende Theorie zu präsentieren. Aber ich glaube gerade, dass die Totalisationsformen, die die Politik immer anbietet, tatsächlich sehr begrenzt sind. Ich versuche im Gegenteil, weg von jeder Totalisation – die gleichzeitig abstrakt und begrenzt wäre – Probleme zu erschließen, die so konkret und zugleich allgemein wie möglich sind; Probleme, die sich der Politik von hinten nähern und Gesellschaften in der Diagonale schneiden; Probleme, die sowohl unsere Geschichte bestimmen, als auch von dieser bestimmt werden: zum Beispiel das Problem der Beziehung zwischen gesundem Verstand und Wahnsinn, die Frage nach Krankheit, Verbrechen oder Sexualität. Und es war notwendig, diese sowohl als gegenwär171 Walzer (Fn.170), S. 283-285. 129 tige wie auch als historische Fragen zu stellen, als moralische, epistemologische und politische Probleme.“172 Anstatt ein Programm mit Vorschlägen bzw. bestimmte politische Projekte zu erstellen, welche nach Foucault tatsächlich abstrakt und sehr begrenzt sind, versucht er lieber, die konkreten Probleme herauszufinden und in der Weise darzustellen, „wie und warum bestimmte Dinge (Verhalten, Erscheinungen, Prozesse) zum Problem wurden“173 bzw. „wie ein unproblematisches Erfahrungsfeld oder eine Reihe von Praktiken, die als selbstverständlich akzeptiert wurden, die vertraut und »unausgesprochen« sind, also außer Frage stehen, zum Problem werden, Diskussionen und Debatten hervorruft, neue Reaktionen anregt und eine Krise der bisherigen stillschweigenden Verhaltensweisen, Gewohnheiten, Praktiken und Institutionen bewirkt“.174 Diese spezielle Denkweise ist laut Foucault die sogenannte Geschichte des Denkens, welche vor allem auf den obigen Prozess der Problematisierung gerichtet ist.175 Wie sind das störende Problem des Selbständigkeitsverlustes des Einzelnen in der globalstaatlichen regulierenden Sozialsicherheitsdispositive zum einen und das Problem der intensiven Normalisierung durch das auf der Moral und der Weltanschauung der Mehrheit basierenden disziplinierenden Rechtssystem zum anderen durch die Zusammenarbeit des heutigen freiheitlichen, demokratischen, sozialen Verfassungsstaates mit Foucaults Ästhetik der Existenz geeignet zu lösen? Zur Beantwortung dieser von Foucault abgelehnten Frage sollte man die Rechtsstruktur des Verfassungsstaates aus dem Blickwinkel der strategischen Machtspiele, genauer: der strategischen Wiederauffüllung des Dispositivs, erneut betrachten, das heißt eher aus einer positiven Perspektive der Integration des Verfassungsstaates in jene zwei Machtmechanismen von Disziplin und Gouvernementalität statt aus der abschätzigen Perspektive der Kolonisierung des Verfassungsstaates durch diese zwei Machtmechanismen. Eine solche Rekonstruktion des Verfassungsstaates, welche einerseits von der Machtanalytik Foucaults ausgeht und sich andererseits positiv weiterentwickelt, bildet den Schwerpunkt der nächsten Kapitel dieser Arbeit. 172 173 174 175 130 PE, S. 47. DW, S. 178. DW, S. 78. Vgl. DW, S. 77; GL, S. 17-21. Zweiter Abschnitt Rekonstruktion des Verfassungsstaates Kapitel 4 Der Übergang von der Machtanalytik Foucaults zur Rekonstruktion des Verfassungsstaates A. Auf der Suche nach einem neuen Recht I. Machtanalytik und anarchistische Machtkritik Seitdem Foucault die Positivität und Produktivität der Macht von der Technologie her analysiert hat, ist er auch davon überzeugt, dass die Menschen sich schon seit langem in den Maschen der Macht verfangen haben, in denen asymmetrische Machtbeziehungen auf Dauer vorherrschten. Dennoch sind diese asymmetrischen Machtbeziehungen für Foucault nicht ein für allemal gegeben. Sie sind vielmehr Teil von strategischen Spielen und können durch bestimmte Kampfstrategien geändert werden. Unter Berücksichtigung dieser strategischen Machtspiele beschäftigt sich Foucault in seiner Machtanalytik daher nicht allein mit der Frage, unter welchen wirtschaftlich-politischen Bedingungen und mittels welcher Macht- oder Regierungstechniken die asymmetrischen Machtbeziehungen zustande gekommen sind, sondern auch damit, wie man neue Machtbeziehungen schaffen kann, um nicht mehr wie bisher regiert werden zu müssen.1 Während es sich bei der ersten Frage um das Verhältnis zwischen „ratio und Macht“ handelt, das heißt um das Verhältnis zwischen dem Vorgang spezifischer Rationalisierung in Bereichen wie Wahnsinn, Krankheit, Armenfürsorge, Verbrechen, Sexualität und der entsprechenden Machtsteigerung, geht es bei der zweiten Frage um die Machtkritik. 2 Erst durch diese Machtkritik und den entsprechenden Kampf und Widerstand vervollständigt sich die Machtanalytik Foucaults. Die Machtkritik ist also nicht nur das Endziel der Machtanalytik, sondern auch ihr Ausgangspunkt.3 1 2 3 Vgl. Flive, S. 259f. Vgl. WK, S. 20, 23f.; WA, S. 48-50; SM, S. 245. Dazu sagt Foucault: „Ich möchte einen Weg in Richtung einer neuen Ökonomie der Machtverhältnisse vorschlagen, der empirischer und direkter auf unsere gegenwärtige Situation bezogen ist, und der mehr Beziehungen zwischen Theorie und Praxis umfasst. Sein Ausgangspunkt sind die Formen des Widerstands ge131 Um die Übergriffe der Macht zu bekämpfen, hat Foucault eine Gegenstrategie der anarchistischen Anthropologie entwickelt. 4 Statt der Präsentation eines regulativen politischen Programms, unter dessen Anleitung bestimmte Institutionen abgeschafft, modifiziert oder eingeführt werden müssen, strebt diese anarchistische Anthropologie nach einem ständigen Kampf, der die bestehenden asymmetrischen Machtverhältnisse unablässig provoziert und die von ihnen bestimmten Grenzen immer in Frage stellt.5 „Wo es Macht gibt“, sagt Foucault, „gibt es Widerstand.“6 Für Foucault ist der Widerstand keine „Negativform“, „die letzten Endes immer nur die passive und unterlegene Seite sein wird“. In den Machtbeziehungen ist er vielmehr „die andere Seite, das nicht wegzudenkende Gegenüber“. Nur dank einer Vielfalt von Widerstandspunkten könnten die Machtbeziehungen existieren, für die sie die Rolle von Gegnern, Zielscheiben, Stützpunkten, Einfallstoren spielen. Nur wegen der „mobilen und transitorischen Widerstandspunkte“, die überall im Machtnetz präsent sind, werden verschiebende Spaltungen und Umgestaltung in eine Gesellschaft eingeführt, Einheiten zerbrochen und Umgruppierungen hervorgerufen, durch die die strategischen Machtpositionen des Individuums neu arrangiert werden können.7 II. Ein neues Recht – im objektiven oder subjektiven Sinne? Trotz dieses anarchistischen Kampfes hat Foucault bei einer Gelegenheit, als er die asymmetrischen Machtverhältnisse vom Resonanzdreieck von Macht, Wahrheit und Recht her analysierte8 und anschlie- 4 5 6 7 8 132 genüber den verschiedenen Machttypen. Metaphorisch gesprochen heißt das, den Widerstand als chemischen Katalysator zu gebrauchen, mit dessen Hilfe man die Machtverhältnisse ans Licht bringt, ihre Positionen ausmacht und ihre Ansatzpunkte und Verfahrenswesen herausbekommt.“ SM, S. 245. Vgl. Jean Améry, Michel Foucaults Vision des Kerker-Universums, in: Merkur 1977, S. 390, 392; Urs Marti, Michel Foucault, S. 125; Hinrich Fink-Eitel, Michel Foucault zur Einführung, 4. Aufl., Hamburg 2002, S. 120-125; Michael Walzer, Die einsame Politik des Michel Foucault, in: Ders., Zweifel und Einmischung. Gesellschaftskritik im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1991, S. 276f. Vgl. SubW, S. 120f.; PE, S. 52; SM, S. 246, 256. WW, S. 116. WW, S. 117f. Im Gegensatz zu der von der traditionellen politischen Philosophie und Rechtstheorie vorgenommenen Betrachtung von Macht, Wahrheit und Recht, welche ständig um die souveräne und königliche Macht kreist und immer nach den Wahrheitsdiskursen bezüglich der Legitimität und Rechtsgrenze dieser Macht ßend überlegte, wie man sich im Kampf gegen diese weiter einsetzen sollte, eine ungewöhnliche Konzeption der Suche nach einem neuen Recht präsentiert. In seinen 1976 unter dem Titel Il faut défendre la société am Collège de France gehaltenen Vorlesungen findet sich diese rätselhafte Konzeption der Suche nach einem neuen Recht. In der Vorlesung vom 14. Januar sagt Foucault: „Angesichts der Übergriffe der Disziplinarmechanismen, angesichts des Aufstiegs einer mit dem szientistischen Wissen verbundenen Macht bleibt uns in der gegenwärtigen Situation allein die scheinbar solide Zuflucht oder die Rückkehr zu jenem Recht, das um die Souveränität herum organisiert ist und auf diesem alten Prinzip beruht. Was macht man also konkret, wenn man den Disziplinen und den Wissen- und Machtwirkungen, die mit ihnen verbunden sind, etwas entgegensetzen möchte? Was macht man im Leben? Was machen die Richtergewerkschaft und vergleichbare Institutionen? Was macht man anders, als sich genau auf dieses Recht zu berufen, dieses berühmte formale und Bürgerliche Recht, das in Wirklichkeit das Recht der Souveränität ist? Ich denke, wir befinden uns hier in einer Art Sackgasse und können das nicht ewig so weiterlaufen lassen: Die Wirkungen der Disziplinarmacht können nicht durch Berufung auf die Souveränität gegen die Disziplin begrenzt werden. […] Im Kampf gegen die Disziplinen oder vielmehr gegen die Disziplinarmacht, auf der Suche nach einer nicht-disziplinarischen Macht, sollte man sich besser nicht an das alte Recht der Souveränität wenden; eher an ein neues Recht, das anti-disziplinarisch, aber zugleich vom Prinzip der Souveränität befreit wäre.“9 Warum kommt Foucault plötzlich auf die Idee der Suche nach einem neuen Recht? Will er damit sagen, dass die ständige Provokation nicht mehr ausreicht, um gegen die Disziplinarmacht zu kämpfen, und dass man deswegen eines anderen Rechts bedarf, um diesen Kampf fortsetzen zu können? In derselben Vorlesung, in der diese Idee der Suche nach einem neuen Recht auftaucht, erklärt Foucault außerdem seinen Gebrauch des Begriffs des Rechts. Er misst diesem eine sehr weite Bedeutung zu, nämlich: „[W]enn ich Recht sage, denke ich nicht nur an das Gesetz, 9 fragt, stellt Foucault eine andere Frage, nämlich: „Welche Rechtsregeln setzen die Machtbeziehungen ins Werk, um Wahrheitsdiskurse zu produzieren? Oder anders: Welcher Machttyp ist in der Lage, Wahrheitsdiskurse zu produzieren, denen in einer Gesellschaft wie der unsrigen derart mächtige Wirkungen verliehen werden?“ VG, S. 32. Vgl. auch SM, S. 243. VG, S. 50. 133 sondern an die Gesamtheit der Apparate, Institutionen und Verordnungen, die das Recht zur Anwendung bringen.“10 Wenn man dieses sehr weite Verständnis des Rechts zusammen mit der Suche nach einem neuen Recht betrachtet, was ist dann daraus zu schließen? Spiegelt diese Konzeption der Suche nach einem neuen Recht den Bedarf an einem regulativen politischen Programm wider, das eine andere Art von rechtlichen Apparaten, Institutionen und Gesetzgebungen anbieten könnte, damit sich die bestehenden Wechselwirkungen von Macht, Wahrheit und Recht in den neuen Rechtsdispositiven zersetzen? Ein neues Recht als solches – in dieser objektiv-institutionellen Art und Weise – kann in Foucaults anarchistischer Politik eigentlich nicht akzeptiert werden. Denn der politische Kampf ist für Foucault Selbstzweck. Was nach dieser anarchistischen Politik konkret zu tun ist, ist nicht der Aufbau eines alternativen institutionellen politischen Projekts, sondern der ständige Kampf und Widerstand. Wenn die Suche nach einem neuen Recht auf kein politisches Projekt gerichtet ist, dem zufolge eine neue objektive Rechtsordnung programmiert werden sollte, nach welcher neuen Art von Recht, das weder dem Prinzip der Souveränität noch der Disziplin unterworfen ist, sucht Foucault dann eigentlich? Kann man diese Suche nach einem neuen Recht von der Suche nach einer Art subjektiven Rechts her analysieren? Falls ja, wie sollte diese neue Art subjektiven Rechts weiter gedacht werden? In welchem Zusammenhang steht sie mit der anarchistischen Politik Foucaults? Meint sie bereits die Revision seiner anarchistischen Politik? Erst nachdem das Forschungsinteresse Foucaults sich auf die Themen der Gouvernementalität und der Ethik (der Praxis der Freiheit) verschoben hat, werden diese rätselhaften Fragen eine nach der anderen entschlüsselt. Die Suche nach einem neuen Recht sollte mit einer neuen Art subjektiven Rechts beginnen. Diese neue Art subjektiven Rechts ist nämlich das, was später von Foucault als das Recht des Regierten bezeichnet und in den Augen mancher Kommentatoren als eine neue Art von Menschenrecht interpretiert wird.11 10 11 134 VG, S. 35. Vgl. Bernhard H. F. Taureck, Michel Foucault, Hamburg 1997, S. 119f.; Thomas Osborne, Critical Spirituality. On Ethics and Politics in the Later Foucault, in: Samantha Ashenden/David Owen (Hrsg.), Foucault contra Habermas. Recasting the Dialogue beween Genealogy and Critical Theory, London u.a. 1999, S. 53. B. Die kritische Praxis der Freiheit I. Der Kampf für eine neue Subjektivität Während Foucault sich zur makrophysikalischen Dimension der Machtsteigerungen durch die Gouvernementalisierung des Staates hin wendet und versucht, die Machtverhältnisse vom Regieren als Führen der Führungen her erneut zu betrachten, richtet er seine Aufmerksamkeit zugleich auf die Praxis der Freiheit. Er möchte darauf hinweisen, dass Macht und Freiheit sich nicht in einem Ausschließungsverhältnis (wo immer Macht ausgeübt wird, verschwindet die Freiheit) gegenüber stehen. Vielmehr ständen Freiheit und Macht immer in einem sehr viel komplexeren Verhältnis, in dem die Freiheit sich nicht nur als die Existenzbedingung der Macht, sondern auch als die Quelle aller Kämpfe gegen die Macht präsentiert.12 Durch diese kritische Praxis der Freiheit lässt sich die Forschungsarbeit Foucaults schließlich nicht nur an das Thema der Aufklärung anschließen, sondern auch weiter als die historisch-kritische Ontologie des Selbst definieren. In seiner Beantwortung der Frage „Was ist Aufklärung?“ bezeichnet Kant die Aufklärung als den „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“. Die Ursache dieser Unmündigkeit liegt nach Kant nicht „am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes“, seine eigene Freiheit und Vernunft ohne die Anweisung irgendeiner Autorität zu gebrauchen. 13 Während Kant die Kritik als Handbuch des legitimen Gebrauchs der Freiheit und Vernunft betrachtet und sich nur dafür interessiert, welche Grenzen für den Gebrauch der Freiheit und Vernunft nicht überschritten werden dürfen, sucht Foucault nach einem anderen Ethos der Kritik, indem er fragt, wie die Überschreitung der bestehenden Grenzen überhaupt möglich ist, damit wir nicht länger dabei bleiben, was wir sind, tun oder denken. Genau in diesem anderen Ethos der Kritik konstituiert sich „eine Ontologie unserer selbst“.14 Mittels dieser Ontologie und der entsprechenden Selbsttechniken lernt man nicht nur, wie man den rechten Gebrauch seiner Freiheit 12 13 14 Vgl. SM, S. 256. Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Wilhelm Weischedel (Hrsg.), Immanuel Kant. Werkausgabe, Bd. XI, Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1, Frankfurt a.M. 1991, S. 53. WAWR, S. 11; vgl. auch WA, S. 40f., 48f. 135 reflektieren und praktizieren kann, sondern auch, wie man sich als freies Wesen mit der Ästhetik seiner Existenz innerhalb der asymmetrischen Machtverhältnisse beschäftigen kann.15 Angesichts der sich immer mehr verbreitenden Machtsteigerungen glaubt Foucault nicht mehr allein an den anarchistischen Kampf, sondern darüber hinaus an die Freiheit der Menschen, die sich einen effektiveren Widerstand gegen jenen verbreiteten Typ von Macht leisten könnten.16 Aufgrund der Freiheit und der dadurch zustande gebrachten neuen Form der Subjektivität seien die Menschen nun in der Lage, andere Lebensweisen zu bestimmen und zu entwickeln. 