Leseprobe - Analogue Audio Association

Transcrição

Leseprobe - Analogue Audio Association
analog aktuell
Was ist Kult? .................................................... S. 32
Der Ring des Nibelungen ................................... S. 44
minor music .................................................... S. 64
Richard D. James ............................................. S. 67
www.AAAnalog.de – Ausgabe 2/2000 – DM 20,−
Forum für analoge Musikwiedergabe – Vereinszeitschrift der Analogue Audio Association e.V.
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I M P R E S S U M
Impressum
„analog aktuell“ ist die Mitgliederzeitschrift der
Analogue Audio Association e.V. (AAA).
Die Analogue Audio Association e.V. ist ein eingetragener Verein zur Erhaltung und Förderung der
analogen Musikwiedergabe. Sie ist beim Amtsgericht Reutlingen unter VR 766 registriert.
Herausgeber:
Analogue Audio Association e.V.
Postfach 12 27
D-72764 Reutlingen
Tel.: 07121 -23761
Fax: 07121 -230067
Website: http://www.AAAnalog.de
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Vorstand:
Dipl.-Ing. D. Klimo (Vorsitzender)
H.-D. Wilmsen (Kassenwart).
Redaktion (verantwortlich):
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66953 Pirmasens
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Fax: +49 -(0)6331 - 289201
ISDN: +49 -(0)6331-2892 03 (Fritz)
E-mail: [email protected]
Anzeigen: Maike Voss, Gernot Weiser
(verantwortlich). (In Zusammenarbeit mit der
Geschäftsstelle der AAA)
Layout: Andrej Klimo und Thomas Wilkens (Konzeption), Gernot Weiser (Realisation)
Titelbild: Apple
Autoren dieser Ausgabe:
Rainer Bergmann, Peter Bruker, Walter Iten,
Bertram Kinderdick, Wolfgang P. Odenthal, Markus
Rasche, Fritz Rüegg, ’s Bawedd, Ingo Schröder,
Hans-Georg Seidel, Gernot Weiser
Druck:
Rohr Druck GmbH
Mainzer Str. 105
67657 Kaiserslautern
Für unverlangt eingesandte Texte, Fotos, Illustrationen oder Datenträger wird keine Gewähr übernommen. Sämtliche Verwertungsrechte (weitere
Zeitschriften, andere Daten- und Informationsträger) angenommener Manuskripte und Illustrationen liegen – sofern nicht anders vermerkt
– bei der Analogue Audio Association. Bei Nichtbelieferung im Falle höherer Gewalt bestehen
keine Ansprüche gegen die Analogue Audio
Association.
ANALOG AKTUELL 2/2000
Forum
News
Technik
Titel
Musik
ANALOG AKTUELL 2/2000
I N H A L T
Leserbriefe
Emotionales Erleben beim Musikhören
in Abhängigkeit vom Tonträger
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Neues
Schweizer High-end 2000
HiFi-Tage Heiligenhaus
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15
18
Tonarm- und Tonabnehmer-Justage
Vom „Hifi hören“ zum „Musik hören“
„Wieviel Watt sollen’s denn sein?“
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25
27
Was ist eigentlich … Kult???
32
Gitanos
Bossanova
Der Ring des Nibelungen
Reissues – die Nörgelecke
Music was my first love …
Bawedds audiofiele Pladdeegg
minor music
Richard D. James
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30
44
51
57
63
64
67
Editorial
Impressum
Aufgeschnappt
Kleinanzeigen
Kontakte
3
links
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72
5
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ANALOG AKTUELL 2/2000
F O R U M
Emotionales Erleben
beim Musikhören
in Abhängigkeit vom Tonträger
Eine experimentelle Untersuchung
von Markus Rasche
Hintergründe der Untersuchung:
1. Die Art und Weise mit der HiFi-Geräte, insbesondere von großen Teilen der
Fachpresse, „bewertet“ werden, widerspricht zum Teil in eklatanter Weise empirischwissenschaftlichen Vorgaben. So werden z.B. kaum Blind- oder gar Doppelblindverfahren verwendet, es wird nicht mit Versuchspersonen (Vpn) gearbeitet (die
Journalisten bewerten selbst), die Bewertungskriterien sind nicht transparent und
interindividuell verschieden, standardisierte Verfahren (z.B. Ratingskalen) werden
i.d.R. nicht verwendet und mathematisch-statistische Überprüfungen der Ergebnisse
werden nicht vorgenommen – diese Aufl istung ließe sich noch fortsetzen. Mit einem
Wort, die vermeintliche „Objektivität“, die viele Magazine für sich reklamieren, hält
wichtigen Kriterien einer wissenschaftlichen Versuchsdurchführung und Datenanalyse nicht stand.
Auflistung der
verwendeten Geräte
und Zubehörteile
Geräte:
Vorverstärker: DNM 3C Primus inkl. Netzteil
u. -kabel
Endverstärker: DNM PA 3A, inkl. Netzteil u.
-kabel
Plattenspieler: reson rota 1, inkl. Tonarm u.
Tonabnehmer
CD-Spieler: resolution audio CD 50, inkl.
Fernbedienung u. Netzkabel
DVD-Transport: resolution audio VT 960,
inkl. Fernbedienung u. Netzkabel
DVD-D/A-Wandler: resolution audio D92,
inkl. Wandlerkabel 13W3 u. Netzkabel
MD-Spieler: Sony MDS-E-52
Lautsprecher: Rehdéko RK 145
Zubehör:
Lautsprecherständer: domo 145
Phonomöbel: domo 632 und domo 432
Laufwerkständer: domo PS
Lautsprecherkabel: LSC 500
NF-Kabel: TYD 100 und TCD 200
2. Der eigentliche Ausgangspunkt dieser Untersuchung ist der noch immer schwelende Streit, ob analoge oder digitale Tonträger die „bessere“ Musikwiedergabe
ermöglichen. Wissenschaftliche Untersuchungen zu diesem Thema gibt es nur
wenige. Eine Studie des Musikpsychologischen Instituts in Hannover kam zu dem
Ergebnis, daß Vpn keine Klangunterschiede zwischen LP und CD gehört haben.
Kritisch anzumerken ist jedoch, daß den verwendeten Musiktiteln fast ausschließlich
digitale Masterbänder zugrunde lagen, d.h. die LP-Stücke wiesen keinen komplett
analogen Produktions- und Vervielfältigungsprozeß auf. Somit kann nicht von einer
strikten Trennung analoger und digitaler Tonträger ausgegangen werden kann.
