Leseprobe 1 - Pax et Bonum

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Leseprobe 1 - Pax et Bonum
Wendebuch
L E S E P R O B E
Zwei Romane in Einem
Über den Autor
Michael Fuchs-Gamböck, seit 2011 in Diessen am Ammersee zu Hause,
gewann 1985 den Literatur-Nachwuchspreis des Theaterfestivals München. Der ausgebildete Redakteur hielt sich mehrere Jahre in Japan
und Italien als Kulturkorrespondent für verschiedene Pressebüros auf.
In Italien arbeitete er als Redaktionschef eines zweisprachigen Radiosenders. Von 1989 bis 1994 war er Ressortleiter bei der deutschsprachigen Ausgabe des Zeitgeist-Magazins Wiener, später in gleicher Funktion beim Playboy. Seit 1995 ist er freier Autor, u.a. für Cosmopolitan,
Focus, MusikExpress und Marie Claire.
Aktuell gibt es von Michael Fuchs-Gamböck rund drei Dutzend Buchveröffentlichungen, unter anderem autorisierte Biografien über Xavier
Naidoo, James Blunt oder Genesis, außerdem Interviewsammlungen
von Gesprächen mit Madonna, den Rolling Stones, David Bowie und
vielen mehr. (Ich hatte sie alle – Tee mit Madonna, Cognac mit Ron
Wood. 40 Anekdoten aus 20 Jahren Rock’n’Roll-Irrsinn). 2011 ist darüber
hinaus sein Gedichtband Die Lady kommt pünktlich erschienen.
Über dieses Buch:
Ein Wendebuch mit zwei Romanen – und genauso außergewöhnlich
wie die Aufmachung des Buches ist auch sein Inhalt.
Abgefuckt – Volksmusik: Ein On-the-Road-Movie, worin das rasante
Leben von leidenschaftlichen Protagonisten beschrieben wird, die sich
einem trotzigen Hier- und Jetzt-Existenzialismus verschrieben haben.
Abgefuckt – Liebe geizt gleichfalls nicht mit überbordenden Gefühlen.
Es geht um die Amour Fou eines Paars, das sich vorgenommen hat, radikal das klassische Bild der Romantik im banalen Alltag zu leben. So
manche Passage ist bewusst hart am Rande des Kitsches angesiedelt,
ohne dass der Autor je nach hinten kippen würde.
Diese beiden gegensätzlichen Storys haben gemeinsame Klammern –
die Reizworte Emotionen und Existenzialismus; damit gehören die zwei
Werke in einen Band, weil einfach abgefuckt!
ISBN: 978-3-943-65048-8
ABGEFUCKT
– Volksmusik –
Clac-clac-clac-clac.
Der Wasserhahn tropfte. Ungefähr alle zehn
Sekunden fiel ein Tropfen ins Becken. Ich
lauschte und stellte fest, dass es mich wahnsinnig machte.
Clac-clac-clac-clac.
Ich war im Delirium, aber ich raffte mich auf
und wollte zum Schrank stürzen. Fiel natürlich über den Lautsprecher,
fluchte gequält und lag flach. Der Lautsprecher war unter mir begraben und drückte mir in die Eier. Das alles war eine gewaltige Scheiße!
Irgendwann stand ich doch vor dem Schrank. Ich öffnete ihn und der
halb reparierte Fernseher kam mir entgegen, danach fiel mir – plonk –
die Bratpfanne auf den Schädel. In diesem Moment fühlte ich mich
extrem angeschlagen. Das durfte alles nicht wahr sein!
«Nur nicht die Hektik, Mann», versuchte ich mich selbst zu beruhigen. Mit der Linken den Kopf abdeckend, wühlte ich in der stinkenden Bettwäsche herum, in muffigen Klamotten, in verrotteten Dosen,
auf deren Inhalt ich nicht sonderlich scharf war. Da! – Ich packte den
Hammer und tastete mich vorsichtig zum Waschbecken vor. Richtig,
der Wasserhahn! Zuerst probierte ich es mit einem sanften Schlag vorne auf die Krümmung.