17 Genau deshalb hat sich Foucault zuletzt von seiner anarchistischen Anthropologie verabschiedet und begonnen, den Kampf für eine neue Subjektivität zu führen.18 Bei diesem Kampf für eine neue Subjektivität ist zwar von keinem regulativen politischen Programm die Rede, unter dessen Anleitung bestimmte Institutionen und Gesetze neu organisiert werden sollten, aber doch von einer ethisch-politischen Arbeit, durch die der Einzelne eine relative Autonomie gegenüber den sozialen und politischen Verhältnissen gewinnen sollte.19 Diese ethisch-politische Arbeit, die ständig auf die Suche nach einer neuen Subjektivität und einer alternativen Lebensweise gerichtet ist und darum als nichts anderes als die Praxis der Freiheit angesehen wird, ist für Foucault die einzige effektive Garantie für die Freiheit selbst. Über seinen festen Glauben an die Freiheit hat sich Foucault in einem Interview geäußert: „[T]here may, in fact, always be, a number of projects whose aim is to modify some constraints, to loosen, or even to break them, but none of these projects can, simply by its nature, assure that people will have liberty automatically: that it will be established by the project itself. The 15 16 17 18 19 136 FS, S. 12-15; WA, S. 48-53. Vgl. WMS, 21; James W. Bernauer/Michael Mahon, Foucaults Ethik, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 42 (1994), S. 599. Die homosexuelle Lebensweise, die in der abendländischen Gesellschaft lange sittlich und rechtlich herabgewürdigt wurde, ist eine der möglichen Lebensweise, die Foucault zu bestimmen und zu entwickeln versucht. Vgl. FL, S. 89, 109f.; SM, S. 250. Vgl. Fink-Eitel (Fn.4), S. 125; Urs Marti (Fn.4), S. 131. Vgl. Fink-Eitel (Fn.4), S. 125; Bernauer/Mahon (Fn.16), S. 599; Wolfgang Detel, Macht, Moral, Wissen, Foucault und die klassische Antike, Frankfurt a.M., 1998, S. 13; Paul Patton, Taylor and Foucault on Power and Freedom, in: Barry Smart (Hrsg.), Michel Foucault. Critical Assessments, vol. V, London u. New York 1995, S. 358; Thomas L. Dumm, Michel Foucault and the Politics of Freedom, Thousand Oaks u.a. 1996, S. 137, 141-144. liberty of men is never assured by the institutions and laws that are intended to guarantee them. This is why almost all of these laws and institutions are quite capable of being turned around.” “[O]nce again, I think that it can never be inherent in the structure of things to guarantee the exercise of freedom. The guarantee of freedom is freedom.”20 II. Eine andere Art der Menschenrechte Eingedenk dieses festen Glaubens an die Freiheit werden die Menschenrechte, die nach Foucault keine transzendentale Substanz darstellen und in ihrer Praxis schon mit dem Macht-Wissen-Komplex verbunden worden sind21, in der letzten Phase der Machtanalytik Foucaults wieder thematisiert. Anstatt über die Frage zu diskutieren, kraft welcher Machtmechanismen bestimmte Formen der Wahrheit und Ethik zum Muster der Menschenrechte erklärt werden, gibt es Foucault nun darum, ob es mehr mögliche Freiheiten und weitere zukünftige Erfindungen in Form der Menschenrechte geben könnte, denen zufolge die Menschen nicht mehr regiert würden und eine ihnen eigene Lebensweise entfalten könnten. Foucault ist der Meinung, dass wir die Menschenrechte nicht unbedingt fallen lassen müssen.22 Trotz ihrer Verflechtung mit den bestehenden Mechanismen von Macht und Wissen seien die Menschenrechte nun auch in der Praxis der Freiheit, und zwar im Kampf für eine neue Subjektivität, strategisch positiv einsetzbar. Diesmal werden die Menschenrechte nicht mehr als die allgemeinen Rechte angesehen, die angeblich von jedem einzelnen einfach kraft ihres Status besessen würden. Vielmehr gelten sie als die Rechte des Regierten, die den Menschen allein wegen ihres in den asymmetrischen Machtverhältnissen auferlegten Status des Regierten zukommen. 23 Dank dieses Status des Regierten sind wir alle nach 20 21 22 23 Flive, S. 339f.; vgl. WMS, S.21. Es gibt in Wirklichkeit immer bestimmte sittliche Einstellungen, die als dogmatische Prinzipien für die Auslegung der Menschenrechte vorausgesetzt werden. Bei manchen umstrittenen Rechtsstreitigkeiten geht es dementsprechend nicht nur um das Problem der Rechtsauslegung, sondern auch um das der ethischen Weltanschauung, die der Rechtsauslegung zugrunde liegt. Für diese Diskussion siehe Kapitel 5. C der vorliegenden Arbeit. WMS, S. 22. Vgl. Osborne (Fn.11), S. 53. Die Infragestellung der allgemeinen Menschenrechte von Foucault sollte im Zusammenhang mit seiner Kritik an dem homo oeconomicus und dem dadurch zustande gebrachten Rechtssubjekt betrachtet werden. Für die einschlägige Diskussion siehe Kapitel 2, C.III.3 der vorliegenden Arbeit. 137 Foucault sowohl solidarisch als auch berechtigt, uns gemeinsam gegen jede Form von Machtmissbrauch zu erheben, welche vor allem durch diejenigen ausgelöst werden, die sich als die Regierenden unter dem Deckmantel des Glücks der Gesellschaft das Recht anmaßen, „das Unglück der Menschen als Gewinn oder Verlust zu rechnen, das ihre Entscheidungen hervorruft oder das ihre Nachlässigkeiten erlaubt“.24 C. Die Parrhesia und das Recht des Regierten I. Das Spiel der Parrhesia Das, womit der Regierte gegen den Machtmissbrauch der Regierenden kämpfen kann, ist die Tätigkeit der sogenannten parrhesia, die nach Foucault schon seit der Antike eine entscheidende Rolle in der westlichen kritischen Tradition gespielt hat.25 Das Wort parrhesia, das aus dem Griechischen stammt, wird im Englischen gewöhnlich mit free speech und im Deutschen mit Freimütigkeit oder Aufrichtigkeit übersetzt. 26 Foucault zufolge bezeichnet das Wort parrhesia einerseits ein Spiel von Wahrheit, in dem manchen Leuten die Freiheit zukommt, die Wahrheit zu sprechen, und andererseits ein Spiel von Risiko, in dem der Sprecher wegen seiner Wahrheitsäußerung, die von den Regierenden immer als Kritik betrachtet wird, eine gewisse Gefahr der Bestrafung oder gar des Todes eingehen muss. 27 Zusammenfassend lässt sich sagen, „dass parrhesia eine Art von verbaler Tätigkeit ist, bei der der Sprecher dank seiner Freimütigkeit eine spezielle Beziehung zur Wahrheit hat, durch die Gefahr eine spezielle Beziehung zu seinem eigenen Leben, und durch die Kritik (Selbstkritik oder Kritik anderer Menschen) eine spezielle Beziehung zu sich selber oder zu anderen Menschen, und durch die Freiheit 24 25 26 27 138 Vgl. Taureck (Fn.11), S. 120; Osborne (Fn.11), S. 53. Unter Berücksichtigung seiner Solidarisierbarkeit, der zufolge alle Regierten sich verbinden können, werden das Recht der Regierten von Foucault weiter auf die internationale Ebene erhöht und eine internationale Staatsbürgerschaft unterstellt, „die ihre Rechte und Pflichten hat und dazu verpflichtet [ist], sich gegen jeden Machtmissbrauch zu erheben, gleichgültig wer der Urheber [ist] oder wer die Opfer sind“. Zitiert von Taureck, ebd. FL, S. 139. DW, S. 9; vgl. auch Didier Eribon, Michel Foucault. Eine Biographie, Frankfurt a.M. 1993, S. 477. Vgl. DW, S. 10-18. und die Pflicht eine spezielle Beziehung zum moralischen Gesetz.“28 Durch die genealogische Erforschung der Praxis der parrhesia seit der Antike möchte Foucault die Antwort darauf finden, wie die kritische Haltung im Westen entstanden ist, welche Problematisierungsphasen sie bisher durchlaufen hat, wie und warum bestimmte Dinge (Verhalten, Erscheinungen, Prozesse) in der Praxis der Kritik zum Problem wurden.29 II. Das Recht des Regierten Foucault hat auf diese Weise die kritische Tradition der abendländischen Gesellschaft mit seiner Machtanalytik (inklusive seiner Praxis der Freiheit) geschickt miteinander in Zusammenhang gebracht, und genau in diesem Zusammenhang hat er auch seine Konzeption des Rechts des Regierten erarbeitet. Demzufolge ist das Recht des Regierten nichts anderes als das Recht der parrhesia. Konkret bedeutet dies folgendes: In seinem negativen Sinne gilt das Recht des Regierten als die Berechtigung, Anfragen an die Regierung zu stellen – „im Namen des Wissens und der Erfahrung, die er als Staatsbürger besitzt“. Damit kann der Regierte fragen, „was der andere macht, fragen nach dem Sinn seines Handelns und nach den Entscheidungen, die dieser gefällt hat“. Dies ist für Foucault „das gute Recht, Fragen nach der Wahrheit zu stellen“.30 In seinem positiven Sinne ist das Recht des Regierten zugleich das Recht der Redefreiheit und der Kritik, die es gestatten alles auszusprechen, was in den bestehenden Macht- und Regierungsverhältnissen wirklich passiert und unerträglich ist. Dieses durch die parrhesia entstehende Recht des Regierten, das einerseits mit dem Verlangen nach Wahrheit, der Redefreiheit und der Kritik verbunden ist und andererseits dem Regierten nach einer neuen Subjektivität und einer anderen Lebensweise streben hilft, ist gleichermaßen die Fortsetzung und die Umschreibung des anarchistischen Kampfs des frühen Foucault. Als Foucault sich Anfang der 1970er Jahre mit dem GIP (Arbeitskreis zur Information über die Gefängnisse) beschäftigte, hat er in seinem Kampf gegen das sich immer dichter zusammenziehende Netz polizeilicher Überwachung schon eine bestimmte Form von parrhesia ausgerufen, obwohl diese ihm damals noch gar nicht 28 29 30 DW, S. 19. DW, S. 178. FL, S. 139. 139 bekannt war.31 In seinem ersten Heft, das im Mai 1971 mit dem auffallenden Titel Intolérable erschien, hat der GIP seine Motive und Ziele folgendermaßen geschildert: „Nur wenige Informationen dringen aus den Gefängnissen; sie sind eines der am besten versteckten Gebiete unseres Sozialsystems; sie ähneln einer Blackbox unseres Lebens. Wir haben das Recht auf Wissen, und wir wollen wissen. [...] Wir wollen wissen, was das Gefängnis ist: wer dort hineinkommt, wie und warum man dorthin kommt, was dort geschieht, wie die Gefangenen und auch wie die Aufseher leben, wie die Baulichkeiten beschaffen sind, wie es um das Essen, die Hygiene, die internen Regelungen, die ärztliche Versorgung und die Werkstätten bestellt ist, wie man dort wieder herauskommt und was es heißt, nach der Entlassung aus dem Gefängnis in unserer Gesellschaft zu leben.“32 „Es handelt sich nicht um eine soziologische Untersuchung. Vielmehr sollen Menschen zu Wort kommen, die Erfahrung mit dem Gefängnis haben. [...] Unsere Untersuchung soll nicht unser Wissen vermehren, sondern unsere Intoleranz stärken und zu einer aktiven Intoleranz machen. Werden wir intolerant gegenüber den Gefängnissen, der Justiz, dem Krankenhaussystem, der psychiatrischen Praxis, dem Militärdienst usw.“33 In der Transformation des Rechts auf Bescheidwissen zum Recht des Regierten, dem zugleich die Praxis der Freiheit und der parrhesia zugrunde liegen, hatte Foucault endlich die von ihm 1976 angekündigte Arbeit der Suche nach einem neuen Recht abgeschlossen. Mittels dieses neuen Rechts als das Recht des Regierten sollte nicht nur ein effektiverer Widerstand gegen einen verbreiteten Typ von Macht eingeführt werden. Auf die Basis dieses neuen Rechts des Regierten werden zugleich der von Foucault später kundgemachte Kampf für eine neue Subjektivität und der Versuch einer anderen Lebensweise gestellt. Alle bisherigen Darlegungen späterer Arbeit Foucaults, von der Praxis der Freiheit über die neue Art von Menschenrechten, das Recht des Regierten bis zur parrhesia, weisen darauf hin, dass Foucault in der letzten Phase seiner Arbeit nicht mehr bei seiner anarchistischen Anthropologie bleibt, sondern sich schon einer 31 32 33 140 Zum Beispiel hat sich Foucault im Zuge der Affäre Jaubert auf Artikel 15 berufen, der in der Menschenrechtserklärung von 1789 niedergelegt ist, um Rechenschaft über die Wahrheit von der Polizei zu verlangen. Artikel 15 lautet: „Die Gesellschaft hat das Recht, von jedem Inhaber eines öffentlichen Amtes Rechenschaft über seine Amtsführung zu verlangen.“ Vgl. DE II, S. 242, 246, 523. DE II, S. 212f.; vgl. auch Eribon (Fn.26), S. 318f. DE II, S. 213f. „postmodernen Utopie der Lebenskunst“ zuwendet, bzw. einer „Vision der Vielfältigkeit und Pluralität, die die »Ein-Heils-Imaginationen« der Moderne ablöst“.34 III. Appell zu moralischem Mut oder Garantie durch eine institutionelle Mindestbedingung Gleichwohl ist es keine einfache Aufgabe, diese postmoderne Utopie der Lebenskunst für alle Regierten allein mittels des Rechts des Regierten und ohne weitere institutionelle Unterstützung zu verwirklichen. Es ist ja nicht leicht, die Wahrheit zu sagen und von der Regierung die Wahrheit zu verlangen, insbesondere dann nicht, wenn man sich in einem tyrannischen oder totalitären Regime befindet. In einem solchen Extremfall ist der Gebrauch der parrhesia oder des Rechts des Regierten immer gleichbedeutend mit einem Spiel auf Leben und Tod. Die Praxis der parrhesia, wie Foucault sie uns gezeigt hat, ist deswegen immer mit Mut verbunden. In diesem Sinne kommt der Gebrauch der parrhesia allein demjenigen zu, der den Mut hat, das Risiko des Spiels der parrhesia einzugehen.35 Wenn der Gebrauch des Rechts des Regierten aber nur auf dem ethischen Mut des einzelnen basiert und nicht durch eine institutionelle Mindestbedingung unterstützt wird, ist der Kampf gegen die Machtmechanismen dann noch so effektiv fortzusetzen, wie sich Foucault das gedacht hat? Wird das Recht des Regierten am Ende nicht zu einer leeren Idee, die nichts anderes als ein schöner moralischer Appell ist? Aufgrund dieser praktischen Schwierigkeiten stellt sich die Frage, ob man dem Recht des Regierten mit Hilfe der Unterstützung durch eine institutionelle Mindestbedingung eine andere objektiv-rechtliche Geltung verleihen kann, damit der Gebrauch dieses Rechts nicht willkürlich durch die Regierung mit irgendeinem Verwaltungs- und Strafmittel ausgeschlossen werden kann. Nur wenn die Regierung überhaupt an das Recht des Regierten als das objektive Recht gebunden ist, besteht die Chance, dass das Recht des Regierten von einem moralischen Appell zu einem wirklichen Recht wird. 36 Diejenige institutionelle Mindestbedingung, 34 35 36 Markus Schroer, Ethos des Widerstands. Michel Foucaults postmoderne Utopie der Lebenskunst, in: Rolf Eickelpasch/Armin Nassehi (Hrsg.), Utopie und Moderne, Frankfurt a.M. 1996, S. 136, 160. Vgl. DW, S. 14f. Statt ein moralischer Appell ein wirkliches Recht zu sein, das ist das Bewusstsein des Verfassungsstaates, wie es Martin Kriele geschildert hat: „[…] dass men141 durch die erst die objektiv-rechtliche Geltung des Rechts des Regierten garantiert werden kann, ist das, was ich den Doppeldisziplinierungsmechanismus des Verfassungsstaates nennen möchte. Durch die Berufung auf diesen Doppeldisziplinierungsmechanismus wird die Diskussion über die positive Rolle des Verfassungsstaates im Kampf gegen die Übergriffe der Macht wieder angeregt. All dies wird im kommenden Kapitel weiter diskutiert. schenrechtliche Forderungen in der Wirklichkeit nichts erreichen können ohne eine institutionelle Mindestbedingung: die Gewaltenteilung“. Martin Kriele, Befreiung und politische Aufklärung. Plädoyer für die Würde des Menschen, Freiburg i.B. 1986, S. 45. 