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Aktuelles Giuseppe Ungaretti. P. Antonio Spadaro. Eine Civiltà der Schriftsteller, Dichter und Cybernauten Pater Antonio Spadaro ist der neue Direktor der Civiltà Cattolica. In der Zeitschrift der Jesuiten behandelt er seit Jahren Themen aus den Bereichen Literatur, Musik, Kunst und neue Kommunikationstechnologien. Interview. von Paolo Mattei eit September ist Pater Antonio Spadaro der neue Direktor der Civiltà Cattolica. Die alle zwei Wochen erscheinende, weit verbreitete Jesuitenzeitschrift wurde 1850 gegründet und ist bekanntlich die einzige katholische Zeitschrift, deren Druckfahnen vom Staatssekretariat des Heiligen Stuhls geprüft werden. S 46 30TAGE N. 9 - 2011 P. Spadaro wurde 1966 im sizilianischen Messina geboren. Nach dem Studium der Philosophie setzte er seine akademische Laufbahn mit einer Promotion in Theologie an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom fort. Seit 2000 unterrichtet er dort am Interdisziplinären Zentrum für soziale Kommunikation. 1988 begann sein Noviziat in der Gesellschaft Jesu, 1996 wurde er zum Priester geweiht. Seit 1993 schreibt er für die Civiltà Cattolica – ins Redaktionsteam wurde er 1998 aufgenommen. Er befasst sich hauptsächlich mit Literaturkritik, mit besonderem Augenmerk auf den zeitgenössischen italienischen und amerikanischen INTERVIEW tliche Eine handschrif Manuskriptseite chen des amerikanis hitman. W alt W s Dichter Giacomo Leopardi. Autoren. Er schreibt auch über Literaturtheorie, Musik, Kunst, Filme und neue Kommunikationstechnologien. Wir haben dem neuen Direktor einige Fragen gestellt. Wann und wie wurde Ihre Berufung zum Priestertum deutlich? Und wann haben Sie beschlossen, in den Jesuitenorden einzutreten? ANTONIO SPADARO: Es ist immer schwer, diese Frage zu beantworten. Berufung ist etwas, das „biologisch“ mit uns wächst, mit unserer persönlichen Geschichte. Ein Exerzitienkurs in der Toskana, an dem ich in meinen ersten Universitätsjahren zufällig teilgenommen habe, spielte eine wichtige Rolle. Ich hatte den Handzettel mit der Einladung dazu auf einem Tisch gefunden. Es war eine vollkommen neue Erfahrung für mich: Tage absoluter Stille. Aus diesem Blickwinkel betrachtete ich die ersten zwanzig Jahre meines Lebens und spürte eine tiefe Harmonie mit der geistlichen Erfahrung, die ich ge- rade machte: eine Harmonie und Übereinstimmung, die ich noch nie zuvor gespürt hatte. Ich habe niemals an der Wahrheit jenes Augenblicks gezweifelt. War das Ihr erster Kontakt zum Orden des heiligen Ignatius? Nein, ich hatte die Mittelschule am Ignatianum besucht, dem Institut der Jesuiten in meiner Stadt. Das war eine hervorragende kulturelle und kreative Erfahrung, ich lebe noch heute von den Grundhaltungen, die in jenen Jahren gereift sind. Die Unterrichtsmethode der Jesuiten hatte keine traditionelle Ausrichtung. Es war ein Unterricht, der immer über die persönliche Entdeckung ging. Wie die ignatianische Pädagogik… Genau. Und wie auch der heilige Thomas erklärt: „Von den beiden Arten, Wissen zu erwerben – der persönlichen Entdeckung (inveniendo) und dem Lernen (addiscendo) –, ist die erste wichtiger, die zweite sekundär.