Interview

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Interview
EXTRA:
Die islamische Welt und Europa
Was wir Muslimen zu verdanken haben
Europa wäre ohne orientalische Einflüsse nicht das Europa, wie wir es kennen / Selbst die Aufklärung griff auf Vorarbeiten islamischer Gelehrter zurück
Das deutsche Wort für das Musikinstrument Laute stammt aus dem Arabischen.
So wie auch eine ganze Reihe anderer
Worte im Deutschen Entlehnungen aus dem
Wie christlich sind unsere Werte?
Arabischen sind und damit beredtes ZeugSo lautete der Titel einer Extra-Seite
nis kultureller Einflüsse. Um nur einige zu
nennen: Admiral, Alchemie, Algebra, Algovom 22. März. Die Antwort war: Sie
rithmus, Alkohol, Alkoven (Schlafnische),
sind auch, aber nicht nur christlich;
Almanach, Arsenal, Gamasche, Giraffe,
Elixier, Havarie, Kadi, Kaffee, Karaffe,
die antike griechische Philosophie und
Lila, Magazin (Lager), Matratze, Monsun,
die Aufklärung des 18. Jahrhunderts
Razzia, Safari, schachmatt, Sirup, Taiprägten uns ebenso maßgeblich. Doch
fun, Talisman, Tarif, Tasse, Watte, Zenit,
Ziffer, Zucker. Einen Teil der Begriffe
waren nicht auch Muslime unter den
hatten die Araber ihrerseits aus dem
Kulturbringern Europas? Ja, zweifelsoh- Griechischen, Persischen oder altindischen Sanskrit entlehnt.
ne. Doch die Strahlkraft der islami„Die muslimische Welt konservierte
schen Welt in das mittelalterliche
das antike Wissen des alten MesopotaAbendland hinein ist bei vielen unbemiens, Ägyptens, Griechenlands und
der Byzantiner auch für uns Westeukannt. Dem wird hiermit abgeholfen.
ropäer, sammelte indische und chinesische Erkenntnisse und Erfindungen
und bereicherte sie mit eigenen Entwicklungen“, so Schuetz.
Offenkundig sind die Einflüsse im
Bereich der Mathematik. „Auch wir in
Der Untergang des Morgenlandes
Deutschland benutzen arabische ZifHochmut kommt vor dem Fall. Bevor sie fern beziehungsweise Zahlen, das Defiel, bäumte sich die islamische Welt zuletzt zimalsystem und die Null. Die Araber
noch in Gestalt des Osmanischen Reiches haben hier indisches Wissen verfeinert
(circa 1299–1923) gegen ihren Niedergang und an uns weitergegeben.“ Zu verdanauf. Die „Franken“, wie die christlichen ken hat die Christenheit den Muslimen
Völker Westeuropas hießen und auch heute auch die Weitergabe chinesischer Erfinnoch in Schmähschriften der radikal-isla- dungen wie Papier, Schießpulver und
mistischen Taliban genannt werden, waren Gegengewichtskatapult. Die muslimische
unkultivierte Barbaren.
Welt hatte aber auch
„Auf ihren Straßen und
Es kam den Muslimen
ihre
genuin-eigenen
nicht in den Sinn, dass sie
Schöpferkräfte. HistoriWegen drängen sich die
Nicht-Muslime in allen
ker Schuetz forschte insMenschen so dicht, dass man besondere über die EinBereichen des Kulturschaffens, der Wissenkaum vorwärts kommt. Aber flüsse in der Baukunst und
schaft und der Technik
Architektur: „Ohne muslies ist ein Land des
überflügeln könnten. Die
mische Spitzbögen und
Unglaubens und der
„Franken“ waren jahrRippengewölbe wäre die
hundertelang Schüler geGotik nicht möglich geweGottlosigkeit, wimmelnd
wesen und die islamische
sen. Den Kölner Dom gäbe
von Schweinen und Kreuzen, es gar nicht.“
Welt der Lehrmeister.
