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Aktuelles
Giuseppe
Ungaretti.
P. Antonio Spadaro.
Eine Civiltà der Schriftsteller,
Dichter und Cybernauten
Pater Antonio Spadaro ist der neue Direktor der Civiltà Cattolica.
In der Zeitschrift der Jesuiten behandelt er seit Jahren Themen aus den
Bereichen Literatur, Musik, Kunst und neue Kommunikationstechnologien.
Interview.
von Paolo Mattei
eit September ist Pater Antonio
Spadaro der neue Direktor der
Civiltà Cattolica. Die alle zwei
Wochen erscheinende, weit verbreitete Jesuitenzeitschrift wurde 1850
gegründet und ist bekanntlich die einzige katholische Zeitschrift, deren
Druckfahnen vom Staatssekretariat
des Heiligen Stuhls geprüft werden.
S
46
30TAGE N. 9 - 2011
P. Spadaro wurde 1966 im sizilianischen Messina geboren. Nach dem
Studium der Philosophie setzte er seine akademische Laufbahn mit einer
Promotion in Theologie an der
Päpstlichen Universität Gregoriana
in Rom fort. Seit 2000 unterrichtet er
dort am Interdisziplinären Zentrum
für soziale Kommunikation. 1988
begann sein Noviziat in der Gesellschaft Jesu, 1996 wurde er zum Priester geweiht. Seit 1993 schreibt er
für die Civiltà Cattolica – ins Redaktionsteam wurde er 1998 aufgenommen. Er befasst sich hauptsächlich
mit Literaturkritik, mit besonderem
Augenmerk auf den zeitgenössischen
italienischen und amerikanischen
INTERVIEW
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Manuskriptseite
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Dichter
Giacomo Leopardi.
Autoren. Er schreibt auch über Literaturtheorie, Musik, Kunst, Filme und
neue Kommunikationstechnologien.
Wir haben dem neuen Direktor
einige Fragen gestellt.
Wann und wie wurde Ihre Berufung zum Priestertum deutlich? Und wann haben Sie beschlossen, in den Jesuitenorden
einzutreten?
ANTONIO SPADARO: Es ist immer schwer, diese Frage zu beantworten. Berufung ist etwas, das „biologisch“ mit uns wächst, mit unserer
persönlichen Geschichte. Ein Exerzitienkurs in der Toskana, an dem ich
in meinen ersten Universitätsjahren
zufällig teilgenommen habe, spielte
eine wichtige Rolle. Ich hatte den
Handzettel mit der Einladung dazu
auf einem Tisch gefunden. Es war eine vollkommen neue Erfahrung für
mich: Tage absoluter Stille. Aus diesem Blickwinkel betrachtete ich die
ersten zwanzig Jahre meines Lebens
und spürte eine tiefe Harmonie mit
der geistlichen Erfahrung, die ich ge-
rade machte: eine Harmonie und
Übereinstimmung, die ich noch nie
zuvor gespürt hatte. Ich habe niemals
an der Wahrheit jenes Augenblicks
gezweifelt.
War das Ihr erster Kontakt
zum Orden des heiligen Ignatius?
Nein, ich hatte die Mittelschule
am Ignatianum besucht, dem Institut
der Jesuiten in meiner Stadt. Das war
eine hervorragende kulturelle und
kreative Erfahrung, ich lebe noch
heute von den Grundhaltungen, die
in jenen Jahren gereift sind. Die Unterrichtsmethode der Jesuiten hatte
keine traditionelle Ausrichtung. Es
war ein Unterricht, der immer über
die persönliche Entdeckung ging.
Wie die ignatianische
Pädagogik…
Genau. Und wie auch der heilige
Thomas erklärt: „Von den beiden Arten, Wissen zu erwerben – der persönlichen Entdeckung (inveniendo)
und dem Lernen (addiscendo) –, ist
die erste wichtiger, die zweite sekundär.“ In dieser Schule wurde auf
Fächer, die normalerweise als Ergänzungsunterricht betrachtet werden,
wie Kunst- oder Musikerziehung, viel
Wert gelegt.
Wann entstand Ihre Leidenschaft für die Literatur?
Wie im Falle der Berufungen, entwickeln sich auch die Leidenschaften
manchmal auf ungewöhnlichen Wegen, die nicht immer leicht nachzuvollziehen sind. Die Liebe zur Literatur entstand eigentlich nicht sehr
früh. Als Kind habe ich nicht viele
Bücher gelesen, ich zog Comics vor.
