Hilfsprogramm vom Blatt gespielt

Transcrição

Hilfsprogramm vom Blatt gespielt
Sonnabend/Sonntag,
16./17. August 2014
4
MAZ
MUSIK
Secret Sisters: Die Ladys
vom Land legen nach
Herzhafte
Happen
von
John Hiatt
D
ass Liebe eine tiefgehende
Angelegenheit ist, die einen
bis aufs Mark trifft, bis auf die Knochen durchrüttelt – davon singen
The Secret Sisters. Sie machen in
ihrem Song „Rattle My Bones“
kein Geheimnis daraus, dass ein
junger Mann – obwohl sie es nicht
gern zugeben – ihre Gefühlswelt
erschüttert und sie beinahe um
den Verstand bringt.
Laura und Lydia Rogers tauchten vor vier Jahren mit einem umwerfenden Debüt auf. Das verzückte die Hörer wegen ihres superben Vokalvortrags. Bestechend durch grandios gestaltete
Harmonien. Es begann eine Art
schwelgerische Zeitreise in die
50er Jahre des vorigen Jahrhunderts, der die typisch amerikanischen Musikstile mit einer unerhörten Eleganz und Geschmeidigkeit aufrief. Die Sisters verdanken
viel jenen Stunden, in denen sie
Country-Songs in der Familie trällerten. Oder jenen, in denen sie in
Von Ralf Thürsam
E
s ist wirklich schon etwas länger her, dass John Hiatt den
Song „Have A Little Faith In Me“
schrieb. Andere hatten daran bald
einen Narren gefressen: Joe Cocker, Jewel und sogar Bon Jovi coverten ihn. Vorher und nachher
sollten weitere Künstler folgen,
die die Wertarbeit des Amerikaners zu schätzen wussten.
Hiatt forderte damals: „Vertrau
mir einfach!“ Zu Recht. Spätestens in den 1980er Jahren ging es
mit der kommerziellen Karriere
des Sängers und Gitarristen spürbar aufwärts. Anfangs hatte er sich
noch in Nashville für einen schmalen Taler als Songschreiber verdingen müssen. Eine Weile fuhr Hiatt
stilistisch einen ziemlich unentschlossenen Schlingerkurs. Rock
'n' Roll, New Wave, Souliges – er
experimentierte auf seinen SoloVersuchen mit verschiedenen Genres herum. Lernte allerdings auch,
sich zu behaupten – zumal als
Rhythmusgitarrist von SaitenGuru Ry Cooder.
Schritt für Schritt formte Hiatt
das eigene Klangbild, das spätestens mit der Platte „Walk On“ deutliche Konturen erhalten hatte: ein
Meilenstein amerikanischer Rockmusik mit akustischen Raffinessen
und einer knarzenden Stimme dargeboten. Seither hat sich Hiatt, der
in Indianapolis als sechstes von sieben Kindern groß wurde, in der
Kunst der Nuancierung geübt. So
kehrte er mit seiner formidablen
Band The Goners zum energischen, kantigeren Rock zurück.
Oder der gewiefte Saiten-Spezialist tauchte in den traditionellen
Bluegrass ein. Zuletzt jedoch entwickelte er eine ausgeprägte Vorliebe für Country-Blues. Allerdings ohne sich dabei im Sinne der
Puristen oder der Ahnherren aus
dem Mississippi-Delta sklavisch
ans Schema der zwölf Takte zu halten.
Hiatt ist mittlerweile bei seinem
22. Studio-Album angelangt. Rustikal geht es auch darauf zu. Ins Zentrum stellte der Musiker, der gern
Autorennen fuhr, aber seine markant grantelnde Stimme und die
gewitzt bediente Gitarre. Zum
schlichten, dabei höchst effektiven akustischen Fundament hatte
ihn übrigens sein langjähriger
Klampfen-Kumpel Doug Lancio
überredet.
Ein griffiger Ansatz. Hiatts herzhafte Happen – zumeist mit ruhigem Gestus kredenzt – vertragen
sich exzellent mit wohldosierter
Mundharmonika, Banjo und Mandoline. Doch so vergeblich, wie
die Geschichten und der Titel
„Terms Of My Surrender“ (etwa
Mein persönliches Scheitern) glauben machen sollen, ist das Ganze
nicht. Hiatt kapituliert keineswegs. Frühere Rückschläge sind
bloß noch blasse Schatten aus der
Vergangenheit.
