Leseprobe (PDF, 1685kB ) - Latos
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Von jedem verkauften Exemplar werden 10% des Gewinns gesammelt. Ist genug zusammen, werde ich den Gesamtbetrag bei einer Rucksackreise der Person spenden, die es am nötigsten braucht. Auch wenn es noch ein Weilchen dauern mag, folgt meiner Facebookseite. Dort werde ich ein kleines Beweisvideo posten. Einem nichtsahnenden Menschen wird dann in einem schweren Moment ein Lächeln auf das Gesicht gezaubert. Jeder Cent der Spende kommt an, mein Wort darauf. Herzlichen Dank auch an den Latos-Verlag für die tatkräftige Unterstützung dieses Buchprojekts. Euer Florian Frick Folgen und teilen: www.facebook.com\AuflebenRoman Florian Frick Aufleben Roman Latos-Verlag Calbe/Saale Copyright © 2012 by Latos-Verlag, Schloßstraße 25a, 39240 Calbe/Saale Lektorat: André Philipp Werner Umschlaggestaltung: Florian Frick, Stuttgart Bebilderung, außer Gehirnabbildung: Florian Frick, Stuttgart Satz: Latos-Verlag, Calbe/Saale Druck und Bindung: Pressel Digitaler Produktionsdruck, Remshalden 1. Auflage 10/2012 ISBN: 978-3-943308-09-9 www.latos-verlag.de Ich widme dieses Buch dem freien Willen, der durch die Bequemlichkeit des Menschen verlernt hat, seine Stimme zu erheben. „Wer an der Küste bleibt, kann keine neuen Ozeane entdecken.“ (Fernando Magellan) 1. Die Sonne geht unter, während mein Blick über die Häuser der Stadt und die Lichter der Nacht schweift. Das Flachdach im achten Stock bietet den fast perfekten Blick auf ein Sammelsurium aus Mensch, Gebäude und dem nun erstrahlenden Kunstlicht. Der Tag verabschiedet sich, die Nacht bricht an. Auch ich werde mich jetzt verabschieden, um Platz für ein neues Ich zu machen. Der Wind bläst und das brennende Ende meiner Zigarette knistert ein letztes Mal auf, bevor ich sie auf der Betonbrüstung ausdrücke. Ich bin nicht schwindelfrei, aber an das Hinunterhängen meiner Füße von hier oben habe ich mich gewöhnt. Diesen Ausblick werde ich vermissen … „Jonas, du erfrierst hier oben noch, komm doch endlich rein!“ Alexa hat ihren langen Mantel mit den grünen Punkten an, sie hat ihn damals von mir auf dem Flohmarkt geschenkt bekommen. Eine tolle Erinnerung. Nach einem kurzen, instinktiven Blick, wende ich mein Gesicht wieder von ihr ab. Ihr brünettes Haar, ihre glasig blauen Augen und der kleine Mund, der mir so vertraut ist, ich sehe sie vor meinem inneren Auge. Der echte Anblick ist unnötig, denn künftig werde ich nur noch mit den Erinnerungen und Bildern in meinem Kopf von ihr leben müssen. Ich nicke. „Ich bin dann mal im Wohnzimmer und warte auf dich“, ertönt es von hinten ein weiteres Mal, bevor ich die Türe ins Schloss fallen höre. Meine Finger sind schon blau vor Kälte und zittern. Mein Herz bebt schon den ganzen Tag. Mein Blick fällt auf den Zeitungsartikel neben mir. Vorsichtig falte ich das Stück Papier zusammen. Die tiefen Falzlinien zeugen davon, wie oft ich ihn schon durchlas. Ich stecke ihn in meine Hosentasche, atme tief durch und schaue ein letztes 9 Mal auf Berlin hinab. Es ist so weit, gleich wird es geschehen. Die Treppe hinter der Terrassentüre führt direkt in Alexas Zweizimmerwohnung. Die Wohnungstür ist angelehnt, ich gehe hinein. Es fühlt sich an, als würde ich eine Bühne betreten. Im Wohnzimmer sitzt sie, ihr Blick entspannt, das eine Bein unter ihrem Gesäß abgewinkelt. Unsere Blicke treffen einander, nur kurz halte ich ihnen stand. Ich senke meine Augen, als müsste ich den Weg zur Couch navigieren, obgleich ich diesen auch blind laufen kann. Zögerlich setze ich mich neben sie, schaue nach vorne an die leere Wand und bedauere, dass dort kein Fernseher steht, der noch etwas Ablenkung verschaffen könnte. Alexa ist sehr sensibel und kennt mich besser als jeder andere Mensch. Ich spüre, wie ihr Blick an mir haftet und die Situation durch mein Schweigen langsam zu einem Umbruch führt. Nun passiert das Unausweichliche, ich lasse es beginnen. Meine Augen wandern langsam nach rechts, an der Wand entlang, bis mein Kopf so weit gedreht ist, dass ich ihr ins Gesicht schauen kann. „Alexa, es ist aus“, entgegne ich ihr ruhig und sachlich. Stille … ihre Augen öffnen sich weit, die Unterlippe weicht so weit nach unten, dass ein Kirschkern dazwischen passen könnte. Es läuft mir kalt den Rücken hinunter. „Jonas?! Was hast du da gerade gesagt? Wie meinst du das?“, entgegnet sie mir fragend, obwohl ich es nicht klarer hätte formulieren können. Ich schweige kurz, atme dann tief ein, um durch meine Nüchternheit überzeugender zu wirken. „So wie ich es sage, ich trenne mich von dir.“ Ein Schlag trifft mich von der Seite, es ist nur die flache Hand - ich hätte mehr erwartet. „Spinnst du, Jonas? Was um alles in der Welt ist los? Habe ich etwas verpasst? Sind wir nicht ein glückliches 10 Paar, das sich liebt? Wieso redest du noch vor einem Monat über das Zusammenziehen?“, feuert sie Sätze aus ihrem Mund, während sich die inneren Enden ihrer Augenbrauen nach oben ziehen und ihr Tränen in die Augen steigen. „Aber so ist es nun mal“, entgegne ich ihr kalt. Der Moment ist durchtränkt von Schwere, lange hatte ich diese Worte geprobt, sie vor dem Spiegel aufgesagt. Ob mein Gesicht nun so ausschaut wie beim Üben, ich weiß es nicht. Ihre Hand fasst meine Schulter, sehr behutsam. Mein Herz trommelt. „Jonas, das bist doch nicht du. Lass uns darüber reden, du weißt doch, wir können über alles reden, wir finden eine Lösung. Das, was du sagst, kann nicht dein Ernst sein, was ist los?“ Sie kann nicht streiten, dafür ist sie viel zu friedfertig. Doch selbst in diesem Moment so zu reagieren ist wirklich verwunderlich. „Alexa, ich habe mit Silke geschlafen“, offenbare ich ihr unmissverständlich. „Du hast mich betrogen? Mit der Silke?!