142 Kapitel 5 Doppeldisziplinierungsmechanismus des Verfassungsstaates A. Entstehung des Doppeldisziplinierungsmechanismus des Verfassungsstaates I. Eine andere Richtung der Disziplinierung – die Disziplinierung der Staatsmacht In seinem Urteil über die Disqualifizierung des Verfassungsstaates im Kampf gegen die Übergriffe der Macht hat Foucault nur die Hälfte der Wahrheit gesagt. Sicherlich hat er recht, wenn er meint, dass der Verfassungsstaat seit seiner Einrichtung am Ende des 18. Jahrhunderts mehr und mehr durch die Normalisierungsvorgänge kolonisiert worden ist. Dabei wird zum einen eine bestimmte Form von Wahrheit mit Unterstützung der Disziplinarmechanismen zum Muster und Prinzip der Freiheiten und Gesetze erklärt. Zum anderen werden die Menschen, die nun unter dem Regiment des Verfassungsstaates stehen, gezwungen, ihre Lebensführung an diesen durch den Macht-Wissen-Komplex manipulierten Freiheiten und Gesetzen auszurichten. Dies, was man als die Disziplinierung des Staatsbürgers bezeichnen kann, ist nach Foucault genau der heikle Punkt, dem der heutige Verfassungsstaat und die gesamte Rechtsgesellschaft sich nicht entziehen können. Nichtsdestotrotz ist zu fragen, ob der Verfassungsstaat allein deswegen im Kampf gegen die Macht disqualifiziert werden muss. Während Foucault die Kolonisierung des Verfassungsstaates stets von der Seite der Disziplinierung des Staatsbürgers her betrachtet, scheint es seiner Aufmerksamkeit entgangen zu sein, dass es in der Praxis des Verfassungsstaates noch einen anderen Disziplinierungsprozess gibt. Dieser von Foucault nicht ernst genommene Disziplinierungsprozess ist die Disziplinierung der Staatsmacht. Als die Disziplinierung der Staatsmacht auch mit Hilfe der Machttechnologie der Disziplin in Gang gesetzt wurde, trat sie sofort in eine Spannungsbeziehung zur Disziplinierung des Staatsbürgers. Trotzdem wird die Disziplinierung der Staatsmacht nicht um der Ausschaltung der Disziplinierung des Staatsbürgers willen eingesetzt. Sie fordert nur, dass die Disziplinierung des Staatsbürgers auf eine angemessene Weise vorgenommen werden muss. Man kann diese, durch die Disziplinierung 143 der Staatsmacht entstehende, Begrenzung der Disziplinierung des Staatsbürgers somit als die Disziplinierung der Disziplinierung bezeichnen. Durch die Disziplinierung der Disziplinierung lässt sich der Verfassungsstaat schließlich nicht nur zu einer institutionellen Garantie für die kritische Praxis der Freiheit, sondern auch zu einem Doppeldisziplinierungsmechanismus entwickeln, in dem Staatsbürger und Staatsmacht gleichermaßen zu disziplinieren sind. II. Das Spannungs- und Koordinierungsverhältnis zwischen der Disziplinierung des Staatsbürgers und der Disziplinierung der Staatsmacht Innerhalb des Doppeldisziplinierungsmechanismus des Verfassungsstaates gibt es einerseits das Spannungsverhältnis zwischen der Disziplinierung der Staatsmacht und der Disziplinierung des Staatsbürgers. Andererseits gibt es aber auch ein Koordinierungsverhältnis zwischen beiden Polen. Dabei steht die Disziplinierung der Staatsmacht nicht mehr der Disziplinierung des Staatsbürgers entgegen. Umgekehrt gewährleistet die Disziplinierung der Staatsmacht in einem bestimmten Fall sogar die Disziplinierung des Staatsbürgers. Wie bereits erwähnt, ist die Disziplinierung der Staatsmacht im Verfassungsstaat nicht gänzlich auf die Ausschließung der Disziplinierung des Staatsbürgers ausgerichtet, sondern auf ihre Begrenzung und Mäßigung. Bis zu einem gewissen Grade bedarf es der Disziplinierung des Staatsbürgers, damit das Zusammenleben der Menschen sich in einer Gesellschaft reibungslos entwickeln kann. Die Verankerung einer Reihe rechtlicher Bürgertugenden (etwa die Rechtskonformität und die Rechtstreue) durch den normalisierenden Rechtsdiskurs und das koordinierende System von Polizei/Strafjustiz/Gefängnis liefert hierfür ein schönes Beispiel.1 Die Verankerung dieser Rechtsdisziplinen im Bewusstsein des Bürgers stellt eine Reihe von Anforderungen an die Rechtssicherheit wie die Eindeutigkeit, die Beständigkeit und die effektive Durchsetzbarkeit des Gesetzes.2 Erst wenn das Gesetz eindeutig 1 2 144 Für die einschlägige Diskussion darüber siehe Kapitel 2, D. III der vorliegenden Arbeit. Die Rechtssicherheit wird in der heutigen Literatur des öffentlichen Rechts als ein wesentliches Element des Rechtsstaatsprinzips angesehen. Vgl. Eberhard Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschlands, Bd. 1, Grundlagen von Staat und Verfassung, 2. Aufl., Heidelberg 1995, §24, Rn. 81. Zum Begriff vorgeschrieben, stabil aufrechterhalten und notfalls mit Zwang durchgesetzt wird, kann der Bürger vorab nach dem, was das Gesetz von ihm erwartet, über seine Privatangelegenheiten disponieren. Genau auf diese Weise – durch die Schaffung von Rechtssicherheit – werden die Rechtskonformität und die Rechtstreue allmählich im Bewusstsein der Bevölkerung verwurzelt. Die Eindeutigkeit, die Beständigkeit und die effektive Durchsetzbarkeit des Gesetzes sind aber nicht immer gegeben. In Wirklichkeit wird das Gesetz von den Regierenden immer wieder willkürlich interpretiert, geändert oder sogar missachtet. Die größtmögliche Sicherheit und Berechenbarkeit der Rechtsordnung ist letztlich nur durch die institutionelle Mindestbedingung des Verfassungsstaates mit seiner Disziplinierung der Disziplinierung zu gewährleisten. Wenn es stimmt, dass die Ausbildung der Rechtsdisziplinen nicht nur den normalisierenden Rechtsdiskurs und das durch ihn hergestellte Delinquentenmilieu, sondern auch eine Reihe von Anforderungen an die Rechtssicherheit voraussetzt, die nur durch die Disziplinierung der Staatsmacht gewährleistet sind, dann zeigt sich, dass die Disziplinierung der Staatsmacht dank der Vermittlung der Rechtssicherheit nicht immer der Disziplinierung des Staatsbürgers entgegen steht. Bis zu einem gewissen Grade bedarf die Disziplinierung des Staatsbürgers auch der Unterstützung durch die Disziplinierung der Staatsmacht, damit einige Rechtsdisziplinen im Rechtsbewusstsein des Bürgers verwurzelt werden. Genau in diesem Zusammenhang lässt sich sehen, dass im Doppeldisziplinierungsmechanismus des Verfassungsstaates zugleich das Spannungs- und Koordinierungsverhältnis zwischen der Disziplinierung des Staatsbürgers und der Disziplinierung der Staatsmacht herrscht. Alles zusammen genommen kann der Verfassungsstaat in Foucaults Augen zwar seinem Schicksal der Kolonisierung durch die Disziplinierungs- und Normalisierungsvorgänge nicht entgehen. Auf eine nicht vorgesehene Weise – mit Hilfe der Machttechnologie der Disziplin – hat er aber dennoch den Doppeldisziplinarmechanismus entwickelt, um die Disziplinierung des Staatsbürgers umgekehrt zu überwachen und zu disziplinieren. Genau bei dieser Gestaltung des Doppeldisziplinierungsmechanismus erlebt der Verfassungsstaat einen Prozess dessen, was Foucault der Rechtssicherheit siehe außerdem Winfried Brugger, Liberalismus, Pluralismus, Kommunitarismus. Studien zur Legitimation des Grundgesetzes, Baden-Baden 1999, S. 45f.; Reinhold Zippelius, Rechtsphilosophie, 3. Aufl., München 1994, S. 161ff. 145 als die strategische Wiederauffüllung des Dispositivs bezeichnet. Wie wird diese von Foucault vernachlässigte Disziplinierung der Staatsmacht im Rahmen des Verfassungsstaates durch die Machttechnologie der Disziplin in Gang gesetzt, die ebenfalls der Disziplinierung des Bürgers zugrunde liegt? Diese Frage bildet der Schlüssel zur Rekonstruktion des Verfassungsstaates und wird im kommenden Abschnitt weiter diskutiert. B. Zur Anwendung der Disziplinarinstrumente auf die Überwachung der Staatsmacht I. Die Freisetzung der Disziplinarinstrumente der Macht Von der Disziplinierung der Staatsmacht wird in der einschlägigen öffentlich-rechtlichen Diskussion über den Verfassungsstaat häufig gesprochen.3 Dabei meint die Disziplinierung der Staatsmacht nichts anderes als die Begrenzung und Kontrolle staatlicher Herrschaft. Das Verblüffende ist, dass alle im heutigen Verfassungsstaat verankerten rechtstaatlichen Maßnahmen zur Kontrolle und Beherrschung der Staatsmacht – von den formellen Rechtsstaatsmaßnahmen wie der Gewaltenteilung, der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und der Unabhängigkeit der Gerichte bis zu den materiellen Rechtsstaatsregelungen wie der Bindung aller Staatsgewalt an die Verfassung und die Grundrechte und der Verfassungsgerichtsbarkeit zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit staatlichen Handelns4 – unter dem Aspekt der Machttechnologie der Disziplin neu betrachtet werden können. Diese ist diesmal nicht auf den Staatsbürger, sondern auf die Staatsmacht gerichtet. Wie im Vorhergehenden schon festgestellt wurde, wurde die Machttechnologie der Disziplin ab dem 17. Jahrhundert in den unterschiedlichen geschlossenen Institutionen angewendet, damit die Nützlichkeit der individuellen Kräfte erhöht und diese zugleich politisch fügsam gemacht 3 4 146 Vgl. Werner Weber, Spannungen und Kräfte im westlichen Verfassungssystem, 3. Aufl., Berlin 1975, S. 164f.; Stefan Korioth, „Monarchisches Prinzip“ und Gewaltenteilung – unvereinbar? Zur Wirkungsgeschichte der Gewaltenteilungslehre Montesquieus im deutschen Frühkonstitutionalismus, in: Der Staat, 37 (1998), S. 45; Hans Herbert v. Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, München 1984, S. 381. Vgl. Schmidt-Aßmann (Fn.2), Rn. 18f.; Christoph Degenhart, Staatsrecht I. Staatsorganisationsrecht, 17. Aufl., Heidelberg 2001, Rn. 233-238; Reinhold Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 12. Aufl., München 1994, S. 287f. werden konnte. Dieser spezifische Machttechnologie bedient sich nach Foucault dreier miteinander koordinierter und auf den Körper ausgerichteter Instrumente, nämlich der hierarchischen Überwachung, der normierenden Sanktion und der individualisierenden Prüfung. Obwohl alle diese Disziplinarinstrumente der Macht auf den Körper abstellen, so sind sie darum doch nicht allein auf ihn bezogen. Eigentlich sind die Disziplinarinstrumente der Macht bereits zu einer Art gemeinsamer Sprache und Kommunikation zwischen allen Arten von Apparaten und Institutionen geworden, die einer effektiven Form der Kontrolle dringend bedürfen.5 Als der effektive Mechanismus zur Homogenisierung, Normalisierung und Disziplinierung sind die Disziplinarinstrumente der Macht daher zu jeder Zeit auf jeden Bereich und Gegenstand anzuwenden. Nicht nur im Bereich der Wissenschaft zeigt sich nach Foucault, dass sich ab dem 18. Jahrhundert „eine andere Form der Disziplinierung“ entwickelte, die nicht mehr nur den Körper, sondern auch das Wissen anging.6 Wie im Vorhergehenden erwähnt, gestaltet sich in der Praxis des Verfassungsstaates auch eine andere Form der Disziplinierung, die statt auf die Disziplinierung des Staatsbürgers auf die Disziplinierung der Staatsmacht gerichtet ist. Erst durch diese, sich ebenfalls auf die Disziplinarinstrumente der Macht berufende, Disziplinierung der Staatsmacht wird die Grundlage der diversen rechtsstaatlichen Maßnahmen zur Kontrolle und 5 6 Vgl. François Ewald, Eine Macht ohne Draußen, in: François Ewald/Bernhard Waldenfels (Hrsg.), Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken, Frankfurt a.M. 1991, S. 164f.; ders., Norms, Discipline, and the Law, in: Robert Post (Hrsg.), Law and the Order of Culture, Berkeley u.a. 1991, S. 140ff.; Ulrich Bröckling, Totale Mobilmachung. Menschenführung im Qualitäts- und Selbstmanagement, in: Ders./Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hrsg.), Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt a.M. 2000, S. 145ff. Dazu sagt Foucault: „Das 18. Jahrhundert war das Jahrhundert der Disziplinierung der Wissen, d.h. der internen Organisation jedes Wissens als einer Disziplin, die in ihrem eigenen Feld zugleich Auswahlkriterien hat, um das falsche Wissen, das Nicht-Wissen, Formen der Normalisierung und Homogenisierung der Inhalte, Formen der Hierarchisierung und schließlich eine interne Organisation der Zentralisierung dieser Wissen rund um eine Art faktischer Axiomatisierung fernzuhalten.“ Genau dadurch ist eine Form von effektiver Kontrolle entstanden, die nicht nur die Ebenen, Qualität und Quantität des Wissens, sondern auch „die Regelmäßigkeit der Äußerungen“ festlegt, die vor allem auf die folgenden Fragen bezogen ist, nämlich „wer gesprochen hat, ob er qualifiziert war zu sprechen, auf welcher Ebene sich diese Aussage ansiedelt, in welche Gesamtheit sie sich einfügen lässt, worin und in welchem Maße sie mit anderen Formen und anderen Typologien des Wissens konform ist“. VG, S. 211, 213f. 147 Beherrschung der Staatsmacht gelegt. II. Die optische Disziplinararchitektur des Verfassungsstaates 1. Die hierarchische Überwachung des Rechtsstufenbaus Die Disziplinierung der Staatsmacht beginnt mit dem Aufbau einer auf die Transparenz der Staatsmacht abzielenden optischen Disziplinararchitektur, in der jede Einzelheit staatlichen Handelns ihren fest zugewiesenen Platz erhält und daher gezwungen ist, sich den hierarchischen, überkreuzten Überwachungen zu unterwerfen. In dieser optischen Disziplinararchitektur des Verfassungsstaates wird die Transparenz der Staatsmacht zunächst durch den Prozess der Verrechtlichung geschaffen. Demnach werden die Vielzahl und Vielfalt der Staatsmacht sowohl horizontal nach ihrer Funktionalität – im Sinne der Gewaltenteilung – als auch vertikal nach dem Grad ihrer Konkretisierung zu verschiedenartigen Rechtsnormen umgeschrieben und klassifiziert. Daraus ergeben sich unterschiedlichen Staatsorganen zugeordnete Rechtsnormen wie die der gesetzgebenden Gewalt eigenen Gesetze, die der vollziehenden Gewalt eigenen Verordnungen, Satzungen und Verwaltungsakte sowie die der rechtsprechenden Gewalt eigenen Urteile.7 Diese Rechtsnormen werden im Verfassungsstaat in einer an die Verfassung gebundenen Über- und Unterordnung vom Generellen zum Individuum bzw. vom Abstrakten zum Konkreten auf einer hierarchischen und rangmäßigen Weise weiter eingestuft. Dies führt schließlich zur Entstehung einer räumlich-hierarchischen Rangfolge der Rechtsnormen, welche sich von der höchstrangigen Verfassung über generelle Gesetze und Rechtsverordnungen bis zu einzelnen Verwaltungsakten und Gerichtsurteilen entfaltet.8 Die räumlich-hierarchische Rangfolge der Rechtsnormen ist das, was Hans Kelsen als den „Stufenbau der Rechtsordnung“ bezeichnet.9 7 8 9 148 Vgl. Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Wien 2000, S. 236, 242; Dirk Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen. Elemente einer Theorie der autoritativen Normgeltungsbeendigung, Tübingen 1997, S. 146-148; Theodor Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, Berlin 1994, S. 91ff. Diese hierarchische Struktur der Rechtsnormen kann aber auch von „der Intensität der demokratischen Legitimation“ her betrachtet werden. Für die detaillierte Diskussion siehe Heckmann, aaO, S. 146-148. Vgl. Kelsen (Fn.7), S. 228ff. Was in dieser hierarchischen Rangbestimmung der Rechtsnormen zu sichern ist, ist nach Görg Haverkate nicht nur die Einheitlich- Es liegt auf der Hand, dass diese Konzeption des Stufenbaus der Rechtsordnung bei Kelsen durchweg raumorientiert ist. Er selbst meint dazu folgendes: „Die Beziehung zwischen der die Erzeugung einer anderen Norm regelnden und der bestimmungsgemäß erzeugten Norm kann in dem räumlichen Bild der Über- und Unterordnung dargestellt werden. Die die Erzeugung regelnde ist die höhere, die bestimmungsgemäß erzeugte ist die niedere Norm. Die Rechtsordnung ist nicht ein System von gleichgeordneten, nebeneinanderstehenden Rechtsnormen, sondern ein Stufenbau verschiedener Schichten von Rechtsnormen.