Zusammengerückt zum Glück
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Zusammengerückt zum Glück
GEMEINDEPORTRÄT Zusammengerückt zum Glück «Dichtestress» und Mietpreise, die durch die Decke gehen – die Bevölkerung wächst und mit ihr die Ansprüche an Wohnen, Arbeiten, Mobilität und Freizeit. Das bei beschränktem Raum. Die Frage ist: Wie bringt man die Bewohner dazu, die Verdichtung nach innen mitzutragen? Den wachsenden Ansprüchen zu genügen und das revidierte Raumplanungsgesetz einzuhalten, ist seit diesem Frühling die grosse Herausforderung. Weil kein neues Bauland mehr eingezont werden sollte, müssen die Städte und Gemeinden erfinderisch werden. Neue Zonenpläne sollten im besten Fall Verkehrsströme und Wirtschaftsinteressen berücksichtigen und im Einklang mit der umliegenden Natur stehen. Noch wichtiger ist aber, dass Wohn- und Bebauungsflächen optimal genutzt werden. Immer wieder scheitert aber die Neuausrichtung der Raumentwicklung an der Kommunikation mit der Bevölkerung. Überall, aber «Not in my Back yard», «nicht in meinem Hinterhof», soll verdichtet werden. «Verdichtung nach innen» ist zum Reizwort verkommen und wurde längst durch die «Innenentwicklung» abgelöst. 36 Damit ist gemeint, dass nicht bloss höher und dichter gebaut werden sollte. Auch bestehende Bauten und Flächen sollten effektiver und vielfältiger genutzt werden, wie Lukas Bühlmann, Direktor der Vereinigung für Landesplanung VLP, in der Maiausgabe der «SG» sagte. Wachsen ohne Wachstum Monte Carasso liegt zwar zentral zwischen der Tessiner Kantonshauptstadt Bellinzona und Locarno, doch über viel Raum verfügt die Gemeinde nicht: Die Berge und der Fluss Ticino bilden zu beiden Seiten die natürlichen Grenzen. Dennoch hat Monte Carasso in den vergangenen drei Jahrzehnten über 1000 Bewohner hinzugewonnen, ohne dass sich die Gemeindefläche nennenswert vergrössert hätte. Die heute rund 2800 Bewohner leben in einem urbanen Ver- bund mit dörflichem Dekor. Die grosse Transformation begann für Monte Carasso mit der Umgestaltung des Dorfkerns Ende der 1970er-Jahre durch den Architekten Luigi Snozzi. Mit der Umnutzung des verfallenden Augustiner Konvents als Gemeindemittelpunkt begann sich auch das Image der Gemeinde zu wandeln. Luigi Snozzi fasste die Veränderungen in einem Interview einmal so zusammen: «Als ich zum Beispiel nach Monte Carasso kam, war das Dorf arm. Und wer in der Schule dumm war, dem sagte man damals nach, er komme aus Monte Carasso.» Das hat sich total verändert, heute ziehen Leute aus Lugano nach Monte Carasso. Worin aber liegt der Erfolg der kleinen Tessiner Gemeinde begründet? Gab es eine Initialzündung für die verdichtete «Renaissance» der Gemeinde? Und wie gelang es, die Bevölkerung Schweizer Gemeinde 10/14 GEMEINDEPORTRÄT Altes und Neues Verbinden. Moderne Architektur in Monte Carasso. schrittweise von der Radikalkur zu über- bitte geht es hier zur Innovation? zeugen? Die «SG» hat vor Ort nach Ant- Das «Convento», zu Deutsch Kloster, in worten gesucht. Eine Begegnung mit der Mitte von Monte Carasso ist kultuEmanuele Alexakis, Raumplaner der relles Zentrum, Bildungsort und arGemeinde Monte Carasso, und dem Ge- chitektonischer Gründungsmythos zugleich. Hier hat das «Projekt Monte meindepräsidenten Ivan Guidotti. Monte Carasso hat es sich am Berg be- Carasso», von dem das Tessiner Radio RSI unlängst sprach, vor gut quem gemacht, zu verbergen hat es nichts. So präsentiert «Die Schule 30 Jahren begonnen. Den Anstoss dazu gab der Architekt sich der Tessiner Ort zuminist von Luigi Snozzi, der zusammen dest dem Betrachter, wenn er über die 2011 erbaute Fuss- elementarer mit Aurelio Galfetti und Livio gängerbrücke von Bellinzona Bedeutung.» Vacchini zur sogenannten «Tessiner Schule» gehört. Ab aus nach Monte Carasso 1979 arbeitete er zum ersten kommt. Ein Bild der parallel