Die Physik und das Jenseits

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Auf einem Religionspädagogischen Forum in Rüsselsheim hielt Professor Dr. Günter Ewald,
Bochum, am 25. März 2004 den Hauptvortrag zum Thema "Die Physik und das Jenseits". Der
Vortrag wird hier mit Genehmigung des Referenten veröffentlicht.
Der Vortrag ist auch erschienen in: Homiletische Monatshefte 12/2004, S. 550-557
Günter Ewald
Die Physik und das Jenseits
Unser Thema steht im Rahmen der Fragestellung „Wofür es sich zu leben lohnt", soll also zur
Suche nach Orientierung beitragen, die unser Leben aus einem Dahintreiben herausholt,
Ziele formuliert, Lebensinhalte präzisiert, die unserem Dasein einen Sinn verleihen. Manchmal
scheint es, dass Kirchen und Religionsunterricht angesichts mangelnden Interesses am
Religiösen die Flucht nach vorn antreten und nur noch über Lebenshilfe reden, die die Kirche
zu bieten hat. Der amerikanische Physiker und Nobelpreisträger Steven Weinberg hat in
seinem Buch „Der Traum von der Einheit des Universums" ein Kapitel der Frage nach Gott
gewidmet. Er begründet darin, warum er sich dem Atheismus zugewandt hat. Weder kann er
als Wissenschaftler etwas mit dem anfangen, was Konservative und christliche Fundamentalisten sagen, noch mit dem, was die Liberalen glauben. Er sagt: „In einer Beziehung
sind die religiösen Liberalen geistig sogar noch weiter von den Wissenschaftlern entfernt als
die Fundamentalisten und andere religiöse Konservative. Genauso wie die Wissenschaftler
werden Ihnen zumindest die Konservativen sagen, dass sie an das, woran sie glauben,
deshalb glauben, weil es wahr sei, und nicht, weil es sie gut oder glücklich macht. Viele
religiöse Liberale sind heute offenbar der Meinung, verschiedene Leute können an
verschiedene, sich gegenseitig ausschließende Dinge glauben, und doch brauchte keiner von
ihnen unrecht zu haben - Hauptsache der Glaube ,bringe ihnen etwas' (...). Oft hört man,
dass die Theologie nicht das Wesentliche an der Religion sei - das Wesentliche sei, dass sie
uns hilft, mit dem Leben zurechtzukommen. Die Existenz und Natur Gottes, die Gnade, die
Sünde, Himmel und Hölle, das alles soll nicht wichtig sein - wirklich merkwürdig! Ich vermute,
dass die Leute die Theologie der Religion, der sie angeblich angehören, deshalb für
unwesentlich erklären, weil sie sich nicht zu dem Eingeständnis durchringen können, dass sie
überhaupt nicht daran glauben."
Das sind harte Worte. Wir sollen fragen, ob die von Weinberg angenommene unglückselige
Alternative konservativ-liberal überhaupt besteht oder ob es eine für Wissenschaftler
nachvollziehbare, wenngleich erst im Glauben als real erfasste Jenseitsbezogenheit gibt, die
zurückstrahlt auf das diesseitige Leben, ihm Dynamik und Perspektive verleiht und so in
einem sehr tiefen und umfassenden Sinn das Leben lohnenswert macht. - Auf diesem
Hintergrund wenden wir uns nun dem Thema „Die Physik und das Jenseits" zu!
Christian Link, ein theologischer Kollege von mir in Bochum, hat einmal die Entgegensetzung
von biblischem Schöpfungsverständnis und einer der biologischen Endlichkeit
preisgegebenen Natur in dem Satz zusammengefasst: „Die Natur verliert ihre Toten, die
Schöpfung nicht." Kann man einem solchen Satz zustimmen?
Die Frage, ob der Tod das letzte Wort über den Menschen hat, ist eine Grundfrage jeder
Religion, nicht nur der christlichen. Es ist die Frage nach dem Jenseits, das hinter der Todesschwelle beginnt und ein auf der Erde gelebtes Leben fortsetzt oder in ein Meer geistigen
Seins einfließen lässt. Ein Muslim, der sich zu einem Selbstmordkommando meldet,
beantwortet die Frage auf eine Weise, ein Buddhist, der auf den Eingang ins Nirwana hin
meditiert, auf eine andere. Im Christentum ist die Jenseitshoffnung über anderthalb
Jahrtausende hinweg fester Bestandteil von Glauben und Lebensausrichtung gewesen, um
dann langsam und immer stärker in Verruf zu geraten - für die innere Entwicklung einer
Weltreligion ein erstaunlicher Prozess. Heute ist der Begriff „das Jenseits" zu einem negativ
besetzten Wort der Vulgärsprache geworden, „ins Jenseits befördern" ein zynischer Ausdruck
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für „Mord". Und ein Menschenbild, das viele Neurobiologen angesichts großer Erfolge in der
Hirnforschung verbreiten, scheint diese Entwicklung zu bestätigen - allerdings nur auf den
ersten Blick.