Seit einigen Jahren wird in der HiFi-Szene zunehmend die Auffassung vertreten, es
sei ebenfalls wichtig, ob ein Tonträger den Hörer emotional fesseln könne. Meist wird
behauptet, daß die LP hierzu stärker in der Lage sei, da sie als analoges Medium die
höchste Informationsdichte aufweist – zwei Untersuchungen, die die Änderung der
emotionalen Befindlichkeit in Abhängigkeit vom Tonträger zum Gegenstand hatten,
kamen allerdings zu widersprüchlichen Ergebnissen.
Fragestellungen, Methoden und Ergebnisse:
1. Bewerten Vpn die Klanggüte von vier Tonträgern (Langspielplatte (LP), DigitalVersatile-Disc (Audio-DVD, 24 Bit / 96 kHz), Compact-Disc (CD) und Mini-Disc
(MD)) unterschiedlich, wenn die Musik von ein und demselben (analogen) Masterband stammt? Hierzu wurde 70 Vpn ein kurzes Musikstück in einem Paarvergleichsdesign auf allen vier Tonträgern vorgespielt. Den Vpn war nicht bekannt, daß sie
Tonträger miteinander vergleichen. Die statistische Datenanalyse ergab, daß die Vpn
die Klanggüte der Tonträger nicht signifi kant verschieden bewerteten. Einschränkend
muß allerdings gesagt werden, daß 90% der Vpn sich in keiner Weise für das Thema
„HiFi“ interessierten und die Anzahl der Paarvergleiche (die aus organisatorischen
Gründen begrenzt war) als suboptimal bezeichnet werden kann. Ein Teilergebnis
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ANALOG AKTUELL 2/2000
N E W S
NEUES
Van den Hul
hat sein Angebot an Tonabnehmern erweitert. Neben dem
auf der High End vorgestellten Colibri gibt es nun auch eine
verbesserte Version des Froschs, genannt „The Frog Gold“.
Besonderheiten und Spezifi kationen finden Sie auf der Website
unter www.vandenhul.com
Jean Constant Verdier
sollte allen Analog-Fans als Schöpfer der legendären Platine Verdier ein Begriff sein. Nun gibt es nicht nur bereits eine „kleine“
Version dieses Laufwerks, vielmehr kündigt der Franzose auf
seiner Website auch den Prototyp einer „großen“ Version, die
„Platine Magnum“ mit einem Gesamtkampfgewicht von 300 kg
an. http://jcverdiervalvevinyl.online.fr/Platine_Magnum.html
bzw. www.jcverdier.com.
SAC
bietet auf der firmeneigenen Website nicht nur Informationen
über die Produkte – den SAC Girati Grande werde ich hier
erwähnen – sondern auch die besten Sprüche:
„Manche Firmengeschichte liest sich wie ein Nachruf. Nicht so
unsere, die kann man nämlich noch gar nicht lesen. Aber wir
arbeiten daran - und langweilig wird/ist sie bestimmt nicht.“
„Testberichte und gute Presse sind eine schöne Sache. Für wie
aussagekräftig Sie dieses halten entscheiden Sie selber. Wir
bieten Ihnen bald einen Pressespiegel über unsere Produkte.
Leider wird er nie ganz vollständig sein, da vor mehr als
10 Jahren noch keiner ans Internet gedacht hat und einige
Zeitschriften nicht mehr auffindbar sind.“
www.sac.de
ANALOG AKTUELL 2/2000
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High-end 2000
Grösste Audio + Vision Ausstellung der Schweiz!
Neues Gelände · neues Publikum · neue Fragezeichen
ein Bericht von Walter Iten
Die Gerüchteküche bot verschiedene Varianten an, warum die
High-end nach 1999 nicht mehr im ehrwürdigen Hotel National in Luzern, unmittelbar am schönsten Schweizer Gewässer
Vierwaldstättersee durchgeführt werden könne.
Eine Version tangierte das Mimosentum von Hoteliers … also,
lassen wir das.
Nach fieberhafter Suche in einem definierten Attraktivitätsradius (um Zürich herum), wurde die High-end Society in
Pfäffi kon, Kanton Schwyz, fündig: 20 Autobahnminuten ab
Zürich Richtung Chur, auch problemlos mit Schnellzügen
und S-Bahnen erreichbar. Der Komplex hört auf den Namen
Konferenzhotel **** Seedamm Plaza:
Stahl, Alu, Glas, Granit, Marmor, modern und sehr hell – mir
gefällt’s!
Ausstellung 15. - 18. September 2000
Die Ausstellung an und für sich liess sich mittels bepfeiltem
Parcours in zwei Richtungen durchschreiten. Was erwartete
uns / mich dabei? (Einige Demo-Räume waren leider, bedingt
durch die engen Gänge, nur nach etwas Stau und einigem
Gedränge erreichbar.)
Produkte
Seit einigen Jahren habe ich es mir an der High-end zur
Gewohnheit gemacht, samstags und sonntags nach 18.00 Uhr,
gezielt einige Geräte mit ein paar ausgewählten schwarzen und
silbrigen Scheiben zu testen: Da gab’s z.B. eine eher kleine,
gemischte Ungrossemarken-Anlage, deren einziger Lautsprecher bei den stolzen Demonstranten erst am Einrichtungstag
eingetroffen ist.
Ich gehöre zu den Leuten, die ihre Klangerwartungen an Musikwiedergabe recht gut definieren können, besitze aber nicht die
Fähigkeit, das Gras wachsen zu hören.
Gestützt auf meine auditive Wahrnehmung realisierte ich sofort,
dass das ganze Fundament, im Gegensatz zu den Mitten und
Höhen, dumpf, schlaff und milchig klang. Flehend entstand in
mir die Frage nach Spikes, die ich sogleich äusserte.
Erstaunt und leicht enttäuscht wurde mir mitgeteilt, dass diese
leider noch nicht eingetroffen seien. O.k., das Tönende beeindruckte mich trotzdem ausgesprochen stark und offensichtlich
harmonierte meine mitgebrachte Software allerbestens mit der
Kombination. Auf jeden Fall lösten die zelebrierten Klänge bei
der vermeintlichen Schwiegermutter des Importeurs umgehend
den Impuls aus, nach vorne zu stürzen, den Volumenregler,
ungewohnt für ihr Alter, aufzudrehen und so dem gebannt
stehen gebliebenen Publikum zu präsentieren, um welch Teufelszeug es sich bei ihren Produkten handelte: Die Kombination
machte easy mit, das Zimmer eher weniger und vorne, voll
neckischem Stolz, die gute Dame.
