Krouse, Fight Girl (Bel.).indd

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Krouse, Fight Girl (Bel.).indd
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Teja Schwaner
Eins
# 1
Der Job
Wenn zwei Tiger kämpfen, wird einer
verletzt und der andere stirbt.
Sprichwort aus Okinawa
Es ist nur ein Job. Gras wächst,
Vögel fliegen, Wellen schlagen an
den Strand. Ich verdresch sie alle.
Muhammad Ali
Nina Black wartete in der Seitenstraße. Sie wollte kämpfen. Es
dauerte länger, als sie gehofft hatte. Ideal waren die Bedingungen
nicht. Eine kühle Brise blies ihr Haar zur Seite, und sie hüpfte auf
der Stelle, um locker zu bleiben. Wieder einmal hatte sie nicht bedacht, wie kalt die Sommerabende in Denver sein konnten. Das
Graffito an der Hintertür der Bar war undeutlich, und sie konnte
nicht erkennen, ob es Courage, Bondage oder Cabbage heißen sollte.
Sie hörte auf zu hüpfen und kniff die Augen zusammen.
Die Tür sprang auf, und das Wort verlor sich im Schatten. Ein
kurzgeschorener Kopf zeigte sich. »Da bist du abgeblieben!« Der
Mann beugte seinen Oberkörper so weit aus der Tür, dass seine Beine nicht schnell genug nachkamen und er sich nur stolpernd abfangen konnte. Dann stand er vor ihr. Im Licht der Straßenlaterne
schimmerten seine Haarstoppel orange. Sein säuerlicher Mundgeruch waberte ihr übers Gesicht. »Warst du nicht die Frau da drinnen? Die Frau an der Bar? Die mich angestarrt hat.«
Nina zog die Hände aus den Taschen.
»Ich glaube, du hast etwas fallen lassen.« Der Mann war groß
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und stämmig wie jemand, der in der Highschool Football gespielt,
seitdem aber nur noch zugeschaut hatte. Ein Muttermal wie aus
einem Rorschachtest entstellte sein Gesicht. Er bewegte sich übertrieben, aber doch vorsichtig. Auf Nina wirkte er wie all die anderen betrunkenen Dreißigjährigen, denen sie bisher begegnet war.
»Ich sagte, du hast etwas fallen lassen«, beharrte er.
Nina ließ den Blick über den Boden schweifen und tastete nach
Autoschlüsseln und Geld. Der Mann knüllte seufzend sein T-Shirt
in der Faust. Es bauschte sich und rutschte nach oben, bis ein Halbmondbauch über dem Gürtel aufging. »Es war mein Herz. Du hast
es gebrochen und fallen lassen«, sagte er.
Er leckte einen Finger an, berührte ihre bloße Schulter und stieß
ein Zischen aus. »Mann, bist du heiß.« Und dann: »Ich bin rausgekommen, um zu kotzen. Aber das muss ich jetzt nicht mehr.« Auf
ihrer Schulter verdunstete der Fingerabdruck.
»Was bist du – Filipina?«
»Ich bin Amerikanerin.«
»Nein, was du bist?« Ein kurzer finsterer Blick, und schon entspannten sich seine Züge wieder.
»Meine Mutter stammte aus Okinawa. Mein Vater war ein Weißer.«
»Schlitzie Miezie«, sagte er.
Nina versuchte gleichmäßig zu atmen, aber stattdessen bekam
sie einen Schluckauf. Ranziges Bratöl sickerte aus der offenen Tür
eines japanischen Restaurants in ein Abflussloch und schwängerte die Nachtluft mit dem strengen Geruch angesengter Fischhaut.
Wieder der Schluckauf.
»Gesundheit.« Eine Sekunde lang schaute er sie väterlich an.
»Hey!«
»Was?«
»Willst du mir nicht einen blasen?«
Sie hickste wieder und schlug sich mit der Faust auf die Brust.
»Du bist betrunken.«
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»Nee. Jesus macht mich high. Bin errettet und alles.« Er musterte
sie wie einen Zwanzigdollarschein, den er auf der Straße gefunden
hatte. »Also was? Willste?«
Nina roch den Mann, seine metallische Bierfahne, den Schweiß,
jenen Körperdunst, den Klimaanlagen bewirken. Irgendwann am
Abend hatte er Selleriesticks vertilgt. Er atmete flach. Seine Hautbeschaffenheit war ungleichmäßig; dicht neben seinen Schläfenvenen zeichneten sich blass jadefarbene Flecken ab. Die Schultern
schienen seine Jeansjacke sprengen zu wollen.
Er langte nach ihr, aber mit einem Schritt war sie außerhalb seiner Reichweite.
»He!« Sein Tonfall wurde schärfer. Die alkoholgetrübten Augen
klarten auf, und feine Äderchen röteten seine Nasenflügel, als er
langsam nüchtern wurde. Ein Aufwind kämmte ihr das Haar aus
der Stirn. Nina roch Regen, weit oben über den Wolken.
Er sagte: »Komm her, du kleine Schlampe.« Und packte sie am
Handgelenk.
Ninas anderer Arm schnellte herum, ihre Finger bissen sich ihm
seitlich in den Hals und drückten auf die Halsschlagader. Seine
Knie gaben nach, sein Griff lockerte sich. Bevor er sich wieder
­gefangen hatte, trat sie das Standbein unter ihm weg und rammte die Handfläche gegen seine Brust. Clothesline. Sein verblüfftes
Gesicht glitt durch die Luft, ein sommersprossiger Mond.
Mit einem dumpfen, aber leisen Geräusch landete er auf dem Rücken. Fast unwillkürlich hatte Nina seinen Kopf nur wenige Zentimeter über dem Beton mit dem Spann aufgefangen. Kurz wiegte sie ihn auf dem Fuß, um ihm zu bedeuten, dass er ein zweites
Mal errettet worden war. Dann ließ sie ihn vom Schuh zu Boden
rutschen.
Es war vorüber. Sie stand schwer atmend über ihm. A
­ drenalin
durchzuckte ihre Brust. Die Halsmuskeln des Mannes spannten
sich unter der Haut. Seine Lungen krampften verzweifelt nach
Sauerstoff. Nina wälzte ihn auf den Bauch, verdrehte ihm die
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Arme, bis sie Hühnerflügeln glichen, und presste sie mit dem Knie
auf den oberen Rücken.
Ihre Knöchel färbten sich rosa, Spuren von ihm waren noch auf
ihrer Haut zu erkennen. Wieder bekam sie einen Schluckauf und
rief sich vor Augen, was alles seit ihrem vorherigen Schluckauf geschehen war. Wie hatte sie ihn getroffen? Wie hatte es begonnen?
Hätte sie etwas besser machen können?
Der Mann japste noch immer. Sein Gesicht lag seitlich auf den
Beton gepresst. Nina schlug ihm ein paarmal zwischen die Schulterblätter, damit er Luft schöpfte. Sein Atem röchelte gegen ihren
Schuh, und ein Speicheltropfen landete auf ihrem Zeh. »So. Geht
das. Nicht«, keuchte er zwischen zwei Atemzügen.
Nina stieß seine Fäuste weiter nach oben, so dass er ächzte. Die
Tür zur Bar war geschlossen. Langsam sah sie wieder klar, aber das
Graffitowort ergab noch weniger Sinn als zuvor. Die Pupillen des
Mannes flirrten.
»Keine Sorge«, sagte sie. »Niemand sieht uns zu.«
»Lass mich los.« Sie merkte, dass er an ihre Einsicht appellieren
wollte, aber das Knie auf seinem Rücken raubte ihm die Sprache.
»Hör auf. Ich bin doch auch nur ein Mensch.«
»Ich aber nicht«, sagte sie.
Er verdrehte den Kopf, um ihr ins Gesicht zu sehen. Sein Muttermal war ein Saphirschatten. Er fragte: »Was bist du dann?«
Sie griff nach seiner Brieftasche.
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# 2
Der Fuchs und das Kaninchen
Beim Spaziergang mit einem seiner Schüler bemerkte der Zen-
Meister einen Fuchs, der ein graues Kaninchen vor ihnen über den
Pfad jagte. Das Kaninchen hoppelte hektisch im Zickzack, und der
Fuchs war ihm dicht auf den Fersen. Die beiden Tiere verschwanden im Gestrüpp.
Der Zen-Meister sagte: »Das Kaninchen wird dem Fuchs entkommen.«
Der Schüler sagte: »Aber der Fuchs ist größer. Und stärker.«
»Dem Fuchs geht es um seine Abendmahlzeit«, sagte der Lehrer.
»Das Kaninchen rennt um sein Leben.«
Genau genommen war Nina eine Diebin, wenngleich sie sich niemals so bezeichnete. Nicht nur hörte es sich negativ an, nein, es war
auch relativ. Nina sah es nämlich so: Wenn du jemandem die Brieftasche stiehlst, schimpfen sie dich einen Dieb. Wenn du aber jemandem den Wahlsieg stiehlst, machen sich dich zum Präsidenten.
Nina sah sich als eine Art Wettprofi, nur dass sie nicht wettete.
Ihre Schuld war es nicht, dass Männer sie unterschätzten. Aber
die sollten ohnehin nicht auf Frauen einschlagen, ich meine, jetzt
mal echt, in was für ’ner Welt leben wir denn? Sie war eine Vollstreckungsbeamtin, die bei Männern, die den Gesellschaftsvertrag
missachteten, geringe Strafgebühren kassierte. Jedes Tier stiehlt,
um zu überleben. Nina zahlte gern ihre Miete pünktlich. Sie wollte
eine brave Steuerzahlerin sein.
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Nina stahl auch in Läden, allerdings nur herabgesetzte Ware.
