infobrief - Arbeiterkammer
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Ausgabe 4 | Oktober 2014 ISSN 2409-028X Aus dem Inhalt infobrief Editorial Liebe Leserin! Lieber Leser! Sechs Jahre Krise. Drei Rezessionen. Und jetzt Deflation! Die neo liberale Integrationsweise der EU ist gescheitert, nur ein verschwindender Anteil der Bevölkerung profitiert von ihrer Vertiefung. Dass die tiefe Entdemokratisierung der Grund dafür ist, dass dennoch kein sozialökologischer Umbruch stattfindet, thematisieren Markus Marterbauer und Lukas Oberndorfer. Welchen Anteil daran der Lobbyismus auf EU-Ebene hat, beleuchtet Neva Löw. Elisabeth Beer zeigt, dass die Eliten dies und jenseits des Atlantiks längst daran arbeiten, ihre Erfolge durch Freihandelsabkommen abzusichern und auszubauen. Wettbewerbsfähigkeit nach außen richtet sich immer auch nach innen: In Spanien werden auf ihrem Altar Arbeitsrecht und soziale Infrastruktur geopfert, so Nikolai Huke und Tobias Haas. Neoliberale Strukturreformen, die jetzt – geht es nach der neuen Kommission – auf alle Euro-Staaten ausgedehnt werden sollen, wie Lukas Oberndorfer zeigt. Was geschehen muss, damit die Europa-2020-Strategie Teil des anstehenden Umbruchs und nicht des „Weiter wie bisher“ wird, erfahren wir von Michael Heiling. Ihr Redaktionsteam Impressum: eu& international Vom sozial-ökologischen Umbruch …1 Kommission beharrt auf Investitionsschutzbestimmungen7 Europäische Kommission als Hotspot des Lobbyismus 9 Europa 2020: Mid-Term-Crisis 12 Krise in Spanien 16 Wettbewerbspakt 2.0 – Pensionen, Mieten, Arbeitsrecht 20 Die Verselbständigung neoliberaler Wirtschaftspolitik in der EU Vom sozial-ökologischen Umbruch, der ansteht, aber nicht eintritt 1 Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten haben sich wirtschaftspolitisch seit mehreren Jahrzehnten dem neoli beralen Modell verschrieben. Im Mittelpunkt steht die Schaffung freier Märkte, auch und besonders auf den Finanzmärkten, die Wirtschaftspolitik konzentriert sich auf Preisstabilität und ausgeglichene öffentliche Haushalte. Doch die Bedingungen für die Fortsetzung und Vertiefung dieses Modells haben sich im Zuge der Finanzkrise wesentlich verschlechtert – ökonomisch, ideologisch und auch politisch. Dennoch erscheint eine sozial-ökologische Wende in den kommenden Jahren aufgrund der tiefgreifenden Entdemokratisierung vorerst blockiert. Markus Marterbauer und Lukas Oberndorfer Ökonomisch wird das Scheitern der neoliberalen Krisenpolitik immer deutlicher. Im siebten Jahr der Krise ist kein Ende absehbar. Im Gegenteil, die Eurozone taumelt bereits zum dritten Mal in diesem kurzen Zeitraum in eine Rezession. Am Beginn der Krise stand der von den Vermögenden und zentralen AkteurInnen der finanzmarktgetriebenen Akkumulation2 durchgesetzte Glaube an das theoretische Konstrukt freier, effizienter und wohlstandsschaffender (Finanz-)Märkte. Die Folge war eine tiefe systemische Finanz- und Wirt- schaftskrise in den Jahren 2007/08. Seither kommt die Regulierung und Schrumpfung des Finanzsektors kaum voran und die von ihm produzierten Kosten werden in großem Stil auf die Bevölkerung abgewälzt. Mit dem raschen Umschwenken auf einen harten Austeritätskurs wurde die zweite Rezession der Jahre 2012/2013 von der Wirtschaftspolitik selbst verursacht. Sie beruhte neuerlich auf der neoliberalen Annahme, dass restriktive Budgetpolitik expansive Effekte in Bezug » Herausgeber und Medieninhaber: Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien, 1040 Wien, Prinz Eugen Strasse 20-22 • Redaktion: Elisabeth Beer, Éva Dessewffy, Lukas Oberndorfer, Oliver Prausmüller, Miriam Rehm, Norbert Templ, Alice Wagner, Valentin Wedl • Kontakt: Lukas Oberndorfer, Norbert Templ, Alice Wagner • Layout und Satz: Julia Stern • Verlags- und Herstellungsort: Wien • Erscheinungsweise: 5 mal jährlich • Kostenlose Bestellung unter: http://wien.arbeiterkammer.at/euinfobrief Die Verselbständigung neoliberaler Wirtschaftspolitik in der EU » auf Wachstum und Beschäftigung entfalten kann („non-keynesian effects“). Zusammen mit der aktiven Lohnsenkungspolitik in den Krisenländern3 entstanden so jene Kräfte, die die Eurozone nun in eine Deflation getrieben haben. Dieser Prozess Austerität und aktive Lohnsenkung haben in die Deflation geführt. Ein Prozess der viel weiter vorange schritten ist, als allgemein vermutet. ist bereits viel weiter vorangeschritten als allgemein vermutet und er ist äußerst gefährlich. Deflation erhöht den realen Wert der Schulden von Haushalten, Unternehmen und Staaten, verhindert so die notwendigen Bilanzrestrukturierungen und führt direkt in eine massive Verschärfung der Problematik fehlender effektiver Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen. Der Wirtschaftspolitik drohen dabei sehr schnell alle Instrumente zum Gegensteuern auszugehen, wie etwa die Geldpolitik derzeit erfährt. Ausgangsbedingungen für eine fortschrittliche Wirtschafts- und Sozialpolitik objektiv günstig n Neben die stagnierende wirtschaftliche Entwicklung, die dadurch massiv steigenden Schuldenstände und die stark gewachsene Armut und Arbeitslosigkeit tritt nun also die Gefahr der Deflation. Fast scheint es so als wären die Kernforderungen fortschrittlicher Wirtschaftspolitik für diese Situation entwickelt worden: n I nvestitionen in soziale, ökologische und öffentliche Infrastruktur, um den dringend notwendigen Nachfrageimpuls auszulösen, den gesellschaftlichen Reichtum breiter zu verteilen und die Weichen für eine nachhaltige Wirtschaftsentwicklung zu stellen. 2 ie Transparenz über die VerteiD lung von Vermögen und Einkommen zu erhöhen, Steueroasen zu schließen sowie Vermögensbestände und Erbschaften zu besteuern, um den finanziellen Spielraum für sozial- und beschäftigungspolitische Aufgaben wiederzugewinnen, Demokratie und Freiheit in allen Lebensbereichen zu ermöglichen und eine gerechte Gesellschaft zu schaffen. n Regulierung und Schrumpfung des Finanzsektors, um überhaupt erst die Bedingungen für eine Steuerung und Transformation und Demokratisierung der Wirtschaft zu schaffen. n Neuregulierung der Arbeitsmärkte, die Prekarität zurückdrängt und zumindest eine verteilungsneutrale Lohnentwicklung ermöglicht. n Weiterentwicklung und Ausbau des „europäischen“ Sozialmodells, mit dem Ziel allen sozialen Schichten unabhängig von ihrer Herkunft gleichen Zugang zu essentiellen Leistungen zu ermöglichen. n Eine Verkürzung der Lohnarbeitszeit, um Räume zu öffnen für die Beteiligung aller nicht nur an den Erfordernissen der menschlichen Reproduktion (Familien-, und Hausarbeit), sondern auch am Bereich politisch-gesellschaftlicher Teilhabe und der Weiterbildung bzw. der „Arbeit an sich selbst“.4 n Denn neben der damit verbunden Verbesserung der Lebensverhältnisse der breiten Masse, dem Einstieg in eine ökologische Lebensweise und der Verschiebung der Kräfteverhältnisse wäre eine Umsetzung dieser Kernforderungen in der Lage, jene expansiven Effekte auf die effektive Nachfrage zu generieren, welche Arbeitslosigkeit, Verschuldung und Deflation wirksam bekämpfen könnten. Die Ausgangsbedingungen für die angesprochene fortschrittliche Wirtschaftspolitik sind mittlerweile objektiv günstig. Das wird spätestens infobrief eu & international dann deutlich, wenn sich neoliberale Akteure zu partiellen Zugeständnissen veranlasst sehen: Im Juli 2014 überraschten der Chefökonom der EZB Peter Praet und der Präsident der Deutschen Bundesbank Jens Weidmann mit der Forderung nach einer dreiprozentigen Lohnerhöhung in Deutschland.5 Mittelbar wird damit nichts weniger als die – durch das Schröder-Blair-Papier (1999) angestoßene – Agenda 2010 kritisiert, welche durch die Ausweitung des deutschen Niedriglohnsektors wesentlich für das Zurückbleiben deutscher Löhne verantwortlich ist und damit für eine der Ursachen der Krise in der Europäischen Union.6 Hegemoniekrise des Neoliberalismus – Eine neue Konjunktur für kritisches Denken n Auch die Fähigkeit des neoliberalen Entwicklungsmodells weite Teile der Bevölkerung zu erreichen und zu überzeugen, verblasst zunehmend. Die zentralen im Rahmen der Europäischen Union durchgesetzten neoliberalen Projekte, eine monetaristisch ausgestaltete Wirtschafts- und Währungsunion7, die Liberalisierung der Märkte einschließlich jener für Finanzprodukte Die Ausgangs bedingungen für eine fortschrittliche Wirtschaftspolitik sind mittlerweile objektiv günstig. und die periphere Integration von Süd- und Ostereuropa, haben massiv an Ausstrahlungskraft verloren. Nach sechs Jahren Krise stellt sich die Frage, wer noch Vertrauen in die Problemlösungskompetenz von Europäischer Kommission und Europäischem Rat hat? Wer kann nach den Erfahrungen der letzten Jahre noch davon ausgehen, dass die Kosten der von Banken und Finanzmärkten ausgelösten Krise verursachergerecht getragen werden? Welche Arbeitenden » Ausgabe 4 | Oktober 2014 wien.arbeiterkammer.at Die Verselbständigung neoliberaler Wirtschaftspolitik in der EU » glauben etwa noch daran, dass die Finanzmärkte in der Lage sind eine angemessene Pensionsversorge zu sichern? Und wer im „Süden“ oder „Osten“, der nicht zur äußert kleinen Zahl der GewinnerInnen zählt, ist noch der Überzeugung, dass sich die eigenen Lebensbedingungen durch die gegenwärtige Form der Integration in die Europäische Union verbessern werden? Die neoliberale Integrationsweise steckt in einer tiefen Hegemoniekrise – die Zustimmung zu ihr erodiert zunehmend.8 Der Erfolg von Thomas Pikettys Werk Capital in the 21st Century (2014) belegt dies eindrucksvoll. Er hat verschiedene Gründe. Zum ersten kommt Piketty eigentlich aus dem akademischen Zentrum der Wirtschaftswissenschaften. Sein Buch symbolisiert damit auch die Abkehr der Wirtschaftswissenschaften vom neoklassischen Fundamentalismus und die Hinwendung zu einer auf umfangreichem Datenmaterial basierenden empirischen Ökonomie, die sich mit gesellschaftlichen Problemen beschäftigt. Zum zweiten trifft das Werk Pikettys auf ein verbreitetes Unbehagen über die Verteilung von Einkommen, Vermögen und Lebenschancen in den reichen Gesellschaften Europas. Piketty belegt wie die Vermögenskonzentration uns wieder in eine Gesellschaft Die neoliberale Integrationsweise steckt in einer tiefen Hegemoniekrise – die Zustimmung zu ihr erodiert zunehmend. einzementierter und äußert hierarchischer sozialer Strukturen des 19. Jahrhunderts zurückzuwerfen droht. Er sieht dadurch selbst die bürgerliche Demokratie gefährdet. Gleichzeitig positionieren sich etablierte Intellektuelle immer eindeu- 3 tiger gegen den Neoliberalismus in all seinen Spielarten – vom Neokonservatismus bis hin zum dritten Weg. Jürgen Habermas etwa spricht angesichts des Beschlusses des Fiskalpaktes und mit Bezug auf die geplanten Verträge für Wettbewerbsfähigkeit davon, dass diese Politik eine Aushöhlung der Demokratie in Europa zur Folge habe und sich zunehmend eine freischwebende, parlamentarisch ungebundene Exekutive herausbilde.9 Eine Rückkehr zu Marx, ohne den sich die „aktuelle Entwicklung der modernen Gegenwartsgesellschaften […] nicht auch nur annähernd verstehen“ lasse, fordert gar der ehemalige Berater von Gerhard Schröder Wolfgang Streek.10 Es scheint fast so, als wolle er damit Anschluss an eine Dynamik finden, die in den letzten Jahren entstanden ist: In den USA und auch in Europa lässt sich ein Comeback kritischer Gesellschaftstheorie konstatieren.11 Die grundsätzlichen Widersprüche des Kapitalismus – die Ausbeutung und Verwüstung von Mensch und Umwelt durch den Zwang zur Akkumulation – und seine Transformation und Überwindung werden seit Ausbruch der Krise wieder verstärkt thematisiert.12 Krise der Politik n Und auch im Feld institutioneller Politik entfaltet sich die Hegemoniekrise des Neoliberalismus. Auch wenn es auf den ersten Blick nicht so scheinen mag, belegen dies auch die Wahlen zum Europäischen Parlament 2014. In „Westeuropa“ strafte die Bevölkerung weitgehend jene Regierungsparteien ab, die sie für die Umsetzung der beiden Säulen der neoliberalen Krisenpolitik (Sparen bei öffentlicher Infrastruktur und Lohn- & Sozialdumping für mehr Wettbewerbsfähigkeit) verantwortlich macht. Im konservativen Lager bedeute dies etwa in Spanien, Italien und Griechenland Verluste zwischen 10 und 20 %. Die an der Umsetzung der neoliberalen Krisenpolitik beteiligten Sozialdemokratien fanden sich infobrief eu & international Ohne Marx lässt sich die „aktuelle Entwick lung der modernen Gegenwartsgesellschaf ten nicht auch nur annähernd verstehen.“ gar teilweise als Kleinparteien wieder, die zwischen 6 und 14 % zum Liegen kamen – etwa in Finnland, Frankreich, Irland und den Niederlanden. In „Osteuropa“ schlug sich die Kritik an der europäischen (Krisen-)Politik vor allem in der äußert geringen Wahlbeteiligung nieder. Am augenfälligsten ist dieser Trend in Lettland, eines jener Länder, das als erstes zu drastischen Sparmaßnahmen gezwungen wurde: Die Wahlbeteiligung brach um rund 24 % ein. Abseits von drei Ausnahmen ging die Wahlbeteiligung in allen „osteuropäischen“ Ländern stark zurück. In Slowenien und der Tschechischen Republik betrug die Wahlbeteiligung nur noch rund 20, in der Slowakei gar nur noch 13 %. Auch der Aufstieg rechtsextremer Parteien lässt sich als Antwort auf die gegenwärtige Krise des Neoliberalismus lesen. So vertritt etwa der Front National in Frankreich nicht nur eine Politik, die MigrantInnen zu den Sündenböcken gesellschaftlicher Fehlentwicklung macht, sondern konnte auch durch die partielle Übernahme von Forderungen fortschrittlicher Wirtschaftspolitik reüssieren. Ganz in jenem Tonfall, den François Hollande bis zu seiner Wahl zum französischen Präsidenten pflegte, warnt Marine Le Pen die deutsche Bundeskanzlerin vor einer Fortsetzung der Sparpolitik: „[Merkel] glaubt, man könne Politik machen gegen die Bevölkerungen.