“ In dieser Schule wurde auf Fächer, die normalerweise als Ergänzungsunterricht betrachtet werden, wie Kunst- oder Musikerziehung, viel Wert gelegt. Wann entstand Ihre Leidenschaft für die Literatur? Wie im Falle der Berufungen, entwickeln sich auch die Leidenschaften manchmal auf ungewöhnlichen Wegen, die nicht immer leicht nachzuvollziehen sind. Die Liebe zur Literatur entstand eigentlich nicht sehr früh. Als Kind habe ich nicht viele Bücher gelesen, ich zog Comics vor. Ich kann mich aber an ein ScienceFiction-Buch für Jugendliche erinnern, das mich ganz in seinen Bann zog. Das machte zwar noch keine „Leseratte“ aus mir, aber ich begann doch, mich mit Büchern zu beschäftigen. Welche Autoren haben Sie in Ihrer Jugend am liebsten gelesen? Kafka, Pirandello und Leopardi – Schriftsteller, die gut zu den Leiden des Jugendalters passen. Ich sah in ihnen aber auch etwas, das mich „überstieg“, etwas, das den für dieses Alter charakteristischen Sorgen trotzte. Einen besonderen Platz aber verdient Ungaretti. In der dritten Klasse der Mittelschule ließen mich die Jesuiten die Werke dieses großen Dichters lesen. Wenn ich heute daran zurückdenke, frage ich mich, wie das möglich war. Seine Briefe, seine „atomi di emozione [Atome des Gefühls]“ haben mich tief geprägt. Ich habe seinen Versen viel zu verdanken. Dann begann die Literatur allmählich, mehr Raum in Ihrem Leben einzunehmen… Wie bereits gesagt, hat sich meine Beziehung zur Literatur mit der Zeit entwickelt, vor allem in Verbindung mit Autoren, die mich zum Nachdenken brachten, also die sogenannten Philosophen-Schriftsteller. Dann, nach dem Universitätsstudium, hat sich meine Leidenschaft für die Geschichten, die Erzählung, die Dichte der poetischen Worte entwickelt. Mein cursus studiorum war in der Tat vor allem philosophisch: ich habe meinen ersten Abschluss in Philosophie 1988 an der Universität Messina erworben; zwei Jahre später habe ich das curriculum der vertiefenden philosophischen Studien in Padua am Institutum Aloisianum abge- ¬ 30TAGE N. 9 - 2011 47 Aktuelles schlossen. Die große Liebe zur Literatur entstand, als ich begonnen habe, dieses Fach zu unterrichten. Meine Ordensoberen haben mich nach den ersten Ausbildungsjahren – der Zeit, die wir das „Magisterium-Interstiz“ nennen – Ende 1991 gebeten, an unserem naturwissenschaftlichen Gymnasium „Massimiliano Massimo“ Literatur zu unterrichten. Die Leidenschaft der Jugendlichen, die das Feedback dessen war, was ich ihnen in den Unterrichtsstunden anbot, hat mich mit der Erfahrung des Wortes und des Erzählens verbunden. So habe ich allmählich begriffen, dass sie eine tiefe und reiche Deutung des Lebens ermöglichten. Ich habe mit meinen Schülern die Metapher der „Reise“ im kollektiven Imaginarium des Abendlandes untersucht. Aus dieser Arbeit ist ein Buch mit Texten und Kommentaren entstanden: Tracce profonde. Il viaggio tra il reale e l’immaginario [Tiefe Spuren. Die Reise im Spannungsfeld von Wirklichkeit und Vorstellung]. Und es entstand auch die sichere Überzeugung, dass mich die Literatur auf meinem Lebensweg von nun an immer begleiten würde. Sie haben in der Civiltà Cattolica auch viele Artikel über amerikanische Literatur geschrieben. Ja. Ich habe 2002 begonnen, mich damit zu beschäftigen. Damals ging ich für die letzte Phase meiner Jesuiten-Ausbildung in die USA, in die Jesuitenprovinz von Chicago – nach Milford in Ohio im tiefsten Mitt- Oben, Cesare Pavese; Rechts, Raymond Carver. 