Autor: Tilmann P - Support-Netz

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Autor: Tilmann P - Support-Netz
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Autoren: Göttlich, Udo / Nieland, Jörg-Uwe.
Titel: 'Zlatko war irgendwie der Coolste'. Anmerkungen zur Etablierung und Rezeption
eines Medienspektakels.
Quelle: medienpraktisch. Sonderheft Texte Nr. 3/2000. Frankfurt am Main 2000. S. 67-74.
Verlag: Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik.
Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.
Udo Göttlich/Jörg-Uwe Nieland
"Zlatko war irgendwie der Coolste"
Anmerkungen zur Etablierung und Rezeption eines Medienspektakels
Einstieg
Rückblicke auf das Fernsehjahr 2000 werden nicht ohne eine ausführliche Beschäftigung
mit dem Phänomen Big Brother auskommen. Bereits vor Beginn der zweiten Staffel kann
von einem "Spektakel" gesprochen werden, das in der bundesdeutschen
Mediengeschichte seinesgleichen sucht. Die Inszenierung und die Vermarktung des
Fernsehereignisses haben eine neue Qualität erreicht und über weite Strecken die
öffentliche und politische Debatte bestimmt und schließlich auch die wissenschaftliche
Beschäftigung angestoßen.1
1
Vgl. MIKOS u.a. 2000; des Weiteren FROTSCHFR 2000; PRENCEL 2000; SCHICHA 2000; WERTH
2000 sowie BALKE/SCHWERING/STÄHEL1 (2000). Einen Überblick über die Behandlung des
Phänomens in der Presse liefern die Materialsammlungen von NIELAND/LUKASZEWSKI/SCHICHA
2000a und 2000b.
1
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In der öffentlichen Auseinandersetzung der letzten Monate wurde wiederholt auf die
zahlreichen Grenzverschiebungen, die Big Brother auszeichnen, hingewiesen.2
Angesichts der dabei aufgeworfenen Fragen nach dem Schutz der Persönlichkeitsrechte
und der Intimsphäre kann von einer Moraldebatte gesprochen werden. Die Diskussion
erreichte auch eine größere Tragweite als die bisherigen Auseinandersetzungen mit
Infotainmentsendungen, dem Reality-TV und den Daily Talks. Big Brother steht mit seinen
Grenzverschiebungen auch symptomatisch für die Schwierigkeiten, neuere
populärkulturelle Phänomene zu erfassen und zu bewerten. Als Erklärungsmotiv reicht die
Ökonomisierung des Mediensystems und der damit entstandene und ständig wachsende
Druck auf die Anbieter, neue, unverwechselbare und vor allem Aufsehen erregende
Produkte auf den Markt zu bringen, nicht mehr aus. Nach der Harald Schmidt Show kam
nicht nur TV Total; KARL DALL und RUDI CARELL wurden nicht nur von GUILDO HORN
und VERONA FELDBUSCH und diese schließlich wieder von STEFAN RAAB und
ZLATKO abgelöst, sondern der Stellenwert der populärkulturellen Unterhaltung hat sich im
Prozess des Medien- und Gesellschaftswandels gewandelt.
Das Fernsehgeschäft verläuft nämlich nicht nur nach den Kriterien der
Programmstrategen und Vermarktern, sondern steht in einem Wechselverhältnis mit
gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen, wobei die Frage nach dem Publikum
nicht nur immer neu gestellt, sondern mit der Zuschneidung neuer Angebote auch immer
von Neuem zu beantworten gesucht wird. Wie die unterschiedlichen Publikumsgruppen
die unterschiedlichen Angebote betrachten und bewerten, bleibt insbesondere in
aufgeheizten Phasen wie dieser gerne im Dunkeln. Dabei sagt die festgestellte
Grenzüberschreitung noch nichts über die tatsächliche Wirkung aus. Im Rahmen der
vorliegenden Betrachtung werden wir Sichtweisen jugendlicher Zuschauer anhand erster
Ergebnisse zur Rezeption dieses Formats diskutieren. Deutlich gemacht werden soll die
Bedeutung von Big Brother in der Alltags- und Anschlusskommunikation von
Jugendlichen.3 Zunächst jedoch werden wir uns der Etablierung und der Einordnung des
Formats Big Brother zuwenden, um den Stellenwert und den Kontext dieses Formats für
die Rezeption zu beschreiben.