“ Das werde „zur Explosion der EU führen.“13 Da die Unterstützung für den Front National aber stark auf Kapitalfraktionen zurück geht, die auf den nationalen Binnenmarkt orientiert sind, erfolgt die Übernahme von nicht-neoliberalen Positionen äußert selektiv: Während z. B. auch sozial-ökologische Schutzzölle eingefordert werden, erhebt der Front National keinerlei Forderungen » Ausgabe 4 | Oktober 2014 wien.arbeiterkammer.at Die Verselbständigung neoliberaler Wirtschaftspolitik in der EU » im Bereich von Vermögens- und Unternehmensbesteuerung, Mindestlöhnen und Arbeitsrecht.14 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass in jenen Ländern, in denen Parteien sich glaubhaft bemühen, an einer kohärenten fortschrittlicher Wirtschaftspolitik zu arbeiten und für diese einzutreten, der Zuwachs der extremen Rechten schwach blieb. Während in Spanien und Griechenland die Linke 14 bzw. 22 % dazu gewinnen konnte, war der Zuwachs der Rechten gering. Das Lager der extremen Rechten in Griechenland15 wuchs gerade mal um 3 % an. In Spanien konnte sich abseits der Partido Popular, welche mehr als 15 % verlor, keine extrem-rechte Partei neu etablieren. Die Blockierung des anstehenden Umbruchs n Dass sich die beschriebenen Umbrüche der letzten Jahre noch kaum auf die europäische Politik übertragen und bisher nicht dazu führen, dass das „Weiter wie bisher“ brüchig wird, lässt sich mit den tiefen Spuren erklären, welche die neoliberale Integrationsweise in den euro- Auch der Aufstieg rechtsextremer Parteien lässt sich als Antwort auf die gegen wärtige Krise des Neoliberalismus lesen. päischen Strukturen hinterlassen hat – Pfadabhängigkeiten, von denen nur unter erheblichen Anstrengungen abgewichen werden kann. Einen zentralen Teil der damit angesprochenen Strukturen bildet der neue Konstitutionalismus16: Seit spätestens Mitte der 1980er Jahre gelang es einem neoliberalen Reformbündnis aus Unternehmerverbänden, Finanzindustrie, EU-Kommission, den nationalen Wirtschafts- und Finanzministerien, neoliberalen Staatschefs und der Europäischer Zentralbank monetaristische und angebotsorientierte Wirtschaftspolitik in der Europäischen „Verfassung“ zu verankern und dadurch vor ihrer Infragestellung durch Kritik und Protest zu bewahren: Die Refinanzierung von Staaten darf nur über die Finanzmärkte erfolgen, die gemeinsame Besteuerung von Unternehmen-, Kapital- und Finanztransaktion kann EU-Infobrief: Europa und Internationales in kritischer und sozialer Perspektive – kostenlos beziehen Aus Ausg abe Jun 3| 2010 3 | Juni Ausgabe 10 i 20 dem Inha lt 1 6 chaft 9 en Wirts cht hm as e Ma terne 10 Europ tisch Inhalt r Un se fak ale 15 dem nis Aus Die 1 hts ation hemm -Beric ltin 17 ms mu nti chstu des Mo mmen en Land 18 Wirtschaft Wa 6 t en Europas se Abko eig 20 che Mach rnehmen Analy nada im 9 Die faktis Unte gale 21 naler EU-Ka – Ille se 10 multinatio us shemmnis Aus dem Inhalt ChinaAusg alism ce ids abe pit 15 Wachstum Monti-Berichts 3 des Chan HIV/A des Ka |eJuni 2010 17 Analyse ch mmen a Abko Kritik ropäis en LandEuropas Wirtschaft eigen 18 EU-Kanad eu im le Die – Illega Die 20 faktische Macht ChinaAu sg multinationaler Unternehmen 21 HIV/Aids abe 3 alismus des Kapit | Jun ce Wachstumshemmnisse Kritik Chan i 20 11 päische Analyse des Monti-Berichts Die euro nal eu& rnatio inte ial sc Wirt pas Euro eu& ational intern Editor ial eu& international haft es s da t en ldaft e is kris aßnahm schu s Wir tsch Europa nden hafts llm aats eu& internati onal Unterneh Wachstum men shemmnis Analyse se des Mont EU-Kanad i-Berichts a Abko mmen China – Illega 1 6 9 10 eu inte& rna tio nal An eine Wegga r entschei denden belung Fein dlic he Üb ern ahm e ren rde her sin orWeltbild, Armu begeelsab d, ist EUmit von & re das tssch denIhulde Märkten Effizienz das weltweite Finanzsystem n n rung Fra , da jahr es t for die ganis Susan un unse k (E ClaWachstumshindernissen, d die ite – Kana fürch ilisie est e ma rn -V ihrenHandelsserem iterInrz rdt Einbruch use.die 2010 m nkris rt,.arb einedas tzt Inve Schü erg ik (EUrpunk dia Ang Strutz aök Stabten Ste ien BeitrRe Them Fre des rbe politi polit rch nwurd ati sozia stitio Stratnssc Die Juli zuspricht staatliche Eingriffe fürkomm riet an den (EU undmal: HIV/Aids. ab ein tiefe EU-In Clau olo Das iha ://w we era–ruKanada) Dies r undr, mehrmals Iris . 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Der EU-Infobrief erscheint 5x jährlich im digitalen Format und liefert eine kritische Analyse der Entwicklungen auf europäi scher und internationaler Ebene. Die Zeitschrift der Abteilung EU & Internationales der AK-Wien fokussiert dabei Themen an der Schnitt stelle von Politik, Recht und Ökonomie. Anspruch ist nicht nur die Prozesse in den europäischen Institutionen zu beschreiben, sondern auch Ansätze zur Überwindung des Neoliberalismus zu entwickeln. Kurze Artikel informieren in prägnanter Form über aktuelle Themen. Langbeiträge geben den Raum für grundlegende Analysen, Buchbesprechungen bieten eine kritische Übersicht einschlägiger Publikationen. » infobrief eu & international Alle Indikatoren weisen darauf hin, dass wir in den kommenden Jahren mit einer Fortsetzung des autoritären Konstitutionalismus18 rechnen » 1 6 9 10 EU-Kanada Abkommen Aus15dem Inhalt China – Illegale im eigenen Land 17 HIV/Aids 18 Europas Kritik des Kapitalismus 20 Wirtschaft Die faktis Die europäische Chance 21 che Mach multinatio t naler Aus le im eigen HIV/Aids 15 de ge sc tfa r St en Land m In Fre Wirt he No rkt fü grundle Kritik 17 iha halt des Kapit ndel und atiscEuropas Eco ser! Editorial Wirtschaft 2009 n Ma d die alismus Die euro mi 18 no nz- agm d de g r Le r! nsin päische gin EU-W mic Go t Indien er Lese un Fina h pr ch Liebe Chance saisoist es 20 kt ve rin! 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Zweiterer ahmen hla t zusä Markt do lic en enen dem Mon konv elsab durch gw Staa Erste wu h miAbsc t ha ren, der ngg s- tikents dass ger für bew e Bin k- n Kons rfe mit dess tand aten en aftrer endi unense ien das hen no für Staa te solidieren i- notw jedo ältigen simu und bis r,Un allem ch de itig Pro es ne sich litik a, ad komm gr ch ickel neue Abschtzt sic 2008 Mai 2010 von 16 Mio auf Budgetkonsolidierung in stärsetzt sich mit dem – ch t. lan ltane N. Die tze -Pder d.en-Monti-Bericht s du soli EUSe St rch rts r en eif po tse einsetzt Them tssc sind entw die ein es s un n eine Binn weit dis Ansä Absc it nahm wi Te EU rin Konvo sin du en e bo huld ei EU ch rales lle he in es mp e en se uch ere ral etione maker hwung Konsenses erein in den kutie da eitig eines eine die grun d gt 2007 nder.dem hafts Konj e, 23sgab s. dr Fr Mio. wirken. 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Dieeine r hs ung durc,hen zuin ge hä iseDisse un n wsen 2008 rd r öfbisallem Bankrales darü in (M ngt Europ nnocder de ulde Büchl-DienBuchbehn beka EU-Wirtschaftspolitik schafft chen Staatsausgaben entwickelte onen eine neue to Kr chaf e re den hm en onen chriftg. anletzt d sp ns bedi ho. Ma s tem imlev igen Rubrik: Die in07 De inform –ium Dahe fent Them lem rung ffe darin bleib en erha er ei e, vor eeine Mai na onen hung . aß un Früh on de deicht: falscdie hat 20 les2010 t. a r seröff Da zess Di t be t un ensprechung. lts s ze t bleib Ve jahrt re zsys ein ante r. zent nan für ad Zeitschun zu lic :23n.Mio. hafte iersie spro unko nv & chnerre Stabilisierung n Diea,wirtschaftliche nen sich ab dem Frühjahr 2010 eine tige chrif Die bekannten Stärken be enrwich dess Ro Deibera llm St ium hen von kte sprec rer spre en . 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Die ihr im Staa lag nd rbanickelte Pia Ebe Wa Mitte gen, icht: U –hstuudia nen.e er Saue lle r Re in da) e für Nor dritt Wac 4 Vor dem Hintergrund des wegbrechenden Konsenses hat sich der neue Konstitutionalismus autoritär transformiert: Während die angeführten neoliberalen Normen vor der Krise noch ordnungsmäßig durch Änderungen der europäischen Verträge verabschiedet wurden, erleben wir seit der Krise die Umgehung durch Völkerrecht (Fiskalpakt) und Verordnungen ohne Kompetenzgrundlage (wie mehrfach im Fall der „New Economic Governance“).17 Ausgabe 3 | Juni 2010 f brifeobriefinscheidenden info in infobrief o inrieeifdenden ent f g b er ein elun tsch An ggab n einer en fob A rief belung We ga eg An einer entscheidenden W Weggabelung or Edit nur einstimmig beschlossen werden, Marktfreiheiten dürfen nicht beschränkt werden und ein rigides Set fiskalischer Regeln (insbesondere der Fiskalpakt und der Stabilitäts- und Wachstumspakt) erschwert expansive Investitionen in öffentliche soziale und ökologische Infrastruktur – und damit sind bei weitem noch nicht alle neoliberalen Arrangements der europäischen Verfassung aufgezählt. Ausgabe 4 | Oktober 2014 wien.arbeiterkammer.at Die Verselbständigung neoliberaler Wirtschaftspolitik in der EU » müssen. Vor dem Hintergrund des Problemdrucks, der vom ökonomischen, ideologischen und politischen Feld ausgeht, lässt sich neoliberale Politik kaum noch demokratisch durchsetzen. Dementsprechend hielt der scheidende Präsident des Europäischen Rates zuletzt fest, dass der weitere Umbau der Wirtschaftsund Währungsunion ohne Änderung der Verträge geschehen müsse, andernfalls könnten Referenden zu unerwünschten Niederlagen und Blockaden führen.19 Und auch der neue Kommissionspräsident JeanClaude Juncker lässt keine Zweifel, dass er die „Wettbewerbsfähigkeit Europas“20, die genaue „Einhaltung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes“21 und „weniger Regulierung und mehr Flexibilität“22 mit allen Mitteln durchsetzen möchte – notfalls auch abseits der europäischen Verfassung. Anders kann seine Forderung nach Verträgen für Wettbewerbsfähigkeit innerhalb des ersten Jahres seine Amtszeit und ohne Änderung der Europäischen Verfassung nicht verstanden werden. Denn die Verfassung sieht eine Kompetenzgrundlage für Verträge über Strukturreformen 1) S tephan Lessenich/Mario Neumann/ Thomas Seibert/Andrea Ypsilanti, Anders regieren? – Von einem Umbruch, der ansteht, aber nicht eintritt (2014). 2) A lex Demirović/Thomas Sablowski, Finanz- (etwa im Bereich des Sozial-, Pensions- und Arbeitsrecht) im Gegenzug zu finanziellen Anreizen schlicht nicht vor.23 Alle Indikatoren weisen darauf hin, dass wir in den kommenden Jahren mit einer Fort setzung des autoritä ren Konstitutionalismus rechnen müssen. Die Prognose einer Fortsetzung des autoritären Konstitutionalismus erstellte auch jüngst Jürgen Habermas: Die Regierenden würden die „Schotten dicht machen“, um eine „übergriffige exekutive Macht, die sie in den Jahren der Krise auf dem Wege undemokratischer Selbstermächtigung ausgebaut haben“ gegen ihre Infragestellung abzusichern.24 Selbst die OECD diagnostiziert strukturelle Gründe für autokratische Tendenzen: „Das dunkle Szenario ist, dass steigende Ungleichheit zu steigender ökonomischer Instabilität und sozialem Stress führt. Das bringt mannigfaltige soziale Bewegungen hervor, [die] eine autoritäre Antwort provozieren [könnten], eine Ausweitung des Überwachungsstaates und die Einschränkung von Grundrechten […].“25 Punktuelle Zugeständnisse, um die neoliberale Integrationsweise zu erhalten n Wie die Forderungen nach einer Steigerung deutscher Löhne zeigen, zeichnen sich gleichzeitig auch punktuelle Zugeständnisse an. Um die neoliberale Integrationsweise als solche zu erhalten, wird notfalls das Ventil geöffnet, ohne dass dadurch die neoliberale Verfasstheit in Frage gestellt wird. Ob diese Zugeständnisse dann aber jene Ausrichtung aufweisen, die von kritischen ÖkonomInnen eingefordert wird26, ist mehr als fraglich. Vielmehr sind Abweichungen von einem rigiden Sparkurs in Bereichen zu erwarten, wo durchsetzungskräftige Akteure und die Interessen zur Schaffung bzw. Sicherung von neuen Märkten zusammentreffen. So debattierten die europäischen FinanzministerInnen im Juni einen Vorschlag, der mit Hinweis auf » Perspektive – Politik von Frau- kratie – Ein Plädoyer für europäische en für eine neue Linke (2008) Solidarität, in Jürgen Habermas (Hg.), 5) Philip Pickert/Dietrich Creutzburg, Bundesbank-Chef für 3 Prozent Lohnanstieg, FAZ v. 30.7.2014. dominierte Akkumulation und die Krise 6) Steffen Lehndorff, Der eingebildete Gesunde in Europa, in Roland Atzmüller/Joachim – Die neue Karriere des "Modells Deutsch- Becker/Ulrich Brand/Lukas Oberndor- land", in Steffen Lehndorff (Hg.), Spaltende fer/Vanessa Redak/ Thomas Sablows- Integration. Der Triumph gescheiterter ki (Hg.), Fit für die Krise? Perspektiven Ideen in Europa – revisted (2014) 131ff. der Regulationstheorie (2013) 187ff. 7) Ingo Stützle, Austerität als politisches 3)Thorsten Schulten/Torsten Müller, Ein Projekt – Von der monetären Integra- neuer europäischer Interventionismus? tion Europas zur Eurokrise (2013). – Die Auswirkungen des neuen Systems 8) Siehe dazu ausführlich Lukas Obern- Im Sog der Technokratie (2013) 89f. 10) W olfgang Streek, Gekaufte Zeit – Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus (2013) 18.; ders., How will Capitalism end?, New Left Review 2014, 35. 