Der ferne Klang

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Der ferne Klang
DER FERNE KLANG
Franz Schreker
Uraufführung: 18.8.1912, Opernhaus Frankfurt am Main, L.: Franz Schreker
der alte Graumann, pensionierter kleiner Beamter (Bass); seine Frau (Mezzosopran); Grete,
beider Tochter (Sopran); Fritz, ein junger Künstler (Tenor); der Wirt des Gasthauses „Zum
Schwan“ (Bass); ein Schmierenspieler (Bariton); Dr. Vigelius, ein Winkeladvokat (Bass); ein
altes Weib (Mezzosopran); Mizi (Sopran); Milli (Mezzosopran); Mary (Sopran); und eine
Spanierin (Alt); Tänzerinnen; der Graf (Bariton); der Baron (Bass) und der Chevalier (Tenor),
Lebemänner; Rudolf, Fritz’ Intimus und Arzt (Bariton); die Kellnerin (Mezzosopran); ein
zweifelhaftes Individuum (Tenor); ein Polizeimann (Bass); ein Diener (Sprechrolle)
Chor, Ballett, Statisterie: Gäste, Kellner, Kellnerinnen, Gesinde des Gasthauses „Zum
Schwan“; Mädchen, Tänzerinnen aller Nationen, Männer und Frauen (zum Teil maskiert),
Theaterpersonal, Theaterbesucher, Wagenausrufer
Genua und Umgebung, 16. Jahrhundert
1. Akt / 1. Bild: In einer kleinen Stadt, Wohnzimmer bei Graumann, hinter einem Fenster
das Wirtshaus „Zum Schwan“: Grete verabschiedet sich durch ein Fenster von ihrem
heimlichen Verlobten Fritz. Er erklärt ihr, dass er sie verlassen müsse, um den rätselhaft
weltfernen Klang, der ihm vorschwebt, zu suchen. Er werde zu ihr zurückkehren, sobald er
diesen Klang entdeckt habe. Eine kupplerische Alte, die Fritz’ Weggang beobachtet hat,
bietet Grete ihre Hilfe an; dann verschwindet sie rasch. Währenddessen hat sich der alte
Graumann, Gretes Vater, im Wirtshaus betrunken und erscheint nun mit der stark
angeheiterten Zechgesellschaft in dem Zimmer. Ein Schmierenschauspieler und Vigelius
verkünden Grete und ihrer Mutter, dass Graumann seine Tochter beim Kegeln an den Wirt
verloren habe und dieser sie heiraten wolle. Grete gesteht zum Zorn ihres Vaters, dass sie
mit einem anderen verlobt sei.
2. Bild: Wald mit einem See in der Nähe der Stadt:
Da Grete die Hoffnung aufgegeben hat, Fritz noch zu finden, will sie sich im See ertränken.
Der nächtliche Waldzauber hält sie jedoch von ihrem Vorhaben ab; sie schläft ein.
Unterdessen erscheint die alte Kupplerin. Als Grete erwacht, verspricht ihr die Alte, sie zu
guten Menschen zu führen.
2. Akt,:„La casa di maschere“, ein Tanzetablissement auf einem Eiland im Golf von Venedig,
zehn Jahre später: Grete ist die Edelkurtisane Greta geworden. In dem bunten Treiben des
Etablissements werden einige Mädchen auf die Ankunft des Grafen, eines
zurückgewiesenen Verehrers von Greta, aufmerksam. Kurze Zeit später erscheint unter dem
Beifall der Männer Greta selbst. Sie wird von Erinnerungen an die Vergangenheit gequält.
Plötzlich schlägt ihre Stimmung um, und sie verspricht sich demjenigen, der den Mädchen
Zerstreuung und Amüsement bringt. Der Graf versucht sich mit einer Ballade, ein Chevalier
tritt mit einer Satire über sein eheliches Unglück dazu in Konkurrenz. Ein ankommendes
Schiff, dem ein bleicher Mann entsteigt, lenkt das Interesse von dem Wettstreit ab; Greta
nutzt die Gelegenheit, dem enttäuschten Grafen zu versichern, dass nicht Hass der Grund
für ihre Zurückweisung sei, sondern die Ähnlichkeit des Grafen mit ihrem ersten Geliebten.