“, schreit sie mich wutentbrannt an und springt auf. Die Friedfertigkeit wechselt schlagartig in Raserei, als würde ein Schuss aus einer Waffe ertönen und Hunderte Vögel gleichzeitig von den Bäumen aufschrecken. „Wie kannst du mir das antun? Du beschissener Kerl, wie kannst du nur? Wieso?“, entgegnet sie mir und entfernt sich einen großen Schritt von mir. „Es ist passiert. Vielleicht hat mir das Gefühl des Abenteuers gefehlt. Wir leben harmonisch zusammen, aber weniger als Paar. Wir sind doch eher Freunde als Liebende.“ „Abenteuer? Was willst du denn? Soll ich mich von dir auspeitschen lassen oder was?“ 11 „Wir brauchen darüber nicht zu diskutieren“, antworte ich und stütze mich vom Sofa auf. Wir stehen uns gegenüber, vom kleinen Glastisch getrennt, als wäre dies eine geschmolzene Eisscholle, die uns nicht mehr weiter tragen kann. „Dann verpiss dich doch! Verpiss dich sofort und komme nie wieder! Wie kannst du mir das antun!“, schreit sie mir mit einer unbekannt druckvollen Stimme entgegen. Und dann: Da ist es, ich kann es sehen. Ihre Augen werden mehr als glasig. Sie schimmern immer heller und die salzige Flüssigkeit füllt ihre Augen. Die Unterlippe bebt, ihre Augenbrauen schreiben Verzweiflung in ihr Gesicht. Ich halte diesem Anblick nicht stand, senke meinen Kopf zu Boden und laufe einen Halbkreis um sie, als wäre ich ein Hund, der gerade Tadel erhielt. Langsam öffne ich die Türe zum Treppenhaus und schreite aus der Wohnung. Einen letzten Blick lasse ich in das hell erleuchtete Zimmer schweifen. Immer noch an derselben Stelle, mit dem Rücken zu mir gekehrt, fällt sie langsam auf ihre Knie und hebt ihre Hände vors Gesicht. Ihre Schultern zucken im Takt der Wellen ihrer Tränen, es bricht aus ihr heraus, maßlose Enttäuschung, Trauer, Wut und eine glückliche Zukunft, die nun Vergangenheit sein soll. Ich spüre meine Tränen, die tief in mir verschlossen sind. Langsam schließe ich die Türe, der helle Bildausschnitt wird schmaler und schmaler, bis auch die letzte Lichtlinie verschwindet. Da stehe ich, regungslos und in der Dunkelheit des Treppenhauses. Ein paar Sekunden lasse ich verstreichen, ehe ich den Lichtschalter im Flur betätige. Zeit zu gehen, die Zukunft liegt in meiner Hand. Die Vorbereitungen der letzten Tage liefen nach Plan. Ich verlasse das Haus, blicke nicht zurück und fahre mit dem Bus direkt zum Flughafen Berlin-Tegel, an dem ich schon heute Morgen war. Dort angekommen laufe ich zielstrebig zur Wand aus Schließfächern und entnehme 12 meinen tags zuvor erworbenen und gefüllten Reiserucksack sowie meinen Reisepass, der nach zwei Jahren noch immer auf seinen ersten Stempel wartet. An der Fluginformation begrüßt mich eine stark geschminkte, blond gelockte Dame mit einem noch immer bemerkenswert natürlichen Lächeln. Sie ist schätzungsweise Mitte 40 und erfüllt optisch die Anforderungen, die ihr Job voraussetzt. Guten Tag der Herr, wie kann ich Ihnen behilflich sein?“ „Hallo, ich brauche einen Flug, so bald wie möglich und ziemlich weit weg. Ein fremdes Land irgendwo am anderen Ende der Welt! Und warm soll es sein“, beantworte ich ihre Frage zielstrebig, womit alle für mich relevanten Anforderungen gestellt sind. „Können Sie mir genauere Vorstellungen nennen? Wie viel soll das Ticket höchstens kosten? Wir haben eine Vielzahl an Flugzielen. Ist Ihnen die Sprache wichtig?“ Sprache, an so etwas hatte ich noch nicht gedacht. „Ist mir glaube ich egal. Machen Sie doch einfach ein paar Vorschläge“, entgegne ich ihr schulterzuckend. „Ist gut, dann schaue ich einfach mal. Einen Moment bitte.“ Während die Tasten ihrer Tastatur durch ihre Fingernägel klackern, schärfe ich meinen Blick auf das Namensschild, welches an ihrer Bluse festgeklemmt ist. „Also ich hätte da einen Flug nach Bali, Indonesien für 599 Euro, alternativ Buenos Aires, Argentinien für 579 Euro oder Neu-Delhi, Indien für 499 Euro.“ „Ähm, im Grunde ist es egal, ich kenne keines der Länder und kann auch keine der Sprachen. Welcher Flug wäre der nächste?“ „Das wäre der nach Buenos Aires, spätester Check-in ist in einer Stunde.“ 13 „Dann soll es so sein, ich nehme Argentinien“, strahle ich Frau Hinterberg an, die meiner Meinung nach einen schöneren Namen verdient hätte. Nachdem alle Formalitäten erledigt sind und ich den Weg durch Sicherheitskontrolle und Gate hinter mich bringe, betrete ich den Flieger mit einem Gefühlscocktail aus Freude, Schmerz, Sehnsucht und Hoffnung. Kein Mensch wird mich erreichen können, mein Handy bleibt daheim. Ich will meine Reise isoliert bestreiten, ohne lästigen Floskelwechsel oder Telefonate, die mich an mein Alltagsleben erinnern. Es ist mittlerweile Nacht und ich bekomme einen Platz am Fenster zugeteilt. Die Menschen im Flieger sehen müde aus, es ist fast totenstill. Ich atme tief aus und senke meine Stirn, bis sie die seitlich angebrachte Plastikverkleidung berührt. Mein Blick fällt durch das kleine Fenster auf die richtungsweisenden Leuchten entlang der Rollbahn. Jetzt kann ich loslassen, das Schwierigste ist überwunden. Bilder in meinem Kopf fügen sich zu einem Film zusammen. Was wird mich erwarten und kann ich mein Ziel erreichen? Das Pulsieren in meiner Bauchgrube erinnert mich an den ersten Kuss mit Alexa. Wie es ihr wohl gerade geht? Ich blende den Gedanken gleich wieder aus. Ein weiteres Mal ziehe ich den Artikel aus meiner Tasche, atme tief durch und beginne auf der Rückseite meine Liste zu schreiben. Eine Liste des Schicksals, dem ich versuche ein Schnippchen zu schlagen. Die Schlagworte fallen mir wie Schuppen von den Haaren. Unterbewusst hatte ich mich schon die letzten beiden Wochen damit auseinandergesetzt, welche Punkte ich auf die Liste setzen würde, das zahlt sich jetzt aus. Nach getaner Arbeit strahlt mir die Flugbegleiterin mit großen dunklen Augen entgegen und fragt nach meiner Essenswahl. Ich nehme das asiatisch klingende Chickenmenü. Asiatisch hasse ich, das kommt mir sonst nie auf den Tisch. 