11) R obert Misik, Lasst es uns mit Marx versuchen, taz v. 8.8.2014. 12) U lrich Brand, Das bornierte Streben nach Profit, FAZ v. 28.7.2014. 13) L e Pen warnt Merkel vor „Explosion der EU“, Handelsblatt v. 1.6.2014. 14) B ernhard Schmid, Wirtschaftskrise der europäischen Economic Governance dorfer, Die Renaissance des autoritären und extreme Recht – Wie der Front auf Löhne und Tarifpolitik, Wirtschaft und Liberalismus? – Carl Schmitt und der National versucht von Verwerfungs- Gesellschaft, 2013, 291; Phillip Heimber- deutsche Neoliberalismus vor dem Hin- erscheinungen der Krise zu profi- ger, „Innere Abwertung“ in Südeuropa: tergrund des Eintritts der "Massen" in die tieren, trend-onlinezeitung 1/12, Erwartungen, Ergebnisse und Folgen, europäische Politik, PROKLA 2012, 413; http://www.trend.infopartisan.net/ Wirtschaft und Gesellschaft 2014, 235. online unter: http://bit.ly/1720Ylz. 4) F rigga Haug, Die Vier-in-einem- 5 9) Jürgen Habermas, Im Sog der Techno- infobrief eu & international trd0112/420112.html (15.10.2014). 15) Z war erzielte die Goldene Morgenrö- Ausgabe 4 | Oktober 2014 wien.arbeiterkammer.at Die Verselbständigung neoliberaler Wirtschaftspolitik in der EU die Krise in der Ukraine für die Ausnahme steigender Militärausgaben aus der Defizitberechnung argumentierte. Schließlich seien mit der Zunahme militärischer Konflikte genau jene „außergewöhnlichen Umstände“ erreicht, welche man laut Fiskalpakt mildernd berücksichtigen dürfe.27 Den sozial-ökologischen Umbruch organisieren n Wenn man aber praktisch mit dem „Aberglaube brechen möchte, dass die Wahrheit sich selber Bahn breche“ (Ernst Bloch), stellt sich die Frage, wie eine Wende hin zu einer sozialen und ökologischen Transformation der europäischen Wirtschaft gelingen kann? Wer daran glaubt, dass sie allein durch eine Neuzusammensetzung des politischen Personals gelingen kann, ist zuletzt durch François Hollande enttäuscht worden.28 Nachdem er im Jänner 2014 mit seinem „Pakt für Verantwortung“ endgültig auf die neoliberale Wettbewerbsorientierung29 eingeschwenkt ist, erzwang er im August den Rücktritt der Re- te 9,3 % und gewann damit 8,8 % dazu, gleichzeitig verlor die rechts- gierung, um die letzten KeynesianerInnen von Ministerämtern zu entfernen. Auslöser waren die letzten Worte Arnaud Montebourgs als Wirtschaftsminister: „Selbst, wenn die Franzosen für die französische Linke votieren, wählen sie das Programm der deutschen Rechten! Das ist inakzeptabel.“30 Diese Entfernung kritischer Stimmen von Ämtern oder Mandaten ist kein Einzelfall in Europa. Vor dem Hintergrund des steigenden Problemdrucks lässt sich neoliberale Regierungspolitik, wie bereits erwähnt, zunehmend nur noch autokratisch durchsetzen. Aus der Beobachtung der entsprechenden Prozesse lässt sich ableiten, dass über Jahre etablierte, neoliberale Pfadabhängigkeiten nur durch Druck eines breiten gesellschaftlichen Bündnisses aufgebrochen werden können. Gerade weil sich Wahrheiten nicht selbst zum Durchbruch verhelfen, stehen die UnterstützerInnen einer fortschrittlichen Wirtschaftspolitik vor der Herausfor- ehrliche-konsens/ (15.10.2014). 20) J uncker, Politische Leitlinien für extreme LAOS jedoch mehr als die nächste Europäische Kom- 5 % und hält nun bei 2,7 %. mission, 15. Juli 2014, S. 3. derung, ein Mosaik31 zusammenzusetzen, das kritische Wissenschaft, soziale Bewegungen, die Gewerkschaften und fortschrittliche Parteien, grenzüberschreitend zu einem kohärenten Projekt zusammenfügt, das in der Lage ist, den autoritären Konstitutionalismus herauszufordern. Anregungen, wie sich ein solches Projekt europäisch entwickeln ließe, geben die Entwicklungen in den „südlichen“ Krisenländern32, in denen viele wieder damit begonnen haben, was Max Frisch einst als das Eigentliche des Politischen ausgeben hat: „Demokratie heißt, sich in die eigenen Angelegenheiten einzumischen.“ Markus Marterbauer n AK Wien [email protected] Lukas Oberndorfer n AK Wien [email protected] www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/eustaaten-wollen-defizitregeln-des-stabilitaetspakts-aushebeln-a-977790.html). 28) I nsofern ist auch der Retrospektive von 21) E bd. S. 4. Paul Krugman zu widersprechen, dass and New Constitutionalism: Economic 22) E bd. S. 4. Hollande ohne breite gesellschaftliche Be- and Monetary Union and Alternatives 23) Lukas Oberndorfer, Vom neuen, über wegung der „Leader“ hätte sein können, to Disciplinary Neoliberalism in Euro- den autoritären zum progressiven der Europa vom Sparkurs abbringt. pe, New Political Economy 1998, 5. Konstitutionalismus? – Pakt(e) für Siehe dazu Paul Krugman, The Fall of 16) S tephen Gill, European Governance 17) Siehe dazu ausführlich Lukas Oberndorfer, From New Constitutionalism to Authoritarian Constitutionalism: New Economic Governance And the State of European Wettbewerbsfähigkeit und die europäische Demokratie, juridikum 2013, 76; online unter http://bit.ly/156xQso. 24) J ürgen Habermas, Europa wird direkt Democracy, in Jäger/Springler, Asymme- ins Herz getroffen, FAZ v. 29.5.2014. tric Crisis in Europe and Possible Futures. 25) L ars Osberg, Can Increasing Inequa- France, The New York Times v. 28.8.2014. 29) G eorg Feigl/Sepp Zuckerstätter, Wettbewerbs(des)orientierung, Marterialien zu Wirtschaft und Gesellschaft Nr. 117. 30) R udolf Balmer, Frankreich: Die provozierte Regierungskri- Critical Political Economy and Post- lity be a Steady State? OECD Statis- se, Die Presse v. 25.8.2014. Keynesian Perspectives (im Erscheinen). tics Working Papers 2014/01 (2014) 31) H ans-Jürgen Urban, Stillstand im 18) Lukas Oberndorfer, Vom neuen, über 35; Übersetzung durch die Autoren. den autoritären zum progressiven 26) M arkus Marterbauer, Skizze einer ökono- Konstitutionalismus? – Pakt(e) für misch vernünftigen Budgetpolitik, http:// Wettbewerbsfähigkeit und die europä- blog.arbeit-wirtschaft.at/oekonomisch- ische Demokratie, juridikum 2013, 76; online unter http://bit.ly/156xQso. 19) E ric Bonse, Der neue Eliten-Konsens http://lostineu.eu/der-neue-gefa- 6 vernuenftige-budgetpolitik (29.8.2014). 27) H ohe Militärausgaben – EU-Staaten pla- Merkelland: Wo bleibt die Mosaik-Linke, Blätter für deutsche und internationale Politik 2014, 73. 32) M ario Candeias/Eva Völpel, Plätze sichern! - Re-Organisierung der Linken in der Krise – Über Occu- nen neuen Anschlag auf Stabilitätspakt, py, Indignados, Syntagma und die Spiegel-Online v. 27. Juni 2014 (http:// Lernfähigkeit des Mosaiks (2013). infobrief eu & international Die Entfernung kritischer Stimmen von Ämtern oder Mandaten ist kein Einzelfall in Europa. Ausgabe 4 | Oktober 2014 wien.arbeiterkammer.at EU-Kommission beharrt auf Investitionsschutzbestimmungen Obwohl die Dinge aus dem Ruder laufen … EU-Kommission beharrt auf Investitionsschutzbestimmungen in Freihandelsabkommen Im Rahmen der Anhörung der KandidatInnen für die neue EU-Kommission Ende September verteidigte die designierte EU-Außenhandelskommissarin Malmström – entgegen vorangegangener Ankündigungen – die Notwendigkeit von privilegierten Klagerechten für Konzerne und außergerichtlichen Schiedsgerichten in Freihandelsabkommen. Auch könne das EU-Kanada-Freihandelsabkommen (CETA1) nicht aufgeschnürt werden, da es bereits ausverhandelt sei. Nicht nur wegen der widersprüchlichen Kommunikation wächst die Empörung über das Vorgehen der Europäischen Kommission (EK). Die Debatte um Investitionsschutzbestimmungen in EU-Handelsabkommen ist Brüssel wohl entglitten, nichtsdestotrotz beharrt die EK auf ihrem Kurs. Elisabeth Beer Noch keine Ergebnisse der EUKonsultation zu Investitionsschutz n Die Kommission hat in Reaktion auf massiven Widerstand gegen exklusive Klagerechte multinationaler Unternehmen eine öffentliche Konsultation2 eingeleitet, deren Grundlage die wichtigsten CETA-Investitionsschutzbestimmungen waren. Die Befragung ist zwar abgeschlossen, doch liegt noch keine Analyse der Antworten von rund 150.000 TeilnehmerInnen vor. Es ist undemokratisch und befremdlich, dass die Kommission die Ergebnisse der Konsultation ignoriert und bei CETA an der Einbeziehung von Investitionsschutzbestimmungen und dem Investor-Staat-Streitbeilegungsverfahren (ISDS) festhält. Hiermit bestätigt sie die Befürchtungen der Zivilgesellschaft, dass die Befragung der Öffentlichkeit ein großer Bluff und bloße Taktik war. Die schiefe Optik dieses Vorgehens missfällt selbst etlichen Mitgliedsstaaten, da sie die Regierungen weiter unter Druck setzt. Auch das zuständige österreichische Ministerium fordert eine ergebnisoffene Diskussion nach Auswertung der Befragung. Die bisherigen Äußerungen der Kommission lassen aber nichts Positives erwarten. Der scheidende Handelskommissar de Gucht hat die rege Beteiligung der Zivilgesellschaft 7 Die EU hält an Sonderklagerechten für ausländische Konzerne fest. an der Befragung als „Attacke“ diffamiert und erklärt, dass gleichlautende Antworten nur einmal gezählt werden. Die BeamtInnen tüfteln weniger an der gründlichen Analyse der Konsultation, sondern mehr an einer neuerlichen „Kommunikationsstrategie“, wie Ende November das Thema ISDS im EU-USA-Freihandels- und Investitionsabkommen (TTIP) wieder auf die Tagesordnung gebracht werden kann, denn die zentrale Frage, nämlich ob es ISDS in Freihandelsabkommen geben soll oder nicht, war erst gar nicht zugelassen. CETA-Verhandlungen einschließlich Investitionsschutz und Schiedstribunale abgeschlossen n Die Kommission sieht ihre Interessen unter Dach und Fach, da sie die Verhandlungen mit Kanada zu Investitionsschutz und ISDS im CETA Ende September abgeschlossen hat. Mit punktuellen Reformen im erstmalig von ihr verhandelten Investitionskapitel will sie das in der Öffentlichkeit in Misskredit geratene Schiedsgerichtssystem relegitimieren. Schiedsverfahren sollen infobrief eu & international öffentlich sein, ein Verhaltenskodex soll die Integrität der Schiedsrichter fördern, eine Berufungsmöglichkeit wird angedacht, die Verfahrens kosten hat der Verlierer zu tragen, Briefkastenfirmen sollen keine Prozesse führen können. Doch die Neuerungen sind bestenfalls halbherzig, denn die Schiedstribunale haben mehr Entscheidungsgewalt als es ihnen bisher österreichische bilaterale Investitionsabkommen gewähren. Bei Klagen wegen neuer gemeinwohlorientierter Gesetze haben die Tribunale darüber zu richten, ob die Maßnahme verhältnismäßig ist oder aber legitime Investoreninteressen verletzt wurden. Es sind auch mehr Investorenklagen zu erwarten, weil Tribunale mit nur einem Schiedsrichter möglich sein sollen, was das Klagen günstiger macht. Ein eigens einzurichtendes Komitee – ohne demokratische Verantwortung – wird mit weitreichenden Befugnissen ausgestattet, nämlich ob es eine Berufungsmöglichkeit geben und wie diese ausgestaltet werden soll. Darüber hinaus kann es für Tribunale verbindliche Interpretationen der Investitions-Mindeststandards verabschieden. Eine sogenannte Regulierungsklausel, die Klagen gegen neue wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen nicht zulässt, fehlt gänzlich.3 » Ausgabe 4 | Oktober 2014 wien.arbeiterkammer.at EU-Kommission beharrt auf Investitionsschutzbestimmungen » Inhaltlich ist auch der Unterschied, den die neue Kommission zwischen den Freihandelsabkommen mit Kanada und USA macht, nicht nachvollziehbar. Im Fall vom TTIP hat der Kommissionpräsident Juncker folgende Aussage getroffen: „Ebenso wenig werde ich akzeptieren, dass die Rechtsprechung der Gerichte in den EU-Mitgliedstaaten durch Sonderregelungen für Investorenklagen eingeschränkt wird. Rechtsstaatlichkeit und Gleichheit vor dem Gesetz müssen auch in diesem Kontext gelten.“4 Ob die Rechnung der Kommission aufgeht oder aber CETA nochmals „aufgemacht“ werden muss, hängt in weiterer Folge vom Stimmverhalten im Europäischen Parlament und Rat ab. Noch ist es denkbar, da große Fraktionen wie die Sozialdemokratie die Ablehnung von ISDS öffentlich kundtun. Im Rat ist Deutschland kritisch und verlangt die Nachverhandlung einzelner Punkte. 