Ich kann mich aber an ein ScienceFiction-Buch für Jugendliche erinnern, das mich ganz in seinen Bann
zog. Das machte zwar noch keine
„Leseratte“ aus mir, aber ich begann
doch, mich mit Büchern zu beschäftigen.
Welche Autoren haben Sie in
Ihrer Jugend am liebsten gelesen?
Kafka, Pirandello und Leopardi –
Schriftsteller, die gut zu den Leiden
des Jugendalters passen. Ich sah in
ihnen aber auch etwas, das mich
„überstieg“, etwas, das den für dieses
Alter charakteristischen Sorgen
trotzte. Einen besonderen Platz aber
verdient Ungaretti. In der dritten
Klasse der Mittelschule ließen mich
die Jesuiten die Werke dieses großen
Dichters lesen. Wenn ich heute daran zurückdenke, frage ich mich, wie
das möglich war. Seine Briefe, seine
„atomi di emozione [Atome des Gefühls]“ haben mich tief geprägt. Ich
habe seinen Versen viel zu verdanken.
Dann begann die Literatur
allmählich, mehr Raum in Ihrem
Leben einzunehmen…
Wie bereits gesagt, hat sich meine
Beziehung zur Literatur mit der Zeit
entwickelt, vor allem in Verbindung
mit Autoren, die mich zum Nachdenken brachten, also die sogenannten
Philosophen-Schriftsteller. Dann,
nach dem Universitätsstudium, hat
sich meine Leidenschaft für die Geschichten, die Erzählung, die Dichte
der poetischen Worte entwickelt.
Mein cursus studiorum war in der
Tat vor allem philosophisch: ich habe
meinen ersten Abschluss in Philosophie 1988 an der Universität Messina erworben; zwei Jahre später habe
ich das curriculum der vertiefenden
philosophischen Studien in Padua
am Institutum Aloisianum abge- ¬
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Aktuelles
schlossen. Die große Liebe zur Literatur entstand, als ich begonnen habe, dieses Fach zu unterrichten. Meine Ordensoberen haben mich nach
den ersten Ausbildungsjahren – der
Zeit, die wir das „Magisterium-Interstiz“ nennen – Ende 1991 gebeten,
an unserem naturwissenschaftlichen
Gymnasium „Massimiliano Massimo“ Literatur zu unterrichten. Die
Leidenschaft der Jugendlichen, die
das Feedback dessen war, was ich ihnen in den Unterrichtsstunden anbot, hat mich mit der Erfahrung des
Wortes und des Erzählens verbunden. So habe ich allmählich begriffen, dass sie eine tiefe und reiche
Deutung des Lebens ermöglichten.
Ich habe mit meinen Schülern die
Metapher der „Reise“ im kollektiven
Imaginarium des Abendlandes untersucht. Aus dieser Arbeit ist ein
Buch mit Texten und Kommentaren
entstanden: Tracce profonde. Il
viaggio tra il reale e l’immaginario
[Tiefe Spuren. Die Reise im Spannungsfeld von Wirklichkeit und Vorstellung]. Und es entstand auch die sichere Überzeugung, dass mich die
Literatur auf meinem Lebensweg
von nun an immer begleiten würde.
Sie haben in der Civiltà Cattolica auch viele Artikel über
amerikanische Literatur geschrieben.
Ja. Ich habe 2002 begonnen,
mich damit zu beschäftigen. Damals
ging ich für die letzte Phase meiner
Jesuiten-Ausbildung in die USA, in
die Jesuitenprovinz von Chicago –
nach Milford in Ohio im tiefsten Mitt-
Oben, Cesare Pavese;
Rechts, Raymond Carver.
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leren Westen. Es war die wundervolle
Entdeckung eines frischen Blicks auf
die Realität…
Das war auch der Eindruck,
den die Schriftsteller aus Übersee auf Pavese machten…
In der Tat… Die amerikanischen
Dichter und Schriftsteller, auf die ich
stieß, beschrieben die Realität, als
würden sie sie im Augenblick der
Schöpfung entdecken. Ein unmittelbarer Blick, manchmal naiv, aber gerade diese Naivität hat mir gefallen
und gefällt mir immer noch. Es war
genau das, wovon ich spürte, dass es
der europäischen Literatur fehlte,
der Literatur des 20. Jahrhunderts,
die auf mich wirkte wie das gequälte
Produkt der verschlungenen Windungen des Bewusstseins, die Frucht
eines andauernden Kreisens um sich
selbst, mit wenig Kontakt zur Wirklichkeit…
Wer sind Ihre amerikanischen Lieblingsautoren?