Da betritt der seltsame Schiffspassagier die Szene: Es ist Fritz. Er erkennt Grete, erzählt ihr
von seinem vergeblichen Streben nach Ruhm von seiner Suche nach ihr und davon, wie er
durch den plötzlich gegenwärtigen fernen Klang schliesslich zu ihr geführt wurde. Die
Zuhörer sind gerührt. Greta spricht Fritz den ausgelobten Preis zu: sich selbst. Jetzt erst
bemerkt Fritz, dass Grete eine Kurtisane geworden ist; entsetzt verstösst er sie und verlässt
hastig die „Casa di maschere“. Gebrochen ergibt sich Greta dem Grafen und flieht mit
diesem von dem Eiland.
3. Akt, 1. Bild, in einer grossen Stadt, Vorgarten des „Theaterbeisels“ vor dem Hoftheater,
fünf Jahre später: Während im Hoftheater Fritz’ Oper „Die Harfe“ gegeben wird, sitzen
Vigelius und der Schauspieler im Beisel und lassen die alten Zeiten aufleben. Der
Schauspieler erklärt Vigelius, dass er die Rolle eines Schmierenschauspielers in dem neuen
Werk aus verletztem Stolz abgelehnt habe. Ein Chorist kommt und berichtet, dass das Stück
ein Erfolg zu werden scheine. Da wird Grete, die nun unter dem Namen Tini als Dirne ihr
Dasein fristet, von einem Polizisten hereingeführt. Sie musste aufgrund ihrer grossen
Erregung das Theater verlassen und wird nun Opfer der Belästigungen eines zweifelhaften
Individuums. Vigelius erkennt Grete. Inzwischen ist die Theaterpremiere beendet. Das Beisel
füllt sich mit Gästen, die den überraschenden Misserfolg von Fritz’ Oper, herbeigeführt durch
das schwache Ende des Werkes, diskutieren. Eine schwere Krankheit des Autors wird
erwähnt. Tief aufgewühlt von dieser Kunde, fällt Grete in Ohnmacht. Der Erwachenden
verspricht Vigelius, sie zu Fritz zu bringen.
2. Bild, Fritz’ Arbeitszimmer, Frühlingsmorgen: der morgendliche Gesang der Vögel bereitet
dem kranken und stark gealterten Fritz ein rauschhaftes Naturerlebnis, doch der Gedanke an
sein fruchtloses Ringen lässt sich nicht gänzlich vertreiben. Sein Freund Rudolf überbringt
ihm die Botschaft, dass er, um seine Oper zu retten, den letzten Aufzug umarbeiten solle.
Fritz aber geht nicht darauf ein. Statt dessen bittet er Rudolf, Grete, die er im Theater
gesehen zu haben glaubt, zu ihm zu bringen. Kaum hat sich Rudolf auf die Suche gemacht,
erscheint Vigelius, um Grete anzukündigen. Fritz, der Vigelius keine Aufmerksamkeit
schenkt, vernimmt den fernen Klang plötzlich in nie erlebter Deutlichkeit. Als Grete eintritt,
erklärt er, den verfehlten 3. Aufzug seiner Oper vollenden zu wollen. Er stirbt in Gretes
Armen.
