Erinnerungen von Willi Lehner

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Erinnerungen von Willi Lehner
Gerd Schultze-Rhonhof Oktober 2004
Festrede zur 50-Jahrfeier der Ordensgemeinschaft der
Ritterkreuzträger
am 16. Oktober 2004 in Hameln
Meine sehr verehrten Damen,
verehrter Herr Dr. Gutmacher,
meine Herren Ritterkreuzträger,
meine Herren - liebe Kameraden!
Glückwunsch und Totengedenken
Wer zu einem 50. Geburtstag eingeladen wird und dann auch noch die Festrede
halten darf, beginnt selbstverständlich mit einem herzlichen Glückwunsch. Ich sage
diese Glückwunsch ohne jeden politischen oder historischen Vorbehalt, ohne jedes
Bedenken - mit dem stolzen Gefühl, daß Sie ausgerechnet mich ausgewählt haben,
Ihnen heute die Festrede zum Geburtstag zu halten. Ich fühle mich als
Nachkriegssoldat sehr geehrt, daß ich vor den letzten noch Lebenden einer Elite der
Wehrmacht und der Waffen-SS sprechen darf.
Sie, die Träger des Ritterkreuzes, waren nach Leistung, Erfolg und Haltung im Gefecht
die Elite der Wehrmacht und der Waffen-SS. Das Gefühl, dies gewesen zu sein, darf
Ihnen kein Neid, keine Schmähung und kein politisch-historischer Vorbehalt nehmen.
Ein Renaissance-Palast in Florenz bleibt ja auch eine architektonische und
künstlerische Glanzleistung, auch wenn ihn ein schlimmer Gewaltherrscher hat
erbauen lassen. Er bleibt eine Glanzleistung. Und so bleiben Ihre Taten während des
Zweiten Weltkriegs militärische Glanzleistungen, auch wenn wir den Krieg heute
bedauern und das damalige Regime heute ablehnen. Sie haben als Frontsoldaten
Glanzleistungen vollbracht. Das kann Ihnen kein Neider, keine Schmähung und keine
politisch-historische Interpretation nehmen. Lassen Sie sich Ihren Stolz und Ihre Ehre
nicht ausreden.
Wenn Ihnen - den Ritterkreuzträgern - und mit Ihnen den ehemaligen Frontsoldaten
heute vom eigenen Volk die Achtung verweigert wird, soll Sie das nicht betrüben. Die
Nachgeborenen in Westdeutschland kennen weder Diktatur, noch alle Gründe, die
zum Kriege führten, noch den Krieg selbst. Sie kennen nicht einmal Gefahr und Not.
Hören Sie statt auf unsere Nachkriegskinder auf das, was Ihnen Ihre Gegner aus dem
Kriege attestieren.
Feldmarschall Lord Alanbrooke, der Chef des britischen Empire-Generalstabs, schrieb
am 23. Mai 1940 in sein Tagebuch: „Die Deutschen sind ohne Frage die
wunderbarsten Soldaten.“
Der englische Unterstaatssekretär Sir Alexander Cardogan notierte am 18. Juni 1941:
„Die Deutschen sind prächtige Kämpfer, und ihr Generalstab besteht aus wahren
Meistern der Kriegskunst.“
Der sowjetische Marschall Shukow - Eroberer von Berlin - schrieb in seinen Memoiren:
„Die Kampftüchtigkeit der deutschen Soldaten und Offiziere ... erreichte in allen
Waffengattungen ... ein hohes Niveau. Der deutsche Soldat kannte seine Pflicht. ... Er
war ausdauernd, selbstsicher und diszipliniert.“
General Eisenhower in einer Ehrenerklärung: „Der deutsche Soldat hat für seine
Heimat tapfer und anständig gekämpft.“
Der englische General Michael Reynolds über die ihm in der Invasionsfront
gegenüberstehenden SSDivisionen: „Sie waren bemerkenswerte Soldaten;
dergleichen werden wir niemals wiedersehen.“
Ich als deutscher Berufssoldat zitiere diese Urteile Ihrer einstigen Kriegsgegner mit
einem gewissen Stolz, - so wie der Sohn stolz ist, wenn er etwas gutes über seinen
Vater hört -.