Clac-clac-clac-clac.
Nichts zu machen. Ich nahm den Hammer in beide Hände und schlug
zu. Das geschwungene Teil des Hahns verbog sich ein ordentliches Stück.
Trotzdem, es tropfte weiter.
Clac-clac-clac-clac.
Ich wurde scheißwütend. Wie irre drosch ich auf den Hahn ein und
hatte ihn schließlich soweit zu gehämmert, dass überhaupt kein Wasser
mehr rauskommen konnte. Von unten klopfte es auch. ‹Fick dich doch
selber Mann!› Ich hatte jetzt wahrlich andere Probleme. Ein Leben in
diesem Land, ohne Wasser zum Waschen oder Trinken. Was war das für
eine Existenz?
Ich haute mich wieder in die Falle. Ah, ich würde jetzt noch eine
herrliche Runde schlafen, dachte ich. Aber mein Ding stand kerzengerade in den Himmel, da war nix mehr mit Schlafen. Nach einer Weile
knipste ich die Lampe neben meinem Bett an. Starrte auf den Wecker,
der rasselnde Geräusche von sich gab. Was um Himmels willen konnte mich dazu bringen, um vier Uhr morgens mit einem Ständer im
Bett zu sitzen? Ich legte eine Maria Hellwig-Scheibe auf den Plattenteller und ließ sie rotieren. Mann, es war wirklich riesig!
Der Typ unter mir klopfte schon wieder an die Decke, diesmal um
einiges heftiger. Ich beschloss, dass ich keinen neuen Krach heraufbeschwören wollte und stülpte mir die Kopflauscher über. Der Sound ging
mir direkt ins Ohr. Maria ist schlicht die Größte für mich. Einfach bewegend!
Ich starrte die Plattenhülle an. Starrte diese riesigen Fleischmassen
an, die unter dem knappen Dirndl hervorquollen. Im Hintergrund waren die Berge zu sehen, viel zu klar und sehr kitschig. Und Maria
lächelte, breit und dabei unergründlich. Sie schien mir direkt ins Gesicht zu grinsen. Ich begann, an meinem Ding rum zu reiben, so heftig, bis es schmerzte. Als ich die Augen zumachte, sah ich mich in einer
Seilbahn sitzen, die langsam und mit knirschenden Zahnrädern den
Berg hochfuhr. Sie bahnte sich zäh und unbeirrt ihren Weg. Auf meinem Schoß saß Maria, rieb sich an mir und jodelte. Mir kam es rasch.
Ich legte die Hülle weg, machte das Licht aus und irgendwann schlief
ich ein.
Ziemlich bald wachte ich wieder auf. Kaum, dass ich vier Stunden
über die Runden gebracht hatte. Auf dem Plattenteller rotierte die Hellwig-Scheibe in der Auslaufrille, es knackte, endlose Umdrehungen lang,
immer weiter und weiter. Den Kopfhörer hatte ich noch über die Lauscher geklemmt, und es rauschte monoton in meinen Ohren. Ich schmiss
die Platte erneut an, drehte den Kopfhörer-Stecker raus und den Lautstärkeregler meines mickrigen Verstärkers bis zum Anschlag. Der Tag
begann großartig, er war ein Fest! [...]
*****
Ich hockte in Barney’s Bar. Barney kocht den besten Kamillentee der
Welt und den hatte mein Magen jetzt dringend nötig.
«Barney, verdammt – bring mir ‘ne Schachtel Kippen!»
«Wieso ‘n das?»
«Ah, weißte, meine stecken noch im Automaten fest.»
«Haste Kohle?»
»Oh, Mann ...»
«Welche Sorte?»
«Bensons. Du bist ‘n Goldstück, Barney!»
Ehrlich, ich liebe diese schwülstige Verpackung, in der die Benson &
Hedges stecken. Die Zigaretten selbst schmecken nicht so wild, viel zu
stark parfümiert. Aber die Schachtel ...