2015 wird dann CETA sehr wahrscheinlich den Mitgliedstaaten unter Einbeziehung der nationalen Parlamente zur Ratifizierung vorgelegt. Es bedarf aber noch mehr öffentlicher Kritik, inhaltlicher Diskussionen und Aktionen, sollen die Sonderklagerechte von Konzernen noch aus dem Abkommen herausgenommen werden! Der Antrag des Bündnis gegen TTIP und CETA eine Europäische Bürgerinitiative einzuleiten, wurde von der EK aus rechtlichen Gründen abgelehnt. Ein Ärgernis mehr. Widerstand braucht einen langen Atem und muss breiter werden. ISDS-Tribunale verurteilen EUStaaten wegen EU-Rechtsanwendung n Nicht nur auf politischer, auch auf der Arbeitsebene laufen die Dinge aus dem Ruder. Die EK hat bei Investoren-Klagen gegen die Anwendung von EU-Recht versucht, sich als Amicus Curiae in die laufenden Schiedsverfahren zwischen auslän- 8 dischen Investoren und EU-Staaten einzubringen. Doch die ISDS-Tribunale haben diese Eingaben ignoriert und wo Entscheidungen vorliegen, im Interesse der Konzerne deren Schadensersatzansprüche bestätigt. Zurzeit bearbeiten unterschiedliche private ad hoc Schiedsgerichte zahlreiche Klagen von Photovoltaik-Investoren gegen Spanien (elf namhafte), die Tschechische Republik (sechs bekannt), Italien und Bulgarien, weil die Länder – wohl aus Sparmotiven – die Netzeinspeisetarife von Solarstrom gesenkt haben. Die Kommission hat anfänglich argumentiert, dass die Investorenklagen unzulässig seien, weil zwischen den Mitgliedstaaten Investitionsschutzbestimmungen und ISDS keine Anwendung finden können. Die Tribunale haben aber die Klagen angenommen und ihre Arbeit begonnen, ist diese doch ein sehr einträgliches Geschäft. Jetzt führt die Kommission in einzelnen Fällen das Argument ins Treffen, dass die hohen Einspeisetarife nicht rechtens sind, da sie von der EK nicht genehmigte staatliche Beihilfen darstellen. Die Verfahren laufen noch und wir können gespannt auf die gewiss sich widersprechenden Urteile sein. vaten Schiedsgerichte unberechenbar ist und zumeist die Interessen der Konzerne bedient. Doch könnte man/frau annehmen, dass die EK eher einen Kurswechsel vornimmt, wenn sie dies am „eigenen Leib“ erfährt. Offensichtlich ist der EUApparat ausreichend abgeschottet, um Lehrbeispiele wie den Fall Micula bestenfalls als Betriebsunfall zu bewerten, ohne die Agenda zu korrigieren. Um die transnationale Verfassung der Konzerne5 durch CETA zu verhindern, ist daher der Widerstand auf noch breitere Füße zu stellen und auf die Gefahren für die Demokratie, das Budget und die Politik zum Schutz des Gemeinwohls hinzuweisen. Die öffentliche Konsultation zu Investitionsschutz im TTIP hätte es ohne die laufenden Proteste nicht gegeben. Und bei CETA ist auch noch nicht aller Tage Abend. Elisabeth Beer n AK Wien [email protected] 1) D amit wird das Comprehensive Economic and Trade Agreement, das Han- In einem weiteren Fall hat der schwedische Investor Micula 2008 Rumänien verklagt, weil Rumänien als Bedingung für seinen EU-Beitritt großzügige Investitionsanreize (Mehrwert- und Gewinnsteuerbefreiung sowie Subventionen) streichen musste. Die EK hat während des Verfahrens etliche Eingaben gemacht, die aber nicht berücksichtigt wurden. Rumänien hat 250 Millionen Euro zu zahlen, weil es – so das Urteil – Transparenzanforderungen gegenüber dem Investor verletzt hätte. Und auch hier interveniert die EK, mit dem Argument, dass Rumänien die Schadensersatzzahlung nicht leisten müsse, da diese eine unerlaubte Beihilfe für Micula darstellen. dels- und Investitionschutzabkommen zwischen Kanda und der EU, abgekürzt. 2) S iehe hierzu: Elisabeth Beer, Reformansatz der Kommission ändert nichts am Grundübel: Privilegierte Klagsrechte für Konzerne und Finanzinvestoren gegen Staaten, in: infobrief eu & international, Ausgabe 2, Mai 2014, Seite 16 ff. 3) S iehe ausführliche Analyse der Investitionsschutzbestimmungen in CETA unter: http://media.arbeiterkammer. at/wien/PDF/Publikationen/Investitionsschutz_Ceta_9_2014.pdf. 4) D ie politischen Leitlinien der neuen Europäischen Kommission, Jean Claude Juncker vom 15. Juli 2014. 5) S iehe hierzu: Pia Eberhardt, Kampf gegen die transnationale Verfassung der Konzerne – fünf Thesen zur Debatte um die Investorenrechte im Es ist wohl nichts Neues, dass die Justiz der gewinnorientierten, pri- infobrief eu & international Mitgliedstaaten werden wegen Rücknahme von Förderungen verklagt. EU-USA-Freihandelsabkommen, Kurswechsel Ausgabe 2/2014, Seite 81 ff. Ausgabe 4 | Oktober 2014 wien.arbeiterkammer.at Europäische Kommission als Hotspot des Lobbyismus ExpertInnengruppen der Kommission sind beispielhaft für neoliberale Ideologie Die Europäische Kommission als Hotspot des Lobbyismus Die Bilanz der zu Ende gehenden Kommission verdeutlicht, dass sich Kapitalinteressen erfolgreich durchgesetzt haben. Dieser institutionelle Bias der Kommission zeigt sich besonders bei sogenannten „ExpertInnengruppen“. Neva Löw Es ist altbekannt, dass viele LobbyistInnen in Brüssel versuchen die EU Politik zu beeinflussen. Dabei ist die Europäische Kommission der Hotspot des Lobbyismus. Alle legislativen Vorschläge kommen von der Kommission; gleichzeitig unterliegt die Institution keinen direktdemokratischen Wahlen. Sie ist, verglichen mit dem Europäischen Parlament oder auch dem Europäischen Rat, für öffentliche Anliegen am wenigsten offen. UnternehmenslobbyistInnen hatten in der Kommission leichtes Spiel n In wenigen Monaten geht die Legislaturperiode der Kommission zu Ende. Ein flüchtiger, beispielhafter Blick auf die Initiativen der Handelspolitik, der Finanzpolitik und der Umweltpolitik lassen die Handschrift von WirtschaftslobbyistInnen klar erkennen. Vor dem offiziellen Beginn der Verhandlungen zum Freihandelsabkommen mit den USA (allgemein bekannt als TTIP) haben sich die zuständigen BeamtInnen der Generaldirektion Handel mindestens 119-mal mit VertreterInnen von Unternehmen getroffen. Demgegenüber waren die Diskussionen mit GewerkschaftsvertreterInnen oder ZivilgesellschaftsvertreterInnen auf einer Hand abzählbar. Der Vorstoß der Kommission weitgehende InvestorInnenschutzregelungen in das Abkommen zu integrieren, zeugt davon in wessen Interesse die Verhandlungen geführt werden.1 In der Finanzpolitik sieht es ähnlich aus. Nachdem die Finanzkrise einen Reformdruck ausgelöst hatte, machte die Finanzlobby mobil. Die 9 123 Millionen Euro, die jährlich von der Finanzindustrie für Lobbyaktivitäten ausgegeben werden, haben auch Früchte getragen. Bis heute sind wichtige Initiativen zur Reform des Finanzsektors ausgeblieben.2 Bestrebungen bei der Umweltpolitik Innerhalb der Europäischen Kommission ist der Neoliberalismus hegemonial. effektivere Maßnahmen zu ergreifen wurden gleichfalls von Lobbyaktivitäten der Großunternehmen erfolgreich verhindert. Bei den Diskussion rund um wirkungsvollere Regelungen abseits des EU-Emissionshandelssystems (EU ETS) schlossen sich Business Europe mit BP, Shell und JP Morgan zusammen um der Kommission klar zu machen, dass es keine weitgehenderen Maßnahmen als den derzeitigen ETS Rahmen geben dürfe.3 Andererseits verfügt die Kommission mit einer Zahl an BeamtInnen, die jene der Stadt Wien untertrifft, über wenig interne Expertise und ist daher auf den Input von Außen angewiesen. Entsprechend der neoliberalen Ideologie herrscht dabei die Annahme, dass technischer Rat auch tatsächlich von dahinterstehenden Interessen getrennt werden kann. Daher liefern oft Individuen, die Konzerninteressen vertreten, vermeintlich „neutrale“ Expertise. Die häufig sehr technisch gehaltenen Dossiers vernachlässigen einen breiten Blick auf sozialpolitische und umweltpolitische Fragen und verunmöglichen eine breite Debatte. Die enge Freundschaft zwischen Kommission und Kapitalinteressen n Die Erklärungen für die besondere Aufgeschlossenheit der Kommission gegenüber Kapitalinteressen sind vielfältig. Einerseits ist die Europäische Kommission von einer institutionellen Kultur durchdrungen, die Großunternehmen bevorzugt. Innerhalb der Europäischen Kommission ist der Neoliberalismus hegemonial und somit werden Kapitalinteressen mit den Interessen der Allgemeinheit gleichgesetzt. Wettbewerbsfähigkeit wurde zur Maxime Darüberhinaus sind die finanziellen und damit auch personellen Ressourcen von UnternehmenslobbyistInnen viel größer als die von Gewerkschaften oder der Zivilgesellschaft. Es bestehen etliche Gruppen, inoffizielle und offizielle beratende Organe der Kommission. Sie bedeuten auch einen personellen und finanziellen Aufwand der Teilnehmenden. Unternehmen können sich aufgrund ihrer privilegierten finanziellen Situation stärker an diesen Gremien beteiligen. Besonders augenfällige Beispiele für das enge Verhältnis zwischen der » infobrief eu & international der europäischen Politik erhoben.4 Dieser ideologische Überbau bietet die Legitimität für die generelle Orientierung als der „Hüterin der Verträge“. Somit wird auch klar warum sich die Kommission weigert die Dominanz von Großkapitalinteressen überhaupt als Problem anzuerkennen. Ausgabe 4 | Oktober 2014 wien.arbeiterkammer.at Europäische Kommission als Hotspot des Lobbyismus » Europäischen Kommission und Kapitalinteressen finden sich bei der Analyse sogenannter „ExpertInnengruppen“. Dabei wird deutlich wie sich die Dominanz der neoliberalen Ideologie konkret artikuliert und wie es sich auf den Gesetzgebungsprozess in der Europäischen Union auswirkt. Schließlich obliegt das Initiativrecht der Kommission. UnternehmenslobbyistInnen sind schon lange bevor ein Gesetzesentwurf geschrieben wird aktiv. Für Konzerne ist es am einfachsten noch bevor ein Gesetzesentwurf veröffentlicht wird, Einfluss zu nehmen. Abänderungen zu schon bekannten Entwürfen sind aufwendig und Lobbyaktivitäten auch sehr auffällig. Im Rahmen von ExpertInnengruppen ist Lobbying von Kapitalverbänden weniger transparent und wird oft als neutrale und unabhängige Expertise kaschiert. ExpertInnengruppen von Unternehmen dominiert n Um Expertise einzuholen und um sich die Meinungen verschiedenster InteressensvertreterInnen anzuhören, richten die Generaldirektionen der Europäischen Kommission bei anstehenden Themen sogenannte „ExpertInnengruppen“ ein. RegierungsvertreterInnen, WissenschafterInnen, GewerkschafterInnen, KMUs, NGOs und weitere Interessengruppen werden eingeladen. Organisationen oder Personen müssen sich um einen Platz in einer ExpertInnengruppe bewerben und die jeweilige Generaldirektion wählt ExpertInnengruppen, vor allem die politisch wichtigen, sind von Konzernen dominiert. dann die Mitglieder aus. ExpertInnengruppen funktionieren unterschiedlich, da nur unzureichende horizontale Regelungen vorhanden sind, die für die gesamte Kommission gelten. Der Endbericht der Gruppe soll als Grundlage einer darauffolgenden Gesetzesinitiative dienen. 10 ExpertInnengruppen, vor allem die politisch wichtigen, sind von Konzernen dominiert. Sie besetzen häufig mehr als die Hälfte aller Sitze der Gruppe. In einigen Gruppen sind Gewerkschaften und Zivilgesellschaftsorganisationen gar nicht vertreten. Die ExpertInnengruppe „Expert Group on Agricultural Commodity Derivatives and Sport Market“ eingerichtet von der Generaldirektion Landwirtschaft und Ländliche Entwicklung, besteht aus sechzehn Mitgliedern, davon sind 94 % Großunternehmen und 6 % Bauern/Bäuerinnen.5 Niemand in der Gruppe verfügt über eine kritische Haltung zu Lebensmittelspekulationen. Ähnlich bedenklich ist die Zusammensetzung der „Expert Group on a Debt Redemption Fund and Eurobills“, eingerichtet vom Generalsekretariat der Europäischen Kommission. Die zehn Mitglieder repräsentieren zu 70 % die Interessen des Großkapitals, zu 20 % die Wissenschaft und die restlichen zehn Prozent sind als „Hybrid“ klassifiziert.6 Das plakativste Beispiel des privilegierten Zugangs der Kapitalverbände zur Kommission ist die Besetzung der ExpertInnengruppe zur Finanzaufsicht in der EU. Kurz nach Ausbruch der Finanzkrise hat die Europäische Kommission eine beratende Gruppe zur Finanzregulierung einberufen. Die acht Mitglieder der Gruppe bestanden aus vier Personen mit engen Verbindungen zu großen Banken (Goldman Sachs, Citigroup, Lehman Brothers, BNP Paribas), einer Person, die bekanntermaßen eine Befürworterin der Deregulierung war, und einer Angestellten der UK Financial Services Authority. Somit ist es auch nicht verwunderlich, dass keine weitgehenden Vorschläge zur Bankenaufsicht ausgearbeitet wurden.7 Intransparenz zu Gunsten von Unternehmensinteressen n Zusätzlich zu den genannten Ungleichheiten innerhalb der ExpertInnengruppen ist deren Besetzung intransparent. Es gibt keine klaren infobrief eu & international und einheitlichen Regelungen, die für alle Generaldirektionen der Europäischen Kommission gelten. Somit sind ExpertInnengruppen je nach Generaldirektion auch unterschiedlich gestaltet und unterliegen verschiedenen internen Regelungen. Dabei spielt die Kategorie der „Personal Capacity“, eine besondere Rolle. Mitglieder einer ExpertInnengruppe können in dieser als individuelle ExpertInnen sitzen, ohne angeben zu müssen, wo sie beschäftigt sind. Generaldirektionen der Europäischen Kommission verwenden das Label um offensichtliche Verbindungen zu Unternehmen zu kaschieren.8 Somit werden Kapitalinteressen als neutrale Expertise auszugeben und es wird verdeckt, dass im Endeffekt jedeR ein Interesse verfolgt.9 Gleichzeitig ist grundsätzlich zu hinterfragen, ob im Falle eines Interessenkonfliktes LobbyistInnen überhaupt ein Mitspracherecht haben sollten. Ein Beispiel hierfür wäre die Frage, ob die Tabakindustrie in einer ExpertInnengruppe vertreten sein sollte, die sich Gedanken über strengere Gesundheitsauflagen bei Tabakprodukten macht. Schließlich steht für Unternehmen die Profitmaximierung im Vordergrund und nicht das öffentliche Interesse. Schon lang Thema n 2012 wurde das Europäische Parlament in der Sache ExpertInnengruppen der Europäischen Kommission aktiv. Die Abgeordneten froren das Budget für die Gruppen ein und erstellten vier Kernforderungen.10 Nach der Zusicherung der Kommission sich zu bessern, wurden die Geldmittel wieder freigegeben. Studien belegen, dass es sich dabei um ein reines Lippenbekenntnis der Kommission gehandelt hat.11 Aus diesem Grund hat die neue Ombudsfrau der Europäischen Union, Emily