Leserlichkeit (I): Schrift

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Leserlichkeit (I): Schrift
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Publisher 1 · 2014
TypografieDesign & Praxis
Frutiger
Palatino
Gill
Collis
Futura
Centennial
Quay
Bembo
Vier Beispiele von serifenlosen Schriften. Bei der Gill sind drei Buchstaben
praktisch gleich beschaffen, dafür unterscheiden sich O und 0 stark.
Bei Serifenschriften ist die Differenzierung der Buchstaben durch die Serifen
besser erkennbar. Ein Grund für die irrige Behauptung, Serifenschriften seien
besser leserlich.
Typografie
Leserlichkeit (I): Schrift
In einer Serie wollen wir uns typografisch dem wichtigsten Zweck der Schrift überhaupt,
der Leserlichkeit, nähern. In dieser Ausgabe geht es darum, wie Schrift beschaffen sein
soll, damit sie leserlich ist.
� RALF TURTSCHI Der Begriff Leser-
lichkeit umfasst zwei unterschiedliche
Ansatzpunkte. Zuerst geht es einmal
darum, dass Schriftzeichen (Glyphen)
überhaupt als solche erkannt werden.
In einem weiteren Aspekt wird die
Beziehung der Zeichen untereinander
betrachtet. Stehen die Zeichen so nah
beieinander, dass sie fast verschmelzen? Besteht die Gefahr, dass zwei
Glyphen zu einer einzigen Glyphe
«mutieren»? Wenn zum Beispiel r und
n so beschaffen sind, dass sie beim
Überlesen zu m werden, dann besteht
die Gefahr des optischen Darüberstolperns.
Wenn sich einzelne Glyphen zum
Verwechseln ähnlich sind, entstehen
Augenstolperer oder Unsicherheiten in
der Kommunikation. Die Ziffer 0 sieht
in einigen Schriften fast gleich aus wie
der Buchstabe O. Die Differenzierung
findet über die Breite und die Strichstärke statt. Die Ziffer 1, das kleine und
Der Autor
Ralf Turtschi ist gelernter
Schriftsetzer, Buchautor und
Publizist. Er ist Inhaber von
Agenturtschi, visuelle Kommunikation, in Adliswil und
schreibt im Publisher seit
Jahren praxisbezogene Beiträge zu Themen
rund um Desktop-Publishing. E-Mail:
[email protected]
das grosse i sowie das l haben ebenfalls Verwechslungspotenzial.
Personen mit einer Leseschwäche
werden den Schriftdesignern dankbar
sein, wenn die Glyphen eindeutig und
unverwechselbar gezeichnet sind. In
diesem Sinn sind auch die Buchstaben
q, d, p und b einer näheren Betrachtung wert. Es hat sich wegen der
modernen Werkzeuge in der Schriftgestaltung eine bequeme «Mode» herauskristallisiert, diese vier Zeichen einfach
horizontal und vertikal zu spiegeln –
damit tut man betroffenen Legasthenikern keinen Gefallen.
Die hier besprochene Leserlichkeit
gilt übrigens für Printprodukte gleichermassen wie für das Lesen am
Bildschirm. Das uns antrainierte Lesen
funktioniert ja nicht in einem Erkennen
im Sinn von Buchstabe zu Buchstabe,
das Auge scannt in Augensprüngen,
den so genannten Sakkaden, ganze
Wörter oder Wortgruppen. Für diese
Spalte braucht es für geübte Leser vielleicht zwei bis drei Augensprünge pro
Zeile.
Lesegeschwindigkeit
Es gibt Leserlichkeitsuntersuchungen,
die sind jedoch schon ein, zwei Generationen alt. Dabei geht es nicht um
die eigentliche Erkennbarkeit der
Glyphen, sondern darum, wie schnell
gelesen werden kann. Um das herauszufinden, lässt man Probanden den
gleich formatierten Text unter gleichen äusserlichen Bedingungen lesen
und stoppt die erreichte Buchstabenzahl nach einer gewissen Zeit. So lässt
sich zum Beispiel aufzeigen, ob Schrift
A schneller als Schrift B zu lesen ist.