Angus und Julia Stone singen erstmals im Duett
Von Anne-Kathrin Fischer
M
Beck hatte von seinem neuen Album zunächst nur die Noten publiziert.
FOTO: INSIGHT MEDIA
Hilfsprogramm vom
Blatt gespielt
Beck hat Song Reader nun zusammen mit Freunden vertont
Von Tobias Morchner
E
John Hiatt
Terms Of My Surrender
New West Records/ADA-Warner
Unermüdlich
Verwegen
Joris Roelofs
Aliens Deliberating
Pirouet Records/Edel
Kultur
Spoon
They Want My Soul
Anti/Indigo
war haben wir es mit ausgewiesenen Veteranen des Indie-Rock zu tun, doch an Spoon
lassen sich auch nach 20 Jahren
keinerlei Ermüdungserscheinungen beobachten. Ganz im Gegenteil. Die Truppe um die Gründungsmitglieder Britt Daniel und
Jim Eno gibt sich recht geschäftig,
ist sogar zum Quintett angewachsen. Mit neuem Schaffensdrang
schütteln die Texaner zehn ausgeschlafene Power-Pop-Stücke aus
dem Ärmel. Es gibt soulige Ansätze, Synthies in Maßen, dafür
mehr durch Effekte klingelnde
Gitarren. Doch schenken Spoon
ihre clever gebauten Songs nicht
so einfach her. Sie wollen entdeckt werden. rt
The Secret Sisters
Put Your Needle Down
Universal Republic
Wenn Geschwister
erwachsen werden
s scheint schier unmöglich,
den heutigen Popmusikhörer noch mit etwas wirklich
Neuem zu überraschen. Jeder Musikstil hat bereits mindestens einmal eine Renaissance erlebt. Jeder
Hit ist inzwischen mehrfach neu
aufgenommen oder als Sample
verwendet worden. Selbst wenn
sich Künstler zu einem noch nie dagewesenen Projekt versteigen,
lässt es den Fan meist ratlos zurück, wie im Fall der Rapper des
Wu Tang Clans, die von ihrem
neuen Album lediglich ein Exemplar veröffentlichen und es meistbietend versteigern wollen.
Dem Songschreiber und Multiinstrumentalisten Beck dagegen,
der 1993 mit der Single „Loser“ international auf sich aufmerksam
machte, ist dennoch eine musikalische Überraschung geglückt. Er
veröffentlichte sein neues Album
„Song Reader“ nicht auf herkömmlichen Tonträgern, sondern ausschließlich als Notenblätter. Die
Fans sollten ihrer eigenen Interpretationen der Beckschen Komposi-
Z
einer Kirche in Muscle Schoals/
Alabama a capella Stimmbildung
betrieben.
Nun legen die Ladys vom Land
nach. Ihre Platte „Put The Needle
Down“ schaut nicht mehr so stark
zurück, doch Honkytonk, Hillbilly
oder Gospel sind als Ausgangspunkte weiter präsent. Zu den
Fans des Duos zählen Jack White,
Dave Stewart und Bob Dylan. Letzterer vermachte den Schwestern
sogar einige Demos. Laura und Lydia stellten „Dirty Lie“ davon fertig. Ein ordentlicher Raspel-Blues.
Was noch? An den Reglern saß
T Bone Burnett. Der kennt sich in
den herkömmlichen Genres ohnehin trefflich aus. Weshalb hier nur
der Soundtrack zu „O Brother
Where Art Thou?“ der verehrten
Coen-Brüdern erwähnt sei – als
amtlicher Beleg.
rt
eine Frage, das klassisch
besetzte Jazz-Trio hat seine in
Dekaden erprobte Wirkmächtigkeit nie einbüßen müssen. Klavier, Schlagzeug und Bass. Das
war’s. War es das? Eine Frage, mit
der sich Joris Roelofs beschäftigte.
Der Niederländer veränderte die
Koordinaten nur in einer, indes
gewichtigen Position. Der Bassklarinette entlockt der 30-Jährige gar
befremdliche Geräusche. Mal
warm, mal harsch. Immer aber im
grandios befreiten Spiel mit Matt
Penman am Double Bass und Ted
Poor an den Drums. Roelofs gelingt im Diskurs das kühne wie
kontrastreiche Kunststück, die
Qualitäten seines Instruments zur
Gänze auszureizen. rt
tionen finden – einer Aufforderung, der die Fans auch umgehend nachkamen, ob sie nun Noten lesen konnten oder nicht. Im Internet tauchen binnen kürzester
Zeit Videos mit den unterschiedlichsten Versionen der 20 Stücke
auf, mal lustig, mal traurig mal zornig intoniert und alles mit ganz eigenen Charme.
