Selbstbestimmung bei Menschen mit Behinderung

Transcrição

Selbstbestimmung bei Menschen mit Behinderung
Selbstbestimmung bei Menschen mit Behinderung
im Zusammenhang mit den Eltern
Eva-Maria Kaindl
Diplomarbeit
an der Lehranstalt für pädagogische Berufe,
Innsbruck
März 2005
1
Vorwort
Selbstbestimmung bei Menschen mit Behinderung im Zusammenhang mit den Eltern
In jüngster Vergangenheit kommt einem das Wort "Selbstbestimmung", im Zusammenhang
mit Menschen mit Behinderung, immer öfter zu Ohren. Ich arbeite in einer vollzeitbetreuten
Wohngemeinschaft, in der acht Menschen mit relativ hohem Unterstützungsbedarf leben.
Meiner Meinung nach sollen auch sie das Recht auf Selbstbestimmung haben.
Dieser Begriff muss sicherlich in diesem Kontext differenziert gesehen werden. Wenn acht
Menschen mit einem hohen Behinderungsgrad auf engstem Raum zusammenleben, ist es
einfach nicht zu gewährleisten, dass jeder das macht was er jetzt gerade tun möchte,
besonders dann nicht, wenn es selbst- oder fremdgefährdend ist.
Doch es gibt auch die so genannten Menschen mit "Lernschwierigkeiten" bzw. niedrigem
Behinderungsgrad in unserer Gesellschaft. Ihre Behinderung fällt auf den ersten Blick oft gar
nicht auf. Allein der Stempel "behindert", der in der heutigen Leistungsgesellschaft oft ohne
große Überlegung verteilt wird, macht "die Behinderten" behinderter, als sie dies objektiv
sind.
In meiner Diplomarbeit beschäftige ich mich vorwiegend mit "Selbstbestimmung" von
Menschen mit geistiger Behinderung im Zusammenhang mit ihren Eltern. Dabei möchte ich
diesen Begriff zunächst einmal definieren und auch die Grenzen der Selbstbestimmung
herausfinden.
Seit ich im Behindertenbereich tätig bin, höre ich immer wieder von Eltern, die ihr Kind zwar
in eine Einrichtung geben, sich jedoch zunehmend in sein Leben einmischen und es bei
Kleinigkeiten, wie der Wahl der Kleidungsstücke, der Zimmermöbel, der Haarfarbe etc.
einschränken - Selbstbestimmung zum Schein?
Insbesondere soll eines der Ziele meiner Arbeit sein, Eltern von einem geistig behinderten
Kind besser verstehen zu lernen. Ich möchte verstehen können, was den Ablösungsprozess
der Eltern - oft auch nur der Mutter - von ihrem Kind so schwierig macht, warum viele ihr
behindertes Kind bis an das eigene Lebensende bevormunden, einschränken und ihm das
Recht auf ein selbstbestimmtes Leben manchmal für immer nehmen. Außerdem möchte ich
begreifen, warum manche Eltern die Arbeit der Professionellen (Betreuer, Therapeuten etc.)
blockieren - denn auch sie wollen doch nur das Beste für ihr Kind.
2
1. Selbstbestimmung
Ein jeder von uns wurde sicherlich schon in den verschiedensten Zusammenhängen und
Situationen mit dem Begriff "Selbstbestimmung" konfrontiert. Dennoch ergeben sich einige
Fragen, auf die ich näher eingehen möchte, bevor ich mich genauer mit der eigentlichen
Thematik "Selbstbestimmung bei Menschen mit geistiger Behinderung und ihren Eltern"
auseinandersetzen kann.
•
Wie ist Selbstbestimmung definiert?
•
Ist Selbstbestimmung relativ?
•
Kann man Selbstbestimmung mit Selbstständigkeit gleichsetzen?
•
Was bedeutet Selbstbestimmung genau?
•
Ist Selbstbestimmung bei geistiger Behinderung möglich?
•
Welche Hilfen bedarf es auf dem Weg zur Selbstständigkeit?
•
Wo sind die Grenzen der Selbstbestimmung?
(vgl. Selbstbestimmung, Kongressbeiträge 1994 S 66-69)
1.1 Definition von Selbstbestimmung
Der Begriff „Selbstbestimmung“ bezeichnet laut BROCKHAUS „die Möglichkeit und Fähigkeit
des Individuums - frei dem eigenen Willen gemäß zu handeln“ (Brockhaus 1993).
Mit „Wille“ wird die Fähigkeit des Menschen bezeichnet, sich bewusst für ein Verhalten zu
entscheiden und ein Ziel anzustreben.
1.2 Relativität der Selbstbestimmung
Meiner Meinung nach gibt es jedoch die absolute Selbstbestimmung nicht. Jeder Mensch hat
sich gewissen Regeln, Vorgaben und Gesetzen zu unterwerfen. Selbstbestimmung muss
immer relativ gesehen werden.
Ich wohne beispielsweise alleine, kann mich also nach Lust und Laune in meinen eigenen
vier Wänden bewegen, richte die Wohnung nach meinem Geschmack ein, kann dann
aufräumen, wenn es mir beliebt etc. - im Gegensatz zu früher als ich noch bei meinen Eltern
lebte. In einem Haushalt, bestehend aus mehreren Personen, fühlt sich bestimmt schnell
einmal jemand durch eine meiner Verhaltensweisen gestört und ich muss mich ganz einfach
anpassen. Das Eingehen von Kompromissen ist eine Notwendigkeit, was - wenn ich alleine
wohne - nicht der Fall ist.
3
In diesem Moment verzichte ich somit auf einen Teil meiner Selbstbestimmung und setzte
mich bewusst einer Fremdbestimmung aus, um ein Zusammenleben zu ermöglichen.
Hierbei geht es um den Grad der Selbstbestimmung. Dieser ist außer von den Menschen mit
denen man in Beziehung steht noch abhängig von den Strukturen in die man eingebunden
ist
und
vom
intellektuellen
Entwicklungsstand
eines
Menschen.
(Empowerment
Möglichkeiten und Grenzen geistig behinderter Menschen zu einem selbstbestimmten Leben
zu finden, 2001, Kapitel 3; www.a-wagner-online.de).
In der Arbeit müssen wir beispielsweise oft auf die Anweisungen unseres Vorgesetzten
hören, während wir zu Hause selbstbestimmt leben.
Wir können außerdem auch nur das selbst bestimmen von dem wir wissen. Wenn ich durstig
bin und mir wird zur Auswahl Wasser oder Cola angeboten, obwohl auch noch andere
Getränke zur Verfügung stehen, werde ich in gewisser Weise fremdbestimmt.
Zusammenfassend kann man nun sagen, dass ein Mensch in bestimmten Bereichen
durchaus selbstbestimmt leben kann, jedoch in anderen Lebensbereichen wiederum starker
Fremdbestimmung ausgesetzt ist.
(Empowerment Möglichkeiten und Grenzen geistig behinderter Menschen zu einem
selbstbestimmten
Leben
zu
finden,
in:
Berufsverband
für
Heilerziehung,
Heilerziehungspflege und Hilfe in der Bundesrepublik Deutschland (Hg.): HEP-Informationen.
Wehr/Baden 1998. Seite 7-28.)
1.3 Selbstbestimmung und ihr Verhältnis zur Selbstständigkeit
„Selbstbestimmung“
wird
im
herkömmlichen
Sprachgebrauch
des
Öfteren
mit
„Selbstständigkeit“ gleichgesetzt. Es bedeutet aber nicht, dass wenn jemand in seiner
Selbstständigkeit eingeschränkt ist – wie beispielsweise aufgrund einer Körper- oder
Sehbehinderung – er gleichzeitig fremdbestimmt wird. Die Abhängigkeit von der Hilfe
anderer
Menschen
bedeutet
demnach
nicht
Fremdbestimmung.
Ein
Mensch
mit
Behinderung kann durchaus seine Assistenten anleiten und dadurch über ein hohes Maß an
Selbstbestimmung verfügen.
(vgl. Selbstbestimmung, Kongressbeiträge 1994, S 58)
1.4 Bedeutung der Selbstbestimmung
Ich kann mich vollkommen anderen unterwerfen und mich deren Willen aussetzen, d.h. ich
bin von jemandem fremdbestimmt und somit abhängig.
4
Das Wesen des Menschen hingegen strebt nicht danach, denn es möchte selbst bestimmen
was zu tun ist.
Der Entzug von Selbstbestimmung wird seit jeher als eine der wichtigsten Strafen verhängt.
Man versucht damit Menschen von bestimmten Verhaltensweisen wie z.B. Diebstahl
abzuhalten. Diese Art von Abschreckung zeigt jedoch nur Wirkung, wenn der Mensch Angst
vor den Folgen hat und diese für ihn abschreckend wirken.
HAHN (1995, S 5) verweist hierbei auf Straftäter, denen man die Autonomie und
Selbstbestimmung entzieht: „Dem Straftäter nimmt man etwas weg, was wesenhaft
Menschsein ausmacht, um ihm Gefühle des Unwohlseins zuzuführen.“
Der Mensch ist von Geburt an auf einen Zuwachs von Autonomie angelegt. „…Menschen
benötigen Autonomie, um das je Eigene auszuprägen.“ (Speck, 1993, 74)
Der Begriff AUTONOMIE stammt aus dem Griechischen und bedeutet – autos = Selbst,
nomos = Gesetz – SELBSTGESETZ. Er wurde erstmals durch Immanuel Kant in die Ethik
eingeführt. Kant: „Was der Mensch im moralischen Sinne ist, oder werden soll, gut oder
böse, dazu muss er sich selbst machen oder gemacht haben.“
Das Wohlbefinden des Menschen ist davon abhängig, dass er seine Bedürfnisse befriedigen
kann ohne von anderen unterdrückt zu werden. (HAHN 1994, Selbstbestimmung im Leben
auch für Menschen mit geistiger Behinderung)
Behinderung beschreibt HAHN (1981) als eine Art soziale Unfähigkeit, das eigene Leben
selbständig
zu
meistern.
(vgl.
Selbstbestimmung,
Kongressbeiträge
1994
S
16),
(Empowerment, www.a-wagner-online.de)
Ich persönlich denke, dass auch Menschen mit Behinderung von Geburt an das Bedürfnis
nach Selbstbestimmung und Autonomie verspüren. Da sie jedoch von ihrem Umfeld oft nur
als „behindert“ und nicht als Mensch gesehen werden, gehen ihre Wünsche unter und wir
„Normalen“ üben Fremdbestimmung an ihnen.
1.5 Selbstbestimmung bei Menschen mit geistiger Behinderung
Über Jahrhunderte hinweg herrschte die Meinung, dass Selbstbestimmung bei Menschen
mit geistiger Behinderung nicht möglich sei. Man versucht auch heute oft noch
Selbstbestimmung zu verhüten – beispielsweise was Partnerschaft und Sexualität von
Menschen mit Behinderung angeht. (vgl. Selbstbestimmung, Kongressbeiträge 1994, S 67).
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Heute wird in vielen Einrichtungen wie z.B. Wohnhäuser oder Werkstätten versucht,
Menschen mit Behinderung eigenständig entscheiden zu lassen. Man realisiert, dass ein
Mensch mit Behinderung sehr wohl in gewissen Bereichen selbstbestimmt sein kann und
wenn es dabei lediglich um die Auswahl der Kleidungsstücke, oder eines Getränkes geht.
Selbstbestimmung hat für diese Menschen dieselbe Bedeutung wie für alle anderen auch.