Fleisch, fertig abgepackt in Metzgerpapier, versank in einer Handtasche. Filet mignon, frischer Thunfisch, eine Artischocke. Socken,
Strümpfe, Unterwäsche, Olivenöl. Wenn sie glaubte, beobachtet
worden zu sein, stellte sie sich an der Kasse in die Schlange, bezahlte eine Packung Spaghetti und spazierte mit einer Tasche hin­
aus, in der sie Supermarktkosmetik und Krustentiere hütete. Sie
fragte sich, welche Käufer sonst noch Oil of Olaz versteckt bei sich
trugen oder Glasröhrchen mit Safran. Sie argwöhnte, dass die Rate
an Ladendiebstählen höher war, wenn es um genierliche Dinge
wie Schweißfußpuder, Creme gegen Scheidenjuckreiz, Flatulenzhemmer oder extrakleine Kondome ging, und daher machte sie es
sich zur Gewohnheit, derartige Dinge, wenn sie benötigt wurden,
ganz normal zu kaufen. Es mochte ja sein, dass die Überwachungs­
kameras sie im Visier gehabt hatten.
Nein, stehlen war Selbstsponsoring. Kämpfen war ihre Leidenschaft. Sie hörte niemals damit auf, versuchte es gar nicht erst.
Während gelegentlicher Flautezeiten fehlte es ihr wie ein amputiertes Bein oder ein abtrünniger Lover. Sie wusste, was sie liebte.
Wie fast in allen Berufen haben es Frauen in diesem Metier
schwerer, und selbstauferlegte Regeln machen es nicht weniger
kompliziert. Nina hatte ihren eigenen Verhaltenskodex: Sie schlug
niemals als Erste zu. Ihr Lehrer Jackson zitierte häufig ein Okinawa-Sprichwort: Karate ni sente nashi – Beim Karate gibt es keinen
Erstangriff. Nina nahm das sehr ernst. Alles, was nach dem ersten
Schlag kam, fand sie, war erlaubt und fair.
Neben der Regel, nicht als Erste zuzuschlagen, richtete sie sich
nach dem Grundsatz, niemals mit Kids zu kämpfen, mit Frauen,
Obdachlosen oder älteren Menschen, mit Gangmitgliedern oder
Verhaltensgestörten. Praktische Erwägungen ließen sie ebenfalls
Drogensüchtigen und Nachbarn aus dem Weg gehen. Grundsätzlich versuchte sie, nicht mit jemandem zu kämpfen, mit dem sie
nicht auch Sex haben würde.
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Es erforderte Arbeit. Nina übte jeden Tag bis zur Erschöpfung.
Sie zog sich an wie eine Nutte, hing in zwielichtigen Stadtteilen
ab. In bestimmten Straßen brauchte sie sich nur mit dem Rücken
an eine Mauer zu lehnen, ein Knie angezogen, und schon kam jemand daher, verlangte ein Treffen oder Schlimmeres. Auf denselben Straßen am nächsten Abend: Nada. Die Erfolgsaussichten waren grottenschlecht. Sie kam nicht daran vorbei, egal, wie sie sich
bemühte: Die Leute waren gut. Und sie war nicht mehr so gut, wie
sie mal gewesen war.
Es war vielleicht nur vorübergehend, nichts als eine Reihe dummer Fehler, die zu leichten Verletzungen geführt hatten – ein ausgerenkter Kiefer, gequetschte Rippen, blaue Augen. Es summierte
sich. Letzten Monat, im Regen vor einem 7-Eleven, hatte ein Biker
sie begrabscht, und sie hatte ihm auf die Fresse gegeben. Seine
Vorder­zähne brachen ab und gruben sich in ihre Hand. Er grinste,
während ihm Blut aus dem Mund floss wie ein seidiges rotes Seil.
Er schlug sie und schlug sie wieder und hörte nicht auf, bis sie sich
wegduckte und er sich die Faust an der nassen Mauer hinter ihr zerschmetterte. Sie hörte, wie seine Finger krachend brachen, und
doch ballte er wieder die Faust, ein blinkender Roboter. Sie rannte direkt nach Hause und lag nass und schwitzend unter der Bettdecke, bis die Sonne aufging.
Männer auf Meth waren die schlimmsten, weil sie keine Schmerzen spürten und keine Skrupel kannten. Nina versuchte sie zu
meiden, aber wenn sie tatsächlich ab und zu duschten, waren sie
schwer zu erkennen. Zum Schutz trug sie Leder, aber trotzdem wies
sie über den Rippen und auf den Armen Narben auf. Sie war fünfmal mit dem Messer verletzt worden. Ihre Nase war nach diversen
Brüchen krumm und platt. Sie hatte sich vier Rippen und einen
kleinen Finger gebrochen. Ihre Kiefer hatten sich verschoben und
knackten beim Kauen. Wenn sie ihren Schädel abtastete, fanden
ihre Finger Dellen und Narben, aber woher sie stammten, wusste
sie nicht mehr.
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Manchmal fragte sie sich, ob sie wohl den einen oder anderen
schwer verletzt hatte.
Vielleicht sollte sie es mal mit Medikamenten versuchen und
eines dieser Mittel schlucken, deren Namen nach Superhelden
klangen (Effexor! Lexapro! Zoloft vs. Celexa!). Sie konnte nicht
ewig so weitermachen und immer Siegerin bleiben. Oder jedenfalls nicht zur Verliererin werden. Das war statistisch unmöglich.
Sie überlegte, ob sie schon bald verlieren würde, obgleich sie doch
siegen sollte, und ob diese miesen Zeiten in Wahrheit ihre ruhmreichen Zeiten waren.
Manchmal öffnete sie ihre Schreibtischschublade und zählte die
Brieftaschen, die sie sich im Laufe der Jahre angeeignet hatte, gefaltetes Leder, aufeinandergestapelt, der sich auftürmende Beweis,
dass ihre Wartenummer schon bald aufgerufen würde. Nina hatte
über neunzig Straßenkämpfe überlebt. Sie wusste sehr genau, aus
welchem Holz sie geschnitzt war.
Ihr alter Lehrer Jackson hatte einmal gesagt: »Das Gewitzte ist
niemals auch das Mutige.« Er war knapp eins siebzig groß und in
der Nähe der Militärbasis auf Oahu aufgewachsen. Auf dem Heimweg nach einem gewonnenen Hahnenkampf fielen vier betrunkene
Marinesoldaten über ihn her. Er schlug sie alle in die Flucht, ohne je
seinen Hahn loszulassen.
Jackson erzählte Nina, dass seine Mutter auf Okinawa einmal
von zwei Amerikanern angegriffen worden war. Einer der Männer küsste sie, die Hand an ihrer Kehle. Sie biss ihm die Zunge ab
und spuckte sie ihm ins Gesicht. Niemand weiß, wozu eine Person
in der Lage ist, bis der entscheidende Moment kommt und geht –
wen oder was er zu opfern bereit ist. Nicht einmal die Person selbst
weiß es.
Wofür ist man zu kämpfen bereit?
Es gibt viel zu lernen. Als Nina noch Teenager war, nahm Jackson
sie häufig auf längere Tagesausflüge nach Denver mit. Er stellte sie
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in schmutzigen Stadtteilen asiatischen Männern vor, die mit kleinen Wundern aufwarteten.
Einer von ihnen war Indonesier und kämpfte nach Art der Affen.
Es hieß, er sei in jungen Jahren von seinem Lehrer in einen Käfig
mit einem wilden Affen gesperrt worden. Der Affe rastete aus und
hätte den Jungen beinahe in Stücke gerissen. Der Lehrer holte ihn
gerade noch rechtzeitig heraus und sagte: »Jetzt weißt du, wie der
Affe kämpft.« Okay, was auch immer, dieser Typ kämpfte tatsächlich wie ein Affe – kauerte sich zusammen, trommelte den Leuten
auf dem Kopf herum, hangelte sich über Jacksons Buckel. Im Dorf
des Affenmanns in Indonesien war jeder mit einem Messer bewaffnet, und wenn man zu einem Kampf auf Leben und Tod herausgefordert wurde, hatte es keinen Zweck, sich zu weigern. Sie brachten einen sowieso um.
Der Affenmann hatte Menschen getötet. Zu dritt aßen sie in
einem Chinarestaurant zu Mittag. Die fleckigen Hosen des Affenmannes rochen nach Motoröl und Hühnerfett. Er und Jackson
sprachen hauptsächlich über Speisen, die sie besonders schätzten,
und Nina war zu schüchtern, um auch nur ein Wort zu dem alten
Kämpfer zu sagen, den weiße Haarborsten und eine lange Narbe
am Hals schmückten.
Nach dem Lunch ging er mit ihnen in die Küche. Mitten in einem
Satz schlug er eine faustgroße Delle in die Metalltür einer Gefrierkammer. Das Küchenpersonal arbeitete unbeirrt weiter, schnitt
Schweinefleisch und wässerte Bohnensprossen. Die anderen Gefrierkammertüren wiesen ähnliche Dellen auf. Der Affenmensch
war Stammgast.
Während eines anderen Ausflugs nach Denver wurden sie Zeugen
einer unangekündigten illegalen Vorführung. Ein Boxer forderte
einen schmächtigen Thai heraus. Der Thai streckte nur eine Hand
aus, in der anderen hielt er immer noch seine billige asiatische
Zigarette. Als der Boxer ihm eine kurze Gerade entgegenschickte,
traf der Thai den Arm des Boxers so hart, dass sich augenblicklich
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auf dessen Handgelenk eine auberginefarbene Prellung abzeichnete. In Sekundenschnelle platzten die Blutgefäße und breiteten sich
wie Spinnweben über Arm und Hals bis hinauf zu seinem Gesicht
aus.
Einmal besuchten sie einen knorrigen Chinesen, der nach Ozon
roch. Wenn man neben ihm stand, bekam man Gänsehaut, und
elektrostatische Ladung richtete die Härchen an Armen und Beinen auf. In einer staubigen Seitengasse hinter einer Burritobude
sah Nina ihn eine ganze Flasche glasklaren chinesischen Feuerwassers leeren, auf deren Boden sich eine Schlange wand. Dann
aß er die Schlange. Und dann aß er die Flasche, zermalmte das
Glas mit den Zähnen, kaute und schluckte es. Sie dachte, damit sei
es getan – was sonst sollte noch kommen? Dann führte er Würfe
vor, schleuderte die Leute aufs und übers Pflaster, bis alle nur noch
den Kopf schüttelten und nach Luft rangen, die Hände auf den
Knien.