“ 10 Bei Kelsen wird dieser räumlich-hierarchische Stufenbau der Rechtsordnung vor allem als Erklärung für die Frage nach dem Geltungsgrund einer Rechtsnorm angesehen.11 Demnach wird der Geltungsgrund einer niederrangigen Rechtsnorm durch eine höherrangige Rechtsnorm gewährleistet. Damit ist einerseits gemeint, dass niederrangige Rechtsnormen ihren Entstehungsgrund in höherrangigen Rechtsnormen finden können. Umgekehrt haben höherrangige Rechtsnormen auch die Kraft, auf Bestand und Inhalt niederrangiger Rechtsnormen einzuwirken und diese gegebenenfalls aufzuheben.12 Aus dem Blickwinkel der Machttechnologie der Disziplin lässt sich dieser räumlich-hierarchische Stufenbau der Rechtsordnung auch als eine optische Disziplinararchitektur betrachten, in der die Staatsmacht dank des Prozesses der Verrechtlichung und der entsprechenden rangmäßigen 10 11 12 keit des Rechts im Raum, sondern auch die Einheitlichkeit des Rechts in der Zeit. Haverkate, Materiale und formale Hierarchien im Recht. Anmerkungen zum Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem mitgliedstaatlichen Recht, in: Hans-Joachim Cremer/Thomas Giegerich/Dagmar Richter/Andreas Zimmermann (Hrsg.), Tradition und Weltoffenheit des Rechts. Festschrift für Helmut Steinberger, Berlin u.a. 2002, S. 1178f. Kelsen, aaO, S. 228. Diesbezüglich meint Karl Engisch, dass diese im Stufenbau der Rechtsordnung eingestuften verschiedenen Schichten von Rechtsnormen bildlich als „Stockwerke in einem festgefügten, in sich geschlossenen Rechtsgebäude“ zu betrachten sind und „also sozusagen in einer neuen Dimension – uns zwar einer Höhen- und Tiefendimension – aufeinander bezogen werden“. Karl Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, Heidelberg 1935, S. 10. Außerdem ist Engisch der Meinung, dass die Stufentheorie des Rechts zunächst auf Ernst Rudolf Bierling zurückging und dann in der österreichischen Schule so eifrige Pflege fand. AaO, S. 9. Kelsen, aaO, S. 196. Daraus ergeben sich nach Dirk Heckmann zwei Aspekte der Hierarchie, nämlich der Stufenbau nach der rechtlichen Bedingtheit (Hierarchie als Delegation) und der Stufenbau nach der derogatorischen Kraft (Hierarchie als Derogation). Heckmann (Fn.7), S. 145f. 149 Einstufung zu einem zu beobachtenden Gegenstand der hierarchischen Überwachung wird. Mit Unterstützung dieser optischen Disziplinararchitektur des Verfassungsstaates wird ein lückenloses Überwachungsnetz hergestellt, in dem jeder einzelne Strang der Staatsmacht verfolgt und hierarchisch kontrolliert wird. Erst aus dieser Perspektive lässt sich die sogenannte „hierarchische Bindung des Rechts“ verstehen, die schon im Grundgesetz zum zentralen Baustein der rechtsstaatlichen Kontrolle der Staatsmacht geworden ist.13 2. Die normierende Sanktion der Nichtigkeit Im Stufenbau der Rechtsordnung wird jeder Einsatz der Staatsmacht zunächst nach der Funktionalität und dem Grad der Konkretisierung mit Rechtsnormen unterschiedlicher Ränge umschrieben und dann hierarchisch überwacht. Der Verstoß einer niederrangigen Rechtsnorm gegen eine höherrangige Rechtsnorm, welche sich auf die formellen Anforderungen an die Rechtsentstehung (Zuständigkeit, Form, Verfahren) oder auf den materiellen Inhalt beziehen kann, wird eine Sanktion nach sich ziehen, das heißt: Rechtsnormen, die gegen ein höherrangiges Recht verstoßen, sollen nicht gelten.14 Die Sanktion der Nichtigkeit für eine rechtswidrige Rechtsnorm – im Sinne des Verstoßes gegen eine höherrangige Rechtsnorm – ist sozusagen die korrigierende und normierende Strafe für den unrechtmäßigen Einsatz der Staatsmacht, damit die Vielfalt der Staatsmacht und die ihr entsprechenden Rechtsnormen im Stufenbau der Rechtsordnung auf den Gel- 13 14 150 Vgl. Helmuth Schulze-Fielitz, Rechtsstaat, in: Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, Bd. 2. Artikel 20-82, Tübingen 1998, S. 163. Heckmann (Fn.7), S. 49, 148. Nach Kelsen sollte die für rechtswidrig erklärte Rechtsnorm in der Rechtsordnung vernichtbar sein . Sie wird darum entweder nur mit Wirkung für die Zukunft aufgehoben, so dass die unter ihr bereits entstandenen Rechtswirkungen unberührt bleiben, oder mit rückwirkender Kraft für die Vergangenheit aufgehoben, so dass alle unter ihr entstandenen Rechtswirkungen rückgängig gemacht werden. Kelsen (Fn.7), S. 280. Es ist jedoch zu bemerken, dass ein Gesetz in der Dogmatik und Praxis bei seiner Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz nicht bloß als vernichtbar gilt, sondern grundsätzlich von Anfang an (ex tunc) und ohne weiteren gestaltenden Akt (ipso iure) als unwirksam (nichtig). Dieses verfassungswidrige Gesetz wird darum von der vollziehenden Gewalt und der Rechtssprechung nicht mehr angewendet. Vgl. Schulze-Fielitz (Fn.13), S. 164f.; Klaus Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht. Stellung, Verfahren, Entscheidungen, 4. Aufl., München 1997, Rn 343-350. tungsbefehl der Verfassung zurückzugeführt werden können.15 Demzufolge werden nicht nur die Rechtsstaatsprinzipien wie der Vorrang der Verfassung und die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (inklusive des Vorrangs und Vorbehaltes des Gesetzes), sondern auch die besonders auf den Wert der Grundrechte ausgerichtete Einheit und Homogenität der Rechtsordnung zur Sprache gebracht.16 Zu bemerken ist fernerhin, dass die Überwachung und Kontrolle der Staatsmacht, die in der optischen Disziplinararchitektur des Verfassungsstaates stattfindet, nicht allein im allgemeinen Staat-Bürger-Verhältnis gilt. Sie sollte darüber hinaus auch in den sogenannten besonderen Gewaltverhältnissen (etwa in den Verhältnissen des Beamten, des Soldaten, des Schülers einer öffentlichen Schule sowie demjenigen des Strafgefangenen) gelten, die eine engere Beziehung des einzelnen zum Staat begründen und dem einzelnen eine Reihe von besonderen, über die allgemeinen Rechte und Pflichten des Staatsbürgers hinausgehenden Pflichten auferlegen.17 Demnach steht der Einsatz der Staatsmacht in diesen besonderen Gewaltverhältnissen nicht mehr in einem rechtsfreien Raum, in dem der einzelne als Gewaltunterworfener keine Grundrechte besitzt oder zumindest in deren Ausübung grundsätzlich und weitgehend beschränkt ist und der der gerichtlichen Kontrolle nicht unterliegt. In der optischen Disziplinararchitektur des Verfassungsstaates werden all die besonderen Gewaltverhältnisse und die darin stattfindenden staatlichen Maßnahmen ausnahmslos auch verrechlicht und hierarchisch überwacht. Dies führt schließlich dazu, dass die Grundrechte und der Gesetzvorbehalt auch für die besonderen Gewaltverhältnisse gültig sein sollten.18 15 16 17 18 Vgl. Heckmann (Fn.7), S. 148. Vgl. Engisch (Fn.10), S. 11; Zippelius (Fn.2), S. 195; Klaus F. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, Köln u.a. 1994, S. 458. Zur Problematik der besonderen Gewaltverhältnisse, die heute eher als Sonderstatusverhältnisse oder verwaltungsrechtliche Sonderbeziehungen bezeichnet werden, siehe etwa Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl., Heidelberg 1999, Rn. 321-327; Jörn Ipsen, Allgemeines Verwaltungsrecht, 2. Aufl., Köln u.a. 2001, Rn. 75, 192-194.; Hans-Uwe Erichsen (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 11. Aufl., Berlin u.a. 1998, §4, 20; §9, 17f.; Christoph Degenhart, Staatsrecht I. Staatsorganisationsrecht, 18. Aufl., Heidelberg 2002, Rn. 343f. Vgl. Michael Stolleis, Verwaltungsrechtswissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland, in: Dieter Simon (Hrsg.), Rechtswissenschaft in der Bonner Republik. Studien zur Wissenschaftsgeschichte der Jurisprudenz, Frankfurt a.M. 1994, S. 242. 151 3. Die gerichtliche Prüfung Ob eine niederrangige Rechtsnorm sich innerhalb des durch eine höherrangige Rechtsnorm ermächtigten Gestaltungsraums gestaltet und darum die formelle und materielle Rechtmäßigkeit erhält19, wird in der optischen Disziplinarstruktur des Verfassungsstaates vor allem durch bestimmte gerichtliche Prüfungsverfahren (besonders durch die Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit und durch ein entsprechendes Rechtsmittelsystem wie Berufung, Revision und Beschwerde) nach den sich in der Dogmatik und Praxis entwickelnden Prüfungsmethoden20 und Interpretationsmethoden21 stufenweise nachgeprüft. Eigentlich spielt die gerichtliche Prüfung im ganzen Mechanismus der Disziplinierung der Staatsmacht nicht nur die Rolle des Kontrolleurs, der die Rechtmäßigkeit der Staatsmacht überprüft und demnach die entsprechende normierende Sanktion der Nichtigkeit beschließt. Die gerichtliche Prüfung bildet zugleich die Schlüsseltechnik zur Konstituierung eines Objektivierungsmechanismus, durch den die Staatsmacht sowohl in ein Feld der Überwachung als auch in ein Netz der Registrierung hinein gezwungen wird. Hinsichtlich der in den Prüfungsverfahren vorgeführten Einzelheiten der Staatsmacht wird nicht nur im Einzelfall nachgeprüft, ob sie dem durch eine höherrangige Rechtsnorm ermächtigten Gestaltungsraum entsprechen. Die anschließenden Prüfungsergebnisse äußern sich schließlich auch in Form des Urteils, in dem alle in den Prüfungsverfahren dargelegten Argumentationen fixiert und dokumentiert werden. Durch 19 20 21 152 Diese Frage wird bei Kelsen als „Konflikt zwischen Normen verschiedener Stufen“ behandelt. Vgl. Kelsen (Fn.7), S. 271ff. Dabei geht es zum Beispiel um die die Freiheitsgrundrechte schützende Drei-Schritt-Prüfung, die sich in vier Schritten vollziehende Übermaßverbotsprüfung und die Schritte rechtlicher Prüfung von Verwaltungsakten. Vgl. Pieroth/Schlink, Grundrechte. Staatsrechte II, 17. Aufl., Heidelberg 2001, Rn. 195ff.; Jörn Ipsen, Staaterecht II (Grundrechte), 4. Aufl., Neuwied u.a. 2001, Rn. 105ff.; ders. (Fn.17), Rn. 612ff. Hierbei handelt es sich besonders um die sich im Anschluss an Friedrich Carl von Savigny entwickelnden klassischen Auslegungskanons im Sinne von der grammatischen, systematischen, historischen und teleologischen Auslegung. Vgl. Brugger (Fn.2), S. 62; Peter Raisch, Juristische Methoden. Vom antiken Rom bis zur Gegenwart, Heidelberg 1995, S. 104f., 138ff.; Ulrich Schroth, Philosophie und juristische Hermeneutik, in: Arthur Kaufmann/Winfried Hassemer (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 6. Aufl., Heidelberg 1994, S. 356f.; Reinhold Zippelius, Einführung in das juristische Denken, 9. Aufl., München 1971, S. 57; Peter Kohler, Theorie des Rechts. Eine Einführung, 2. Aufl., Wien u.a. 1997, S. 212ff. diese sich im Einzelfall konstituierende Dokumentierung der Rechtmäßigkeit bzw. Rechtswidrigkeit der Staatsmacht wird ein lückenlos überwachendes Speichersystem ermöglicht, in dem alles aufgezeichnet wird, was der Staat tun bzw. nicht tun darf.22 Die Gesamtheit der Staatstätigkeit, die stets die Möglichkeit enthält, auf das Handeln anderer einzuwirken, reduziert sich jedoch nicht auf eine Art substanzieller Universalie des Staates. Sie erwächst aus dem Zusammenwirken von Akten und Entscheidungen bestimmter Personen, denen die Amtsautorität und Vollmacht verliehen wurde, im Namen der staatlichen Allgemeinheit zu handeln. 23 Wenn die gerichtliche Prüfung die rechtlichen Grenzen für den Einsatz der Staatsmacht aufrechterhält und die Ergebnisse dessen, was der Staat – oder genauer gesagt, der Amtsverwalter (etwa als Abgeordneter, Kanzler, Minister, Polizist, Richter oder Gerichtsvollzieher) – rechtlich tun bzw. nicht tun darf, im kontinuierlich überwachenden Speichersystem registriert, dann wird zugleich ein Ethos des Amtes eingerichtet, dem zufolge jeder Träger von Staatsgewalt bei seiner Wahrnehmung staatlicher Aufgaben statt der stets auf Privatinteressen gerichteten Herrschaft von Menschen ausschließlich der Herrschaft des Rechts folgen soll, die immer den uneigennützigen Dienst für die Sache der Allgemeinheit fordert. Dies, was man nach Josef Isensee schließlich auf „das Ethos des Gemeinwohls“ und auf die Inschrift des „Obliti privatorum/curate publica“ (Frei übersetzt nach Isensee: „Lasst Eure Privatinteressen draußen zurück, verdeckt sie mit dem Schleier des Nichtwissens, sorgt ausschließ22 23 In diesen lückenlos überwachenden Speichersystemen spielen die sogenannten Präjudizien eine entscheidende Rolle, weil die in ihnen festgelegten Argumentationen genau die Art und Weise darstellen, wie ein bestimmter Einsatz der Staatsmacht rechtswidrig vorgenommen wird. In der Praxis des Fallrechts von England und den USA wird die Präjudizeinbindung (die sogenannte Stare-Decisis-Doktrin) traditionell anerkannt, aber in Deutschland kennt das geltende Recht nur die unmittelbare Bindung des Verfassungsorgans des Bundes und der Länder an die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Raisch, aaO, S. 190. Vgl. auch Martin Kriele, Recht und praktische Vernunft, Göttingen 1979, 91ff.; Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, Frankfurt a.M. 1994, S. 504ff.; Georg Seyfarth, Die Änderung der Rechtsprechung durch das Bundesverfassungsgericht, Berlin 1998, S. 27ff. Vgl. Josef Isensee, Das Amt als Medium des Gemeinwohls in der freiheitlichen Demokratie, in: Gunnar Folke Schnuppert/Friedhelm Neidhardt (Hrsg.), Gemeinwohl – Auf der Suche nach Substanz, Berlin 2002, S. 248; Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre, 5 Aufl., Opladen 1994, S. 22f.; Böckenförde, Recht, Staat und Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt a.M. 1991, S. 219. 153 lich für das öffentliche Wohl!“) zurückführen kann24, gilt als eine andere disziplinierende Forderung, die im Verfahren der Disziplinierung der Staatsmacht auf jeden amtlichen Träger von Staatsgewalt bezogen ist und ihm eine Reihe dienstlicher Pflichten zur Wahrnehmung staatlicher Aufgaben auferlegt. C. Die Rolle der überprüfenden Verfassungsgerichtsbarkeit im Doppeldisziplinierungsmechanismus des Verfassungsstaates I. Die Einrichtung der Verfassungsgerichtsbarkeit und das hermeneutische Problem der Verfassungsauslegung Im Vorhergehenden wurde schon wiederholt auf die Eigentümlichkeit eines anderen, in der Praxis des Verfassungsstaates stattfindenden Disziplinierungsprozesses hingewiesen: die Staatsmacht durch die ebenfalls auf den Disziplinarinstrumenten beruhende optische Disziplinararchitektur zu kontrollieren. Realistisch betrachtet wurden diese optische Disziplinararchitektur des Verfassungsstaates und das dadurch eingerichtete Überwachungsnetz zur Kontrolle der Staatsmacht aber erst mit Hilfe der sich in der Praxis des amerikanischen Supreme Court entwickelnden Verfassungsgerichtsbarkeit zur Geltung gebracht.25 In der optischen Disziplinararchitektur des Verfassungsstaates wird die Verfassungsgerichtsbarkeit als Kontrolleur tätig. Sie verfügt über eine überwachende, normierende und bestrafende Instanz, welche die Letztentscheidungsbefugnis behält, gegen die höchstrangige Rechtsnorm der Verfassung verstoßende Gesetze bzw. Rechtsverordnungen als nichtig zu verwerfen. Sie ist also die entscheidende Technik zur Disziplinierung der Staatsmacht. Die Verfassungsgerichtsbarkeit wurde im berühmten Fall Marbury v. Madison von 1803 eingerichtet.26 Das Urteil dieses Falls wurde vom 24 25 26 154 Isensee, aaO, S. 248f.; vgl. auch ders., Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III, 2. Aufl., Heidelberg 1996, §57, Rn. 64ff. In den USA wird die gerichtliche Überprüfung von Akten staatlicher Gewalten anhand der Verfassung als judicial review bezeichnet. Winfried Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika, Tübingen 1987, S. 1. Obwohl die Quellen der Verfassungsgerichtsbarkeit im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation gesucht werden könnten, gibt es eine Verfassungsgerichtsbarkeit im modernen Sinne seinerzeit noch nicht. Gerd Roellecke, Aufgaben Chief Justice John Marshall geschrieben, und die einschlägigen Argumente lauten wie folgt: „Certainly all those who have framed written constitutions contemplate them as forming the fundamental and paramount law of the nation, and consequently the theory of every such government must be, that an act of the legislature repugnant to the constitution is void. This theory is essentially attached to a written constitution, and is consequently to be considered by this court as one of the fundamental principles of our society. […] It is emphatically the province and duty of the judicial department to say what the law is. Those who apply the rule to particular cases, must of necessary expound and interpret that rule. If two laws conflict with each other, the courts must decide on the operation of each. So if a law be in opposition to the constitution: if both the law and the constitution apply to a particular case, so that the court must either decide that case conformably to the law, disregarding the constitution; or conformably to the constitution, disregarding the law: the court must determine which of these conflicting rules governs the case. This is of the very essence of judicial duty. If then the courts are to regard the constitution; and the constitution is superior to any ordinary act of the legislature; the constitution, and not such ordinary act, must govern the case to which they both apply.“27 In diesen Argumenten wird nicht nur der Vorrang der Verfassung, sondern auch das Privileg der Gerichte bekräftigt, über die Normenkontrolle zu verfügen, um ein Gesetz als Verfassungswidrigkeit zu verwerfen und dieses in einem konkreten Fall nicht anzuwenden.28 Dabei ist indessen zu bedenken, dass die Normenkontrolle der Verfassungsgerichtsbarkeit von der Interpretation des Richters abhängig ist, obwohl sie an die Verfassung als Prüfungsmaßstab gebunden ist. Dies hat schon Justice 27 28 und Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Verfassungsgefüge, in: Josef Isenss/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 2. Aufl., Heidelberg 1998, §53, Rn. 11-13. Vgl. auch Helmut Simon, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Ernst Benda/ Werner Maihofer/Hans-Jochen Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Teil 2, Berlin 1984, S. 1258; Schlaich (Fn.14), Rn. 105. Marbury v. Madison, 5 U.S. 137, 177f. (1803). Für die einschlägige Diskussion dazu siehe Brugger (Fn.25), S. 5-9; auch ders., Einführung in das öffentliche Recht der USA, München 1993, S. 7-10. Es gibt unterschiedliche Varianten der Verfassungsgerichtsbarkeit. Für die Einzelheiten hierzu siehe Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Nation, Europa. Studien zur Staatslehre, Verfassungstheorie und Rechtsphilosophie, Frankfurt a.M. 1999, S. 170-176; Schlaich (Fn.14), Rn. 103-114. 