Um Geld für das Hilfsprojekt seines Verlegers, des Schriftstellers
Dave Eggers, in dessen Verlag das
„Song Reader“-Notenbuch gedruckt wurde, zu sammeln, hat
Beck jetzt alle 20 Stücke erstmals
als CD oder Vinyl veröffentlicht. Er
selbst interpretiert lediglich einen
Song des Zyklus namens „Heaven's Ladder“. Die übrigen ließ er
von Kollegen wie Jack White, Norah Jones, dem Gitarristen Marc Ribot oder Wilco-Chef Jeff Tweedy
einspielen.
Anders als bei den durchaus gewagten und kreativen Versionen
der Beck-Fangemeinde, die gerne
auch zu elektronischen oder anderen ungewöhnlicheren Mitteln
griff, reicht die musikalische Bandbreite auf dem jetzt erschienen Al-
bum der Profis dagegen lediglich
von Country-, über Folk-, bis hin
zum Blues-Rock. Dieses eingeschränkte Konzept geht gut auf
bei tragischen Stücken wie „I'm
down“ in der Version von Jack
White oder der luftigen Sommernummer „Saint Dude“ von Bob
Forrest.
Doch wenn der kolumbianische
Sänger und Gitarrist Juanes („La
camisa negra“) Becks Song „Don't
act like your heart isn't hard“ in
eine Latino-Pop-Nummer verwandelt oder Jason Isbel, ehemals einer der Drive-by Truckers, mit der
musikalischen Dampframme in
Form einer verzerrten Gitarre
durch „Now that your dollar bills
have sprouted wings“ rumpelt,
sehnt man sich nach den deutlich
ambitionierteren Versionen der
Beck-Fans im Internet zurück.
Wäre es nicht für einen guten
Zweck, das „Song Reader“-Album wäre in dieser Form nicht notwendig gewesen.
Beck
Song Reader
Caroline (Universal Music)
ABGEHÖRT
Zangengeburt
Gringolts Quartett
und Peter Laul
Johannes Brahms
Streichquartette und
Klavierquintett
(2 CDs) Orchid Classics
K
ohannes Brahms ist einer der
größten Kammermusik-Komponisten. Seine drei Streichquartette
liegen nun in einer schönen Neuaufnahme des Schweizer Gringolts Quartetts vor, das vom dem
32-jährigen russischen Geiger
Ilya Gringolts angeführt wird. Auf
dem Gebiet des Streichquartetts
empfand Brahms die Genialität
Beethovens bedrückend, was sich
in einer schonungslosen Selbstkritik äußerte. Gnadenlos zerstörte
der Komponist über 20 Streichquartett-Entwürfe, bevor er zwei
J
an hatte bereits gefürchtet,
die beiden Geschwister
würden nie mehr zusammenfinden. Haben sich Angus und Julia
Stone doch nach ihrem letzten gemeinsamen Album „Down The
Way“ 2010 jeweils ihren Solokarrieren gewidmet. Jetzt präsentieren die australischen Musikwunderkinder doch noch ihr drittes Album mit dem schlichten Titel „Angus & Julia Stone“.
Verzauberten die beiden auf ihren ersten Alben ihre Hörer noch
durch von der Akustikgitarre getragene Folkliebeleien mit gefühlsschwangeren Texten, so werden
jetzt andere Töne angeschlagen.
Entstanden sind 13 hübsche, stimmungsvolle und bewegende
Songs, die sich mit leichten Melodien ins Ohr schleichen und dort
auch bleiben wollen. Die Stücke
auf dem neuen Album kommen
viel lebendiger, tanzbarer und dabei im nostalgischen Pop-Gewand
daher. Das vorab veröffentlichte
„Grizzly Bear“ lieferte dafür den
besten Beweis. Nur wenige Balladen wie„Wherever You Are“ zeugen noch von der bekannten, melancholisch-schönen
Gesangsweise. „From The Stalls“ vereint
die neue poppige Unbeschwertheit mit der sehnsuchtsvollen Attitüde, die die beiden noch immer gerne hervorrufen.