Er winkte Nina zu sich, die einzige Frau weit und breit. Sie trat
vor, gefasst darauf, gegen eine Wand geschleudert zu werden oder
dergleichen. Stattdessen wischte er die Hände an seiner Glatze ab
und reichte ihr eine Litschi, die noch in der Schale steckte. Sie aß
die Frucht, die warm aus seiner Hosentasche kam.
Jackson konnte Wassermelonen mit den Fingerspitzen aufbrechen. Ganze Stapel Mauersteine vermochte er mit der Handkante
zu zerbrechen. Er konnte eine Kerze aus einem Meter Entfernung
durch Händeklatschen löschen. Er konnte ein hochgeschleudertes
Brett mit einem Schlag in der Luft zerteilen und Bäume umknicken.
An seinem fünfzigsten Geburtstag zertrümmerte er eine doppelte
Lage Baseballschläger mit einem Fußtritt.
Er kritisierte Nina, weil sie an diesen Tricks so viel Gefallen fand,
aber sie konnte nicht anders. Sie konnte nicht fassen, dass diese
Menschen tatsächlich existierten – unbesungene Helden und Dämonen in Kellern mit Wasserflecken an den Deckenfliesen, in kleinen Gassen hinter Mietskasernen, in miesen Restaurants, in denen
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Sülzfleisch auf den Tisch kam. In Lagerhäusern. Sie sah, wie ein
achtzigjähriger Mann einen College-Linebacker fünf Meter von
sich schleuderte. Sie sah, wie ein fetter Chinese einen Medizin­
studenten von der anderen Seite des Zimmers her zum Kotzen
brachte, indem er mit dem Finger auf ihn zeigte.
Wie konnte so etwas möglich sein?
Nina weigerte sich, an einen Gott zu glauben, der sich weigerte,
an sie zu glauben. Und Jackson riet ihr, keiner Wahrnehmung zu
trauen, denn es handele sich, wie er sagte, nur um Schatten auf den
Wänden einer Höhle. Im Physikbuch, das sie in der Bibliothek gestohlen hatte, stand, dass Klang nichts anderes war als Schwingungen in der Luft. Aus ihnen ergeben sich Sprache, Hundegebell und
Yo-Yo Mas Cellotöne. Das Sehvermögen – eigentlich sieht man alles
auf dem Kopf, und das Gehirn sorgt dafür, dass es korrigiert wird.
Das Gehirn ist dazu in der Lage. Ein Apfel sieht nur deswegen so
aus, als sei er rot, weil er das Licht sämtlicher anderer Farben außer
Rot schluckt. Der Himmel ist also alles andere als blau. Was man
bekommt, ist nicht das, was man sieht.
Oder berührt. Würde man den Raum zwischen allen Partikeln
entfernen können, passte ein menschlicher Körper auf einen Stecknadelkopf. Dasselbe galt für Felsblöcke und ebenfalls für Flugzeugträger. Den Eindruck von Stabilität vermitteln einzig und allein
diese winzigen Materieteilchen, die sich Raum erkämpfen, indem
sie verkünden: »Hier bin ich. Macht verdammt noch mal Platz für
mich!« Und alles – jeder Fingerabdruck, jede Schneeflocke – besteht aus diesen selben Partikeln, die alle ihre verschiedenen Tänze
aufführen. Sie sind durch eine Kraft miteinander verbunden, die
sich mit Lichtgeschwindigkeit bewegt. Daher ist sie Licht. Wenn
man einen Weg fände, sie aus nächster Nähe zu betrachten, würde
man erkennen, dass alles haargenau dasselbe ist, geschaffen aus
Licht, Raum und Potential. Nina eingeschlossen.
So war es auf dieser elementaren Ebene möglich, all jene verrückten Dinge zu tun. Und verflucht noch viel mehr. Man konnte ein
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Haus in seinen Grundfesten zum Erbeben bringen. Man konnte
durch Steinmauern gehen oder Diamanten in zwei Hälften spalten.
Jackson nannte es Arete, nach dem griechischen Wort, und meinte
damit die Fähigkeit, etwas zu tun, das man nicht tun kann. Nina
wollte den Sinn selbst ergründen – aber mit dem Körper, nicht mit
dem Verstand. Sie wollte mehr sein als nur eine Erzählung über
etwas, das jemandem geschehen war. Sie würde bis an die Quelle vorstoßen. Hatte sie erst mal die exakte Relation von Bewegung
zu Materie verstanden, konnte selbst die gewöhnlichste Person –
Nina – zu einem außergewöhnlichen Menschen werden.
Ihre Beziehungen nahmen meist Schaden. Nicht, dass sie keine
wollte. Sie wünschte sich eine. Besonders abends, wenn sie zusah,
wie ihre Pizza auf dem Teller langsam kalt wurde, oder wenn sie
allein im Kino saß, den Baseballschläger unter dem Sitz. Wenn
Nina Paare sah, die zum Essen ausgingen oder sich in einem Drugstore stritten, fragte sie sich, wie die es schafften, alles auf die Reihe zu bekommen. Ihre jüngste Liebesaffäre war abgeschmiert, als
ihr Freund den Anruf einer Freundin annahm, von deren Existenz
Nina nichts wusste. Und das an einem Handy, das er ohne ihr Wissen mit ins Bett genommen hatte. Er nannte seine Freundin »Pummelchen« und schmatzte Küsschen in den Hörer, bis er das Gespräch beendete und Nina wieder besteigen wollte.
Das war vor mehr als einem Jahr gewesen. Es gab immer wieder
Techtelmechtel, aber sie waren wie Quecksilberkügelchen, die auf
der Handfläche kreisen und im Nu über den Rand rollen. Eines Tages stolperte sie über einen Teppichrand und sah vor ihren Füßen
ein halb vergrabenes Pessar liegen. Sie versuchte sich zu erinnern,
was es war. Ein Dilemma, denn sie wusste, dass sie es nie wieder
benutzen würde, aber es schien doch ein zu persönlicher Gegenstand zu sein, um ihn zusammen mit den Kartoffelschalen in den
Müll zu werfen. War das Ding wie eine Fahne, die man verbrennen musste, wenn sie den Boden auch nur berührt hatte? Sie warf
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es schließlich in den South Platte River und sah ihm nach, wie es,
einem tentakellosen Oktopus gleich, davonschaukelte.
Vor dem verheirateten Mann hatte es andere gegeben – Männer,
die sie in Clubs kennengelernt hatte, in Coffeeshops. Sie war keine Nonne oder so. Ihre Bettlaken waren im Laufe der Jahre Zeuge
mancher Scharmützel geworden. Sie hatte Kissenbarrikaden aufgehäuft, um pfeifende Atemgeräusche zu dämpfen, hatte es ertragen, dass Fußnägel an ihren Beinen kratzten. Mit einem Barkeeper,
einem Imbisskoch, einem Börsenmakler, einem Marineinfanteristen und einem Mautkassierer hatte sie Frühstückswaffeln gegessen
und Kaffee getrunken. Und dann war da noch der bisexuelle Clown
gewesen.
Einen windigen Frühlingsmonat lang traf sie sich mit dem Lieferdiensttypen ihres bevorzugten Chinarestaurants. Sie wälzte sich
in seinem Schlafsack bis zum Morgengrauen, schaute träumend
zum Fenster hinaus auf die Neonschilder, denen Buchstaben fehlten, wartete darauf, dass er heimkam und matschige Wan Tan und
übrig gebliebenes Hühnchen Kung Pao mitbrachte.
Aber er ließ sie sitzen und fing was mit dem Tellerwäscher an.
Dann ging sie mit einem Typen aus, der davon überzeugt war, dass
die Bundesregierung zu viel Geld für Erziehung ausgab. Anschließend mit einem Kerl, der seine Exfrau mitbrachte. Und dann war
da einer, der ihr die Gesundheitsprodukte von Amway andrehen
wollte.
Nina hatte noch nie Zukunftspläne gemacht, hatte keine andere
Person in ihrem Bett je für selbstverständlich erachtet und war auch
noch nie die Straße entlanggelaufen und hatte dabei »Looks Like We
Made It« gesummt.
Gelegentlich hatte sie guten Sex gehabt, was leicht mit Liebe verwechselt wird. Sie suhlte sich stundenlang mit Männern im Bett
und ließ zu, dass die wichtigsten Muskeln verkümmerten, während
sie dachte: Das ist es. Sie merkte sich Männer, die doch Fremde blieben. Sie lachte hysterisch über Dinge, die so gut wie gar nicht lustig
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waren, trunken vor Verlangen und zum zwölften oder neunzehnten
Mal überzeugt, sich noch niemals zuvor so gefühlt zu haben.
Und dann – ohne jede Vorwarnung – hob sich die Zugbrücke vors
Gesicht des Mannes, denn ihm wurde plötzlich klar, wie kostbar
das Leben ist oder wie kostbar er selbst ist oder dass nichts eine
Bohne wert ist in dieser irren Welt oder dass er schon immer diesen Bundesstaat hinter sich lassen wollte und es bis gerade eben
gar nicht gemerkt hat. Oder dass er noch nicht reif ist für die Liebe
oder gar unfähig zu lieben. Oder dass er doch eine, ähm, Ehefrau
hat? Oder diese, ähm, Krankheit? Oder wie er noch immer an der
Trennung von diesem Girl zu schlucken hat, dieser Psychotussi, die
ihn traumatisiert hat, oder dass er sich fragt, ob Nina je bemerkt
hat, dass sie leise schnarcht, oder dass dies ja gar keine echte Beziehung sei, sondern sie sich doch nur ab und zu mal träfen, oder
dass er nun mal daran gewöhnt sei, sich in den eigenen vier Wänden auszubreiten, und ob sie nicht jetzt bitte nach Hause fahren
könne, oder dass sie etwas überaus Bedeutsames verband und er
leider dabei sei, alles zu vermasseln. Er wisse es ja, aber sei machtlos dagegen, und das bringe ihn noch um.