Alle locker und zufrieden akzeptiert!
Nicht ganz gleich erging es mir beim tête-à-tête mit dem Besitzer, Entwickler und Hersteller einer renommierten SchweizerLautsprecherfirma, der ausschliesslich seinen neuesten Prototypen zur Schau stellte. Besagtes Modell werde alsdann in
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N E W S
hifi tage
in heiligenhaus (NRW) – 28. & 29. oktober 2000
Ein Bericht von Gernot Weiser (Fotos: Ansgar Hecker)
Freitag Nachmittag – Autobahn: Der Kölner Ring ist absolut
dicht. Wollen die alle nach Heiligenhaus?
Waldhotel: Nein, hier sind die nicht alle hingefahren. Auspacken, aufbauen, mal sehen, was morgen passiert.
Samstag 10 Uhr: So langsam füllen sich die Räume im Waldhotel Heiligenhaus. Es wird den ganzen Tag so bleiben. Schon
jetzt steht fest, die Veranstaltung ist ein Erfolg. Am Sonntag
wird es etwas langsamer losgehen, aber auch der Tag ist gut
besucht. Schön!
Wilfried Kress
Winfried Dunkel
ANALOG AKTUELL 2/2000
N E W S
Gute-Laune-Forum: Alfred Rudolph
und Aalt J. van den Hul.
hifi & records
Wilfried Kress von hifi & records bot Workshops an zu den
neuen Tonträgern. Neben DVD und SACD ging es auch um
Möglichkeiten des Upsampling, d.h. herkömmliche CDs auf
höhere Auflösungen hochzurechnen. (Ist natürlich ein Trick,
gibt’s aber.) Ein wichtiger Bestandteil im Rahmen unserer
gemeinsamen Veranstaltung.
HÖRERLEBNIS
Bei HÖRERLEBNIS führte Marco Kolks die Möglichkeiten des
in High-End-Kreisen beliebten Tunings vor, sowohl für CD
als auch für LP. Kompetent und gut. (Wer mich kennt, weiß
allerdings, das ist nicht so ganz mein Ding. Ich befi nde mich
definitiv in meiner nach-audiophilen Phase.)
Ein Fan des letzteren Tonträgers ist auch Winfried Dunkel. „LP
– das ist es.“ (Lege ich ihm jetzt mal in Mund.) Er führte mit
CDs vor. Klar, er will seine LPs nicht durch häufiges Abspielen
der immer selben Stücke strapazieren. Recht hat er, wie immer.
Seine Reise führte durch Raum und Zeit, widmete sich dabei
der Arbeit der großen Tonmeister, ohne vom Wesentlichen, der
Musik, abzukommen. Im Gegenteil, so wie er in die von ihm
geliebte Weltmusik, in Geschichte, Instrumente u.s.w. einführte
– das war Klasse.
Das Equipment stammte von Pluto Audio (Plattenspieler), Phonosophie (CD-Player), EAR und Brinkmann (Phonovorstufen),
Klimo (Elektronik) und CD Konzertmöbel (Lautsprecher).
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Tonarm- und
Tonabnehmer-Justage
von Wolfgang P. Odenthal
Im folgenden Artikel werde ich versuchen, mit möglichst wenig
Mathematik ein wenig Klarheit über die Wichtigkeit der korrekten Tonarm- und Tonabnehmer- Justage zu schaffen.
Der Spurwinkelfehler
Abbildung 1 zeigt die Tonarm- und Plattenspieler-Geometrie.
C ist die Plattentellerachse und P der Drehpunkt des Tonarms.
Die Nadel des Tonabnehmers befindet sich im Punkt S. Wäre
der Tonarm gerade, so gäbe es lediglich einen Punkt, in dem
der Spurwinkelfehler Null wäre. Das heißt, die Symmetrielinie
des Tonabnehmers läge auf einer Tangente zu der Rille. Der
Fehler, der auftritt, wenn die Nadel die Platte abspielt, könnte
dadurch beliebig klein gemacht werden, daß man die Armlänge
hinreichend vergrößert. Das ist, aus praktischen Gründen,
offensichtlich nicht machbar.
Gängige Praxis ist, den Arm anzuwinkeln, wie PAS in der
Abbildung 1 zeigt, oder den Tonabnehmer in einem Winkel
zum Arm einzubauen. Beide Methoden verbessern die Abtastung drastisch.
Die Art und Weise, wie diese Verbesserung zu stande kommt,
kann man anhand der folgenden Formel, die sich aus der
Anwendung des Cosinus-Satzes auf das Dreieck PCS ergibt
(sorry – aber etwas Mathe muß halt her), erkennen. Abbildung
2 zeigt eine Grafi k für einen Wert von 240 mm für die effektive
Länge L und drei Werten für D, gewöhnlich Überhang genannt.
Aufgetragen ist der Spurwinkelfehler phi eines geraden Arms
PS. Man kann erkennen, daß wenn R größer wird, auch phi für
D=0 größer wird. Ist D jedoch positiv (d.h. L > PC), so geht
die Kurve durch ein Minimum. Differenzieren der Gleichung 1
ergibt die in Abbildung 2 gezeigte Relation.
Die Tatsache, daß es ein Minimum für phi gibt, ermöglicht eine
Verbesserung der Abtastung. Verdreht man den Tonabnehmer
um den Winkel beta (Abbildung 1), so wird der Spurwinkelfehler kleiner.
Dies wird in Abbildung 3 gezeigt, wobei ein Wert von 240
mm für L und ein Winkel von 23° für den Winkel PSA (nicht
PAS) verwendet wird. Ein Vergleich der Abbildungen 2 und 3
zeigt die Verbesserung infolge der Verdrehung. In Abbildung
2 ist der Spurwinkelfehler der Wert von phi, während er in
Abbildung 3 die Differenz zwischen phi und beta ist, die wir
delta nennen. Er ist nicht nur kleiner, sondern jetzt gibt es auch
zwei Positionen wo er gleich Null ist.
Es ist jedoch nicht nur der Wert von delta der die verursachten
Verzerrungen (prinzipiell 2. Harmonische) bestimmt. Man
kann zeigen, daß die Verzerrung proportional delta / R ist. Für
ein gegebenes delta steigt die Verzerrung mit abnehmendem
Radius. Die Abbildungen 2 und 3 zeigen auch, daß der Spur-
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T E C H N I K
Vom „Hifi Hören“
zum „Musik Hören“
subjektive Erfahrungen am Beispiel des aktiven Regielautsprechers Geithain RL 04
zur möglichen Hinterfragung des eigenen Erlebnis- und Erfahrungshorizonts
von Hans-Georg Seidel
Es ist kein Geheimnis, daß sich pauschal,
grob gerastert formuliert, hinsichtlich dieses thematisch unterstellten Dualismus,
auffassungs- bzw. verständnismäßig häufig gewaltige „Gräben“ auftun.