Für geistig behinderte Menschen ist ein selbstbestimmtes Leben allerdings in vielerlei
Hinsicht erschwert. Die Ursachen hierfür können einerseits in der Behinderung selbst,
andererseits auch im Umfeld und den Strukturen, in denen geistig behinderte Menschen
leben, liegen. (vgl. Empowerment. Seite 7-28. www.a-wagner-online.de)
1.5.1 Erschwernisse, die in der Behinderung liegen
Menschen mit geistiger Behinderung benötigen in verstärktem Maße Unterstützung um ihren
Lebensalltag meistern zu können – die einen mehr, die anderen weniger. Ohne diese Hilfe
wären viele nicht überlebensfähig.
Eines ist jedenfalls klar: je stärker ein Mensch von einem anderen abhängig ist, desto
geringer wird der Grad der Selbstbestimmung.
Ein Beispiel aus dem Wohnalltag:
Ein 26jähriger männlicher Bewohner, der nicht sprechen kann, weist uns Betreuer zumeist
eindeutig auf seine Bedürfnisse hin.
Möchte er spazieren gehen bringt er z.B. Jacke und Schuh; möchte er die Windel
gewechselt haben führt er uns zur Toilette, hat er Hunger bringt er seinen Teller etc.
Die Selbstbestimmung dieses Bewohners erfährt jedoch eine Einschränkung, denn im WG
Alltag mit 8 Menschen mit geistiger Behinderung ist es nicht immer möglich, die Wünsche
des Einzelnen sofort zu erfüllen. Der Bewohner muss nun warten bis jemand vom Personal
Zeit hat, um mit ihm spazieren zu gehen. Außerdem sind geistig behinderte Menschen durch
ihre intellektuelle Beeinträchtigung oft nur in der Lage „ja-nein-Entscheidungen“ zu treffen.
Die Aufgabe von uns Betreuerinnen ist es nun herauszufinden, was diesem Menschen jetzt
gut tut. Wenn jemand sein Essen nicht isst, kann ich daraus entweder entnehmen, dass es
ihm
nicht
schmeckt
oder
dass
es
vielleicht
mit
seinem
körperlichen
Befinden
zusammenhängt.
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1.5.2 Erschwernisse, die im sozialen Umfeld liegen
Die Selbstbestimmungsmöglichkeiten geistig behinderter Menschen können jedoch auch
durch Menschen, mit denen sie in Beziehung stehen, erschwert werden. Selbst in der
heutigen Zeit gilt der geistig behinderte Mensch noch vielfach als hilfe- und pflegebedürftig „Defizit“ und „Defekt“ stehen im Vordergrund. Auf den Menschen mit seinen Wünschen und
Bedürfnissen wird auch in der Heilpädagogik manchmal vergessen.
Oft erscheint es wichtiger, das Verhalten einer Person zu entschlüsseln, d.h. ob er schön
isst, was er alles kann, ob er im Haushalt mithilft, etc. Darüber hinaus wird auf die
individuellen Bedürfnisse, Stärken und Ressourcen des behinderten Menschen ganz
vergessen.
Ein solches defizitorientiertes Menschenbild und das fehlende Vertrauen in die Ressourcen
geistig behinderter Menschen führen oft zu deren Bevormundung und Überbefürsorgung.
(THEUNISSEN/PLAUTE, 1995, S 56 f; HAHN, 1995, S 10) Wir als professionelle Helfer und
auch die Eltern treffen häufig Entscheidungen für Menschen mit geistiger Behinderung, wozu
sie durchaus auch selbst fähig wären. Dadurch wird ihre Möglichkeit zur Selbstbestimmung
erheblich eingeschränkt.
In vielen Teams werden Beschlüsse über die Köpfe der Klienten hinweg gefällt. Wenn z.B.
jemand auf sein Gewicht achten sollte, bekommt er zu den Mahlzeiten nur eine Portion und
keinen Nachschlag. Oft ist es nicht einfach, die Klienten in derartigen Dingen mit
einzubeziehen, da sie kein Verständnis in Bezug auf gesundheitliche Aspekte haben. Sie
essen einfach, weil es ihnen schmeckt und wenn ich versuche zu erklären, dass es nicht gut
für ihre Gesundheit sei und sie daher weniger essen sollten, wird das ganz einfach nicht
verstanden. Man sollte jedoch, finde ich, als Begleiterin von Menschen mit Behinderung ein
Gefühl dafür entwickeln, in wieweit Selbstbestimmung für einzelne Klienten möglich ist.
Dadurch kann man bestimmt zunehmend das was NIEHOFF (1994, S 187) sagt verringern:
„Weil Entscheidungen immer von anderen Personen getroffen werden, gibt es keinen Grund
für die behinderte Person, selbst zu wählen und damit Verantwortung zu übernehmen und
Risiko einzugehen. Es gibt folglich auch keine Möglichkeit, die Entscheidungsfähigkeit
stufenweise zu erlernen.“
1.6 Hilfen auf dem Weg zur Selbstständigkeit
Im
Weiteren
werde
ich
hier
pädagogische
Vorgangsweisen,
die
am
ehesten
Selbstbestimmtheit eines Menschen fördern, anführen:
7
•
Freiraum statt ängstlichen Verwahrens
•
Erlaubnishaltung einnehmen statt Verbotshaltungen
•
Ermutigungen geben anstatt negative Erwartungsäußerungen
•
Modelle, Anregungen anbieten – statt durch Isolierung und Resignation zu
vorstellungsmäßiger Verarmung beitragen
•
Vorstellungen bilden und präzisieren, anstatt bloß im praktischen Tun zu verharren
•
Motivieren, das sich Lohnen des Tuns deutlich machen – anstatt sachlicher
Darstellung
•
Unterstützen – statt voreiliges Helfen
•
Bedürfnisse, die immer unterdrückt worden sind wecken und motivieren diese auch
zu äußern – anstatt nur auf Bravheit abzustellen
•
Erfahrungen sammeln lassen, auch wenn es zu Irrtümern kommt – statt nur auf
Sicherheit
zu
setzen
(vgl. Selbstbestimmung, Kongressbeiträge, 1997, S 68)
Alles das klingt ziemlich einfach – ist es aber nicht. Manche Menschen mit geistiger
Behinderung wissen zwar mit Sicherheit, was sie gerne möchten und tun das dann auch
ohne dabei auf „die Anderen“ in Wohngemeinschaften, Werkstätten, aber auch zu Hause bei
den Eltern, zu achten. Das heißt, man muss diesen pädagogischen, die Selbstbestimmung
fördernden, Verhaltensweisen auch gegensteuern und die Person abschirmen, wenn sie
keinen Überblick mehr über die Gefährdungen hat und das Risiko nicht mehr kalkulierbar ist.
1.7 Grenzen der Selbstbestimmung
Hierbei möchte ich zunächst den Psychologen Abraham H. Maslow erwähnen – in den 40er
Jahren hat er die Bedürfnispyramide entwickelt. Alle Menschen haben Bedürfnisse, die
befriedigt werden wollen. Es wird unterschieden zwischen basalen Bedürfnissen, die an der
Basis der Pyramide angeordnet sind und den höchsten Potenzialen des Menschen, die sich
an der Spitze befinden. Jede Stufe der Pyramide ist abhängig von der vorherigen Stufe, d.h.
ein basales Bedürfnis muss zunächst befriedigt werden, bevor man zum nächst höheren
aufsteigen darf.
Maslow unterscheidet fünf Stufen (Bedürfnispyramide nach Maslow, 1970)
•
Selbstverwirklichung: Maslow beschreibt SVW als das Bedürfnis einer Person, das zu
sein und zu tun, wozu sie geboren
8
•
soziale Anerkennung: der Mensch braucht ein hohes Level an Selbst- und
Fremdrespekt um sich zufrieden, selbstbewusst und wertvoll zu fühlen, ansonsten
fühlt er sich unterlegen, schwach, hilflos und wertlos.
•
Liebesbedürfnis: Liebe und Zuwendung zu geben und zu empfangen - die Frustration
dieses Bedürfnisses führt zu Einsamkeit, Isolation und Entfremdung.
•
Sicherheitsbedürfnis: Bedürfnis nach Schutz und Stabilität, Strukturen, Grenzen, frei
sein von Furcht, Angst, Chaos
•
physiologische Bedürfnisse: biologisch bedingte Bedürfnisse nach Sauerstoff,
Nahrung, Wasser und einer relativ konstanten Körpertemperatur - dies sind die
stärksten Bedürfnisse, da der Mensch bei Nichterfüllung sterben würde.
(http://www.psy.unibe.ch/pedes/lehre_aktuell/WS04_05/vorl_entwicklung/downloads/07%20
Humanismus%20Texte.pdf(http://www.marketing
(lexikononline.de/Lexikon/Stichworte_B/Bedurfnishierachie/bedurfnishierachie.html)
Die Erfüllung von diesen Bedürfnissen führt zu Selbstvertrauen und zum Gefühl, nützlich und
notwendig für die Welt zu sein. Finden sie keine Berücksichtigung, entstehen Gefühle der
Minderwertigkeit und Hilflosigkeit. (vgl. Selbstbestimmung Kongressbeiträge, 1997, S 201)
Anhand dieser Pyramide kann man, denke ich, sehr gut die Grenzen der Selbstbestimmung
erläutern. Wenn wir Babys sind, sind die Eltern zuständig für die Erfüllung unserer
physiologischen Bedürfnisse. Später hingegen sollte es mir möglich sein, diese selbstständig
zu befriedigen. Gelingt das jedoch nicht, bin ich auch nicht in der Lage, selbstständig die
nächst höhere Stufe zu erreichen, da ich dann nicht überlebensfähig wäre. Manche
Menschen mit einem höheren Behinderungsgrad würden ohne Hilfe nicht über diese Stufe
hinwegkommen. Sie brauchen allumfassende Unterstützung bei der Deckung ihrer
Bedürfnisse und in der Alltagsbewältigung. Durch meine Arbeitsstelle bin ich vielfach mit
solchen Menschen in Kontakt und obwohl ich im Allgemeinen auch für Selbstbestimmung
bin, stoße ich im Alltag bei meiner Klientel immer wieder auf Grenzen dieser
Selbstbestimmung.
Das Recht auf „die freie Entfaltung“ der Persönlichkeit, und damit das Recht zur
Selbstbestimmung gehört zu den Menschenrechten. Dieses Recht findet jedoch dann seine
Grenze, wenn dadurch „die Rechte anderer verletzt“ werden. (vgl. Grundgesetz, Art. 2, Abs.
1, Empowerment S )
Ein Beispiel aus der Praxis einer Wohngemeinschaft:
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Eine Bewohnerin, die der Lautsprache nicht mächtig ist, kann in der Nacht häufig nicht
schlafen. Anstatt in ihrem Zimmer zu bleiben wandert sie durchs ganze Haus, d.h. auch in
die Zimmer anderer schlafender Bewohner. Begleitet man sie wieder in ihr Zimmer passiert
es häufig, dass sie dieses gleich wieder verlässt.
In diesem Fall werden eindeutig die Grenzen anderer Personen überschritten und doch sind
einem als Betreuerin die Hände gebunden. Man kann die Klientin nicht fragen, warum sie
das macht, weil sie nicht spricht. Man kann es mit Schlaftabletten versuchen, wobei ein
Gewöhnungseffekt bei regelmäßiger Einnahme das Problem auch nicht löst. Um die anderen
Personen vor solch nächtlichen Störungen zu schützen, kann man lediglich deren
Zimmertüren irgendwie so verschließen, dass die nachtwandelnde Bewohnerin nicht hinein
kann. Eine solche individualistische Form von Selbstbestimmung, wobei nach THEUNISSE /
PLAUTE (1995, S 54) „rigider Egoismus und Individualismus“ im Vordergrund stehen, ist
deutlich
abzulehnen.