Viele: Edgar Lee Masters, Sylvia
Plath, Jack London, Emily Dickinson, Jack Kerouac… Aber drei ganz
besonders: Walt Whitman, den ich
auch übersetzt habe; Raymond Carver, dem ich einen der wenigen detaillierten Aufsätze gewidmet habe,
die es auch auf italienisch gibt; und
Flannery O’Connor, von der ich im
Mai im Rizzoli-Verlag einige unveröffentlichte Schriften herausgegeben
habe [Il volto incompiuto, Anm. der
Red.]. Meine Begeisterung für die
Werke dieser großen amerikanischen Schriftstellerin, die 1964 im
Alter von nur 39 Jahren gestorben
ist, hat mich mehrmals auf ihre
Farm in Milledgeville, Georgia, geführt – und ich habe auch Kontakte
zu Leuten aufgenommen, die sie
persönlich gekannt haben. An
Bruce Springsteen.
Whitman beeindruckt mich vor allem
der „ursprüngliche Blick“ auf die Dinge; an Carver – in primis Carver als
Dichter – dagegen die unvergleichliche Fähigkeit, die Gefühle, die er beschreibt, auf das Wesentliche zurückzuführen. An O’Connor dagegen gefällt mir die paradoxe und groteske
Perspektive, in der sie die Wirklichkeit sieht und die sich in jedem ihrer
Romane und Erzählungen findet. Ihre Texte helfen mir, die Welt aus immer wieder neuen, überraschenden
Blickwinkeln zu betrachten.
Sie haben den amerikanischen Rock auf die Seiten der
Civiltà Cattolica Einzug halten
lassen: Sie haben über Bruce
Springsteen und Tom Waits geschrieben. Warum das?
Auch hier war der Zufall im Spiel
– und wahrscheinlich auch Neugier.
Eines Tages hörte ich zufällig The
ghost of Tom Joad von Springsteen,
INTERVIEW
und die Musik, die Texte fesselten
mich. Die Lieder haben eine große
Übereinstimmung mit gewissen
Aspekten der Werke O’Connors, die
der amerikanische Liedermacher,
wie ich später erfuhr, gelesen hatte,
als er an seiner mit der akustischen
Gitarre aufgenommenen Platte Nebraska arbeitete. Nach The ghost of
Tom Joad wollte ich alles hören und
lesen, was Springsteen komponiert
Übrigen lebt Springsteen seit seiner
Schulzeit mit der biblischen und religiösen Bildwelt. Er hatte die katholische Einrichtung Santa Rosa da Lima in Freehold, New Jersey, besucht
– und einige seiner Gesten (das Anzünden einer Kerze vor der Muttergottes in der Basilika San Petronio
bei seiner Tour nee in Bologna
1998; oder das Tragen einer Medaille, die den heiligen Christophorus
Pater Antonio Spadaro, auf dem Foto rechts, mit Jovanotti beim Treffen in der Kapelle
der Universität Sapienza (Rom, Januar 2010).
Die amerikanischen Dichter und Schriftsteller,
auf die ich stieß, beschrieben die Realität,
als würden sie sie im Augenblick der Schöpfung
entdecken. Ein unmittelbarer Blick,
manchmal naiv, aber gerade diese Naivität
hat mir gefallen und gefällt mir immer noch.
hatte. Daher die Idee, in der Civiltà
Cattolica darüber zu schreiben, eine
Idee, die dann mit dem Erscheinen
von The Rising [„La Risurrezione“
di Bruce Springsteen, 2002, IV, 1326, Anm. d. Red.] tatsächlich Gestalt
angenommen hat – jenem Album,
das von den tragischen Ereignissen
des 11. September inspiriert war. In
Italien wurde die grundlegend religiöse Prägung und das Gebet, von denen das Album inspiriert ist, scheinbar stillschweigend übergangen. Im
darstellt, den Patron der Reisenden)
sind Ausdruck einer Art von Beziehung zu den Symbolen christlicher
Frömmigkeit. Diesem Artikel über
Springsteen folgten dann die über
Tom Waits, Nick Drake und Nick Cave. Mir scheint, dass der Rock die
Bitte des Menschen um Rettung stärker zum Ausdruck zu bringen vermag als andere künstlerische Ausdrucksformen.