O’Reilly, das Thema aufgegriffen. In einer breit angelegten Konsultation befragte sie Organisationen und Einzelpersonen nach ihren Erfahrun» Ausgabe 4 | Oktober 2014 wien.arbeiterkammer.at Europäische Kommission als Hotspot des Lobbyismus » gen und Einschätzungen der ExpertInnengruppen der Kommission. Der Europäische Gewerkschaftsbund und nationale Gewerkschaftsbünde haben zusammen mit kritischen NGOs in Brüssel eine umfassende Antwort verfasst. Zusätzlich zu technischen Verbesserungsvorschlägen bezüglich der Ausschreibung von ExpertInnengruppen und deren Sitzungsablauf, wird darin die grundsätzlich enge Verbindung zwischen der Kommission und Kapitalsinteressen aufgezeigt und in Frage gestellt.12 Auch die neu gewählten Abgeordneten des Europäischen Parlaments wurden auf das Thema aufmerksam. Im September stimmte der Budgetausschuss für die erneute Einfrierung der Gelder für ExptertInnengruppen der Europäischen Kommission. Im Rahmen der Plenarsitzung, am 22. Oktober, wurde endgültig darüber entschieden. Das Gewerkschaftsund NGO-Bündnis arbeitet eng mit einzelnen ParlamentariarInnen zusammen, die sich für klare Schritte gegen die Dominanz von Kapitalverbänden in ExpertInnengruppen einsetzen. Nun liegt es an der Kommission auf die Maßnahmen des Parlaments zu reagieren. Neoliberalismus in Frage stellen12 n Das enge Verhältnis zwischen Ka- pitalinteressen und der Europäischen Kommission ist bei der Analyse von ExpertInnengruppen am offensichtlichsten. Als plakatives Beispiel dient eine Kritik an der ungleichen Besetzung der beratenden Gruppen der Kommission dazu, eine tiefergehende In-Frage-Stellung des neoliberalen Wettbewerbsgedanken zu tätigen. Als gesellschaftliches Projekt hat der Neoliberalismus das Verhältnis von Staat und Wirtschaft verändert. Das lässt sich auch auf die europäischen Institutionen umlegen. Der Markt hat sich als wichtigste ökonomische Instanz etabliert und das gesellschaftliche Kräfteverhältnis zu Gunsten des Kapitals verschoben.13 Durch die Forderungen nach einer ausgewogenen Besetzung der ExpertInnengruppen, nach horizontalen und transparenten Regeln und nach der Abschaffung der Kategorie „personal capacity“ stoßen Gewerkschaften und kritische NGOs eine Debatte in Brüssel an. In der gemeinsamen Antwort von Gewerkschaften und NGOs zur Befragung der Ombudsfrau, wird weiter darauf eingegangen, dass auch eine ausgewogene Besetzung der ExpertInnengruppen nicht notwendigerweise einen ausgewogenen Output bedeutet. Schließlich verfügen Konzerne und deren LobbyistInnen über breite Darf die Tabakindustrie in einer ExpertInnen gruppe vertreten sein, die sich Gedanken über strengere Gesund heitsauflagen bei Tabak produkten macht? finanzielle und personelle Ressourcen. Somit können sie schnell Positionspapiere und Studien zur Unterstützung ihrer Argumente vorlegen. Zusätzlich erhalten Kapitalverbände eine Sonderstellung, indem ihnen mehr Redezeit in den Sitzungen der ExpertInnengruppen eingeräumt wird. In der Debatte werden damit die Kräfteverhältnisse in der Kommission thematisiert, die zu Gunsten des Kapitals verlaufen. Schließlich wird das Primat von Wirtschaftsinteressen hinterfragt und somit ein neoliberaler Eckpfeiler angegriffen. Die gemeinsame Arbeit vom ÖGB Brüssel Büro, von AK EUROPA, GewerkschaftsvertreterInnen in Brüssel, dem Europäischen Gewerkschaftsbund und einer Gruppe kritischer NGOs bietet einen spannenden Ansatzpunkt um eine breite Debatte über die Kräfteverhältnisse in der EU zu lancieren. Im Endeffekt muss es auch um einen Austausch möglicher Strategien gehen und darum wie Brüche im neoliberalen Konsens hergestellt werden können. Neva Löw n Referentin im ÖGB-Europabüro [email protected] 1) V gl.: Corporate Europe Observatory, The pen und deren genauen Definition siehe 10) D ie vier Kernforderungen des Europäi- Record of a Captive Commission (2014). ÖGB Europabüro, Ak EUROPA, Alter EU, schen Parlaments waren: Keine Domi- A year of broken promises(2013) 7. nanz der Industrie, keine unabhängigen 2) V gl.: CEO, Ak EUROPA, ÖGB Europabüro, The Fire of the Financial Lobby(2014). 7) Vgl. ÖGB Europabüro, Ak EUROPA, Alter 3) V gl.: Corporate Europe Observatory, The EU, A year of broken promises(2013). Record of a Captive Commission (2014). 4) v gl. Ingo Stützle, Austerität als politisches Projekt (2013) 192ff. 5) D ie Kategorie „Bauern und Bäuerinnen“ 8) Hierbei sind folgende Generaldirektionen der Europäischen Kommission besonders ralsekretariat, Forschung und Innovation. 13) v gl. Ingo Stüzte, Austerität als poli- industrie wird demnach als Unternehmen A year of broken promises (2013) 17. gewertet und auch so kategorisiert. Dazu 9) In der Antwort zu Konsultation der Om- vgl. ÖGB Europabüro, Ak EUROPA, Alter budsfrau O’Reilly spricht sich der Öster- EU, A year of broken promises(2013) 7. reichische Gewerkschaftsbund dafür aus tisches Projekt (2013) 192 (193). diese Kategorie ganz abzuschaffen. infobrief eu & international EU, A year of broken promises (2013). 12) V gl. http://bit.ly/1tAkr8h (4.9.2014). ÖGB Europabüro, Ak EUROPA, Alter EU, 11 die Teilnahme und volle Transparenz. 11) v gl. ÖGB Europabüro, Ak EUROPA, Alter auffällig: Steuern und Zollunion, das Gene- schließt die Agrarindustrie aus. Die Agrar- 6) Z u den Kategorien der ExpertInnengrup- Lobbyisten, offene Ausschreibung für Ausgabe 4 | Oktober 2014 wien.arbeiterkammer.at Europa 2020: Mid-Term-Crisis Europa 2020 Eine Strategie in der Mid-Term-Crisis Die 2010 beschlossene Europa-2020-Strategie hätte „intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum“ schaffen sollen. Nach vier Jahren ist die Mehrheit der Ziele in weite Ferne gerückt, die Kommission wird die Strategie überarbeiten. In allererster Linie sollte sie die Widersprüche in und um die Strategie lösen und den ursprünglichen Zielkatalog wieder in den Vordergrund rücken. Michael Heiling Eine intelligente, nachhaltige und integrative Wirtschaft für Europa bis 2020 zu schaffen – konkret: „ambitionierte, aber erreichbare Ziele […]in den Bereichen Beschäftigung, Forschung und Innovation, Klimaschutz und Energie, Bildung und Armutsbekämpfung1“ zu verwirklichen – das war die Maßgabe, mit der der Europäische Rat auf Vorschlag der Europäischen Kommission im Jahr 2010 die Strategie „Europa 2020“ verabschiedet hat. Die Strategie, auf deren Basis sieben Leitinitativen und zehn integrierte Leitlinien der Beschäftigungs- und Wirtschaftspolitik als „Richtschnur für die Mitgliedsstaaten“ geschaffen wurden, wurde zu einem Zeitpunkt beschlossen, als die Krise(n) ab 2007 bei weitem nicht überwunden waren. Gleichsam gab man sich ambitionierte Ziele (siehe Kasten „Wissen“), von denen zumindest eines explizit sozialpolitisch ausgerichtet war – und die alle mit expansiver Die Probleme in Europa sind im Kern auch 2014 noch jene, die in den Analysen von 2010 festgehalten wurden. Die wirt schaftspolitischen Dogmen wurden jedoch verschärft. 12 Fiskalpolitik in Verbindung stehen könnten. Die Probleme in Europa sind im Kern auch 2014 noch jene, die in den Analysen von 2010 festgehalten wurden. Die wirtschaftspolitischen Dogmen wurden jedoch verschärft. Während 2008 noch einige Mitgliedsstaaten mit nachfrage- und konsumstabilisierenden Maßnahmen auf die Krise reagieren konnten, wurde in den letzten Jahren mit der Economic Governance und dem Fiskalpakt ein budgetpolitisches Korsett geschnürt, das antizyklische Strategien massiv erschwert. Eng verwoben mit der Europa2020-Strategie ist der Koordinierungsprozess des Europäischen Semesters. Hierbei handelt es sich um einen relativ komplizierten und koordinierungsaufwändigen halbjährlichen Politikzyklus, in dem auf Basis von Politikprioritäten der Europäischen Kommission nationale Reformprogramme und länderspezifische Empfehlungen erarbeitet werden, die die Mitgliedstaaten bei der Ausarbeitung ihrer nationalen Haushaltspläne und der Umsetzung der Europa-2020-Strategie berücksichtigen sollen. Dem Europäischen Semester kommt jedoch eine höchstparadoxe Rolle zu. Einerseits soll es dabei helfen, die Europa-2020-Strategie mit ihren weitgehend begrüßenswerten Zielen in den Mitgliedstaaten umzusetzen, andererseits infobrief eu & international ist es durch seinen haushaltspolitischen Fokus ein Teil jener Politik, die den Konsolidierungszwang festigt und damit das Erreichen der Ziele konterkariert. Die möglichen Hand lungsoptionen lassen ein breites Spektrum offen, an dessen Enden zwei gegensätzliche Möglichkeiten stehen: die Strategie aufzugeben oder sie aufzuwerten. Mehrheitlich nicht auf Kurs n Eine Mitteilung der Europäischen Kommission vom Frühjahr 2014 2 stellt hieb- und stichfest klar: Die Ziele der Europa-2020-Strategie werden bisher weitgehend nicht erreicht. Die Klimaziele liegen zwar auf Kurs, auch könnten mit größeren Anstrengungen die Bildungsziele erreicht werden. Im Bereich der Investitionen in Forschung und Innovation ist allerdings eine Stagnation zu erkennen, in den beiden Zielbereichen, die ArbeitnehmerInnen in der Europäischen Union wohl am unmittelbarsten berühren, ist nicht nur kein Fortschritt, sondern im Gegenteil ein Rückschritt zu erkennen. Die Beschäftigungsquote in Europa ist heute geringer als bei Beschlussfassung der Strategie, es sind » Ausgabe 4 | Oktober 2014 wien.arbeiterkammer.at Europa 2020: Mid-Term-Crisis » heute mehr Menschen von Armut betroffen oder bedroht als noch im Jahr 2010. In dieser Mitteilung zeigt die Europäische Kommission Bewusstsein für die Verteilungsproblematik in Europa, sie thematisiert überdies die Bedeutung der Binnennachfrage für das Wachstum in der Europäischen Union.3 Den Widerspruch zwischen einer auf Wachstum und Beschäftigung ausgelegten Strategie und der nachhaltigen Etablierung eines europäischen Haushaltskonsolidierungsregimes, das maßgeblich in den ersten vier Jahren der Strategie geschaffen und verschärft wurde, thematisiert sie nicht – wie sie auch tunlichst politische Schlussfolgerungen und Ableitungen vermeidet. Gesagt wird lediglich, dass die Ziele bisher größtenteils nicht erreicht werden und dass die nationalen Zielsetzungen im Bereich der Beschäftigung, der Investitionen und teilweise der Bildung von Grund auf nicht ausreichen, um kumuliert die europäischen Zielvorgaben der Europa- Bei entsprechendem politischen Willen wäre es durch eine intelligente Abstim mung der Maßnahmen möglich, die Ziele der Strategie „Europa 2020“ in den Vordergrund zu stellen und im Rahmen einer Überprüfung der Haushaltsregeln die notwendige Flexibilität zu schaffen. 2020-Strategie zu erreichen. Statt konkrete politische Herausforderungen und Änderungsanforderungen an Ziele und Instrumente zu diskutieren, hat die Europäische Kommission ein Konsultationsprozess (siehe Kasten „Mitmachen“) zur Überarbeitung der Strategie eingeleitet. Unbe- 13 schadet dessen wird im November das nächste Europäische Semester mit der Vorlage des Jahreswachstumsberichtes durch die Europäische Kommission beginnen. Politik an Zielen ausrichten – nicht umgekehrt n Der angesprochene Prozess soll in einer Überarbeitung der Europa-2020-Strategie resultieren, wobei hier grundsätzlich alle Möglichkeiten offen sind. Bis Ende Oktober können interessierte InteressenträgerInnen Bilanz über die bisherige Strategie ziehen und Anforderungen an eine Änderung der Strategie formulieren. Gleichzeitig wurde von der Kommission für Mitte Dezember eine Mitteilung über die Evaluierung der neuen wirtschaftspolitischen Steuerung (New Economic Governance bestehend aus „Sixpack“ und „Twopack“) angekündigt. Zusammen mit der Überarbeitung der Strategie will die Kommission außerdem ein 300-Milliarden-Euro schweres Investitionspaket mit öffentlichen und privaten Komponenten vorstellen. Bei entsprechendem politischen Willen wäre es also durch eine intelligente Abstimmung dieser Maßnahmen möglich, die Ziele der Strategie „Europa 2020“ in den Vordergrund zu stellen, sie durch intelligente und koordinierte öffentliche Investitionen in die soziale und ökologische Infrastruktur zu unterstützen und nicht zuletzt im Rahmen einer Überprüfung der Haushaltsregeln die notwendige Flexibilität zu schaffen. Die derzeitigen Beiträge zur öffentlichen Konsultation zeichnen ein sehr diverses Bild. Sichtbar wird, dass der breit angelegte Zielkatalog nicht Konsens ist, und dass sowohl die Ziele als auch die integrierten Leitlinien zur Diskussion stehen. Dabei sind auch die Europa-2020-Ziele selbstredend keine primär sozialpolitischen Ankündigungen. Sie sind eingebettet in eine Strategie, die auch einem Paradigma der Wettbewerbsfähig- infobrief eu & international Wissen Die Europa2020-Ziele Beschäftigung n7 5 % der 20- bis 64-Jährigen sollen in Arbeit stehen Forschung und Innovation n3 % des BIP der EU sollen für Forschung und Entwicklung aufgewendet werden Klimawandel und nachhaltige Energiewirtschaft nV erringerung der Treibhaus gasemissionen um 20 % gegenüber 1990 nE rhöhung des Anteils erneuer barer Energien auf 20 % nS teigerung der Energieeffizienz um 20 % Bildung nV erringerung der Quote vorzeitiger Schulabgänger auf unter 10 % nS teigerung des Anteils der 30bis 34-Jährigen mit abgeschlossener Hochschulbildung auf mindestens 40 % Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung nD ie Zahl der von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffenen oder bedrohten Menschen soll um mindestens 20 Millionen gesenkt werden keit folgt. Sie wären jedoch – bei ernsthafter Fokussierung durch alle EU-Institutionen – deutlich besser geeignet, Wachstum als Voraussetzung für fair verteilten Wohlstand zu schaffen als die Konsolidierungspolitik der letzten Jahre. Eine Auflösung dieses Zielkatalogs könnte daher bedeuten, dass eine falsche Krisenpolitik nicht nur in der wirtschafts- und haushaltspolitischen Praxis, son» Ausgabe 4 | Oktober 2014 wien.arbeiterkammer.at Europa 2020: Mid-Term-Crisis Mitmachen Öffentliche Konsultation Die Europäische Kommission hat zur Europa-2020-Strategie eine öffentliche Konsultation gestartet. Organisationen und Einzelpersonen sind aufgerufen, ihre Position zur Europa-2020-Strategie abzugeben. Die Möglichkeit, Beiträge zur Konsultation einzureichen, besteht noch bis 31. Oktober 2014 – unter diesem Link können Beiträge in allen Amtssprachen der Europäischen Union eingereicht werden: http://ec.europa.eu/europe2020/public-consultation/form/index_de.htm » dern auch in den strategischen Zielbestimmungen festgeschrieben wird. Nach Abschluss der Überarbeitung ist es schlussendlich der Europäische Rat, der die von der Europäischen Kommission vorgeschlagenen Änderungen und Revisionen der Strategie billigen muss. Dieser hat in den letzten Jahren widersprüchliche Positionierungen zur Europa-2020-Strategie kommuniziert. Während Mitte 2012 die Staats- und Regierungsoberhäupter noch einstimmig ihren festen Entschluss erklärt haben, „die auf nationaler Ebene erforderlichen Sofortmaßnahmen zur Verwirklichung der Ziele der Strategie Europa 2020 zu ergreifen“4 wurde im Juli 2013 5 eine eigene „Strategi- 1) E uropäische Kommission, Europa sche Agenda für die Union in Zeiten des Wandels“ verabschiedet, die fünf Jahre gelten soll. Im gleichen Dokument schlägt der Europäische Rat vor, die Europa-2020-Strategie auf die Strategische Agenda abzustimmen. In dieser Strategischen Agenda ist der „Schaffung von Arbeitsplätzen“ bereits die „Förderung eines Klimas des Unternehmergeists“ vorangestellt. 3) Siehe dazu ausführlicher: Norbert Tem- des Europäischen Rates vom 26./27. pl, EU-Kommission legt ernüchternde Juni 2014, https://www.consilium. tes, nachhaltiges und integratives Bestandsaufnahme vor, infobrief eu & europa.eu/uedocs/cms_data/docs/ Wachstum (2010), http://eur-lex. international 2/2014, 35., http://emedien. europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do arbeiterkammer.at/viewer/file?pi=AC05 ?uri=COM:2010:2020:FIN:DE:PDF 712646_2014_002&file=2014_02.pdf 4) Europäischer Rat, Schlussfolgerun- aufnahme der Strategie Europa 2020 gen des Europäischen Rates vom für intelligentes, nachhaltiges und 28./29. Juni 2012, http://www.con- integratives Wachstum (2014), http:// silium.europa.eu/uedocs/cms_data/ ec.europa.eu/europe2020/pdf/europe2020stocktaking_de.pdf pressdata/de/ec/143498.pdf 6) A K-Positionspapier,Öffentliche Konsultation zur Strategie Europa 2020 (2014) http://www.akeuropa.eu/_includes/mods/ akeu/docs/main_report_de_346.pdf docs/pressdata/de/ec/131398.pdf 5) Europäischer Rat,Schlussfolgerungen infobrief eu & international Widersprüche lösen n Die Bundesarbeitskammer hat sich mit einer umfangreichen Stellungnahme6 an der öffentlichen Konsultation beteiligt und hierbei die Notwendigkeit der Ziele und deren grundsätzlich richtige Ausrichtung gewürdigt. Um den aktuellen politischen Problemlagen in der Europäischen Union Rechnung zu tragen fordert die Arbeiterkammer die Aufnahme von Zielbestimmungen zur Jugendbeschäftigung sowie eine eigene Jugendbeschäftigungsleitlinie. Nicht zuletzt ist es in einem verschärften Verteilungsumfeld notwendig, die Ziele um Verteilungsparameter zu ergänzen, ohne dabei die gesamte Zielausrichtung infrage zu stellen. So ist beispielsweise die Erhöhung der Beschäf» 2020 – eine Strategie für intelligen- 2) E uropäische Kommission, Bestands- 14 Sollte die Europa2020-Strategie noch einmal eine Chance bekommen, müssen mehrere zentrale Widersprüche gelöst werden. Die Strategie wird also einer Gesamtuntersuchung und –überarbeitung mit offenem Ausgang unterzogen und befindet sich in einer tiefen Krise. Die möglichen Handlungsoptionen lassen ein breites Spektrum offen, an dessen Enden zwei gegensätzliche Möglichkeiten stehen: Die Strategie aufzugeben oder sie aufzuwerten. Um einen wirtschaftspolitischen Kurswechsel denkbar zu machen, erscheint es allerdings falsch, die Ziele von Europa-2020 abzuschwächen, vielmehr wäre es notwendig die Ziele in den Vordergrund zu stellen und die haushaltspolitischen Regeln an ihnen auszurichten. Ausgabe 4 | Oktober 2014 wien.arbeiterkammer.at Europa 2020: Mid-Term-Crisis » tigung in engem Zusammenhang mit der Qualität der Beschäftigung und der Entlohnung von Beschäftigung zu sehen, die Frage der Energiewende mit ihrer Finanzierung. In beiden Fällen wird dies zwar in den integrierten Leitlinien hintergründig, nicht aber in den Zielbestimmungen angesprochen. Instrumente zur Erreichung der Ziele könnten eine verstärkte Förderung der Binnennachfrage durch eine an der Produktivität und Inflation orientierten Lohnpolitik und die steuerliche Entlastung von kleinen und mittleren Arbeitseinkommen bei gleichzeitigen koordinierten Anstrengungen zur Besteuerung von Körperschaften, Finanzindustrie und großen Vermögen sowie die massive Ausweitung von öffentlichen Investitionen in die soziale und ökologische Infrastruktur sein. Für diese Maßnahmen braucht es aber eine Abkehr von der ausgabenorientierten Konsolidierungspolitik der Economic Governance. Zumindest sollten Investitionen in bestimmte Zukunfts- Widersprüche innerhalb der integrierten Leitlinien sollten beseitigt werden, in dem hier verstärkt Optionen der wachstumsfreundlichen einnahmeseitigen Konsolidierung und der Stärkung der Binnennachfrage aufgezeigt werden. bereiche aus der Defizitberechnung ausgenommen werden. Sollte die Europa-2020-Strategie noch einmal eine Chance bekommen, müssen mehrere zentrale Widersprüche gelöst werden: 1. müssen sich der Europäische Rat und die Europäische Kommission zu den Zielen der Europa-2020-Strategie bekennen und diese vernünftig stärken und erweitern, anstatt sie abzuschwächen oder mit anderen strategischen Zielsetzungen in Konkurrenz zu bringen. 2. müssen sich die Mitgliedstaaten auf ausreichende nationale Ziele einigen. Derzeit ist eine widersprüchliche Planungslücke zwischen den kumulierten nationalen Zielen und den EU-weiten Zielen zu erkennen. 3. sollten Widersprüche innerhalb der integrierten Leitlinien beseitigt werden, in dem hier verstärkt Optionen der wachstumsfreundlichen einnahmeseitigen Konsolidierung und der Stärkung der Binnennachfrage aufgezeigt werden. 4. m üssen die Ziele in einen wirtschafts- und haushaltspolitischen Rahmen eingebettet werden, der die Erreichung der Ziele fördert und nicht konterkariert. Dies hieße nichts anderes, als die Strategie ernst zu nehmen und bestehende haushaltspolitische Regeln in ihren Grundfesten zu überdenken. Michael Heiling n AK Wien [email protected] Veranstaltungsankündigung Neue Strategien für Wachstum und Beschäftigung Ist Europa noch zu retten? Im siebten Jahr der Krise ist die EU alles andere als auf Kurs. Investitionen stagnieren, die Arbeitslosigkeit in Europa ist höher und mehr Menschen sind von Armut betroffen als noch 2010. Bis Weihnachten will die neue Europäische Kommission ein 300-Mrd-Euroschweres Investitionspaket vorlegen. Die Struktur der Wirtschafts- und Währungsunion wird evaluiert und der Europäische Rat hat sich eine eigene strategische Agenda gegeben. Was bedeutet die Bestandsaufnahme der Europäischen Kommission für die 15 Europa-2020-Strategie? Mit welchen Maßnahmen sind die Ziele noch zu erreichen? Wie ist das angekündigte Investitionsprogramm zu beurteilen? Wie verhält sich die Europa-2020-Strategie zur aktuellen Wirtschaftspolitik der Europäischen Union? Wie muss eine Strategie im Interesse der ArbeitnehmerInnen aussehen? infobrief eu & international Donnerstag, 20. November, 9:30 bis 14 Uhr AK Bildungszentrum, Großer Saal Theresianumgasse 16–18 1040 Wien Wir ersuchen um Anmeldung bis spätestens 13. November [email protected] Dazu diskutieren in einer gemeinsamen Veranstaltung von ÖGB und AK u. a.: Karl Aiginger (Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung), Andrew Watt (Institut für Makroökonomie und Konjunkturanalyse), sowie Evelyn Regner (Abgeordnete zum EU-Parlament) Ausgabe 4 | Oktober 2014 wien.arbeiterkammer.at Krise in Spanien Krise in Spanien Die Rechte von Beschäftigten und Gewerkschaften werden dem Lohnkostenwettbewerb geopfert1 In der Eurokrise wurden die industriellen Beziehungen in Spanien grundlegend restruktu riert. Während die spanische Regierung die Rechte von Lohnabhängigen und Gewerkschaften einschränkte, kam es zu einer deutlichen Ausweitung der Handlungsmöglichkeiten der Unternehmen. Auch bisher relativ sichere Beschäftigungsverhältnisse wurden prekarisiert. Stichwortgeber der Politik waren neben Kapitalverbänden auch europäische Institutionen. Tobias Haas und Nikolai Huke Mit dem Ziel, die Wettbewerbsfähigkeit der spanischen Unternehmen zu verbessern, strukturierten die spanischen Regierungen der sozialdemokratischen PSOE und der ab November 2011 regierenden rechtskonservativen PP das Arbeitsmarktregime ebenso grundlegend um wie das Tarif- bzw. Kollektivvertragssystem. Die strategische Ausrichtung der Politik von PSOE und PP unterschied sich dabei kaum, beide Regierungen zielten darauf, die Position der spanischen Unternehmen im globalen Lohnkostenwettbewerb über Mechanismen der Lohnzurückhaltung, eine Beschränkung von ArbeitnehmerInnenrechten und die Stärkung von Unternehmen auf Kosten der Gewerkschaften zu verbessern. Impulsgeber waren Kapitalverbände sowie kapitalnahe Institutionen bzw. Staatsapparate in Spanien (z.B. der Dachverband der ArbeitgeberInnen CEOE oder die spanische Zen- Stichwortgeber der spanischen Regierungen waren Kapitalverbän de sowie kapitalnahe Staatsapparate. Die Politik in der Krise ist durch die Abwesenheit eines sozialen Konsen ses gekennzeichnet. 16 tralbank) und auf europäischer und transnationaler Ebene (z.B. Ratingagenturen, Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen [DG ECFIN] der Europäischen Kommission, IWF, OECD, deutsche Bundesregierung).2 Bezüglich der Art und Weise der Politik lassen sich gleichzeitig relevante Unterschiede identifizieren. Die Zentralregierung der PSOE setzte auf eine Aushandlung der Politik im sozialen Dialog mit ArbeitgeberInnenverbänden und Gewerkschaften und implementierte erst nach dem Scheitern des sozialen Dialogs Notverordnungen. Für die Regierung der PP war hingegen ein unilateraler Stil kennzeichnend, der sich – ebenfalls mit Notverordnungen – auch über bereits zustande gekommene Abkommen der Tarifvertragsparteien hinwegsetzte.3 Geteiltes Merkmal beider Regierungsmethoden ist die „totale Abwesenheit eines sozialen Konsens“.4 Weniger Kündigungsschutz n Kernelement der Arbeitsmarktreformen in Spanien ist eine Einschränkung des Kündigungsschutzes. Während die von den ArbeitgeberInnen zu leistenden Entschädigungszahlungen im Falle ungerechtfertigter Entlassungen reduziert wurden, kam es zu einer Ausweitung der Möglich- infobrief eu & international keiten, Lohnabhängigen aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten des Unternehmens oder krankheitsbedingter Fehlzeiten zu kündigen. Bis zur Krise waren von den ArbeitgeberInnen bei einer ungerechtfertigten Kündigung an die betroffenen Beschäftigten 45 Tagessätze pro gearbeitetem Jahr, aber maximal 42 Monatsgehälter zu zahlen. Die PSOE öffnete demgegenüber im Sommer 2010 die Möglichkeiten für Unternehmen, Lohnabhängige statt mit einem regulären Vertrag mit dem „Vertrag zur Förderung unbefristeter Beschäftigung“ zu beschäftigen, indem sie dessen Anwendungsbereich so weit ausdehnte, dass kaum noch Arbeitsverhältnisse ausgenommen blieben. Der zentrale Unterschied zwischen beiden Verträgen liegt im Kündigungsschutz: Im Rahmen von Verträgen zur Förderung unbefristeter Beschäftigung werden bei ungerechtfertigten Entlassungen lediglich 33 Tagessätze mit einem Maximum von 24 Monatsgehältern fällig, eine Regelung, die die PP 2012 auf alle Verträge ausweitete. Gleichzeitig wurden die Möglichkeiten ‚objektiv‘ gerechtfertigter kollektiver Entlassungen, bei denen lediglich 20 Tagessätze mit einem Maximum von 12 Monatsgehäl» Ausgabe 4 | Oktober 2014 wien.arbeiterkammer.at Krise in Spanien » tern zu zahlen sind, ausgeweitet. Bereits die Reform der PSOE 2010 legte ein sehr weites Kriterium fest: Als gerechtfertigt galten die Entlassungen dann, wenn sie dazu dienten, die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens zu erhalten bzw. zu erhöhen, wobei die Beurteilung auf Basis der gegenwärtigen Situation des Unternehmens getroffen wurde und die Notwendigkeit vom Unternehmen zu belegen war. Die Arbeitsmarktreform der PP 2012 bezog demgegenüber Verlusterwartungen des Unternehmens ein. Die konservative Regierung strich die Beweispflicht für Unternehmen und etablierte den Rückgang der Einkünfte oder der Verkäufe in drei aufeinanderfolgenden Trimestern als objektiven Grund für betriebsbedingte Kündigungen. Während zuvor – sofern keine Einigung zwischen Beschäftigten und Unternehmen stattfand – die Rechtmäßigkeit der betriebsbedingten Kündigungen routinemäßig juristisch geprüft wurde, sieht die Reform der PP nur noch eine Überwachung des Konsultationsprozesses vor. Die Entscheidungsmöglichkeit über die Notwendigkeit der Entlassungen wird hingegen den ArbeitgeberInnen überantwortet.5 Darüber hinaus wurden auch Kündigungen im Falle häufiger – etwa krankheitsbedingter – Abwesenheit vom Arbeitsplatz erleichtert. Während bis 2010 für eine Entlassung eine Abwesenheitsquote aller Beschäftigten im gesamten Betrieb von 5 Prozent im gleichen Zeitraum Voraussetzung war, etablierte die PSOEReform eine Quote von 2,5 Prozent. Mit der Reform der PP entfiel die Voraussetzung der Abwesenheitsquote des Gesamtbetriebs ganz. Betroffen Ob betriebsbedingte Kündigungen angemessen sind, entscheiden künftig die ArbeitgeberInnen. 