48 30TAGE N. 9 - 2011 leren Westen. Es war die wundervolle Entdeckung eines frischen Blicks auf die Realität… Das war auch der Eindruck, den die Schriftsteller aus Übersee auf Pavese machten… In der Tat… Die amerikanischen Dichter und Schriftsteller, auf die ich stieß, beschrieben die Realität, als würden sie sie im Augenblick der Schöpfung entdecken. Ein unmittelbarer Blick, manchmal naiv, aber gerade diese Naivität hat mir gefallen und gefällt mir immer noch. Es war genau das, wovon ich spürte, dass es der europäischen Literatur fehlte, der Literatur des 20. Jahrhunderts, die auf mich wirkte wie das gequälte Produkt der verschlungenen Windungen des Bewusstseins, die Frucht eines andauernden Kreisens um sich selbst, mit wenig Kontakt zur Wirklichkeit… Wer sind Ihre amerikanischen Lieblingsautoren? Viele: Edgar Lee Masters, Sylvia Plath, Jack London, Emily Dickinson, Jack Kerouac… Aber drei ganz besonders: Walt Whitman, den ich auch übersetzt habe; Raymond Carver, dem ich einen der wenigen detaillierten Aufsätze gewidmet habe, die es auch auf italienisch gibt; und Flannery O’Connor, von der ich im Mai im Rizzoli-Verlag einige unveröffentlichte Schriften herausgegeben habe [Il volto incompiuto, Anm. der Red.]. Meine Begeisterung für die Werke dieser großen amerikanischen Schriftstellerin, die 1964 im Alter von nur 39 Jahren gestorben ist, hat mich mehrmals auf ihre Farm in Milledgeville, Georgia, geführt – und ich habe auch Kontakte zu Leuten aufgenommen, die sie persönlich gekannt haben. An Bruce Springsteen. Whitman beeindruckt mich vor allem der „ursprüngliche Blick“ auf die Dinge; an Carver – in primis Carver als Dichter – dagegen die unvergleichliche Fähigkeit, die Gefühle, die er beschreibt, auf das Wesentliche zurückzuführen. An O’Connor dagegen gefällt mir die paradoxe und groteske Perspektive, in der sie die Wirklichkeit sieht und die sich in jedem ihrer Romane und Erzählungen findet. Ihre Texte helfen mir, die Welt aus immer wieder neuen, überraschenden Blickwinkeln zu betrachten. Sie haben den amerikanischen Rock auf die Seiten der Civiltà Cattolica Einzug halten lassen: Sie haben über Bruce Springsteen und Tom Waits geschrieben. Warum das? Auch hier war der Zufall im Spiel – und wahrscheinlich auch Neugier. Eines Tages hörte ich zufällig The ghost of Tom Joad von Springsteen, INTERVIEW und die Musik, die Texte fesselten mich. Die Lieder haben eine große Übereinstimmung mit gewissen Aspekten der Werke O’Connors, die der amerikanische Liedermacher, wie ich später erfuhr, gelesen hatte, als er an seiner mit der akustischen Gitarre aufgenommenen Platte Nebraska arbeitete. Nach The ghost of Tom Joad wollte ich alles hören und lesen, was Springsteen komponiert Übrigen lebt Springsteen seit seiner Schulzeit mit der biblischen und religiösen Bildwelt. Er hatte die katholische Einrichtung Santa Rosa da Lima in Freehold, New Jersey, besucht – und einige seiner Gesten (das Anzünden einer Kerze vor der Muttergottes in der Basilika San Petronio bei seiner Tour nee in Bologna 1998; oder das Tragen einer Medaille, die den heiligen Christophorus Pater Antonio Spadaro, auf dem Foto rechts, mit Jovanotti beim Treffen in der Kapelle der Universität Sapienza (Rom, Januar 2010). Die amerikanischen Dichter und Schriftsteller, auf die ich stieß, beschrieben die Realität, als würden sie sie im Augenblick der Schöpfung entdecken. Ein unmittelbarer Blick, manchmal naiv, aber gerade diese Naivität hat mir gefallen und gefällt mir immer noch. hatte. Daher die Idee, in der Civiltà Cattolica darüber zu schreiben, eine Idee, die dann mit dem Erscheinen von The Rising [„La Risurrezione“ di Bruce Springsteen, 2002, IV, 1326, Anm. d. Red.] tatsächlich Gestalt angenommen hat – jenem Album, das von den tragischen Ereignissen des 11. September inspiriert war. In Italien wurde die grundlegend religiöse Prägung und das Gebet, von denen das Album inspiriert ist, scheinbar stillschweigend übergangen. Im darstellt, den Patron der Reisenden) sind