Wir wollen uns einen zweiten Blick gestatten und kritisch hinterfragen, was Naturwissenschaft, was insbesondere Physik als einem Prototyp exakter Naturwissenschaften, an
Gesamtaussage über Kosmos, Leben und Transzendenz zu sagen hat. Ich betone das Wort
„kritisch". Es geht nicht etwa um eine esoterische Physik, wie sie heutzutage auch angeboten
wird, mit dem Anspruch, aufgrund höherer Erleuchtung die cartesische Wissenschaft durch
eine höhere, ganzheitliche zu ersetzen. Wir wollen auf dem Boden der Physik und der
Naturwissenschaften, wie sie an unseren Universitäten gelehrt werden, die Frage nach
Religion und Jenseits aufrollen.
Allerdings ist auf eine saubere Unterscheidung von physikalischen Sätzen, Hypothesen und
weltanschaulich oder religiös begründeten Aussagen zu achten. Es erscheint daher
angebracht, einige Bemerkungen über den Begriff „Physik" vorauszuschicken. Gelegentlich
wird Physik als die Summe von Naturgesetzen betrachtet, die mathematisch formuliert und
durch Experiment oder Beobachtung bestätig worden sind. Das ist, wie ich meine, eine zu
enge Definition von Physik und wird dem nicht voll gerecht, was Physiker wirklich betreiben.
Physik als Teil der Naturforschung umfasst dreierlei:
1. Die Ausarbeitung mathematischer Formeln zwecks Beschreibung von Naturvorgängen.
Dabei muss man sich vor Augen halten, dass Gesetze nur „Wenn-dann"-Beziehungen
darstellen, Abstraktionen, die für die gleichen Anfangsbedingungen die gleichen Abläufe
vorhersagen. Davon zu unterscheiden ist ein Zweites, mit dem Physik zu tun hat:
2. Anwendung von Naturgesetzen auf faktische Naturabläufe. Physikalische Experimente und
Beobachtungen sind nicht nur Überprüfung von mathematisch formulierten Naturgesetzen.
Sie historisieren vielmehr die Gesetze, sie nehmen die Gesetze in die Einmaligkeit jedes
Naturgeschehens hinein. Jeder Laborversuch ist ebenso ein Stück einmaliger
Naturgeschichte wie eine beobachtete Supernova-Explosion oder das Schlüpfen eines
Kükens aus einem Ei. Ein Naturgesetz kann nur angewandt werden, wenn die
„Anfangsbedingungen", die es voraussetzt, auch erfüllt sind. Zwar kann man die
Anfangsbedingungen oft als Ergebnis anderer gesetzlicher Prozesse verstehen, aber das
befreit sie nicht von der Notwendigkeit, wirklich irgendwo erfüllt zu sein. Dabei ist zu
beachten, dass etwa die Größe der Lichtgeschwindigkeit, der Elektronenladung oder der
Gravitationskonstanten selbst universale Anfangsbedingungen sind, die - mindestens bisher nicht naturgesetzlich abgeleitet werden können, sondern rätselhaft gut in die Anwendung von
Naturgesetzen hineinpassen.
3. Physik ist keine statische Gegebenheit, sondern ein Prozess der Forschung. Die Personen,
die sie betreiben, sind ihrerseits Teil der Naturgeschichte. Die Ideen, die sie entwickeln, sind
oft von scheinbar selbstverständlichen Voraussetzungen geprägt, Paradigmen, wie man sagt.
Neue Erkenntnisse setzen oft den Ausbruch aus Tabus voraus, die unbemerkt in einer
kulturell-geistigen Tradition gewachsen sind. Man kann das am Übergang vom
geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild studieren oder an Einsteins Entdeckung von
Zeitverzerrung und Raumkrümmung. Das soll nicht heißen, dass Physik immer nur relativ zu
bestimmten Paradigmen richtig ist. Wenn ein Durchbruch erzielt ist, lässt er sich rational
weitervermitteln und wird von einem shintoistisch orientierten Japaner ebenso akzeptiert wie
von einem Christen oder Agnostiker. Aber wir wissen nicht, welche Durchbrüche uns noch
bevorstehen. Wenn der augenblickliche Stand der Wissenschaft als letzte Weisheit
ausgegeben wird, als endgültiger Befund dessen, was Natur und Kosmos ausmachen,
bedeutet das Ideologie und nicht mehr Naturwissenschaft.
Trotz aller spektakulären Erfolge, die erreicht wurden, hat die Physik möglicherweise erst an
der Oberfläche alles Wirklichen leicht gekratzt. Der Traum einer alles erklärenden Weltformel,
wie er von Hawking oder Weinberg ausgedrückt wurde, ist irreführend, denn eine solche
Formel, sollte sie gefunden werden, betrifft nur die Bausteine und nicht die Architektur der
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Welt, sie beschreibt einheitlich Grundkräfte und Elementarteilchen, aber nicht Leben, Geist
und Geschichte.