155 Charles E. Hughes 1907 in einem kurzen und bündigen Satz unterstrichen: „We are under a Constitution, but the constitution is what the judges say it is.“29 Ähnlich äußert sich auch Rudolf Smend im Festvortrag zur Feier des zehnjährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts am 26. Januar 1962: „Das Grundgesetz gilt nunmehr praktisch so, wie das Bundesverfassungsgericht es auslegt, und die Literatur kommentiert es in diesem Sinne.“30 Außerdem lehrt uns Hans-Georg Gadamer, wie sehr das Vorverständnis das Verstehen eines Textes beeinflussen kann. Wer einen Text versteht und interpretiert, bringt immer schon gewisse Sinnerwartungen in seinen Verstehensprozess mit ein.31 Damit kommt den politischen und sozialen Vorverständnissen, Weltanschauungen und Überzeugungen der Richter nicht nur bei der Verfassungsauslegung ein besonderes Gewicht zu. Angesichts der vagen Unbestimmtheit vieler Verfassungstexte besteht weiterhin ein in Grenzfällen nicht zu umgehender und schließlich auf unterschiedliche Vorverständnisse der Richter zurückzuführender Pluralismus in Methode und Ergebnis der Verfassungsinterpretation.32 Der beste Beleg dafür ist die sogenannte abweichende Meinung, die sich im amerikanischen Supreme Court in Form der dissenting opinion oder im Bundesverfassungsgericht in Form des Sondervotums äußert.33 Im Prinzip wird die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes im Rahmen des Kollegialgerichts mit Mehrheit vorgenommen. In der Theorie scheint dieser insbesondere innerhalb des Kollegialgerichts durchgeführte Mehrheitsentscheidungsmechanismus eine effektive Vorkehrung gegen die durch einseitige Vorurteile des Richters entstehende Willkür zu sein, indem er eine Chance anbietet, nicht nur alle relevanten Meinungen pluralistischer Gesellschaftsinteressen zu berücksichtigen, sondern auch die subjektiven Sinnerwartungen des Richters durch die Führung eines rationalen Argumentationsdiskurses zu Bewusstsein zu führen, zu entfernen und am Ende – ideal gesprochen – eine richtige Entscheidung möglichst einstimmig zu beschließen. Aber leider sieht dies in 29 30 31 32 33 156 Charles E. Hughes, Speech, Elimira, New York, May 3, 1907. Zitiert von Brugger (Fn.27), S. 7. Rudolf Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 3. Aufl., Berlin 1994, S. 582. Vgl. Hans-Georg Gadamer, Hermeneutik I, Wahrheit und Methode, Tübingen 1986, S. 270; Emerich Coreth, Grundfragen der Hermeneutik, Freiburg u.a. 1969, S. 26f.; Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie, 2. Aufl., München 1997, S. 44. Vgl. v. Arnim (Fn.3), S. 380; Schlaich (Fn.14), Rn. 48. Vgl. Winfried Brugger, Demokratie, Freiheit, Gleichheit. Studien zum Verfassungsrecht der USA, Berlin 2002, S. 16. der Realität manchmal oder auch öfter anders aus. Die den Richtern eigenen politischen und sozialen Vorverständnisse werden nicht nur nicht beseitigt. Im Gegenteil verwandeln sie sich in Grenzfällen im Verlauf des Argumentationsdiskurses sogar in zwei (oder sogar mehrere) miteinander kollidierende Meinungen, die auch zu zwei miteinander unvereinbaren Ergebnissen führen, welche schließlich nur durch die kopfzählende Mehrheitsentscheidung gelöst werden können. 34 Dafür liefert der im Jahre 1995 in der Gesellschaft heftig umstrittene Kruzifix-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts ein gutes Beispiel.35 II. Konflikt zwischen unterschiedlichen Verfassungsverständnissen – das Beispiel des Streits um den Kruzifix-Beschluss Im Mittelpunkt des Kruzifix-Beschlusses steht die Frage, ob das Anbringen eines Kreuzes oder Kruzifixes in den Unterrichtsräumen einer staatlichen Pflichtschule, die keine Bekenntnisschule ist, gegen die in Art. 4 Abs. 1 GG garantierte Religionsfreiheit verstößt.36 Dabei wird nicht nur der Konflikt zwischen dem in Art. 7 Abs. 1 GG verankerten staatlichen Erziehungsauftrag und der negativen Religionsfreiheit des Nichtchristen oder Atheisten, sondern auch die Kollision zwischen dieser negativen Religionsfreiheit und der ebenfalls in Art. 4 Abs. 1 GG geschützten positiven Religionsfreiheit der christlichen Schüler und Eltern thema34 35 36 Vgl. dazu Robert Alexy, Theorie der juristischen Argumentation. Die Theorie des rationalen Diskurses als Theorie der juristischen Begründung, Frankfurt a.M. 1991, S.256f.; ders., Recht, Vernunft, Diskurs. Studien zur Rechtsphilosophie, Frankfurt a.M. 1995, S. 123f. Zu beachten ist, dass die amerikanischen Supreme Court-Richter oft von unterschiedlichen Haltungen geprägt sind, die – wie Brugger erwähnt – von „liberal“ bis „konservativ“, von „aktivistisch“ bis „zurückhaltend“ reichen und diverse Mischformen umfassen. „Die Mehrheitsentscheidungen des Gerichts“, sagt Brugger, „stellen dementsprechend höchst unterschiedliche „Gestalten“ dar: Das Spektrum reicht von einstimmigen Grundsatzentscheidungen bis zu knappen 5:4-Entscheidungen […]. Im Extremfall kann eine Entscheidung aus einem kurzen per curiam-Abschnitt des Gerichts und neun verschiedenen Begründungen bestehen.“ Ders. (Fn.33), S. 127. BVerfGE 93, 1 (1). Zur einschlägigen Diskussion für und gegen diese Entscheidung siehe etwa Basilius Steithofen (Hrsg.), Das Kruzifixurteil: Deutschland vor einem neuen Kulturkampf?, Frankfurt a.M. u.a. 1995; Hans Maier (Hrsg.), Das Kreuz im Widerspruch: Der Kruzifix-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts in der Kontroverse, Freiburg u.a. 1996; Winfried Brugger/Stefan Huster (Hrsg.), Der Streit um das Kreuz in der Schule. Zur religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates, Baden-Baden 1998. 157 tisiert. Während die negative Religionsfreiheit einen jeden in weltanschaulich-religiösen Fragen vor staatlichen Zwängen schützt, darf ein jeder sich auf die positive Religionsfreiheit berufen, um seine Religion frei zu bekennen und die entsprechende Religionsausübung vorzunehmen. Diese nicht einfach zu lösende Frage hat das Bundesverfassungsgericht schließlich in zwei entgegengesetzte Lager gespalten, die jeweils auf ihren Standpunkten zum Verstehen einschlägiger Sachverhalte und Verfassungsbestimmungen beharren. Zunächst ist die Senatsmehrheit folgender Meinung: „Das Kreuz gehört nach wie vor zu den spezifischen Glaubenssymbolen des Christentums. Es ist geradezu sein Glaubenssymbol schlechthin.“ „Die Ausstattung eines Gebäudes oder eines Raums mit einem Kreuz wird bis heute als gesteigertes Bekenntnis des Besitzers zum christlichen Glauben verstanden. Für den Nichtchristen oder den Atheisten wird das Kreuz gerade wegen der Bedeutung, die ihm das Christentum beilegt und die es in der Geschichte gehabt hat, zum sinnbildlichen Ausdruck bestimmter Glaubensüberzeugungen und zum Symbol ihrer missionarischen Ausbreitung.“37 Angesichts dieses konfessionellen Verstehens des Kreuzes und des verfassungsrechtlichen Schutzes der negativen Glaubensfreiheit, dem zufolge der Staat dem Einzelnen einen Glauben oder eine Religion weder vorschreiben noch verbieten darf, ist es verboten, das Kreuz in öffentlichen Volksschulen in jedem Klassenzimmer anzubringen, jedenfalls wenn Widerspruch vorgebracht wird. Im Gegensatz dazu vertreten die Minderheitsvotanten die Meinung, dass das durch das Kreuz zu vermittelnde Christentum nicht unbedingt in einem konfessionellen Sinne verstanden werden muss und das Kreuz daher durchaus auch Ausdruck einer abendländischen Tradition sein kann. Mit anderen Worten: „Die Bejahung des Christentums bezieht sich nicht auf die Glaubensinhalte, sondern auf die Anerkennung des prägenden kultur- und Bildungsfaktors und ist damit auch gegenüber Nichtchristen durch die Geschichte des abendländischen Kulturkreises gerechtfertigt.“38 Die Schüler sind daher „nicht zu besonderen Verhaltensweisen oder religiösen Übungen vor dem Kreuz verpflichtet“ und sie werden „auch nicht in verfassungsrechtlich unzulässiger Weise missionarisch beeinflusst“.39 Im Gegenteil würden die durch das Kreuz zu vermitteln37 38 39 158 BVerfGE 93, 1, (19f.). BVerfGE 93, 1, (27). BVerfGE 93, 1, (33). den überkonfessionellen christlich-abendländischen Werte und ethischen Normen, die von den Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder gewünscht werden, den Lehren und Schülern sinnbildlich vor Augen geführt. Unter Berücksichtigung dieses Symbolverstehens des Kreuzes, der positiven Religionsfreiheit und des im Grundgesetz zugelassenen staatlichen Erziehungsauftrags, dem zufolge dem Staat die Befugnis zukommt, kulturelle Werte und ethische Normen als Erziehungsziele festzulegen und möglichst weiterhin zu vermitteln, ist es verfassungsrechtlich vielmehr zulässig, das Kreuz in öffentlichen Volksschulen in jedem Klassenzimmer anzubringen. Wie im Vorhergehenden erwähnt, bringen die Richter ihr eigenes politisches und soziales Vorverständnis in die Auslegung unbestimmter Verfassungstexte mit ein. Die in Grenzfällen ausgelösten verfassungsrechtlichen Auseinandersetzungen sind deswegen oft auf grundsätzlich unterschiedliche weltanschauliche Überzeugungen der Richter zurückzuführen. Die im Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts bezüglich des Kruzifix-Beschlusses vorhandene Divergenz wird auch in der Literatur sowohl aus liberaler Sicht als auch aus kommunitaristischer Sicht bzw. aus der Perspektive des sogenannten – wie Winfried Brugger meint – Neutralitätsliberalismus und liberalen Kommunitarismus thematisiert. 40 Beiden theoretischen Standpunkten liegt ein unterschiedliches Verfas40 Vgl. Erhard Denninger, Der Einzelne und das allgemeine Gesetz, in: Kritische Justiz 28 (1995), S. 428f.; Winfried Brugger, Zum Verhältnis von Neutralitätsliberalismus und liberalem Kommunitarismus. Dargestellt am Streit über das Kreuz in der Schule in: Brugger/Stefan (Fn.36), S. 109-153; Stefan Huster, Die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates. Das Kreuz in der Schule aus liberaler Sicht, in: Brugger/Stefan (Fn.36), S. 69-108; Otfried Höffe, Wieviel Politik ist dem Verfassungsgericht erlaubt?, in: Der Staat 38 (1999), S. 188. Zu beachten ist, dass der Kommunitarismus nicht unbedingt als „anti-liberal“ betrachtet werden sollte. Schon Philip Selznick hat darauf hingewiesen: „Die heutigen Kommunitaristen sind nämlich keineswegs anti-liberal, sofern man unter Liberalismus ein starkes Engagement für politische Freiheit und soziale Gerechtigkeit, für verfassungsmäßige Grundrechte, für Rechtsstaatlichkeit, Staatsbürgerrechte und die besondere Sorge um die Armen und Unterdrückten versteht. Wenn wir Kommunitaristen einige spezifische liberale Doktrinen kritisieren, so folgt daraus jedenfalls nicht, dass wir die Hauptideen und -institutionen des Liberalismus ablehnen oder nicht zu schätzen wüssten.“ Ders., Kommunitaristischer Liberalismus, in: Der Staat 32 (1995), S. 487. Die theoretische Ausdifferenzierung des konservativen, liberalen und universalistischen Kommunitarismus von Brugger ist daher als ein weitergehender Versuch im Anschluss an den kommunitaristischen Liberalismus Selznicks zu betrachten. Vgl. Brugger, aaO, S. 117f.; auch ders. (Fn.2), S. 258ff. 159 sungsverständnis bezüglich der Reichweite der Pflicht des Staates zu religiös-weltanschaulicher Neutralität zugrunde, welches im Kruzifix-Beschluss auch zu den Streitpunkten zwischen der Senatsmehrheit und der abweichenden Meinung zählt.41 Nach Meinung Bruggers folgt die Senatsmehrheitsauffassung vor allem dem Neutralitätsliberalismus, dem zufolge die Pflicht des Staates zur religiös-weltanschaulichen Neutralität strikt einzuhalten ist.42 Angesichts dieser Pflicht des Staates zur religiös-weltanschaulichen Neutralität und der sich mit bestimmten religiösen Glaubensüberzeugungen tief verbindenden missionarischen Bedeutung, die im Symbol des Kreuzes eingeschlossen ist, darf das Kreuz keinesfalls in einer öffentlichen Anstalt gebraucht werden. Im Gegensatz dazu gehen die Minderheitsvotanten vom Standpunkt des liberalen Kommunitarismus aus, dem zufolge die strikte Neutralität gegenüber den unterschiedlichen Religionen und Bekenntnissen zwar ebenfalls geboten ist und der Staat dem einzelnen einen Glauben oder eine Religion weder vorschreiben noch verbieten darf.43 Trotzdem ist damit nicht gemeint, dass diese strikte Neutralität auf allen Ebenen unbeschränkt zu beanspruchen ist. „Strikte Neutralität“, wie Brugger argumentiert, „ist aber nicht unbedingt geboten, soweit der Bereich der eigentlichen Glaubenswahrheit überschritten und alternativ oder ergänzend allgemein-kulturelle weltliche Traditionen, Symbole, Haltungen oder Handlungen ins Spiel kommen, die für die Legitimität des Staatsverbandes oder sein Funktionieren bedeutsam sind.“44 Angesichts seiner überkonfessionellen kulturellen und ethischen Werte wie etwa Solidarität, Toleranz, Mitleid, Nächstenliebe, Ehrfurcht vor dem menschlichen Leben und der menschlichen Würde45, welche für die Prägung der individuellen Eigenverantwortlichkeit und der Gemeinwesenszugehörigkeit unentbehrlich sind, darf das Kreuz daher verfassungsmäßig in einer öffentlichen Anstalt gebraucht werden, damit die oben dargelegten säkularen Werte und ethischen Normen den Betroffenen sinnbildlich vor Augen geführt und fortwährend bewahrt werden können. Angesichts dieser hinter dem Kruzifix-Beschluss stehenden zwei grundsätzlich unterschiedlichen weltanschaulichen Überzeugungen und 41 42 43 44 45 160 Vgl. BVerfGE 93, 1, (16f., 29). Bugger (Fn.40), S, 114, 117; Vgl. auch ders (Fn.2), S. 282f., 285, 287-290. Brugger (Fn.40), S. 117. Brugger (Fn.2), S. 288f.; vgl. auch ders. (Fn.40), S. 150ff. Vgl. Brugger (Fn.2), S. 289. der dadurch entstehenden einander widersprechenden Rechtsfolgen, die nicht durch einheitliche, überzeugende Vorrang- bzw. Güterabwägungen zu lösen sind46, wurden die acht Richter des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts schließlich gezwungen, die Entscheidung durch demokratischen Mehrheitsbeschluss mit knappen 5:3 Stimmen zugunsten der negativen Religionsfreiheit der Beschwerdeführer zu fällen. Als diese Entscheidung kundgegeben wurde, erntete das Bundesverfassungsgericht sofort heftige Kritik. Inzwischen scheint das Bundesverfassungsgericht in eine Legitimationskrise geraten zu sein, in der das in Jahrzehnten aufgebaute Vertrauen der Allgemeinheit jäh zerstört wurde.47 III. Zurückgehen auf den Doppeldisziplinierungsmechanismus des Verfassungsstaates 1. Loslösung von der Suche nach legitimen Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit Wie lässt sich eigentlich die Verfassungsgerichtsbarkeit im demokratischen Staat legitimieren?48 Widerspricht die Verfassungsgerichtsbarkeit nicht dem Prinzip der demokratischen Verantwortlichkeit, wenn die Entscheidungen des direkt vom Volk gewählten Gesetzgebers von einigen Verfassungsrichtern als verfassungswidrig verworfen werden? Treten schließlich die hinter dieser gerichtlichen Konkretisierung stehenden weltanschaulichen und politischen Überzeugungen bei der Auslegung der offen und abstrakt formulierten Verfassungstexte nicht an die Stelle des demokratisch legitimierten Gesetzgebers, dem eigentlich die politische Gestaltungsfreiheit zukommt?49 Diese Fragen, die auf die Legitimation 46 47 48 49 Schon Robert Alexy vertritt die Meinung, dass miteinander kollidierende Prinzipien in konkreten Fällen immer unterschiedliche Gewichte haben. Die Aufgabe des Richters besteht also darin, unter Bezug auf den Fall bestimmte Bedingungen zu finden, damit das eine Prinzip mit seinem größeren Gewicht dem anderen vorgeht. Vgl. ders., Theorie der Grundrechte, Frankfurt a.M. 1994, S. 78ff. Josef Isensee, Bundesverfassungsgericht – quo vadis?, in: JZ 22 (1996), S. 1086. Vgl. Böckenförde (Fn.28), S. 161, 176ff. Vgl. Höffe (Fn.40), S. 172-175; Thomas Würtenberger, Auslegung von Verfassungsrecht – realistisch betrachtet, in: Joachim Bohnert u.a. (Hrsg.), Verfassung – Philosophie – Kirche. Festschrift für Alexander Hollerbach zum 70. Geburtstag, Berlin 2001, S. 223; Christian Hillgruber, Die Herrschaft der Mehrheit. Grundlagen und Grenzen des demokratischen Majoritätsprinzips, in: AöR 127 (2002), S. 472f. Diese Frage wird in den USA unter dem Begriff der sogenannten „counter-majoritarian difficulty“ behandelt. Vgl. Brugger (Fn.25), S. 2f.; ders. 161 und die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit bezogen sind, werden nicht erst durch den Kruzifix-Beschluss aufgeworfen, aber erreichen durch diesen eine bisher nicht gekannte Brisanz.50 Angesichts ihrer letztinstanzlichen Interpretationsmacht über die Verfassung, die sich keinen anderen Staatsgewalten unterordnet, ist die Verfassungsgerichtsbarkeit letztlich allein durch sich selbst zu kontrollieren. Dementsprechend werden in der Praxis der Verfassungsgerichtsbarkeit eine Reihe von Maßnahmen zur richterlichen Selbstbeschränkung entwickelt, welche alle auf den Begriff des sogenannten „judicial self-restraint“ zurückgeführt werden können. 