Viel interessanter an der Neuerscheinung aber ist, dass es auf
„Angus & Julia Stone“ erstmals
auch Duette zu hören gibt. Dies
vermieden die Geschwister früher
strikt. Wie sie einmal auf einem
Konzert verrieten, führe schon das
gemeinsame Songwriting nur zu
Reibereien. Das Geschwister-Duo
ist also erwachsen geworden und
das klingt gut, wenngleich Julia
Angus ein ums andere Mal in den
Hintergrund singt. Gerade das bisher so selten gehörte Zusammenspiel von Julias engelsgleichem
Mädchengesang und Angus’
rauer Stimme verleiht den Liedern einen neuen Zauber, aber in
Songs, in denen Angus solo singt,
hat seine Stimme noch immer
mehr Aussagekraft.
Nicht ganz unschuldig an dieser
Entwicklung ist übrigens die amerikanische Produzentenlegende
Rick Rubin – er zeichnet verantwortlich für Alben von U2, Johnny
Cash und Lady Gaga. Auf einer
Party hörte er seinen ersten Angus & Julia-Song und wollte sofort
mit ihnen zusammenarbeiten.
Trotz aller Euphorie ob ihres erneuten Zusammenfindens: Angus
und Julia Stone klingen jetzt reifer
und haben ihre süße SingerSongwriter-Unschuld
verloren.
Die Distanz, die sie einst zueinander wahrten, verlieh den Songs etwas Einzigartiges, das man bei
anderen Folkbands vergeblich sucht. Angus und Julia Stone klingen nun
runder, radiotauglicher, immer noch
schön, aber weniger aufregend.
Quartette als op. 51 vollendete –
damals zählte er bereits 40 Jahre.
Sarkastisch nannte er die Veröffentlichung eine „Zangengeburt“
und widmete sie einem Chirurgen.
Eindringlich verdeutlicht das
Gringolts Quartett den Kontrast
zwischen dem dramatischen
ersten und dem abgeklärten zweiten Quartett, die beide in MollTonarten stehen. Das zwei Jahre
später entstandene Quartett Nr. 3
wirkt dagegen wie ein heiteres
Nachspiel. Das Ensemble besticht
durch ausgewogenen, durchsichtigen Klang und eine vollkommene
Gleichberechtigung der vier Stimmen. Abgerundet wird Platte
durch eine temperamentvolle
Einspielung des Brahms-Klavierquintetts, für die sich der Pianist
Peter Laul zu den vier Streichern
gesellt. Antje Rößler
Angus & Julia Stone
Angus & Julia Stone
Vertigo Berlin
Geheimtipp
Stimmgewaltig
Tre Mission
Stigmata
Big Dada/ Ninja Tune/
Rough Trade
it Grime legt er los, ein kurzer Abstecher in die Gefilde
des UK-Garage und House bildet
den Übergang zu basslastigem
Rap – Tre Mission zeigt auf seinem Debüt „Stigmata“ eine
ganze Bandbreite an Einflüssen,
die seiner Musik ihren eigenen
Sound gibt. Das Album überzeugt, langweilt an keiner Stelle.
So mancher Geheimtipp ist drauf.
„On Road“ ist einer. Der düstere
UK-Garage-Sound, gepaart mit
dem eigenen Stil des kanadischen
Rappers, passt. An teils etwas
überladenen Songs zeigt sich,
dass der 22-Jährige noch nicht
damit fertig ist, seinen Sound zu
definieren. Aber er geht einen
viel versprechenden Weg. sc
M
Alex Diehl
Ein Leben lang
Rca Deutschland (Sony
Music)
ch bin einer von uns“, singt
Alex Diehl in seinem Song
„Robin Hood“. Und tatsächlich:
Der aus dem bayerischen Chiemgau stammende Sänger und
Songwriter ist zumindest einer
von vielen. Wie zahlreiche deutsche Musiker setzt er mit seinem
Debüt-Album „Ein Leben lang“
auf deutschen Pop-Rock mit emotionalen Texten. Mal versucht er
es ruhig wie Philipp Poisel, mal
kräftiger wie Peter Maffay. Aber
selten schafft er es, einen wirklich
mitzunehmen. Zugegeben: stimmgewaltig ist Diehl allemal. Leider
versucht er, das in fast jedem
Song zu beweisen. Auch textlich
kommt wenig Anspruchsvolles –
dafür eine Menge Kitsch. sc
I