Hierbei
ist
nur
die
eigene
Bedürfnisbefriedigung,
ohne
Rücksichtsnahme auf die Mitmenschen, wichtig.
Die akzeptable Form ist nach THEUNISSE / PLAUTE (1995, S. 54) die Selbstbestimmung
als „soziale Kategorie“, worunter man eigenverantwortliches Entscheiden und autonomes
Handeln in der Beziehung zum „Du“ versteht. Im Unterschied zur individualistischen Form
werden andere Menschen und die Beziehungen zu ihnen, beim Treffen von Entscheidungen
berücksichtigt. (vgl. Empowerment )
Eine
andere
nicht
vertretbare
Art
von
Selbstbestimmung
ist
jene
mit
Selbstschädigungsgefahr.
Ein Beispiel aus der Praxis einer Wohngemeinschaft:
Ein männlicher 50jähriger Bewohner, der in den letzten Jahren erheblich an Körpergewicht
zugelegt hat, kauft sich mit seinem Taschengeld, über das er frei verfügen darf, ständig sehr
fett- und kalorienhaltige Lebensmittel wie Chips, Würste, Cola etc. Neigt sich sein Geld dem
Ende zu, bedient er sich breitwillig an dem Lebensmittelvorrat der WG.
Da dieser Bewohner scheinbar nicht einschätzen kann, dass eine derartige Menge an
Lebensmitteln seiner Gesundheit alles andere als gut tut, muss das Betreuungspersonal
einschreiten
und
mit
gewissen
Regeln
dieser
selbstzerstörerischen
Art
von
Selbstbestimmung entgegenwirken.
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Ich finde es wichtig, dass jedem Menschen mit Behinderung die Möglichkeit gegeben wird,
sein Leben selbst zu bestimmen, solange er Grenzen anerkennt und seine Handlungen nicht
fremd- oder selbstschädigend sind.
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2. Selbstbestimmung und welche Rolle die Eltern von Menschen
mit Behinderung dabei spielen
Als Einleitung zu diesem Teil möchte ich gerne „Eine Reise nach Holland“ zitieren, weil ich
finde dass diese Geschichte genau schildert vor welcher Situation Eltern stehen bzw. wie sie
ihre Vorstellungen und Wünsche der Realität anpassen müssen, wenn sie plötzlich ein
behindertes Kind zu versorgen haben.
Eine Reise nach Holland....
Wenn Sie ein Baby erwarten, dann ist das ähnlich, wie wenn Sie eine Traumreise nach
Italien planen. Sie kaufen eine Anzahl Reiseführer und machen wundervolle Pläne. Es ist
alles sehr aufregend.
Nach Monaten eifriger Erwartung ist der Tag schließlich da. Sie packen Ihren Koffer, und es
geht los. Einige Stunden später landet das Flugzeug. Die Stewardess kommt herein und
sagt: "Willkommen in Holland."
"Holland?" sagen Sie. "Was meinen Sie mit Holland? Ich habe für Italien gebucht! Mein
ganzes Leben lang habe ich davon geträumt, einmal nach Italien zu reisen."
Doch es gab einen Wechsel im Flugplan. Sie sind in Holland gelandet und dort müssen Sie
nun bleiben.
Sie müssen ausgehen und andere Reiseführer kaufen. Und Sie müssen eine ganz neue
Sprache lernen. Sie werden eine ganz neue Gruppe Menschen kennen lernen, welche Sie
ansonsten nie getroffen hätten.
Es ist nur ein anderer Ort. Es ist alles langsamer als in Italien, weniger leuchtend als in
Italien. Doch nachdem Sie eine Weile dort waren und wieder zu Atem gekommen sind,
schauen Sie sich um und bemerken, dass Holland Windmühlen hat. Holland hat Tulpen.
Holland hat Rembrandts.
Aber jedermann, den Sie kennen, kommt entweder gerade aus Italien oder bereitet sich auf
eine Reise dorthin vor, und sie alle prahlen mit der wunderschönen Zeit, die sie dort hatten.
Für den Rest Ihres Lebens werden Sie sagen:" Ja, dorthin hätte ich auch reisen sollen. Das
hatte ich geplant".
Und der Schmerz darüber wird niemals mehr vergehen, weil der Verlust dieses Traumes ein
sehr bedeutsamer Verlust ist.
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Aber wenn Sie den Rest Ihres Lebens damit verbringen, über die Tatsache zu trauern, dass
Sie nie nach Italien kamen, werden Sie niemals fähig sein, die ganz besonderen, sehr
lieblichen Dinge in Holland zu genießen.
(von Emily Perl Kingsley Autorin,
Mutter eines Kindes mit Down-Syndrom,
viele Arbeiten für die Sesamstraße,
mittlerweile Großmutter)
2.1 Der Blick der Gesellschaft auf die Eltern
Die Basis für ein selbstbestimmtes Leben wird in erster Linie in der Familie gelegt. Ich bin
der Meinung, dass ein Kind mit Behinderung genau spürt was ihm die Eltern zutrauen und
was nicht. Leider werden die Eltern oft gleich nach der Geburt des Kindes sehr brutal mit der
Diagnose konfrontiert:
•
„Ihr Kind wird immer dumm bleiben“,
•
„Ihr Kind ist behindert und wird ein Leben lang abhängig sein“,
•
„Das Kind wird nie sitzen, geschweige denn laufen oder sprechen können.“
•
„Das ist ein Vollidiot, den können Sie gleich ins Heim geben.“
•
„Die (= Menschen mit Down-Syndrom) leben nicht so lange“
Solche Sätze aus dem Mund eines Fachmanns, eines Arztes, zu hören führt dazu, dass die
Eltern im Umgang mit dem Kind eingeschüchtert werden, noch bevor das Kind aus der Klinik
nach Hause kommt.
Maren Müller-Erichsen, eine Mutter, bezeichnet das als erste Hürde, die Eltern zu nehmen
haben, wenn es um die Selbstständigkeit ihrer Söhne und Töchter geht. (Maren MüllerErichsen; Selbstbestimmung Kongressbeiträge 1997, S. 261) Für Eltern ist es ohnehin schon
schwer mit der Behinderung ihres Kindes umzugehen, da fühlen sie sich von solchen
Aussagen nur noch mehr in die Enge getrieben. Auch in der Fachliteratur bekommt man ein
äußerst defizitäres Bild von Eltern geistig behinderter Menschen vermittelt. HINZE (1991)
spricht
von
der
„behinderten
Familie“.
Die
wichtigsten
Aussagen,
welche
die
Erziehungskompetenz der Eltern gehörig in Frage stellen sind:
•
Familien mit behinderten Kindern sind physisch und psychisch extrem belastet (vgl. u.
a. WACKER 1995)
•
Eltern haben Probleme bei der Bewältigung der Behinderung des Kindes. (vgl. u. a.
SCHUCHARDT 1980; DITTMANN-KLATTE-REIBER 1993)
13
•
Sie
können
die
geistige
Behinderung
nicht
akzeptieren
und
entwickeln
Todeswünsche. (vgl. u. a. NIEDECKEN 1989)
•
Ihr Erziehungsstil wirkt sich nachteilig auf die Entwicklung des Kindes aus. (vgl. u. a.
THEUNISSEN / PLAUTE 1995)
•
Eltern beeinträchtigen die Autonomieentwicklung ihrer erwachsenen Söhne und
Töchter mit geistiger Behinderung (vgl. u. a. SCHATZ 1998)
Es stellt sich die Frage, wie bei derart problembelasteten Familien Selbstbestimmung des
Kindes mit Behinderung ermöglicht werden kann. In der deutschen Fachliteratur hätte man
früher wohl kaum eine Antwort gefunden. Erst in jüngerer Zeit werden die Kompetenzen der
Eltern stärker in den Mittelpunkt gerückt. Dadurch, dass immer nur die problematischen
Auswirkungen der Behinderung eines Kindes in der Familie gesehen wurden, hat man die
positiven Entwicklungsverläufe oft übersehen. Heute tendieren die Fachleute immer mehr
dazu, mit den Eltern zu kooperieren. Es wird die Familie als Ganzes gesehen mit dem Ziel,
Verhaltensweisen
zu
verstehen,
Bedürfnisse
zu
erkennen
und
durch
wirksame
Unterstützung eine Hilfe zur Selbsthilfe gegeben. Man hat erkannt, dass sich die
Lebenszufriedenheit der Bezugspersonen sehr wohl auf das Wohlbefinden und die
Entwicklung des Kindes auswirkt. (Monika Seifert, zur Rolle der Familie, S 248)
2.2 Selbstbestimmt leben in der Familie – aus der Sicht der Fachleute
Es gibt viele Berichte von Eltern behinderter Kinder. Dabei hat man herausgefunden, dass
Eltern bestimmte Phasen, die sie erleben, ähnlich schildern. Wolf WOLFENSBERGER
beschreibt in Form von 3 Phasen bzw. Krisen, die Entwicklung von Eltern eines behinderten
Kindes:
•
Phase 1: die Diagnose der Behinderung – Krise 1
•
Phase 2: die Akzeptanz des Kindes entsteht – Krise 2
•
Phase 3: die alltäglichen Probleme – Krise 3
Nachdem die 1. und 2. Phase/Krise überstanden sind, spielt von nun an Krise Nummer 3 die
Hauptrolle im Leben von Eltern eines behinderten Kindes. Und sie werden nicht ausbleiben,
die alltäglichen Probleme. Obwohl die Eltern ihr behindertes Kind bereits akzeptiert haben,
wird ihnen, wenn sie gleichaltrige nichtbehinderte Kinder sehen, trotzdem immer wieder vor
Augen geführt, wie viel selbstständiger diese sind. Sie gehen alleine zu Freunden, auf den
Spielplatz – all das kann ihr Kind nicht oder vielleicht doch? Eltern von Kindern mit
Behinderung neigen aus Angst und Sorge gerne zur Überbehütung und manchen fehlt es an
Mut, die Wünsche der behinderten Söhne und Töchter zu akzeptieren. Der Schulbeginn
bietet für das Kind die Möglichkeit der Rehabilitation. Durch ausreichende Förderung soll es
14
später die Aussicht auf eine sinnvolle Beschäftigung, entweder in einer Werkstätte oder auch
auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt haben. Auf diesem Weg müssen jedoch sowohl die
Kinder als auch die Eltern viele, manchmal auch leidvolle Erfahrungen machen. Es ist sehr
wichtig, Menschen mit Behinderung in das soziale Geschehen zu integrieren. Auch wenn die
Integration in den allgemeinen Arbeitsmarkt nicht immer sofort gelingt sollte man, - d.h. die
Fachleute, aber natürlich auch die Eltern, - die Förderung nicht aufgeben, denn nur wenn wir
in den Bemühungen um das Ziel nicht nachlassen, kommt der Erfolg.
Auf der einen Seite, kann ich die Ängste der Eltern um ihr „behindertes“ Kind gut verstehen,
denn „Behinderung“ wird in unserer Gesellschaft von vielen Seiten immer noch stark
stigmatisiert. Doch einfach gesagt, denke ich, ist es jetzt, da es immer mehr Vereine,
Organisationen, etc. gibt, die für die Rechte, Förderung und Integration von Menschen mit
Behinderung in die Gesellschaft, kämpfen, auch für die Eltern Zeit ihr Kind auf dem
„Selbstbestimmungsweg“ zu unterstützen. Obwohl die Eltern eine solche Sichtweise
theoretisch unterstützen, bekommen sie es im Moment der Verwirklichung oft mit der Angst
zu tun und stimmen somit weiteren Schritten nicht zu. Die Kinder spüren den Zweifel der
Eltern sehr wohl, denn immer wieder gesagt zu bekommen „Pass auf!“ führt dazu, dass der
Mensch mit Behinderung selbst unbegründete Ängste entwickelt.