Ausdruck einer Art von Beziehung zu den Symbolen christlicher Frömmigkeit. Diesem Artikel über Springsteen folgten dann die über Tom Waits, Nick Drake und Nick Cave. Mir scheint, dass der Rock die Bitte des Menschen um Rettung stärker zum Ausdruck zu bringen vermag als andere künstlerische Ausdrucksformen. Hatten Sie jemals den Eindruck, dass man in der Redakti- on oder im Staatssekretariat wegen dieser Themenwahl perplex oder verstimmt gewesen wäre? Nein, überhaupt nicht, es wurde wohlwollend aufgenommen und sogar überaus kompetent Korrektur gelesen: bei dem Artikel über Springsteen wurde mir eine kleine Präzisierung mitgeteilt hinsichtlich des Datums der Komposition eines frühen Songs des Liedermachers, der nie auf Platte veröffentlicht worden war… Keine Kritik also, auch nicht als Sie zu Jovanotti und Ligabue übergegangen sind? Nein, auch dann nicht. Damals – 1999 – beschäftigte ich mich mit der jüngeren Generation von Liedermachern, die heute um die vierzig sind. Ich wollte aber auch einen Blick auf jene Liedermacher werfen, die an einem bestimmten Punkt ihrer Karriere beschließen, narrative Texte zu veröffentlichen, die nicht für die Kombination mit Musik und Tönen bestimmt sind. Das hatten kurz zuvor Jovanotti und Ligabue mit den beiden Büchern getan, die ich in meinem Artikel analysiert habe. Ich finde dieses Phänomen nach wie vor sehr interessant. Im Januar 2010 konnte ich in der Universitätskapelle der Sapienza in Rom eine Begegnung mit Jovanotti zum Thema „successo“ organisieren [das ital. Wort sowohl für „Erfolg“ als auch für „es ist passiert“]. Dabei sagte er sehr Faszinierendes und erklärte in einem Wortspiel, dass ihn „successo“ als „Partizip Perfekt von succedere“ [d. h. im Sinn von „es ist geschehen, es ist passiert“ und damit Vergangenheit] nicht interessiere… Einer der von Ihnen am meisten geschätzten zeitgenössischen Schriftsteller ist Pier Vittorio Tondelli, der vor 20 Jahren verstorbene „skandalumwitterte“ Romancier von Altri libertini [dt. Andere Freiheiten]... Auch das war reiner Zufall. Es war 1992, Tondelli war ein Jahr zuvor im Alter von 36 Jahren gestorben, und ich kannte seine Texte nicht. Eines Tages, kurz bevor ich eine lange Zugfahrt begann, fiel mir einer seine Romane in die Hände. Damals unterrichtete ich am „Massimo“ und beschäftigte mich, wie bereits gesagt, mit Reiseliteratur. In einem Buchladen im Bahnhof – mir blieb bis zur Abfahrt des Zuges ¬ 30TAGE N. 9 - 2011 49 Aktuelles noch etwas Zeit – blätterte ich flüchtig die ersten Seiten des Buches Camere separate [Getrennte Zimmer] durch und bemerkte, dass es um eine Flugreise ging… Die Übereinstimmung überraschte mich. In diesem Roman, dem letzten, den Tondelli 1989 geschrieben hat, und in den anderen, die ich dann in antichronologischer Reihenfolge gelesen habe, erkannte ich die Dichte einer großen literarischen Erfahrung. Ich erkannte die Tiefgründigkeit eines Schriftstellers, der mit seiner Existenz, mit seinem Leben rang, in dem der Glaube eine entscheidende Rolle gespielt hatte. Ich wusste auch, dass Tondelli in den achtziger Jahren das Projekt „Under 25“ ins Leben gerufen hatte, eine Art Schreiblabor im Rechts, der Schriftsteller Pier Vittorio Tondelli; unten, der Aufsatz von Antonio Spadaro „Lontano dentro se stessi“. Lʼ attesa di salvezza in Pier Vittorio Tondelli . Fernstudium, das viele junge angehende Schriftsteller angesprochen hatte: das war auch für meine Arbeit interessant. Als ich Tondelli las, entdeckte ich einen Autor katholischer Herkunft und Bildung, der eingetaucht in