14 2. Mit Zwischenstopp in Madrid, wo mein Reisepass entjungfert wird, dauert die Anreise fast 25 Stunden. Bedenkt man, dass der Flieger mehrere Hundert Kilometer pro Stunde schnell ist, wird mir klar, wie verdammt groß die Erde ist und wie wenig ich von diesem Planeten kenne. Berlin ist eben auch nicht die Welt. Stolz durchquere ich die Passkontrolle in Buenos Aires. Geschafft, hier bin ich. Während ich auf meinen Rucksack am Gepäckband warte, lasse ich meine Blicke durch die Halle schweifen. Sicherheitspolizisten stehen würdevoll in ihren Anzügen da und blicken mit eiserner Miene drein. Dagegen wirken die Polizisten in Deutschland wie pubertierende Dorfjungen, die gerade nach ihrem Hund suchen. Ich sehe graziöse, braun gebrannte Frauenbeine an mir vorbeilaufen. Südamerikanische Frauen waren nie mein Typ, ich stand immer auf die osteuropäischen oder skandinavischen. Dennoch muss ich mir eingestehen, der gesunde Hautton, im Vergleich zu den momentan blassen Gesichtern in Deutschland, wirkt in diesem Moment sehr reizend. Schließlich erreicht mich mein Rucksack, der noch genauso ausschaut wie vor dem Abflug. Nach einer TV-Reportage über das Abfertigen von Reisegepäck an Flughäfen glaubte ich, man würde dem Gepäckstück die kilometerlangen Beförderungsstrecken in Form von Abschürfungen ansehen. Bevor ich den Airport verlasse, ziehe ich mir mehrfach den maximal möglichen Pesobetrag aus dem Automaten, schließlich soll kein Punkt meiner Liste am fehlenden Kleingeld scheitern. Die elektronischen Schiebetüren des Flughafenausgangs öffnen sich und mir prallt eine sauerstofflose Hitzefront entgegen. Ich bewege mich zögerlich nach draußen, bleibe seitlich stehen, schließe meine Augen und halte inne. Das ist der erste entscheidende Moment der kommenden vier Wochen, es gilt, ihm den nötigen 15 Respekt zu zollen und ihn so wahrzunehmen, wie es mir vorgegeben wird. Die Wahrnehmung ausdehnen, mit allen Sinnen das Jetzt aufsaugen. Spüren, leben! Als würde ich vor einem Lagerfeuer stehen, fühle ich, wie sich die schwüle Luft den Weg durch meine Lungenflügel bahnt. Sie gleitet warm zwischen den Haaren meiner Unterarme hindurch. Feuchtigkeit sammelt sich in meinen Lidfalten, und als ich die Augen wieder öffne, spüre ich einen Tropfen Schweiß, der sich am Rand meines Auges gesammelt hat. Mit dem Finger tippe ich ihn an und stecke ihn mir in den Mund. Mein erster richtiger Schweißtropfen außerhalb von Europa, so schmeckt die weite Welt. Salzig schmeckt er, verbunden mit einer Note, die ich dem Bereich Schmutz zuordnen würde. Nächstes Mal sollte ich mir erst die Hände waschen. Schon jetzt bin ich stolz auf mich, hier zu stehen. Ich steige in den Shuttlebus, der mich ins Zentrum der pulsierenden Metropole bringen wird. Neben mich setzt sich ein junges Mädchen, das nach meinen Vorstellungen völlig untypisch für eine Südamerikanerin aussieht. Ihre Haare sind lila, die Fingernägel schwarz lackiert. Von der Seite kann ich zwischen ihren Augen und der großen Sonnenbrille durchlinsen. Schwarzer Lidschatten schmückt ihre Augenpartie. Sie trägt viel Silberschmuck und schwarze, hautenge Kleidung. Das erste Mal sitze ich neben einer Latina und sehe keinen Unterschied zu einer anderen Gothic-Braut, die genauso in Prenzlauer Berg wohnen könnte. Hoffentlich bleibt dies die Ausnahme und alles andere ist anders als daheim. An mir ziehen verwitterte Häuser vorbei, deren Farbe wie Wachs von Kerzen abblättert. Die Fensterläden sind ausgeblichen und die Vorgärten wirken im Vergleich zu deutschen gänzlich ungepflegt. Obgleich ich mich südlich vom Äquator befinde, säumt ein sattes Grün die Landschaft. Die offenen Fenster im Bus vertreiben die stehend 16 schwüle Hitze und sorgen für etwas Erfrischung. Es scheint, als hätte ich mit jeder Reisestunde ein Grad Celsius dazugewonnen. Wo in Berlin das Thermostat sich stur auf etwa fünf Grad einpendelte, genieße ich jetzt die Wärme von gefühlten 30 Grad. Immer enger werden die Straßen und gleichzeitig schwillt die Höhe der Gebäude an, bis sie einen Schatten über den gesamten Bus werfen. Alte Laster und Autos, die in Deutschland schon seit Jahrzehnten keine TÜV-Plakette mehr gesehen hätten, ziehen an uns vorbei. Die Autos sprühen durch die verschiedenflächigen Lackierungen Charakter aus, keines gleicht dem anderen. Eine sympathische Abwechslung im Vergleich zur müden Monotonie der deutschen Straßen, auf denen allenfalls ein alter Bully noch als Charakterschnauze wahrgenommen wird. Je näher sich der Bus in Richtung Zentrum bewegt, umso weniger Leute sitzen im Bus. Die Gothic-Braut wird durch einen alten Argentinier mit markanten Gesichtszügen und tiefen Augenfalten ersetzt. Meine Haut wirkt neben ihm wie gebleichtes Papier. Er trägt eine Art Baskenmütze, die ihn aus meiner Sicht jugendlicher erscheinen lässt. Plötzlich spricht er mich an und überhäuft mich mit spanischen Sätzen. Keine Ahnung, was er von mir will. Ich deute mit dem Finger auf meine Brust und sage: „Germany“. „Oh German, de Alemania. Si, Ballack!“, entgegnet er mir freundlich strahlend. „Ballack, yes. Germany“, ist das Einzige, was mir darauf einfällt. „You don’t speak Spanish? I lived in Cologne for one year. Ein Kölsch, bitte.“ „Yes, Cologne. I’m from Berlin, you know?