Mögliche Erfahrungen, die von Eltern verhindert werden:
•
Küchenhilfe – dabei könnte sich der Mensch mit Behinderung verletzten
•
Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel um in die Schule bzw. Arbeit zu gelangen
•
Unbegleitete Freizeitbeschäftigung
•
Arbeiten auf dem öffentlichen Arbeitsmarkt
•
In eine eigene Wohnung ziehen.
(Selbstbestimmung, Kongressbeiträge 1997, S 263)
2.3 Wie Eltern ihre Söhne und Töchter im Selbstbestimmungsprozess begleiten
können
Im Folgenden werde ich erläutern, wie Eltern ihren Kindern auf dem langen Weg des
Autonomie
und
Selbstbestimmungsprozesses
beistehen
können.
Durch
eine
ihrer
Behinderung angepasste Selbstbestimmung kann ein jeder Mensch mit Behinderung mehr
Kontrolle über sein Leben gewinnen.
Der Empowerment-Prozess zieht sich durch sämtliche Lebensphasen:
15
•
Frühe Kindheit
•
Kindheit und Jugendalter
•
Erwachsenenalter
2.3.1 Frühe Kindheit
Damit sich Autonomie bei einem Kind entwickeln kann, muss die Eltern-Kind-Interaktion
stimmen:
•
Durch das in Interaktiontreten der Eltern mit dem Kind entsteht eine emotional
befriedigende Beziehung, in der das Kind sich angenommen fühlt.
•
Durch das Reagieren auf die Signale des Kindes, merkt es, dass es selbst etwas
bewirken kann.
•
Wenn
das
Kind
seine
Eigenaktivität
leben
darf
ist
der
Grundstein
für
selbstbestimmtes Handeln gelegt.
Die Entwicklung der Autonomie ist jedoch besonders bei einem Kind mit schwerer
Behinderung durch außergewöhnliche Verhaltensweisen zumeist erschwert. In diesem Fall
benötigen die Eltern Hilfe von Außenstehenden um das Verhalten ihres Kindes als
kommunikative
Ausdrucksform
zu
verstehen.
Sie
brauchen
Hinweise
für
eine
bedürfnisorientierte, die Entwicklung anregende und Autonomie fördernde Umgangsform mit
dem Kind.
Eine gute Möglichkeit, mit der Behinderung des Kindes besser umgehen zu lernen und
verschiedene Verhaltensweisen zu verstehen, wäre für Eltern, sich einer Selbsthilfegruppe
anzuschließen. Dabei lernen sie gleichzeitig mit ihrer Situation umzugehen und suchen
gemeinsam mit anderen Eltern nach Wegen, die sowohl die Bedürfnisse des Kindes, als
auch die elterlichen Wünsche an ein befriedigendes Leben im Alltag, miteinschließen.
Unter anderem müssen die Eltern auch die Meinung der Fachleute akzeptieren und
umgekehrt. Früher galten diese als Experten. Heute hingegen versuchen auch die Fachleute
viel mehr mit den Eltern zusammenzuarbeiten, was auf das Konzept der „partnerschaftlichen
Kooperation“ basiert. Dieses Konzept funktioniert folgendermaßen:
Man kann sich darunter eine Art „Elternbildung“ vorstellen, die nach den Grundprinzipien der
Erwachsenenbildung funktioniert und auf Freiwilligkeit und Mitbestimmung beruht. Die
Fachleute geben den Eltern durch ihr praktisches Tun Anregungen, die von den Eltern
aufgegriffen werden können oder nicht. Man akzeptiert Eltern als Experten in eigener Sache.
16
Die Aufgabe der Professionellen besteht lediglich darin, die Eltern beim Auffinden und
Nutzen ihrer Ressourcen, sei es materiell, kognitiv, sozial oder psychologisch, zu
unterstützen, denn nur dann können sie Kontrollbewusstsein und Kontrolle über ihr eigenes
Leben wiedergewinnen.
Ich
denke,
dadurch,
dass
Eltern
mehr
Mitbestimmungsrecht
erlangen,
was
die
Selbstbestimmung ihrer Söhne und Töchter betrifft, fühlen sie sich ernst genommen und sind
vielleicht eher bereit, mit den Professionellen zu kooperieren.
Viele Menschen mit Behinderung haben ihr halbes Leben in einer Familie verbracht, in der
man sich eventuell sogar für ihre Existenz schämte. Der Mensch mit Behinderung hatte
beinahe in keinerlei Hinsicht Rechte, denn er ist ja behindert, er muss „gefüttert“ werden, es
ist in allen Belangen Vorsicht angesagt, da er sich ansonsten ja verletzten könnte, etc.
Die Eltern mussten sich bereits nach der Geburt darauf einstellen, ein Leben lang für das
„arme Hascherl“ da zu sein, was nach den ersten Aussagen mancher Ärzte auch kein
Wunder ist. Die meisten kamen dann mit schon relativ hohem Alter in eine Einrichtung (meistens) der Lebenshilfe. Plötzlich wurde den Eltern der Großteil aller Aufgaben, die sie
über Jahre hinweg verrichteten, von „anderen“ (den Professionellen) abgesprochen.
In einer Wohngemeinschaft, bestehend aus mehreren Bewohnern, ist es nicht möglich, alles
genau so zu machen wie die Mutter das über Jahre getan hat, ganz im Gegenteil, in
Wohngemeinschaften tendiert man eher dazu, die Selbstständigkeit des Menschen mit
Behinderung zu fördern. Dann kommt die Mutter mit der frischen Wäsche des Kindes,
vielleicht noch in einer Wochen-Reihenfolge geordnet. Zieht das Kind die Kleidung nicht in
der gewünschten Reihenfolge an, sind die Betreuer Schuld. Konflikte sind vorprogrammiert.
Ich finde eine solche Zusammenarbeit kann nur kontraproduktiv wirken – von
Selbstbestimmung keine Spur. Beispiele, wie dieses, gibt es noch viele, wobei ich meine,
dass dies auch mit der Struktur des Elternvereins „Lebenshilfe“ zusammenhängt.
Das oben beschriebene Konzept der Kooperation von Eltern und Professionellen, kann nur
dann funktionieren, wenn das Umfeld stimmt.
Eltern und Professionelle müssen als gleichwertig gesehen werden. Es darf nicht mehr sein,
dass Eltern „nur“ als Experten angesehen werden, Professionelle „nur“ als „Bösewichte“ und
umgekehrt.
Wilken (2000) meint dazu: „Eltern, die gelernt haben, ihre eigenen Kompetenzen
weiterzuentwickeln und durch Selbsthilfe zu Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung
17
gekommen sind, können auch ihre Töchter und Söhne angemessen unterstützen,
selbstbewusst ihre Lebensgestaltung den individuellen Bedürfnissen und Fähigkeiten
entsprechend mitzubestimmen.
Eine Alltagsgeschichte von Christa Grelle-Müller, Mutter von zwei Söhnen mit Behinderung:
„Es war ein regnerischer Sommertag, Patrick machte mit seiner Gruppe einen Ausflug in den
Zoo. Er wollte absolut keine Gummistiefel anziehen, sondern es sollten ausgerechnet seine
Sandalen sein, obwohl es sehr stark regnete. Mit viel Überredung – und ich muss gestehen,
auch mit einem gewissen Druck – habe ich es erreicht, dass er seine wirklich hübschen
Gummistiefel anzog.
Als er am Nachmittag vom Zoobesuch nach Hause kam, trug er aber keine Gummistiefel,
sondern seine Sandalen an den pitschnassen Füßen. Seine Gruppenleiterin hat mir (mit
Recht) aufgeschrieben, dass es bei dem nassen Wetter nicht gut sei, das Kind mit Sandalen
zu einem Ausflug zu schicken. Es ist mir heute noch ein Rätsel, wie es unserem Sohn
gelungen ist, die Stiefel gegen die Sandalen auszutauschen. Übrigens, wir haben seine
Gummistiefel nie wieder gefunden.
Patricks einziger Kommentar dazu war: „Dafür brauche ich mir jetzt meine Füße nicht mehr
zu waschen.“ Gott sei Dank hatte dieses Erlebnis keine schlimmeren Folgen, als einen
kleinen Schnupfen.“
(Selbstbestimmung – ein heißes Thema für Eltern; S 15, 1999)
2.3.2 Kindheit und Jugendalter
Im Familienalltag sollte Selbstbestimmung in jedem Lebensalter einen Platz finden.
Einige Autonomie fördernde Aspekte sind:
•
Das Kind selbst entscheiden lassen bzw. Auswahlmöglichkeiten bieten
•
Ein NEIN zulassen
•
Dem Kind zeigen, dass es durch Sprache und Kommunikation Einfluss auf die
Umwelt nehmen kann
•
Obwohl man etwas kritisch gegenüber steht Problematisches zulassen
•
Abgrenzung zulassen
•
Meinungsverschiedenheiten diskutieren
•
Den Fähigkeiten des Kindes angemessene Verantwortung übertragen
18
•
Die Ablösung von den Eltern bereits in der Kindheit fördern z.B. über die Betreuung
durch einen Nachbarn, Freunde oder Professionelle; durch Urlaube ohne die Eltern
oder Probewohnen in einer Wohngemeinschaft.
Auch die Schule nimmt ab einem bestimmten Alter des Kindes einen wichtigen ergänzenden
Erziehungsaspekt
ein.
Obwohl
man
immer
mehr
von
den
defizitorientierten
sonderpädagogischen Förderprogrammen abkommt und die Stärken des Kindes zur Gänze
in den Vordergrund rücken, was eigentlich selbstbestimmtes Handel fördern sollte, kommt es
zwischen den Lehrpersonen, die sich als Experten sehen, und den Eltern häufig noch zu
Zwistigkeiten. Diese Haltung verstellt den Blick für elterliche Fähigkeiten, die bei der
Erziehung und Bildung des behinderten Kindes genutzt werden können. (vgl.THEUNISSEN /
GARLIPP 1999; KLAUSS 2000) Um diesem Hindernis einer erfolgreichen Integration
entgegenzuwirken schlägt MITTLER (1995) vor gemeinsam mit den Eltern einen
„Selbstbestimmungslehrgang“ zu entwickeln. Im Zuge dessen wird es Eltern und Lehrern
ermöglicht, Vorschläge für Selbstbestimmung in der Schule und im Elternhaus einzubringen.
Dadurch kann es ermöglicht werden, das Kind vor unterschiedlichen Erziehungszielen und
somit auch vor Unter- bzw. Überforderung zu schützen. (Monika Seifert, Zur Rolle der
Familie, S 251)
Eine Geschichte von Christa Grelle-Müller, selbst Mutter zweier Söhne mit Behinderung:
Als unser Dennis 14 Jahre alt wurde, richteten wir ihm ein neues Zimmer ein. Es war größer
als sein altes und wir haben auch den Kleinkind-Touch daraus verbannt. Abends, bevor wir
schlafen gehen, sehen wir immer noch einmal zu Dennis rein und decken ihn wieder zu. So
auch am ersten Abend in seinem neuen Zimmer.
Ich bekam einen Riesenschreck, denn sein Bett war leer. Es war vorher noch nie
vorgekommen, dass er von selber aufgestanden war, geschweige denn das Zimmer alleine
verlassen hatte. In Panik lief ich von Raum zu Raum, um ihn zu suchen. Endlich fand ich ihn
zusammengerollt auf einem Sessel in seinem alten Zimmer, er schlief friedlich. Erleichtert
brachten wir ihn zurück ins Bett.