17 sind insbesondere Lohnabhängige, die an mit häufigen kürzeren Fehlzeiten verbundenen Krankheiten leiden, da für Langzeitkranke Ausnahmeregelungen gelten. Flexibilisierte Arbeitsverhältnisse n Ein zweites zentrales Element der Reformen war die Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen durch die Ausweitung der Möglichkeiten regionaler und funktionaler Versetzungen sowie der Veränderung von Arbeitsverträgen. Bereits 2010 wurde die Möglichkeit einer substantiellen Veränderung der individuellen Arbeitsbedingungen von Beschäftigten bei ökonomischen Schwierigkeiten des Unternehmens auf Arbeitszeiten ausgeweitet. Darüber hinaus wurde die Definition ökonomischer Schwierigkeiten verbreitert. Mit der Arbeitsreform der PP wurde zudem eine Veränderung der Lohnhöhe ermöglicht, wodurch Lohnkürzungen und ein Unterlaufen des Tarifvertrags für einzelne Beschäftigte, oder in kleinen Betrieben sogar für die gesamte Belegschaft, erleichtert werden. Die im Gesetz verankerte Definition ökonomischer Schwierigkeiten ist so breit angelegt, dass eine juristische Kontrolle kaum möglich ist.6 Die Möglichkeit einer räumlichen Versetzung von Beschäftigten wurde von der PP ebenfalls erleichtert. Fortan müssen lediglich Gründe der Wettbewerbsfähigkeit, Produktivität, Organisation der Technik oder der Arbeit im Unternehmen vorliegen, heißt es im entsprechenden Gesetz. Darüber hinaus vereinfachte es die konservative Regierung den ArbeitgeberInnen, Arbeitsverträge temporär auszusetzen. Ebenso wie bei den betriebsbedingten Kündigungen ist hierfür seit 2012 keine gerichtliche Prüfung der Rechtsmäßigkeit mehr notwendig, sondern lediglich eine Konsultation der Vertretung der Beschäftigten. De facto werden damit infobrief eu & international Zuvor für Situationen ökonomischer Schwie rigkeiten vorgesehene Flexibilisierungsmög lichkeiten wurden durch die Reformen zu einer alltäglich im Unter nehmen einsetzbaren Handlungsroutine. zuvor für Situationen ökonomischer Schwierigkeiten vorgesehene Flexibilisierungsmöglichkeiten für Unternehmen zu einer alltäglich einsetzbaren Handlungsroutine.7 2011 verpflichtete die PSOE die Tarifvertragsparteien in den Tarifverträgen einen Prozentsatz der Arbeitszeit festzulegen, der vom Unternehmer flexibel über das Jahr verteilt werden kann. Falls tarifvertraglich nicht anders vereinbart, liegt der Satz bei fünf Prozent der Arbeitszeit. Die PP entkoppelte 2012 die irreguläre Verteilung der Arbeitszeit von Tarifvereinbarungen und ermöglichte es den ArbeitgeberInnen, sofern nicht betrieblich oder tarifvertraglich anders geregelt, zehn Prozent der Arbeitszeit flexibel über das Jahr zu verteilen. Schließlich wurde atypische Beschäftigung erleichtert, etwa indem Handlungsspielräume von Zeitarbeitsfirmen ausgeweitet und Überstunden für Teilzeitbeschäftigte legalisiert wurden. Verbetrieblichte Tarifverhandlungen n Die Verbetrieblichung von Tarifverhandlungen ist ein drittes Element der Reformen. Durch eine Tarifvertragsreform etablierte die PSOE 2011, dass – sofern nicht spanienweit oder regional anders tarifvertraglich vereinbart – auf betrieblicher Ebene vereinbarte Regelungen Vorrang vor sektoralen, regionalen oder anderen Flächentarifverträgen erhalten. Bis dato war Spanien von einer hohen Abdeckung durch überbetriebliche Tarifverträge gekennzeichnet, da für Tarifverträge eine Allgemeinverbindlichkeitsklausel galt, durch die sie automatisch » Ausgabe 4 | Oktober 2014 wien.arbeiterkammer.at Krise in Spanien » für alle Unternehmen des entsprechenden Sektors bzw. der entsprechenden Maßstabsebene galten. Unter dem Druck der im November 2011 an die Regierung gewählten rechtskonservativen PP sprachen sich auch die spanischen Mehrheitsgewerkschaften CC.OO. und UGT im Februar 2012 dafür aus, dass sektorale oder regionale Flächentarifverträge zwar einen Rahmen vorgeben, konkrete Regelungen jedoch zunehmend im Unternehmen ausgehandelt werden sollen. Der vorauseilende Gehorsam der Gewerkschaften zeigte jedoch keine Wirkung. In ihrer Arbeitsmarktreform etablierte die PP einen grundsätzlichen Anwendungsvorrang betrieblicher Tarifverträge gegenüber Flächentarifverträgen. Unmittelbare Folge war eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse zwischen ArbeitgeberInnen und Lohnabhängigen zugunsten ersterer, wodurch Tarifverträge erleichtert wurden, die real ein Diktat der ArbeitgeberInnen darstellen und der Individualisierung und Verschlechterung von (zuvor tarifvertraglich abgesicherten) Arbeitsbedingungen Vorschub geleistet wurde.8 Empirisch sichtbar wurde die Verschiebung unter anderem daran, dass bereits in den Vorjahren Lohnsteigerungen in Unternehmenstarifverträgen durchschnittlich signifikant unterhalb der Lohnsteigerungen in Die Verbetrieblichung der Tarifverhandlungen erleichtert Tarifverträ ge, die real ein Diktat der ArbeitgeberInnen darstellen. Flächentarifverträgen lagen.9 Eine Tendenz zur massenhaften Flucht aus den Flächentarifverträgen lässt sich dennoch bisher kaum feststellen. Zurückgeführt werden kann das unter anderem darauf, dass für einen Haustarifvertrag eine Belegschaft 18 Voraussetzung ist, die bereit ist zu verhandeln und Zugeständnisse zu machen. Darüber hinaus ist damit für ArbeitgeberInnen potentiell die Gefahr einer höheren Konfliktivität im Betrieb verbunden.10 Auslaufende Tarifverträge n Viertens wurde die Nachwirkungsfrist von Tarifverträgen eingeschränkt – zuvor galten Tarifverträge auch nach Ablauf ihrer Geltungsdauer weiter, bis ein neuer Tarifvertrag ausgehandelt wurde. Die Tarifvertragsreform der PSOE ermöglichte es seit 2011 den Tarifvertragsparteien auch einzelne Teile eines ausgelaufenen Tarifvertrags zu verändern. Darüber hinaus beauftragte sie die Tarifvertragsparteien, sich in Rahmentarifverträgen auf ein – bindendes oder nicht-bindendes – Schlichtungsverfahren für Tarifverträge zu einigen, bei denen eine Neuaushandlung scheitert. Falls keine Einigung über das Verfahren zustande kommt, wird ein bindendes Schlichtungsverfahren festgelegt. Die PP beschränkte die Nachwirkungsfrist von Tarifverträgen – falls kein neuer Tarifvertrag ausgehandelt wird und sofern nicht von den Tarifparteien anders vereinbart – auf zwei Jahre und reduzierte sie anschließend auf ein Jahr. Übergeordnete Tarifverträge gelten zwar – sofern sie existieren – weiter, diese enthalten jedoch nicht selten nur wenig präzise und unzureichende Regulierungen.11 Falls kein übergeordneter Tarifvertrag vorhanden ist, entstehen mit dem Auslaufen tarifvertragsfreie Zonen, in denen nur die rechtlichen Minimalstandards gelten.12 In der Folge sank das Interesse der ArbeitgeberInnenverbände an einer Neuaushandlung von Tarifverträgen, zahlreiche Tarifverhandlungen gerieten ins Stocken.13 Gleichzeitig wurden in Tarifeinigungen nicht selten längere Nachwirkungsfristen verankert als gesetzlich vorgesehen.14 Lohnzurückhaltung n Ein fünftes Element der Arbeitsmarkt- und Tarifvertragsreformen ist das Ziel der infobrief eu & international Lohnzurückhaltung. Gewerkschaften und Unternehmen legten bereits 2010 im sozialen Dialog moderate Lohnleitlinien fest, die 2012 noch weiter reduziert wurden. Für Unternehmen in ökonomischen Schwie- Das Auslaufen von Tarifverträgen hat zur Folge, dass nur noch rechtliche Minimalstandards gelten. rigkeiten sah ihr Abkommen die Möglichkeit vor, Lohnsteigerungen auszusetzen. Die PSOE vereinfachte gleichzeitig die Möglichkeit einer betrieblichen Nicht-Anwendung von Tarifverträgen – und damit auch einer Aussetzung von Lohnsteigerungen. Während diese zuvor nur bei ökonomischen Schwierigkeiten vorgesehen waren und sofern nicht anders von übergeordneten Tarifverträgen geregelt, können diese nun grundsätzlich einvernehmlich von Lohnabhängigen und Unternehmen beschlossen werden, wenn die „ökonomische Situation oder die ökonomischen Perspektiven des Unternehmens von einer Anwendung des Tarifvertrags negativ betroffen sind und dadurch der Erhalt von Arbeitsplätzen gefährdet wird“. Andauern durften die Ausnahmen laut der Tarifvertragsreform der PSOE für die Geltungszeit des Tarifvertrags, maximal jedoch für drei Jahre. Anders als zuvor müssen die Konfliktparteien, wenn eine Einigung scheitert, Schlichtungsverfahren in Anspruch nehmen, sofern diese zur Verfügung stehen. Darüber hinaus wurden die Tarifvertragsparteien aufgefordert, entsprechende Schlichtungsverfahren einzurichten.15 Die PP weitete 2012 die maximale Geltungszeit bis zur Vereinbarung eines neuen Tarifvertrags aus und etablierte ein bindendes Verfahren vor der Comisión Nacional de Convenios Colectivos als letztinstanzliche Klagemöglichkeit – ein „direktes Attentat“16 auf die Tarifautonomie. » Ausgabe 4 | Oktober 2014 wien.arbeiterkammer.at Krise in Spanien » Darüber hinaus beschränkte sie die Begründungsmöglichkeit für eine Nicht-Anwendung von Tarifverträgen nicht länger auf ökonomische Ursachen, sondern bezog technische, organisatorische und produktionsbedingte Ursachen ein. Wie schon beim Kündigungsschutz etablierte die PP einen Rückgang der Umsätze in drei aufeinanderfolgenden Trimestern als objektiven Grund für das Vorliegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten. Durch die Reformen können von Unterneh men nicht nur Flächentarifverträge, sondern auch geltende Haustarifverträge ausgesetzt werden und damit Tarifverträge umgangen werden, die von ihnen zuvor selbst ausgehandelt wurden. Schließlich ermöglicht sie es, nicht nur Flächentarifverträge sondern auch geltende Haustarifverträge auszusetzen und erlaubte damit den Unternehmen Tarifverträge zu brechen bzw. zu umgehen, die sie selbst ausgehandelt haben.17 Folge der Politik 1) D er vorliegende Artikel enthält Auszüge des Beitrags „Spanien - ‘Sie wollen mit allem der Lohnmoderation waren sinkende Reallöhne, eine Tendenz, die auch in den seit 2012 neu ausgehandelten Tarifverträgen sichtbar wird.18 Sechstens entlasten die Reformen die ArbeitgeberInnen finanziell. Exemplarisch übernimmt seit 2010 der staatliche Fondo de Garantía Salarial (FOGASA) bei betriebsbedingten Kündigungen und Auflösungen eines unbefristeten Arbeitsvertrags die Zahlung von acht Tagessätzen der Abfindung. 2012 wurden kleine und mittelständische Unternehmen bei der Neueinstellung von bestimmten Gruppen von Lohnabhängigen von Teilbeiträgen zur Sozialversicherung befreit, in einigen Fällen erhalten die Unternehmen darüber hinaus Steuererleichterungen. Vom Dialog zur Konfrontation n Während die spanischen Mehrheitsgewerkschaften CC.OO. und UGT – trotz eines Generalstreiks im September 2010 – unter der Regierung der PSOE vor allem auf institutionelle Einflussnahme (etwa im Rahmen des zunehmend rein symbolischen tripartistischen sozialen Dialogs) setzten, kam es unter der Regierung der PP zu einer konfrontationsorientierteren Strategie. Die Konfrontation wurde 4) Pérez Infante, a.A.o., Übers. d. Verf. 5) Carrascosa Bermejo, Dolores, »El despi- nicht zuletzt von der PP strategisch herbeigeführt: Kurz nachdem die Mehrheitsgewerkschaften im Januar 2012 im sozialen Dialog mit den ArbeitgeberInnenverbänden weitreichende Zugeständnisse in Bezug auf die Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen und Tarifverträgen gemacht hatten, verabschiedete die PP eine Arbeitsmarktreform, die die getroffenen Kompromisse ignorierte. Auf die Konsultation der Gewerkschaften wurde im Gesetzgebungsverfahren weitgehend verzichtet. Folge waren kontinuierliche Massenmobilisierungen der Gewerkschaften, Generalstreiks im März und November 2012, aber auch selbstorganisierte Proteste von Beschäftigten, etwa spontane Straßenblockaden. Verschobene Kräfteverhältnisse n Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich durch die Reformen in der Krise die industriellen Beziehungen in Spanien grundsätzlich » 10) M erino Segovia, Amparo, »Cambios en la estructura negocial: ¿descentrali- Schluss machen‘“, der 2015 in einem von do individual tras las reformas de 2012 zación o desactivación de la negocia- Hans-Jürgen Bieling und Daniel Buhr im (Real Decreto-Ley 3/2012, Ley 3/2012 y ción colectiva?«, in: Lan Harremanak, Campus-Verlag herausgegebenen Sam- Real Decreto-Ley 20/2012)«, in: icade, melband zu Transformationen von Wohl- H. 88 (2013), S. 169–200. S. 177-178. fahrtsstaat und industriellen Beziehungen 6) Sáez Lara, Carmen, »Medidas de flexi- H. 27 (2012), S. 35–56. S. 49. 