Für den PrincetonAlle Bereiche der Wisvoll von Schmutz und Kot,
Emeritus Bernard Lewis
senschaft, die Astronomie,
ganz und gar erfüllt von
war vor allem ein PhänoPhilosophie,
Geografie,
Unreinheit und
men symptomatisch für
Zeitmessung (Uhren), die
den durch Ignoranz beOptik oder die Medizin geExkrementen. . .“
günstigten Untergang des
diehen unter muslimischer
Morgenlandes: Lange Zeit
Herrschaft. Nicht Johanunterhielten die islamines Kepler (1571–1630) ist
Jbn Jubayr (1145–1217),
schen Länder keine Botder Urvater der Optik oder
muslimischer Geograf und Poet,
schaften oder Konsulate
Erfinder der Camera Obsüber die von den Kreuzzüglern
in Europa. Erst im 18.
kura und der Lupe, sonverwaltete Stadt Akkon in Galiläa.
Jahrhundert schickten sie
dern der Araber Ibn alSondergesandte, um die Fortschritte des Haitham (Alhazen, circa 965–1040). Der
Westens zu begutachten. Zu spät.
„Kanon der Medizin“ des arabisch schreiDie „Franken“ haben sich emanzipiert, benden Persers Ibn Sina (Avicenna, 980–
das Osmanische Reich zerschlagen und 1037) war jahrhundertelang Standardwerk
zeitweise kolonialisiert, sind heute hoch der medizinischen Lehre in ganz Europa.
entwickelt und nunmehr ihrerseits des
„Man mag es kaum glauben, aber MusliHochmuts verdächtig: Wir, das christliche me legten die Grundlagen der modernen
Europa, in dem Innenminister Hans-Peter Wissenschaften in Form des Experiments“,
Friedrich (CSU) verkündet, der Islam gehö- sagt Schuetz. „Sie erweiterten die Feststelre historisch gesehen nicht zu Deutschland. lung von Naturgesetzen durch Beobachtung, wie es die alten Griechen getan hatten, durch gezielte Forschung mit Hilfe des
Versuchaufbaus.“ Wie kam es dazu?
Von unserem Redaktionsmitglied
Nils Graefe
Hochmut
Fotos unten:
Habermann
Barmherzigkeit, Feindesliebe und Ritterlichkeit
t Die Kreuzritter um Richard Löwenherz
handeln am 2. September 1192 einen Frieden mit Sultan Saladin aus (Bild: Mary Evans
Picture Library). Die Eroberungen an der
Küste Palästinas, zum Beispiel Jaffa, bleiben
in ihrer Hand, Jerusalem jedoch unter muslimischer Herrschaft. Saladin gewährt christlichen Pilgern aber stetig freien Zutritt zu ihren heiligen Stätten.
t Saladins Edelmut ist umso größer zu bewerten, da Richard Löwenherz zuvor im August 1191 in Akkon zwischen 2500 und 3000
muslimische Gefangene, Männer, Frauen
Aufklärung
„Minister Friedrich hat offenbar keine Ahnung“, sagt der Stuttgarter Historiker Dr.
Thomas Schuetz, der Verwandtschaft in
Waiblingen hat. „Europa und Deutschland
in ihrer heutigen Form würden ohne den
Kulturaustausch mit der islamischen Welt
des Mittelalters nicht existieren.“
Zunächst war die heute als getrennt von
uns wahrgenommene „islamische Welt“
über Jahrhunderte hinweg geografisch und
physisch Teil Europas, so Schuetz. Die islamische Herrschaft erstreckte sich von Arabien und dem Nahen Osten über Zentralasien bis nach Indien; gen Westen über
Nordafrika bis auf die Iberische Halbinsel
und Sizilien sowie über die Türkei bis auf
den Balkan. Sie wirkte kulturell auch in die
Frankenreiche der Nachfolge Karls des
Großen (747–814) hinein. Also dorthin, wo
sich heute auch Frankreich und Deutschland befinden. Weiter südlich standen die
größten Teile des heutigen Spaniens und
Portugals vom 8. bis ins 13. Jahrhundert direkt unter dem muslimischen Halbmond,
blühten auf und gediehen. Genauso erging
es Sizilien, nämlich vom 9. bis ins 11. Jahrhundert, erklärt Schuetz.
Genau im später von den Normannen
rückeroberten Sizilien florierte der interkulturelle Wissenstransfer. Erst unter den
Hauteville-Herrschern, dann im 13. Jahrhundert unter dem Staufer-Kaiser Friedrich II. – sie hofierten die muslimische Welt
als großen Lehrmeister.