Am anderen Morgen aber, als ich ihn wecken wollte, war sein Bett wieder leer. Nun wusste
ich ja schon, wo ich ihn zu suchen hatte. Wir beratschlagten und fassten den Entschluss, ihm
Zeit zu lassen, damit er sich an sein neues, größeres, in unseren Augen viel schöneres
Zimmer gewöhnen könne.
Da sich aber nach einer Woche immer noch nichts geändert hatte, unser Sohn immer wieder
sein altes Zimmer aufsuchte und sich auch nur unter Protest, d.h. mit lautem Knurren zurück
19
bringen ließ, haben wir ihm sein altes Zimmer wieder hergerichtet und siehe da, seither geht
Dennis des Abends wieder gern und zufrieden mit einem kleinen Grinsen auf dem Gesicht
ins Bett.
So nach und nach, im Laufe der Jahre, haben wir dann ganz allmählich das KleinkindZimmer in ein Jugendzimmer umgestaltet.
(Selbstbestimmung – ein heißes Thema für Eltern?!; S 16, 1999)
Ich finde diese Eltern haben korrekt gehandelt. Sie haben die Signale des Sohnes, der nicht
sprechen kann, wahrgenommen und Selbstbestimmung zugelassen.
2.3.3 Erwachsenenalter
Auch Menschen mit Behinderung bleiben – selbst wenn sie vielleicht liebend gerne ein
Leben lang so behandelt werden – nicht ewig Kinder. Irgendwann sind sie erwachsen und
nicht wenige haben im Bezug auf alltägliche Angelegenheiten dieselben Wünsche, Pläne,
Ziele und Hoffnungen, wie jeder von uns.
Über Folgendes möchten auch viele Menschen mit Behinderung gerne frei entscheiden:
•
freie Verfügung über das Taschengeld
•
freie Auswahl der Kleider und Einrichtung des Zimmers bzw. der Wohnung
•
freie Wahl der Freizeitbeschäftigung
•
freie Partnerwahl
•
soweit als möglich freie Berufswahl
Natürlich kommt es immer wieder dazu, dass viele private und berufliche Pläne haben, die
kaum realisierbar sind. Daher finde ich die Auseinandersetzung mit der eigenen Behinderung
besonders wichtig. Es braucht jedoch dazu auch die Unterstützung der Umwelt. Eltern
sollten offen sein für die Wünsche ihrer behinderten Söhne und Töchter. Es bringt nichts
alles totschweigen zu wollen. Auch Menschen mit Behinderung haben ein Recht auf
Wahrheit, auch sie sollen gehört werden.
•
„Nach der Schule heirate ich meinen Freund. Dann kaufen wir ein schönes Haus. Da
haben wir zwei Kinder.“
•
„Ich kann jetzt schon besser rechnen, auch multiplizieren! Ich will Bankdirektor
werden.“
(vgl. Wilke 2000)
20
Solche Aussagen von Menschen mit Behinderung sind erklärungsbedürftig. Wilke meint, es
gibt verschiedene Möglichkeiten, sich mit dieser Problematik zu befassen. Unter
Berücksichtigung
der
individuellen
Fähigkeiten
sollen
sich
die
Jugendlichen
mit
verschiedenen Themen in Gesprächen untereinander, im Rollenspiel, bei der Gestaltung von
Bildern und Collagen oder dem gemeinsamen Ansehen und Diskutieren von Filmen und
Büchern, auseinandersetzen.
Wenn man die deutsche Fachliteratur genauer unter die Lupe nimmt, wird einem bewusst,
dass die Eltern im Autonomieprozess ihrer erwachsenen Söhne und Töchter vielfach als
Hemmschuh, besonders was die Bereiche Freizeit, Kontakte, Sexualität, Zukunftsplanung
und Konsumverhalten angeht, gesehen werden. Studien haben gezeigt, dass manche
jungen Erwachsenen in Selbsterfahrungsgruppen preisgaben, dass ihre Eltern eigenständige
Unternehmungen außerhalb der Familie oftmals nicht unterstützen oder diese sogar
verbieten.
Ich persönlich habe dieses Thema für meine Diplomarbeit gewählt, weil es mir ein Anliegen
ist, das der Selbstbestimmung oft entgegenwirkende widrige Verhalten der Eltern besser zu
verstehen. Dazu gibt es noch viele Fragen, die ich mit Hilfe von Erfahrungsberichten im
Weiteren noch genauer erläutern werde.
Einige Fragen sind:
•
Wie ist autonomiehemmendes Verhalten von Eltern zu erklären?
•
Warum ist der Ablösungsprozess für Eltern von Kindern mit Behinderung besonders
erschwert?
•
Wie gehen Fachleute mit den Eltern auf dem Weg zu einem selbstbestimmten Leben
für Menschen mit geistiger Behinderung um?
Auf all das werde ich anhand von praktischen Beispielen, die Eltern erzählen, noch genauer
eingehen.
2.4 Erklärungen für autonomiehemmendes Verhalten der Eltern
Eltern von erwachsenen Menschen mit geistiger Behinderung erleben ihr Kind im Alltag und
sehen durchaus, dass es nicht in jeglicher Hinsicht für seine eigenen Entscheidungen
Verantwortung übernehmen kann. Eltern treten zum einen für ein selbstbestimmtes Leben
ihrer Söhne und Töchter ein, sehen auf der anderen Seite auch die Risiken.:
•
Die Chancen:
21
o
„Wir wollen soviel Selbstbestimmung wie irgend möglich für unsere Kinder.
Dabei sind Abstufungen – je nach ihrer Behinderung – individuell auszuloten.“
o
„Der Schweregrad einer Behinderung setzt dabei keine Grenzen. Bei kleinen
Dingen im Alltag fängt Selbstbestimmung an – auch für schwerbehinderte
Menschen.
o
„Wir Eltern lernen dazu, wir stellen unsere Haltung und Verhaltensweisen in
Frage.“
o
„Auch Niederlagen gehören zu Menschsein und bedeuten einen – wenn auch
schmerzlichen – Lernprozess.“
•
Die Risiken:
o
„Wir sehen die Gefahr der Manipulierbarkeit unserer geistig behinderter
Söhne und Töchter, z. B. durch missbräuchliche Meinungsbeeinflussung.“
o
„Eltern haben einen Schutzinstinkt. Sie können ihr Kind erst loslassen, wenn
es einen bestimmten Grad an Selbstständigkeit erreicht hat. Je schwerer die
Behinderung, umso schwieriger ist dies.“
o
„Ist es denn so falsch, wenn Eltern sagen: Ich weiß am besten, was für mein
Kind gut ist?
o
„Es handelt sich schließlich um Menschen mit geistiger Behinderung, und dies
wir trotz aller Möglichkeiten zur Selbstbestimmung so bleiben.“
(vgl. Selbstbestimmt leben – ein heißes Thema für Eltern?!; 1999, S 7)
Das hier sind gute Ansätze, die Eltern für ein selbstbestimmtes Leben ihrer Kinder erarbeitet
haben. Ich denke der Ablösungsprozess zwischen Eltern und Kinder gestaltet sich nie
einfach. Aus Angst handeln die Eltern oft falsch und merken dabei nicht, was sie ihrem
behinderten Kind damit antun.
Man hört immer wieder von „Eltern als Hemmschuh“. Besonders Professionelle fühlen sich
oftmals von den Eltern in ihrer Arbeit gestört. Daher wird die Zusammenarbeit auf das aller
Nötigste beschränkt, woraus Konflikte entstehen, die nicht selten auf dem Rücken des
Menschen mit Behinderung ausgetragen werden.
2.5 Der Ablösungsprozess – das Loslassen
Ablösungsprozesse sind ein wichtiger Bestandteil menschlicher Entwicklung und ziehen sich
durch einen großen Teil unseres Lebens:
22
Zum Ablösungsprozess gehören:
•
die Abnabelung bei der Geburt
•
das Abstillen
•
die erste Identitätsbildung im Kleinkindalter
•
der Kindergarten- und Schuleintritt
•
die Abgrenzung im Jugendalter
•
der Auszug aus dem Elternhaus
Doch selbst mit dem letzten Punkt ist die Ablösung noch nicht zur Gänze vollzogen.
Ablösungsprozesse haben immer mit Veränderung zu tun, wodurch sie stark mit Angst und
Ungewissheit vor dem Neuen verbunden sind. Trotzdem sind sie eine wichtige
Voraussetzung für die eigene Identitätsentwicklung mit dem Bewusstsein von Autonomie
und Selbstvertrauen beim erwachsenen Menschen. Dieses Entwicklungsmuster gilt im
Grunde auch für Menschen mit geistiger Behinderung. Ist jedoch der Grad der Behinderung
höher, gibt es dafür andere Ausdrucksformen. Im Jugendalter werden im Zuge der
Identitätsfindung auch bei Menschen mit geistiger Behinderung Veränderungen bemerkbar.
Diese zeigen sich nicht unbedingt durch ein Drängen nach dem Auszug aus dem Elternhaus,
sondern oft durch ein Problemverhalten, das Eltern an ihrem ansonsten eher angepassten
Kind feststellen.
Ist dies der Fall können Eltern das als Zeichen dafür sehen, dass es jetzt Zeit für die
Ablösung ist. Die praktische Umsetzung dieser ist jedoch oftmals nicht leicht, da die Eltern
über den hohen Abhängigkeitsgrad ihres behinderten Kindes Bescheid wissen und die enge
Bindung zwischen Eltern und Kind dem Ablösungsprozess gerne im Wege steht. Eltern
würden ihr erwachsen gewordenes Kind am liebsten immer bei sich behalten, denn sie
kennen seine Gewohnheiten, Bedürfnisse, Stärken, Schwächen, liebenswerten und
schwierigen Seiten am besten.
Der Unterschied zwischen ihnen und anderen Eltern besteht darin, dass sie ihr Kind in
„fremde Hände“ geben müssen und es nicht in die Selbstständigkeit hinausschicken können.
Es schleicht sich dann gerne das Gefühl ein, das eigene Kind „abschieben“ zu wollen.
Besonders früher war es häufig so, dass Eltern ihr behindertes Kind als Notlösung in
irgendeine Wohneinrichtung geben mussten, weil sie beispielsweise aus gesundheitlichen
Gründen nicht mehr für das Kind sorgen konnten. Doch wenn Eltern sich frühzeitig mit der
Zukunftsplanung ihrer Kinder auseinandersetzen, ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, eine
angemessene Wohngelegenheit, in der sich das Kind auch wohl fühlt, zu finden. Dadurch,
dass sich die Eltern selbst, sowohl theoretisch als auch praktisch mit dieser Thematik,
23
auseinandersetzen, ermöglichen sie einen positiven Ablösungsprozess und können trotzdem
noch Einfluss nehmen auf:
•
die zukünftigen Lebensumstände ihrer Söhne und Töchter;
•
die individuell angemessene Vorbereitung des Kindes;
•
günstigenfalls,
auch
auf
den
Zeitpunkt
des
Umzugs
(vgl. Selbstbestimmung, Kongressbeiträge; S 282, 1997)
Eltern dürfen ihr Kind in der Einrichtung besuchen und das Kind kann umgekehrt genauso zu
den Eltern gehen.
Meine Eltern sind immer noch für mich da, ich kann mich weiterhin auf sie verlassen, ich bin
von den vertrauten Dingen meiner Vergangenheit nicht plötzlich „abgeschnitten“.
Durch einen Auszug von zu Hause ermöglichen die Eltern dem Kind erwachsen zu werden.