Ich weiß nicht, wie Barney sich über die Runden bringt. Ich kenne
niemanden, der bar in seiner Kneipe zahlt. Die ganze Stadt lässt bei ihm
anschreiben.
Barney ist klein, von gedrungener Gestalt und an die 40. Das Auffälligste an ihm ist sein dichter, an den Enden aufgezwirbelter Bart und
seine stoische Ruhe, mit der er hinter dem Tresen verharrt, selbst wenn
ganze Hundertschaften nach ihren Getränken brüllen. «König in diesem Haus bin ich, nicht der Kunde», pflegt er zu sagen.
Barney legte mir die Bensons ganz sachte auf den Tisch, und ich hielt
endlich wieder eine Kippe zwischen den Lippen geklemmt. Das ist wirklich ein erhebendes Gefühl: Dein Wegwerffeuerzeug schnippt, die Flamme erscheint, du saugst gierig und pumpst gleich darauf den ersten
Zug tief in deine Lungen. In diesem Moment bist du vollkommen und
eins mit den Elementen.
Plötzlich trat Randy durch die Flügeltür von Barney’s Bar und aus war
es mit den Elementen und dem erhabenen Gefühl. Randys Blick war
wie immer grübelnd, sein schlurfender Gang verriet, dass er wieder mal
sämtliches Unglück dieser Welt auf seinen mickrigen Schultern trug.
Obwohl seine Augen steil nach unten auf die Holzdielen gerichtet waren, hatte Randy mich sofort ausgemacht und steuerte konsequent auf
meinen Tisch zu. Ich weiß nicht, wie er das jedes Mal schafft. Damit
fasziniert er mich immer wieder aufs neue. Trotzdem dachte ich mir:
‹Shit, jetzt geht wieder die Sache mit dem großen Weltschmerz ab. Verpiss dich, Randy, ich halt das heute nicht aus!› [...]
*****
Na gut, und plötzlich hatte ich diese wirklich fabelhafte Idee, Ingman
zu besuchen. Ingman ist ein langes Kapitel für sich, das sind eigentlich
zwei Menschen – Ingeborg und Manfred. Ich sage deshalb eigentlich,
weil die beiden sich als das harmonische Eine betrachten. Sie stecken
seit sieben Jahren unentwegt zusammen, und sie sind allen Ernstes verrückt. Das ist gut so! Der Mensch braucht ein paar Konstanten im
Leben. Verrückte Freunde sind das Beste, was ihm passieren kann.
Mit Ingman kann man sich über die irrsten Dinge unterhalten, alles ist
erlaubt. Man lacht schrill, veranstaltet Kissenschlachten, man schweigt
und streichelt sich stundenlang, alles passiert ohne Scheu, ohne Scham,
ohne spätere Reue. Es geht um Nähe und um Wärme, und darum, dass
einen die Welt da draußen eine Zeit lang am Arsch lecken kann. Oder
sie/das harmonische Eine laden/lädt dich zum Käsefondue ein, was sie/
es häufig tun/tut. Natürlich ist der Rotweinvorrat wesentlich ergiebiger
als der Käsevorrat und so endet dieses Fondue jedes Mal in einem gewaltigen Besäufnis und man ist nicht satt, aber über und über mit Käse
beschmiert. Du stinkst zehn Meilen gegen den Wind wie zwei Dutzend
ausgelatschter Sandalen, alles an dir ist verklebt und das tollste daran –
du fühlst dich so verdammt glücklich, dass du dich vor lauter Glück
stundenlang am Boden wälzen könntest. Beziehungsweise – du tust es.
Seit einem Jahr kann man Ingman nur noch zuhause antreffen. Denn
seitdem liegen die beiden in ihrer Wohnung in einem riesengroßen Bett
und schauen fern oder lesen (natürlich gemeinsam und dasselbe Buch)
oder essen oder vögeln (auch gemeinsam) oder unterhalten sich mit
den Leuten, die sie besuchen kommen. Lauter solche Dinge. [...]