Hatten Sie jemals den Eindruck, dass man in der Redakti-
on oder im Staatssekretariat wegen dieser Themenwahl perplex
oder verstimmt gewesen wäre?
Nein, überhaupt nicht, es wurde
wohlwollend aufgenommen und sogar überaus kompetent Korrektur
gelesen: bei dem Artikel über Springsteen wurde mir eine kleine Präzisierung mitgeteilt hinsichtlich des Datums der Komposition eines frühen
Songs des Liedermachers, der nie
auf Platte veröffentlicht worden
war…
Keine Kritik also, auch nicht
als Sie zu Jovanotti und Ligabue
übergegangen sind?
Nein, auch dann nicht. Damals –
1999 – beschäftigte ich mich mit der
jüngeren Generation von Liedermachern, die heute um die vierzig sind.
Ich wollte aber auch einen Blick auf jene Liedermacher werfen, die an einem bestimmten Punkt ihrer Karriere
beschließen, narrative Texte zu veröffentlichen, die nicht für die Kombination mit Musik und Tönen bestimmt
sind. Das hatten kurz zuvor Jovanotti
und Ligabue mit den beiden Büchern
getan, die ich in meinem Artikel analysiert habe. Ich finde dieses Phänomen nach wie vor sehr interessant. Im
Januar 2010 konnte ich in der Universitätskapelle der Sapienza in Rom
eine Begegnung mit Jovanotti zum
Thema „successo“ organisieren [das
ital. Wort sowohl für „Erfolg“ als auch
für „es ist passiert“]. Dabei sagte er
sehr Faszinierendes und erklärte in einem Wortspiel, dass ihn „successo“
als „Partizip Perfekt von succedere“
[d. h. im Sinn von „es ist geschehen,
es ist passiert“ und damit Vergangenheit] nicht interessiere…
Einer der von Ihnen am meisten geschätzten zeitgenössischen Schriftsteller ist Pier Vittorio Tondelli, der vor 20 Jahren
verstorbene „skandalumwitterte“ Romancier von Altri libertini [dt. Andere Freiheiten]...
Auch das war reiner Zufall. Es
war 1992, Tondelli war ein Jahr zuvor im Alter von 36 Jahren gestorben, und ich kannte seine Texte
nicht. Eines Tages, kurz bevor ich eine lange Zugfahrt begann, fiel mir einer seine Romane in die Hände. Damals unterrichtete ich am „Massimo“ und beschäftigte mich, wie bereits gesagt, mit Reiseliteratur. In einem Buchladen im Bahnhof – mir
blieb bis zur Abfahrt des Zuges ¬
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noch etwas Zeit – blätterte ich flüchtig die ersten Seiten des Buches Camere separate [Getrennte Zimmer]
durch und bemerkte, dass es um eine
Flugreise ging… Die Übereinstimmung überraschte mich. In diesem
Roman, dem letzten, den Tondelli
1989 geschrieben hat, und in den
anderen, die ich dann in antichronologischer Reihenfolge gelesen habe,
erkannte ich die Dichte einer großen
literarischen Erfahrung. Ich erkannte die Tiefgründigkeit eines Schriftstellers, der mit seiner Existenz, mit
seinem Leben rang, in dem der
Glaube eine entscheidende Rolle gespielt hatte. Ich wusste auch, dass
Tondelli in den achtziger Jahren das
Projekt „Under 25“ ins Leben gerufen hatte, eine Art Schreiblabor im
Rechts, der Schriftsteller
Pier Vittorio Tondelli;
unten, der Aufsatz
von Antonio Spadaro
„Lontano dentro se stessi“.
Lʼ attesa di salvezza in
Pier Vittorio Tondelli .