51 Theoretisch betrachtet geht die heutige Diskussion um die Legitimation und die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit meistens von dem Gedanken der Gewaltenteilung und der dahinter stehenden Idee des Machtgleichgewichts (checks und balances) aus52 und kann darum am Ende kaum umhin, sich Fragen wie den folgenden zuzuwenden: „Wieviel Politik ist dem Verfassungsgericht erlaubt (Otfried Höffe)?“53 bzw. “Wieviel Macht soll den Verfassungsgerichten zustehen, im Verhältnis zur Deliberation und Entscheidung der politisch verantwortlichen Organe (Winfried Brugger)?“54 Eigentlich zählt die Denkweise, die in der obigen Diskussion um die Legitimation und die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit bzw. um die Machtbalance zwischen der Judikative und der Legislative zu Tage tritt, zu dem, was Foucault als die „Theorie des Rechts“ bezeichnet.55 Nach Foucault steht die Theorie des Rechts schon seit der Wiederbelebung des römischen Rechts im Mittelalter in enger Verbindung mit der königlichen Macht und dem Problem der Souveränität. Demnach werden immer die Fragen aufgestellt, „inwiefern man die Macht des Souveräns begrenzen muss, welchen Rechtsregeln er sich beugen muss, gemäß welcher und 50 51 52 53 54 55 162 (Fn.27), S. 12f.; Ulrich R. Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokratie und Misstrauen. Das Bundesverfassungsgericht in einer Verfassungstheorie zwischen Populismus und Progressivismus, Berlin 1998, S. 21. Vgl. Ulrich R. Haltern, Demokratische Verantwortlichkeit und Verfassungsgerichtsbarkeit. Nachbemerkungen zur Diskussion um den Kruzifix-Beschluss, in: Der Staat 35 (1996), S. 551. Vgl. Schlaich (Fn.14), Rn. 469; Simon (Fn.26), S. 1278f.; Brugger (Fn.27), S. 16ff.; Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, München 1980, S. 958ff. Vgl. Schlaich, aaO, Rn. 467f.; Simon, aaO, S. 1275f.; Roellecke (Fn.26), Rn. 18. Höffe (Fn.40), S. 171. Brugger (Fn.33), S. 12. VG, S. 34. innerhalb welcher Grenzen er seine Macht nur ausüben darf, damit die Macht ihre Legitimität behält“.56 Über die legitimen Grenzen der Macht zu bestimmen, ist also der Brennpunkt der alten Theorie des Rechts, der noch der heutigen Diskussion der Verfassungsgerichtsbarkeit zugrunde liegt. In der einschlägigen verfassungsrechtlichen Literatur sind die Legitimation und die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit schon ausführlich diskutiert worden.57 Mit der vorliegenden Arbeit soll dieser Diskussion nicht noch eine weitere Position hinzu gefügt werden. Statt die verfassungsgerichtliche Macht nach ihrer verfassungsrechtlichen Begründung und ihren legitimen Grenzen zu befragen, geht es hier vielmehr darum, die Verfassungsgerichtsbarkeit unter dem Aspekt des Doppeldisziplinierungsmechanismus des Verfassungsstaates neu zu betrachten. 2. Machtantagonismus zwischen der Disziplinierung des Staatsbürgers und der Disziplinierung der Staatsmacht Wie bereits erwähnt, gilt die Verfassungsgerichtsbarkeit wegen ihrer letztinstanzlichen Verwerfungskompetenz als die entscheidende Technik zur Disziplinierung der Staatsmacht. Die Disziplinierung der Staatsmacht darf nicht – wie dies in der einschlägigen öffentlich-rechtlichen Diskussion häufig geschieht – nur als ein Synonym für die Begrenzung und Kontrolle der Staatsmacht verstanden werden. Vielmehr stellt die Disziplinierung der Staatsmacht eine andere, der Disziplinierung des Staatsbürgers entgegengesetzte, Richtung der Normalisierungsvorgänge dar, die ebenfalls auf den Disziplinarinstrumenten der Macht beruht und sich zugleich aus der hierarchischen Überwachung des Rechtsstufenbaus, der normierenden Sanktion der Nichtigkeit und der gerichtlichen Prüfung zusammensetzt. Wegen ihrer normierenden Grenzziehung befindet sich die Disziplinierung der Staatsmacht immer im Spannungsverhältnis zur Disziplinierung des Staatsbürgers und wird mit dieser ständig konfrontiert. Parlamente, Gesetzgebungen, Verordnungen und sogar Justizapparate mit Polizei, Gefängnissen und Gerichten, all dies, was sich nach Foucault auf den Begriff des Rechts reduzieren lässt und schließlich auf die Diszipli- 56 57 Ebd.; vgl. auch SM, S. 243. Vgl. oben (Fn.48) bis (Fn.54). 163 nierung und Normalisierung des Staatsbürgers bezogen ist58, wird umgekehrt auch durch die Verfassungsgerichtsbarkeit und den dahinter stehenden überwachenden Mechanismus zur Disziplinierung der Disziplinierung kontrolliert. Die für die Disziplinierung des Staatsbürgers bestimmten rechtlichen Maßnahmen (Gesetze oder Verordnungen) als verfassungswidrig zu verwerfen, damit sie von der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung nicht mehr angewandt werden, ist die Kompetenz, die die Disziplinierung der Staatsmacht der Verfassungsgerichtsbarkeit erlaubt. Statt einfach von der Machtbalance zwischen politischen Kräften – im Sinne von „le pouvoir arrête le pouvoir“ nach Montesquieu59 –, und vor allem zwischen dem demokratisch legitimen Parlamentarismus und der Verfassungsgerichtsbarkeit, sollte man hier besser von einem Machtantagonismus sprechen, in dem die zwei einander gegenüber stehenden disziplinierenden Kräfte, die Disziplinierung des Staatsbürgers und die Disziplinierung der Staatsmacht, sich ständig messen und gegenseitig provozieren. Dieser sich ständig im Doppeldisziplinierungsmechanismus des Verfassungsstaates befindende Machtantagonismus ist also nicht nur der Schlüssel zum Kampf gegen die Disziplinarmacht und die durch sie ausgelöste Disziplinierung des Staatsbürgers. Er ist zugleich die Triebkraft, mit der der Verfassungsstaat lebt und sich unaufhörlich weiter entwickelt.60 3. Die List der Disziplinarmacht: Förderung der Disziplinierung des Staatsbürgers durch die Disziplinierung der Staatsmacht Zwar verfangen sich die Disziplinierung des Staatsbürgers und die Disziplinierung der Staatsmacht immer in einem Machtantagonismus, der die einschlägigen disziplinierenden Rechtsmaßnahmen schließlich zu einem verfassungswidrigen und in der Regel von Anfang an ipso iure unwirksamen Ende führt. Aber neben diesem antagonistischen Spannungsverhältnis gibt es im Doppeldisziplinierungsmechanismus des Verfassungsstaates noch ein anderes Koordinierungsverhältnis, in dem die Disziplinierung der Staatsmacht und die Disziplinierung des Staatsbür58 59 60 164 Vgl. MaM, S. 40; VG, S. 35. Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, Bd. 1, 2. Aufl., Tübingen 1992, S. 213. Vgl. auch Weber (Fn.3), S. 152ff. Vgl. Isensee (Fn.47), S. 1086f. gers sich gegenseitig unterstützen. Wie schon am Anfang dieses Kapitels erwähnt, wird die Disziplinierung des Staatsbürgers durch die Disziplinierung der Staatsmacht unterstützt, indem bei der Einführung einschlägiger rechtlicher Maßnahmen zur Disziplinierung des Staatsbürgers eine bestimmte Sicherheit und Berechenbarkeit der Rechtsordnung vorausgesetzt wird, die allein durch die Disziplinierung der Staatsmacht zu gewährleisten ist. Außerdem kann die Disziplinierung des Staatsbürgers bis zu einem gewissen Grad noch durch die Disziplinierung der Staatsmacht weiter gefördert werden, wenn die rechtlich disziplinierenden Regelungen durch die Verfassungsgerichtsbarkeit als verfassungsmäßig anerkannt werden. In der bisherigen Praxis der Verfassungsgerichtsbarkeit sowohl in Deutschland als auch in den USA gibt es eine Reihe von Fällen, die diese Förderung der Disziplinierung des Staatsbürgers durch die Disziplinierung der Staatsmacht versinnbildlichen. Von ihnen werden hier nur zwei Fälle als Beispiel ausgewählt. Es handelt sich um die sogenannte Homosexuellen-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Mai 195761 und der im Jahr 1896 durch den U.S. Supreme Court entschiedene Fall Plessy v. Ferguson62. In der Homosexuellen-Entscheidung vertrat das Bundesverfassungsgericht die Auffassung, dass die damaligen Strafvorschriften gegen die männliche Homosexualität (§175 StGB63) nicht gegen das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) verstoßen und darum noch im Bereich der verfassungsmäßigen Ordnung bleiben. Denn zum einen verstößt die männliche homosexuelle Betätigung nach Auffassung des Gerichts eindeutig gegen das Sittengesetz, dem eigentlich die auf große Teile des Volks zurückzuführenden sittlichen Anschauungen der Religionsgemeinschaften zugrunde liegen, und zum anderen kann auch nicht eindeutig festgestellt werden, dass jedes öffentliche Interesse 61 62 63 BVerfGE, 6, 389. Mit der Frage, ob die Kriminalisierung homosexueller Betätigung verfassungsmäßig ist, hat sich der Supreme Court auch im Fall Bowers v. Hardwick, 478 U.S. 186 (1986), beschäftigt. Für die einschlägige Diskussion siehe Brugger (Fn.33), S. 251ff. Plessy v. Ferguson, 163 U.S. 537 (1896). Die bis 1969 gültige Vorschrift des §175 StGB lautete: (1) Ein Mann, der mit einem anderen Mann Unzucht treibt oder sich von ihm zur Unzucht missbrauchen lässt, wird mit Gefängnis bestraft. (2) Bei einem Beteiligten, der zur Tatzeit noch nicht 21 Jahre alt war, kann das Gericht in besonderes leichten Fällen von Strafe absehen. Zit. von Jörg Risse, Der verfassungsrechtliche Schutz der Homosexualität, Baden-Baden 1998, S. 41. 165 an Bestrafung dieser Homosexualität fehlt.64 Im Fall Plessy v. Ferguson war der Supreme Court der Meinung, dass das Gesetz des Staates Louisiana für die zwangsweise Trennung der Rassen bei Reisen in Eisenbahnen keine unvernünftige Regelung ist und deshalb nicht gegen Amendment 14 (equal protection of law) verstößt, da schon in seinem Gesetzgebungsverfahren die einschlägigen Umstände (etwa „the established usages“, „customs“, „traditions of the people“, „the promotion of their comfort“, „the preservation of the public peace and good order“) berücksichtigt wurden.65 Damit wurde die auf die Rassendiskriminierung bezogene „separate but equal doctrine“ festgelegt, die erst im Jahre 1954 im Fall Brown v. Board of Education revidiert wurde.66 In diesen beiden Fällen lässt sich genau erkennen, dass sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch der Supreme Court wegen ihrer jeweiligen verfassungskonformen Auslegung zugunsten der einschlägigen staatlichen Rechtsregeln, die anfangs für die Disziplinierung des Staatsbürgers bestimmt waren, am Ende auch die Politik für die Ablehnung männlicher Homosexualität und für die Rassendiskriminierung unterstützten. Handelt es sich hierbei nicht um eine Art strategischer List der Disziplinarmacht, sich der Verfassungsgerichtsbarkeit und des dahinter stehenden ganzen Verfahrens der Disziplinierung der Staatsmacht zu bedienen, um die Disziplinierung des Staatsbürgers umgekehrt zu unterstützen? Dies mag sein. Denn angesichts der Alles-oder-Nichts-Problematik des Falles67, in dem die durch die Verfas64 65 66 67 166 Vgl. BVerfGE, 6, 389, (434ff.). 1969 wurde §175 StGB in eine reine Schutzvorschrift für Jugendlich bis 21 Jahre umgestaltet. Seither war die Schutzperspektive des §175 StGB nicht mehr am „Sittengesetz“ angerichtet. Statt dessen bezweckte die Vorschrift, entsprechend der Orientierung am Rechtsgüterschutz, die „ungestörte sexuelle Entwicklung“ des jungen Mannes, also den Jugendschutz. 1973 brachte die Herabsetzung des Schutzalters auf 18 Jahre. 1994 wurde die Strafbarkeit homosexuellen Verhaltens mit der ersatzlosen Streichung des §175 StGB endgültig abgeschafft. Vgl. Risse, aaO, S. 39ff.; Lorenz Böllinger, Die Strafbarkeit der Homosexualität – eine Überprüfung aus kriminologischer Sicht, in: Herbert Jäger/Eberhard Schorsch (Hrsg.), Sexualwissenschaft und Strafrecht, Stuttgart 1987, S. 10. Plessy v. Ferguson, 163 U.S. 550f. Brown v. Board of Education, 347 U.S. 483. Die deutsche Literatur zu den Fällen Plessy v. Ferguson und Brown v. Board of Education siehe Brugger (Fn.25), S.150ff; ders. (Fn.27), S. 114ff.; Markus Schefer, Konkretisierung von Grundrechten durch den U.S.-Supreme Court. Zur sprachlichen, historischen und demokratischen Argumentation im Verfassungsrecht, Berlin 1997, S. 52ff. Man kann den Gedanken der Alles-oder-Nichts-Problematik des Falls aus einer anderen Perspektive betrachten. Zum Beispiel ist diese Problematik bei Winfried sungsgerichtsbarkeit überprüfte Staatsmacht und die anschließenden Rechtsregeln entweder als verfassungsmäßig oder als verfassungswidrig beurteilt werden, verfängt sich die Disziplinierung der Staatsmacht dementsprechend auch in einem Entweder-Oder-Verhältnis zur Disziplinierung des Staatsbürgers, in dem die Disziplinierung des Staatsbürgers durch die Disziplinierung der Staatsmacht entweder gefördert oder zurückgewiesen wird. Es gibt also keinen dritten Weg zwischen der Disziplinierung des Staatsbürgers und der Disziplinierung der Staatsmacht. Wenn diese unerwartete Begünstigung für die Disziplinierung des Staatsbürgers tatsächlich der List der Disziplinarmacht entstammt, braucht man das Verdienst des Doppeldisziplinierungsmechanismus des Verfassungsstaates deswegen nicht unbedingt herabzuwürdigen. Denn bis zu einem gewissen Grad hat er doch eine mögliche institutionelle Mindestbedingung bewahrt, um die Disziplinarmacht und die anschließende Disziplinierung des Staatsbürgers zu bekämpfen. Brugger auf die Abtreibungsfrage bezogen, bei der es um Leben oder Tod geht. Vgl. ders., (Fn.33), S. 236. 167 Kapitel 6 Gemeinwohlmanagement des Verfassungsstaates A. Eine Horizonterweiterung des Verfassungsstaates – vom Doppeldisziplinierungsmechanismus zum Gemeinwohlmanagement Während des Aufbaus des Doppeldisziplinierungsmechanismus hat sich der Horizont des Verfassungsstaates allmählich erweitert. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war der Verfassungsstaat unerwartet in eine Legitimationskrise geraten. Statt des Wohles und Glückes, welches er jedem einzelnen mit Hilfe seines laisser-faire-Minimalregierungsprogramms versprochen hatte, war er nun mit wachsenden sozialen Problemen konfrontiert, die eine aktive soziale Politik dringend erforderlich machten. Seither beschränkt sich die Aufgabe des Verfassungsstaates nicht mehr negativ auf die Überwachung der Staatsmacht. Zusätzlich muss er eine Reihe positiver Regulierungs-, Ausgleichs-, und Verteilungsmechanismen etablieren, die unterschiedlichen Bedürfnisse und Interessen Rechnung tragen, damit soziale Spannungen und Ungleichheit relativiert werden.1 Schon Georg Jellinek und Philippe Nonet und Philip Selznick haben aufgezeigt, wie diese Horizonterweiterung des Verfassungsstaates sowohl unter dem Aspekt der subjektiven Rechte des einzelnen gegenüber dem Staat (vom status negativus zum status positivus)2 als auch unter dem Aspekt des objektiven „developmental model of law“ (vom „autonomous law” zum „responsive law“)3 1 2 3 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt a.M. 1991, S. 233; Otfried Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München 1999, S. 163; Karl H. Metz, Solidarität und Geschichte. Institution und sozialer Begriff der Solidarität in Westeuropa im 19. Jahrhundert, in: Kurt Bayertz (Hrsg.), Solidarität. Begriff und Problem, Frankfurt a.M. 1998, S. 186ff. Georg Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, Darmstadt 1963, S. 94ff.; ders., Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., Darmstadt 1960, S. 418ff. In diesem „developmental model of law“ gibt es außerdem noch den dritten Rechtstyp, das „repressive law“. Mit dem „developmental model of law“ möchten Nonet/Selznick darauf hinweisen, dass es in der Tat unterschiedliche Etappen der Rechtsevolution gibt. Jeder Rechtstyp entspricht genau einem ihm eigenen politisch-sozialen Bedürfnis: Das „repressive law“ gilt als „the servant of repressive power“, das „autonomous law“ als „a differentiated institution capable of taming repression and protecting its own integrity“ und das „responsive law“ als „a facilitator of response to social needs and aspirations“. Nonet/Selznick, Law 169 betrachtet werden kann. Aus der Machtanalytik Foucaults lässt sich überdies ersehen, dass es außerdem noch einen anderen, umfassenderen Faktor gibt, der diese Horizonterweiterung des Verfassungsstaates erklären kann. Es handelt sich um die Machtpraxis der Gouvernementalität. Nicht nur die später entstandene Forderung positiver Staatsleistungen, die der Solidarität und Daseinsvorsorge dienen, sondern auch das ganze Rechtssystem des Verfassungsstaates, der ursprünglich um der Überwachung der Staatsmacht willen eingerichtet wurde, fällt unter das, was Foucault als Sicherheitsdispositive bezeichnet. 4 Berücksichtigt werden dabei gleichermaßen spezifische Zielsetzungen wie auch eine Reihe strategischer Institutionen, Verfahren, Analysen und Reflexionen, Berechnungen und Taktiken zur Erreichung dieser Zielsetzungen. All diese in die Konzeption der Gouvernementalität und der Sicherheitsdispositive eingeschlossenen Elemente sind mit einem anderen, gängigeren Neologismus besser zu begreifen. Es handelt sich um das, was ich das Gemeinwohlmanagement nennen möchte. B. Zum Begriff des Gemeinwohlmanagements I. Warum Gemeinwohlmanagement? Dank seiner hohen Abstraktheit wurde und wird das Gemeinwohl häufig als das höchste Ziel aller politisch-staatlichen Ordnung betrachtet.5 Alles, was im Rahmen der Gouvernementalisierung des Staates zu möglichen Zwecksetzungen des Regierens und entsprechenden Sicherheitsdispositiven zählt, kann man in den Begriff des Gemeinwohls einbezie- 4 5 170 and Society in Transition. Toward Responsive Law, New York u.a. 1978, S. 14ff., 18. Im Vergleich zu den drei Foucaultschen Machttypen kann man zwar das „repressive law” von der Souveränität her und das „responsive law” von der Gouvernementalität her analysieren. Aber es fehlt im „developmental Model of law“ ein Rechtstyp, der mit der Disziplinarmacht zu vergleichen ist. Das „autonomous law” und seine wichtigste Funktion vom „taming repression“ können aber nur vom Doppeldisziplinierungsmechanismus her in geeigneter Weise verstanden werden. Vgl. Gouv. S. 42. Vgl. Josef Isensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat, in: ders./Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch der Staatslehre der Bundesrepublik, Bd. III, 2 Aufl., Heidelberg 1996, §57, Rn. 2; Winfried Brugger, Gemeinwohl als Ziel von Staat und Recht, in: Dietrich Murswiek u.a. (Hrsg.), Staat – Souveränität – Verfassung. Festschrift für Helmut Quaritsch zum 70. Geburtstag, Berlin 2000, S. 45. hen. Denn das Gemeinwohl, welches die Idee vom guten Zustand des Gemeinwesens und vom Gedeihen aller seiner Glieder verkörpern sollte6, bildet genau den Inbegriff dessen, was das Heil in dieser Welt braucht. Wie wird das Gemeinwesen regiert, durch wen, bis zu welchem Punkt und durch welche Methoden? Dies gehört nicht nur zur alten Problematik des Regierens, die sich nach Foucault ab dem 16. Jahrhundert in der abendländischen Gesellschaft ausbreitete7, sondern auch zu einer neuen Problematik des Managements, die heutzutage ebenso wie das Thema des Gemeinwohls eine Hochkonjunktur erlebt.8 Der Terminus Management, welcher ursprünglich dem Bereich der Wirtschaft entstammt, habe sich heute – wie Otto Nigsch meint – schon in spektakulärer Weise ausgebreitet und sich in steigendem Maß zum gemeinsamen Nenner unvermeidlicher Reorganisationsprozesse entwickelt. 9 Nicht nur Unternehmen und Fabriken müssen besser „gemanagt“ werden, sondern auch Schulen, Krankenhäuser, Gefängnisse, die Armee, Behörden, ebenso wie Karrieren, Beziehungsprobleme und der Familienalltag.10 Aufgrund seiner engen Verbindung mit einer Reihe positiv besetzter Assoziationen wie Transparenz, Klarheit, Unkompliziertheit, Sachlichkeit, Kompetenz und Effizienz präsentiert sich das Management letztlich als eine Art umfassender, langfristiger, strategieorientierter und kalkulierender Rationalität11, die genau die Künste des Regie6 7 8 9 10 11 Isensee, ebd. Gouv. S. 41f. Trotz seines Missbrauchs in der nationalsozialistischen Zeit (siehe hierzu Michael Stolleis, Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht, Berlin 1974, S. 76ff.) wird der Gemeinwohldiskurs in den jüngsten sozialphilosophischen und politiktheoretischen Debatten rehabilitiert. Zur heutigen Hochkonjunktur der Gemeinwohlsdiskussion siehe etwa Herfried Münkler/Harald Bluhm/Karsten Fischer (Hrsg.), Forschungsberichte der interdisziplinären Arbeitsgruppe „Gemeinwohl und Gemeinsinn“ der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaft. I-IV. Berlin 2001/2002; Gunnar Folke Schuppert/Friedheim Neidhardt (Hrsg.), Gemeinwohl – Auf der Suche nach Substanz, Berlin 2002; Winfried Brugger/Stefan Kirste/Michael Anderheiden (Hrsg.), Gemeinwohl in Deutschland, Europa und der Welt, Baden-Baden 2002. Otto Nigsch, Management – ein Weg zur gesellschaftlichen Generalsanierung?, in: Soziale Welt, 48. Jg., 1997, S. 417f. Nigsch, aaO, S. 418; Ulrich Bröckling, Totale Mobilmachung. Menschenführung im Qualitäts- und Selbstmanagement, in: ders./Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hrsg.), Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt a.M., 2000., S. 131. Nigsch, ebd.; vgl. auch Christoph Deutschmann, Reflexive Verwissenschaftlichung und kultureller „Imperialismus“ des Managements, in: Soziale Welt, 40. 171 rens benötigen. Schon Ulrich Bröckling hat gezeigt, wie die Gouvernementalität der Gegenwart auch von der „Grammatik“ des Managements her erneut analysiert werden kann.12 II. Vom Gemeinwohl- zum Krisenmanagement Die wichtigste Funktion des Managements ist die Thematisierung und Reduzierung der Komplexität. Dies wird besonders beim Management des Gemeinwohls hervorgehoben, da schon der Begriff Gemeinwohl eine Art verwickelte Kompliziertheit darstellt und es in freiheitlichen Demokratien keine ein- für allemal feststehende Gemeinwohldefinition mehr geben kann.13 Trotz dieser Komplexitätsthematisierung und -reduzierung sind das Management und die dahinter stehende programmierende Rationalität dem szientistischen Reduktionismus nicht gleichzusetzen. Dem szientistischen Reduktionismus liegt eine Art mathematisch-physikalisch linearer Denkweise zugrunde, der zufolge komplexe Probleme in der Weise zu lösen seien, dass sie als ein Zusammenspiel einfacher Gesetze angesehen werden. Undurchschaute lebensweltliche Komplexitäten seien demnach lösbar, wenn man nur lange genug Einzelursachen verfolgt.14 Im Gegensatz dazu präsentieren sich die komplexen Systeme menschlicher Lebenswelten oft als dynamische Prozesse, die sich wegen kleiner Abweichungen in den Ausgangsbedingungen in eine nicht vorhergesehene Richtung entwickeln. Die Redewendung „Kleine Ursache, große Wirkung“ erweist sich als zutreffende Beschreibung der Undeterminiertheit und Instabilität komplexer Systeme.15 Genau deswegen sollte 12 13 14 15 172 Jg., 1989, S. 374. Bröckling (Fn.10), S. 135. Herfried Münkler/Karsten Fischer, Einleitung: Gemeinwohl-Konkretisierung und Gemeinsinn-Erwartungen im Recht, in: Münkler/Fischer (Hrsg.), Forschungsberichte der interdisziplinären Arbeitsgruppe „Gemeinwohl und Gemeinsinn“ der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaft. Bd. III. Gemeinwohl und Gemeinsinn im Recht. Konkretisierung und Realisierung öffentlicher Interessen, Berlin 2002, S. 9; vgl. auch Winfried Brugger/Stefan Kirste/Michael Anderheiden, Einleitung, in: Brugger/Kirste/Anderheiden (Fn.8), S. 9f.; Christoph Engel, Offene Gemeinwohldefinition, in: Rechtstheorie 32 (2001), S. 23ff. Gerhard Struck, Gesetz und Chaos in Naturwissenschaft und Rechtswissenschaft, in: JuS 1993, S. 933; vgl. auch Sibylle Tönnies, Komplexität und Chaos, in: Rechtstheorie 23 (1992), S. 533ff. Vgl. Struck, aaO, S. 996; Michel Paroussis, Chaosforschung und Recht, in: Joachim Bohnert u.a. (Hrsg.), Verfassung – Philosophie – Kirche. Festschrift für das Management der „Emergenz von Nicht-Linearität“16, das heißt dem Chaos, das Zufälligkeit und Unvorhersehbarkeit erlaubt, Raum geben. Das Management hat stets mit Ambivalenz und Widersprüchlichkeit, Erschütterungen und Krisen zu rechnen und diese, wenn es nötig ist, strategisch und produktiv wieder in sich zu investieren.17 Dadurch lässt sich das ganze Gemeinwohlmanagement schließlich auch als eine Art von „Krisenmanagement“18 betrachten, vermöge dessen jede Krise und Erschütterung umgekehrt als konstruktiver Faktor zum Revidieren bzw. zur Weiterentwicklung des vorhandenen Programms angesehen werden kann. Angesichts seiner immer vielfältiger und zunehmender gewordenen „responsiveness“, nämlich der „Bereitschaft und Fähigkeit, auf Bedürfnisse und Interessen rascher und stärker zu antworten“19, hat sich das gesamte Gemeinwohlmanagement zu einem umfassenden Netz der Macht zum Leben entwickelt, wobei die thematische Spannweite vom Lebens-, Eigentums- und Freiheitsschutz über die Daseinsvorsorge und Umverteilung bis zu heute neu erscheinenden Themen wie Umweltschutz, Embryonenforschung, Terrorismusbekämpfung, Europäischer Integration und Globalisierung reicht.20 Selbst auf die im Prinzip autonomen Bereiche von Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst und Religion nimmt das Gemeinwohlmanagement einen erheblichen Einfluss. Dieser manifestiert sich entweder direkt in finanziellen Zuwendungen, Subventionen, Arbeitsplatzbeschaffungsmaßnahmen oder indirekt in der Gestaltung notwendiger Rahmenbedingungen.21 Die heutige Krise des Sozial- bzw. Wohlfahrtstaates, über die schon seit der zweiten Hälfte der 70er Jahre des 16 17 18 19 20 21 Alexander Hollerbach zum 70. Geburtstag, Berlin 2000, S. 568f. Paroussis, aaO, S. 569. Vgl. Thomas Lemke, Neoliberalismus, Staat und Selbsttechnologien. Ein kritischer Überblick über die governmentality studies, in: Politische Vierteljahresschrift, 41 Jg., 2000, S. 42f.; Alan Hunt/Gary Wickham, Foucault and Law. Towards a Sociology of Law as Governance, London 1994, S. 80ff., 104ff.; Pat O’Malley, Indigenous Governance, in: Economy and Society, vol. 25, 1996, S. 310ff. Vgl. Höffe (Fn.1), S. 157; Wolfgang Reinhard, Das Wachstum der Staatsgewalt, in: Der Staat 31 (1992), S. 71. Höffe, aaO, S. 163. Für die einschlägige Diskussion zu den dargelegten neuen Gemeinwohlthemen siehe Winand Gellner/Gerd Strohmeier (Hrsg.), Freiheit und Gemeinwohl. Politikfelder und Politikvermittlung zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Baden-Baden 2002. Höffe (Fn.1), S. 159f., 162f.; vgl. auch Görg Haverkate, Verfassungslehre. Verfassung als Gegenseitigkeitsordnung, München 1992, S. 212ff. 173 letzten Jahrhunderts immer wieder gesprochen worden ist, zeigt sich nicht nur in der Finanzkrise der öffentlichen Haushalte im allgemeinen und der Sozialversicherungshaushalte im besonderen22, sondern auch in der Gefahr des Selbständigkeitsverlustes: Zum einem ist die Lebensführung des einzelnen immer mehr von der weitläufigen sozialen Daseinsvorsorge abhängig, und zum anderen wird ihm zugleich eine neue gesellschaftliche Disziplinierung und Normalisierung auferlegt, die diesmal im Namen der Solidarität und der sozialen Sicherheit vorgenommen wird.23 Wie sollten diese Krisen besser „gemanagt“ werden? Und wohin sollte das ganze Gemeinwohlmanagement weiter gehen? Dafür gibt es bis heute schon eine Vielzahl neuartiger Vorstellungen und Strategien aus dem Neoliberalismus24 bzw. der New-Public-Management-Bewegung25. Sie verlangen mehr Deregulierung, Dezentralisierung, Dekonzentrierung, Entbürokratisierung, Privatisierung und Subsidiarität.26 All diese neuartigen Strategien kehren nicht zu den laisser-faire-Utopien des klassischen wirtschaftlichen Liberalismus zurück. Sie richten sich vielmehr, wie Nikolas Rose meint, nach dem „governing at a distance“, das heißt: „to gov22 23 24 25 26 174 Vgl. Georg Vobruba, Politik mit dem Wohlfahrtstaat, Frankfurt a.M. 1983, 1ff.; Hans Herbert v. Armin, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, München 1984, S. 165, 170; Rupert Scholz, Sozialstaat und Globalisierung, in: Hans Joachim Cremer u.a. (Hrsg.), Tradition und Weltoffenheit des Rechts. Festschrift für Helmut Steiberger, Berlin u.a. 2002, S. 619. Vgl. WA, S. 51; Nikolas Rose, Governing “Advanced” Liberal Democracies, in: Andrew Barry/Thomas Osborne/Nikolas Rose (Hrsg.), Foucault and Political Reason. Liberalism, Neo-Liberalism and Rationalities of Government, Chicago u. a. 1996, S. 48ff. Rose, aaO, S. 53ff.; Lemke (Fn.17), S. 37ff.; Mitchell Dean, Governmentality. Power and Rule in Modern Society, London u.a. 1999, S. 149ff. Das Ziel des New-Public-Management liegt in der Steigerung der Transparenz und Effizienz im öffentlichen Sektor. Dies führt zur Neubewertung der Staatsaufgaben und Neuorganisation der Aufgabenerledigung, welche insbesondere unter dem Aspekt der Einführung einer marktgesteuerten, kundenorientierten öffentlichen Dienstleistungsproduktion diskutiert wird. Jörg Bogumil, Modernisierung des Staates durch Public Management. Stand der aktuellen Diskussion, in: Edgar Grande/Rainer Prätorius (Hrsg.), Modernisierung des Staates, Baden-Baden 1997, S. 21ff.; vgl. auch Frieder Naschhold/Jörg Bogumil, Modernisierung des Staates. New Public Management in deutscher und internationaler Perspektive, 2. Aufl., Opladen 2000; Eckhard Schröter/Hellmut Wollmann, New Public Management, in: Bernhard Blanke u.a. (Hrsg.), Handbuch zur Verwaltungsreform, 2. Aufl., Opladen 2001, S. 71ff. Der sogenannte „Thatcherismus“ bzw. die „Reaganomics“ sind exemplarisch für diese Strategien. Vgl. Rolf Stober, Dimensionen der Deregulierung: interdisziplinär betrachtet, in: ders. (Hrsg.), Deregulierung im Wirtschafts- und Umweltrecht, Köln u.a. 1990, S. 1; Dean (Fn.24), S. 151. govern through the regulated and accountable choices of autonomous agents – citizens, consumers, parents, employees, managers, investors – and to govern through intensifying and acting upon their allegiance to particular »communities«”.27 Demnach sollten die Bürger nicht mehr nur passive Adressaten von staatlichen Dienstleistungen sein. Sie müssten im Gegenteil lernen, „Unternehmer ihrer selbst“ zu sein, um ihr Leben wieder eigenverantwortlich zu führen.28 Das heute im Verwaltungsrecht eingeführte Modell informellen, kooperativen oder konsensualen Verwaltungshandelns liefert ein schönes Beispiel dafür. Schon in seinem im Jahr 1979 veröffentlichten Artikel Der kooperative Staat. Bemerkungen zum Verhältnis von Staat und Wirtschaft hat Ernst-Hasso Ritter darauf hingewiesen: „Die Entscheidungsfindung zur Lösung der gemeinsamen Probleme und die Verhaltensabstimmung zwischen Staat und Wirtschaft können durch einseitiges Vorgehen und durch den Einsatz hoheitlicher Machtmittel nicht mehr bewältigt werden.“ „Der planende Staat hat mit der Komplexität der Umwelt nicht nur zu rechnen, er muss ihr seinerseits komplexe und differenzierte Strategien entgegensetzen.“ „Das Prinzip der Einseitigkeit“ muss „durch sein Gegenteil“ ersetzt werden, also: „durch das Prinzip der Zweiseitigkeit oder der Zusammenarbeit“. 29 Dabei werden administrative Entscheidungen nicht mehr einseitig-hoheitlich durch eine Behörde gefällt. Durch kommunikative Beteiligung des Gesetzesadressaten an der Gesetzesauslegung und Gesetzesanwendung werden sowohl die Akzeptanz und Legitimation staatlicher Entscheidungen als auch die Verfahrensökonomie und Steuerungsfähigkeit der Verwaltung erheblich erhöht. 