Dem Laien mögen die kulturellen Einflüsse der muslimischen Welt auf Europa
jedoch heute am ehesten in Spanien auffallen. Man denke nur an die Alhambra in
Granada oder die arabisch beeinflusste hispanolische Musik- und Tanzkultur. Die
feine Lebensart, etwa die Sitte der höfischen Dichtkunst unter muslimischen
Herrschern, beeindruckte auch die Christenheit. Reisende Troubadoure und Spielleute taten ihren Teil an der Verbreitung
der feinen Lebensart nach Norden. Arabische Einflüsse auf die Entstehung der provenzalischen Dichtkunst, an die der spätere
mittelhochdeutsche Minnesang anknüpft,
lassen sich schlüssig in Erwägung ziehen.
Die muslimische, wohlgemerkt
Um sich von ihrer Vorgänger-Dynastie der
Ummayaden abzugrenzen, wagten die Abbasiden Anfang des 9. Jahrhunderts unter
dem Kalifen al-Ma’mun etwas fast Gotteslästerliches. Da nur die Ummayaden im Koran erwähnt werden, mangelte es den Abbasiden an Legitimation. So gestatteten sie
dem Koran gegenüber kritischeres Denken.
Zeitweise waren sogar Zweifel an dem
Offenbarungscharakter des Koran erlaubt.
War der Koran doch nur Menschenwerk? Es
entstanden das Interesse an einer von Gott
losgelösten Vernunft eines Aristoteles und
die aufklärerische muslimische Lehrschule
der Mutaziliten. Das geistige Klima ermöglichte auch ein Aufblühen der Naturwissenschaften. Die Erkenntnis, die aus einem Experiment gewonnen wurde, galt fortan als
legitimes Beweismittel, so Schuetz.
Genau diese kritische und hinterfragende
Denkkultur und auch ein Aristoteles fanden via (Rück-)Übersetzungen ihren Weg
ins Lateinische, also erst über die muslimische Welt ins Geistesleben des christlichen
Abendlandes. Mit maßgeblich dabei waren
Schriften des in Córdoba wirkenden Ibn
Ruschd (Averroës, 1126–1198). Er war kein
Mutazilit, zeichnete sich jedoch durch so
viel Fortschrittlichkeit im Denken aus, dass
er verbannt wurde, aber Exil in Marrakesch
fand. In der christlichen Scholastik hieß der
(wieder-)entdeckte
Aristoteles
dann
schlicht der Philosoph und der logisch-vernünftige Muslim Averroës der Kommentator. „Die Scholastik war innerhalb der Katholischen Kirche nie unumstritten, aber
dennoch maßgeblich für die im 14., 15.
Jahrhundert einsetzende Renaissance und
Rückbesinnung auf die antiken griechischen Wurzeln des Abendlandes. Daran
knüpfte schließlich auch die europäische
Aufklärung des 18. Jahrhunderts an.“
Währenddessen hatte in der islamischen
Welt spätestens ab dem 13. Jahrhundert ein
erstarkender Fundamentalismus kritisches
Denken wie das der Mutaziliten längst als
ketzerisch verbannt, erklärt Schuetz.
nem Muslim. Nicht von ungefähr kursierten
und wirkten auch noch Jahrhunderte später
im christlichen Europa Erzählungen über die
Ritterlichkeit des muslimischen Sultans kurdischer Abstammung.
t Dante Alighieri (1265–1321) verortete in
seiner „Göttlichen Komödie“ Saladin bei
den rechtschaffenen Heiden-Seelen im Limbus, also in der Zwischenwelt. Und zur Zeit
der europäischen Aufklärung wurde Saladin
von Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781)
zu einem Vorkämpfer der Toleranz stilisiert.
Man lese „Nathan der Weise“.
Der Held des Schorndorfer Imam
Lehrjahrhunderte
Das Abendland hatte viel zu lernen
und Kinder, hatte massakrieren lassen. Saladins großmütiges Kontrastprogramm:
Schon bei der Belagerung von Akkon
schickt der Sultan dem erkrankten Richard
Löwenherz einen seiner besten Leibärzte
ins Feldlager. Und als Richard bei Kämpfen
um Jaffa sein Schlachtross verliert, lässt Saladin ihm zwei edle Araberpferde als Ersatz
zukommen; ein König wie Richard müsse
schließlich standesgemäß weiterkämpfen
können. Christen hatten seinerzeit also
auch in Sachen Barmherzigkeit, Feindesliebe und Ritterlichkeit viel zu lernen von ei-
Ein Loblied auf Badi al-Zaman Abul-Izz Ibn Ismail Ibn al-Razzaz al-Dschazari
Schorndorf (ngr).