Steht mal geradeheraus schwarz-weiß
betrachtet, die eine Fraktion für das
„Hecheln“ nach immer mehr von sogenannten audiophilen Monsterscheiben,
abgehört über Anlagen, die mit „Schwefelhölzchen“ getunt nur bei Vollmond zu
höchster Verzückung führen, so beharrt
die andere zahlenmäßig verschwindend
geringe, auf dem Primat von Interpretation, Ausdruck‚ Meisterschaft etc. und
kümmert sich gar nicht um hifieske Kriterien, ja hat in der Hifi-Landschaft leider
überhaupt keine Heimat.
Letztere ist auch häufig nicht zu überzeugen, daß eine gute Anlage ihrem Musikliebhabertum keinesfalls Abbruch täte,
sie nicht auf Technik fi xiere, sondern
Werke erst reproduktionstechnisch „vollständig“ erschlösse. So eine Art irrationaler ahnungsloser „Antitechnikdünkelelite“, denen es fast sendungsbewußt, hymnisch salbadernd nur um die Musik geht
und sonst gar nichts. Sogar festen Glaubens, Interpretationsbeurteilungen, musikalische Leistungen seien über musikreproduktionstechnisches Müllinstrumentarium möglich.
Erstere Fraktion wiederum, die Mehrheit
in der Hifi-Szene, tut sich generell mit
der wirklichen Beschäftigung in Sachen
Musik sowie einem Mindestmaß an
Grundwissen erheblich schwer. Man frönt
seinem Gerätehobby und Musik ist die
„Krücke“.
Eine Art „Zwitter“ stellt der Musikliebhaber und trotzdem musikreproduktionstechnisch Informierte dar.
In nachfolgendem Erfahrungsbericht soll
der schwierige Versuch einer Annäherung
von der Ebene des Anlagehörens zum
Musik hören gemacht werden, der sich
insbesondere an eben diesen beschriebenen „Zwitter“ richtet. Das natürlich
auf subtilster, individualistischer Plattform ohne Anspruch auf Absolutheitsaussagen und ohne pauschale Abqualifi kation anderer Produkte. Der o.g. Adressatenkreis wäre eigentlich rein theoretisch
die ideale Klientel für ein boomendes
Hifi-Geschäft, gäbe es ihn in wirtschaftlich notwendigem Umfang.
Nach meinen Erfahrungen (sehr subjektiv) ermöglichen nur wenige „Geräte“ den
Schritt zum „reinen“ Musik Hören zu
vollziehen, u.a. weil sie (Musikreproduktionsgeräte) „Kinder“ einer Interaktion,
eines Entwickler-Kundengeflechts sind,
das neben wirtschaftlichen Aspekten in
einem high-endigen Szenebombast gefangen ist und immer neue abenteuerliche
Phantastereien hervorbringt. Neue Ideologien kreiert und sie dann sensationsheischend bedient. Man arbeitet eben für
den Mehrheitskunden, dessen Suggestibilität vom musikalischen Standpunkt aus
betrachtet, zu immer groteskeren Exzessen führt, dessen Ansprüche und Vorstellungen andererseits häufig von eklatantem musikalischem Nichtwissen getragen
sind. Es gilt aber, aus wirtschaftlichen
Gründen diesen mehrheitlichen Kunden
zu bedienen.
Den Musikliebhaber mit umfassendem
Musikreproduktionswissen kann man
sich eben nicht „backen.“ Er ist das
Ergebnis eines Entwicklungsprozesses,
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ANALOG AKTUELL 2/2000
T E C H N I K
„Wieviel Watt sollen’s denn sein?“
Musikreproduktionsgeräte im Spiegel
„anspruchsvoller Anspruchslosigkeit“
von Hans-Georg Seidel
Leben wir nicht in einer Zeit, in der uns medienmäßig fast
tagtäglich eingehämmert wird, daß gegenüber früheren Zeiten
generell alle Ansprüche erheblich gewachsen wären, der sogenannte mündige allseits bestens informierte Bürger die Meßlatte für alle Produkte immer höher gelegt hat?
Gilt das also folgerichtig ebenso für die Qualität an angebotenen Musikreproduktionsgeräten?
Wie hervorragend, denn dann müßten wir folgerichtig in einer
Anspruchsebene leben, auf der höchste Musikreproduktionsgerätequalität auf breitester Konsumentenbasis etabliert wäre
und die entsprechende Händlerszene Absatzrekorde feierte.
Die Rundfunksender müßten uns mit bester klanglicher Qualität beglücken, immer in dem Bewußtsein, diesem anspruchsvollen Hörbewußtsein zu entsprechen. Auch der Aspekt der
Tonträgeraufnahme- und Wiedergabequalität müßte höchste
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ANALOG AKTUELL 2/2000
M U S I K
Gitanos
„Los Rumberos“
von Gernot Weiser
„Gitanos“ – wörtlich: „Zigeuner“. Aus
Gründen der politischen Korrektheit, wie
der Leser wohl nachvollziehen wird,
möchte ich diesen Begriff jedoch nicht
verwenden.
„Die Zigeuner! Ein Volk? Nein, mehrere
Volksgruppen, wohl unterschieden.“ So
beginnt auch der Covertext der vorliegenden LP des Labels Pierre Verany. Dies
ist der eine, ganz dicke Pluspunkt: Nicht
plumpe Ethnofolklore, sondern bewusster Umgang mit einem nicht ganz leichten, weil von der Geschichte belasteten
Thema. Wer also in Kürze Informationen
zu diesen Völkern und ihren Beziehungen untereinander sucht, der ist hier gut
aufgehoben.
„Zigeuner“ – dieser Schimpfwort (und
damit unmöglich) gewordene Begriff
bezeichnet im engeren Sinne die Volksgruppe, die wir heute Roma nennen und
die, ursprünglich aus Indien stammend,
ihre Heimat in Osteuropa hat. Die Sinti
sind die zweite größere Volksgruppe.
Zuletzt die „Gitanos“, aus Andalusien
und Katalonien stammend, die heute zahlreich in der Gegend um Marseille und
Montpellier angesiedelt sind. Bekannt
dürfte ihr jährliches großes Treffen am
24. und 25. Mai im kleinen Ort SaintesMaries de la Mer in der Camargue sein,
wer die Gelegenheit hat, sollte sich eine
Reise dorthin einmal vornehmen.