Würde das erwachsene Kind weiterhin daheim wohnen, bedeutet das längerfristig
Stagnation und gemeinsames Altern mit den Eltern und das, selbst wenn sich diese um
Kontakte außerhalb des Elternhauses bemühen. Der Erfahrung vieler Eltern ist zu
entnehmen, dass sich das Verhältnis zum Kind nach dem Auszug weitgehend verbessert
hat, da man sich nun auf einer anderen Ebene begegnet, genauso wie es im Kontakt zu
nichtbehinderten Söhnen und Töchtern der Fall ist. (Selbstbestimmung, Kongressbeiträge; S
281-282, 1997)
2.5.1 Selbstbestimmt leben für mein Kind – ist das möglich?
„Eltern zwischen Wunsch und Angst.
Eltern zwischen Ablösen-wollen und
Beschützen-müssen. Diskrepanz
zwischen Kopf und Bauch.“
(vgl. Selbstbestimmt leben – ein heißes Thema für Eltern?!)
Renate Börner, selbst Mutter eines über 30jährigen behinderten Sohnes, stellt sich und uns
die Frage, warum es gerade für Eltern behinderter Kinder so schwer ist loszulassen obwohl
man doch dem Sohn jeden erdenklichen Freiraum geben möchte. Sie wird zunächst
allgemein, dann an ihrem eigenen Beispiel erklären, warum es so schwer ist, dieses
„Selbstbestimmen“ für den geistig behinderten Sohn oder die Tochter zuzulassen.
24
Wenn Eltern ein behindertes Kind bekommen, wird ihr gesamtes Leben auf den Kopf
gestellt. Ein jeder, der selbst Kinder hat weiß, welche Hoffnungen, Wünsche und Freuden mit
einem Kind verbunden sind. Diese Gefühle verkehren sich in das Gegenteil, in Trauer, Angst
und Verzweiflung wenn das Kind behindert ist. Nichtsdestotrotz wollen alle Eltern nur das
Beste für ihr Kind.
„….Das Beste heißt, es soll sich im Rahmen seiner, wie auch immer eingeschränkten
Möglichkeiten, entwickeln. Es soll es gut haben, glücklich sein! Aber es ist anders, „man“ ist
anders…….“
(vgl. Selbstbestimmt leben – ein heißes Thema für Eltern, S 28, 1999)
In der Gesellschaft gibt es gewisse Werte und Normen. Es ist daher nahe liegend, dass viele
Eltern ihr Kind mit Behinderung an diese anpassen wollen.
„…..Sauberkeit, gute Manieren, ruhiges und unauffälliges Verhalten werden angestrebt….“
(vgl. Selbstbestimmt leben – ein heißes Thema für Eltern; S 28, 1999)
Gewisse Geräusche, die das Kind als Kommunikationsmittel verwendet, werden von den
Eltern nicht wahrgenommen oder nicht richtig verstanden. Andererseits geben viele Eltern
ihren Kindern auch viel Förderung und Zuwendung und freuen sich über jeden neuen
Entwicklungsschritt, da ein solcher um einiges langsamer geschieht als bei nichtbehinderten
Kindern.
„……Wen wundert es da wenn sich Symbiosen zwischen Eltern und Kindern entwickeln,
wenn übersteigertes Verantwortungsbewusstsein entsteht, aus dem Schutzgedanken für das
behinderte Kind ihm vieles abgenommen wird……“
(vgl. Selbstbestimmt leben – ein heißes Thema für Eltern; S 28, 1999)
Die Jahre vergehen und kaum dreht man sich um, ist das Kind ein junger Erwachsener. Der
Druck, ausgehend von anderen Eltern, Angehörigen und Professionellen, nach einem
Umzug in eine Wohnstätte, wird immer größer. Man sieht ein, dass man dem jungen
Erwachsenen in gewissen Bereichen wie z.B. freizeitmäßig nicht mehr genügend Angebote
bieten kann und beschließt den Sohn bzw. die Tochter in eine Einrichtung zu geben. Dort
soll er/sie sein/ihr eigenes Leben führen, jedoch liebevoll begleitet von der Familie – man will
ihn/sie ja schließlich nicht abschieben.
25
„….Der Sohn/die Tochter in der Wohnstätte. Was ist jetzt das „Beste“ für das Kind?! Dass es
sein gewohntes Leben – möglichst wie zu Hause – bekommt. Sicher es soll seinen eigenen
Lebensraum haben, aber doch so, wie wir es gewohnt sind. Wir müssen uns kümmern, wir
müssen das Kind weiter „schützen“. Wir müssen den MitarbeiterInnen sagen, was es
braucht, was es nicht kann…..“
(Selbstbestimmt leben – ein heißes Thema für Eltern; S 29, 1999)
Damit wollen die Eltern ihre Schuldgefühle, Ängste und Einsamkeiten kompensieren.
Konflikte sind vorprogrammiert, denn es wollen ja alle nur das „Beste“ für das Kind.
Andreas, der Sohn von Frau Börner, galt bis er viereinhalb Jahre alt war als Spätentwickler.
Dann die Diagnose: „Er wird nie laufen und sprechen lernen.“ Dann der Rat: „Sie haben
keine Lebenshilfe, dann geben sie ihn am besten in eine Anstalt.“ (vgl. Selbstbestimmt leben
– ein heißes Thema für Eltern; S 30, 1999) Frau Börner reagierte mit Wut und Trotz. Sie
förderte Andreas von nun an wo es nur ging: Turnen, Laufen, Üben mit der Fachfrau,
Sprachunterricht etc…. Sie brachte ihn mit sechs Jahren in einen regulären Kindergarten.
Bald musste sie jedoch einsehen, dass er noch nicht so weit war. Mit sieben kam Andreas in
eine
Vorklasse
der
Lernbehinderten-Schule.
Der
Lehrer
war
ein
Rektor,
der
Verwaltungsaufgaben zu erledigen hatte und somit mussten die Mütter das Lernen ihrer
Kinder selbst in die Hand nehmen. Zwischen Andreas und seiner Mutter entstand eine Art
Symbiose. Auch wenn die Anderen ihn nicht verstehen konnten, mit seiner Mutter unterhielt
sich Andreas wunderbar. Im Alter von 25 Jahren zog er in ein Wohnheim. Beim Umzug half
die Familie mit.
„….Er sah plötzlich so verlassen aus, so hilflos wie er im Zimmer stand, das sein zu Hause
sein sollte. Mir kamen die Tränen. Nach einer hastigen Umarmung war ich draußen, der
ältere Bruder blieb noch da. Was dann begann war fürchterlich ich fühlte mich amputiert. Mir
fehlte ein Stück von mir selbst. Sicher ist es schwer, wenn Kinder aus dem Haus gehen, aber
trotz allen Trennungswehs, sie wollen und können sich in der Welt zurechtfinden. Hier ist es
anders……“
(Selbstbestimmt leben – ein heißes Thema für Eltern; S 32, 1999)
Bei Andreas Mutter kamen Ängste wie:
•
Sind die Betreuer gut zu ihm?
•
Weint er?
•
Ich darf ihn vier Wochen nicht besuchen. Verstehen sie ihn?
26
•
Ist er einsam?
Einige Tage nach dem Umzug besuchte Frau Börner Andreas an seinem Arbeitsplatz in der
WfB (= Werkstätte für Behinderte). Er sah ihrer Meinung nach nicht gut aus und sie war
bereits drauf und dran ihn wieder mit nach Hause zu nehmen. Durch die Unterstützung einer
anderen Mutter hielt sie jedoch durch und Andreas ist nun bereits seit 8 Jahren im
Wohnheim. Wie er sich entwickelt hat? Ganz gut. Er hat in vielen Bereichen Fortschritte
gemacht, ist selbstbewusster und selbstständiger geworden. Die Eltern und Mitarbeiter
hatten eine Art Kommunikationsheft, das jedoch mit der Zeit immer weniger gebraucht
wurde. (Selbstbestimmt leben – ein heißes Thema für Eltern, S 27-33, 1999)
2.5.2 Was von Eltern gefordert wird
•
Erkennen des symbiotischen Verhaltens zum Sohn bzw. zur Tochter
•
Verminderung des Schutzinstinkts
•
Das Begreifen vom Sinn der Selbstbestimmung, abgestimmt auf die Bedürfnisse
geistig behinderter Menschen
•
Erkennen des Lebensraumes vom Sohn bzw. von der Tochter
•
Sich selbst zurücknehmen und nicht alles entscheiden wollen
•
Sich den Verlustängsten stellen
•
Austausch mit anderen Eltern haben
•
Die Vorbereitung in Gruppen auf die Abnabelung, damit sie diese bewältigen können
•
Das Zulassen von Schmerz, Hilflosigkeit und Angst
•
Vertrauen zu den Mitarbeitern im Wohnheim haben
Die Ziele von Eltern und Mitarbeitern einer Einrichtung für die Menschen mit Behinderung
sollten die Entwicklung ihrer Fähigkeiten, wie
•
Selbstständigkeit,
•
Selbstbewusstsein,
•
Zufriedenheit,
•
Lebensfreude,
•
Leben in der Gesellschaft sein.
Eltern und Professionelle müssen an einem Strang ziehen, dann kommt der Erfolg mit
Sicherheit. Renate Börner will mit ihrem Beitrag deutlich machen welch mühsamen Weg die
Eltern junger behinderte Männer und Frauen für die Selbstbestimmung ihrer Kinder gehen.
27
„…..Wir brauchen bei diesem Prozess Hilfe. Haben Sie Geduld mit uns. Es ist auf dem
langen Weg der Begleitung unseres Sohnes ins Leben für meinen Mann und mich der
Prüfstein unseres Elternseins: „Nimm Dich zurück! Was will Andreas selbst?““
(Vgl. Selbstbestimmt leben – ein heißes Thema für Eltern; S 35, 1999)
(Selbstbestimmt leben – ein heißes Thema für Eltern; S 27 – 35, 1999)
2.6 Die Eltern und Professionellen als Unterstützer beim Erwachsen werden – beim
Erwachsensein
Im Folgenden berichte ich über die so genannten „Elternseminare“, die es in der Lebenshilfe
Tirol schon gibt. Dabei diskutieren Eltern, Menschen mit Behinderung und Professionelle. Ein
Thema aus der Vergangenheit lautet: „Erwachsen werden Erwachsen sein.“
Eine Gruppe von Müttern diskutiert zu den Themen:
•
•
•
Das Sein
Was sie als Eltern für ihre jungen Erwachsenen brauchen um loslassen zu können.
Erwachsen werden
2.6.1 Das Sein
Was versteht man unter dem Sein? Die Eltern sind zu dem Schluss gekommen, dass es
eigentlich jedem Menschen um das Sein geht:
•
Angenommen-Sein
•
Wahrgenommen-Sein
•
Ernstgenommen -Sein
•
Wertgeschätzt-Sein
•
Geliebt- und Verstanden-Sein
•
In seinem „So-Sein“
Leider ist es so, dass ihre Kinder durch gewisse Einstellungen in der Gesellschaft an diesem
„So-Sein“
gehindert
werden.
Anpassung
in
Form
von
Therapien,
Förderungen,
Normalisierungsversuche blockieren dieses „So-Sein“. Die Eltern überlegen anhand der
Lebenszyklustheorie von Erikson was ihnen und ihren Kindern bereits gelungen ist, was
gelingen wird und was sie brauchen um Defizite auszugleichen und somit verschiedene
Lebensphasen gut bewältigen zu können.
Besonderen Anklang findet dabei das Modell vom „unterstützenden Ich“. Hierbei leiht eine
nicht zur Familie gehörende Person sozusagen ihr „Ich“ her und verhilft dem Jugendlichen zu
mehr Autonomie, indem sie mit ihm gemeinsame Aktivitäten, für die sich der junge
Erwachsene besonders interessiert, wie Konzerte, Sport, Ausgehen, Urlaube, etc.,
28
unternimmt. Der junge Mensch kann herausfinden was ihm besonders liegt, was er mag. Es
ist jedoch notwendig hier ein Angebot zu machen um den Mangel an Ressourcen und
Vorstellungen auszugleichen.