“ Er erzählt mir von seiner Zusammenarbeit mit deutschen Ingenieuren, die seiner Meinung nach die kreativsten Arbeiter der Welt seien. Dann klärt er mich darüber 17 auf, in Argentinien gebe es dafür die besten Steaks der Welt. Als einheimischer Argentinier müsse er jedoch zugeben, in Köln das beste argentinische Steak seines Lebens gegessen zu haben - welch eine Ironie. Unser Gespräch wird abrupt beendet, da er schon bei der übernächsten Station den Bus verlässt. Erfreut über mein erstes Gespräch mit einem richtigen Argentinier schaue ich erwartungsvoll aus dem Fenster und fühle, dass wir dem Stadtzentrum schon sehr nahe sein müssen. Die Häuserdichte lässt keinen Platz mehr für Grün. Entgegen dieser Einschätzung erreiche ich erst nach weiteren 30 Minuten Fahrt den Stadtkern. Die Ausmaße müssen denen Berlins sehr ähnlich, wenn nicht noch größer sein. Eigentlich wollte ich gleich durch das Land streifen, doch allein der Name „Buenos Aires“ klingt so imposant und kraftvoll, dass es mich doch wie ein Magnet anzieht. Im Zentrum finde ich schnell eine Touristeninformation. Der Mann hinter dem Tresen zeigt mir, was es an Sehenswürdigkeiten gibt, aber diese interessieren mich nicht. Hellhörig werde ich erst, als er mir sagt, in welchem Viertel es für Touristen gefährlich ist. Von den Randgebieten der Stadtteile San Telmo und La Boca wird Touristen abgeraten. Ohne lange zu zögern, verabschiede ich mich und lasse mich von einem Taxi genau in diese Gegend fahren. Nicht gleich zum Randgebiet, sondern zum lebhaften Marktplatz von San Telmo. Müde von der langen Reise und geschwächt durch die zusätzliche Hitze betrete ich das erstbeste Hostel. Obwohl ich mir locker ein Einzelzimmer in einem Hotel leisten könnte, möchte ich mehr von der Backpacker-Reisementalität, die ich von Lara, einer begeisterten Reisefreundin, erzählt bekommen habe, erfahren. Ein blonder Sunnyboy mit Surfshirt und Badehose, nimmt am Empfang meine Daten auf. Als er in meinem Reisepass das Herkunftsland sieht, entgegnet er 18 mir in einem miserablen Deutsch: „Scheißendreck! Schlamp! Prost!“ Ich muss lachen, nicke ihm zu und versuche ihm somit das Gefühl von Sympathie entgegenzubringen. Der größte „Dorm“, was so viel wie Mehrbettzimmer mit geteilten sanitären Anlagen bedeutet, wird von acht Travellern behaust. In zwei der Betten liegen, nur mit dünnen Laken eingehüllt, zwei junge Frauen. Die anderen Betten sehen benützt aus, sind aber gerade leer. Auf leisen Sohlen räume ich ein paar Sachen aus dem Rucksack, ziehe mir ein neues Shirt über und klettere im Anschluss auf das Doppelstockbett, dessen oberer Platz offensichtlich unbelegt ist. In dem schwülen Raum mit nur einem kleinen Fenster nehme ich noch das Vorbeifahren von Autos und das Surren des Deckenventilators wahr, bevor ich vor Erschöpfung einschlafe. Die Türe quietscht, lautes Lachen überfällt den Raum. Blinzelnd öffne ich die Augen und linse. Drei Jungs, nicht älter als 22 Jahre, kommen herein, begrüßen mich mit einem Kopfnicken und wuseln durch das Zimmer, um in Plastiktüten zu rascheln und den Raum mit Fußgestank zu durchfluten. Mein Zeitgefühl ist ausgeschaltet, es könnten 30 Minuten oder auch drei Stunden Schlaf gewesen sein. Die Träume waren wirr und viel zu real: von Alexa, meinen Eltern, dem Flug und seltsamen Bildern, in denen sich Berlin und Buenos Aires vermischten. Ich beschließe erst mal zu duschen und gehe anschließend in ein kleines Restaurant um die Ecke. Die Speisekarte ist auf Spanisch, schlecht für mich. Glücklicherweise hängen an der Wand ein paar Bilder von Gerichten. Eines davon lässt mir sogleich das Wasser im Mund zerlaufen. Es muss aussehen, als wäre ich ein Kind im Süßwarenladen, als ich mit dem Finger auf das Bild mit dem Steak zeige. Nach langer Wartezeit und meinem ersten argentinischen Bier genieße ich wahrhaftig eines meiner 19 besten Steaks, saftig, fleischig, perfekt im Biss und Abgang, falls man das so sagen darf. Zurück im Hostel betritt ein großer Farbiger das Gemeinschaftsbad, als ich mir gerade die Zähne putze. Seine Haare sind kurz geschoren, die Augen dunkel wie die Nacht. Um seine Hüfte trägt er ein kleines, blaues Handtuch, unter welchem sich unübersehbar die Konturen seiner primären Geschlechtsmerkmale abzeichnen. Mit seinen schlauchbootartigen Riesenlippen grinst er mir entgegen, während er sich an das Waschbecken neben mir platziert. Durch den großen Spiegel vor uns stellt er sich mit „Marcello“ vor. Höflich, aber mit der Bürste im Mund nuschle ich: „Jonas“. Während ich die letzte meiner gewohnten drei Minuten abputze, prescht Marcello mit der Bürste durch seinen monströsen Kiefer, als gälte es, einen Wettkampf zu gewinnen. Es gleicht mehr dem Benutzen einer Klobürste, mit der man versucht, den Rest eines großen Geschäfts zu entfernen. Synchron spucken wir in das Waschbecken und spülen nach. „Where are you from? Europe? White skin do you have!“ „I’m from Germany.“ „Ah, German. Good football, Ballack!“, strahlt er mir wieder entgegen, während ich mich frage, ob das jetzt jeder zu mir sagen wird. „Eh man, we make party now. On the rooftop. Come and drink with us!“, setzt er hinterher und hebt erwartungsvoll seine Augenbrauen, während dieses breite Grinsen wie eingemeißelt stehen bleibt. Die Pläne für heute Abend sind noch nicht gemacht und erstmals versuche ich, auf eine lässige Frage auch eine lässige Antwort zu finden. „Yeah man, I will come. Soon.“ 20 „Good. So see you later“, strahlt er ein letztes Mal, während er ebenso unvorhergesehen verschwindet, wie er auftauchte. Über meinen eigenen Schatten muss ich nicht springen, dieser ist nämlich daheim in Berlin geblieben. Nach kurzem Styling fahre ich mit dem klapprigen Aufzug in den fünften Stock und betrete die Dachterrasse. Eine ausgetrocknete, aber noch lebendige Schildkröte begrüßt mich inmitten des Flurs. Um den Tisch sitzen sieben junge Männer, alle etwa Mitte 20. Zwei von ihnen spielen auf der Gitarre eine sinnliche, lateinamerikanische Melodie, zu der der Rest der Truppe singt. Der Gesang enthält viel Gefühl, es klingt warm. Erst nach ein paar endlos scheinenden Minuten, in denen ich sinnlos dastehe und mich fehl am Platz fühle, werde ich wahrgenommen und an den Tisch geladen. Verwundert stelle ich fest, dass noch alle Bierflaschen verschlossen und die Jungs folglich noch nüchtern sind. Mir fallen nicht mehr als zwei Deutsche ein, die in nüchternem