die „italienische Postmoderne“, wie er die achtziger Jahre nannte, das grundlegende Streben nach Heil zum Ausdruck brachte, das jedem Menschen zueigen ist. Ich merkte, dass seine Fragen keines50 30TAGE N. 9 - 2011 wegs oberflächlich und bloß, sagen wir, „postmodern“ waren: es waren die großen Fragen jedes Menschen. So begann ich, seine Aufzeichnungen, seine Anmerkungen zu studieren, und ich hatte das Glück, in seinem familiären Umfeld zu verkehren. In seiner Privatbibliothek waren die Bücher erhalten, die ihn geformt hatten, darunter die Bibel, die Nachfolge Christi, die mittelalterlichen Mystiker und die heilige Theresia von Lisieux. Und im Lauf der Jahre habe ich Artikel und Bücher über sein Werk geschrieben. Sie haben auch unveröffentlichte Notizen des Schriftstellers aus Correggio herausgegeben, darunter die schönen und eindringlichen Worte: „Die Litera- teau an Jacques Maritain: „Literatur ist unmöglich. Man muss davon wegkommen. Und es ist unnütz zu versuchen, mit der Literatur von ihr wegzukommen, denn nur der Glaube und die Liebe erlauben uns, aus uns selbst herauszugehen.“ Der Schriftsteller ist sich bewusst, dass die Literatur eine menschliche Existenz nicht retten kann, so großartig sie auch sein mag. Sicher ist das ein Rat für den Literaturkritiker oder -liebhaber. Wir sind nicht berufen zu verifizieren, ob ein Werk moralischen Kriterien entspricht oder nicht, oder die Texte auf der Grundlage der Dogmatik abzuwägen, sondern vielmehr dazu, unser Urteil mit dem des Jüngsten Gerichts zu vergleichen. Wir müssen uns bewusst Vor fünfzehn Jahren habe ich eine unveröffentlichte Notiz von Tondelli gefunden, mit Bleistift geschrieben auf eine Seite der Übersetzung des Ersten Korintherbriefes von Testori, darin heißt es: „Die Literatur rettet nicht… Das einzige, was rettet, ist der Glaube, die Liebe und die Wirkung der Gnade…“ tur rettet nicht, aber genausowenig der Unschuldige. Das einzige, was rettet, ist der Glaube, die Liebe und die Wirkung der Gnade…“ Eine Beobachtung, die eine Empfehlung für Literaturkritiker und -liebhaber zu sein scheint… Ich habe diese Bleistiftnotiz 1996 auf einer Seite der Übersetzung des ersten Korintherbriefes von Giovanni Testori gefunden. Es ist wahrscheinlich das letzte Buch, das er kurz vor seinem Tod gelesen hat. Er hatte es sich von seinem Vater bringen lassen, als er bereits im Krankenhaus lag. Wie viele Schriftsteller an ihrem Lebensende, so machte auch Tondelli sich Gedanken über den Wert seiner literarischen Erfahrungen und über das Gewicht, das sie für ihn hatten. Das eben Zitierte erinnert an die Worte von Jean Coc- machen, dass sich unsere Beurteilung einer künstlerischen Erfahrung vor dem Hintergrund der Ewigkeit abzeichnet. Meiner Meinung nach wirft die Notiz von Tondelli Licht auf diese Intuition. Sie haben vom kreativen Schreiben gesprochen. 1998 haben Sie die Literaturwerkstatt „BombaCarta“ gegründet, die sich damit beschäftigt. Diese Idee verdankt ihren Ursprung einer Schublade. Ich saß am Lehrerpult in einer Klasse, in der ich unterrichtete, und suchte in der Schublade, die defekt war, einen Stift. Ich zog so energisch daran, dass die Lade vollständig herausfiel. Da sah ich, dass hinten ein Gedicht eingeritzt war. Es war nicht gezeichnet, aber der „Verfasser“ war sicher einer meiner Schüler. Das beeindruckte mich: Die Jugendlichen tun INTERVIEW Links, die Homepage der Seite www.cyberteologia.it, betrieben von Pater Spadaro. Unten, die Homepage der Internetseite der Civiltà Cattolica. sich schwer damit, über ein vorgegebenes Thema