Nach diesen methodischen Vorbemerkungen will ich nun zur Sache selbst kommen und eine
These aufstellen, die ich dann begründen möchte. Die These besagt in Kurzform, dass die
eingangs genannte Aussage meines theologischen Kollegen „Die Natur verliert ihre Toten, die
Schöpfung nicht", bereits in ihrem ersten Teil angezweifelt werden kann. Verliert die Natur
wirklich ihre Toten? Die Antwort ist nicht so selbstverständlich, wie sie erscheinen mag. Denn
zunächst muss einmal geklärt werden, was „Natur" bedeutet. Der Begriff ist nicht von
vorneherein festgelegt und starken Wandlungen unterworfen. Versteht man unter „Natur" den
mit unseren Sinnen erfassbaren Erfahrungsraum, dann endet in der Tat menschliches Leben
mit dem biologischen Tod, geht die lebendige Gestalt des Einzelmenschen „der Natur
verloren". Zwar bleiben Erinnerung und Weiterwirken des Lebenswerkes, vielleicht in Form
musikalischer Schöpfung oder wissenschaftlicher Ergebnisse. Aber diese Wirkungen enden
letztlich, wenn nach einigen Milliarden Jahren die Sonne zu einem „roten Riesen" wird und
die Erde in ihr verglüht. (Von einer Auswanderung in Weltrauminseln will ich hier nicht reden;
sie würde den Prozess nur hinausschieben).
Ich behaupte aber: Ein erweitertes Naturverständnis, in dem jedes Individuum fortbesteht, ist
im Rahmen naturwissenschaftlichen Denkens möglich und sinnvoll. Es gibt Anzeichen dafür,
dass ein erweiterter Kosmosbegriff als methodisches Instrument für die Naturwissenschaft von
Belang wird. Ob man dann von einer Verjenseitigung des Diesseits oder einer
Verdiesseitigung des Jenseits spricht, ist eine terminologische Frage.
Meine Behauptung beinhaltet nicht die Erwartung, dass sich die Sphäre des Religiösen in
Physik auflösen wird. Sie rückt lediglich einige Aspekte des Religiösen dichter an unser
rational-wissenschaftliches Naturverständnis heran. Natur und „Schöpfung" im theologischen
Sinn überlappen sich möglicherweise mehr als es unser bisheriges Denken nahe legt.
Ich möchte meine These auf drei Pfeiler gründen. Der erste ist das so genannte „Starke
Anthropische Prinzip". Es wurde 1973 von dem britischen Physiker Brandon Carter wie folgt
formuliert:
„Das Universum muss in seinen Gesetzen und in seinem speziellen Aufbau so beschaffen
sein, dass es irgendwann unweigerlich einen Beobachter hervorbringt."
Mit „Beobachter" ist hier ein intelligentes Wesen gemeint, das über die Natur und den Sinn
allen Naturgeschehens reflektiert. Das braucht nicht ein Mensch (griech. ánthropos) auf der
Erde zu sein. Es kann sich um eine geistbegabte Kreatur auf einem Planeten einer fernen
Galaxie handeln. Es ist ja denkbar, dass es viele, vielleicht Milliarden belebter und bewohnter
Himmelskörper gibt. Insofern ist das starke anthropische Prinzip kein Rückfall hinter
Kopernikus und bedeutet kein geozentrisches Weltbild.
Zunächst fragt das anthropische Prinzip in seiner schwachen Form nach den Bedingungen,
die erfüllt sein müssen, damit im Kosmos Leben überhaupt möglich, wenn auch nicht mit
Notwendigkeit hervorgetreten ist. Bei der Untersuchung dieser Bedingungen ist man auf
erstaunliche Feststellungen gestoßen. Hierzu einige Beispiele:
1. Dass es nachts dunkel wird, ist ein rätselhaftes Phänomen, das die Astronomen schon seit
fast 300 Jahren beschäftigt hat. Aufgrund der Leuchtintensität aller Sterne, auch der mit dem
bloßen Auge nicht sichtbaren, so hat man berechnet, müsste der Nachthimmel hell sein. Eine
Erklärung hat man erst im 20. Jahrhundert gefunden, und zwar mit Hilfe der kosmischen
Expansion. Dass sich unser Weltall als eine Art dreidimensionaler Ballon mit großer
Geschwindigkeit nach dem Slipher-Hubble-Gesetz ausdehnt, ist nicht nur für sich genommen
ein beachtenswertes Phänomen. Ohne dieses Phänomen würden sich alle Planeten auf
mindestens 6000 Grad aufheizen und wäre Leben - nach unserer Kenntnis materieller
Bedingungen - nicht möglich.
Der Expansionsgeschwindigkeit des Kosmos sind dabei sogar enge Grenzen gesetzt. Wäre
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sie eine Sekunde nach dem Urknall nur ein Billionstel geringer gewesen als sie war, dann
hätte sich das Universum schon nach 50 Millionen Jahren wieder zusammengezogen und
wäre kollabiert. Umgekehrt wäre es bei einer zu schnellen Ausdehnung des Weltalls
überhaupt nicht zur Bildung von Galaxien gekommen. Die Expansion würde, so der
Astrophysiker Reinhard Breuer, „die Materie auseinander treiben, so wie ein starker Wind den
Nebel zerstreut, bevor sich Wolken bilden".