Zustand mitsingen würden und dies auch nur, weil sie in einer Band spielen. Artig strecke ich meine Hand entgegen, wobei mir jeder einen Handschlag versucht entgegenzubringen. Ich scheitere bei den ersten Versuchen kläglich, schaffe es gerade so bei den letzten beiden, den Handschlag korrekt zu erwidern. Das Gitarrenspiel wird nur kurz durch meine Begrüßung ausgesetzt. Sie singen in einer Sprache, die mir fremd ist. Mareco, der zum Glück etwas Englisch spricht, nimmt sich meiner an und erzählt, mit wem ich es zu tun habe. Die Jungs sind in der Marine, kommen aus Brasilien und waren ein Jahr vor Argentinien auf See stationiert. Sie sind stolz, in der brasilianischen Navy sein zu dürfen, nehmen dies aber nicht zu ernst. Wir trinken zusammen Bier und mit dem Klang der fremden Musik schweift mein Blick über die Terrasse hinweg auf die Lichter der Stadt. Ich muss an Alexa und 21 unseren letzten Abend denken, Wehmut kommt in mir auf. Schnell verdränge ich dieses Gefühl, nehme war, was im Jetzt um mich herum geschieht. Nach weiteren drei Liedern werde ich von Armino, dem Kleinsten der Gruppe, jedoch auch der mit dem größten Mundwerk aufgefordert, auch ein Lied zu singen. Nur zwei der Sieben sind ein wenig mit der englischen Sprache vertraut, deshalb können sie auch keine englischen Songs singen. Paolo stimmt den Song „Summer of ’69“ an. Er singt zur Melodie zwar einen Text, die Wörter sind jedoch reines Kauderwelsch und haben keine Gemeinsamkeit mit dem englischen Originaltext. Ich kenne die Worte viel zu gut, schließlich läuft der Song bis heute noch im Radio rauf und runter. Als ich den Mund nicht auf bekomme, feuern mich die Jungs an. „Sing you bitch, sing you bitch!“, ertönt es laut und hallt über die Mauern des Gebäudes hinaus, in die noch pulsierende Stadt. Zumindest der Bedeutung dieser englischen Wörter sind sich die Jungs durchaus bewusst. Meine Finger werden schwitzig und die Hitze steigt mir in den Kopf. Laut singen, das ist überhaupt nicht mein Ding. Die auffordernden Zurufe wollen nicht abklingen, so beginne ich langsam und ganz leise zu singen. Es klingt beschissen, meine Hemmnisse schnüren mir die Stimme ab. Da bin ich am anderen Ende der Welt und piss mir noch immer ins Hemd, wegen eines Songs, den man nicht falsch singen kann. Ablegen, aufbrechen, die Ketten sprengen, darum bin ich hier, verdammt! Ich gewähre mir keine Gnade, und obgleich ich noch bei meinem ersten Bier bin, will ich den Alkohol nicht als Vorwand benutzen. Voller Tatendrang stehe ich auf, strecke meine Brust heraus und hebe den Kopf nach oben, damit die Luft aus meiner Kehle ungehindert weichen und in den Himmel steigen kann. Ich singe, laut, so laut, dass es nach Gesang klingt, kraftvoll und im Takt der Akkorde. Es kribbelt in 22 meinem Bauch, Endorphine durchströmen meinen Körper. Es ist, als hätte ich den Gipfel eines Gebirges erklommen. Die Jungs klatschen mit dem Beat, lachen, rufen zustimmende Laute. Es gefällt ihnen, es scheint egal zu sein, wie gut es klingt, Hauptsache es ist englisch und der Song hört sich auf die Art und Weise an, wie sie es vom Radio gewohnt sind. Die Hitze in meinem Kopf wandelt sich zu Feuer. Wahrnehmen, die Sinne prüfen, die Gefühle in mich aufsaugen. Während ich singe, lege ich mir die Hände auf die Brust, so spüre ich die Vibrationen meines Körpers. Ich kenne dieses Gefühl eigentlich nur, wenn ich mit dem Kopf auf Alexas Oberkörper liege und sie mir von ihrem Tag erzählt. Mein Gesang fühlt sich großartig an. Damit könnte ich einen zusätzlichen Punkt auf meine Liste schreiben und gleichzeitig abhaken. Aber das wäre Betrug, denn der Gedanke, einmal laut vor anderen Menschen zu singen, kam mir beim Erstellen nicht in den Sinn. Egal, es hat den Charakterzug eines Punkts und ich bekomme eine Idee davon, wie es erst sein wird, wenn ich tatsächlich den ersten Punkt abhaken werde. Die Jungs applaudieren mir im Anschluss, ich fühle mich geehrt und ein kleines bisschen Rockstar. Wir trinken viele Flaschen, der Abend verwandelt sich in das Bild eines Drachens, der in den Himmel steigt. Die Ungezwungenheit im Beisein der anderen fühlt sich wie Freundschaft an. Die Jungs müssen dann um fünf Uhr morgens auf ihr Boot, welches sie wieder in die Heimat bringt. Gänzlich betrunken torkele ich nach kraftvollen Abschiedsumarmungen in mein Zimmer und krabble im Dunkeln das Stockbett hoch. Das Geschnarche meiner Zimmergenossen kann mich nicht davon abhalten, in wenigen Minuten mit einem Gefühl von Zufriedenheit einzuschlafen. 23 3. Tag zwei meiner Reise, es ist Zeit tiefer in meinen Trip einzutauchen. Nach dem Frühstück lasse ich mir vom Surferboy der Rezeption die gefährlichste Ecke innerhalb des Bezirks La Boca nennen. Seine tief geröteten Augen verraten, dass er gestern auch tief ins Glas schaute. Mit einem ratlosen Blick und dem rechten Teil der Oberlippe nach oben gezogen schaut er mich an, als ich nach der Busverbindung dorthin frage. „What the hell do you want there? No one goes there. Even not the locals! There is nothing to do, man!“, macht er mich an, als ich ein zweites Mal nach der Verbindung frage. Auf seine Aussage schweige ich, blicke ihn nur an und warte ab. Scheinbar sich geschlagen zu fühlen, bläst er etwas Luft durch die Zähne und sucht über den Computer die Busverbindung heraus. Ich bedanke mich strahlend und nehme zur Notiz, dass noch keiner, und schon gar nicht ein Weißbrot wie ich, diese Verbindung forderte. Obgleich ein Taxi schneller wäre, stelle ich mich der Herausforderung und fahre mit dem öffentlichen Bus. Dort angekommen steige ich als Einziger aus und finde mich am Eiterpunkt von Buenos Aires wieder. Voller Tatendrang und mit erhöhtem Adrenalinspiegel falte ich meine Liste auseinander und fixiere den ersten notierten Punkt: „1. Eine Prügelei anzetteln, austeilen, aber auch einen Hieb einstecken.