zu schreiben, und dann ritzen sie Gedichte in Schubladen ein. Also machte ich am Schwarzen Brett einen Aushang und fordert sie auf, an einem Austausch über ihre Tagebücher, privaten Aufzeichnungen, ihre Gedichte, teilzunehmen. Beim ersten Treffen waren wir 42. Ich begriff, dass da etwas war, das es zu vertiefen galt. Diese anfängliche Erfahrung sollte nicht die letzte sein: Wir haben weiter Treffen abgehalten, eine mailing list und eine Internetseite geschaffen. Interessierte aus anderen Teilen Italiens haben Kontakt zu uns gesucht, es haben sich „BombaCarta“Gruppen in verschiedenen Städten gebildet: heute ist es eine Vereinigung von Gruppen und Werkstätten für kreatives Schreiben. Zu Beginn dieses Jahres haben Sie einen Blog über „Cybertheologie“ (www.cyberteologia.it), „verstanden als Verstehen des Glaubens im Zeitalter des Internet“ ins Leben gerufen… Sie haben bekanntlich ein besonderes Interesse am Universum der sozialen Netzwerke im Internet. Sie haben in der Civiltà Cattolica über „Hacker-Ethik und christliche Sicht“ geschrieben, ein Artikel der kürzlich auch vom Economist aufgegriffen wurde… Woher dieses Interesse? Das Internet, dem ich mich auch dank der Literatur angenähert habe, ist heute ein normaler Bereich des täglichen Lebens geworden, aus dem immer mehr Menschen ihr Wissen ziehen und ihre Beziehungen bilden. Meine Frage war sehr einfach: Wenn das Internet nicht nur unsere Gewohnheiten verändert, sondern auch unsere Art zu denken und die Welt zu erkennen, ändert sich dann nicht auch die Art und Weise, den Glauben zu denken? Aus dieser Fragestellung heraus, die durch einen Vortrag entstanden ist, um den mich die italienische Bischofskonferenz CEI gebeten hat, habe ich gesehen, dass eine Reflexion dieser Art in Gang gebracht werden musste. Fides quaerens intellectum: Das wurde immer als Ziel und Sinn der Theologie gesehen. Ich denke, dass die Suche nach Verstehen heute nicht vom Internet absehen kann. Ich konnte feststellen, dass seitens der Kirche auf verschiedenen Ebenen großes Interesse, große Sympathie besteht. Die Worte des Papstes zu diesem Thema sind sicher eine große Ermutigung. Und nun die Leitung der Zeitschrift Civiltà Cattolica. Eine schwere Aufgabe? Ich empfinde sie mit einer gewissen bangen Sorge, die mir oft den Schlaf raubt… Ich spüre die Last der Verantwortung. Die Zeitschrift gibt es seit 162 Jahren, ich bin mir ihrer historischen Rolle bewusst, und ihre Leitung anzunehmen lässt mich die Last und die große Bedeutung dieser Informationsquelle spüren. Ich will aber natürlich auch das Beste geben – gerade jetzt, wo die Art der Kommunikation im Wandel begriffen ist. Auch La Civiltà Cattolica entstand ja in einer Zeit großer Umbrüche und machte ein innovatives Angebot: es war eine kulturelle kirchliche Zeitschrift, nicht in Latein, sondern auf Italienisch, und sie gebrauchte eine nüchterne Sprache, auch wenn sie spezielle Themen behandelte. Sie war in ganz Italien verbreitet, als es Italien noch gar nicht gab… Derzeit haben wir eine Internetseite, sind auf Facebook und bei Twitter vertreten. Wir werden versuchen, diese Präsenz immer lebendiger werden zu lassen. Werden Sie sich auch als Chefredakteur noch mit Literatur und neuen Kommunikationstechnologien befassen? Ich stehe noch am Anfang und muss erst das nötige Gleichgewicht finden. Im Januar soll ein neues Buch von mir über „Cybertheologie“ herauskommen. Dann ein Aufsatz über amerikanische Literatur im nächsten Jahr… Aber fürs Erste hat die Leitung der Zeitschrift Vorrang. q 30TAGE N. 9 - 2011 51