15 Jahre Beschäftigung mit der Thematik Behinderung und Dritte Welt
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15 Jahre Beschäftigung mit der Thematik Behinderung und Dritte Welt
15 Jahre Beschäftigung mit der Thematik Behinderung und Dritte Welt 1 Friedrich Albrecht Vor 15 Jahren veröffentlichte Herbert KEMLER sein Buch „Behinderung und Dritte Welt. Annäherung an das zweifach Fremde“ und machte damit auf einen sich neu entwickelnden Arbeitsbereich der Heilpädagogik aufmerksam. Dieser hat sich in den Folgejahren als ein Nischen-Arbeitsgebiet etabliert, dessen Entwicklung angesichts der Tatsache, dass diese doch weitgehend en passant zum regulären Wissenschaftsbetrieb der Heilpädagogik vonstatten ging, eigentlich ganz beachtlich ist. Mein Beitrag umfasst einen rudimentären Rückblick auf die Entstehungsgeschichte dieses Arbeitsgebietes zu einem Feld mit teildisziplinären Charakteristiken, einen Blick auf seine zentralen Gegenstandsbereiche, die sich m.E. herauskristallisiert haben, sowie einen Ausblick auf das Verhältnis zur Vergleichenden Heilpädagogik. 1 Rückblick Bis weit in die 80er-Jahre hinein war der heilpädagogische Blick „über den eigenen Tellerrand“ eher auf kulturnahe Räume und solche gerichtet, deren Stand der gesellschaftlichen Entwicklung mit dem unsrigen vergleichbar war. Die Frage, was die Länder und Völker der Dritten Welt und die dortigen Menschen mit Behinderung mit uns zu tun haben, tauchte nur ganz sporadisch auf. 1 Manuskript der Veröffentlichung: Albrecht, Friedrich (2004): 15 Jahre Beschäftigung mit der Thematik Behinderung und Dritte Welt. In: Schnoor, Heike/ Rohrmann, Eckhard (Hrsg.): Sonderpädagogik. Rückblicke – Bestandsaufnahmen – Perspektiven. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 219-224 Zitation: Bitte nutzen Sie möglichst den o.g. Originalbeitrag. Bei Verwendung dieses Internettextes im Ausnahmefall zitieren Sie bitte wie folgt: Albrecht, Friedrich (2004): 15 Jahre Beschäftigung mit der Thematik Behinderung und Dritte Welt. Verfügbar über: http://www.f-albrecht.eu/zuerich/15jbeh3w.pdf [Zugriff: TT.MM.JJJJ] 1 Ich habe einmal versucht, die Entwicklung der Herausbildung des Arbeitsbereiches ‚Behinderung und Dritte Welt’ in Phasen einzuteilen und diese erste, sporadische Phase möchte ich als Phase der Annäherung an die Thematik kennzeichnen. Die Merkmale dieser Phase – die ich bis Mitte der 80er-Jahre taxiere – sind, dass es in dieser Zeit nur sehr vereinzelte wissenschaftliche Arbeiten gab (exemplarisch: WEINSCHENK 1977), weiterhin gab es einige Berichterstattungen und Eindrucksanalysen von Auslandsaufenthalten oder Besuchen von Einrichtungen in der Dritten Welt, die aber in der Regel ohne größeren wissenschaftlichen Anspruch erstellt wurden. Die zweite Phase – beginnend in der zweiten Hälfte der 80er-Jahre – lässt sich als Phase der Konstituierung kennzeichnen. Deren Hauptmerkmale sehe ich darin, dass das Interesse in der Fachöffentlichkeit deutlich gestiegen ist, dass es eine erhebliche quantitative, aber auch qualitative Steigerung bei Forschungs- und Publikationsaktivitäten gab und dass dieser Bereich erste Ansätze von disziplinären Eigenschaften entwickelte. Ins Bewusstsein rückte, dass der Nord-Süd-Konflikt einen „Bildungsauftrag für die Zukunft“ beinhaltet und auch nicht vor den Grenzen zur Heilpädagogik halt machen dürfte. An einigen Hochschulen regte sich studentisches Interesse, der damaligen Studierperspektive Arbeitslosigkeit etwas sinnstiftendes in Form von engagierter „Dritte-Welt-Arbeit“ an die Seite zu stellen, SonderschullehrerInnen, die den Zusammenhang von Armut und Behinderung täglich in der eigenen Klasse oder auch in Form von Bildungsreisen erlebten, beschäftigten sich mit Fragen, wie die Dritte-Welt-Thematik didaktisch für die Sonderschule aufbereitet werden könnte, EntwicklungshilfeRückkehrerInnen und einige Organisationen entwickelten das Bedürfnis, ihre Erfahrungen aufzuarbeiten und wissenschaftlich zu reflektieren, im Forschungsbetrieb entwickelten sich Tendenzen zum Systematisieren und zur Theoriebildung. Ungefähr zehn Jahre, nachdem die Dritte Welt „Gegenstand erziehungswissenschaftlicher Forschung“ in Deutschland wurde, wurde sie es auch im heilpädagogischen Bereich (exemplarisch: KEMLER 