2
Vgl. u.a. ALM 2000, S. 10; DÖRR 2000.
3
Befunde zur Rezeption finden sich auch bei MIKOS u.a. (2000), wobei zu bedenken ist, dass sich diese
Studie mit den ersten Ausstrahlungswochen der Sendung beschäftigte und die Datenbasis begrenzt war.
2
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Erfolgsfaktoren?
In der Nutzung und Schaffung von zusätzlichen populärkulturellen Ereignissen und den
damit entstandenen kommunikativen Anschlussmöglichkeiten und
Identifikationspotenzialen liegt offenbar ein zentraler Erfolgsfaktor von Big Brother. Das
Zusammenspiel von Alltagsdramatisierung und Kult-Marketing - wie dies besonders
eindrucksvoll und gewinnbringend bei den eigenproduzierten Daily Soaps seit 1992 im
deutschen Fernsehen praktiziert wird (vgl. GÖTTLICH/NIELAND 1998a und 1998b sowie
GÖTTLICH in diesem Heft) - scheint unter anderem dadurch steigerungsfähig, indem die
Inszenierung von Privatem, Intimen und Alltäglichem als Zusammenführung von
Elementen verschiedener Genre geschieht. Big Brother verbindet nämlich Elemente von
Doku Soaps, Real Life Soaps, Talkshows, Beziehungs- und Spielshows miteinander - so
konnte ein weiteres intimes Format kreiert werden.
Das Wechselspiel zwischen Spektakulärem und Alltäglichem zeichnet Big Brother aus ,
wobei die Sendung geprägt ist durch Spielsituationen, welche sowohl auf die KandidatInnen als auch auf die Zuschauer einen besonderen Reiz ausüben. Letztere besitzen bei
diesem Format verschiedene Möglichkeiten, in das Geschehen selbst einzugreifen (vor
allem durch Telefonabstimmung), sowie bei den verschiedenen Tagesund
Wochenaufgaben mitzuraten und die Lösungsstrategien der Kandidaten zu bewerten. Zur
Erklärung der Zuschauermotive wurde vielfach der Ansatz des "göttlichen Blicks"
herangezogen, und in der Tat hat der Zuschauer aufgrund der Außenperspektive mehr
"Wissen" als die Kandidaten. Er besitzt in gewisser Weise auch die (All-)Macht, die
Bewohner des Hauses zu verweisen. Dies scheint aber nur ein Motiv der Nutzung von Big
Brother zu sein. Das Interesse der Zuschauer soll geweckt werden für die
Gruppendynamik im Big Brother-Haus sowie den vermeintlichen wie tatsächlichen
Konfliktlösungsstrategien, wie sie die Bewohner zeigen. Ihre Verhaltensweisen werden
als Testfall für das eigne Leben, oder besser: den eigenen Alltag, ausgegeben. Aber
werden sie auch so verstanden? Gerade über die tägliche Präsenz auf dem
Fernsehschirm sollte zusätzlich ein Big Brother-Gefühl aufgebaut werden, welches dann
wiederum durch die Vermarktung massiv unterstützt wurde.