Kein Wunder also, dass sich ein französisches Label diesem Thema widmet.
Und es geht nicht um Information – die
wird nebenbei geliefert –, sondern um
die Musik.
Musik der Gitanos. Denken Sie dabei
aber bitte nicht an geigende Straßenmusikanten! Auch bitte nicht an die ungarische Salonmusik, die Franz Liszt für
ursprünglich ansah. Sehen Sie lieber auf
das Cover!
Gitarren! Genau genommen sind es drei
Gitarristen, die sich in der Gruppe „Los
Rumberos“ zusammengeschlossen haben.
Sie spielen auf dieser LP sowohl Eigenkompositionen als auch traditionelle Stücke ihres Volkes.
Ich kann Ihnen nur empfehlen, sich diese
Scheibe zu besorgen. Mehrere Dinge zeichnen diese Einspeilung aus: Spielfreude,
Virtuosität, die nicht zu hohlem Perfektionismus verkommen ist, Leidenschaft
und Gefühl, Authentizität.
Wenn Sie bisher noch keine Gitarren-Platte haben, dann greifen Sie zu. Wenn Sie
schon eine haben, und es hat Sie nicht
vom Stuhl gehauen, dann greifen Sie zu.
Wenn Sie welche haben und Sie finden
Sie gut aufgenommen, dann besorgen Sie
sich diese und staunen Sie!
Wie? Sie glauben, so etwas gibt es nicht
mehr? Gibt es doch!
Dieser Aufnahme aus dem Jahr 1980 (?)
hat sich ein guter Mensch in Italien angenommen. Und allen Vinyl-Freaks sozusagen unter den diesjährigen Weihnachtsbaum gelegt.
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Bossanova
Live on Tour – Brasilianische Nacht mit Livemusik
von Hans-Georg Seidel
Bossanova steht hier gleichbedeutend für die brasilianische
Seele der Musik und für die Bossanova Live-Präsentation des
brasilianischen Livemusiklokals in Düsseldorf Bilk im Rahmen
der Vorführung des gleichnamigen Films der Biennale in der
Düsseldorfer Altstadt direkt in der Schneider-Wibbel Gasse.
Insbesondere Chefin Sunnay Lisboa hat sich die dauernde Etablierung dieser Musik im Livecharakter mit Energie und Einsatz
„auf die Fahne“ geschrieben und verfolgt dies mit erheblicher
Konsequenz. Auf die Probleme, heute noch Lokalitäten mit
Livemusik auf Dauer am Leben zu erhalten, braucht wohl dabei
nicht hingewiesen zu werden.
Im musikalischen Zentrum des von der Bossanova Crew auf
„Tour“ angebotenen Konzertes standen zwei Säulen brasilianischer Lebensart. Institutionen, die weltweit mit Brasilien
assoziiert werden. Zum einen das Konzert des arrivierten
Bossa-Nova Virtuosen Paulo Noranho, der seit ca. 25 Jahren
mit seiner Musik, seiner Seele seinem Lebenselexier wie er
sagt, durch die Welt tourt. Dies war aus jeder Aktion seines
hingebungsvollen Spiels nachvollziehbar. Dabei umfaßt seine
Musik ein breites Spektrum der Spielarten des Bossa-Nova,
unterschiedlichste Einflüsse auch aus der europäischen klassischen Musik sowie anderen Musikrichtungen bis hin zu
Stücken und „Zitaten“ von Heitor Villa Lobos mit erheblichem
spieltechnischem Anspruch. Ein ernsthaft, tief seelenvolles
Konzert mit unter europäischer Perspektive schon tendenziell
intellektueller Plattform aber auch rein emotional erlebbar.
Als Kontrast hierzu vermittelte die brasilianische Samba-Schönheit Yroshi aus Bahia so etwas wie die „ungeheure Leichtigkeit
des Seins“. Der Einbau ihrer Samba Auftritte in das Gesamt-
programm, der natürlich mit sichtlicher auch optischer Begeisterung aufgenommen wurde und der Stimmung im Sinne
eines spontan unverkrampften Gestus zugute kam, verlieh der
Veranstaltung eine scheinbar dualistische und doch integrativ
identisch brasilianische Konzeption.
Welch multikulturell belebendes, aussagereiches Livemusikereignis. Ein solches Programm mitten im Herzen der sogenannten traditionellen „rheinischen Seele“, der Düsseldorfer Schneider-Wibbel Gasse. Das Publikum spiegelte diese Vielfalt nationalitätenadäquat wider. „Schneider-Wibbel goes Rio“, könnte man
räsonieren. Hätte er sich wohl auch nie träumen lassen. Düsseldorf mal wieder als musikalischer Kreuzungspunkt unterschiedlicher Kulturen. Das alles unter dem Zepter völker verbindender
Livemusik.
Auch wenn in der Nachhippie-Ära die Blütenträume geplatzt
sind, was Musik letztendlich Entscheidendes völkerverbindend
leisten kann, indem man allzu illusionistische Hoffnungen
über Bord werfen mußte, so ist eine solches Liveereignis trotzdem eine realistische Wohltat im Interesse des wachsenden
Verständnisses unter den Kulturen.
Damit stellte auch diese Livemusikpräsentation des Bossanova,
in dem fast jeden Tag Livemusik geboten wird, im Sinne der
grenz- ja kontinententenüberschreitenden positiven Aspekte
der „Noten“ ein gelungenes Meeting dar. Der Dank gilt insbesondere dem solistischen Musiker Paulo Noranho, der SambaQueen von Bahia, Yroshi, dem Team, das für das leibliche Wohl
aus brasilianischen Köstlichkeiten sorgte, und nicht zuletzt der
Statthalterin Sunnay Lisboa.
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Was ist eigentlich …
ANALOG AKTUELL 2/2000
T I T E L
KULT ???
