Vorfahrt nahm. Er kam durch eine lang gezogene Linkskur

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Vorfahrt nahm. Er kam durch eine lang gezogene Linkskur
Vorfahrt nahm. Er kam durch eine lang gezogene Linkskurve, sodass ihn der Fahrer des Wagens zu spät sah. Mark legte
eine kontrollierte Vollbremsung hin, doch die BSA kam ins
Schleudern. Er wäre fast frontal auf den Transporter geprallt,
hätte der Fahrer nicht noch instinktiv beschleunigt, um ihm
den Weg frei zu machen. Er prallte mit einem dumpfen Knall
mit der rechten Schulter an die hintere Ecke des Laderaums,
konnte sich aber noch geistesgegenwärtig abfangen, ohne mit
der Maschine umzukippen. Am Rande eines Feldes vierzig
Meter weiter kam er schließlich zum Stehen. Sein Körper
zitterte, als er abstieg. Er ließ die Maschine einfach umfallen
und setzte sich ins Gras, den Helm noch auf dem Kopf. Der
Fahrer des Transporters kam angerannt und stellte aufgeregt
Fragen. Aber Mark war damit beschäftigt, noch einmal den
stumpfen Aufprall seiner Schulter zu hören. Sein rechter Arm
hing schlaff herunter und er konnte ihn nicht bewegen, trotzdem hielt sich der Schmerz noch in Grenzen. Schweiß tropfte
von seiner Stirn, als er sich den Helm ungeschickt mit der linken Hand vom Kopf zog und von sich warf. Der Fahrer des
Transporters verschwand, um zu telefonieren. Plötzlich setzte
in Mark eine Ruhe ein, die ihn von allem Äußeren abschottete.
Seine Augen verloren das unruhige Hin und Her und schlossen sich einfach. Ihm war es, als könne er in einem Umkreis
von zehn Metern die Luft um sich herum spüren. Sie fühlte
sich wie eine dicke Flüssigkeit an, die sich langsam bewegte.
Ein paar Augenblicke später bewegte sich nichts mehr. Mark
war nun bei außerordentlich klarem Bewusstsein. Doch etwas
fehlte. Sein Denken. Es war nur Leere in seinem Kopf. Ab und
zu spürte er noch seinen Herzschlag, aber die Vergangenheit
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und die Zukunft waren wie ausgelöscht. Ihm war es fast so, als
würde er sich selbst mit geschlossenen Augen dabei zusehen,
wie er dort saß und von den gerade eingetroffenen Rettungssanitätern behandelt wurde.
Auf dem Weg ins Hospital von Maidstone gaben sie ihm
Schmerzmittel. Der Arzt hatte keine Schwierigkeiten, seine
ausgekugelte Schulter wieder einzurenken. Dieser Zustand,
in dem er sich noch einige Zeit befunden hatte, ließ langsam
nach. Als im Auto seiner Cousine, die ihn vom Krankenhaus
abholte, wieder sein normales Tagesbewusstsein einsetzte, bedauerte er dies sogar für einen Augenblick. „Na, immerhin ist
die Maschine noch in Ordnung. Dad hätte mich wahrscheinlich umgebracht“, kommentierte er übertrieben gelassen das
Geschehen.
Sophie schaute ihn nur verständnislos an und schüttelte
den Kopf. „Dir hätte wirklich etwas passieren können, du Idiot!“, sagte sie vorwurfsvoll. Damit war die Unterhaltung erst
einmal beendet und als sie in ihrem Haus ankamen, legte er
sich auf das Sofa und schlief sofort ein. Sophie kümmerte sich
liebevoll um ihn und machte sich echte Sorgen. Sie war immer
für ihren Cousin da gewesen. Eine tiefe Freundschaft verband
die beiden.
Sie war die offenherzigste Person, die Mark kannte. Doch
der Tod ihres Mannes Robert hatte sichtbare Spuren auf ihrem Gesicht und in ihrem Wesen hinterlassen. Seitdem hatte
sie keine neue Beziehung begonnen und die ganze aufgestaute Energie, sich um jemanden zu kümmern, ergoss sich nun
über Mark. Aber ihre Sorgen waren unbegründet, wie sich
herausstellte, denn am nächsten Morgen ging es Mark schon
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viel besser. Ihm tat zwar alles noch etwas weh und sein rechter
Arm hing in einer Schlaufe, aber er dachte bereits mit einem
Augenzwinkern laut darüber nach, mit dem Motorrad zurück nach London zu fahren. Sophie sah ihn fassungslos an,
beruhigte sich aber im nächsten Moment wieder und meinte: „Wenigstens hast du deinen Sinn für Humor nicht verloren“, und zwinkerte zurück. Sie musste für ein paar Stunden
in die Redaktion und so entschloss Mark sich, nicht im Haus
seiner Cousine zu bleiben, in dem so viele Erinnerungen an
die glückliche Ehe, aber auch an den schweren Abschied von
Robert konserviert waren.