11) A lfonso Mellado, a.A.o., S. 69 12) G onzález Ortega, Santiago, »La negoci- in der Eurokrise erscheint Europäische bilidad interna«, in: TEMAS LABORA- ación colectiva en el real decreto-ley de Welten in der Krise. Arbeitsbeziehungen LES, H. 115 (2012), S. 221–248. medidas urgentes para la reforma del und Wohlfahrtsstaaten im Vergleich. 2) P érez Infante, José Ignacio, Crisis, re- 7) Sáez Lara, a.A.o., S. 239 8) Alfonso Mellado, Carlos L., »La reforma de mercado laboral«, in: Temas Laborales, H. 115 (2012), S. 85–134. S. 134. formas laborales y devaluación salarial, la negociación colectiva en la Ley 3/2012«, 13) A lfonso Mellado, a.A.o., S. 68 14.04.2014, http://www.uam.es, S. 3 in: Revista Internacional de Organiza- 14) M erino Segovia, a.A.o., S. 53 ciones, H. 8 (2012), S. 63–86. S. 74. 15) G onzález Ortega, a.A.o. 3) R odríguez-Piñero Royo, Miguel, »El II acuerdo para el empleo y la negociaci- 9) Seminari d'Economia Crítica TAIFA, La 16) e bd., S. 114, Übers. d. Verf. ón colectiva«, in: TEMAS LABORALES, crisis en el estado español, 03.11.2011, 17) G onzález Ortega, a.A.o., S. 116 H. 115 (2012), S. 55–84. S. 69. http://informes.seminaritaifa.org, S. 48 18) P érez Infante, a.A.o., S. 19 19 infobrief eu & international Das austeritätspoliti sche Krisenmanagement der EU verschiebt die Kräfteverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit weiter zugunsten des Kapitals. Ausgabe 4 | Oktober 2014 wien.arbeiterkammer.at Krise in Spanien » verändert haben, wodurch sich das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit weiter zugunsten des Kapitals verschiebt. Die spanischen Gewerkschaften und Lohnabhängigen stehen damit auch im Betrieb bzw. auf der Ebene von Tarifauseinandersetzungen grundlegend veränderten politischen Spielregeln gegenüber. Zwar waren Gewerkschaften bisher in der Lage, die Radikalität der Reformen an Stellen, wo dies möglich ist, durch eine relative Kontinuität von Tarifvereinbarungen abzuschwächen. Ob sich diese Strategie dauerhaft aufrechterhalten lässt, ist jedoch angesichts des grundlegenden Charakters der Reformen fraglich. Derzeit ist damit das Projekt „Wettbewerbsfähigkeit“ in Spanien – die Verbesserung der Position der spanischen Unternehmen durch die Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen – durchaus erfolgreich. Während damit für Unternehmen eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation einhergehen kann, wie die vorsichtige Erholung der spanischen Ökonomie 2014 zeigt, nicht aber notwendig einhergehen muss, umfassen die Folgen für die Beschäftigten Prekarisierung, Verarmung, sinkende Löhne und eine steigende Abhängigkeit vom Wohlwollen der ArbeitgeberInnen. Die Reformen der industriellen Beziehungen in Spanien stehen damit exemplarisch für die politischen und sozialen Konsequenzen des – (nicht zuletzt) von Kapitalverbänden und kapitalnahen Staatsapparaten vorangetriebenen – austeritätspolitischen Krisenmanagements der Europäischen Union. Tobias Haas n Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Tübingen [email protected] Nikolai Huke n Promotionsstipenidat der Hans-Böckler-Stiftung [email protected] 20 Wettbewerbspakt 2.0 – Pensionen, Mieten, Arbeitsrecht Wirtschaftspolitische Empfehlungen der EU-Kommission bald durchsetzbar? Anfang Oktober ließ die designierte Kommission die Kat ze aus dem Sack: Sie will dafür sorgen, dass ihre wirtschafts politischen Forderungen durchsetzbar werden. Deregulierung des Mietrechts, Anpassung des Pensionsantrittsalters an die Lebenserwartung und Flexibilisierung der Lohnfindung waren 2014 noch Empfehlungen. Das soll sich nun ändern. Die Instrumente dazu sind Wettbewerbspakte 2.0 und ein eigener Haushalt für die Eurozone, auch wenn es dafür keine Rechtsgrundlage gibt. Auf den kommenden Treffen des Europäischen Rates wird die Grundsatzentscheidung fallen. Lukas Oberndorfer Instrument für Konvergenz und Wettbewerbsfähigkeit, Wettbewerbspakte, Partnerschaften für Wachstum, Beschäftigung und Wettbewerbsfähigkeit – so zahlreich wie die Namen, sind auch die Versuche des Europäischen Rates einen Konsens über verbindliche Verträge für neoliberale Strukturreformen herzustellen. Entsprechende Pläne verfolgt Angela Merkel als organische Intellektuelle eines „Reformbündnisses“ aus Unternehmerverbänden, Finanzindustrie, den nationalen Finanz- und Wirtschaftsministerien, der EU-Kom- Nun geht es dem neoliberalen Reform bündnis darum, auch gegenüber den verbleibenden Länder – z. B. Frank reich, Deutschland, aber auch Österreich – seine Interessen durchsetzen zu können. infobrief eu & international mission, neoliberalen Staatschefs und der EZB bereits seit Anfang des Jahres 2013. Geht es dabei um jene Länder mit Finanzierungsschwierigkeiten auf den Finanzmärkten oder um jene Ökonomien, die übermäßige Handelsbilanzdefizite aufweisen? Nein. Denn für diese sind im Windschatten der Krise längst Instrumente beschlossen worden, welche ihre Wirtschaftspolitik auf die Vorgaben des neoliberalen Reformbündnisses verpflichten. Neoliberales Reformbündnis zielt auf die verbleibenden Länder n Bei den Wettbewerbspakten geht es nun auch um die verbleibenden Länder – z.B. Frankreich, Deutschland, aber auch Österreich. Für alle Euro-Staaten soll ein Hebel geschaffen werden, der – in den Worten der Kommission „politische Hindernisse für die Reform“ überwindet1: In bindenden Verträgen sollen sich die Länder auf „Strukturreformen im Arbeitsmarkt, im » Ausgabe 4 | Oktober 2014 wien.arbeiterkammer.at Wettbewerbspakt 2.0 – Pensionen, Mieten, Arbeitsrecht » Sozial- und Gesundheitssystem und bei Pensionsregeln“ verpflichten.2 Wer zeitgerecht umsetzt, soll dafür einen „finanziellen“ Anreiz erhalten. Nicht über den Sozialmissbrauch der Konzerne durch Steuerflucht, welcher nach Schätzungen der Kommission (!) eine Billion Euro jährlich der öffentlichen Hand entzieht, soll gesprochen werden.3 Nicht über die immer schnellere Verteilung des Reichtums von unten nach oben. Und auch nicht über die finanzmarktgetriebene Entdemokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft. Vielmehr stärken die Wettbewerbspakte jene Akteure, die seit Jahr und Tag „schmerzhafte aber notwendige“ Reformen im Bereich der sozialen Infrastruktur einfordern. Denn wer kann es sich in Zeiten knapper Kassen schon leisten, Geld in Brüssel liegen zu lassen? Doch bisher konnte im Europäischen Rat nicht die notwendige Einstimmigkeit für die Wettbewerbspakte erreicht werden. Zu groß war der Widerstand der unter anderem von Gewerkschaften, der AK und grenzüberschreitenden Bündnissen wie „Europa geht anders“ ausging, zu gering die Durchsetzungsmacht der scheidenden Kommission. Alte Idee, neue Offenheit: Durchsetzbarkeit für Empfehlungen der Kommission n Das soll sich nun ändern. So berichtete das Handelsblatt Anfang Oktober, dass die für die entsprechenden Ressorts vorgeschlagenen Kommissare Moscovici und Dombrovskis „die Regierungen unbedingt dazu bringen“ wollen, „die bislang wenig beachteten wirtschaftspolitischen Empfehlungen der EU künftig einzuhalten.“4 Obwohl damit „eine Idee von Angela Merkel aufgriffen wird, die eigentlich schon als erledigt galt“, ist an den Vorschlägen manches neu: 1. B isher scheute die Kommission davor zurück, explizit festzustel- 21 len, dass ihre länderspezifischen Empfehlungen den Vertragsgegenstand der Pakte darstellen sollen. 2. Z ur Bereitstellung der finanziellen Anreize bei Erfüllung der Wettbewerbspakte soll mittelfristig ein eigenes Budget für die Eurozone eingerichtet werden. Doch was beinhalten die länderspezifischen Empfehlungen eigentlich? Da die Wettbewerbspakte übereinstim- Forderungen, die innerhalb der nationalstaatlichen Demokratien aufgrund der für diese Interessen ungünstigeren Kräfte verhältnisse bisher nicht durchzusetzbar waren. mend in allen bisherigen Vorschlägen zwischen „den Mitgliedstaaten der Eurozone und der Kommission geschlossen werden sollen“, lohnt es sich auszugsweise einen Blick in jene Empfehlungen zu werfen, welche die Kommission 2014 verabschiedet hat, bevor diese vom Rat noch abgeschwächt wurden: Belgien solle etwa die „Reform des Lohnfindungssystems einschließlich der Lohnindexierung [vorantreiben] und erforderlichenfalls für effektive automatische Korrekturen“ sorgen. Bulgarien wird die Absenkung des Mindestlohnes geraten. Frankreich auf das Modell Deutschland verpflichtet: Das Arbeitslosensystem soll so „reformiert“ werden, dass „Anreize zur Wiederaufnahmen einer Beschäftigung“ gestärkt werden. Dafür soll Deutschland erneut vorangehen und Anreize zu einem späteren Rentenantritt setzen. Slowenien und Kroatien werden zu Privatisierungen angehalten und Schweden gar zu einer Deregulierung des Mietrechts, infobrief eu & international um „ein stärker marktorientiertes Mietniveau zu ermöglichen.“ Für Österreich sieht die Kommission eine Koppelung des Pensionsantrittsalters an die Lebenserwartung und ein Vorziehen der Angleichung des Antrittsalter von Frauen und Männern vor.5 Doch geht es bei den Wettbewerbspakten um eine Auseinandersetzung zwischen EU und Nationalstaat? Nein. Vielmehr versuchen nationalstaatliche Akteure des neoliberalen Reformbündnisses, wie die Verbände der Industrie und die Wirtschaftsund Finanzministerien, die europäische Ebene zu nützen, um ihre Interessen durchzusetzen. Forderungen, die innerhalb der nationalstaatlichen Demokratien aufgrund der für diese Interessen ungünstigeren Kräfteverhältnisse bisher nicht durchzusetzbar waren.6 Die Überwindung demokratischer Hindernisse n Dass die zentrale Konfliktachse nicht zwischen „der EU“ und z.B. „Österreich“ verläuft, sondern zwischen Exekutive (auf europäischer und nationaler Ebene) und der repräsentativen Demokratie, wird daran deutlich, wie die Wettbewerbspakte eingerichtet werden sollen. Der neue Kommissionspräsident Jean Claude Juncker lässt uns dazu wissen: „Im ersten Jahr meiner Amtszeit möchte ich legislative und nicht-legislative Initiativen zur Vertiefung unserer Wirtschafts- und Währungsunion auf den Weg bringen. Dazu gehören […] Vorschläge zur Förderung weiterer Strukturreformen, wenn nötig durch zusätzliche Finanzanreize und eine zielgerichtete Fiskalkapazität auf Euroraumebene […].“7 Der Wortlaut lässt vermuten, dass die Wettbewerbspakte durch eine Verordnung eingerichtet werden sollen. Doch die europäischen Verträge sehen ganz offenkundig keine Kompetenz für Wettbewerbspakte und die daran gekoppelte Auszahlung eines finanziellen Anreizes vor. Auch der » Ausgabe 4 | Oktober 2014 wien.arbeiterkammer.at Wettbewerbspakt 2.0 – Pensionen, Mieten, Arbeitsrecht » neue Kommissionpräsident scheint den Weg des autoritären Konstitutionalismus beschreiten zu wollen, der sowohl nationale, als auch das Europäische Parlament durch eine Umgehung des ordentlichen Vertragsänderungsverfahren schwächt.8 werbspakte führt, lässt sich das neoliberale Reformbündnis so leicht herausfordern: Dazu reicht schon eine Stimme, denn der Europäische Rat entscheidet im Konsens. Am Treffen der Staats- und Regierungs chefs reicht schon eine Stimme, denn der Europäische Rat entscheidet im Konsens. Lukas Oberndorfer n AK Wien [email protected] Doch Unehrlichkeit kann man der Kommission nicht vorwerfen. Schließlich spricht sie schon seit fast zwei Jahren klar an, um was es geht: Die Überwindung von politischen Hindernissen. Ob sich die Staats- und Regierungschefs an der neuerlichen Überbrückung der Parlamente, in denen die Lohnabhängigen ihre Interessen noch vergleichsweise einfach durchsetzen können, beteiligen werden, ist allerdings noch offen. Die Grundsatzentscheidung wird wohl auf dem Europäischen Rat am 18. Dezember 2014 fallen. An keiner Stelle des Weges, der letztlich zu einer Verordnung für die Wettbe- 1) M itteilung der Kommission, Konzept zu 6) L ukas Oberndorfer, Vom neuen, über einer echte und vertiefte Wirtschafts- und den autoritären zum progressiven Währungsunion,. KOM(2012) 777, 25. Konstitutionalismus? – Pakt(e) für 2) M argaretha Kopeinig, Wie Merkel Bud- Wettbewerbsfähigkeit und die europä- getsünder in der EU zu Disziplin zwin- ische Demokratie, juridikum 2013, 76; gen will, Kurier v. 22.10.2013. online unter http://bit.ly/156xQso. 3) Manfred Schäfers, EU warnt vor Steueraus- 7) J ean Claude Juncker, Politische Leit- fall von 1 Billion Euro, FAZ v. 6.12.2012. linien für die nächste Europäische 4) E uro-Zone soll eigenen Haushalt bekommen, Handelsblatt v. 5.10.2014. Kommission, 15. Juli 2014, S. 3. 8) L ukas Oberndorfer, Vom neuen, über 5) S iehe dazu die jeweiligen länderspezi- den autoritären zum progressiven fischen Empfehlungen der Kommission Konstitutionalismus? – Pakt(e) für unter http://ec.europa.eu/europe2020/ Wettbewerbsfähigkeit und die europä- making-it-happen/country-specific-recom- ische Demokratie, juridikum 2013, 76; mendations/index_de.htm (10.10.2014) online unter http://bit.ly/156xQso. istockphoto.com/ mattjeacock blog.arbeit-wirtschaft.at leuchtet Hintergründe aus, stößt Debatten an und hält mit Fakten dem Mainstream kritisch gegen. Der A&W Blog bezieht klar Position: Auf Seiten der arbeitenden Menschen. Dazu bringen engagierte Leute aus Wissenschaft, interessierter Öffentlichkeit und ArbeitnehmerInnenvertretung kurze Analysen und klare Argumente auf den Blog. 22 Anklicken: blog.arbeit-wirtschaft.at twitter.com/AundW facebook.com/arbeit.wirtschaft infobrief eu & international Ausgabe 4 | Oktober 2014 wien.arbeiterkammer.at