„Kult, der; -[e]s, -e [lat. cultus = Pflege; Bildung; Verehrung
(einer Gottheit), zu: cultum, 2. Part. von: colere = bebauen,
pflegen]:
1. an feste Formen, Riten, Orte, Zeiten gebundene religiöse
Verehrung einer Gottheit durch eine Gemeinschaft: ein heidnischer, der christliche K.; der K. des Dionysos; jmdn. in einen
K. einweihen.
2. a) übertriebene Verehrung, die man jmdm. angedeihen lässt:
mit jmdm. einen K. treiben;
b) besondere, übertrieben sorgfältige Form des Umgangs mit
einer Sache: ein K. der Schönheit; der K. mit Krawatten,
Hemden; aus etw. einen K. machen.“
(c) Dudenverlag
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ANALOG AKTUELL 2/2000
T I T E L
Kult ist …
… der LP 12
1972. Ein Schotte macht sich daran, die Welt der High Fidelity umzukrempeln. Sein
Name: Ivor Tiefenbrunn. Sein Produkt: ein Plattenspieler – Linn Sondek LP 12. Nicht
irgendein Plattenspieler, sondern einer der das Denken verändern wird …
Dies ist natürlich nicht das Verdienst des Plattenspielers, sondern der dahinterstehenden Philosophie. Und der Leitsatz, dass das Frontend einer Kette den Klang
bestimmt, wird zuerst belächelt – heute zweifelt kaum ein ernsthafter Anhänger der
hochwertigen Musikwiedergabe daran.
Noch immer dreht er sich, der groovende Schotte. In seiner Preisklasse wohl der
meistverkaufte Plattendreher. Scheint nicht gealtert, sondern reifer geworden.
Groove on!
Gernot Weiser (Foto: Linn)
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ANALOG AKTUELL 2/2000
M U S I K
Der Ring des Nibelungen
Teil 1
von Peter Bruker
Historischer Abriss
Der erste Gedanke zum „Ring des Nibelungen“ kam dem 1813 in Leipzig geborenen Wagner, als er 35 Jahre alt war.
Im Alter von 61 Jahren setzte der den
Schlussstrich unter das gewaltige Werk.
Zuvor hat Richard Wagner – nach diversen
Opern wie „Das Liebesverbot“ oder der
sechs Stunden Aufführungsdauer umfassende „Rienzi“ – verschiedene Musikdramen komponiert, unter anderem „Der
fliegende Holländer“, „Tannhäuser“, und
„Lohengrin“. Die Tetralogie „Der Ring des
Nibelungen“ ist in der Musikgeschichte in
mehrfacher Hinsicht einzigartig und stellt
bis heute das umfangreichste musikali-
Bild vorhergehende Doppelseite:
„Das Rheingold“, 4. Bild, Bayreuth 1930,
Regie: Siegfried Wagner, Bühnenbild: Kurt
Söhnlein (Vorlage aus dem Nationalarchiv
der Richard-Wagner-Stiftung / RichardWagner-Gedenk stätte Bayreuth)
Richard Wagners „Der Ring des Nibelungen“ ist das Monumentalste, was je für
die Bühne geschaffen wurde. „Der Ring des Nibelungen“ umfasst die Musikdramen
„Das Rheingold“, „Die Walküre“, „Siegfried“ und „Götterdämmerung“, wobei „Das
Rheingold“ von Wagner als Vorabend für die drei folgende Werke konzipiert wurde.
Ein rund 15-stündiges Werk, als Tetralogie geschaffen und verteilt auf vier Abende.
Glücklicherweise hat Wagner seine ursprüngliche Absicht fallen gelassen, und den
Ring für die Nachwelt erhalten. So war von ihm geplant, eine einzige Aufführung
der Tetralogie einzurichten. Diese hätte in einer Art Festspielhaus stattfinden sollen,
welches Wagner über dem Rhein errichten wollte. Nach dieser Aufführung hätte die
Partitur verbrannt und damit für die Nachwelt vernichtet werden sollen.
Es kam nicht dazu. Stattdessen findet auch heute noch eine stete Auseinandersetzung
mit diesem Mammutwerk statt. Nicht nur auf dem Grünen Hügel von Bayreuth
werden neue Deutungen und Interpretationen des Werks versucht und mit mehr oder
minder großem Erfolg bewerkstelligt.
Und es gibt eine Vielzahl von Schallplatteneinspielungen. Teilweise von der gesamten
Tetralogie, teilweise auch nur von einem einzelnen Musikdrama, bis hin zu einzelnen
Akten – bei Wagner in der Regel „Aufzug“ genannt – oder gar nur Szenen. Die Fülle
dieser Einspielungen ist unübersehbar und nur Spezialisten ist es wohl vergönnt, hier
den Überblick bis ins Detail zu besitzen.
Um nun Interpretationen von Schallplattenaufnahmen dieses die Musikwelt so
maßgeblich bestimmenden Werkes zu vergleichen, gilt es deshalb eine Auswahl
zu treffen, die aber keinesfalls die auf dem Markt befi ndlichen Einspielungen
repräsentieren kann. Andere Gesichtspunkte waren bei der Auswahl der zu vergleichenden Interpretationen für mich maßgeblich. So habe ich insgesamt drei
Kompletteinspielungen des „Ring des Nibelungen“ gewählt, die jede für sich – so
unterschiedlich sie auch sind – als auch heute noch gültige Wagnerinterpretation
gelten dürfen. Alle drei sind in den 60er-Jahren entstanden. Und alle drei verfügen
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M U S I K
Reissues - die Nörgelecke
von Bertram Kinderdick
Als vor etwa fünf Jahren SPEAKERS CORNER und CLASSIC RECORDS
hochwertige Neuausgaben alter Schallplatten veröffentlichten, bedienten sie zunächst die Sammler mit Klassik-LPs, bei deren Auswahl die
ominöse „TAS-Liste“ von Harry Pearson, dem Herausgeber der inzwischen dahinsiechenden „The Absolute Sound“, eine erhebliche Rolle
spielte. Dieser Marktsegment ist inzwischen weitgehend gesättigt,
gleichzeitig ist nach dem Ableben von MOBILE FIDELITY und DCC eine
Marktnische entstanden, die wieder zu füllen ist. Folgerichtig hat sich
auch das Repertoire der in den letzten Monaten erschienen Reissues
verlagert: Pop- und Jazz-LPs sind inzwischen in der Mehrzahl.
Santana: Supernatural
ARISTA 19080 (CLASSIC RECORDS)
Carlos Santanas grandioses Comeback noch ausführlich zu würdigen, ist sicherlich
an dieser Stelle nicht mehr nötig. Im vergangenen Frühjahr erschien eine Vinylversion
auf dem Originallabel ARISTA, die sich z.B. auf der High-End großer Nachfrage
erfreute. Dieses Doppelalbum wurde in Deutschland über mindestens zwei verschiedene Vertriebswege angeboten, was zu erheblich differierenden Endverbraucherpreisen zwischen 42 und 60 DM führte. Die im Herbst 2000 veröffentlichte Luxusversion von CLASSIC RECORDS kostet etwa das Doppelte. Lohnt sich das?