Das Taxi, das er sich bestellt hatte, brachte ihn ins „Cock Inn“,
eines der ältesten Pubs der Gegend. Nach den Aussagen von
drei verschiedenen Hellsehern gab es in dem aus dem Jahre
1568 stammenden Pub einen Geist Namens George. Da der
Hausgeist heute nicht sonderlich aktiv zu sein schien, konnte
Mark in Ruhe die Tageszeitung Downs Mail studieren. Dort
war das Wappen der Stadt abgebildet. Im Wappen prangte ein
goldener Löwe.
Nachdem er sich das zweite Ale bestellt hatte, bemerkte
er das Büchlein in seiner Jackettasche und zog es heraus. Da
er als Rechtshänder nun auf die linke Hand angewiesen war,
stellte er sich ungeschickt an und das Buch fiel ihm auf den
Boden. Ein Mann, der allein am Nebentisch saß, drehte sich
um und hob das Buch für Mark auf. Als er es ihm entgegenhielt, lächelte er freundlich und bemerkte fast beiläufig: „Ein
gutes Buch, das Sie da haben.“ Mark wusste gar nicht, wie ihm
geschah, und noch bevor er den Fremden näher betrachten
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konnte, fiel ihm ein eleganter Gehstock mit einem silbernen
Knauf auf, der am Nebentisch lehnte. „Danke“, stammelte er
und schaute, immer noch konsterniert, in das Gesicht des
Mannes. Der Mann schien um die Ende fünfzig zu sein, hatte buschige Augenbrauen und einen kleinen Kinnbart. Eine
altmodische, ovale Brille saß auf seiner Nase. Seine Haare
standen teilweise zu den Seiten ab. Trotz dieser Merkmale eines verrückten Professors machte er einen offenen und sogar
sehr herzlichen Eindruck. Seinem Alter nicht entsprechend
war seine jugendliche Ausstrahlung. Man hätte ihn für Mitte
dreißig halten können und seine Haut schien nicht sonderlich
gealtert.
„Mein Name ist Salvador Pietro“, stellte er sich vor. „Wie finden Sie den Inhalt des Buches?“, fragte er Mark geradeheraus.
Dieser hatte inzwischen seine Fassung halbwegs wieder
gefunden und entgegnete höflich: „Mark Buchmann. Freut
mich, Sie kennenzulernen“, und gab seinem Gegenüber die
Hand. Ihn empfing ein freundlich fester Händedruck. „Ich
kenne den Inhalt des Buches gar nicht, wissen Sie. Ich bin
noch nicht dazu gekommen, es zu lesen, auch wenn ich den
Eindruck hatte, es würde mich verfolgen.“
Sein Gegenüber lachte so herzlich, dass Mark unweigerlich mit einstimmen musste. „Na, dann ist es wohl für Sie
bestimmt. Manchmal suchen sich Bücher ihren Besitzer statt
umgekehrt.“
Nachdem sich das Gelächter der beiden gelegt hatte, fragte
Mark: „Woher kennen Sie dieses Buch, wenn ich fragen darf?“
„Ach, das hat ein guter Freund von mir geschrieben. Es ist
ein sehr spezielles Buch und kann Ihnen viel über das Leben
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beibringen. Aber das meine ich nicht im naturwissenschaftlichen oder philosophischen Sinne. Das Buch vermittelt etwas,
das als Diagramm des Lebens bezeichnet werden könnte. In
diesem Diagramm befindet sich ein Erfahrungscode, der einigen wenigen Menschen den Zugang zu etwas ganz Außerordentlichem geöffnet hat. Sehen Sie hier, kennen Sie dieses
Symbol?“ Er zeigte auf den unteren Teil des Einbandes. Da fiel
es Mark wie Schuppen von den Augen. Es war das Symbol aus
seinem Traum, deshalb war es ihm die ganze Zeit so bekannt
vorgekommen. Vor Aufregung wurde er ein wenig kurzatmig und rutschte nervös auf seinem Stuhl hin und her, bevor
er antwortete. „Sie werden es mir vielleicht nicht glauben,
aber ich habe dieses Symbol das erste Mal in einem Traum
gesehen.“
Herr Pietro schaute ihn für einen Moment mit zusammengekniffenen Augen an, als ob er ihn röntgen wollte.
Dann hellte sich seine Miene wieder auf und er erklärte mit
freundlicher, aber nachdrücklicher Stimme: „Sehen Sie, das
Sri-Yantra-Symbol besteht aus neun übereinanderliegenden,
ineinander verschachtelten Dreiecken und gilt als eines der
kraftvollsten Zeichen der Manifestation des gesamten Kosmos. In der Mitte befindet sich ein Punkt. Er stellt etwas dar,
was eigentlich nicht abgebildet werden kann. Aus diesem
Punkt heraus entfaltet sich die gesamte Schöpfung. Er ist die
Quelle aller Formen und stellt selbst das Formlose dar. Manche nennen ihn die Quelle des Lebens, andere das Selbst. Wie
auch immer, in dem Buch befindet sich ein Plan, wie dieser
Punkt erreicht werden kann.“
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