Bundesarbeitsgricht erschwert die Tarifflucht

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Bundesarbeitsgricht erschwert die Tarifflucht
Bundesarbeitsgricht
erschwert die
Tarifflucht
Änderung der Rechtsprechung führt zu einer "unendlichen Bindung
von Michael Tepass und Dorit Beeken
FRANKFURT, 29. Mai. Die Frage, welcher Tarifvertrag auf ein bestimmtes Arbeitsverhältnis
anzuwenden ist, wird seit etlichen Jahren intensiv und kontrovers diskutiert. Die Gerichte haben
hierzu eine Fülle von Urteilen gesprochen, die insbesondere die arbeitsvertragliche Verweisung
auf einen Tarifvertrag betreffen. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat in einer jüngst ergangenen Entscheidung seine bisherige Rechtsprechung zu den Auswirkungen einer solchen Verweisung geändert (Az.: 4 AZR 652/05; F.A.Z. vom 25. April). Der Richtungswechsel hat weitreichende Folgen für die bisher mögliche "Tarifflucht" von Arbeitgebern.
Ein Tarifvertrag findet grundsätzlich nur dann auf ein Arbeitsverhältnis Anwendung, wenn er
entweder allgemeinverbindlich und sachlich anwendbar ist oder wenn beide Parteien tarifgebunden sind. Dies ist dann der Fall, wenn der Arbeitgeber Mitglied des Arbeitgeberverbandes
und der Arbeitnehmer Mitglied der Gewerkschaft ist, die jeweils den Tarifvertrag geschlossen
haben. Allerdings finden sich in vielen Arbeitsverträgen individuelle Bezugnahmeklauseln; darin
wird auf einen für den jeweiligen Arbeitgeber einschlägigen Tarifvertrag verwiesen, um dessen
Inhalte auch in diesem Beschäftigungsverhältnis anzuwenden. Besonders verbreitet sind dynamische Verweisungen, die zum Beispiel für ein Hotelunternehmen den "Tarifvertrag für das
Hotel- und Gaststättengewerbe in seiner jeweils geltenden Fassung" anführen. Soweit der Arbeitgeber bereits tarifgebunden ist, hat das Bundesarbeitsgericht die Bezugnahmeklausel regelmäßig so verstanden, dass die Vertragsparteien die Gleichbehandlung der nichtorganisierten
Arbeitnehmer mit den gewerkschaftsangehörigen Arbeitnehmern beabsichtigten.
Viele Arbeitgeber, die in den vergangenen Jahren ihr Unternehmen oder Teileinheiten restrukturieren wollten, empfanden den durch Tarifverträge gesetzten Rahmen als nicht mehr zeitgerecht. Austritte aus Arbeitgeberverbänden oder Betriebsübergänge an nichttarifgebundene
Rechtsträger waren eine Folge. Somit hatte das BAG in einer Reihe von Urteilen zu klären, ob
das Unternehmen nach Ende der Tarifbindung auch künftige Änderungstarifverträge anwenden
musste. Bis zu seiner Entscheidung vom 14. Dezember 2005 (Az.: 4 AZR 536/04; F.A.Z. vom
19. Dezember) hat das BAG diese Frage regelmäßig verneint. So wies es die Klage eines Arbeitnehmers auf Zahlung der tariflichen Vergütungserhöhung ab. In dem Arbeitsvertrag hatten
die Parteien auf ein bestimmtes monatliches Bruttogehalt sowie auf den einschlägigen Vergütungs- und den Manteltarifvertrag der Wohnungswirtschaft in der jeweils geltenden Fassung
verwiesen. Der Arbeitgeber trat aus dem Arbeitgeberverband aus, die Erhöhung der tariflichen
Vergütung gab er nicht an den Arbeitnehmer weiter - nach Ansicht der Bundesrichter zu Recht.
Sie gingen davon aus, dass durch eine Verweisung im Arbeitsvertrag auf die jeweils geltende
Fassung eines Tarifvertrags ein tarifgebundener Arbeitgeber seine Arbeitnehmer, die nicht Mitglied in der Gewerkschaft waren, mit den gewerkschaftsangehörigen Arbeitnehmern gleichbehandeln wolle.