2. Ein zweiter Bereich sind die so genannten Feinstrukturkonstanten. Sie geben die Stärken
der Gravitation, der elektromagnetischen Kraft, der schwachen Kernkraft und der starken
Kernkraft an. Sie drücken Anfangsbedingungen aus, nicht Gesetze; sie sind schlechthin in
der Geschichte unseres Kosmos vorgegebene Größen. Das anthropische Prinzip ist
insgesamt eine Vertiefung der Frage, inwiefern Gesetze auf die konkrete kosmische
Geschichte anwendbar sind (Punkt 2 unserer Definition von Physik!), insbesondere auf die
Geschichte alles Lebendigen.
Wären die Werte der Feinstrukturkonstanten geringfügig anders, als sie sind, es gäbe kein
Leben im Kosmos und so keinen ánthropos, der über das Weltgeschehen nachdenkt.
3. Als drittes Beispiel für die Voraussetzungen biologischen Lebens seien die Eigenschaften
des sicherlich exotischsten Stoffes in der Natur genannt, die des Wassers. Dass Wasser bei 4
Grad Celsius seine größte Dichte hat und so das Leben von Fischen unter der Eisdecke
gestattet, dass Wasser Kapillaren bildet, die in Bäumen über Dutzende von Metern
hochsteigen, und vieles andere beruht auf der Tatsache, dass die beiden Wasserstoffatome in
einem Wassermolekül H2O bezüglich des Sauerstoffatoms nicht genau gegenüberliegen,
sondern in einem Winkel von 104,5 Grad. Der Winkel dürfte weder 103 Grad noch 106 Grad
betragen, da dann Wasser nicht mehr die für biologisches Leben notwendigen Eigenschaften
besäße. Wassermoleküle bilden so elektrische Dipole. Sie umgeben Ionen mit „Kränzen" und
ermöglichen so die Auflösung vieler Substanzen in Wasser.
4. Schließlich seien die Existenz und die Quantität der Stoffe genannt, die biologisches Leben
voraussetzt: Sauerstoff, Kohlenstoff, Chlor, Metalle und andere. Dass sie vorhanden sind, ist
Ergebnis einer so genannten kosmischen Evolution: Bei der Zusammenballung kosmischer
Materie bilden sich unter anderem Riesensterne mit mindestens zehnfacher Sonnenmasse.
Infolge der Gravitation ziehen sie sich zusammen und erwärmen sich. Bei etwa 30 Millionen
Grad zündet die erste Kernreaktion und verbrennt Wasserstoff zu Helium - ein Prozess, der in
den irdischen Wasserstoffbomben unrühmlich nachgeahmt wird. Der Stern zieht sich weiter
zusammen, bis in einer zweiten Stufe der Kernfusion Helium zu Kohlenstoff wird. So geht es
weiter: Kohlenstoff verbrennt zu Sauerstoff, dieser zu Silizium und schließlich, bei vier
Millionen Grad, Silizium zu Eisen, Nickel, Kobalt und anderen Metallen. Dann ist der
dramatische Höhepunkt erreicht und es geschieht das, was heute noch gelegentlich
beobachtet wird und Astronomen immer wieder in Aufregung versetzt: Der Stern explodiert
und schleudert seine Materie mit etwa zehntausend Kilometern pro Sekunde in den Weltraum
- eine Supernova-Explosion. Das mit Helium, Sauerstoff, Kohlenstoff und Metallen angereicherte Material bildet zusammen mit dem Ur-Wasserstoff erneut Sterne, und das Spiel
beginnt von neuem. Sozusagen nebenbei entstehen auch kleinere Sonnen wie die unsrige
und Planeten. Jedes Kohlenstoffatom unsres Körpers hat vermutlich 50- bis 200-mal eine
Supernova-Explosion durchlaufen - eine bewegte Geschichte.
Man muss sich vor Augen halten, dass die Rückkoppelungsschleifen, die in den dargelegten
Kreisprozessen entstehen, so gut wie nichts mit den Rückkoppelungsvorgängen in der
biologischen Evolution gemein haben. Kosmische und biologische Evolution sind
grundverschiedene Angelegenheiten. Während in der Biologie das Zusammenspiel von
Mutation, Selektion und Rückkoppelung dazu dient, die Entstehung komplexer Strukturen
aus weniger komplexen zu erklären, stellen die kosmischen Zyklen eine Art RecyclingMechanismus dar, in dem neue Stoffe entstehen und quantitativ vermehrt werden. Dass dabei
genau die richtigen Stoffe in passenden Mengen hervortreten, wie sie Leben benötigt, ist ein
unerklärtes Phänomen kosmischer Geschichte.