Selbstverständlich hat man dabei auf
vergleichbare Versuchsanordnungen
bei Schriftgrösse, Zeilenabstand und
Zeilenbreite zu achten.
Der Begriff Leserlichkeit steht
für zwei Funktionen: Zum einen für
die Erkennbarkeit der Zeichen, zum
anderen für die Geschwindigkeit, mit
der zum Beispiel ein Buch gelesen
werden kann. Bei der Erkennbarkeit
sind eher Plakate, Preise, Flyer oder
andere Akzidenzen betroffen, bei der
Lesegeschwindigkeit hingegen geht es
ausschliesslich um den Grundtext in
Zeitungen, Magazinen oder umfangreicheren Office-Dokumenten, mit dem
man sich über längere Zeit beschäftigt.
Die Leserlichkeitsuntersuchungen
früherer Jahre haben gezeigt, dass die
Unterschiede zwischen den einzelnen
Schriften gar nicht so gross sind, wie
zu vermuten wäre. Ich habe darüber
bereits in Publisher 6-10 berichtet. Die
Abweichungen der Lesegeschwindigkeit üblicher Textschriften (Grotesk
und Antiqua) sind nur 1–4% gross.
Auf einer Doppelseite Magazintext
mit etwas Bildanteil sind dies etwa
3–4 Zeilen, die bei besserer Leseschrift
zusätzlich gelesen werden können.
Ich würde es sehr begrüs­
sen, wenn
Fachhochschulen neuere Forschungen
anstellten, die über die Leserlichkeit vor
allem auf dem Bildschirm, auf Tablets
und Handys Auskunft geben. Vielleicht
existieren solche, ich wäre sehr interessiert, davon zu erfahren.
Nebenbemerkung: Texte werden
immer automatisierter aufbereitet, sind
oft deswegen schlechter leserlich. Mit
Bedauern stellt der Typophile fest, dass
im Jahr 2014 die Trennprogramme im
WWW oder in Apps noch nicht angekommen sind.
Auf den Punkt gebracht könnte
man die These aufstellen, dass es
nicht matchentscheidend ist, welchen
Schrifttyp man für den Lesetext verwendet. Dies entspricht jedoch nicht
der typografischen Grundhaltung, alles
zu unternehmen, um die bestmögliche
Leserlichkeit herauszuholen.
Der nicht optimale Schrifttyp,
kombiniert mit nicht optimaler Formatierung, kann durchaus zu einer
Ablehnung des Textes aus typografischer Sicht führen. Und wer bei der
Schriftwahl einen «Fehlgriff» tut, macht
dies vielleicht auch bei anderen typografischen Weichenstellungen, beim
Zeilenabstand oder bei der Gliederung
des Textes. Wir alle kennen wohl das
Unbehagen, wenn Schrift nicht der
eigenen Vorstellung von komfortablem
Lesen entspricht. Haben wir nicht deshalb schon einen Text verweigert? Die
Design & Praxis
Typografie
Publisher 1 · 2014
Palatino (1950): Die beliebte Buchschrift von Hermann Zapf weist die in der
damaligen Zeit typischen breiteren Formen aus, dafür ist der Buchstabenabstand
enger als bei der Collis (unten).
Centennial (1986): Adrian Frutiger gab vor, wie moderne Schriften beschaffen
sein sollten, eher schmal, mit grossen Mittellängen. Der Buchstabenabstand war
allerdings noch nicht für das Lesen auf dem Bildschirme ausgelegt.
Bei zu eng gesetztem Text drohen r und n zu einem m zu verschmelzen. Besonders dann,
wenn ungünstige Faktoren mitspielen, zum Beispiel wie hier simuliert, Passerprobleme.
Collis (1993): Schmal geschnitten, aber der Buchstabenabstand ist grosszügig
gehalten. Was zu besserer Leserlichkeit am Bildschirm führt, wusste Christoph
Noordzij.
Cordale (2008, Dalton Maag). Diese Schrift ist schon klar bildschirminspiriert:
kräftige Serifen und schmale Buchstaben.