Ich empfinde diesen „Sohnes-Stolz“ für Ihre soldatischen Leistungen, auch wenn ich wie Sie - den Krieg und seine Opfer bedaure und die Brutalitäten und
Kriegsverbrechen, die von deutschen Soldaten - von polnischen Soldaten, von
französischen, englischen, kanadischen, sowjetischen und amerikanischen Soldaten
begangen worden sind, verurteile.
Nach dem Kriege und nach der Gefangenschaft kam ihre große Lebensleistung, der
Wiederaufbau Deutschlands - und in Westdeutschland dazu das Wirtschaftswunder.
Viele Ritterkreuzträger und Generalstabsoffiziere saßen nach dem Kriege an den
Schalthebeln von Wirtschaft, Verwaltung und Politik und hatten dort am Wiederaufbau
ihren maßgeblichen Anteil.
Als Ihre dritte Leistung sei der Wiederaufbau der Bundeswehr genannt. 800
Ritterkreuzträger gehörten zu der Hefe, aus der der Brotlaib Bundeswehr gebacken
worden ist. Für diese Aufbauleistung sage ich den Ritterkreuzträgern, die den Aufbau
unserer Bundeswehr geleistet haben, als Berufssoldat der Bundeswehr und als
Leutnant von damals meinen Dank.
In meinen ersten Soldatenjahren waren meine ersten drei Bataillonskommandeure
Ritterkreuzträger, dergleichen drei Hauptfeldwebel im Bataillon und mein zweiter und
mein dritter Brigadekommandeur.
Letztgenannter, der General Guderian, ist leider vor 12 Tagen zu Grabe getragen
worden. Ich möchte die Erwähnung des Generals Guderian, der mir als junger
Truppenoffizier in Können, Haltung und Persönlichkeit ein Vorbild war - zum Anlaß
nehmen, in dieser Festrede auch der gefallenen und verstorbenen Ritterkreuzträger zu
gedenken. Um die, die wir kennen, zu trauern, ist uns ein Bedürfnis. Derer, die wir
nicht persönlich kennen, zu gedenken, ist uns eine menschliche und soldatische
Pflicht.
Tradition
Ich bin als Offizier, vor allem als General der Bundeswehr, immer wieder von
Kriegsteilnehmern gefragt worden, warum die Bundeswehr nicht die Traditionen ihrer
ehemaligen Verbände weiterpflegen wollte. Da gab es zwei Ebenen. Auf der unteren
Ebene haben viele Bundeswehr-Bataillone - zumindest im Heer - die Traditionen von
Wehrmachtsregimentern und -Divisionen gepflegt. Auf der oberen Ebene gab es und
gibt es die politische und ministerielle Entscheidung, daß die Wehrmacht keine
Tradition für die Bundeswehr begründen soll.
Schon zur Anfangszeit der Bundeswehr und später erließ das Verteitigungsministerium
immer wieder neue Traditionserlasse und versuchte, das Verhältnis der Bundeswehr
zu ihrer Vorgängerarmee auf dem Verordnungsweg zu regeln. Es ist das Recht einer
jeden Regierung, Einfluß auf den Geist zu nehmen, der in den Streitkräften des
eigenen Volkes herrscht. Es ist zudem ihre Pflicht, Fehlentwicklungen in den
Streitkräften zu unterbinden und, wenn es gar Verbrechen oder mittelbare
Beteiligungen an solchen gegeben hat, wie im Fall der Wehrmacht, diese zu
verurteilen und sich von ihnen zu distanzieren. So verstanden hat der Satz im jetzt
geltenden Traditionserlaß: „Ein Unrechtsregime, wie das Dritte Reich, kann Tradition
nicht begründen“ seinen Sinn.
Doch die Wehrmacht war nicht das Dritte Reich. Verbrechen, an denen einzelne
Soldaten oder Formationen oder Dienststellen der Wehrmacht aktiv und mittelbar
beteiligt waren, machen aus der „weißen Weste“ der Wehrmacht keine „schwarze
Weste“. Sie machen schwarze Flecken. Die Wehrmacht hat abseits dieser schwarzen
Flecken durchaus Impulse für das Wehrwesen unseres Landes gegeben, die die
Bundeswehr übernommen hat. Auch das sind Teile unserer militärischen Tradition. Ich
denke da zum Beispiel - was meine Truppengattung betrifft - an die Ausformung der
Panzertruppe, wie wir sie heute kennen. Sie steckt voller Traditionen, die überwiegend
aus der Wehrmacht stammen.