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Diese vier Beispiele - schwarzer Nachthimmel, Feinstrukturkonstanten, Eigenschaften des
Wassers und „Materiallager" für biologische Evolution - mögen genügen. Die Liste ließe sich
fortsetzen. Dass man für diese Phänomene keine kausale Erklärung besitzt, sondern sie nur
im finalen Gedanken des Starken Anthropischen Prinzips bündelt, ist natürlich für viele
Physiker ein Ärgernis. Deshalb versucht man ohne anthropisches Prinzip auszukommen. Als
einzige Alternative ist man auf eine andere Art Jenseits gestoßen als diejenige, die
Gegenstand meiner Überlegungen ist. Man denkt sich neben unserem Kosmos viele
Milliarden oder unendlich viele weitere Kosmen, in denen Gesetze und Naturkonstanten
variieren. Dass wir uns „zufällig" in dem Exemplar mit den richtigen Bedingungen für Leben
und Geist befinden, ist kein Wunder: Wir würden sonst nicht darüber reden. - Dieser
Gedanke erinnert an den der Universalbibliothek, der besagt: Jedes Buch, das man schreibt,
steht bereits fertig in der hypothetischen Sammlung aller Buchstabenkombinationen von bis
zu einigen Millionen Buchstaben. Man zieht es sozusagen aus dem Regal möglicher Bücher
heraus. Das ist kein sehr hilfreicher Gedanke.
Was immerhin der Vorstellung paralleler Welten und unsrer Auffassung vom anthropischen
Prinzip gemeinsam ist: Die Belebtheit unseres Universums ist nicht aus unserem Universum
heraus erklärbar. Unser Kosmos weist über sich hinaus. Das Starke Anthropische Prinzip
erscheint mir dabei plausibler, und so möchte ich es als einen der Pfeiler unserer Auffassung
von Natur betrachten.
Bisher haben wir das anthropische Prinzip hauptsächlich an Beispielen aus der Physik
erläutert, wo es auch herkommt. Es gilt aber gleichermaßen für die Biologie. So ist es beachtenswert, dass kürzlich - nach meiner Kenntnis zum ersten Mal - ein namhafter
Evolutionsforscher die Bedeutung des Starken Anthropischen Prinzips für die Biologie zum
Ausdruck gebracht hat, nämlich Simon Conway Morris von der Universität Cambridge
(England). In einem Spiegel-Gespräch von Ende September 2003 sagt er: „Niemand hat
bisher verstanden, wie das Leben begonnen hat. Hunderte Forscher haben sich mit dieser
Frage befasst, darunter lauter Nobelpreisträger - und trotzdem sind sie in den letzten 50
Jahren im Grunde keinen Schritt weitergekommen. Selten ist Wissenschaft gründlicher
gescheitert."
Auf die Rückfrage des Spiegel, ob Morris an Gott glaube, äußert dieser: „Ja, ich selbst bin
von seiner Existenz überzeugt. Aber ich weiß natürlich, dass ich sie nicht werde
wissenschaftlich beweisen können. Ich kann nur sagen: Viele Physiker sind sehr davon
beeindruckt, dass das Universum genauso konstruiert zu sein scheint, dass darin Leben
überhaupt möglich ist. In gleicher Weise bin ich beeindruckt von dem, was ich die Inhärenz
der Natur nenne, also die innere Notwendigkeit, mit der sich alle evolutionäre Entwicklung
vollzieht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es sich dabei um nichts als um einen Unfall
handeln soll."
Verfolgt man den Gedanken des anthropischen Prinzips noch ein Stück weiter, dann spitzt
sich die Frage nach dem Beobachter, dem ánthropos, zu: Nach den Prognosen der
Astrophysik wird das Leben im Universum eines Tages wieder erlöschen. Es mag mit kühner
Weltraumbesiedlung noch einige Milliarden Jahre erhalten bleiben, aber irgendwann zerfallen
alle Organismen zu Staub und brechen auch Planeten und Sterne auseinander. Was aber, so
kann man fragen, soll das Starke Anthropische Prinzip, wenn der mit Notwendigkeit
hervorgebrachte Beobachter nur Episode bleibt, wenn der menschliche oder
menschenähnliche Geist wieder kläglich verschwindet? Bleibt nicht wenigstens ein geistiges
Sein übrig, das nicht dem materiellen Verfall preisgegeben ist? Das würde dem anthropischen
Prinzip eher gerecht als der generelle Tod im stellaren Nichts.
Noch präziser wird die Frage, wenn man die Individualität ins Auge fasst: Es geht nicht um ein
geistiges Sein schlechthin, sondern um das seiner selbst bewusste, unverwechselbare
menschliche Ich, das die Natur im Sinne des Starken Anthropischen Prinzips hervorgebracht
hat. Wie steht es mit der Permanenz, mit der Unauslöschlichkeit dieses individuellen Ichs?
Die biologische Evolution betrifft nicht das Individuum, sondern die Art, die Erhaltung und
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Verbesserung der Gene, die eine Art definieren, vielleicht zu einer neuen, höheren Art führen.
Der Einzelne ist Wegwerfware, Probierobjekt; er ist nichts, die Art ist alles. Man kann fragen,
ob Biologie überhaupt bis in die Kernfragen des menschlichen Geistes hineinreicht. Hierüber
werden gegenwärtig im Zuge einer stürmischen Entwicklung der Hirnforschung heftige
Debatten geführt.