Interpretation: Der Titel von Schrekers erster bedeutender Oper – Der ferne Klang – kann
als Programm für das gesamte Schaffen des Komponisten gelesen werden. Ungreifbarer,
gleichsam entmaterialisierter Klang, ob er sich nun in differenzierter Harmonik oder in
subtiler Instrumentation darstellt, bildet den Kern der Schrekerschen Musik. Die Entdeckung
dieses Klanges und die damit verbundene Entwicklung seines unverwechselbaren
musiktheatralischen Stils ist Schreker mit dem Fernen Klang gelungen, an dem er zehn
Jahre (1901 – 1911) gearbeitet hatte. Um eine grosse Palette an Farben und
Klangwirkungen zu erreichen, lässt es Schreker nicht an Mitteln fehlen: Im gross besetzten
Orchester werden die Streicher vielfach geteilt, an Schlagwerk wird nicht gegeizt, und
ausgiebig werden die Instrumente eingesetzt, die Schreker wie kein anderer in das
Orchester zu integrieren wusste: Harfe, Celesta und Klavier. Dass es dem Komponisten
jedoch um mehr als bloss raffinierte Mischklänge geht, zeigt etwa das Vorspiel zum 2. Akt:
Bei noch geschlossenem Vorhang lässt Schreker zusätzlich zum normalen Orchester
Zigeunermusik und venezianische Musik aus unterschiedlichen Entfernungen von der Bühne
her erklingen, und er fügt ausserdem einen Fernchor hinzu, der oberhalb der Bühne platziert
werden soll, ferner einzelne Frauenstimmen mit Vokalisen. Hier liegt das angestrebte Ziel
offenbar in der räumlichen Auffächerung des Klanges, in der Verräumlichung der Musik.
Wenn sich Fritz, der Held der Oper, auf die Suche nach dem fernen Klang begibt, so scheint
er autobiographische Züge des Komponisten zu tragen. Diese Deutung wird nicht nur von
der Namensähnlichkeit – Franz/Fritz – gestützt, sondern vor allem von der Binnenoper, die
im 1. Bild des 3. Aktes zur Aufführung gelangt. Zwar nennt sich Fritz’ Werk „Die Harfe“, doch
lassen sich die vier Ausschnitte, die der Zuschauer aus der „Harfe“ zu hören bekommt, leicht
als Zitate aus dem Fernen Klang erkennen. Schreker entwirft hier ein komplexes Vexierbild,
das an das berühmte Gemälde Las Meninas erinnert, in dem sich der Maler Velázquez
selbst beim Malen seines Hauptwerkes, eben Las Meninas, darstellt. Eine besondere Ironie
Schrekers liegt darin, dass er in der Oper gleichsam sein eigenes Werk bei der Premiere
aufgrund des verfehlten 3. Aktes durchfallen lässt. Tatsächlich hatte Schreker den 3. Akt von
Der ferne Klang auf Anraten seines Freundes Ferdinand von Saar umgearbeitet. Trotzdem
kann Der ferne Klang nicht eigentlich als Künstleroper gelten. zwar erscheinen die üblichen
Motive der Künstlerausfahrt und der Erlösung des Künstlers durch die Liebe, doch die
Dramaturgie des Stückes lenkt den Blick weniger auf Fritz’ Geschicke als vielmehr auf Grete
– und mit ihr auf die verschiedenen Milieus, in denen sie auftritt. Man hat den Fernen Klang
wegen dieser Milieuschilderungen oft in die Nähe des Naturalismus gerückt. Schrekers
Sprache aber und auch seine Bildfindungen sind zu manieriert und zu sehr symbolistisch
aufgeladen, als dass dies uneingeschränkt gelten könnte. Gleichwohl sind eher realistische
Partien in der Oper auszumachen, die zum Teil durch melodramatisch zur Musik
gesprochenen Dialog gekennzeichnet sind. Auch kann aus einigen Szenen Sozialkritik
herausgelesen werden, etwa wenn Fritz – in bürgerlichen Moralvorstellungen befangen –
Grete als Prostituierte verstösst. Der ferne Klang war bei der Uraufführung in Frankfurt 1912
ein Sensationserfolg. Das nachzuvollziehen, fällt heute manchmal schwer. Die musikalischen
Höhepunkte des Werkes jedoch – der Waldzauber im 1. Akt oder das
Orchesterzwischenspiel des 3. Aktes, das auch gesondert als Nachtstück aufgeführt wurde –
haben nichts von ihrer Wirkung verloren.
Auszug aus „Knaurs grosser Opernführer“
ACS-Reisen AG, Bern