1988). Zur zentralen Fragestellung wurde: Welche Wege interkultureller Verständigung und Kooperation sind praktisch zu entwickeln und theoretisch zu begründen, die es in den Ländern der Dritten Welt ermöglichen, dass sich eine eigenständige, den sozioökonomischen und -kulturellen Bedingungen angepasste heilpädagogische Theorie und Praxis entfalten kann? 2 2 Status Quo Meine Ist-Zustands-Beschreibung beginnt mit der Charakterisierung der aktuellen Phase, die ich als Phase der Konsolidierung kennzeichnen möchte, denn es lässt sich eine kontinuierliche Weiterentwicklung in der Bearbeitung und dem Umgang mit dieser Thematik feststellen. Erläutert sei dies an einigen Momenten: • Die Akteure im Feld Behinderung und Dritte Welt sind keine ‚In-Group’ einiger HochschulvertreterInnen mehr. Die Vernetzung ist erheblich vorangeschritten, international, interdisziplinär und zu nichtwissenschaftlichen Bereichen. Viele Nichtregierungsorganisationen, die im Behindertensektor Entwicklungszusammenarbeit betreiben, sind selbst mittlerweile Teil des Netzwerks ‚Menschen mit Behinderung in der Einen Welt’ oder über MitarbeiterInnen vertreten, der internationale Austausch hat sich erheblich intensiviert, auch zu nichtheilpädagogischen Bereichen wie Ethnologie oder medizinische Rehabilitation. Nicht zuletzt sei darauf hingewiesen, das auch zu ForscherInnen, PraktikerInnen und Selbsthilfegruppen des Südens vernetzte Bezüge bestehen. • Das alles trägt dazu bei, dass es auch im Hinblick auf die Akkumulation von Wissen ständig voran geht. Einzelne Beiträge hier gesondert zu würdigen, würde den gegebenen Rahmen sprengen, ich möchte aber einmal die Gelegenheit nutzen, diesbezüglich die Rolle der Zeitschrift Behinderung und Dritte Welt hervorzuheben. Sie hat sich zu einem sehr bedeutenden Forum der Diskussion im Arbeitsgebiet entwickelt. Ihre Reichweite geht weit über den deutschsprachigen Raum hinaus, bedingt dadurch, dass auch in Englisch publiziert ist. Sie hat seit Jahren ein bewährtes inhaltliches Format, das sich über jeweils ein Schwerpunktthema pro Ausgabe – in dem aktuelle und grundlegende Fragestellungen thematisiert werden – eine über mehrere Hefte hinweglaufende Schwerpunktserie – ggw. Behinderung in anderen Kulturen, sie wird bald abgelöst durch Biografien – sowie einen Info-Teil auszeichnet. Es ist immer besser gelungen, die empirische Fundierung der Diskussion und auch die Einbindung deutscher Beiträge in internationale Diskurse zu befördern, sowie viceversa, Positionen und Problemstellungen von ForscherInnen und PraktikerInnen aus den Ländern des Südens hier bei uns einem breiteren Fachpublikum zugänglich zumachen. • In der dritten Phase haben sich m.E. drei zentrale Gegenstandskomplexe im Arbeitsgebiet herauskristallisiert. Es geht … erstens um Fragestellungen, die die Entwicklungszusammenarbeit im heilpädagogischen Arbeitsfeld betreffen, also um Fragen einer besseren Nord- 3 Süd-Kooperation in unserem Arbeitsgebiet: Als global „gesetzt“ kann man die Strategien der ‚Community-Based-Rehabilitation’ und der ‚Inclusive Education’ ansehen. In diesem Kontext sind u.a. Fragen der Projektetablierung und Evaluation, Fragen des Verhältnisses wie auch der Kommunikation und Kooperation von Partnern im Entwicklungsprozess, die Weiterentwicklung angepasster Technologien und Unterstützung von Empowermentprozessen berührt. Als neuer Gesichtspunkt sei hier die notwendige Einbindung von Menschen mit Behinderung in allgemeinere Programme, z.B. der Einkommenssicherung oder der Armutsbekämpfung genannt – Stichwort: Inclusive Development. Zweitens geht es um interkulturell vergleichende Fragestellungen, z.B. wie das Phänomen Schädigung in kulturelle Muster eingebunden ist, welche kollektiven Bedeutungszusammenhänge in welchen Variationen hier reproduziert werden und wie diese individuell in Sinn umgemünzt werden. In diesem Kontext geht es einerseits um die Rekonstruktion von Kultur als Ressource, andererseits um die einmal von ANTOR (1989, 529) aufgeworfene Grundlagenfrage, „was im Zusammenhang mit Behinderung als kulturspezifisch, als relativ und was als universell gültig anzusehen ist“. Drittens geht es um selbstreflexive Fragestellungen, die von dem Motiv getragen werden, mit dem „Blick über den