30 Am wichtigsten ist jedoch, dass die Bürger in diesem kooperativen Kommu27 28 29 30 Rose (Fn.23), S. 56, 61; vgl. ders., The Death of the Social? Re-figuring the Territory of Government, in: Economy and Society, vol. 25, 1996, S. 327ff.; Peter Miller/Nikolas Rose, Das ökonomische Leben regieren, in: Jacques Donzelot u.a. (Hrsg.), Zur Genealogie der Regulation. Anschlüsse an Michel Foucault, Mainz 1994, S. 79ff. Lemke (Fn.17), S. 38ff.; vgl auch Brugger, Liberalismus, Kommunitarismus, Pluralismus. Studien zur Legitimation des Grundgesetzes, Baden-Baden 1999, S. 79ff., 132ff., 173ff., 377ff. Ernst-Hasso Ritter, Der kooperative Staat. Bemerkungen zum Verhältnis von Staat und Wirtschaft, in: AöR 104 (1979), S. 391. Vgl. Erhard Treutner, Kooperativer Rechtsstaat. Das Beispiel Spezialverwaltung, Baden-Baden 1998, S. 48ff. Vgl. Helmuth Schulze-Fielitz, Kooperatives Recht im Spannungsfeld von Rechtsstaatsprinzip und Verfahrensökonomie, in: Deutsches Verwaltungsblatt, 109 Jg., 1994, S. 657ff.; Hans-Uwe Erichsen, Das Verwaltungshandeln, in: ders. (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, Berlin 1998, §32, S. 457ff. 175 nikationsverfahren die Chance bekommen, an den öffentlichen, aber zugleich auch privat betroffenen Angelegenheiten zu partizipieren. Dies, was man als das kooperative Recht bezeichnet, hat eine andere Tür für den Unternehmer des Selbst im weiteren Sinne geöffnet. C. Parlamentarisches Gemeinwohlmanagement im Rahmen des Doppeldisziplinierungsmechanismus des Verfassungsstaates Eigentlich sind diese neuartigen Strategien aus dem Neoliberalismus, der New-Public-Management-Bewegung bzw. dem kooperativen Recht nichts anderes als einige der möglichen Konzepte, die im Rahmen des Gemeinwohlmanagements eingesetzt werden können. Ob sie im Vergleich zu anderen effektiver und praktikabler sind, um die vorhandenen Krisen zu berwältigen, dafür gibt es keine einheitliche Antwort. Selbst wenn wir schließlich gezwungen sind, über das „Wozu“ und das „Wie“ des Gemeinwohlmanagements durch die öffentliche Debatte und den demokratischen Parlamentarismus zu entscheiden, bedeutet dies nicht, dass demokratische Mehrheiten immer recht bzw. unterlegene Minderheiten immer unrecht hätten. Der demokratische Parlamentarismus ist nur eines der möglichen Entscheidungsverfahren. Dank der populären Partizipation und öffentlichen Kommunikation sind wir bereit und auch diszipliniert genug, an die Legitimation des demokratischen Parlamentarismus zu glauben und diesen als faire und angemessene „Prozedur[…] der Gemeinwohlkonkretisierung“ zu betrachten.31 Vermittels des demokratischen Entscheidungsverfahrens kann eigentlich weder eine richtige noch eine gerechte Entscheidung gewährleistet werden. Die Konkretisierung des Gemeinwohlmanagements durch demokratische Prozeduren kann am Ende auch zu unrichtigen oder ungerechten Ergebnissen führen. Es bedarf deshalb gleichzeitig einer institutionellen Mindestbedingung, die das parlamentarische Gemeinwohlmanagement überwacht und kontrolliert. Damit sind wir wieder zum Doppeldisziplinierungsmechanismus des Verfassungsstaates zurückgekehrt. Erst durch den Doppeldisziplinierungsmechanismus werden die Einzelheiten des parlamentarischen Gemeinwohlmanagements hierarchisch und stufenweise nachgeprüft, solange sie im Rahmen des Staates stattfinden und sich in irgendeiner Form auf die zentralisierend-souveräne, individualisierend-disziplinäre oder regulierend-gouvernementale Macht 31 176 Vgl. Brugger (Fn.5), S. 59ff. berufen. Aber wie schon erwähnt kann der ganze Doppeldisziplinierungsmechanismus des Verfassungsstaates gewissermaßen doch eine Art strategischer List der Disziplinarmacht sein. Demnach werden vorhandene Maßnahmen zur Disziplinierung des Staatsbürgers im Gegenteil durch den Doppeldisziplinierungsmechanismus aufrechterhalten. Diese strategische List der Disziplinarmacht herrscht bis zu einem gewissen Grade auch im Verhältnis zwischen dem parlamentarischen Gemeinwohlmanagement und dem Doppeldisziplinierungsmechanismus, wobei ein Teil des auf sozialen Wandel reagierenden Gemeinwohlmanagements durch die Verfassungsgerichtsbarkeit als verfassungswidrig verworfen wird und bestimmte, um der Disziplinierung des Staatsbürgers willen eingeführte Institutionen unberührt weiter bestehen bleiben. Exemplarisch dafür ist die Entwicklung einschlägiger Entscheidungen des U.S. Supreme Court, welche seit dem Ende des 19. Jahrhunderts um das Problem kreisen, ob die sozialen Regelungen, die die ungleiche Verhandlungsmacht der Vertragspartner durch die Einschränkung der Vertragsfreiheit ausgleichen, um angemessene Arbeitsbedingungen für Arbeiter zu schaffen, für verfassungsmäßig oder verfassungswidrig gehalten werden sollten.32 Im Fall Lochner v. New York (1905)33 erklärte der Supreme Court das Gesetz des Staates New York zum Zweck der Einschränkung der Arbeitszeit von Angestellten in Bäckereien auf höchstens 10 Stunden pro Tag und 60 Stunden pro Woche für verfassungswidrig, da es gegen die in der due-process-Klausel des 14. Amendment geschützte Vertragsfreiheit verstößt. Zum einem fiel die Regelung mit der arbeits- und sozialrechtlichen Motivation nach der Auffassung des Gerichts nicht unter die „police power“. Denn „[t]here is no contention that bakers as a class are not equal in intelligence and capacity to men in other trades or manual occupations, or that they are not able to assert their rights and care for themselves without the protecting arm of the state, interfering with their independence of judgment and of action. They are in no sense wards of the 32 33 Winfried Brugger, Einführung in das öffentliche Recht der USA, München 1993, S. 96f. Lochner v. People of State of New York, 198 U.S. 45 (1905). Für die einschlägige Diskussion zu diesem Fall siehe Brugger, aaO, S. 97f.; ders., Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika, Tübingen 1987, S. 54ff.; Markus Schefer, Konkretisierung von Grundrechten durch den U.S.-Supreme Court. Zur sprachlichen, historischen und demokratischen Argumentation im Verfassungsrecht, Berlin 1997, S. 74f. 177 state.“34 Zum anderen bestand diese Regelung auch nicht die Prüfung anhand der strikten Mittel-Zweck-Analyse, selbst wenn der Staat New York sie unter dem Gesichtspunkt der öffentlichen Gesundheit erlassen hatte und diese im Prinzip unter die Zuständigkeit der „police power“ fiel. Die Begründung des Gerichts lautete wie folgt: „The act must have a more direct relation, as a means to an end, and the end itself must be appropriate and legitimate […].”35 „Clean and wholesome bread does not depend upon whether the baker works but ten hours per day or only sixty hours a week. The limitation of the hours of labor does not come within the police power on that ground.“36 In den folgenden drei Jahrzehnten erklärte der U.S. Supreme Court ungefähr 200 legislative Wirtschaftsregulierungsregelungen für verfassungswidrig.37 Erst im Fall West Coast Hotel Co. v. Parrish (1937)38 hat sich der Supreme Court letztendlich durch die „responsive interpretation“39 von seinen Präjudizien befreit. In der Entscheidung dieses Falls sagt Chief Justice Hughes: „The Constitution does not speak of freedom of contract. It speaks of liberty and prohibits the deprivation of liberty without due process of law. In prohibiting that deprivation, the Constitution does not recognize an absolute and uncontrollable liberty. Liberty in each of its phases has its history and connotation. But the liberty safeguarded is liberty in a social organization which requires the protection of law against the evils which menace the health, safety, morals, and welfare of the people. Liberty, under the Constitution is thus necessarily subject to the restraints of due process, and regulation which is reasonable in relation to its subject and is adopted in the interests of the community is due process.“40 „In dealing with the relation of employer and employed, the Legislature has necessarily a wide field of discretion in order that there may be suitable protection of health and safety, and that peace and good order may be promoted through regulations designed to insure wholesome con34 35 36 37 38 39 40 178 Lochner v. People of State of New York, 198 U.S. 45, 57 (1905). Ebd. Ebd. Brugger (Fn.32), S. 98. West Coast Hotel Co. v. Parrish, 300 U.S. 379 (1937). Siehe hierzu Brugger, aaO, S. 99; Schefer (Fn.33), S. 76, 287f. Der Begriff „responsive interpretation“ wird von Robert Post im Anschluss an das Rechtsmodell des „responsive law“ von Philippe Nonet und Philip Selznick präsentiert. Dazu siehe Post, Theories of Constitutional Interpretation, in: ders. (Hrsg.), Law and the Order of Culture, Berkeley u.a. 1991, S. 23ff. West Coast Hotel Co. v. Parrish, 300 U.S. 379, 391 (1937). ditions of work and freedom from oppression.“41 Eigentlich geht es in dieser sogenannten Lochner-Ära nicht nur um das Spannungsverhältnis zwischen der Judikative und der Legislative, sondern auch weitergehend um einen anderen Machtantagonismus zwischen dem Doppeldisziplinierungsmechanismus und dem parlamentarischen Gemeinwohlmanagement. In diesem lange andauernden Machtantagonismus wurden zwar eine große Menge von sozialen und wirtschaftregulierenden Gesetzgebungen, die zur Relativierung der sozialen Spannungen beitragen könnten, immer wieder durch den Supreme Court zurückgewiesen, und die Arbeiter mussten nach wie vor unter dem Ethos der Vertragsfreiheit die schlechten Arbeitsbedingungen ertragen. Aber muss man deswegen diesen Machtantagonismus als die fatale Schwäche des Doppeldisziplinierungsmechanismus des Verfassungsstaates betrachten? Trotz ihres hartnäckigen Widerstands gegen das parlamentarische Gemeinwohlmanagement haben die Verfassungsgerichtsbarkeit und der dahinter stehende Doppeldisziplinierungsmechanismus die Meinungsfreiheit, die Kanäle öffentlicher Kommunikation und die initiativ-programmierende Befugnis des Parlaments zur Gemeinwohldefinition nicht ausgeschaltet. Nachdem die Weltwirtschaftskrise in den 30er Jahren ausgebrochen war, wurde in der Öffentlichkeit immer stärkere Kritik am Supreme Court laut. Es zeigt sich, dass der Supreme Court letztendlich im Fall West Coast Hotel Co. v. Parrish seinen Jahrzehnte andauernden Widerstand gegen legislative Sozial- und Wirtschaftsregulierungen aufgab und Präsident Franklin D. Roosevelt sich mit seiner New Deal-Politik durchsetzen konnte.42 Alles zusammen genommen ist das Rechtssystem des Verfassungsstaates wegen der sozial- bzw. wohlfahrtsstaatlichen Krise und der dadurch ausgelösten Gefahr des Selbständigkeitsverlusts nicht unbedingt in eine Sackgasse geraten. Im Gegenteil gestattet es das parlamentarische Gemeinwohlmanagement im Rahmen des Doppeldisziplinierungsmechanismus des Verfassungsstaates, eine Reihe neuartiger Strategien zu entwickeln, um diese Krise und Gefahr zu bewältigen. Es gibt zwar überdies noch den Machtantagonismus zwischen dem parlamentarischen Gemeinwohlmanagement und dem Doppeldisziplinierungsmechanismus, wobei „gute“ und „gerechte“ legislative Regulierungspolitik durch die 41 42 AaO, S. 393. Vgl. Brugger (Fn.32), S. 43, 98; Schefer (Fn.33), S. 288. 179 Verfassungsgerichtsbarkeit als verfassungswidrig verworfen werden kann. Aber „schlechte“ und „ungerechte“ Politik kann auch durch die Verfassungsgerichtsbarkeit verhindert werden. Am wichtigsten ist vielmehr, dass in diesem Machtantagonismus die Meinungsfreiheit, die Kanäle der öffentlichen Debatte und die legislativen Befugnisse zum Gemeinwohlmanagement durch die Verfassungsgerichtsbarkeit und den dahinter stehenden Doppeldisziplinierungsmechanismus nicht ausgeschaltet werden. Dadurch werden sie im Gegenteil gewährleistet und weiter gefördert. In seiner bisherigen Geschichte erweist sich das ganze Rechtssystem des Verfassungsstaates – mit seinem Doppeldisziplinierungsmechanismus und dem parlamentarischen Gemeinwohlmanagement – als die effektive institutionelle Mindestbedingung, die den Kampf gegen die Übergriffe der Macht fortsetzen kann. 180 Schluss: Eine Machtgeschichte des Verfassungsstaates Schon seit langem haben wir uns in den Maschen der Macht zum Leben verfangen. Selbst der Verfassungsstaat, der uns von dem Absolutismus und seiner Machtvollkommenheit befreit hat, ist diesem Schicksal nicht entkommen. Durch seine mikro- und makrophysikalische Machtanalytik der Disziplin und der Gouvernementalität hat Foucault uns gezeigt, wie das gesamte Rechtssystem des Verfassungsstaates mit Parlamenten, Gesetzgebungen, Verwaltungen und Gerichten zu Gefangenen einer zugleich individualisierenden und totalisierenden Form der Macht geworden ist. Im Kampf gegen die Übergriffe der Macht scheint der Verfassungsstaat bei Foucault in ein feines Spinnennetz geraten zu sein, in dem er kraftlos seine Flügel schwingt, ohne von der Stelle zu kommen. Wenn aber der Verfassungsstaat sowohl durch die Normalisierungsvorgänge der Disziplin als auch durch die Gouvernementalisierung kolonisiert worden ist, so befindet er sich deswegen noch nicht in einer Sackgasse. Im Gegenteil: Der Verfassungsstaat hat sich unterschiedlicher Methoden bedient, um sich einerseits zum Doppeldisziplinierungsmechanismus und andererseits zur Rahmenbedingung für das Gemeinwohlmanagement zu entwickeln. Dank seines nicht gänzlich vorhersehbaren Doppeldisziplinierungsmechanismus ist der Verfassungsstaat nun nicht nur in der Lage, die störende Disziplinierung des Staatsbürgers zu überwachen und zu disziplinieren. Im Rahmen dieses Doppeldisziplinierungsmechanismus bietet er uns darüber hinaus eine günstige und faire institutionelle Mindestbedingung für das Gemeinwohlmanagement an, um die von der Komplexität und Krisen durchdrungene Lebenswelt mittels einer Vielzahl neuartiger Strategien zu regieren. Zwar kann der ganze Doppeldisziplinierungsmechanismus des Verfassungsstaates mit seiner Verfassungsgerichtsbarkeit bis zu einem gewissen Grade auch eine Art strategischer List der Disziplinarmacht sein, um auf der einen Seite die Disziplinierung des Staatsbürgers zu unterstützen und auf der anderen Seite das durch das demokratische Mehrheitsentscheidungsverfahren abgestimmte „gute“ und „gerechte“ Gemeinwohlmanagement als verfassungswidrig zu verwerfen. Aber die Meinungsfreiheit, die Kanäle der öffentlichen Kommunikation und die Debatten sowie der demokratische Parlamentarismus werden durch diesen Doppeldisziplinierungsmechanismus nicht arglistig eingeschränkt. Dank ihm werden sie im Gegenteil 181 gewährleistet und sogar angespornt. Die Menschen- und Grundrechte, egal ob sie unter dem Aspekt des Foucaultschen Rechts des Regierten verstanden werden, können nur im Rahmen dieser institutionellen Mindestbedingung des Doppeldisziplinierungsmechanismus des Verfassungsstaates besser geschützt und entwickelt werden. Den bisherigen Versuch des Umdenkens und der Rekonstruktion des Verfassungsstaates, dem die postmoderne Machtanalytik Foucaults zugrunde liegt, möchte ich gerne als eine Machtgeschichte des Verfassungsstaates betrachten. Genau durch diese Machtgeschichte des Verfassungsstaates lässt sich nicht nur das Geheimnis des Überlebens und der Weiterentwicklung des heutigen Verfassungsstaates lüften. Dadurch machen wir uns zugleich bewusst, dass wir uns ständig in einem endlos weit gespannten und unendlich eng geknüpften Machtnetz der Interdependenz befinden. Dabei könnte es wohl überall Grenzen für die Freiheit geben, aber auf keinen Fall geht sie für immer verloren. In diesem Sinne möchte ich die Arbeit mit einem Zitat von Nikolas Rose abschließen: „The practices of modern freedom have been constructed out of an arduous, haphazard and contingent concatenation of problematizations, strategies of government and techniques of regulation. This is not to say that our freedom is a sham. It is to say that the agonistic relation between liberty and government is an intrinsic part of what we have come to know as freedom. 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