Nuri Ari und Hakki Gür wissen, dass die
muslimische Welt jahrhundertelang in der
Blüte stand und befruchtend auf das lange
Zeit rückständige christliche Abendland
wirkte. Der in der muslimischen Ditib-Gemeinde in Schorndorf Engagierte und
„sein“ Imam fühlen sich deshalb mit Stolz
beseelt. Imam Hakki Gür lässt sich jedoch
nicht zu einer politischen Stellungnahme
gegen Innenminister Friedrich hinreißen.
Er formuliert nur etwas Versöhnendes wie:
„Wir sind alle Söhne Adams“ oder „Judentum, Christentum und Islam kommen alle
aus dem Nahen Osten.“ Der in Schorndorf
geborene Nuri Ari verweist direkt auf die
Realität der Gegenwart: „Spätestens seitdem türkische Gastarbeiter nach Deutschland geholt wurden, ist der Islam auch Teil
Deutschlands.“
Hakki Gür hat eine Liste ungezählter
muslimischer Wissenschaftler vorbereitet,
mit der Beschreibung ihrer Erfindungen.
Die Ditib (Türkisch-Islamische Union der
Anstalt für Religion e.V.) habe dazu eine 40bändige Enzyklopädie veröffentlicht. Be-
sonders angetan hat es ihm aber der Gelehrte al-Dschazari – der im 12. Jahrhundert
wirkte und, wie soll es anders sein, in der
heutigen Türkei geboren wurde. Für Hakki
Gür ist al-Dschazari „der Urvater der Robotik und der Automation, ja der Vordenker
des heutigen Computers“.
Die akademische Welt diskutiert zwar
auch andere „Urväter“ und „Vordenker“
des Computers wie den Engländer Charles
Babbage (1791–1871), ist sich aber einig,
dass der Kybernetiker al-Dschazari zweifelsohne zumindest ein bedeutendes Genie
gewesen ist. Al-Dschazaris Werk „Automata“ (Buch des Wissens von sinnreichen mechanischen Vorrichtungen) und seine darin
beschriebenen Erfindungen wurden in der
deutschen Orientalistik besonders von dem
Professor Eilhard Wiedeman (1852–1928)
erforscht und gewürdigt, ja an der Uni Erlangen sogar zum Teil nachgebaut. Andere
Nachbauten, die wohlgemerkt auch funktionieren, sind im Londoner Science Museum zu bewundern, schwärmt Hakki Gür.
Al-Dschazaris „Automata“ illustriert
und beschreibt rund 300 aufwendige Appa-
raturen, zum Beispiel Uhren, Vermessungsund Messgeräte, Musikautomaten, Tür- und
Schlossmechanismen und Schöpfwerke mit
komplexen Zahnradsystemen. Akademiker
streiten darüber, in welchem Ausmaß Leonardo da Vinci (1452–1519) auf Vorarbeiten
muslimischer Gelehrter wie al-Dschazari
zurückgegriffen hat – möglicherweise ohne
dies zu wissen, weil er lateinische Schriften
konsultierte, die viel früher, allerdings ohne
Herkunftsangabe, aus dem Arabischen
übersetzt worden waren.
Hakki Gür jedenfalls zitiert genüsslich
den Princeton-Professor Lynn White Jr.
(1907–1987), der in der renommierten Zeitschrift Nature schrieb, al-Dschazari sei im
12. Jahrhundert weltweit das Maß aller
Dinge der Ingenieurskunst gewesen.
Nuri Aris Fazit: „Bevor man Vorurteile
fällt, sei es über den Islam, sei es über Personen, sollte man die Geschichte des anderen studieren. Dadurch kann nicht nur ein
größeres Verständnis entstehen, wie sehr
die gesamte Menschheit zusammenhängt
und aufeinander angewiesen ist, sondern
auch eine Wertschätzung des Gegenübers.“
Stuttgarter Historiker:
Dr. Thomas Schuetz
Engagiert in der Muslimen-Gemeinde:
Nuri Ari
Imam der Schorndorfer Ditib-Moschee:
Hakki Gür