Durch diese Gleichstellungsabrede solle nur die fehlende Verbandsmitgliedschaft der Arbeitnehmer ersetzt werden, so dass alle Mitarbeiter dieselben tarifvertraglichen Rechte geltend machen konnten. Diese vertragliche Anbindung an die Tarifentwicklung endete nach BAG aber,
wenn sie tarifrechtlich auch für die organisierten Arbeitnehmer endete - zum Beispiel, wenn der
Arbeitgeber aus dem zuständigen Verband austritt, der Betrieb aus dem sachlichen Geltungsbereich des Tarifvertrags herausfällt oder ein (Teil-)Betrieb auf einen nicht tarifgebundenen
neuen Arbeitgeber übergeht. In diesen Fällen mussten Änderungstarifverträge nicht angewendet werden.
Ob mit der Verweisung auf einen Tarifvertrag in der jeweils geltenden Fassung tatsächlich eine
solche Gleichstellung gemeint war, sollte nach BAG durch Auslegung ermittelt werden. Dabei
ließen es die Richter regelmäßig ausreichen, wenn der von einem tarifgebundenen Arbeitgeber
gestellte Arbeitsvertrag auf ein für ihn einschlägiges Tarifabkommen verwies. Unbeachtlich war
dagegen bislang, ob der Arbeitsvertrag Rückschlüsse auf einen Willen der Parteien zuließ, dass
die Abrede der Gleichstellung mit organisierten Arbeitnehmern desselben Arbeitgebers dienen
soll. Die tarifgebundenen Unternehmen nahmen darum bislang relativ großzügig Verweisungen
auf. In seiner jüngsten Entscheidung hat das BAG diese Rechtsprechung - wie bereits im Urteil
vom 14. Dezember 2005 angekündigt - ausdrücklich aufgegeben: Die Klausel, die regelmäßig
zwischen den Parteien nicht frei ausgehandelt werde, sondern vom (tarifgebundenen) Arbeitgeber vorgegeben werde, könne nicht mehr in der Regel als Gleichstellungsabrede ausgelegt
werden. Es komme vielmehr auf den Wortlaut und die Umstände bei Vertragsschluss an. Wenn
beides keine Anhaltspunkte dafür biete, dass es den Parteien um die Gleichstellung der nichtorganisierten Arbeitnehmerseite mit den organisierten Teilen der Belegschaft ging, könne die
Klausel nur als Verweisung auf "die jeweilige Fassung eines Tarifvertrags" verstanden werden.
Folge ist eine "unendliche" Bindung an die in Bezug genommene Tarifordnung. Eine "Tarifflucht" durch Austritt aus dem Arbeitgeberverband oder durch Betriebsübertragungen auf nicht
tarifgebundene Einheiten ist in diesen Fällen kaum noch möglich.
Der Richtungswechsel des BAG ist begründet durch die Ausdehnung der Inhaltskontrolle von
Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) auf das Arbeitsrecht, die durch das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz eingeführt worden ist. Seit Anfang 2002 findet eine Inhaltskontrolle von
Formulararbeitsverträgen anhand der AGB-Regeln statt. Danach müssen arbeitsvertragliche
Regelungen klar und verständlich sein (Transparenzgebot). Unklarheiten gehen zu Lasten des
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Verwenders - also des Arbeitgebers. Das BAG sieht einen Verstoß gegen das Transparenzgebot, wenn eine Vertragsregelung, die ihrem Wort- 1 laut nach eine dynamische Weitergeltung
beinhaltet, eine ganz andere - statische - Wirkung entfaltet.
Die neue Rechtsprechung gilt für alle Verträge, die nach dem 31. Dezember 2001 geschlossen
wurden. Für "Altverträge" vor diesem Datum wird es unter Gesichtspunkten des Vertrauensschutzes bei der Auslegung der Bezugnahmeklausel bleiben. Arbeitgeber sollten neue Arbeitsverträge den Anforderungen anpassen. Bei einer vertraglichen Inbezugnahme von Tarifverträgen sollte eine beabsichtigte Gleichstellung von organisierten und nichtorganisierten Arbeitnehmern klar zum Ausdruck kommen.
Die Autoren sind Anwälte im Frankfurter Büro von Linklaters LLP
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