Von der ARISTA-Pressung war ich trotz des Stickers „180g audiophile pressing“ arg
enttäuscht. Das Vinyl knistert vernehmlich, auch mehrmaliges Reinigen half nicht.
Eine Nachfrage bei Freunden ergab, dass deren Platten auch nicht besser waren.
Das eher spröde Klangbild mit rauen Höhen brachte überhaupt keine Verbesserung
gegenüber der CD. Das erinnerte mich fatal an die Plattenproduktion vor 10 Jahren,
als die Industrie das Potential des Vinyls wohl entweder bewusst oder durch LowBudget-Produktion nicht nutzte und der CD damit zu einem scheinbaren Vorteil
verhalf.
Bei CLASSIC RECORDS darf man dagegen sicher sein, dass sie auch das Letzte aus
dem vorliegenden Bandmaterial herauskitzeln. So klingt dieses Album auch sauber,
mit sattem Bass, klaren Höhen und großem Dynamikumfang. Allerdings muss auch
der bekennende Vinylfan in mir zugeben, dass abgesehen von einer plastischeren
Räumlichkeit mit etwas mehr Tiefe der Unterschied zur CD nicht sehr groß ist und
eher die Systemunterschiede CD - LP wiederspiegelt.
Fazit: Das Preis-Leistungs-Verhältnis ist bei der gewöhnlichen CD am besten. Wer
auf Vinyl schwört und auch bestmöglichen Klang haben möchte, muss zur CLASSIC
RECORDS-Pressung greifen.
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Music was my first Love …
von Rainer Bergmann
Jeder von uns war wohl schon mal in der Situation, dass er sich
sagte: eigentlich fehlt mir in meiner Sammlung noch was von
der Gruppe / dem Künstler XY, aber welche Platte nehme ich?
Eigentlich will man nur eine Platte, maximal eine Doppel-LP,
aber der gute Freund empfiehlt die Platte A, der versierte
Händler die Platte B, die Platte C hat die besten Kritiken
bekommen, die Platte D hat das schönste Cover, u.s.w. …
Unvorsichtige Zeitgenossen greifen zur „Best of …“‚ die mit
schöner Regelmäßigkeit zum Weihnachtsgeschäft ( sorry, eigentlich ja Weihnachtsfest ) auf den Markt kommt. Doch Vorsicht:
Best of bedeutet meist best sold, sprich die größten Hits. Das
hat sicher seine Berechtigung und ist mitunter gar nicht mal so
schlecht, wenn es aber um einen Querschnitt durch das Schaffen des / der Künstler/s geht, gibt es eine bessere Möglichkeit:
Live-Alben !
Überrascht? Denkt doch mal über folgendes nach:
1) Nicht ein Marketingmensch entscheidet, was dem Käufer
vorgesetzt wird, sondern der / die Künstler selbst.
2) Wenn auch ein Live-Album meistens auf der Promotiontour
für eine gerade neue Platte aufgenommen wird, sind doch auch
alte Sachen drauf.
3) Livekonzerte kommen nie ohne die größten Hits daher.
4) Der / die Künstler bringen Songs, die sie selbst gut fi nden,
denn so ein Konzert soll ja auch ihnen selbst Spaß bereiten.
5) Um für jeden im Publikum was zu bieten, ist so ein Konzert
abwechslungsreicher als reine Studioaufnahmen.
6) Die Band spielt zusammen und so entsteht ein homogener
Sound, keine zusammengestückelten Aufnahmetakes.
7) Die Atmosphäre stimmt, keine kalte, sterile (perfekte?)
Studioatmosphäre. Würde sie nicht stimmen, würde der Konzertmitschnitt nicht veröffentlicht.
Deshalb möchte ich im Folgenden ein paar tolle Live-LPs vorstellen, unabhängig von der Musikrichtung.
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JOE JACKSON
MACEO PARKER
PHIL COLLINS
BIG WORLD
LIVE ON PLANET GROOVE
SERIOUS HITS LIVE
Drei Steigerungsformen der Wunscherfüllung für Musikfans gibt es prinzipiell:
1.) die neueste Platte der Lieblingsgruppe
2.) eine Karte für das nächst Konzert
3.) die Lieblingsband spielt live zuhause
im Wohnzimmer bzw. Garten.
Alternativ laden deine Helden dich ins
Konzert ein, eine ganze Halle mit allem
Drum und Dran, nur du und die Musiker.
Unmöglich? Fast!
Joe Jackson machte es mit Big World 1986
(A&M) möglich. Er brachte das Publikum
für die Aufnahme dazu, mucksmäuschenstill zu sein, und so die Illusion einer
leeren Halle vorzugaukeln.
Es ist geradezu magisch. Man hat das
Gefühl, wirklich allein mit den Musikern
zu sein, mitten in einer grossen Halle,
inmitten der speziellen Akustik. Und sie
spielen ihre Lieder nur für dich.
Typische Joe-Jackson-Musik abseits der
üblichen Schubladen. Poesie in Musik.
Sanfte Balladen, poppige Songs, ein bisschen Chanson, ein bisschen Jazz, ein bisschen Rock.
Sauber und präzise auf 2-Spur-Band (leider digital) direkt aufgezeichnet. Ohne
Umweg, ohne Einengung durch Limiter
und ähnlichen Dreck, und auf 3 (!) Seiten
dickem Vinyl gepresst.
Ein Tipp: wartet bis es draußen dunkel
ist, die Nachbarn im Urlaub, die beste
(Ehe)frau bzw. (Ehe)mann von allen entweder zum Kegelausflug oder in Musiklaune, und dann mit beherztem Griff
zum Lautstärkeregler greifen. Danke, Joe,
immerwährenden Dank für diese großartige Platte.
Schon wieder Maceo! Sag mal Rainer,
kann es sein, dass du Maceo Parker gut
findest?
Gegenfrage: Kann es sein, dass der Papst
katholisch ist? Oh yeah, I love him!
Studiomäßig ist der Mann ja schon genial,
aber live … Auf der Bühne lebt Maceo den
Funk. Das 1992er Doppelalbum (Minor
Music) wurde im Kölner Stadtgarten
Restaurant mitgeschnitten und ist für
mich definitiv das Livealbum für die
berühmt-berüchtigte einsame Insel.