»Kämpfe für die Liebe«, pflegte Jackson zu sagen, aber Nina besaß keine Liebe, für die sie kämpfen konnte. Statt eines echten
Herzens hatte sie eine dieser Ein-Herz-für-Tiere-Lebendfallen in
der Brust: Die Ratten laufen rein und bleiben drin. Sie fürchtete,
kein menschliches Wesen zu sein, sondern ein mutiertes Tier. Es
leuchtete ein, dass sie daher auf Männer anziehend wirkte, die ihr
nur mit animalischer Liebe begegneten – unbändig und wild. Und
plötzlich gar nicht mehr.
Manchmal jedoch tat sich etwas auf, ergaben sich seltene Momente, die auf viele Möglichkeiten hoffen ließen, und zwar immer
dann, wenn sie sich, eigentlich widerwillig, im Schlaf entspannte und die Männer desgleichen taten. Eine Nacht lang wurden sie
zu einer Person, zu einem Atemhauch. Ihrer beider Gedanken vermischten sich mit ihren Gerüchen und verwandelten sich in ab­
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strakte Picasso-Wesen, eher Umrisse als Körper, eher Träume als
Namen. Und dann konnte Nina lieben, auf die natürliche Weise,
wie schlafende Babys lieben. Sie liebte, weil sie es vermochte und
weil sie es brauchte und weil eine Hand in ihrer lag und in ihrem
sorglosen Schlaf das Versprechen gab, auf immer und ewig zu
bleiben.
Drei Straßen entfernt vom Schauplatz ihres jüngsten Verbrechens
saß Nina hinter dem Lenkrad ihres Pinto. Der Motor war abgestellt.
Noch spürte sie die Nachwehen des Zusammenpralls. Wie leichte
Erdstöße ließen sie immer wieder ihre Brust erbeben. Sie versuchte, sich das Adrenalin aus den Gliedern zu schütteln, aber sie hörten nicht auf zu zittern. Es fühlte sich auf angenehme Weise übel
an und auf üble Weise angenehm. Neben ihr klapperte das lose
Fenster, und eine Sodadose schepperte im Getränkehalter.
Auf der Straße war es ruhig – keine Polizeiwagen, keine Sirenen, nur der eintönige Nachtverkehr. Sie wischte sich über die
Wange, und eine Blutspur kroch über ihre Handfläche. Sie tastete,
bis sie die erhabenen Ränder einer Kerbe auf ihrem Wangenknochen fand. Nicht größer als ein Reiskorn. Sie schaute prüfend in
den Rückspiegel. Ein neuer blauer Fleck schimmerte über ihrem
Auge.
Nina langte nach der Brieftasche, die sie gewonnen hatte. Sie war
blau. Sie waren nie blau. Sie roch daran – echtes Leder. Sie zog seinen Führerschein hervor. Er hatte gelogen, was seine Körpergröße
betraf – niemals war er eins fünfundachtzig. Männer logen immer,
wenn es um ihre Größe ging. Sie schob den Führerschein zurück
und blätterte das Papiergeld durch. Fünfziger, vier davon, zwei
Zwanziger und einige Eindollarscheine. Das war okay. Die Kreditkarten würde sie morgen an Jared verkaufen, einen Teenager, der in
der Denver Public Library arbeitete. Dann war in einem Fach noch
die Mitgliedskarte eines Videoverleihs. Eine Karte der Eagle Scouts.
Die Rabattkarte eines Feinkostgeschäfts im Zentrum – noch ein
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weiterer Besuch, und sie bekäme ein Sandwich gratis. Sie steckte
die Karten und das Bargeld in die eigene Tasche. Nina war jetzt ein
Eagle Scout.
Sie strich sanft mit der Hand über das Armaturenbrett ihres Ford
Pinto. Sie liebte dieses Auto, das so bewundernswert gut funktionierte, obwohl die Gefahr bestand, dass es bei einem Aufprall sofort in Flammen aufging. Irgendwie war es dem Rückruf nicht gefolgt, und aus dem Grund hatte sie es für ein paar hundert Dollar
und fünfundzwanzig gestohlene Kreditkarten kaufen können. Sie
hatte mit diesem Auto eine »Frag nicht, sag nichts«-Vereinbarung
getroffen. Bemerkte sie ein seltsames Geräusch, drehte sie das
Radio lauter. Wenn es verbrannt roch, öffnete sie ein Fenster. Es
war wie bei den alten Witwen mit schütterem Haar, die durch ihre
Nachbarschaft schlurften – sie schienen überhaupt nicht mehr
lebenstüchtig zu sein, aber sterben wollten sie auch nicht.
Nina riss ein Überallstreichholz an einem Papierstapel auf
dem Beifahrersitz an. Es flammte auf und warf einen flackernden Schein auf die Liste mit Telefonnummern. Nina zündete sich
ihre Zigarette an. Sie rauchte nur eine Packung in der Woche, aber
schaffte es nicht, ganz aufzuhören. Nicht weil sie die Zigaretten
vermisste, sondern weil sie es vermisste, Zigaretten zu vermissen – den kurzen Schmachter und die augenblickliche Befriedigung. Außerdem war es nicht ihr Ding, mit etwas aufzuhören.
Sie nahm an, wenn sie starb, würde es bei einem Kampf sein, und
konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen, als verblutend auf der
Straße zu liegen und zu denken: »Ich wünschte, ich hätte eine letzte
Zigarette geraucht.«
Sie fuhr in Richtung Capitol Hill, steuerte mit dem Mittelfinger,
den sie übers Lenkrad hakte. In der Nähe von Kitty’s Porn Shop
parkte sie und stieg aus. Den Papierstapel mit der blauen Brieftasche im Arm, ging sie durch die Seitengasse zu ihrem Mietshaus.
Sie liebte diese Gasse, ihre Gasse. Niemand ging sie je entlang.
Absolut niemand. Vielleicht lag es daran, dass ein Waffenladen
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an sie grenzte, und vielleicht war es auch die einzige Sackgasse in
Denver. Diese Tatsache war wohl dem Sonderrecht eines Exbürgermeisters zu verdanken, dem Besitzer eines Gebäudes, das die
Mündung der Gasse blockierte. Das Gebäude war zu einem Waffenladen umgebaut worden, in dem Handfeuerwaffen, Pornos
und seltsamerweise auch gebrauchte Schuhe verkauft wurden. Um
in die Gasse zu gelangen, musste man sich an dem Gebäude auf
einem maroden Gehsteig vorbeiquetschen, der zu schmal für ein
Fahrrad war.
Nicht nur war die Gasse von der Straße nicht einzusehen, sondern an diesem Ende gab es kein einziges Fenster, das auf sie hin­
ausging. Es war, als hätten sich sämtliche angrenzende Gebäude zu
einem Boykott verschworen. Sollte man dort sterben, würde man
erst gefunden, wenn die Müllabfuhr kam. Vielleicht sogar noch
später, denn die Müllwagen ließen die Gasse manchmal aus, da
sie rückwärts wieder hinausfahren mussten. Die Mauern glichen
den nichtssagenden und fensterlosen Seiten eines Gefängnisses,
aus dem man ausgeschlossen war und wo nichts Interessantes ablief.
Hier absolvierte Nina morgens und nachmittags den größten Teil
ihres Trainingsprogramms. Sie sprintete in Intervallen die Gasse
rauf und runter. Ihre Turnschuhe suchten Halt auf dem öligen Beton, die dünne Luft streifte ihre Wangen. Mit einem Vorschlaghammer drosch sie auf einen zurückgelassenen 30-Zoll-Reifen ein, bis
ihr alle Knochen weh taten. Einen alten Basketball hatte sie mit
Sand gefüllt und so zu einem Medizinball umfunktioniert, den sie
gegen die Wand warf und wieder auffing. Sie schwang mit Ketten
um sich, die so schwer waren, dass bisher niemand versucht hatte,
sie ihr zu stehlen. Auch hatte sie einen schmutzigen Matchsack mit
Lumpen und Sand ausgestopft und mit Klebeband umwickelt. An
einer Kette unter der Feuertreppe hängend, diente er ihr als Punchingbag. Jetzt lag er im Dunkeln auf dem Boden und sah aus wie
eine Leiche.
- 23 -
Nina kletterte über die düstere Feuerleiter bis zu ihrer Wohnung
im ersten Stock hinauf. Ihre Schuhe klapperten auf dem Metall.
Das Gebäude hieß The Chessman Arms, und seine Fassade war
ursprünglich in sorgsamen Backsteinmustern gemauert, die sich
aber inzwischen unter jahrzehntealten Rußschichten verbargen.
The Arms war eines der vielen Mietshäuser in der Umgebung der
Colfax Avenue – The Cavendish, The Holiday Respite, The Country
Squire –, allesamt gedacht für Großmütterchen und vom Sozialprogramm »Section 8« unterstützte Mieter, also für jeden, der willens war, trotz aller optischen Beweise für das Gegenteil der Erhabenheit der Namen zu glauben. Die Teppiche in den Fluren waren
übersät mit Flecken, Gipsfladen und altem Schimmel. In den Wohnungen waren die Holzfußböden arg zerkratzt, die hohen Fenster
stets beschlagen, und von den Zimmerdecken tropfte das Wasser.
Es war alles genau so alt, wie es sich gehörte, und wenn man im
Dunkeln blinzelte, schien das Gebäude direkt Klasse zu haben.
Nina hatte ihre Wohnung vor zwei Jahren bezogen und war aus
Trägheit geblieben. In dieser Nachbarschaft fühlte sie sich heimisch. Sie mochte die Prostituierten, die charmanten Art-déco-­
Gebäude, die schwankenden Wipfel der Bäume. Obdachlose schli­
chen durch die Hitze der Gassen, von Eltern beschimpft. Hier
gehörte sie her. Das verlassene Hauptquartier der Guardian Angels
war nur zwei Straßen entfernt. Sie konnte drei, ja, eins, zwei, drei
Tätowierstudios zu Fuß erreichen, desgleichen einen Kiffershop
mit Buchhandlung, der Leaves of Grass hieß. Sie hatte sich eingelebt, wie es besser nicht ging.