*****
Unten hupte ein Auto – zweimal lang, dreimal kurz. Das Ho-ChiMinh-Erkennungshupen. Heintje war also da.
Bis vor kurzem hatte ich keinen Schimmer gehabt, wer Ho-Chi-Minh
war. Als ich es endlich wusste, machte ihn mir das auch nicht sympathischer. Aber das Ho-Chi-Minh-Erkennungshupen, das nimmt mich
jedes Mal aufs neue mit und rüttelt mich auf.
Ich hörte hektische Schritte im Treppenhaus und ein klägliches Keuchen und Ächzen, ausgesandt von einem Paar asthmatischer Lungen.
Kein Zweifel, Heintje war im Anmarsch. Wie jedes Mal schrie ich nach
unten, «Pass auf das verfluchte Geländer auf», schon stand Heintje in
ganzer Leibesfülle vor mir im Türrahmen, drückte mir einen dicken
Kuss auf die Stirn und lief danach hektisch in meiner Wohnung auf
und ab, während er brüllte, «Na los, na los, wir müssen sofort aufbrechen, jede Sekunde ist kostbar, Kumpel!»
Ich spürte, Heintje war kurz vor dem Durchdrehen, und Heintje war
prächtigster Laune, das geht bei ihm stets Hand in Hand. Klar, diesmal drehte es sich um die Liebe und das Leben gleichermaßen, mindestens, und Heintje war sich darüber voll im klaren.
Er war dermaßen prächtig aufgelegt, dass er sich sogar meine gute,
alte, feuerrote Reisetasche schnappte und sie für mich die fünf Stockwerke nach unten trug. So blieb für mich nur der schwarze SaxophonKoffer übrig. Ohne den gehe ich nirgendwohin. Ich ließ noch einen
letzten Blick über meine Bude kreisen. Alles lag wild durcheinander,
demnach war alles in Ordnung. Die Miete für die letzten drei Monate
war beglichen (der Vermieter hatte mich nur ungläubig angestarrt und
war kurz davor, die Polizei anzurufen, um sich zu erkundigen, ob letzte Nacht ein Bankraub stattgefunden hatte) und ich hatte es irgendwie
sogar noch geschafft, bei der Sparkasse aufzukreuzen und 500 Märker
in Lire umzutauschen. Ingman waren diesmal verflucht spendabel gewesen. Ich sperrte die Haustüre hinter mir zu. Kein Zweifel, es konnte losgehen ...
Heintje hatte seine riesige Kiste wie gewohnt direkt vor dem Haus
auf dem Bürgersteig geparkt und versperrte damit den Fußgängern jegliche Chance auf ein Durchkommen. Aber die Pietät verbot es den
Passanten, sich darüber aufzuregen – schließlich sah Heintjes Karre original wie ein Leichenwagen aus.
Hätten die Leute dem Auto einen zweiten Blick gegönnt, wären sie
rasch draufgekommen, dass es sich dabei um nichts als eine plumpe
Fälschung, einen lachhaften, schwarz lackierten Krankenwagen handelte. Heintje hatte ihn bei einer Auktion im örtlichen Hospital vor
drei Jahren zu einem Spottpreis erstanden. Das Ding hatte zwar hunderttausende von Kilometern auf der Maschine, aber es lief noch wie
eine Eins.
Nur die Farbe war stocklangweilig gewesen – dieses klinische Weiß,
wie es solche Wagen eben im Normalfall haben. Ein paar Wochen, nach-
dem Heintje die Karre gekauft hatte, waren wir schon am späten
Nachmittag so besoffen, dass wir kaum noch geradeaus schauen konnten. Aber Heintje konnte wenigstens geradeaus fahren, also machten
wir uns auf den Weg zu einem Farbengeschäft, erstanden zwei riesige
Kübel mit schwarzer Farbe, dazu zwei Pinsel und eine lila Spraydose.