Tradieren heißt weitergeben. Man kann nur weitergeben, was man entweder selbst
entwickelt hat oder was man von seinen Vätern geerbt hat. Zumindest bei letzterem ist
unbestritten, daß uns die Wehrmacht vieles von der Reichswehr und von den
Vorgängerarmeen durchgereicht hat, was diese an Erhaltenswürdigem und
Entwicklungswertem zu ihrer Zeit geschaffen haben. Die Wurzeln der Bundeswehr von
heute reichen durch die Wehrmacht hindurch weit in die vergangenen 350 Jahre
deutsche Militärgeschichte hinein. In dieser langen Geschichte waren die kaum 10
Jahre Deutsche Wehrmacht nur ein sehr kurzes Kapitel. Doch weil diese Jahre denen
der Bundeswehr am nächsten liegen, und weil die Bundeswehr von Soldaten aus der
ehemaligen Wehrmacht aufgebaut worden ist, kommt der Frage, was die Bundeswehr
aus der Wehrmacht geerbt hat, schon eine größere Rolle zu, als sie dem nur kurzen
Zeitraum von knapp zehn Jahren eigentlich entspricht.
Auch die Wehrmacht war keine Neuschöpfung aus dem Nichts. Sie entstand 1935
durch Umbenennung aus der Reichswehr. Und diese war nach dem Ersten Weltkrieg
aus den Resten ihrer deutschen Vorgängerarmeen entstanden; aus der bayerischen,
der sächsischen, der preußischen usw.. Bei genauerer Betrachtung kommt bei diesen
Armeeumgestaltungen ein überraschend großes soldatisches Erbe aus den
vergangenen 350 Jahren ans Tageslicht, welches das Gesicht der Bundeswehr noch
heute prägt: preußische Tugenden in den Verhaltensweisen der Soldaten, wie
Pflichtbewußtsein und Opferbereitschaft, die Anerkennung des Primats der Politik
durch das Militär, taktische und operative Führungsprinzipien für das Gefecht, die
typisch deutsche Führungsphilosophie der Auftragstaktik, viele Grundzüge des
Wehrrechts, und zahlreiche militärische Errungenschaften deutscher Herkunft, wie die
Institution des Generalstabsdienstes, des Reserveoffizierkorps und anderes mehr.
Wer sollte das alles an die Bundeswehr weitergereicht haben, wenn nicht die
Wehrmacht. Diese Erbschaft ist Tradiertes. Sie ist die Tradition, die die Wehrmacht an
uns, die Bundeswehr, weitergegeben hat. Die Bundeswehr hütet dieses Erbe als einen
ihrer Schätze. Auf dieses von Ihnen weitergereichte Erbe können Sie stolz sein. Daß
dahingegen keine Traditionslinien von verdienten Divisionen und
Luftwaffengeschwadern der Wehrmacht zu entsprechenden Formationen der
Bundeswehr gezogen worden sind, sollten Sie verschmerzen.
Also, in der Bundeswehr leben ganz handfeste Traditionen aus den vergangenen 350
Jahren deutscher Militärgeschichte weiter. Wer wollte denn auch die typisch deutsche
Auftragstaktik abschaffen - die bei uns Tradition ist -, nur weil sie von der Wehrmacht
an die Bundeswehr tradiert worden ist?
Der derzeit gültige Traditionserlaß hebt allerdings nicht auf dieses militärische Erbe ab.
Seine Autoren wollten anderes in den Vordergrund des Soldatenbewußtseins stellen.