Schon vor einigen Jahrzehnten hat ein Pionier der Hirnforschung, der Nobelpreisträger John
C. Eccles, die These aufgestellt, dass wir die Funktionen des Gehirns nicht ohne die
Annahme eines immateriellen, selbstbewussten Geistes angemessen verstehen können. „Der
selbstbewusste Geist", so sagt er, „ist aktiv damit beschäftigt, aus der Vielzahl aktiver Zentren
auf der höchsten Ebene der Hirnaktivität herauszulesen ... Der selbstbewusste Geist selektiert
aus diesen Zentren gemäß der Aufmerksamkeit und integriert von Augenblick zu Augenblick
seine Wahl, um auch den flüchtigsten Erfahrungen eine Einheit zu verleihen ... So schlagen
wir vor, dass der selbstbewusste Geist eine überlegene interpretierende und kontrollierende
Rolle auf die neuronalen Ereignisse ausübt." Eccles fragt dann: Was geschieht im Tod? Seine
Antwort: „Dann steht die zerebrale Aktivität für immer still. Der selbstbewusste Geist findet
nun, dass das Gehirn, das er abgetastet und so erfolgreich während eines langen Lebens
kontrolliert hat, überhaupt keine Meldung mehr gibt. Was dann geschieht, ist die letzte
Frage."
Mit seiner Auffassung ist Eccles auf heftige Kritik gestoßen. Diese Kritik ist insofern berechtigt,
als Eccles keine begriffliche Grundlage für die Wechselwirkung des materieunabhängigen
Geistes mit dem materiellen Gehirn angegeben hat und so unklar bleibt, ob der von ihm
postulierte „Interaktionismus" eine naturwissenschaftliche Hypothese darstellt. Wir können
jedoch zunächst einmal die Aussage von Eccles auf die Feststellung reduzieren, dass die
Gesamtbedeutung des menschlichen Gehirns für den menschlichen Geist nicht
hirnbiologisch verstehbar ist. Auch wenn sich der menschliche Geist im Gehirn manifestiert,
so ist damit noch nicht gesagt, dass die gesamte Information über Geist durch hirnbiologische
Kategorien erfassbar ist. Das menschliche Ich ist mehr als sein Gehirn. Um das besser zu
verstehen, erscheint es angemessen, zunächst einmal nach Phänomenen zu fragen, die ein
monistisch-materialistisches Geistverständnis in Frage stellen. Solche Phänomene gibt es; sie
bilden den zweiten Pfeiler unseres Verständnisses von Natur und erweitertem Kosmos. Wir
betrachten ein Beispiel, das sich in unsere Überlegungen besonders gut einfügt, so genannte
Nahtoderlebnisse.
Hierbei handelt es sich um Erfahrungen, die meistens, aber nicht nur im komatösen Zustand
auftreten, oft verbunden
mit Herzstillstand, gelegentlich
bei völlig
flachen
EEG-Hirnstromkurven. Die in dieser Zeit erlebten Visionen unterscheiden sich deutlich von
Träumen. Sie ereignen sich nicht in REM-Phasen, zeichnen sich durch besondere Klarheit
aus und werden präzise erinnert. Wenn sie auch im Einzelnen sehr verschieden ablaufen, so
verwenden sie doch bestimmte Grundmuster: Tunnel-Licht-Erlebnisse, euphorische
Glücksgefühle im Licht, Begegnung mit verstorbenen Freunden oder Verwandten, die in der
Regel sagen: „du musst noch einmal zurück", Lebensfilm, in dem zeitrafferartig Szenen des
gelebten Lebens sichtbar werden.
Besonders markant sind so genannte Außer-Körper-Erfahrungen, mit denen viele Nahtoderlebnisse beginnen. Über dem eigenen Körper schwebend beobachtet der oder die
Betroffene sich selbst und seine Umgebung. Das könnte man immer noch als traumartiges
Erlebnis verstehen, gäbe es da nicht einen Stolperstein: In ihrem Schwebezustand nehmen
die Betroffenen gelegentlich Dinge wahr, die sie von unten, vom Bett aus gar nicht sehen
können. Zwar gibt es hierüber zuverlässige Berichte, beispielsweise von blinden Menschen,
die im Außerkörpererlebnis effektiv „gesehen" haben. Um aber das Phänomen
wissenschaftlich greifbar zu machen, läuft gegenwärtig in England ein Großversuch an. Der
Kardiologe Parnia von der Universitätsklinik in Southampton und der Oxforder
Neuropsychiater Fenwick lassen in 25 Krankenhäusern neben den Betten von
komagefährdeten Herzpatienten Säulen aufstellen, auf deren Oberseite Ziffernkombinationen
angebracht sind, die man im Bett liegend oder auf dem Boden stehend nicht einsehen kann,
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wohl aber in dem oft berichteten Schwebezustand unterhalb der Decke. Man will Patienten
mit vorübergehendem Herzstillstand nach Außerkörpererlebnissen befragen und feststellen,
ob sie eine solche Ziffernkombination gesehen und sich gemerkt haben. - Das hört sich
fantastisch an, ist aber real geplant. Die 25 Krankenhäuer haben bereits ihre Zustimmung
gegeben. (Einen Bericht darüber findet man in Spiegel online vom 17. Oktober 2003 unter
dem Titel „Visionen vom Rand des Jenseits").