Wir handelten dermaßen zielstrebig, als hätten wir das vorher abgesprochen, aber so war es nicht. Wir hatten uns lediglich über Sinn und
Unsinn des Todes unterhalten. Und genau das schien uns den Kick für
alles weitere gegeben zu haben.
In der Nacht machten wir uns ans Werk und bemalten diese riesige
weiße Kiste schwarz, hinten drauf klebten wir ein goldenes Kreuz und
mit Lila sprühten wir so geistreiche Sprüche auf die Motorhaube wie:
Nur für lebende Leichen!, Nicht hupen! Fahrer ist tot oder auch Ein Herz
für Totengräber, diese Art von Humor. Besoffen wie wir immer noch
waren, lachten wir darüber wie verrückt. Naja, seit dieser Nacht ist
Heintje der Besitzer des einzigen lebenden Leichenwagens auf der Welt.
Zumindest kenne ich keinen anderen ...
Am nächsten Tag ließ Heintje noch zwei Särge nach Maß anfertigen
und postierte sie im hinteren Teil des Wagens – dahin, wo normalerweise die Bahren mit den Kranken und Verletzten reingeschoben werden.
Da kann man zu zweit mehr oder weniger bequem drin pennen. Oder
Gepäck reinschmeißen. Oder einen Saxophonkoffer. So wie wir jetzt.
In jedem Falle haben solche Särge was für sich und sehen richtig chic
aus. Das macht was her. [...]
Nach dem Rastplatz-Aufenthalt, der uns über eine Stunde gekostet
hatte, weigerte Heintje sich, das Steuer wieder in die Hand zu nehmen.
Also musste ich ran. Ich war nicht glücklich über diese Entscheidung,
aber ich hatte keine Wahl. Und eigentlich war es wirklich fantastisch,
in einem großen, schweren Auto über den Asphalt zu gleiten. Der Motor schnurrte träge und gleichmäßig, die Spätnachmittagssonne reflektierte glitzernd auf der riesigen Frontscheibe und kitzelte mir das Hirn
durch, die Straße war voll irritierend bunter Autos, die ich überholte,
die mich überholten, alles ging seinen chaotischen, wundervollen Gang.
Monotones Grau und die leuchtend weißen Streifen flossen endlos in
den Horizont, es war warm draußen, durchs halb heruntergekurbelte
Fenster drang laue Luft ins Innere des Wagens ...
ABGEFUCKT
– Liebe –
Er & Sie
Paul weiß, dass er Anna liebt, als er sie das erste
Mal sieht. Oder genauer, als er ihre Hände
sieht. Diese Hände! Er verfolgt jede ihrer Bewegungen, ganz lange, wie sie aneinander klatschen, sich flüchtig durchs lange schwarze Haar streichen, wie sie verstohlen Tränen von den Wangen wschen. Je länger Paul diese Hände
beobachtet, desto faszinierter ist er von ihnen. Diese Hände erscheinen
ihm perfekt, sie sind von makelloser Schönheit, denkt Paul, und alle ihre
Bewegungen sind in sich ruhend und von einer Eleganz, die ihn tief im
Inneren erschaudern lässt.
Paul weiß schnell, dass er diese Hände niemals vergessen kann. Weil
er sie niemals vergessen will. Diese Hände sind einzigartig. Paul liebt
diese Hände, möchte von ihnen liebkost, verführt, festgehalten werden.
Gleich darauf verliebt sich Paul in die Frau, der diese Hände gehören.
[...]
Paul kann sich nicht mehr auf das Geschehen da vorne konzentrieren. Er hat nur noch Augen für Anna und er weiß natürlich, dass er
rasch handeln muss, wenn er die Frau mit diesen unvergesslichen Händen kennenlernen will. Das Konzert steckt im Zugaben-Teil, bald werden die Lichter in der Halle für immer angehen und danach werden
diese Hände sich höchstens noch in Pauls Träumen eingraben, aber das
wird ihm nicht viel helfen, diese Träume werden ihn höchstens an sein
endgültiges Versagen erinnern. An den endgültigen Verlust der Liebe in
seinem Leben.