Ich habe ihn auf der damaligen Tournee
live im Oberhausener Ebertbad erlebt,
und glaubt mir, diese Platte bringt soviel
Atmosphäre rüber, wie man es sich nur
wünschen kann. Da werden Erinnerungen wach, da wippen die Füße, da zucken
die Knie, da wackeln die Hüften, da
schwingt der Oberkörper, da wackelt der
Kopf, da zucken die Arme, da folgt der
ganze Körper der Aufforderung des ersten Titels: „Shake everything you’ve got!“
Wer da still im Sessel sitzen bleibt und
nicht akute Tanzwut spürt, ist entweder
tot, oder musikalisch ganz, ganz anders
gestrickt.
Die lesen wahrscheinlich diesen Artikel
noch nicht einmal. Schade, schade.
Na, wie dem auch sei, die Geschmäcker
sind verschieden, und das ist auch in
Ordnung. Über so Nebensächlichkeiten
wie Klangqualität will ich bei dieser großartigen Platte keine großen Worte verlieren. Die Superstimmung kommt ebenso
super rüber, und das sagt genug. Steht ja
auch Minor Music drauf, dann ist auch
Minor Music drin.
Genesis war ja mal eine experimentierfreudige, eigenständige Band. Bis Peter
Gabriel ausstieg und eigene, großartige
Platten machte.
Die Phase mit Phil Collins als Sänger
war schon kommerzieller, und Genesis
wurde schließlich eine Band unter vielen.
Sehr bedauerlich. Da waren sogar die
Soloplatten von Phil Collins besser.
Für meinen persönlichen Geschmack aber
so kommerziell, dass ich das Ganze als
Teeniekram ablehnte. Vor der Tatsache,
dass er Hit auf Hit produzierte und so
seine Qualitäten zeigte, ziehe ich selbstverständlich den Hut. Da gehört schon
was dazu. Dennoch, die Sachen klangen
mir alle zu clean, zu perfekt, zu steril,
zu massenkompatibel. Nix für Vater sein
Sohn.
Und dann plötzlich, auf einer Fete, ist es
passiert. Aus heiterem Himmel (na gut,
draussen war’s schon dunkel), ohne Vorwarnung, einfach so, legt jemand diese
Platte auf. Phil Collins live!
Stimmung, Atmosphäre, Drive, Herzschmerz, Spaß, Sinnlichkeit – alles da!
Alles, was mir an seiner Musik fehlte, ist
nicht nur einfach da, es drängt sich förmlich auf. Ich habe die schlimme Befürchtung, dass der Mann im Studio eingeschlossen wurde, bis die Platte fertig war
und den Männern mit den dunklen Anzügen, den Sonnenbrillen und den verkniffenen Buchhaltergesichtern gefiel. Dann
erst wurde er in die Freiheit entlassen –
auf die Bühne. Dort lebte er dann wieder
auf und seine Seele konnte sich entfalten.
Genau das kommt auf dieser 1990 bei
wea erschienenen Doppel-LP rüber.
Dass die Musik ziemlich kompakt aus der
Mitte kommt, hat möglicherweise mit der
mittig im Publikum befindlichen Bühne
zu tun, wie auch auf der Plattenrückseite
zu sehen.
Aber das ist wirklich zweitrangig.
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ANALOG AKTUELL 2/2000
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minor music
von Rainer Bergmann
KARL DENSON
HERBAL TURKEY BREAST
Eigentlich ist Jazz ja nicht ganz so mein Ding. Blues, Rock, Soul, Funk, Electronic,
ja das ist was für mich. Und Klassik, natürlich. Aber beim klassischen Jazz tue ich
mich dann doch etwas schwer. Dennoch, an einem düsteren Sonntagnachmittag oder
zu eher nächtlicher Stunde darf es dann auch schon mal Jazz sein. Vorrausgesetzt,
er hat Qualitäten wie auf dieser Platte. Mal swingt und groovt er auf Teufel komm
raus, dann hat er Bigbandcharakter und bald improvisieren die Musiker wild drauf
los. Andere Stücke sind geradezu melancholisch oder reinster Cooljazz. Das hat
was, da kommt keine Langeweile auf. Konstantes Element ist dabei immer das
von Karl Denson gespielte Saxophon. Für Jazzliebhaber oder solche, die es werden
wollen, eine dicke Empfehlung; für alle anderen eine wunderbare Anregung zur
Horizonterweiterung.
ANETTE LOWMANN
Was wäre die Welt ohne Ella Fitzgerald? Armer, viel ärmer!
Nun ist Ella leider nicht mehr, aber Anette Lowmann lebt. Tonal nur ein wenig dunkler, könnte man die beiden beinahe verwechseln. Fast möchte man glauben, Ella habe
sich klonen lassen, und bringe jetzt in neuer Höchstform nagelneue Platten heraus.
Wunderbar entspannt fließt die Musik aus den Lautsprechern direkt ins Gemüt. Eine
herrliche Platte für den romantischen Abend zu zweit, zum geruhsamen Entspannen
bei einem Glas Wein oder, welch eine Verschwendung, als Hintergrundberieselung
bei einem guten Buch. Ganz ehrlich, diese Platte gehört in jede gute Jazzplattensammlung; und allen Musikliebhabern, die sanft swingende Jazzmusik mit weiblichem
Gesang nicht aus tiefstem Herzen ablehnen, sei sie wärmstens an eben jenes gelegt.
Ella lebt!
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Richard D. James
just music from technology
von Ingo Schröder
Wer ist Richard D. James? Oder besser: Was verbirgt sich unter
dem Namen Aphex Twin, unter dem er den größten Teil seiner
Stücke veröffentlicht hat?
Kurz gesagt, es handelt sich hierbei um elektronische Musik,
und diese ist in diesem Falle unverwechselbar. Aphex Twin
klingt anders als alles andere und ist trotzdem abwechslungsreich. Viele Stücke sind durchaus bekannt, weil sie in den
Medien zur Untermalung von Werbespots, Berichten oder
Reportagen eingesetzt werden. Wenn der Zuschauer durch
die Musik vom Beitrag abgelenkt und irritiert wird, dann
handelt es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um Richard D.
James. Dieser hat ein besonderes Gespür für einfache schöne
Melodien, die teilweise sogar wie Kinderlieder klingen welche
er dann mehrlagig in seinen Stücken übereinanderschichtet
und variiert.
In Kombination mit ungewöhnlichen verfremdeten Sounds
ergeben sie das Phänomen Aphex Twin, welches wie alle elektronischen Klänge der Jetztzeit gerne in die Techno-Ecke gestellt
wird, was in diesem Falle aber weder der Musik noch der
Käuferschicht gerecht wird.
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