Auch wenn dieser Versuch gelingt - wovon ich überzeugt bin -, so ist natürlich immer noch
nicht bewiesen, dass sich eine „unsterbliche Seele" vom Körper trennt. Die Verbindung des
außerkörperlichen Ich zum Körper ist ja bestehen geblieben und wir wissen nichts über eine
vollständige Trennung im Tod. Aber das Phänomen kommt sehr nahe an das heran, was
Eccles theoretisch postuliert hat. Vor allem wird deutlich, dass die klassische Neurobiologie
nicht alle Ereignisse im Grenzgebiet von Körper, Geist und Seele aufklären kann - auch wenn
das immer wieder behauptet wird.
Vor einiger Zeit machte eine Ärzte-Gruppe in Genf von sich reden, weil sie in der Lage war,
durch Reizung einer bestimmten Hirnregion, des Gyrus angularis, ein Außerkörpererlebnis
künstlich auszulösen. Das wird oft so dargestellt, als sei damit diese Art von Erlebnissen
vollständig aufgeklärt. Das Gegenteil ist richtig. Es wird nur illustriert, dass etwas im
Menschen biologisch fest verankert ist, was an die Grenzen des Religiösen führt. Die
Hirnreizung ist nicht Ursache des Geschehens, sondern Auslöser. Wenn ich eine Musikanlage
einschalte, verursache ich nicht Musik, sondern öffne eine Musikquelle. Weder die
Schwingungsvorgänge, die mit Musik verbunden sind, noch der Inhalt der Musik sind damit
erklärt. Ob Hirnreizung, Verkehrsunfall, Einnahme der Droge Ketamin oder Tiefenmeditation
ein Nahtoderlebnis auslöst, verrät nichts über das, was ausgelöst wird. Der Betroffene betritt
eine Grenze und spürt in der Regel: Hier geht es weiter, der Tod ist nicht die letzte Schranke.
Nun mag jemand einwenden: Wenn die Neurobiologie einmal quantenphysikalische Methoden zulässt, wird man vielleicht aufklären, was Außer-Körper-Erlebnisse und andere
rätselhafte Phänomene im Grenzfeld von Gehirn und Geist sind. Einstweilen sperren sich
Hirnforscher noch gegen entsprechende Anregungen des englischen Physikers Penrose und
des amerikanischen Neuroforschers Hameroff. Auch Eccles drängte schon in diese Richtung.
Das kann sich aber ändern. Hierzu sei bemerkt: Ich hoffe und wünsche sehr, dass
Quantenphysiker in der Neurophysiologie mehr Gehör finden, erwarte davon aber wieder das
Gegenteil von dem, was sich eine materialistische Denkweise erhofft. Quantentheorie ist nicht
nur eine der erfolgreichsten Sparten, die die Physik je hervorgebracht hat, sie stellt uns auch
vor die größten Rätsel des Verstehens und legt eine offene Weltsicht nahe, in der Gedanken
des Jenseitigen keineswegs fehl am Platze sind. - Das in wenigen Sätzen zu begründen, soll
ein dritter Pfeiler für ein jenseits geöffnetes Naturverständnis sein. Ich ziehe zu diesem Zweck
eine neue, noch in der Entwicklung begriffene Variante der Quantentheorie heran, die so
genannte Superstringtheorie. Sie hat die weiter gehende Eigenschaft, die Quantentheorie mit
der Relativitätstheorie unter einem Dach zu vereinen und damit einen alten Traum Einsteins
zu verwirklichen. Der ältere Einstein war der Theorie bereits auf der Spur. Ihm fehlten aber
noch viele Hilfsmittel, insbesondere mathematische. Diese wurden in den letzten 10-20
Jahren entwickelt. Sie greifen tief in die Schatztruhen der Mathematik hinein und haben viele
von uns Mathematikern angeregt, Zubringerdienste zu leisten. Die Grundgedanken kann man
ganz ohne Mathematik, in der Sprache der Musik erläutern:
Gewöhnlich denkt man sich kleinste physikalische Teilchen mathematisch als Punkte
dargestellt. Das ist eine starke Vereinfachung und Abstraktion, denn Punkte sind
nulldimensional, materielle Teilchen aber dreidimensional. Ersetzt man Punkte durch winzige
eindimensionale Schleifen mit dem Durchmesser 10 hoch minus 33, also etwa einer
Plancklänge, so ist das ebenfalls eine starke Vereinfachung und Abstraktion, aber ebenso
legitim wie diejenige des Punktes. Die Schleifen, dem englischen Sprachgebrauch
entsprechend Strings genannt, kann man sich wie Saiten eines Streichinstrumentes in
Schwingungen versetzt denken. Man hat Grundschwingungen und Oberschwingungen wie in
der Musiktheorie. Als eine Grundschwingung der mit starker Krümmungsspannung
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ausgestatteten Strings nimmt man Gravitonen an, die die Gravitation, die Schwerkraft
begründen. Photonen, die dem Licht zugrunde liegen, sind bereits heftigere
Schwingungszustände der Strings, aber immer noch sanft verglichen mit den FortissimoTönen, die wir Elektronen, Neutronen oder Positronen nennen. Materie ist also so etwas wie
Musik, gespielt auf den abstrakt gedachten Strings, die ja nicht ihrerseits materiell sein
können, denn mit ihrer Hilfe soll erst Materie definiert werden. Sie sind Strukturen in
mathematischen „Feldern". Dabei denkt man sich die Schwingungen nicht nur im
dreidimensionalen Raum vollzogen, sondern in einem um sechs Raumdimensionen
erweiterten, also neundimensionalen Raum. Die sechs Zusatzdimensionen sind so winzig
ausgebildet, „eingerollt", wie man sagt, dass unsere Sinne sie nicht wahrnehmen können.