eigenen Tellerrand“ und der damit verbundenen Auseinandersetzung mit dem ‚Fremden’ zu einem besseren Verständnis des eigenen kulturellen Systems und seines Umgehens mit Behinderung zu gelangen. Jede Kultur – also auch die westlich-rationale – hat die Eigenart, die eigenen Wertmaßstäbe und Weltsichten zunächst einmal als universal gültig zu betrachten. Dieser implizite Universalismus ist ein ständiger Begleiter in all unserem Tun, in unseren Interaktionen und den von uns geschaffenen Institutionen – und die Konfrontation mit anderen kulturellen Sichtweisen kann dazu beitragen, Tatsachen und Denkgewohnheiten zu hinterfragen und deren vermeintliche Unabänderlichkeit zu relativieren. 3 Ausblick Abschließend ein kurzer Ausblick, in dem ich einige offenen Fragen benennen will: Ich selbst bin ziemlich gefestigt in meiner Auffassung, dass die hier herausgearbeiteten Gegenstandskomplexe als aktuelles Abbild mit Zukunftsperspektive haltbar sind. Es ist keine additive Sammlung, sondern es sind komplementäre Gegenstandsbereiche und es lassen sich hiermit unterschiedliche Gewichtungen, die aus dem Wissenschaft-Praxis-Dualismus erwachsen 4 als auch unterschiedliche Erkenntnisinteressen logisch unter einem Dach zusammen bringen. Offen sind für mich aber noch andere Fragen, die im Rahmen eines disziplinären Diskurses zu führen wären. Die wichtigste aus meiner Sicht ist die nach der Einbeziehung in ein größeres Ganzes. Idealer Weise stelle ich mir ‚Behinderung und Dritte Welt’ als Teilgebiet einer Vergleichenden Heilpädagogik mit intensiven Bezügen zur Ethnologie, Gesundheitswissenschaften, Interkulturellen Pädagogik und dem Arbeitsgebiet Bildungsforschung mit der Dritten Welt vor. Doch während von letzteren relativ klare Konturen gezeichnet werden können – also auch: wie diese als theoretische und methodologische Ressourcen nutzbar gemacht werden können – ist die Vergleichende Heilpädagogik ein Markt der eingeschränkten Möglichkeiten geblieben. ‚Möglichkeiten’ deshalb, weil sich selbstverständlich viele in unserem Fachgebiet forschend mit anderen nationalen und kulturellen Räumen befassen, aber jeder dies auf dem ganz partikularen Hintergrund seines Arbeitsgebietes tut – und ‚eingeschränkt’ deshalb, weil ein Diskurs über eine Forschungsprogrammatik meiner Beobachtung nach so gut wie nicht stattfindet. Es gab zumindest zwei wichtige Impulse hierzu, einerseits den Band „Vergleichende Sonderpädagogik“ von KLAUER und MITTER (1987) und vorher, im Jahr 1976, die 13. Dozententagung in Zürich, wo die Vergleichende Sonderpädagogik ein Schwerpunktthema war (vgl. BÜRLI 1977). Diese Impulse wurden aber von der Disziplin Heilpädagogik nicht weiter aufgegriffen, besonders herauszustellen sind lediglich Systematisierungsversuche einzelner VertreterInnen wie der jüngste von Alois BÜRLI mit seinem Band „Sonderpädagogik international“ aus dem Jahr 1997. Es gibt sicherlich noch die eine oder andere Publikation, die hier ebenso zu nennen wäre, aber insgesamt ist das nicht sehr viel auf die gesamte Zeitspanne hin gesehen. Als Quintessenz möchte ich also vorläufig festhalten, dass dem Arbeitsgebiet „Behinderung und Dritte Welt“ eine wichtige Verbündete, Kritikerin und Anstoßgeberin noch nicht in dem Maße zur Verfügung steht, wie es wünschenswert wäre. Insofern sei darauf hingewiesen, dass hier wie dort noch Entwicklungspotenziale schlummern. 5 Literatur ANTOR, Georg: Behinderte in aller Welt - zu grundlegenden Fragen einer Vergleichenden Sonderpädagogik, in: Zeitschrift für Heilpädagogik 8/1989, 39. Jg., 528-534 BÜRLI, Alois (Hrsg.): Sonderpädagogische Theoriebildung – Vergleichende Sonderpädagogik, Luzern 1977, Edition SZH BÜRLI, Alois: Sonderpädagogik international. Vergleiche, Tendenzen, Perspektiven, Luzern 1997, Edition SZH KEMLER, Herbert (Hrsg.): Behinderung und Dritte Welt. Annäherung an das zweifach Fremde, Frankfurt am Main 1988, Verlag für Interkulturelle Kommunikation KLAUER, Karl Josef/ MITTER, Wolfgang (Hrsg.): Vergleichende Sonderpädagogik. Handbuch der Sonderpädagogik Band 11, Berlin 1987, Marhold WEINSCHENK, Klaus: Rehabilitation in Ländern der "Dritten Welt", in: Bürli, Alois (Hrsg.): Sonderpädagogische Theoriebildung – Vergleichende Sonderpädagogik, Luzern 1977, Edition SZH, 219-225 6