Aber heute Abend ließ sie ihre Sachen einfach auf den Boden
fallen und schaute sich das ganze Elend näher an. Was hatte sie
hier anderes getan, als die Zeit abzusitzen? Sie hatte Gummibänder über Türknäufe gestreift und The Denver Post abonniert, aber sie
fühlte sich immer noch wie eine Hausbesetzerin. Sie begegnete
ihren Nachbarn täglich, konnte riechen, was sie kochten, und sie
beim Sex hören, aber sie wäre niemals auf den Gedanken gekom- 24 -
men, an deren Tür zu klopfen, um ein Ei zu borgen. Sie kannte deren Namen nicht. Sie kannten sie nicht oder mochten sie etwa. Ihr
gesamtes Mobiliar hatte einmal mit einem Schild »Umsonst« an
einer nahe Ecke gestanden. Sie besaß nichts, was sie nicht allein
tragen konnte.
Sie hielt einen Goldfisch in einer Kaffeekanne. Er schwamm
auf dem Rücken, zu blöd zu sterben. Und jedes Mal wenn sie es
mit Zimmerpflanzen versuchte, fiel ihr der Satz »Der Tod ereilt
uns alle« ein. Sie begriff nicht, warum sie so schnell verkümmerten, diese stummen kleinen Mistdinger. Wahrscheinlich nur, um
Schuldgefühle zu wecken. Sie taten so hilfsbedürftig, wollten immer nur Wasser und gaben doch der Welt nichts zurück als (boah!)
Sauerstoff. Einmal fand sie einen verlassenen Kaktus in einem Terrakottatopf am Rinnstein und wässerte ihn ein Jahr lang, bevor sie
merkte, dass er aus Plastik war.
Heim konnte man das hier nicht nennen.
Vor zwei Wochen wollte ein betrunkener Exwrestler ihr eine verpassen. Als sie seine Hand abblockte, ließ er einen Schlag gegen
ihren Kiefer folgen, dem sie nicht mehr rechtzeitig ausweichen
konnte. Nina sah schwarz, schmeckte Aluminium. Sekundenlang
stand sie bewusstlos auf den Füßen, und das Herz hörte in ihrer
Brust zu schlagen auf.
Das Gesicht ihres Zwillingsbruders formte sich im Äther, so wie
in Comics und in Filmen. Es war riesig, füllte jeden Zentimeter des
imaginären Bildschirms in ihrem Kopf.
»He, Chris«, sagte sie. »Was liegt an?«
Er sah sie missvergnügt an wie jemand, der seinen Niednagel betrachtet. Unbehindert von klarem Bewusstsein, überkam sie die
Sehnsucht nach ihm mit der Gewalt eines Tsunamis und dem immensen Sog einer Hoffnung, von deren Existenz sie nichts mehr
geahnt hatte.
Dann war Chris fort und sie wieder auf der Straße. Ihr Herz,
diese sture Maschine, schlug weiter. Die verschwitzte Fratze des
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Exwrestlers hatte das Gesicht ihres Bruders gelöscht, und diese
schreckliche Verwandlung hatte sie rückwärtstorkeln lassen.
Der Mann griff nach hinten an seinen Hosenbund und zog eine
Waffe.
Nina drehte sich um und lief davon, aber er schoss. Trotzdem.
Die Kugel pfiff dicht an ihrem Kopf vorbei. Der Knall stanzte ein
Loch in ihr Trommelfell. Jedes Mal, wenn sie in jener Woche eine
Zigarette rauchte, stieg ein wenig Rauch aus ihrem linken Ohr
auf.
Und wenn sie sich die Kugel eingefangen hätte? Ihren Bruder
würde sie nie wiedersehen. Nichts würde sie je wiedersehen. Sie
würde anonym im Leichenschauhaus enden, man würde ihren
Leichnam entsorgen wie Abfall, sie direkt aus dem Kühlfach in den
Verbrennungsofen schieben. Kein Liebhaber würde ihr eine Träne
nachweinen. Niemandes Leben würde wegen ihres Ablebens zerstört sein. Hatten die Menschen nicht deswegen Ehepartner, Familien, Kinder? War es nicht das, was jeder sich wünschte? Letztendlich? Lebendig genug sein, um ein Leben zu zerstören?
Wenn man sich verirrt hat, verfolgt man seine Spuren zurück,
und ihre endeten bei Chris, wo auch immer und was auch immer
er war. Der Wind brandete gegen ihre Fenster, während Nina die
Liste der Namen und Telefonnummern studierte, die sie von einem
älteren Privatdetektiv erhalten hatte. Hunderte Chris Blacks, alle in
Kalifornien, falls er sich überhaupt dort aufhielt.
Nina legte einen Keramikteller neben ihr Telefon auf den Boden,
wickelte einen Twinkie aus und steckte eine rosa und weiß gestreifte Kerze darauf. Sie entzündete ein Streichholz, führte es an den
Docht und wünschte sich und ihrem abwesenden Zwillingsbruder
summend »Happy Birthday«. Nicht daran gewöhnt, Glück zu wünschen, appellierte sie stumm und verlegen an den Wasserfleck an
der Decke.
Schließlich, in den frühen Morgenstunden ihres achtundzwanzigsten Geburtstags, blies Nina Black ihre Kerze aus, nahm das
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Telefon zur Hand und wählte die erste Nummer von zweihundertdreiundvierzig auf der Liste. Eine Dame antwortete mit schlaftrunkener Stimme. »Hallo«, sagte Nina und räusperte sich. »Ich bin auf
der Suche nach Chris Black. Meinem Bruder.«
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# 3
Schauspielerei
In Japan kennt man ein Flussmonster namens Kappa. Es hat
schuppige Haut und trägt einen Schildkrötenpanzer. Seine Schädeldecke ist eine kleine Schüssel, in der sich Wasser befindet, damit es an Land atmen kann. Sein Gesicht gleicht dem eines Affen,
nur dass es anstelle der Lippen einen Schnabel hat.
Kappamonster sind tödliche Sumokämpfer. Wenn ein Kappa
dich zum Kampf herausfordert, verbeugst du dich vor ihm. Es wird
sich ebenfalls verbeugen und damit sein gesamtes Atemwasser verschütten, so dass es gezwungen ist, in den Fluss zurückzukehren.
Diesen Trick sollte man sich merken, denn ein Kappa ist grausam.
Es findet es lustig, Menschen die Eingeweide durch den Anus aus
dem Leib zu ziehen. Überdies frisst es Kinder.
Wenngleich dem Kappa Kinder gut schmecken, sind Gurken seine Lieblingsspeise. Um zu verhindern, dass die Kappa ihre Kinder
fressen, schreiben japanische Eltern deren Namen auf Gurken und
werfen diese in Teiche und Flüsse. Sie sehen zu, wie die Gurken
auf dem Wasser treiben, und kommen sich dabei vielleicht ein wenig albern vor. Ihre Kinder werden jedenfalls nicht verspeist. Das
klappt noch immer.
Ich bin die Baloney, dachte Isaac. Baloney.
»Heftiger, Baloney«, bellte der Regisseur in sein völlig überflüssiges Megafon. »Schüttle ihn noch mehr!«
Mit »ihn« meinte er seinen Hosenlatz, gefertigt aus einer der
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Mortadella ähnlichen echten Fleischwurst. Sie sprachen von einem
Lendenschurz, aber das war blanker Baloneyblödsinn, von dem
sich niemand täuschen ließ. Isaac wackelte mit den Hüften, bis das
Ding vor seinen Lenden hüpfte und zuckte und seinen Pimmel fettete, während er den Refrain von »My Way« schmetterte. Blutjunge
Nymphen sangen und tanzten im Hintergrund, mit nicht mehr am
Körper als Stringtangas, Baloney über den Brüsten und Scheibenkäse, der wie eine Fransengirlande um ihre Hüften flatterte.
»Cut!«, sagte der Regisseur.
Die Käsescheiben hatten sich in der Hitze der Studiobeleuchtung
wieder von selbst aus der Verpackung gelöst. Die Kostümbildnerin
kam mit neuen Scheiben und einem Tacker auf das Set. Sie waren
inzwischen bei Take dreizehn. Chaz, der Regisseur, schnauzte sie
an: »Versuch es mit Superglue!« Er winkte Isaac zu und zeigte auf
den Boden vor sich.
Isaac näherte sich Chaz mit gefletschten Zähnen. »Halt das mal«,
sagte Chaz und reichte ihm eine halbleere Wasserflasche. Isaac
nahm die Flasche, und Chaz schrieb wieder eine Anmerkung auf
sein Klemmbrett. Ohne aufzublicken, nuschelte er dabei: »Ehrlich gesagt, ich merke nicht, dass du wirklich bei der Sache bist.«
Stirnrunzelnd sah er auf seine Uhr. »Wir drehen hier einen wichtigen Werbespot. Und in dessen Mittelpunkt steht diese verdammte Traumsequenz. Ich möchte, dass du unser Produkt« – er formte
zwei kleine Kreise mit Daumen und Zeigefinger, die er bedeutungsvoll bewegte – »ver-kör-perst!«
»Verstehe.« Isaac stand stramm. »Ich bin die Baloney.«
»Deswegen haben wir dich ausgesucht und keins der anderen
Arschlöcher.«
»Ich frag mich ja nur … warum tragen wir das Produkt auf un­
seren Körpern.«
»Der Kunde wünscht Authentizität, Eraserface. Möchtest du etwa
nicht authentisch rüberkommen?«
»Doch. Doch, natürlich.« Isaac räusperte sich. »Aber ich frage
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mich trotzdem, wer die Baloney noch kaufen will, nachdem ich sie
zwischen den Beinen gehabt habe.«
»Die Marketingstrategie zielt auf Frauen«, sagte Chaz und ging
davon. Die Wasserflasche ließ er Isaac.