“ Selbstbewusst, aber respektvoll beginne ich zu laufen. Die Straßen sind leer, die Hausfassaden sind marode und der Gehweg ist gesäumt von Schlaglöchern und Müll. Es gibt keine Läden oder Lokale, es gleicht einer verlassenen Siedlung, wie man es aus Aufnahmen von Tschernobyl kennt. Mir ist mulmig, Spannung baut sich in mir auf. Wie soll ich überhaupt eine Prügelei anzetteln, wenn ich mein Gegenüber nicht in seiner Sprache anpöbeln kann? Als ich an einem alten 24 Backsteingebäude mit vielen Graffiti vorbeilaufe, öffnet sich ein Rollladen auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Eine junge Mutter mit ihrem Kind auf dem Arm ruft mir etwas zu. Der Tonfall ist streng, sie streckt ihren Arm in die Richtung, aus der ich gerade kam. Ich brauche kein Spanisch, um zu verstehen. Ohne Reaktion laufe ich weiter, dennoch bleibt mein Blick an der Frau kleben. Diese wird rasend und ihre Floskeln werden lauter. Als frische Mutter hat sie gerade einen sehr großen Beschützerinstinkt, sicherlich will sie mir einfach nur helfen. Zielstrebig laufe ich weiter die Straße entlang und ihre Stimme verstummt schon bald. In der Mitte der Straße taucht ein großes Loch auf. Es hat sicherlich einen Durchmesser von zwei Metern. Neugierig blicke ich hinein, es ist mit Müll gefüllt. Wie entstand es wohl? Plötzlich höre ich erneut Rufe, diesmal sind es aber zwei männliche Stimmen. Aus einer Seitenstraße tauchen zwei Jugendliche auf. Beide mit breiten Hosen und langen Shirts. Sie laufen auf mich zu. Die Situation ist prekär, denn ich hatte nicht vor, mich mit 15-Jährigen anzulegen. Ein Gleichaltriger, 26-Jähriger sollte es mindestens sein, so hätte es seine Richtigkeit. Noch bevor ich eine Geste ausführen kann, die meine Verständigungsprobleme zum Ausdruck bringt, blicke ich zwei Pistolen in die Mündung. Schockstarre, Pulsblässe, Hyperventilation. Ich hebe reflexartig die Hände. Mich jetzt erschießen zu lassen, wäre sehr kontraproduktiv. „Money, Gringo!“, rufen sie beide mit lauten, aggressiven Stimmen. Langsam ziehe ich meinen Geldbeutel aus der Tasche und strecke ihnen das Geld hin, das ich bei mir habe. Schnell wandert es in die Taschen der beiden Halbstarken. Ungewöhnlicherweise scheinen auch die Jungs sehr angespannt zu sein. Sie suchen hastig die Umgebung ab. Anscheinend sind sie noch am Anfang ihrer kriminellen 25 Karriere und bilden sich gerade selbst aus. Der eine zeigt mit der Pistole auf meine Schuhe. Ohne Anstalten zu machen, ziehe ich sie aus und übergebe meine neuen Treter, die nicht mehr als fünf Tage auf der Sohle haben. Als sie die Schuhe in Händen halten, mustern sie mich ein weiteres Mal. „Pants!“, ruft der andere Junge, als wäre er nun neidisch darauf, dass sein Gangsterkollege neue Schuhe hat. Mir rutscht ein „Fuck“ heraus. Kaum ausgesprochen richten sie die Pistolen horizontal auf mich, als wären sie coole Schauspieler aus Hollywood-Filmen. Ich gehorche, ohne Schuhe ist es ohnehin leichter, die kurze Hose auszuziehen. Aus weiter Entfernung ertönt ein Motorrad. Wie auf frischer Tat ertappt, schnappen sie sich meine Hose, rennen in die Gasse zurück und springen seitlich über einen Zaun. Das Motorrad biegt in eine andere Straße ab. Luft presst sich aus meinen Lungen heraus. Schweißperlen tropfen von meiner Stirn. In mir macht sich ein Gefühl der Scham breit. Diese Aktion ging nach hinten los und hätte mein Leben vielleicht schon jetzt beenden können. Dieses Pflaster ist mir doch zu heiß, Zeit, den Rückzug anzutreten. Als Schwarzfahrer in Boxershorts steige ich in den nächsten Bus. Während der Fahrt fühle ich mich als Verlierer, Wut macht sich in mir breit. Zurück im Hostel muss ich mich vom Sunnyboy hinter der Theke auslachen lassen. Am liebsten würde ich ihm sein Surfboard in den Arsch schieben! Ich stürme auf mein Zimmer, schnappe mir eine neue Hose, meine Hausschlappen und das restliche Kleingeld aus meinem Rucksack. Das war ziemlich viel Lehrgeld, was ich zahlen musste. Künftig werde ich mit Kreditkarte zahlen, und diese in meine Socken stecken. Mission „Aufleben“ darf auf keinen Fall schon jetzt einen Rückschlag erleiden. Draußen schnappe ich mir das erste Taxi und wiederhole ein paar Mal die Worte „Irish Pub“, bis ich das Gefühl 26 bekomme, der Fahrer weiß, was ich meine. Nach zwanzig Minuten stehen wir tatsächlich vor einem der typischen Pubs mit grünem Anstrich. Breitbeinig betrete ich die Bar, als würde ich einen Saloon im Wilden Westen aufsuchen. Bingo, das entspricht genau meiner Erwartung. Im vorderen Barbereich sitzt ein Mann mit großflächigem Sonnenbrand im Gesicht, offenbar ein Engländer. Er hängt träge am Tresen und trinkt sein Bier. Er ist etwa Ende dreißig, aber ich will mal nicht so sein. In seinem Alter hat er sicherlich schon einiges erlebt, das Folgende wird ihn nicht aus der Bahn werfen. Protzig setze ich mich neben ihn und warte, bis er den nächsten Schluck nimmt, und strecke ihm dabei meinen rechten Ellbogen in die Seite, sodass er den Gerstensaft verschüttet. Er schaut mich an, ich starre wie eine Eule zurück. Mit der Hand streicht er über sein Shirt, bleibt aber gelassen, kratzt sich an der Nase und blickt wieder nach vorne. „Your queen is a bitch, she smells like shit!“, eröffne ich feindselig das Gespräch mit der Gewissheit, dass er einen Angriff auf sein geliebtes Staatsoberhaupt nicht auf sich beruhen lassen kann. „Hey man, what’s your problem? What do you want?“, entgegnet er mir, durchaus emotional angesprochen. Ich stelle mich neben ihn und stoße ihn von der Seite. Jetzt scheint er endlich wach zu sein, er bäumt sich neben mir auf und ist unerwartet einen Kopf größer als ich. Ich schließe für einen kurzen Moment die Augen und erfasse meinen Gefühlszustand. Glasklar, energetisch geladen, bereit Urinstinkte zu wecken, Adrenalin, flache, schnelle Atmung. Ich hole aus und schlage ihm mit meiner Faust ins Gesicht. Es peitscht ihn nicht so weit zurück wie erwartet und als Gegenreaktion reißt er seinen Mund auf, schreit und tost wutentbrannt auf mich los. Analysieren, besser aber erst mal Luft holen. Ich blicke Schuhen entgegen, offensichtlich liege ich am Boden. 