Fernstudium, das viele junge angehende Schriftsteller angesprochen
hatte: das war auch für meine Arbeit
interessant. Als ich Tondelli las, entdeckte ich einen Autor katholischer
Herkunft und Bildung, der eingetaucht in die „italienische Postmoderne“, wie er die achtziger Jahre
nannte, das grundlegende Streben
nach Heil zum Ausdruck brachte,
das jedem Menschen zueigen ist. Ich
merkte, dass seine Fragen keines50
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wegs oberflächlich und bloß, sagen
wir, „postmodern“ waren: es waren
die großen Fragen jedes Menschen.
So begann ich, seine Aufzeichnungen, seine Anmerkungen zu studieren, und ich hatte das Glück, in seinem familiären Umfeld zu verkehren. In seiner Privatbibliothek waren
die Bücher erhalten, die ihn geformt
hatten, darunter die Bibel, die Nachfolge Christi, die mittelalterlichen
Mystiker und die heilige Theresia
von Lisieux. Und im Lauf der Jahre
habe ich Artikel und Bücher über
sein Werk geschrieben.
Sie haben auch unveröffentlichte Notizen des Schriftstellers
aus Correggio herausgegeben,
darunter die schönen und eindringlichen Worte: „Die Litera-
teau an Jacques Maritain: „Literatur
ist unmöglich. Man muss davon
wegkommen. Und es ist unnütz zu
versuchen, mit der Literatur von ihr
wegzukommen, denn nur der Glaube und die Liebe erlauben uns, aus
uns selbst herauszugehen.“
Der Schriftsteller ist sich bewusst,
dass die Literatur eine menschliche
Existenz nicht retten kann, so großartig sie auch sein mag. Sicher ist das
ein Rat für den Literaturkritiker oder
-liebhaber. Wir sind nicht berufen zu
verifizieren, ob ein Werk moralischen Kriterien entspricht oder
nicht, oder die Texte auf der Grundlage der Dogmatik abzuwägen, sondern vielmehr dazu, unser Urteil mit
dem des Jüngsten Gerichts zu vergleichen. Wir müssen uns bewusst
Vor fünfzehn Jahren habe ich eine
unveröffentlichte Notiz von Tondelli
gefunden, mit Bleistift geschrieben
auf eine Seite der Übersetzung des
Ersten Korintherbriefes von Testori,
darin heißt es: „Die Literatur rettet
nicht… Das einzige, was rettet,
ist der Glaube, die Liebe und
die Wirkung der Gnade…“
tur rettet nicht, aber genausowenig der Unschuldige. Das einzige, was rettet, ist der Glaube,
die Liebe und die Wirkung der
Gnade…“ Eine Beobachtung,
die eine Empfehlung für Literaturkritiker und -liebhaber zu
sein scheint…
Ich habe diese Bleistiftnotiz 1996
auf einer Seite der Übersetzung des
ersten Korintherbriefes von Giovanni Testori gefunden. Es ist wahrscheinlich das letzte Buch, das er
kurz vor seinem Tod gelesen hat. Er
hatte es sich von seinem Vater bringen lassen, als er bereits im Krankenhaus lag. Wie viele Schriftsteller
an ihrem Lebensende, so machte
auch Tondelli sich Gedanken über
den Wert seiner literarischen Erfahrungen und über das Gewicht, das
sie für ihn hatten. Das eben Zitierte
erinnert an die Worte von Jean Coc-
machen, dass sich unsere Beurteilung einer künstlerischen Erfahrung
vor dem Hintergrund der Ewigkeit
abzeichnet. Meiner Meinung nach
wirft die Notiz von Tondelli Licht auf
diese Intuition.
Sie haben vom kreativen
Schreiben gesprochen. 1998
haben Sie die Literaturwerkstatt „BombaCarta“ gegründet,
die sich damit beschäftigt.
Diese Idee verdankt ihren Ursprung einer Schublade. Ich saß am
Lehrerpult in einer Klasse, in der ich
unterrichtete, und suchte in der
Schublade, die defekt war, einen
Stift. Ich zog so energisch daran,
dass die Lade vollständig herausfiel.
Da sah ich, dass hinten ein Gedicht
eingeritzt war. Es war nicht gezeichnet, aber der „Verfasser“ war sicher
einer meiner Schüler. Das beeindruckte mich: Die Jugendlichen tun
INTERVIEW
Links, die Homepage
der Seite
www.cyberteologia.it,
betrieben von Pater
Spadaro.