„ Uns Eltern würde diese Art von Unterstützung einer großen Sorge entheben. Wir sind uns
durchaus bewusst, dass wir nicht mehr die geeignetsten Bezugspersonen für die jungen
Erwachsenen sind……..“
(Vgl. Erwachsen werden – Erwachsen sein, Elternseminar der LH)
2.6.2 Was die Eltern zum „Loslassen“ brauchen
•
•
•
Begleitung:
o
Beim Lernen
o
In der Arbeit
o
Im Alltag
o
In der Freizeit
Beratung: in allen Überganssituationen
o
Wohnen
o
Sexualität
o
Selbstbestimmt Leben
o
Zukunftsplanung mit Hilfe von Freundeskreisen
o
Zukunftskonferenzen
o
Lebenswegentwürfe
Vernetzung von:
o
Angeboten
o
Projekten
o
Einrichtungen
Den Eltern ist es gelungen, für ihre Kinder eine Zukunftskonferenz zu entwickeln.
2.6.3 Erwachsen werden
Was sind Spannungsfelder von Eltern im Zusammenhang mit ihren Kindern und speziell mit
den Kindern mit Behinderung:
•
schwer zu durchbrechende Gewohnheiten
•
festgefahrene Rollenverteilung
29
•
Mangel an Berufs-, Wohn-, Freizeit- und Lebensmodellen
•
mangelndes Vertrauen an die Institutionen
•
mangelndes Vertrauen in die behinderten Jugendlichen
All das was diese Eltern in dem Seminar zur Sprache gebracht haben kann nur mit der
umfassenden Unterstützung der Professionellen umgesetzt werden. In Zusammenarbeit mit
den Eltern können sie die Entwicklung des Menschen mit Behinderung erst richtig fördern,
denn die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung bildet die Basis für die Entwicklung von
Selbstvertrauen und Autonomie. Das frühere Bild der Eltern als „Feindbild“, die
Selbstbestimmung verhindern wollen, muss endlich aus unseren Köpfen schwinden,
elterliche Kompetenzen müssen erkannt, gestärkt und für die professionelle Arbeit genutzt
werden. Unsere Aufgabe als Professionelle ist es den Eltern eine Stütze zu sein, sie im
Autonomie- und Selbstbestimmungsprozess ihrer Kinder zu unterstützen:
Wichtige Punkte dabei sind:
•
die Balance zwischen professionellem Interesse und dem Anspruch der Familien zu
halten,
•
bedingungslose Wertschätzung,
•
anerkennen der elterlichen Erfahrungen im Zusammenleben mit dem Kind,
•
Sensibilisierung für die Stärken des behinderten Kindes,
•
Austausch
über
Erziehungsziele-
und
stiele,
damit
sich
die
Selbstbestimmungspotentiale des Kindes optimal entwickeln können,
•
Ermutigung der Eltern, sich mit anderen Betroffenen zusammenzuschließen,
•
den Ablösungsprozess des Kindes mit Behinderung vom Elternhaus fördern,
•
die Eltern ermutigen ein eigenes Lebenskonzept zu entwickeln.
Wichtig dabei ist, dass nicht nur der Empowerment-Prozess des Kindes im Vordergrund
steht, sondern auch die Eltern im eigenen Empowerment-Prozess begleitet werden. Viele
Eltern haben nach der Geburt ihres Kindes ihr eigenes Leben völlig aufgegeben, in der
Annahme ein Leben lang für das behinderte Kind sorgen zu müssen. Viele Freunde,
Bekannte und sogar Verwandte haben sich von der Familie abgewandt. Besonders früher
waren es die Mütter, die sich aufopfernd um ihr behindertes Kind kümmerten. Später haben
diese dann keine Zukunftsaussichten mehr und klammern sich an ihr Kind. Die Aufgabe von
uns Professionellen ist es nun also, den Eltern beim Ablösungsprozess beizustehen, sie
ernst zu nehmen und sie auch nach dem Umzug ihres Kindes noch als Eltern in die
Begleitung des Menschen mit Behinderung miteinzubeziehen. Den Eltern muss durch
entsprechende Hilfe die Angst vor der Ablösung genommen werden, ihnen muss mitgeteilt
werden:
30
Du hast das Recht, als Vater oder Mutter dein Kind wegzuschicken,
es der gefährlichen, herrlichen Welt zu übergeben.
Vielleicht gibt es einen Moment in euerer Beziehung,
wo nichts eine größere Liebe ist
als dieses Loslassen und Freisetzten ohne Bedingungen.
Es ist der Moment,
Wo die Fäden durchschnitten werden
Und ein neues Leben beginnt.
Und vielleicht wird aus dem Kind ein Freund
und aus dem Elternteil ein Vertrauter
in der Entschiedenheit der freien Zuwendung.
Das ist auch spätestens der Moment, in dem du deinem Kind die Verantwortung für das
eigene Leben übergibst.
Es ist auch der Moment, in dem du die Selbstanklage und Selbstvorwürfe ebenso loslässt
und dir vergibst.
(Ulrich Schaffer in seinem Buch „Grundrechte“)
(Monika Seifert, Zur Rolle der Familie; S 257-258)
(Protokoll eines Elternseminars der LH)
3. Interview mit Frau S. – Mitwirkende bei den Elternseminaren
und selbst Mutter eines Sohnes mit Behinderung
Wie stehen Sie als Mutter zum Thema Selbstbestimmung?
Frau S.: Also, wir freuen uns immer wenn J. selbstständig wird, d.h. selbstständig was macht
und entscheidet. Ich glaube schon, dass dazu diese Seminare, die es jetzt gibt, beitragen.
Aber es ist auch schwierig – ja man darf sich nicht zuviel erwarten. Selbstbestimmung
braucht auch viel Unterstützung.
Können Sie mir als Mitwirkende der Elternseminare sagen um was es sich dabei genau
handelt?
Frau S.: Ja, die jetzige Serie war unter dem Motto „Erwachsen werden – Erwachsen sein“
und für die Eltern natürlich dann auch „Loslassen“ und „Selbstbestimmen lassen“ – man wird
das Mitbestimmen ja so gewohnt.
Wie sieht es bei Ihnen im Umgang mit den „Professionellen“ aus?
31
Frau S.: Der Umgang mit den Professionellen ist insofern ein bisschen schwierig – was auch
in den Seminaren gefallen ist – dass die Eltern vielfach nicht verstanden werden. Von Eltern,
die ihre jugendlichen bzw. erwachsenen Kinder schon in Wohnheimen haben, höre ich dass
es beispielsweise Mängel in der Hygiene gibt. Die Eltern trauen sich fast nichts zu sagen, da
sie befürchten, es wird von den Professionellen falsch ausgelegt. Also, von der
Köperhygiene bis hin zum Selbstbestimmen bräuchte es viel mehr Gespräche.
Eine Mutter hat gesagt sie hatte die größten Schwierigkeiten, weil man in der
Wohngemeinschaft nicht richtig Zähne geputzt hat. Die Mutter musste jedoch selbst mit dem
Kind zum Zahnarzt gehen. Es hat sehr viele Gespräche gebraucht, dass nachgeholfen wird.
Das sind so Dinge, die oft in Wohngruppen untergehen, da man meint er kann es ja
selbstständig. Wenn es um Gesundheit geht, legen die Eltern schon wert darauf. Und so ist
diese Selbstbestimmung immer auch eine Gradwanderung.
Ein anderes großes Thema was Selbstbestimmung betrifft wäre für mich, dass um
Selbstbestimmen zu können, auch Möglichkeiten angeboten werden. Wenn ich z.B.
manchmal jemanden anstelle mit meinem Sohn J. etwas zu unternehmen wird er gefragt
„Was magst du tun?“ und J.kennt meistens nur 2 Dinge – entweder ins Kino oder
Kaffeetrinken gehen. Es muss eine Auswahl geben, denn wenn ich selbst nicht mehr kenne,
dann ist Selbstbestimmung immer dasselbe. Man sollte etwas Neues immer ausprobieren,
trotz der Scheu, die am Anfang meistens vorhanden ist.
Wie wichtig ist für Sie der Austausch mit anderen Eltern?
Frau S.: Ich glaube den Eltern untereinander bringt das schon viel. Eine Erfahrung, die ich
bei den Elternseminaren mache ist, dass viele Eltern, die nicht diesen integrativen
Hintergrund haben, den wir haben, sich schwerer tun. Da ist es dann schon wichtig sich
auszutauschen und gegenseitig zu bestärken. Ein Vater, beispielsweise, würde gerne für
seine Tochter eine andere Arbeit, außerhalb der geschützten Werkstätte, finden – der Leiter
hingegen sagt ihm immer wieder, da muss die Tochter vorher ein ordentliches Zeitgefühl
entwickeln. Das ist so etwas Absurdes. Man kann nicht von einem behinderten Menschen
erwarten ein ordentliches Zeitgefühl zu entwickeln und dann schaut man erst weiter, sondern
das gehört zu seiner Behinderung.
Wie oft finden die Elternseminare statt?
Frau S.: Das war jetzt eigentlich ein erster Versuch der Lebenshilfe überhaupt, Fortbildungen
gleichzeitig, für Menschen mit Behinderung, Assistenten und Eltern, anzubieten. Es gab an
einem Tag 3 Gruppen und das war eigentlich ganz fein. Ich denke, dass es die Seminare
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nun weiter geben wird. Bei den Eltern dauerte es am längsten, da diese so etwas überhaupt
nicht gewohnt sind.
Ansonsten ist mir bekannt, läuft bei Integration Österreich über ein ganzes Jahr hinweg die
Elternfortbildung „Eltern bilden Eltern“. Die Vortragenden nennt man Elternbildner bzw. –
bildnerinnen.
Sind bei den Seminaren Eltern, Professionelle und die Kinder?
Frau S.: Nein, ohne Kinder, es soll auch eine Pause sein.
Ich erwähne in meiner Arbeit bestimmte Aussagen, die sich Mütter von Ärzten gleich nach
der Geburt und Diagnose des Kindes anhören müssen. Haben Sie derartige Erfahrungen
gemacht?
Frau S.: Ich habe das nicht erlebt, aber ich weiß von anderen, dass es vielfach so geschieht.
Auf der einen Seite ist so etwas schon schrecklich für die Eltern, auf der anderen Seite habe
ich aber auch den Eindruck gehabt, solche Aussagen stacheln sie auf und sie denken sich
„So kann es jetzt auch nicht sein.“
Ich hoffe, dass sich inzwischen etwas geändert hat, aber ich glaube es wird sicher noch viel
brauchen, um wirklich gesellschaftlich etwas zu verändern. Ich denke wir sind auf dem Weg.
Die Pränataldiagnostik mit Abtreibung der Behinderten ist hingegen ein totaler Rückschlag –
solange man sagt, es handle sich dabei um „unwertes Leben“, ist es natürlich auch schwierig
die Gegenbewegung zu halten.
Warum ist Ihrer Meinung nach der Ablösungsprozess zwischen Müttern und Kindern mit
Behinderung schwerer als bei „nichtbehinderten“ Kindern?