geschalteten Harmonie: Fluss Ticino, Mal für die Gemeinde Monte Carasso, Schnellstrasse, Ortskern und die Seil- weil diese ihm den Auftrag gab, eine bahn, welche zum 1400 Meter hoch ge- neue Grundschule zu bauen. legenen Mornera führt, das ebenfalls «Doch zu diesem Zeitpunkt verfügte Monte Carasso über keinen zentralen auf Gemeindegebiet liegt. Die ersten Strassenzüge versprühen öffentlichen Platz, an dem eine solche frisch verputzten Agglo-Charme. Wo Schule hätte errichtet werden können», Schweizer Gemeinde 10/14 Bilder: Marco Pozzo sagt Raumplaner Emanuel Alexakis. Der erste Zonenplan, welcher vor dem Engagement Snozzis im Gemeinderat verabschiedet wurde, sah deshalb für die neue Schule ein Grundstück an einer Verkehrsachse am Rande der Gemeinde vor. Snozzi verwarf diesen Plan allerdings und richtete seinen Blick ins Zentrum. Die Substanz des Augustinerklosters bröckelte dort mit jedem Jahr, das seit dem Auszug der letzten Mönche 1859 ins Land zog – ab den 1960erJahren zogen auch die letzten Dorfbewohner aus dem brüchigen Gebäude, in dem sie sich zuvor provisorisch kleine Wohnungen eingerichtet hatten. Snozzi erkannte die soziale Leerstelle, welche die unbewohnte Klosterruine in der Ortsmitte hinterliess: Er schlug vor, die neue Schule auf dem Areal des Klosters zu bauen und zugleich andere öffentliche Einrichtungen in dem reno37 GEMEINDEPORTRÄT «El Cunvént» (links) vom Sportplatz der Schule aus gesehen. Das frühere Kloster wurde zum neuen Dorfzentrum. vierten «Convento» unterzubringen. Dafür liess Snozzi den zweiten Stock des Klosterflügels vollständig abtragen. Gebaut wurden Klassenzimmer, die unter den charakteristischen Gewölbedächern liegen. Das war die doppelte Grundsteinlegung für die raumplanerische Neuausrichtung Monte Carassos. «Dass der Ortskern wieder zu einem für alle frei zugänglichen Platz der Begegnung geworden ist, war vor allem auf politischer Ebene wichtig für alle weiteren Veränderungen», sagt der aktuelle Gemeindepräsident Ivan Guidotti. Kontinuität und Identität Sein Vorgänger Flavio Guidotti, mit dem Ivan die politische, nicht aber die biologische Familie teilt, war über 30 Jahre im Amt. «Das war für das langfristig angelegte Modell Snozzis sicherlich von Vorteil», sagt Ivan Guidotti, der hauptberuflich in einer Bank arbeitet. Denn es brauchte über 15 Jahre, bis das 38 geplante Zentrum, in dem alle wichtigen heissen würde. Monte Carasso ist nach öffentlichen Funktionen heute benach- Claro die am zweitstärksten wachsende bart sind, Realität wurde. Seitdem alle Kommune im Bellinzonese. Deshalb ist Umbaustufen abgeschlossen sind, be- es laut Gemeindepräsident Guidotti befinden sich Kirche, Friedhof, Gemeinde- deutsam, verbindende Elemente zwihaus, Primarschule, Turnhalle und Kin- schen Ankommenden und Alteingesessenen zu schaffen. «Die Strasdergarten unmittelbar im oder sennamen erfüllten genau um das «Convento». «Für uns «Ein neu diesen Zweck», so Guidotti. ist das ‹Convento› zum Dreherrichtetes Dem Dialekt verpflichtet ist und Angelpunkt des GemeinGebäude auch die Stiftung «Curzútt». dewesens geworden. Von der Von Bürgern Monte Carassos Einschulung über die Hochzeit füllt die 1998 ins Leben gerufen, kümbis zur Beerdigung sind alle Fläche mert sie sich um den WiederLebensphasen irgendwie mit komplett.» aufbau und den Unterhalt der diesem Begegnungszentrum Siedlung «Curzútt». Die Bergverknüpft», sagt der «Singemeinde oberhalb Monte Carassos daco» Guidotti. Ein sprachliches Detail, mit identitäts- war bis ins 18. Jahrhundert dauerhaft stiftender Wirkung, war die Überset- bewohnt. Danach verfielen einige der zung aller Strassennamen in den Tessi- Gebäude. «Dass wir sie wieder aufner Dialekt: Der verkehrsberuhigte Weg bauen, bedeutet, dass wir uns zu unseum den Dorfkern heisst beispielsweise rem historischen Erbe bekennen», sagt «El Cunvént» anstatt «Il Convento», wie der Sindaco. die Bezeichnung auf Standarditalienisch Der Rückhalt in der Bevölkerung lässt Schweizer Gemeinde 10/14 GEMEINDEPORTRÄT Werkstattgespräche Die Bevölkerungszahlen in der Schweiz steigen, die Raumansprüche für Wohnen, Arbeiten, Mobilität und Freizeit vergrössern sich. Gebäude und Infrastrukturbauten üben Druck aus auf die nicht vermehrbare Ressource Boden. Es ist höchste Zeit umzudenken. Wir stehen vor der Herausforderung, mit einer räumlichen Gesamtstrategie und städtebaulichen Visionen die Siedlungsgebiete qualitativ aufzuwerten, die öffentlichen Räume zu gestalten und das flächenhafte Wachstum der Gemeinden zu stoppen. Monte Carasso hat schon vor 30 Jahren mit einem revolutionären Zonenplan auf verdichtetes Bauen gesetzt. Welche Lehren können wir heute aus der Nutzungsplanung von Monte Carasso ziehen? Der Verband Schweizer Raumplaner (FSU) organisiert am 17. Oktober in Monte Carasso Werkstattgespräche mit Exkursion. pd Dem kühlen Grau des Betons stehen ockergelbe Reihenhäuser gegenüber. Bilder: Marco Pozzo sich auch ökonomisch erklären: Nachdem das «Projekt Monte Carasso» im Kanton und über dessen Grenzen hinaus bekannt wurde, begann durch den stetigen Zuzug eine Aufwertung der Grundstücke und Immobilien. Auszeichnungen für die Raumplanung stärkten die Anziehungskraft weiter: 1993 erhielt Monte Carasso den Wakkerpreis, welcher jährlich durch den Schweizer Heimatschutz (SHS) verliehen wird. Die Jury begründete den Entscheid, weil es der kleinen Gemeinde gelungen war, «sich gegen die ausufernde Agglomeration Bellinzonas abzugrenzen». Weniger Fläche gleich mehr Teilhabe? Ausserhalb der Mauern des «Convento» folgte der Wandel in der Bebauung den Vorschriften, die eine Expertenkommission um Luigi Snozzi ausarbeitete. Die sieben Regeln Snozzis, welche mittlerweile zum Kanon der Architekturtheorie zählen, sehen unter anderem Schweizer Gemeinde 10/14 vor, dass ein neu errichtetes Gebäude die Grundstücksfläche komplett ausfüllt. Nur so kann das begrenzte Gemeindeterritorium Monte Carassos optimal ausgenutzt werden. Und das hat Folgen: «Die Durchschnittsgrösse eines Grundstücks beträgt hier in Monte Carasso 250 Quadratmeter. Nirgendwo im Tessin kommt man mit weniger Platz aus», sagt Emanuel Alexakis. Verdichtung wird somit zur baulichen und sozialen Realität. Neue Betonvillen mit klaren Kanten und Glasfassaden schmiegen sich an Rusticos, die an die landwirtschaftliche Vergangenheit Monte Carassos erinnern. Es ist ein «Ineinanderfliessen» von Stein, Holz, Beton und spärlichen Freiflächen. Ganz im Gegensatz zur fast klinisch anmutenden Grundstückstrennung mancher Neubaugebiete in den Agglomerationen. Die klaren Vorgaben in Snozzis Planungsdokument haben zwar die Grundstruktur der Gemeinde fundamental ge- Informationen: tinyurl.com/oqy5vap prägt, jedoch üben sie keine dogmatische Alleinherrschaft über die Gestaltung der Häuser aus. Dem kühlen Grau des Sichtbetons stehen ockergelbe Reihenhäuser gegenüber. Das verwitterte Holzhaus ist einen Steinwurf vom Flachdach mit Messinggeländer und Solarkollektoren entfernt. Die Angst, gefressen zu werden So vielfältig die Häuser erscheinen, so vielfältig sind häufig die Lebensweisen ihrer Bewohner. Und dies kann auch für nachbarschaftliche Konflikte sorgen, wie Raumplaner Alexakis zugibt. «Im Baureglement sind jedoch kleine Trennmauern an den Grundstücksenden vorgesehen. Diese sollen für ein Minimum an Privatsphäre sorgen», erklärt Alexakis. In der baulichen Umsetzung wirken diese Mäuerchen dann jedoch ein wenig wie der klägliche Versuch, das verworfene Konzept des Individualhauses mit Garten über die Hintertüre doch wie39 GEMEINDEPORTRÄT der einzuführen. Wie viel Nähe möchten die Bewohner zulassen, wie viel Teilen und Teilhabe ist erwünscht? Darüber wird auch immer wieder in der dreiköpfigen