In einer spontanen Pirouette schleuderte Isaac die Flasche gegen
eine Wand.
Mit einem Knall prallte die Flasche ab und rollte Isaac vor die
Füße. Keiner der Leute, die im Studio umherliefen, bemerkte e­ twas
davon.
»Warum hast du das gemacht?« Hinter ihm stand Kate mit ihrer
Puppe. Beide musterten Isaac mit demselben Blick, wenn auch aus
verschiedenfarbigen Augen.
»Ich dachte, du wartest im Zuschauerbereich«, sagte Isaac. »Kids
haben auf dem Set nichts verloren.«
»Mir ist langweilig. Und ich habe Hunger.«
Isaac holte ihr ein Sandwich vom Cateringtisch. Er ließ sich auf
einen Stuhl neben ihr sinken und achtete darauf, dass sein Hosenlatz auch alles bedeckte. »Tut mir leid, dass es so lange dauert. Dein
Dad hat dich wahrscheinlich nie so lange warten lassen. Ich schätze,
für ein achtjähriges Mädchen ist das hier nicht besonders lustig.«
»Fast neun«, sagte Kate. »Du stinkst.«
»Stimmt. Ich hoffe, sie verpacken dieses Kostüm nicht noch mal
und verkaufen es wieder, wenn ich damit durch bin.«
Kate umklammerte die Puppe, die er ihr geschenkt hatte, als sie
noch klein war, eine von diesen glatzköpfigen Plastikpuppen, die
man in die Badewanne mitnehmen kann. Sie hatte sie ­Haarlos genannt und übersetzt noch häufig für sie. »Haarlos möchte einen
für Jugendliche verbotenen Film sehen«, sagte sie zum Beispiel.
Oder: »Haarlos hasst Salat.« Nachdem ihr Vater krank geworden
war, hatte Haarlos aufgehört, um etwas zu bitten, verließ aber
kaum noch Kates Arme.
»Warum hat der Mann diesen Namen zu dir gesagt?«, fragte Kate.
»Eraserface? Das ist nur ein Spitzname, Süße.«
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»Es hört sich fies an.«
»Ist Haarlos ein fieser Name?«
»Nein. Sie hat ja wirklich keine Haare. Aber du hast ein Gesicht.«
»Ist Kate ein fieser Name?« Er wollte sie kitzeln. Sie entwand
sich, lachte aber nicht.
Tatsächlich war Isaac dankbar für seinen Spitznamen, dankbar
für die Arbeit, die er ihm einbrachte, besonders jetzt. Dankbar,
dass er der einzige Könner im Geschäft war, der einen Spitznamen
hatte. Es hatte nämlich den Anschein, als stritten sich sämtliche
Schauspieler dieser Welt darum, vor ein und derselben, mit Vaseline beschmierten Linse Schlaftabletten, Salbe gegen Ausschlag
zwischen Sportlerschenkeln oder Lebensmittelkonserven verkaufen zu dürfen. Sein Therapeut sagte, dass Dankbarkeit Serotonin
bildet, also badete er geradezu in Dankbarkeit für die Hauptrolle in
diesem Werbespot für eine aufstrebende Fleischwarenfabrik direkt
hier in L. A.
Die Hälfte seiner Arbeit fand er hier, aber außerdem war er ständig zu Engagements unterwegs – Auftritte in Werbespots, bei Mes­
sen, Komparsenrollen in Filmen, die gar nicht erst ins Kino, sondern direkt als DVD auf den Markt kamen. Sein Agent k
­ rächzte
»New York« oder »Chicago« oder »Houston«, und schon flog er
­davon, mietete sich ein günstiges Auto, übernachtete in einem
günstigen Hotel, bestellte sich eine günstige Pizza und sah sich im
Kabelfernsehen ohne rechte Lust Pornos an.
Es war ein Leben, sein Leben.
Nachdem er das Studium an der Northwestern University abgeschlossen hatte, war Isaac, ausgestattet mit seinem Master of Fine
Arts, seiner Aufrichtigkeit und seinen Verdiensten als Schauspieler (War er nicht in der Aufführung der Northwestern als Hamlet
aufgetreten? War er nicht auch Willy Loman gewesen?), nach Los
Angeles gezogen, um auf dem Weg über Werbespots den Durchbruch ins Filmbusiness zu schaffen. Das mit dem Film erledigte
sich, die Werbespots blieben. Es hatte den Anschein, als gebe es
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einen unendlichen Vorrat an Mist, der den Amerikanern angedreht
werden musste, und Isaac hatte sich ein Renommee erarbeitet – gut
aussehend, verlässlich und bereit, so gut wie alles mitzumachen,
sei es auch noch so erniedrigend. Er trat bei Firmenveranstaltungen auf, drehte Commercials und Infomercials, Ausbildungsfilme,
Spots für Fernseh-Verkaufs-Channels. Mit der Zeit wurden seine
Jobs hochklassiger – Kreditkarten, Mode, Autos. Schon bald stellte Isaac fest, dass er in die Riege der Topleute seines Metiers abgestiegen war.
Und in der Tat befand er sich auf dem Weg zu einem Weltrekord:
die meisten Einzelauftritte in TV-Werbespots. Der Wahnsinn hatte begonnen, als ein Besetzungschef ihn »Der Mann mit dem auslöschbaren Gesicht« nannte und im TV Guide ein kleiner Artikel über
ihn erschien. Darin hieß es, dass Isaac in den diversesten Spots für
die vielfältigsten Produkte auftreten konnte, ohne dass jemand ihn
wiedererkannte. Bei jedem Produkt, das er zu verkaufen half, sah
er anders aus, und er wurde wieder und wieder gecastet, ohne dass
sich seine darstellerische Bandbreite als erschöpft erwies.
Nachdem der Artikel erschienen war, wurde Isaac noch häufiger
gebucht. Sein Agent stellte einen Assistenten ein und kaufte eine
Eigentumswohnung in Strandnähe. Alle wollten das ­auslöschbare
»Eraserface« für ihre Werbespots: Fluglinien, Versicherungsgesellschaften, Hersteller von Luxuslimousinen. Leitende Angestellte von Procter & Gamble riefen ihn direkt auf dem Handy an, und
man sprach ihn mit »son« an. Manchmal, wenn er die Vorzüge einer
neuen Diätpille anpries oder sich als riesige Tube Zahnpasta verkleidet hatte, fragte sich Isaac, welchen Sinn das alles haben mochte – ob er der Menschheit Gutes brachte oder nur die Leute verärgerte.
Isaac kratzte etwas getrocknetes Eigelb von Kates Oberlippe.
Sie schlug seine Hand beiseite. Schauspielern konnte Kate absolut nicht und lügen ebenso wenig. Ihr blasses Gesicht und ihr Augenblinzeln würden sie verraten. Okay, vielleicht hätte sie in einem
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Aufklärungsspot über vernachlässigte Kinder auftreten können.
Sie sah ihn an, und einen schrecklichen Augenblick lang glich sie
ihrem Vater. Dann schob sie unerwartet die Finger in Isaacs feuchte
Hand, während sie der Kostümbildnerin zuschauten, die mit Klebepistole und Käsescheiben herumwuselte. In diesem Augenblick
vermisste Isaac Kates Vater von neuem, heftig und herzzerreißend,
ungebrochen nach der Trauer am Tag zuvor.
Er räusperte sich. »Ich habe für uns einen Flug nächsten Montag
nach Denver gebucht.«
»Ich hab Angst vorm Fliegen«, flüsterte sie und trat gegen ein
Bein seines Metallstuhls.
»Du bist zu jung, um Angst vorm Fliegen zu haben. Hör bitte
auf.«
Kate ließ den Fuß ins Leere pendeln.
»Wovor hast du denn Angst?«
»Vorm Sterben.«
Isaac nahm einen Schreibblock und einen Bleistift vom Couchtisch. Er zeichnete ein Flugzeug, das aussah wie ein Hot Dog, und
deutete mit dem Stift darauf. »Die Flügel eines Flugzeugs stehen
schräg wie hier, siehst du? Wenn es sich vorwärtsbewegt, strömt
eine größere Menge Luft unter das Flugzeug als über das Flugzeug
hinweg.« Er zeichnete eine Anzahl Pfeile, die unter die Flügel wiesen. Als sich Kates Gesichtsausdruck nicht aufhellte, zeichnete er
dickere Pfeile. »Die Luft saugt das Flugzeug an, und deswegen fällt
es nicht runter.«
»Ich bin schon mal vom Klettergerüst runtergefallen«, sagte
Kate. »Die Luft hat mich nicht angesaugt. Und ein Flugzeug ist viel
größer als ich.«
»Es geht um die Aerodynamik. Die Größe ist nicht wichtig.«
Kates finsterer Miene las Isaac ab, dass ihm wohl keine Frau,
mochte sie noch so jung sein, seine Aussage abkaufen würde. »Die
Flügel schlagen ja noch nicht mal.« Kate stopfte das Essen in sich
hinein, als füttere sie eine Parkuhr.
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»Meine Arbeit zwingt mich dazu, jede Woche zu fliegen. Wenn
wir zusammenleben wollen, auch nur für eine kurze Zeit, musst du
mit mir fliegen. Willst du nicht versuchen, deine Tante zu finden?«
Unzerkaute Bissen blähten Kates Wangen. »Ich glaub schon.«
Sie kaute und kaute und schluckte mehrmals. »Sie ist doch meine
einzige Verwandte.«
Isaac betrachtete sie und wandte den Blick wieder ab. Eben dar­
um ging es ja, oder? Chris hatte ihm, Isaac, seinem besten Freund
seit dreiundzwanzig Jahren, nicht das Sorgerecht für Kate über­
tragen. Stattdessen hatte er es seiner abtrünnigen Schwester Nina
zugesprochen, wo auch immer sie sich verdammt noch mal befinden mochte.