Zu grosse Ähnlichkeit der Buchstaben kann bei Leseschwächen zu Problemen führen.
Im Vergleich die Dax (links) mit der Effra. Die vier Buchstaben sind übereinandergelegt.
Die Effra zeigt bei d und p Serifen, q und b haben keine.
typografische Messlatte muss deshalb
hoch angelegt werden.
Zur Beruhigung muss ich allerdings
einwenden, dass heutige Texte schon
gelesen werden können, vielleicht nicht
ganz so optimal. Wenn bei einer Auflage von 50 000 Exemplaren nur 1%
der Leser den Text nicht lesen, sind dies
immerhin 500 Leser. Und wer möchte
heute auf die verzichten?
Guter Lesetext entsteht durch verschiedene Einflussfaktoren, von denen
in diesem Teil nur die Schriftart besprochen wird. Schriftschnitt (condensed,
extended, kursiv), Grösse, Zeilenlänge,
Laufweite, Zeilenabstand, Satzart,
Schriftfarbe, Auszeichnung, Mikrotypografie, Gliederung, Hintergrund sind
weitere Faktoren, die berücksichtigt
werden sollen. Softe Faktoren, auf die
man als Gestalter keinen Einfluss hat,
wie Fitness, Motivation, Licht, Lesehaltung oder Bewegungen (im Zug, im
Auto) spielen natürlich ebenfalls eine
wichtige Rolle.
Leseschriften
Welche Schriften soll man für Lauftext
nun berücksichtigen? Aus typografischer Erfahrung empfehle ich Schriften,
die dem Schriftschnitt Regular oder
Book entsprechen. Man beachte dabei,
dass es eine erhebliche Anzahl Brillenträger gibt, die, ob kurz- oder weitsichtig, Mühe mit der Schrift haben,
vor allem was Grösse und Strichstärke
betrifft. Die Schnitte Semi Light, Light
oder dünner sind zu wenig kontrastreich, diese würde ich erst ab etwa
10 Punkt und grösser empfehlen. Es
spielt keine Rolle, ob man Schriften
mit oder ohne Serifen einsetzt, bei
beiden Kategorien gibt es gute und
schlechte Beispiele. Serifenschriften
haben einen Vorteil: Sie benötigen in
der Regel weniger Zeilenabstand als
serifenlose Schriften und sind deshalb
platzsparender. Es lässt sich mehr in
der Zeitung unterbringen. Oder ein
Buch wird günstiger, weil weniger Seitenumfang entsteht. Solches wird oft
auch durch eine zu enge Laufweite
oder durch Schmalverziehen erreicht
– hinsichtlich Leserlichkeit keine gute
Idee. Es gibt einen klaren Zielkonflikt:
Mehr Buchstaben im Blatt bei gleicher
Textmenge führen zu Verlust an Leserlichkeit. Dabei ist nicht wichtig, was
drin steht, sondern was gelesen wird.
Moderne Schriften erfüllen weitgehend die Anforderungen an die Leserlichkeit, sofern bei der Formatierung
nicht «gepfuscht» wird. Bei Schriften,
die vor den 90er-Jahren herauskamen
und seither nicht weiter angepasst
wurden, ist dies nicht unbedingt der
Fall. Auch nicht bei Schriften, die raubkopiert wurden oder die im Internet
frei zur Verfügung gestellt werden. Da
fehlen meistens OpenType-Features
oder im schlimmsten Fall die bei uns
gebräuchlichen Umlaute.
�
Die Lesequalität kommt natürlich erst dann zur Geltung,
wenn man die Schriften in der Lesegrösse betrachtet. Eine
etwas kräftige Zeichnung, kombiniert mit hohen Mittellängen, lässt die Buchstaben grösser erscheinen. Vergleichen Sie auch die unten stehenden Beispiele, die gleich
viel Platz beanspruchen (ohne Laufweitenkorrektur).
Generis Serif
8,7 pt / ZA 11 pt
Civita Regular
8 pt / ZA 11 pt
Foro
7,4 pt / ZA 11 pt
Frutiger
7,4 pt / ZA 11 pt
Museo Sans
7,6 pt / ZA 11 pt
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