Er hebt selektiv auf Scharnhorst und die preußischen Reformer, auf Graf Stauffenberg
und den Widerstand und auf die eigene Bundeswehrgeschichte ab. Doch alles drei ist
wie der Gang auf dünnem Eis. Es wird nicht lange tragen. Scharnhorst und die
Reformer haben einen geschlagenen Staat und eine geschlagene Armee wieder
aufgerichtet. Heute wird eine ungeschlagene Armee in immer neuen „Reformen“
scheibchenweise abgebaut. Graf Stauffenberg hat in einer Extremsituation unseres
Staates vorbildhaft gehandelt. Doch in eine solche Situation werden uns unsere
demokratischen Regierungen nicht noch einmal hinein manövrieren. So hängen die
Vorbilder von Scharnhorst und Stauffenberg ein wenig „in der Luft“.
Und mit der Eigentradition des Bundeswehr wird es knapp. Ihre größte Leistung war
der Aufbau. Der ist nun suspekt, weil er allein von Wehrmachtsoffizieren und unteroffizieren geleistet worden ist. Die zweitgrößte Leistung war die
Friedenssicherung für Deutschland über 4 Jahrzehnte. Diese „Tradition“ wird nun nicht
fortgesetzt. Die Landesverteidigung ist offiziell für tot erklärt. Die drittgrößte Leistung
waren die vielen Katastrophenhilfseinsätze über 40 Jahre. Sie sind nicht dokumentiert
worden, weder statistisch, noch literarisch, auch nicht filmisch. Diese Einsätze leben
also nur noch im Gedächtnis der damals beteiligten Soldaten weiter.
Die Leistungen der Bundeswehr zwischen Balkan und Afghanistan sind noch zu jung,
um Tradition zu sein. Tradition muß „Leben atmen“ und belebend wirken. Der erste
Satz im jüngsten Traditionserlaß „Tradition ist Überlieferung von Werten und Normen“
ist gut, doch er ist blutleerer „Geist“; ihm fehlen Leib und Seele. Soldaten brauchen
heute und zu allen Zeiten Leistungsbereitschaft und Disziplin, die Fähigkeit, Opfer zu
bringen und Härten zu ertragen usw. usw. Dies alles leistet und erbringt sich um so
leichter, je stärker die eigenen inneren Antriebskräfte der Soldaten wirken. Sie zu
wecken und zu stärken, ist der Sinn von Traditionen. Was sollte sonst der erste Satz
im Traditionserlaß bedeuten, der Hinweis auf die Normen?
Eine Militärtradition, die Kraft und Leben spenden soll, baut auf die normative Kraft des
Vorbilds. Und die fehlt den Traditionen der Bundeswehr. Die Zeitschriften der
Bundeswehr z.B. beschäftigen sich viel häufiger mit wirklichen und erfundenen
Fehlleistungen in der deutschen Militärgeschichte, als daß sie von Personen,
Verbänden und Ereignissen berichten, in denen vorbildhaft der Kampf um Werte und
die Verwirklichung der Normen - also der Soldatentugenden - deutlich werden. Die
Bundeswehr hat offensichtlich Angst vor „deutschen Helden“.
Traditionen müssen Vorbilder lebendig werden lassen. Der Beispiele gibt es genug:
von Schwadronchef Seydlitz bis zum Panzerunteroffizier mit Ritterkreuz, vom Gefecht
bei Fehrbellin 1675 bis zu den Kämpfen in den Ardennen 1944 und von der
Evakuierung des Klosters Monte Cassino im letzten Krieg bis zur Deichsicherung an
der Oder vor zwei Jahren. Dabei wird man es nicht umgehen können, auch die
Ritterkreuzträger der Wehrmacht mit einzubeziehen. Wie wäre es mit Nowotny und
Mölders, zwei jungen, untadeligen Helden.
Wenn jemand über Tradition spricht, wirkt das meist so, als spräche er von gestern.
Doch in Traditionen leben, ist etwas, das man heute tut. Traditionen sind
Verpflichtungen und Orientierung. Traditionen, die klug gewählt sind, sind nicht Asche,
sondern Glut. Sie führen nicht zur Lähmung, sondern sie setzen Energien frei.
Der Mangel an Traditionen dagegen ist so etwas wie der Mangel an verarbeiteten
Erfahrungen. Klug gewählte Traditionen eines Volkes oder seiner Streitkräfte sind der
Erfahrungsschatz aus der Geschichte, mit dem man weitergibt, was sich bewährt hat.