Unten, die Homepage
der Internetseite
der Civiltà Cattolica.
sich schwer damit, über ein vorgegebenes Thema zu schreiben, und
dann ritzen sie Gedichte in Schubladen ein. Also machte ich am
Schwarzen Brett einen Aushang
und fordert sie auf, an einem Austausch über ihre Tagebücher, privaten Aufzeichnungen, ihre Gedichte,
teilzunehmen. Beim ersten Treffen
waren wir 42. Ich begriff, dass da etwas war, das es zu vertiefen galt. Diese anfängliche Erfahrung sollte nicht
die letzte sein: Wir haben weiter
Treffen abgehalten, eine mailing
list und eine Internetseite geschaffen. Interessierte aus anderen Teilen
Italiens haben Kontakt zu uns gesucht, es haben sich „BombaCarta“Gruppen in verschiedenen Städten
gebildet: heute ist es eine Vereinigung von Gruppen und Werkstätten
für kreatives Schreiben.
Zu Beginn dieses Jahres haben Sie einen Blog über „Cybertheologie“ (www.cyberteologia.it), „verstanden als Verstehen des Glaubens im Zeitalter des Internet“ ins Leben gerufen… Sie haben bekanntlich
ein besonderes Interesse am
Universum der sozialen Netzwerke im Internet. Sie haben in
der Civiltà Cattolica über
„Hacker-Ethik und christliche
Sicht“ geschrieben, ein Artikel
der kürzlich auch vom Economist aufgegriffen wurde… Woher dieses Interesse?
Das Internet, dem ich mich auch
dank der Literatur angenähert habe,
ist heute ein normaler Bereich des
täglichen Lebens geworden, aus dem
immer mehr Menschen ihr Wissen
ziehen und ihre Beziehungen bilden.
Meine Frage war sehr einfach: Wenn
das Internet nicht nur unsere Gewohnheiten verändert, sondern auch
unsere Art zu denken und die Welt zu
erkennen, ändert sich dann nicht
auch die Art und Weise, den Glauben
zu denken? Aus dieser Fragestellung
heraus, die durch einen Vortrag entstanden ist, um den mich die italienische Bischofskonferenz CEI gebeten
hat, habe ich gesehen, dass eine Reflexion dieser Art in Gang gebracht
werden musste. Fides quaerens intellectum: Das wurde immer als Ziel
und Sinn der Theologie gesehen. Ich
denke, dass die Suche nach Verstehen heute nicht vom Internet absehen kann. Ich konnte feststellen, dass
seitens der Kirche auf verschiedenen
Ebenen großes Interesse, große Sympathie besteht. Die Worte des Papstes zu diesem Thema sind sicher eine große Ermutigung.
Und nun die Leitung der Zeitschrift Civiltà Cattolica. Eine
schwere Aufgabe?
Ich empfinde sie mit einer gewissen bangen Sorge, die mir oft den
Schlaf raubt… Ich spüre die Last der
Verantwortung. Die Zeitschrift gibt es
seit 162 Jahren, ich bin mir ihrer historischen Rolle bewusst, und ihre
Leitung anzunehmen lässt mich die
Last und die große Bedeutung dieser
Informationsquelle spüren. Ich will
aber natürlich auch das Beste geben –
gerade jetzt, wo die Art der Kommunikation im Wandel begriffen ist.
Auch La Civiltà Cattolica entstand
ja in einer Zeit großer Umbrüche und
machte ein innovatives Angebot: es
war eine kulturelle kirchliche Zeitschrift, nicht in Latein, sondern auf
Italienisch, und sie gebrauchte eine
nüchterne Sprache, auch wenn sie
spezielle Themen behandelte. Sie
war in ganz Italien verbreitet, als es
Italien noch gar nicht gab… Derzeit
haben wir eine Internetseite, sind auf
Facebook und bei Twitter vertreten.
Wir werden versuchen, diese Präsenz
immer lebendiger werden zu lassen.
Werden Sie sich auch als
Chefredakteur noch mit Literatur und neuen Kommunikationstechnologien befassen?
Ich stehe noch am Anfang und
muss erst das nötige Gleichgewicht
finden. Im Januar soll ein neues Buch
von mir über „Cybertheologie“ herauskommen. Dann ein Aufsatz über
amerikanische Literatur im nächsten
Jahr… Aber fürs Erste hat die Leitung der Zeitschrift Vorrang.
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