Trotz einer gewissen Erleichterung (Isaac hatte in seinem ganzen Leben noch keine Windel gewechselt und war kaum gerüstet,
die Vaterrolle für ein Kind zu übernehmen, das noch nicht einmal
sein eigenes war – nicht dass er etwa Kate die Windeln wechseln
musste, sie war schließlich bereits neun) hatte ihn Chris’ Entscheidung verblüfft und einen leichten Groll geschürt, der noch nicht
ganz verglommen war. Nina war verschwunden. Wie sollte Isaac
sie finden, um Kate bei ihr abzuliefern? Wobei ihm bereits bei dem
Gedanken unbehaglich wurde. Wer wusste denn, in welcher Lage
sie sich befand? Warum hatte Chris beschlossen, seine Tochter
Kate dem Schwesterngespenst anzuvertrauen, wenn Isaac doch in
Fleisch und Blut zugegen war?
Außer, dass er oft auch nicht zugegen gewesen war.
Immerhin, ganz verschwunden war er erst gegen Ende. Bis dahin
war er oft da gewesen, wenn er nicht arbeiten musste und, nachdem Chris krank geworden war, auch an den Wochenenden. Er hatte Chris über den Tod seiner Frau hinweggeholfen, ihm beigestanden, als seine Medikamente versagten. Er hatte ihnen geholfen, die
Sozialwohnung zu beziehen, als Chris zu schwach wurde, um weiter an der Tankstelle zu arbeiten. Isaac selbst hatte eine billigere
Wohnung bezogen, um für Chris die Miete zu bezahlen. Er hatte
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sich um seine Post gekümmert und seine Rechnungen aus eigener
Tasche bezahlt.
Es war nicht leicht, für einen mittellosen Witwer zu sorgen,
dessen AIDS-Erkrankung sich gegen alle Medikamente resistent
­zeigte. Chris hatte sich fortwährend übergeben. Auf dem Teppich
lagen büschelweise Haare, die ihm ausgefallen waren. Er litt ständig unter Durchfall. Isaac überwand sich jeden Tag und machte
sauber. Er vertrieb die üblen Gerüche. Er besaß die Handlungsvollmacht. Er war das Mädchen für alles, bis Chris ins Krankenhaus
kam, um dort seine letzten Lebenswochen zu verbringen.
Isaac besuchte ihn nicht ein einziges Mal.
Stattdessen bewarb er sich um neun Rollen. Er schlief mit elf
Frauen, jeweils nur einmal. Fünfzehnmal schluchzte er auf dem
Sofa, sechsmal im Bett. Siebenmal besuchte er einen Trauerbegleiter. Er holte Kate vom Schulbus ab, brachte sie während der Besuchszeiten ins Krankenhaus und schluchzte draußen vor der Tür
in seine Hände, bis Kate herauskam. Dann hörte er auf zu weinen
und fuhr mit ihr in seine Wohnung in den Hollywood Hills. Täglich bereitete er ihr das Abendessen und brachte sie in ihr auf einer
Luftmatratze improvisiertes Bett. Während sie sich schlafend stellte, weinte er weiter.
Chris starb zwei Tage vor seinem achtundzwanzigsten Geburtstag. Kate war allein bei ihm, als er starb. Isaac hörte ihre Schreie
und griff sich eine Krankenschwester, die Kate am Bett vorfand. Sie
war außer sich, riss an Chris’ totem Finger und kreischte: »Wach
auf! Wach auf!« Kate hörte nicht auf zu schreien, bis sie gegangen
waren, und danach schrie sie noch weiter.
Isaac knibbelte an seinen Fingernägeln, bis etwas die Schallmauer
durchbrach und in seinen Kopf drang. Kates Stimme. »Was?«, fragte er.
»Ich hab gefragt, ob sie ist wie ich.«
»Wer?« Er zwang sich, das Mädchen anzusehen. Das Haar klebte
seitlich an ihrem hohlwangigen Gesicht.
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»Tante Nina.«
Isaac sah Nina vor sich, stumm und bösartig wie ein lauernder
Waschbär, der auf einen Baum geflüchtet war. Sie und Kate gehörten verschiedenen Spezies an. »Ich hab sie seit der Highschool
nicht mehr gesehen. Ich weiß nicht einmal, wo sie steckt.«
»Ich dachte, sie ist in Denver.« Kate hörte zu kauen auf. »Hast du
sie angerufen?«
»Ich habe nichts als eine Adresse. Unter Chris’ Sachen war auch
eine Postkarte von ihrem alten Lehrer. Also werden wir es bei ihm
zu Hause versuchen. Das wäre jedenfalls ein Anfang.« Isaac räusperte sich. »Kate, selbst wenn wir sie nicht sofort finden, kannst du
doch immer noch bei mir bleiben. Dein Vater hat nämlich auch gesagt …« Er verstummte allmählich, als Kate zu essen aufhörte und
auf ihren Schoß blickte.
»Isaac«, sagte der Regieassistent. »Wir wären dann so weit.«
»Sobald das hier im Kasten ist, fahren wir nach Hause und packen«, sagte Isaac. Kate musterte die Reste des Sandwiches, das in
ihrer Hand zerkrümelte.
Isaac nahm an seinem Platz unter den Scheinwerfern Aufstellung. Er stand mit gespreizten Beinen da, bereit, die gewünschten
Gefühle zu spielen. Am Tag zuvor hatten sie zugesehen, wie Chris
beerdigt worden war. Chris hatte einen billigen Friedhof in South
Los Angeles ausgesucht, weit weg von ihrer Gegend. Weder Isaac
noch Kate würden zufällig dort vorbeikommen. Sie müssten schon
ausdrücklich einen Besuch machen wollen. Chris wog fünfundfünfzig Kilo bei seinem Tod; seine Frau Bethany hatte sogar nur
achtunddreißig Kilo gewogen. Ein nahe gelegenes Grab war mit
Injektionsnadeln geschmückt, die man in Herzform in den Boden
gesteckt hatte. Isaac hielt die Augen während der Beerdigung offen. Der Friedhof lag in einer gefährlichen Gegend der Stadt, und
er malte sich aus, dass Kate wohl nicht wieder hierherkommen
würde, bevor sie alt genug war, sich eine Waffe zu kaufen.
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GRAND JUNCTION, VOR ZWÖLF JAHREN
Isaac fuhr vorm Haus der Blacks in der 28 1/2 Road vor. Chris
und Nina kletterten in den Jeep. »Bring uns bloß so weit wie möglich weg von dieser Scheiße«, sagte Chris, ihre Mutter hatte sie vor
zwei Wochen verlassen, und Chris und Nina sahen aus, als hätten
sie seitdem nicht mehr geschlafen. So wie ihr Vater war, hatte sich
Nina wahrscheinlich nicht mal getraut, die Augen zu schließen.
Isaac ließ die schäbigen Häuser und die Wohnwagenparks hinter sich, bis er die unbefestigte Piste erreichte und mit dem Jeep die
Book Cliffs hinaufkurvte. Unter grünlich blauem Himmel krochen
sie über die High Desert, bis sie auf eine Herde wilder Pferde stießen, die in einem flachen, von Schneekrusten gesprenkelten Canyon grasten.
»Genau wie im Song von den Stones«, sagte Chris. Er lehnte sich
zurück und flüsterte seiner Schwester etwas zu. Sie zog den Kopf
ein. Zum ersten Mal kam Isaac auf den Gedanken, dass Chris vielleicht Nina Dinge erzählte, die er ihm nicht anvertraute, und einen
Moment lang spürte er Eifersucht. Obwohl ja Chris und Nina die
Zwillinge waren, ließ sich Isaac nicht die Überzeugung nehmen,
dass seine und Chris’ Zukunft in einer gewundenen Doppelhelix
angelegt war, in einer passenden DNA , die sich bei solchen Freunden zeigt, ohne die zu leben man sich nicht vorstellen kann.
Sie planten, am letzten Schultag nach Westen aufzubrechen.
Isaac war der Notgroschen in die Hände gefallen, den seine Eltern
in Alufolie verpackt im Gefrierfach versteckt hatten, und Chris
hatte von seiner Arbeit an der Tankstelle etwas Geld gespart. Insgesamt besaßen sie beinahe genug, um zu zweit nach Nevada zu
kommen oder gar nach Kalifornien, wenn der Motor nicht zu viel
Benzin schluckte. Isaac warf einen Blick hinüber zu Nina. Chris
hatte geplant, Nina nachkommen zu lassen, sobald sie genügend
Geld aufbringen konnten. Wahrscheinlich.
Hast du es ihr schon gesagt? Im Rückspiegel stellte er Chris lautlos
mit den Lippen diese Frage.
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Schweig still, befahlen Chris’ Lippen. Er blickte auf den schmut­
zigen Horizont.
Isaac hatte keine Geschwister, wusste nichts von den entsprechenden Spielregeln. Er kannte kaum die eigenen Regeln. Er kam
sich in seinem Elternhaus stets wie ein Gast vor, als müsse er sich
für seine Existenz entschuldigen, für seine schmutzige Wäsche, für
seinen Bedarf an Erdnussbutter und Toilettenpapier. Er wollte sich
ungezwungen fühlen, nicht wie ein Stargast behandelt werden.
Chris nahm ihn immer als Selbstverständlichkeit, und dadurch
fühlte er sich nicht mehr so fehl am Platz.
Er wusste nicht, was Nina von ihm hielt, da sie nie einen Ton
sagte. Er machte ein Spiel daraus, indem er ihr willkürlich ­Fragen
stellte: »He, Nina, wenn im Wald ein Baum umstürzt und niemand
es hört, ertönt dann trotzdem ein Geräusch?« Oder: »Nina, war­
um lässt sich ein Mensch verwirren, aber nicht wirren?« Jeden Tag
verwendete er wertvolle Zeit des Gedankenschweifens darauf, sie
zu einer Reaktion zu provozieren: »He, Nina, Ratten können nicht
kotzen.« Oder: »He, Nina, zwei Wege verzweigen sich in einem
Wald. Ich nahm den öfter benutzten. Es war schnurzegal.« Sie reagierte nie, bis auf einmal beim Mittagessen: »He, Nina. Wie hört
sich das Klatschen mit einer Hand an?« Nina dachte einen Moment nach, langte über den Tisch und schlug ihm schallend ins
Gesicht.