Der Mangel an Traditionen ist ein besonderes Problem der Bundesrepublik. Wenn das
nicht so wäre, gäbe es doch diesen Erfahrungsschatz, der bei manchem unserer
heutigen Probleme Lösungsmöglichkeiten zeigen könnte. Der Staat ist heute
überschuldet. Das Volk ist überaltert. Der Geldumlauf in Deutschland trocknet aus. Die
Arbeitslosigkeit bleibt auf Rekordniveau. Die hohe Politik verspricht alljährlich, daß es
nun aufwärts geht, und sie wird damit auch alljährlich von den Fakten des nächsten
Jahres widerlegt.
Da gibt es einen Bundeskanzler, der sich redlich Mühe gibt, das Steuer umzulegen. Da
gibt es eine Opposition, die in jedem Erfolg des Kanzlers tendenziell vor allem eine
eigene Schwächung sieht und die deshalb, wann immer möglich, bremst, statt daß sie
hilft, die Probleme des deutschen Volks zu überwinden. Wenn in zwei Jahren der
Kanzler und die Opposition ihre Rollen tauschen sollten, ist vorherzusehen, daß sie
damit auch die Rollen von Steuermann und Bremser tauschen. Es wird - so fürchte ich
- nichts besser werden. Das wirkt auf mich so, als ob Regierung und Opposition ohne
weitgesteckte Orientierung wären. Die Kraft und Orientierung, die aus dem Dreigestirn
von Tradition, Religion und Nation erwachsen könnten, sind bei uns in Deutschland
offensichtlich momentan versiegt.
Es gibt, was die Tradition betrifft, offensichtlich keinen Rückgriff auf Bewährtes. Es
gibt, was die Religion betrifft, offensichtlich keine Verankerung in Anstand und Moral.
Und es gibt, was die Nation betrifft, offensichtlich keinen parteiübergreifenden am
Gemeinwohl orientierten Patriotismus mehr.
Die „8.-Mai-Frage“
Ich will an dieser Stelle eine gedankliche Brücke von der Tradition zur offensichtlichen
und allgemeinen heutigen Bewußtseinslage der Deutschen schlagen. Ich will zeigen,
wohin man kommen kann, wenn man die Geschichte, statt sie nach positiven Lehren
und positiven Traditionen abzusuchen, vor allem als Archiv für Negatives und für
Horrorstories ausschlachtet.
Wir erleben seit 50 Jahren, also seit zwei Generationen, eine Geschichtsbetrachtung,
die die Aufmerksamkeit des Publikums alleine auf das Dritte Reich lenkt. Drittes Reich,
Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg sind die beherrschenden
Geschichtsthemen in Schulen, Medien und Politik. Fernsehsendungen über die
Stauffer oder die Völkerwanderung z.B. gibt es auch. Doch sie haben alleine
Unterhaltungswert wie z.B. Filme über Pharaonen oder das Aztekengold. Sie liefern
keinen Beitrag zur Formung eines kollektiven Bewußtseins der Deutschen als
Staatsvolk und Kulturnation.
Was dagegen ständig wirkt, sind Bücher, Zeitschriftenserien und Filme zu den Gräuel
und Verbrechen, die Deutsche in der Nazi-Diktatur und im Zweiten Weltkrieg an
Regimegegnern, an Angehörigen der Minderheiten und an anderen Völkern in Europa
begangen haben. Neuerdings sind sogar die als Kriegsverbrechen dargestellten
Handlungen der Deutschen während des Hereroaufstandes von 1904 ein
Medienthema. Nur, das was über 1904 so dargestellt wird, hat so nicht stattgefunden.
Doch vieles, was über die Nationalsozialisten und die Untaten der Deutschen im
Zweiten Weltkrieg geschrieben und gesendet wird, hat leider auch so stattgefunden.
Aber auch vieles hat eben so nicht stattgefunden, oder es ist erst durch die
Kriegsverbrechen von Soldaten anderer Staaten oder von deren Regierungen
ausgelöst worden.
Und damit sind wir bei einer deutschen „Krankheit“, die uns heute lähmt und fesselt.