Also boxt sich Paul durch die dichtgedrängten Menschenmassen, steckt
selbst jede Menge Schläge dabei ein, bis er sich endlich zum Getränkestand durchgeschlagen hat. Er leiht sich von der freundlichen Bedienung
hinter dem Tresen Abreißblock und Stift aus, dann beginnt er wie im
Fieber, die winzigen Seiten des Blocks mit der Bierwerbung unten drauf
vollzuschreiben, umständlich an den Tresen gelehnt, während seine Lieblingsband sein Lieblingslied spielt, den letzten Song des Abends.
Paul kritzelt wie im Fieber das Folgende: Prinzessin Sehnsucht! Ich
habe Dich vor einigen Minuten gesehen und im nächsten Moment gewusst,
dass ich Dich liebe. Bis ans Ende meiner Tage. Und wer weiß, vielleicht
weit darüber hinaus. Wahrscheinlich macht mein Geständnis nicht viel
Sinn, denn Du wirst mich deshalb für verrückt erklären. Was die Wahrheit
ist, denn ich bin ein Verrückter in verrückten Zeiten wie diesen. Trotzdem
sollst Du wissen, Engel aus ferner Zeit, dass es mir mit meinem Geständnis
ernst ist. dass es an Aufrichtigkeit durch nichts zu überbieten ist.
Ich verfolge mit diesem Geständnis keine Absicht – außer der, mein Leben
mit Dir verbringen, meine Liebe mit Dir teilen zu wollen. Ich bin mir meiner Sache ganz sicher. Auch wenn sie sich letztendlich als Traum herausstellen
mag. Doch ist nicht das ganze Leben ein Traum? Und die Liebe sowieso?
Wenn Du mich kennenlernen und fortan mein Leben mit mir teilen
willst, komm morgen Abend zwischen 8 und 9 Uhr ins ... (Paul schreibt
Name und Adresse eines Lokals auf ). Dort werde ich sein und auf Dich
warten. Wenn Du nicht kommst, werde ich ganz alleine meinen 30. Geburtstag feiern. Ich werde traurig sein, wenn ich Dich nicht treffen werde,
aber das macht nichts, denn Traurigkeit ist ein starker Begleiter, wenn man
sich mal auf sie eingelassen hat. Ich werde glücklich sein, wenn ich Dich in
dem Lokal treffe, und Glück wäre ein Gefühl, das ich nicht so gut kenne
wie die Traurigkeit. Aber glaube mir, wenn ich mich auf das Glück einlasse, dann von morgen an, fest versprochen, und dann ganz und für immer.
In diesem Moment gehen die Lichter in der Halle an. Paul gibt den
Stift zurück an die freundliche Bedienung, dann boxt er sich wieder
den Weg durch die Menge, während er nahezu verzweifelt den Blick in
alle Richtungen schweifen lässt, den Abreißblock mit der Faust grimmig umklammert. [...]
Vorbereitungen
«Ich fürchte, der Kerl ist verrückt», seufzt Anna ins Telefon – und
denkt im selben Moment, dass sie auch verrückt sein muss. Schließlich
zupft sie sich gerade die Wimpern, zuvor hat sie ungefähr dreihundert
verschiedene Kleiderkombinationen ausprobiert und damit den ganzen
Tag verbracht, obwohl sie dafür eigentlich gar keine Zeit gehabt hätte.
Es ist Sonntag, kurz vor 8 Uhr abends, Annas Vorbereitungen sind beinahe abgeschlossen. Gut so.