Frau S.: Ich habe einmal bei einem Symposium von „Integration Österreich“ zu dem Thema
referiert „Loslassen, aber wohin?“. Man sagt immer: „Die Eltern können nicht loslassen!“ das habe ich selber erlebt, indem ein bekannter Behindertensprecher gesagt hat, wir Eltern
würden immer nur anrufen und viele Dinge verlangen, die unsere Kinder brauchen und
können einfach nicht loslassen. Ich habe mich ziemlich betroffen gefühlt und gesagt, dass es
so nicht ist. Wir würden auch gerne loslassen, nur ist es ganz schwierig wohin, d.h. etwas
Geeignetes zu finden. Sein Kind in eine Wohngruppe zu entlassen, da muss schon vieles
passen. Ich hoffe, dass es vielleicht auch einmal eine integrative Wohngemeinschaft gibt.
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Sicher, irgendwann muss man loslassen, denn man wird älter und außerdem möchte man
auch selbst gerne noch ein bisschen leben. Aber es ist sehr mühsam etwas zu finden, wo
man dann wirklich entlastet ist.
Es gibt nur die größeren Wohngruppen und die sind nicht das Richtige. Ich denke mir immer,
wenn andere Kinder bis 30 daheim wohnen sagt auch niemand etwas, also wieso soll man
ein Kind mit Behinderung dann schon mit 17 „hinauswerfen“ (lacht). Am feinsten ist es eben
zu Hause.
Neben den größeren Wohngruppen gibt es auch noch „Ambulantes Wohnen“. Wie sieht es
damit aus?
Frau S.: Ich denke, dass es für J. zu schwierig wäre. Das würde ich nicht wollen. Es sollte
eher eine integrative Wohngemeinschaft mit Betreuung sein.
Die Wohngruppen sind zu groß. Ich glaube meine anderen Söhne hätten auch nicht mit so
vielen Leuten unter einem Dach wohnen wollen.
Was verstehen Sie unter einer integrativen Wohngruppe?
Frau S.: In Wien gibt es schon 1 – 2 solcher Wohngruppen, aber mit viel privatem Einsatz.
Mir ist eine WG bekannt, in der 2 Studentinnen, eine Rollstuhlfahrerin und ein junger Mann
mit Down-Syndrom zusammenleben. Wobei, der junge Mann mit der Rollstuhlfahrerin viel
unternehmen kann, wie beispielsweise „sie zu schieben“, gemeinsam einzukaufen etc.
Zeitweise kommt eine Betreuung ins Haus.
Wie müsste für Sie in Zukunft die Zusammenarbeit zwischen Eltern und Professionellen sein,
damit Sie auch ihren Sohn von zu Hause in einen eigenen Lebensbereich entlassen
können?
Frau S.: Es müsste viel über gewisse Dinge geredet werden. Ja es ist schwer zu sagen…..
Was sich Eltern wünschen ist, dass in diesen Wohngemeinschaften einerseits auf „Freiraum“
geachtet wird, d.h. dass z.B. nicht ein jeder in die Zimmer gehen kann, und andererseits
sollte wirklich eine Atmosphäre der Geborgenheit herrschen. Ich würde mir ein „persönliches
Engagement“ der Professionellen wünschen - im speziellen bei Menschen mit geistiger
Behinderung. Die Angst der Eltern, dass ihre Kinder einsam sind, weil sie sich nicht so
artikulieren können, ist groß. Sie sind mehr auf körperliche Zuwendung angewiesen.
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Es braucht ein großes Maß an Selbsterfahrung, dass Professionelle den Wechsel zwischen
Abgrenzung und Zuwendung schaffen können.
Was ich beobachtet habe, wenn ich zu einer Wohngruppe hingekommen bin ist, dass sich
die Leute sehr langweilen und einen sozusagen „überfallen“ wenn man von außen
hinzukommt.
Es könnte ja sein, dass man manchmal zu sehr auf das Organisatorische schaut und die
Leute dabei zuwenig mit einbezieht. Das weiß ich ja als Mutter selbst, dass ich gewisse
Sachen lieber selber erledige, weil es schneller und einfacher geht als mit J...
Ich sehe es aber trotzdem nicht als meine Aufgabe für die Professionellen nur Verständnis
zu zeigen, denn dann kommen wir nicht weiter. Meine Aufgabe ist es zu sagen, für die
Menschen in einer Wohngruppe ist es nicht sehr optimal. Ich verstehe mich eher als
„Anwältin der Behinderten und Eltern“ nicht der Assistenten.
Ich würde mir Wünschen, dass man zu der Basis kommt, wo man normal darüber reden
kann ohne Angst zu haben oder sich zurückhalten zu müssen. Ich möchte, dass diese
Barriere ein bisschen abgebaut wird. Ich möchte, dass man die Sichtweisen austauscht und
dass es nicht nur heißt „empfindliche“ Eltern oder Assistenten.
In welchen Bereichen kann Ihr Sohn „selbstbestimmt leben“ und fordert er gewisse Dinge
ein?
Frau S.: Ja er geht schlafen, wann er das will. Meistens geht er gleichzeitig mit uns zu Bett,
obwohl es mir oft lieber wäre, wenn er vorher gehen würde, damit noch ein bisschen Ruhe
ist, aber das geht jetzt nicht mehr. Ich schicke ihn auch nicht mit Zwang vorher ins Bett.
Ansonsten lebt er Selbstbestimmung großteils beim Essen, beim Anziehen – wobei ich wenn
er sich etwas aussucht, das meiner Ansicht nach nicht zusammenpasst schon sage, ob er
nicht lieber etwas anderes anziehen möchte, was er dann meistens schon macht.
J. mag gerne Quartettkarten, wobei er sich immer wieder die gleichen kauft, weil er schon
alle hat, dann halte ich das einfach aus und lasse ihn somit selbst bestimmen.
Er kann in vielen kleinen Bereichen selbst bestimmen.
Haben Sie sich eigentlich schon im speziellen für Ihren Sohn um eine Wohngelegenheit
gekümmert?
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Frau S.: Direkt für J. habe ich mich noch nicht informiert. Aber es wäre schon mein
Langzeitziel.
Ein „zeitweises Wohnen“ wäre natürlich fein, damit man ein bisschen freier ist, aber
abrechnungsmäßig scheint es nicht zu funktionieren. Man wäre dann z.B. bei Krankheit
entlastet oder wenn man mal alleine Urlaub fahren möchte. So etwas bräuchte es noch,
damit das Kind nicht sofort in eine Wohngemeinschaft kommt, sondern sich langsam daran
gewöhnen kann von zu Hause weg zu sein.
Ich finde man hat überhaupt noch keine Erfahrung mit jungen behinderten Menschen, die
aus der Integration kommen. Mit den Leuten, mit denen ich zu tun gehabt habe, die wohnen
eigentlich alle noch daheim.
Was sich Frau S. für Ihren Sohn noch vorstellen könnte:
Frau S.: Aus Italien kommt das Modell des „unterstützenden Ichs“. Das wäre für mich
wesentlich interessanter als „Selbstbestimmung“. Dabei kommt jemand von Außen – ja, es
sollte ein geschulter junger Mensch sein, da es junge „Behinderte“ betrifft.
Ich merke bei meinem Sohn, dass er mit sich selbst nichts anfangen kann – dazu braucht er
immer jemanden – ich will es mal so sagen: Er genügt sich selber nicht und hat nur
Sicherheit, wenn jemand anderer da ist.
Bei dem Modell des „unterstützenden Ichs“ leiht jemand sein „Ich“ her, damit der junge
Mensch mit Behinderung herausfindet, was das Seinige ist. Es sollen Dinge ausprobiert
werden – eben genau das was sonst junge Menschen auch machen. Der von Außen
kommende sollte auch gefühlsmäßig mitgehen, damit der Mensch mit Behinderung auch
Gefühle entdecken kann.
Irgendwann ist man als Elternteil nicht mehr die geeignete Person für diese Dinge. Es geht
nicht nur um die Freizeitbeschäftigung, sondern der Außenstehende kann auch ruhig einmal
mit dem „behinderten Menschen“ zu Hause bleiben und einfach einmal aushalten „nichts zu
tun“.
Für so etwas würde ich dann wirklich frei sein.
Ansonsten hätte ich gerne mehr Eigeninitiative von den Assistenten, die ich manchmal für J.
anstelle, um etwas mit ihm zu unternehmen.
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Ich muss zugeben, dass wir, d.h. ich und auch mein Mann einfach „müde“ sind – ich mag
manchmal überhaupt nicht mehr. (lacht) Wenn ich mich dann aufraffe und wieder etwas
mache läuft es eh wieder gut.
Danke für das Interview.
Schlusswort
Für mich war „Selbstbestimmung bei Menschen mit Behinderung“ bisher oft mit einer
gewissen Utopie verbunden. In meiner Arbeit beschreibe ich vielerlei Aspekte, die
„Selbstbestimmung“ etwas realitätsnäher erscheinen lassen sollen.
Ich hoffe es ist mir gelungen das Thema Selbstbestimmung auch für Außenstehende
interessant darzustellen.
Die Intention, dieses Thema für meine Diplomarbeit auszuwählen, war eigentlich, dass man
einerseits von allen Seiten das Wort „Selbstbestimmung“ hört und andererseits dieser „Trend
nach Selbstbestimmung“ von Eltern oft blockiert wird.
Gestützt auf Texte von Fachleuten, sowie auf Erfahrungsberichte von Eltern habe ich
versucht, sowohl Risken, als auch die Chancen, die Eltern in der „Selbstbestimmung“ ihrer
Söhne und Töchter sehen, herauszuarbeiten.
Außerdem zeigt das Interview einer Mutter genau, wie schwierig der Ablösungsprozess
zwischen Eltern und Kind mit Behinderung sein kann. In diesem Zusammenhang habe ich
einen persönlichen Kommentar bewusst weggelassen, um die Aussagen nicht zu
verfälschen.
Ich denke, wenn wir zukünftig auf dem Weg zur Selbstbestimmung schreiten, braucht es,
sowohl von den Eltern, als auch von den Professionellen viel Akzeptanz, Toleranz und vor
allem Vertrauen in die Handlungen des Gegenübers, denn nur so können wir gemeinsam
das Beste für die Menschen mit Behinderung erreichen.
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Literaturverzeichnis
•
Selbstbestimmung, Kongressbeiträge:
Dokumentation des Kongresses "Ich weiß doch selbst was ich will!" Menschen mit geistiger
Behinderung auf dem Weg zu mehr Selbstbestimmung vom 27.09.-01.10.1994 in Duisburg.
2. Auflage - Marburg: Lebenshilfeverlag, 1997
•
Selbstbestimmt leben - ein heißes Thema für Eltern?!
Denkanstöße für einen Trialog zwischen Menschen mit geistiger Behinderung, Eltern und
MitarbeiterInnen.
1. Auflage - Marburg: Lebenshilfeverlag, 1999
•
Zur Rolle der Familie:
Dr. Monika Seifert, Universität zu Köln, Heilpädagogische Fakultät, Seminar für
Geistigbehindertenpädagogik, Klosterstr. 79b, 50931 Köln
•
Erwachsen werden - Erwachsen sein
Dokumentation eines Elternseminars der Lebenshilfe, Innsbruck
Internetverzeichnis
•
www.a-wagner-online.de
Empowerment Möglichkeiten und Grenzen geistig behinderter Menschen zu einem
selbstbestimmten
Leben
zu
finden,
2001,
Berufsverband
für
Heilerziehung,
Heilerziehungspflege und Hilfe in der Bundesrepublik Deutschland (Hg.): HEP-Informationen.
(Wehr/Baden 1998, Seite 7-28)
•
http://www.psy.unibe.ch/pedes/lehre_aktuell/WS04_05/vorl_entwicklung/downloads/0
7%20Humanismus%20Texte.pdf
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•
http://www.marketinglexikononline.de/Lexikon/Stickworte_B/Bedürfnishierachie/bedurfnishierachie.html
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