Wir leiden unter der Wahnvorstellung, daß die Deutschen vor einem halben
Jahrhundert alle nur denkbaren Verbrechen gegen die Menschlichkeit und gegen den
Frieden der Welt begangen haben. Wir leiden unter dem Wahn, daß wir diese
Verbrechen allein begangen haben, und andere Völker keine. Wir leiden unter dem
Wahn, daß wir den Zweiten Weltkrieg im Alleingang verursacht haben. Viele von Ihnen
werden wissen, daß ich gerade zum letzten Thema ein Buch geschrieben habe, „1939.
Der Krieg, der viele Väter hatte“, in dem ich beschreibe, wie England, Frankreich,
Polen, die USA, die Sowjetunion und weitere Staaten das Pulverfass gefüllt und ihre
Lunten ausgelegt haben, die Hitler dann am 1. September 1939 angezündet hat.
Zwei Historiker, Dr. Scheil und Dr. Post, haben zeitgleich mit mir die
Entstehungsgeschichte des Zweiten Weltkriegs bearbeitet. Beide haben auch fast zur
selben Zeit ihre Bücher auf den Markt gebracht. Und beide kommen - so wie ich - zu
dem Ergebnis, daß der Zweite Weltkrieg viele Väter hatte; nicht nur die deutsche
Reichsregierung. An den Quellen, die wir drei dazu erschlossen und zitiert haben,
kommt kein Historiker vorbei. Auch andere Historiker müssen diese Quellen kennen.
Doch sie schweigen sich darüber aus. So ist und bleibt in das kollektive Gedächtnis
des deutschen Volkes eingraviert, daß wir den Krieg allein verursacht haben.
Der ehemalige Präsident des Bundes der Deutschen Industrie, Hans Olaf Henkel, hat
in einem Interview für die HÖR ZU am 31. Mai 2003 in Bezug auf die deutsche
Reform-Misere von heute gesagt: „Es ist der deutsche Schuldkomplex, der uns lähmt“.
Und diesen Schuldkomplex pflegen Presse, Politiker und Pädagogen mit offensichtlich
innerer Überzeugung ständig weiter.
Den neuesten Beleg dafür sehe ich in dem Antrag (vom 28.4.04) von 30 Abgeordneten
des Deutschen Bundestages, der vorschlägt, der Bundestag solle den 8. Mai 2005
zum Tag der Befreiung erklären. Ich selbst sehe im 8. Mai zuerst den Tag der
deutschen Niederlage von 1945 und erst danach - und weniger bedeutend - den Tag
der Befreiung von einer ideologiegeprägten Diktatur. Er war Befreiung für die vom NSRegime Gefangenen und Gequälten. Der 8. Mai ist also ein Tag mit zwei Gesichtern.
Das eine ist die Niederlage, das andere die Befreiung der Opfer - und des ganzen
Volkes von einer Ideologie. So hat das auch der damalige Bundespräsident Richard
von Weizsäcker in seiner bekannt gewordenen Rede zum 8. Mai vor 20 Jahren
ausgedrückt.
Jetzt nur der Befreiung zu gedenken, blendet drei Viertel der Realität von 1920 bis
1945 aus. Die einseitige Betonung der Befreiung fördert eine Deutung von Geschichte,
in der die Rollen von Befreiern und Befreiten eindeutig auf Sieger und Besiegte
festgelegt sind. Das suggeriert, daß die Rollen von gut und böse genauso klar verteilt
sind; damit die Rollen von Schuldigen und Schuldlosen am Kriegsausbruch, genauso
wie die Rollen von Soldaten und Armeen, die Verbrechen im Krieg begangen haben
und solchen, die das nicht taten.
Die Reduzierung der Rollen im vergangenen Kriege auf die der Befreier und die der
Befreiten ist ein psychologischer, politischer Taschenspielertrick, wenn man nicht
davon ausgeht, daß hier nur Unwissenheit am Werke ist. Wer die Geschichte von
1920 bis 1939 kennt, weiß, was sich damals in Europa an Kriegen abgespielt hat und
an Rüstungswettläufen, an internationalen Vertragsbrüchen und Mißachtungen des
Völkerbunds außerhalb des Deutschen Reichs. Wer die Kriegsgeschichte von 1939 bis
1945 kennt, weiß wie hoch die Schuldkonten aller beteiligten Armeen belastet worden
sind. Er weiß, welche Brutalitäten und Kriegsvölkerrechtsverletzungen polnische
Zivilisten, sowjetische Partisanen und Soldaten, amerikanische, britische und
kanadische Soldaten, französische und serbische Partisanen - und deutsche Polizisten
und Soldaten ihren Gegnern an der Front und in den rückwärtigen Gebieten zugefügt
haben. Da paßt das Bild von Befreiern und Befreiten nicht. Die Kriegsursachen und
Gräuel im Kriege erlauben kein Schwarz-Weiß-Bild.