27 Blutgeschmack in meinem Mund, warm und bitter. Das Atmen fällt schwer, es schmerzt. Ruhig bleiben, langsam atmen. Ich wende meinen Kopf, dort steht der Engländer, blickt mich schnaufend von oben an. In dem Fall bin ich wohl gleich beim ersten Schlag ohnmächtig geworden. Freude überkommt mich, ich schaue ihm in seine rot unterlaufenen Augen und lächle ihm zu. Entgeistert starrt er mit hängendem Unterkiefer, der offensichtlich anschwillt, zurück. Er tritt einen Schritt nach hinten, er muss denken, ich bin geistesgestört und falle ihn gleich wie ein wildes Tier an. Langsam rappel ich mich auf, die Nase schmerzt auch, waren wohl zwei Schläge, die er absetzen konnte, bevor ich zu Boden ging. Der Barmann hinter der Theke blickt weniger verwundert, wohl schon zu lange im Geschäft. Er deutet mir mit dem Finger Richtung Ausgang, ich verstehe sofort. Zaghaft, mit Schmerzen in der Magengrube verneige ich mich wie ein Pianist nach einer gelungenen Darbietung. Mein Lächeln muss mit dem Blut auf den Zähnen wirklich seltsam aussehen, der Engländer bleibt erstarrt, nun schaut er wie eine Eule drein. Ich greife noch kurz zu einem Bündel Servietten, während ich rückwärts den Weg aus der Bar suche. Draußen knülle ich mir erst mal Nasentampons, um den Blutfluss zu stillen. Ich hätte in weiser Voraussicht ein dunkleres Shirt anziehen sollen, ich sehe aus wie ein Schlachter. Schade, dass ich nicht mitbekommen habe, wie es war, die Schläge zu spüren, der Moment wäre wesentlich intensiver gewesen. Dennoch ein voller Erfolg, meine erste Schlägerei, das Gefühl, ein wahrer Mann zu sein! Ich fühle mich glücklich. Ab ins Taxi und zurück zum Hostel, um meine Wunden stolz lecken zu dürfen. Als ich vor dem Hostel ankomme, sitzt eine junge Frau auf den Stufen zur Eingangstüre und zieht an einer Zigarette. Genau das will ich jetzt auch, eine 28 Kippe nach einer Schlägerei scheint genauso attraktiv wie eine nach dem Sex. „Sorry, can I get one cigarette from you?“, frage ich und reiße sie damit aus ihren Gedanken. Offensichtlich überrascht von den roten Tampons in meiner Nase zieht sie mitleidsvoll die Schachtel aus ihrer Tasche. „Ich bin auch aus Deutschland, brauchen also nicht auf Englisch zu reden. Mein Name ist Katrin.“ „Ist mein Englisch so deutsch, dass man es gleich merkt?“, antworte ich mit skeptischem Tonfall. „Wenn man so lange wie ich in den Hostels unterwegs ist, hört man es schon nach dem ersten Satz heraus. Dein Englisch klingt wie aus dem Schulunterricht. Warst noch nicht viel unterwegs, gell?!“ „Nein, da hast du recht. Auf jeden Fall danke für die Zigarette, ich bin Jonas. Darf ich mich zu dir setzen?“ „Klar“ Sie gibt mir Feuer, ich setzte mich entspannt neben sie und genieße den ersten Zug. Musternd blicke ich in ihr Gesicht. Es hat etwas Engelsgleiches, bloß dass ihre blauen Augen etwas Trauriges ausstrahlen. Sie trägt Sandalen, die Zehen sind schmutzig. Eine weite orangefarbene Leinenhose und ein schwarzes Top mit Ausschnitt. Um den Hals trägt sie ein paar Perlenketten, an den Armen verschiedene Holzreifen. Eine sehr hübsch anzusehende Frau mit ausgeprägtem Hippietouch, die vielleicht zwei Jahre jünger ist als ich. „Wo fängt dein Himmel an?“, entgegnet sie mir, dreht mir dabei ihren Kopf entgegen und schaut mir tief in die Augen. „Ich verstehe nicht, was ist das für eine Frage?“, antworte ich verwundert. „Eine Frage, deren Antwort nur du kennst.“ „Du willst wissen, wo mein Himmel anfängt?! Ich habe ihn schon gefunden, den Himmel auf Erden. Doch der 29 Grund, weshalb ich hier bin, ist, dass der wahre Himmel noch warten soll.“ „Das hat mir noch niemand auf meine Frage geantwortet. Erzähl deine Geschichte!“ „Meine Geschichte?“ Ich blicke an mir selbst hinunter und verarbeite kurz, was von mir gefordert wird. Die letzten Wochen waren hart. Mit niemandem außer dem Arzt und meinen Eltern hatte ich ein vertrautes Gespräch geführt. Mit einer fremden Person darüber zu sprechen mag zwar ungewöhnlich sein, aber es wird gut tun, alles in gesprochene Worte zu fassen. Die stillen Gedanken kreisen viel zu lange in meinem Kopf umher und vergiften meinen Verstand. „Weißt du was, Katrin. Tatsächlich, du wirst meine Geschichte jetzt hören und du bist damit die vierte Person auf diesem Planten, die sie kennen wird! „Da hat einer wohl ein großes Mitteilungsdefizit. Ich bin gespannt. Leg vor und erzähle, was du zu bieten hast!“, entgegnet sie mir erwartungsvoll mit dem Tonfall, als würde ich nur eine ermüdende, belanglose Geschichte erzählen können. „Dann höre mir mal zu: Vor einem Monat ging ich zum Arzt, um mich wegen einer Grippe krankschreiben zu lassen. Dabei ließ ich mir noch Blut abnehmen, um es untersuchen zu lassen, reiner Routinecheck. Wenige Tage später bat mich der Arzt in die Praxis. Diagnose: Verdacht auf Krebs. Ich kam in eine Klinik und wurde untersucht. In meinem Kopf ist ein walnussgroßer Tumor. Er ist inoperabel. Ich bin 26 Jahre alt und habe nach heutigem Stand noch eine Lebenserwartung von etwa sechs Wochen.“ Es ist hart, die Worte laut auszusprechen. Meine Stimme versagt bei der letzten Silbe und ich spüre, wie sich plötzlich der Druck der letzten Wochen versucht zu entladen. Mein Blick verschwimmt, Tränen steigen mir in 30 die Augen, ich will nicht, aber es geschieht einfach. Voller Scham kann ich Katrin nicht in die Augen sehen, blicke nach unten und folge den Tränen, die sich auf dem heißen Asphalt unter mir niederlassen. Eine Hand gleitet von hinten um meinen Rücken, eine andere von vorne. Katrin schmiegt sich an mich, drückt mich fest. Es fühlt sich an, als würde mich meine Mutter umarmen. Es tut so unglaublich gut. „Mit einer solchen Geschichte habe ich nicht gerechnet. Das tut mir sehr leid für dich. Es muss unglaublich schwer sein, damit umzugehen“, flüstert sie mir mitfühlend ins Ohr. „Und deshalb hast du Nasenbluten!