Der Zusammenklang der Elementartöne ergibt eine kosmische Symphonie, die wir Natur
nennen. Die Kompositionsgesetze dieser Symphonie herauszufinden hat sich die Naturwissenschaft als Aufgabe gestellt. - Es bedarf nicht einmal allzu großer Phantasie, um sich
vorzustellen, dass diese Symphonie auf dem Wege der Resonanzkoppelung in einen
umfassenderen Raum hineinschwingt, dessen unsichtbaren Teil wir „Jenseits" nennen.
Einzelheiten darüber bleiben uns verborgen. Aber wir horchen an der Grenze dorthin nach
etwas, das herüberklingt. Die Quantenphysik erläutert uns nur die Struktur der Töne, nicht die
Musik, die gespielt wird. Diese zu erfassen ist Angelegenheit von Leben und Geist, die selbst
Teil der Musik sind und stabile, unzerstörbare Klänge enthalten. Die Hirnbiologie erfasst nur
einen kleinen Teil davon. Nahtoderfahrungen sind ein Hinweis, dass da noch viel, viel mehr
ist, als alltägliche und wissenschaftliche Weltbetrachtung bemerken. Sie geben uns eine
Ahnung davon, dass ein Leben nach dem Tod existiert. Die Möglichkeit eines solchen Lebens
ist im Rahmen von Physik und genügend erweiterter Biologie denkbar, aber nicht beweisbar.
Der Glaube, der von solchem Leben überzeugt ist und sich hier schon als davon erfasst
erfährt, braucht sich vor wissenschaftlichem Denken nicht zu verstecken, ja, er sieht sogar in
diesem die Spuren dessen, was sein Inhalt ist.
Hier sei noch eine Bemerkung über die Exegese der neutestamentlichen Auferstehungsberichte und ihre homiletische Verarbeitung eingefügt. Zu Beginn erwähnte ich die für Steven
Weinberg abstoßende Alternative zwischen konservativ-funda-mentalistisch und liberal. Auch
in der Frage der Auferstehung wird oft um die Alternative verbalistisch-fundamentalistisch
oder liberal-existential, um das „leere Grab" oder das „volle Grab" gestritten. Ich halte diese
Alternative ebenfalls für unglückselig und nicht sachgerecht. Sie ist geeignet,
wissenschaftlich denkenden Menschen den Weg zu einem konkreten Auferstehungsglauben
zu verbauen. Mir scheint ein dritter Weg der Exegese sowohl biblischem Denken wie einer
wissenschaftlich fundierten Weltbetrachtung angemessen: Auferstehung als Übergang in ein
neues Sein, vergleichbar, wenn auch nicht identisch mit dem, was uns in Nahtodberichten
vermittelt wird. Das neue Sein Jesu ist real, auch wenn es das irdische Gewand abgelegt hat,
und es weist voraus auf das Leben, das auch uns nach dem Tod erwartet.
Fassen wir zusammen: Die eingangs wiedergegebene Bemerkung meines theologischen
Kollegen: „Die Natur verliert ihre Toten, die Schöpfung nicht", möchte ich so modifizieren: „Die
erweitert gedachte und als Schöpfung verstandene Natur verliert ihre Toten nicht, wenn diese
auch den Mantel ihres vergänglichen Leibes an der Garderobe des Diesseits zurücklassen."
Starkes Anthropisches Prinzip, geöffnete Neurobiologie und stringtheoretischer Jenseitsklang
der kosmischen Symphonie sind drei Pfeiler, auf denen auch denkerisch ein Naturverständnis
aufbaut, das mit dem Auferstehungsglauben nicht nur vereinbar ist, sondern in diesem eine
tiefe Interpretation erfährt.
(Stark überarbeitete Fassung des gleichnamigen Beitrags in: Gibt es ein Jenseits? Auferstehungsglaube und Naturwissenschaften, Grünewald -Verlag 2000, 2. Aufl. 2003)
Weitere Bücher des Autors zum Thema:
1. Die Physik und das Jenseits. Spurensuche zwischen Philosophie und Naturwissenschaft. Pattloch-Verlag
1998.
08.09.2011 16:17
www.rpi-virtuell.net/Manfred Holtze
9 von 9
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2. „Ich war tot“. Ein Naturwissenschaftler untersucht Nahtoderfahrungen. Pattloch-Verlag 1999.
08.09.2011 16:17