Das Geschichtsbild eines Volkes ist ein sehr wichtiger Teil seiner Selbstwahrnehmung.
Aus der eintausendeinhundertjährigen Geschichte deutscher Staatlichkeit wird heute
fast nur noch die Erinnerung an die zwölfeinhalb Jahre des Dritten Reiches
wachgehalten. Diese Zeit verdrängt fast alle anderen Geschichtserinnerungen aus
dem kollektiven Gedächtnis unseres Volkes. Es wirkt so, als gäbe es einen politischen
Alleinvertretungsanspruch der Nazi-Jahre in der deutschen Publizistik und der
Schulausbildung. Und diese Jahre werden dadurch zusätzlich belastet, daß man die
Schuld am Kriege und die Schuld im Kriege allein den Deutschen zuschreibt.
Die Mehrzahl aller Deutschen erlebt die eigene Vergangenheit auf diese Weise als
überwiegend verbrecherisch belastet. Dies hat das deutsche Selbstwertgefühl in einer
Radikalität zerstört, daß uns nur noch die Selbstverachtung geblieben ist. In einer
solchen „nationalen Seelenlage“ können weder Solidaritätsgefühle miteinander, noch
Opferbereitschaft füreinander, schon gar kein Patriotismus wachsen, auf dessen
verbliebene Reste der Herr Bundeskanzler, die Frau Vorsitzende der größten
Oppositionspartei und auch der Herr Wirtschaftsminister hoffen. Die Liebe zum
eigenen Land und Volk ist abgestorben. Den Vorstellungen vom deutschen Volk, vom
deutschen Staat und deutschen Land ist inzwischen jeder ideelle Wert entzogen.
Wen wundert es da, daß jährlich große Zahlen deutscher Leistungsträger auswandern,
daß sich Bankhäuser und Industrieunternehmen nicht mehr für ihr „Mutterland“
engagieren, und daß sich unsere Zuwanderer in ihrer Mehrheit nicht mit dieser
„verbrecherischen“ deutschen Identität belasten wollen und unter anderem auch
deshalb große Integrationsschwierigkeiten haben. Wer will sich schon mit einem
Gastvolk identifizieren, das sich selbst so wenig liebt und achtet. Wir stecken - wie
man daran sieht - mit unserer Geschichtswahrnehmung in einer psychologischen
Sackgasse. Politiker, Publizisten und Pädagogen sollten nicht verkennen, daß sie mit
ihrer einseitigen Betonung der „Befreiung“ eine Deutung von Geschichte fördern, in der
die Rollen von Befreiten und Befreiern und im Gefolge dessen von Schuldigen und
Schuldlosen am Zweiten Weltkrieg eindeutig festgelegt sind. Je länger dieses simple
aber nicht ganz richtige Bild vermittelt wird, desto kranker wird die deutsche „Seele“.
Wir sollten also den Unsinn von der Befreiung, der uns eingeredet werden wird, nicht
glauben, auch wenn er journalistisch oder politisch oder kirchlich gut verpackt an uns
herangetragen wird. Die „frohe Botschaft“ von der Befreiung ist - weil sie nur ein
Bruchteil von der Wahrheit ist - im Ganzen eine Lüge.
Das Verschweigen unserer deutschen Niederlage unterschlägt den Opfergang und die
Leiden Ihrer Generation. Er unterschlägt die Mitverantwortung der Sieger an der
Entstehung des Krieges und ihre Gräueltaten im Kriege. Es unterschlägt, was Sie als
Ritterkreuzträger für unser Volk im Krieg gelitten und geleistet haben.
Ich verneige mich vor Ihrer Lebensleistung.