Expertenkommission diskutiert, die Luigi Snozzi weiterhin anführt. Wer sich für Monte Carasso entscheide, der wisse um die begrenzten Raumverhältnisse, so Alexakis. Oder wie es Architekt Andreas Hofer im «Magazin» des «Tages-Anzeiger» ausdrückte: «Dichtestress entsteht nur, wenn wir mit den Nachbarn nichts anzufangen wissen.» Ausser zur symbolischen Besitzstandswahrung dienen die erwähnten Trennmauern auch dazu, die Häuser vor dem Lärm des Strassenverkehrs zu schützen. Weil die Häuser direkt mit dem Grundstücksende abschliessen, liegen zwischen vorbeifahrendem Pkw und Eingangstüre in einigen Fällen nur ein bis zwei Meter. Die beschlossenen ver- kehrsberuhigten Zonen reichten jedoch noch nicht aus, um dieses Problem lösen zu können, so Raumplaner Alexakis. «Besonders zu den Stosszeiten wählen Pendler auch kleine Seitengassen in der Gemeinde, die ohnehin schon Tempo30-Zonen sind», sagt Alexakis. Abhilfe könnten unter anderem E-Bikes schaffen, deren Anschaffung die Gemeinde unterstützt. Für Sindaco Ivan Guidotti ist es aber nicht der überbordende motorisierte Verkehr, der das «Projekt Monte Carasso» wirklich gefährden könnte: «Wenn ich etwas wirklich befürchte, dann ist es, unsere Eigenständigkeit in einer künftigen Grossregion Bellinzona aufgeben zu müssen.» Nicolai Morawitz Gemeindepräsident Ivan Guidotti Der Gemeindepräsident Ivan Guidotti arbeitet in Vollzeit bei einer Privatbank in Bellinzona. Er ist 45 Jahre alt, gehört der CVP an und wurde 2012 ins Amt gewählt. In seiner Freizeit engagiert er sich unter anderem als Vizepräsident beim Fussballclub US Monte Carasso. nim Monte Carasso Politische Gemeinde Tessin, Bezirk Bellinzona. 1348 Monte Carasso. 1591 (709 Einwohner); 1784 (600); 1801 (496); 1850 (619); 1900 (956); 1950 (1064); 1990 (1610); 2000 (2133). Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit hatte Monte Carasso Anrecht auf einen ständigen Vertreter im Rat von Bellinzona. Die Bewohner des in vier Squadren gegliederten Dorfs lebten vorwiegend in den verschiedenen Fraktionen am Berg. Kirchlich trennte sich Monte Carasso 1634 von Bellinzona. Die 1905–1906 restaurierte Pfarrkirche Santissima Bernardino e Girolamo wurde wahrscheinlich gegen Ende des 15. Jh. an der Stelle einer romanischen Betkapelle erbaut; gleichzeitig entstand der angegliederte Augustinerinnenkonvent. 1555 löste sich Letzterer vom Frauenkonvent Santa Maria Elisabetta in Como. 1857 wurde er aufgehoben. Die Kirche San Bernardo geht auf das 12.–13. Jh. zurück und enthält bedeutende Fresken der Seregneser Meister aus dem 15. Jh.; die Kapelle Madonna della Valle entstand im 17. Jh. Ab 1506 besassen die Dorfgenossen von Monte Carasso das Fährrecht über den Fluss Tessin. Die Fähre wurde zu einer wichtigen Verbindung über den Fluss, als 1515 die Torrettabrücke zerstört und erst 1815 wieder aufgebaut wurde. Weidewirtschaft und Ackerbau waren die Haupteinkommensquellen der Bevölkerung. Ab Mitte des 19. Jh. wanderten zahlreiche Einwohner nach Übersee aus. Zur Arbeitsbeschaffung für die 1853 aus der Lombardei ausgewiesenen schweizerischen Flüchtlinge wurden im Gebiet von Monte Carasso Befestigungen, die sogenannten fortini della fame, errichtet. Nach einem Projekt von Luigi Snozzi wurde ab den 1980er-Jahren der Dorfkern neu gestaltet. 1987–1993 wurde in einer ersten Etappe das ehem. Augustinerinnenkonvent wiederhergestellt, das heute die Primarschule und das Kulturzentrum beherbergt. 1998 wurde die Fondazione Curzútt gegründet mit dem Ziel, die alte Siedlung auf der Collina Alta oberhalb von Monte Carasso wieder zu beleben. 2000 waren 75% der Erwerbstätigen ausserhalb der Gemeinde beschäftigt. Graziano Tarilli, Historisches Lexikon der Schweiz, Version vom 17.11.2009, www.hls-dhs-dss.ch Sicht auf Monte Carasso. Ein Beispiel gelungener Verdichtung. 40 Bilder: Sarah Ennemoser Schweizer Gemeinde 10/14