“ „Nein, überhaupt nicht“, entgegne ich ihr und muss Aufgrund der absurden Zusammenhänge lachen. „Ich hatte gerade die erste Schlägerei in meinem Leben!“ „Du denkst also, du musst in den letzten Wochen noch ein richtiger Kerl werden? Ist das wirklich nötig?“ „Nein, es ist nicht so. Es geht um viel mehr, es geht hierbei um alles - um mein Leben.“ „Verstehe ich nicht, Jonas.“ Ich greife in meine Tasche, ziehe den Artikel mit der umseitig erstellen Liste heraus und drücke ihr das Blatt in die Hand. Neugierig überfliegt sie den Text und anschließend die Rückseite. „Nachdem ich nicht fassen konnte, dass ich sterben muss, recherchierte ich im Internet und bin auf diesen Artikel gestoßen. Samuel Kestlez aus der Schweiz. Er hat sozusagen den gleichen Tumor wie ich gehabt, auch dieser war mitten im Gehirn. Sie stellten ihm noch einen Monat in Aussicht. Er packte seine Sachen und reiste für drei Wochen nach Asien, um die letzten Wochen seines Lebens zu genießen und dem bemitleidenswerten Dasein im Hospital zu entrinnen. Er lebt noch heute!“ 31 „Wieso?“ „Genau das ist die große Frage, die ich mir auch stellte. Kestlez’ These oder vielmehr die seiner Ärzte war folgende: Im Alltagsleben findet das Gehirn kaum neue Impulse, es liegt brach. In Asien ließ er sich auf ganz viele neue Dinge ein. Die Bilder, Menschen, die Erlebnisse, Tausende von neuen Eindrücken strömten auf ihn ein. Das Gehirn macht in dem Fall das, wozu es programmiert ist: die Kapazität erweitern, neue Verknüpfungen schaffen, Informationen und Emotionen in Verbindung setzen und einlagern. Die außergewöhnlich hohe Auslastung und überdurchschnittliche Neubildung von Synapsen zwang das Gehirn, die unnötigen Krebszellen zu ersetzen. Samuel kam zurück, wollte in der noch verbleibenden Zeit Abschied von seinen Liebsten nehmen. Er fühlte sich unerwartet gut, ließ sich abermals untersuchen. Für die Ärzte glich es einem Wunder, der Tumor war so weit geschrumpft, dass er durch eine Chemotherapie wieder völlig gesund werden konnte.“ „Und wenn ich richtig kombiniere, sind die Punkte auf deiner Liste die Dinge, die dein Gehirn überfluten sollen?" „Richtig erkannt. Diese Liste ist der Strohhalm meines Lebens, nach dem ich jetzt greifen werde. Sie ist für mich die letzte Chance, weiterzuleben. Ich habe dafür einen Monat eingeplant, eine Woche mehr, als sich Kestlez für seine Reise Zeit nahm.“ „Klingt irgendwie logisch. Wenn die Ärzte nichts mehr für dich machen können, wieso nicht?“ „Eben. Und ich werde die Sache bis zum Äußersten ausreizen.“ „Du sagtest, ich sei die vierte Person, die davon weiß. Wer sind die anderen?“ „Nur meine Eltern und mein Arzt wissen sonst Bescheid. Auf der Arbeit habe ich Sonderurlaub genommen.“ 32 „Wenigstens hast du keine Freundin, das macht die Sache nicht noch schwerer.“ „Doch, die habe ich, sie heißt Alexa. Und nur sie ist der Grund, weshalb ich alles daran setzen werde, weiterleben zu können!“ „Und genau ihr hast du es nicht erzählt?!“ „Viele Stunden überlegte ich, wie ich es ihr beibringen sollte. Ich stellte mir vor, wie es ihr gehen würde, wenn sie an meinem Grab stünde. Wir sind mittlerweile fünf Jahre ein Pärchen, sie ist die Liebe meines Lebens, das Wertvollste auf der Welt. Um ihr den Schmerz zu ersparen, habe ich ihr erzählt, fremdgegangen zu sein und die Beziehung beendet. Falls ich gesund werde, sage ich ihr, dass ich sie anlog - sie wird es mir verzeihen. Falls ich jedoch sterbe, hoffe ich, dass die Wut auf mich stärker als die Sehnsucht ist und sie so darüber hinwegkommt.“ „Das klingt in meinen Ohren unreif. Denkst du wirklich, dass diese Geschichte klug war?“ „So macht es für mich am meisten Sinn, auch wenn ich sie schrecklich vermisse. Welche Lösung hätte ich sonst?“ „Das tun, was eine Partnerschaft ausmacht, die Wahrheit sagen und die Hilfe von ihr annehmen.“ „Und wenn ich dann tot bin, wie will sie über mich hinwegkommen? Ich habe das nicht für mich, sondern nur für sie gemacht.“ „Ich bleibe bei meinem Standpunkt.“ „Und ich bei meinem. Außerdem war für mich klar, wenn ich alleine meinen Trip durchziehe, werde ich mehr auf mich gestellt sein. So kann ich meine Liste besser abarbeiten, Risiken eingehen, Dinge tun, die Alexa sonst infrage stellen würde. Zu wichtig sind die nächsten vier Wochen, mein Leben hängt davon ab. Ich alleine, niemand sonst kann mich heilen. Und deshalb muss ich auch diese Reise alleine bewältigen.“ 33 „Und ich sehe es anders: Du brauchst jemanden, mit dem du die Momente teilen kannst. Wenn sich die Impulse wirklich in deinem Denken verankern sollen, der Trip dich selbst verändern soll, wird es dir besser gelingen, wenn du die Erfahrung teilst.“ Ich wende meinen Blick von Katrin ab, da das Gespräch in einer Schleife hängt. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sehe ich ein junges Pärchen vorbeilaufen. War es ein Fehler, alleine zu gehen? Alexa hätte mich natürlich jede Sekunde unterstützt. Aber sie hätte mich sicher in irgendeine Spezialklinik schleppen wollen. Außerdem will ich in den nächsten Wochen ein anderer Jonas sein als der, der ich sonst bin. Mir wäre es peinlich vor ihr, was würde sie von mir denken. Eine Schlägerei mit einem Engländer? Ich, Jonas? Am Ende würde unsere Beziehung darunter leiden. Wenn ich zurück bin, will ich weiterhin die Beziehung, die ich die letzten Jahre hatte. „Nein, ich bleibe dabei. Es ist besser, die Sache ohne Alexa durchzuziehen. So viel zu mir! Was ist mit dir? Du machst Urlaub? Oder gibt es auch eine Geschichte? Wo fängt dein Himmel an?“ … 34