«Geh bloß nicht dahin», wird Anna von ihrer besten Freundin Kathrin am anderen Ende der Leitung beschwörend gewarnt. Anna hat
Kathrin Pauls Nachricht am Telefon vorgelesen. Danach entstand ein
langes Schweigen und danach hat Kathrin losgeprustet, ein bisschen zu
laut und zu hysterisch für Annas Geschmack. «Du wirst dir so einen
Mist doch nicht antun?», fragte Kathrin. «Du willst einen weiteren verlorenen Abend erleben? Davon hatten wir zu viele! Lass uns lieber ins
Kino gehen, der neue De Niro-Film soll eine richtig schöne Romantik-Schnulze sein.»
Vielleicht waren es gerade die letzten von Kathrins Sätzen, die Anna
endgültig davon überzeugen, unbedingt zu dem Treffen mit diesem Verrückten zu gehen. Außerdem war das Lokal gut, in dem dieser Typ sitzen
und auf sie warten würde. Hoffentlich – gegen eine Essenseinladung in
einem guten Lokal hatte Anna noch nie etwas einzuwenden gehabt.
Anna betrachtet sich noch eine Zeitlang im Spiegel, während sie weiter an ihren Wimpern zupft. Was sie im Spiegel sieht, gefällt ihr. Sie
weiß, dass sie außerordentlich hübsch ist. Die Männer lieben ihr Gesicht. Ihren Körper. Ihr geheimnisvolles Lächeln. [...]
Austausch
Anna ist noch nie in diesem Lokal gewesen, doch sie hat viel davon
gehört. Es ist klein und überschaubar, höchstens zehn Tische stehen
darin, die Einrichtung ist karg und rustikal und dabei von zeitloser
Eleganz. Nichts lenkt den Betrachter davon ab, wofür er hergekommen ist – vom Essen. Alles ist, wie es sein soll, um einen angenehmen
Abend zu verbringen. Die Musik dringt gedämpft aus den Lautsprechern, das fällt Anna ebenfalls sofort auf, damit sie nicht die Gäste in
ihrer Unterhaltung stört. Denn auch dafür trifft man sich in einem
Lokal – zum Reden.
Anna versucht sich an die geschätzten zwei Sekunden zu erinnern, in
denen ihr Paul gegenüberstand, um ihr diesen lächerlichen Abreißblock
in die Hand zu drücken. An sein Gesicht. Die Augen, den Mund.
Sie hat lediglich einen sehr verschwommenen Eindruck davon, raspelkurze blonde Haare. Die Augen vermutlich blau. Und er wirkte hager,
dieser Mann. ‹Das Gesicht wie der Körper. Eigentlich nicht mein Typ›,
denkt Anna und muss kurz grinsen, ehe sie endgültig im Türrahmen
des Lokals thront, ‹ich stehe genau auf das Gegenteil.› Und wieder
fragt sie sich, warum sie heute Abend hierhergekommen ist, bestimmt
nicht das erste Mal.
«Lass dich überraschen, du hast nichts zu verlieren», murmelt sie sich
aufmunternd zu. Sie blickt auf die Uhr: kurz vor Neun. Sie sieht sich
im Raum um. Jemand winkt ihr von einem der kleinen Tische aus zu.
Anna hasst dieses Winken. Ist sie ein Hund? Anna geht die wenigen
Schritte auf diesen Tisch zu ...
Im Verlag
sind weiterhin erschienen:
Seelenreise
ISBN 978-3-943650-45-7
Wenn Bäume sprechen könnten
ISBN 978-3-943650-39-6
Irrlichter des Todes
ISBN 978-3-943650-33-4
Du bist das Wunder
ISBN 978-3-943650-24-2
Jenseits, Tod und Sterben
ISBN 978-3-943650-29-7
Die Geschichtenerzählerin Märchen für Erwachsene
ISBN 978-3-943650-15-0
Shiva kläfft Der berühmteste Hund von Berlin
ISBN 978-3- 943650-28-0
Gourmetkatze Als die Katze einen Tisch reservierte ISBN 978-3-943650-36-5
Glück schenken (Geschenkband)
ISBN 978-3-943650-14-3
Alle Bücher auch als eBook im
Format epub und für Kindle erhältlich!
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