Jetzt war Nina, als er hielt, als Erste aus dem Jeep gesprungen.
Isaac folgte ihr. Er hatte schon vor Jahren von diesen Pferden gehört und nach ihnen gesucht, seit er einen Führerschein besaß.
Eine von den Rädern des Jeeps aufgewirbelte Staubwolke hing geballt und niedrig in der Luft. Wie eine schmutzige Sonne. »Kommst
du?«, fragte Isaac Chris. Chris, noch nie ein Naturbursche, kletterte
auf den Rücksitz, um ein Schläfchen zu machen. Er zog die Baseballkappe tiefer in die Stirn und sackte in sich zusammen.
Mit knirschenden Schritten bewegten sich Isaac und Nina gemeinsam über den rissigen Boden. Die Luft roch harzig. Flauschige
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Pferde in allen Farben zitterten in der kühlen Luft, obwohl die Sonne noch kräftig schien. Der Wind blies ihr Fell schräg zur Seite. Sie
weideten im zähen Wüstengras, die Köpfe tief gesenkt.
Das einzige Tier, das nicht graste, war ein schwarzes Pferd mit
zerzauster Mähne, das sich von der Herde abgesetzt hatte. Isaac
und Nina stapften über Lehm und Gestrüpp, bis in den schwarzen
Augen etwas blitzte, das ihnen Einhalt gebot.
»Sieh dir den Schwarzen an.« Isaac wies nach vorn, den Arm auf
Schulterhöhe, als zielte er mit einem Gewehr. »Herden haben immer einen Wachposten. Wenn man den erschreckt, galoppieren alle
davon.«
Ninas dünne Jeansjacke glänzte an den Nähten, und die Kälte betäubte ihre Lippen. »Ist dir kalt?«, fragte Isaac. Er zog seine Jacke
aus und hielt sie ihr hin. Dabei wandte er den Blick ab, als wolle er
sie nicht mehr haben. Sofort umfing ihn die kalte Luft, aber er hatte
einen Wollpullover an, und Nina trug unter ihrer Jacke nur ein dünnes T-Shirt. Er schüttelte seine Jacke und hob sie hoch, bis da kein
Gewicht mehr war, weil Nina sie ihm abgenommen hatte. Als er sie
wieder ansah, hing die Jacke bereits um ihre Schultern und flatterte
fast um ihre Knöchel. Er schob die Hände in die Jeanstaschen, und
die Kälte seiner Finger kroch über auf seine Beine.
Sie sahen den Pferden beim Grasen zu. »Was wirst du nach dem
Abschluss machen?«, fragte er.
Nina zuckte die Achseln. Ihr schwarzes Haar wellte sich über die
Schultern seiner Jacke.
»Es sind doch nur noch drei Monate. Du solltest einen Plan
­haben.« Isaac gefiel der Klang seiner Stimme, so tief und selbstbewusst. Er rieb sich mit dem Handrücken über die kalte Nase. »Ich
habe einen Plan. Sogar einige Pläne. Mein Alter will, dass ich in den
Bergbau gehe, so wie er.« Außerhalb seines Kopfes klang es genauso schlimm wie innen. Er trat nach einem Stein, sah ihm nach, wie
er über den Boden rollte. »Da gibt es Jobs in Kalifornien und Nevada, aber die interessieren mich nicht. Sand und Steine.«
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Nina schürzte die Lippen und wandte den Blick nicht von dem
schwarzen Pferd.
»Ich wünschte, ich könnte was Cooles machen. Schauspieler
werden zum Beispiel. Shakespeare. Die großen Tragödien und
Komödien. Leben und Tod. Was Echtes.« Isaac hatte kürzlich in
­ihrer Schulaufführung Stanley Kowalski dargestellt und hatte
selbst einen Schreck bekommen, mit welcher Leidenschaft er diese
­erdachte Geschichte den Leuten vorgespielt hatte, die im Dunkeln
saßen. Jetzt war er verblüfft, dass er diese Sachen Nina gegenüber
aussprach, obgleich er sie noch nicht einmal Chris anvertraut hatte.
Sie hörte nicht zu, also redete er weiter.
»Man kann in einer anderen Person verschwinden«, sagte er. »In
jemand Überraschendem, obwohl man ja nicht wirklich überrascht
wird, da man den Text kennt. Egal, wie beschissen sie drauf sind,
diese Personen, so beschissen, wie ich drauf bin, ist es nicht. Das
liegt eben daran, dass ihr beschissener Zustand Kunst ist und meiner, der ist ganz einfach … da.«
Ein Pferd warf wiehernd den Kopf in die Höhe. Nina antwortete
mit einem Zungenschnalzen.
»Natürlich könnte ich das nicht machen, um mir den Lebensunterhalt zu verdienen. Ein toller Schauspieler werden oder so. Nur
ein Prozent von einem Prozent von einem Prozent bekommt Jobs
als Schauspieler.« Isaac wusste nicht, ob das stimmte. Es klang jedenfalls so. Er versetzte dem kalten Staub einen Tritt und sah zu,
wie er über den Boden in Richtung des diesigen Horizonts trudelte.
»Vielleicht sogar noch weniger.«
Der Wind frischte auf, und wenn Isaac nicht so verblüfft dar­
über gewesen wäre, dass sie überhaupt sprach, hätte er vielleicht
gar nicht gehört, dass Nina sagte: »Aber jemand muss es tun.«
»Was?«
Sie sprach lauter. »Jemand muss diese Jobs bekommen. Oder es
würde gar keinen Shakespeare geben. Keine Theaterstücke oder Filme. Stimmt doch?« Der Wind peitschte ihr das Haar übers Gesicht.
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»Klar«, sagte er. »Jemand kriegt diese Jobs.«
Sie neigte den Kopf zur Seite und fragte: »Und warum nicht du?«
Als sie nicht lachte, errötete Isaac, verdutzt und ärgerlich. Er
wollte ihr sagen: Weil ich ein Nichts bin. Ich stamme aus dem Land des
Nichts. Ich könnte es nicht. Es ist unmöglich für Leute wie uns, Hinter­wälder,
pleite und blöd.
Sie wartete ab. In seiner Jacke.
Er hätte sie am liebsten geschüttelt, sie zu Boden geworfen, geküsst. Stattdessen räusperte er sich und sagte leise: »Du hast ja keine Ahnung, wie schwer das Schauspielern ist.«
Ein Lächeln nahm einen ihrer Mundwinkel in Beschlag und verharrte dort wie ein kleiner Fleck. Nina drehte sich um und ging
langsam weg von ihm. Um ihre Füße raschelte das gefrorene Gras.
Der Wächterhengst wandte sich ihr zu. Seine Vorderläufe zuckten
nervös. Nina ging unbeirrt weiter voran. Isaac sagte: »Nina, diese
Pferde sind wild und gefährlich«, aber sie scherte sich nicht darum
und kam dem Pferd näher und näher. Es schnaubte und schlug mit
dem Schwanz. Sie hielt inne, als würde sie sich in die Empfindungen des Tiers hineinversetzen. Dann ging sie weiter vorwärts.
»Nina, was machst du?«, zischte Isaac, aber sie konnte ihn nicht
mehr hören. Er näherte sich mit ein paar Schritten ihrem zerbrechlich wirkenden Rücken.
Jetzt stand sie direkt vor dem Pferd. Dessen schwarze Mähne glich
einem gesträubten Irokesenschnitt. Sie beugte sich in den h
­ eftigen
Wind, bis sie einander in die Augen sahen, nicht weiter als eine
Armlänge voneinander entfernt. Voller Angst sah er sie von dem
Pferd angegriffen und bewusstlos getreten. Angst hatte er auch vor
einer Stampede. Und er hatte Angst, dass … er wusste es nicht.
Mit einem Schwung ergriff Nina die Seitenzipfel von Isaacs Jacke und schwenkte sie hoch über den Kopf. Wie Fledermausflügel.
Der Hengst bäumte sich bedrohlich über Nina auf. Sie bewegte
sich nicht, ließ die schwarzen Schwingen im Wind flattern. Die von
Erde beschmutzten Vorderhufe stocherten über Ninas winzigem
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Kopf in der Luft, und das Pferd wieherte laut. Isaac stellte sich vor,
wie Ninas Kopf zerschmettert würde, wenn das Pferd auf ihr landete, wie ihr Körper von den Hufen in den Boden gestampft würde,
unwiderruflich leblos. Er rief laut und rannte.
Das Pferd wandte sich in letzter Minute zur Seite. Seine Hufe landeten direkt neben Ninas abgetragenen Schuhen. Es stieß sich vom
Boden ab, katapultierte seinen Körper weg von ihr, die reglos auf
demselben Fleck stand, immer noch nach vorn gebeugt.
Inzwischen galoppierte die gesamte Herde auf den Höhenrücken
zu, bewegte sich wie ein einziges massiges Monster. Das schwarze
Pferd bildete die Nachhut. Der Boden erzitterte unter Isaacs Füßen,
die trockene Luft füllte sich mit Staub und hallte wider vom Getrampel der abgenutzten harten Hufe. Auf den Rücken der Pferde
wellte sich das Fell, wenn die Muskeln sich dehnten und strafften,
wieder und wieder im perfekten Rhythmus.
Isaac wusste, dass er ihnen zuschauen sollte. Niemals würde
er Vergleichbares zu sehen bekommen. Aber er konnte den Blick
nicht von Nina wenden, die verwandelt schien. Nina mit ihrem frechen Lächeln, Nina mit ihren schwarzen Flügeln.
Keuchend erreichte er sie. Sie senkte die dürren Arme. ­Plötzlich
ganz klein in seiner Jacke, grinste sie durch den Lärm und den
Staub zu ihm auf.
»Schauspielkunst«, sagte sie.
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