3
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Für die aktuelle Ausprägung des Kult-Marketings (vgl. zu diesem Begriff BOLZ/
BOSSHARD 1995; außerdem GÖTTLICH/NIELAND 1998a) stehen in erster Linie die Pop
(musik)karrieren der Ex-Bewohner. So hat beispielsweise ZLATKO binnen weniger
Wochen seine zweite Single in den Charts und ist darüber hinaus gemeinsam mit
JÜRGEN mit dem Song Großer Bruder erfolgreich. Die Merchandisingprodukte zur
Sendung sind inzwischen nahezu überall präsent. Eine weitere entscheidende Rolle
nimmt das Fanmagazin ein.4 Schließlich muss die Berichterstattung in der
Boulevardmagazinen als zentraler Beschleuniger für den Kult um Big Brother genannt
werden.5 Nach ZLATKOs diversen Bekenntnissen zur fehlenden Allgemeinbildung sowie
seiner als skurril ausstellbaren Lebenseinstellung6 ist es nun die Beziehung zwischen
ALEX und JENNY ELVERS, die dem Publikum in allen erdenklichen Facetten vorgeführt
wird.7 Für die vermeintlichen und tatsächlichen Pärchenbildungen scheinen - zumal bei
den Big Brother-Kandidaten - keine Grenzen zu existieren.
Intime Formate auf dem Vormarsch
Ein wichtiger Ausgangspunkt für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem
Phänomen Big Brother ist die Beobachtung, dass in modernen Gesellschaften mediale
Erlebnisse gegenüber nichtmedialisierten Erfahrungen eine wachsende Rolle spielen.
Inzwischen sind Sendungen auf dem Vormarsch, die sich als intime Formate bezeichnen
lassen. Diese Formate zeichnet
1. die Thematisierung privater und intimer Belange,
2. die Personalisierung des Moderators bzw. der Moderatorin,
4
Ähnlich wie es bei den "Popmusikkarrieren" zu beobachten ist, orientiert sich auch die Herausgabe
eines Fanmagazins zur Sendung nicht zufällig an der erfolgreichen Vermarktungsstrategie der deutschen
Daily Soaps - insbesondere Gute Zeiten - schlechte Zeiten (vgl. GÖTTLICH/NIELAND 1998a).
5
Vgl. die Auswahl bei NIELAND/ LUKASEWSKI/SCHICHA 2000a und 2000b.
6
Endemol Entertainment/RTL2 haben mit Big Brother - Zlatko the Brain. Seine besten Sprüche seine
vergeblich wichtigsten/interessantesten Äußerungen in Buchform für die Nachwelt festgehalten.
7
An dieser Stelle ist dem Argument von MIKOS u.a. (2000, S.149) entgegenzutreten, wonach ZLATKO
erst zum Kultphänomen wurde, nachdem er von RTL2 nach dem Verlassen des Containers vermarktet
wurde. Der Hinweis auf die Rolle des Kult-Marketing sollte vielmehr verdeutlichen, dass es vielmehr
HARALD SCHMIDT in seiner Late Night Show sowie weiteren Kommentierungen von der Bild bis zu
VIVA waren, die seinen Ruhm bereits zu einem Zeitpunkt begründeten, als er noch im Haus weilte.
4
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3. der Live-Charakter und
4. der alltagsnahe bzw. persönliche Kommunikationsstil aus (FROMM 1999, S. 29ff.).
Auf folgende Weise werden diese vier Kriterien bei Big Brother eingelöst:
Ad 1) Die KandidatInnen sowie FreundInnen und Bekannte thematisierten nahezu
ausschließlich ihre privaten Belange. Die Bewohnerin JONA ging dabei sogar soweit, über
ihre Abtreibung zu berichten. Gleichzeitig wurde einigen Kandidaten von den
MitbewohnerInnen, den Produzenten und auch den Fans vorgeworfen, "zu wenig" von
sich zu erzählen.
Ad 2) Bei den Moderatoren PERCY HOVEN und SOFIE ROSENTRETER kann von einer
Personalisierung gesprochen werden, weil sie nicht nur für die Kandidaten die zentralen
Bezugspunkte darstellten und im Rahmen der Selbstthematisierung des Formats auch für
das Publikum zentrale Statements abgaben. Ferner traten sie vor, während und nach ihrer
Arbeit bei Big Brother in unterschiedlichen Funktionen auf: als ModeratorIn eines FutureMagazins (HOVEN) oder bei MTV (ROSENTRETER), sowie als Gäste in der Harald
Schmidt Show (Sat.1), bei Kamikaze (VIVA2) und nicht zuletzt in exclusiv - die reportage
(RTL2).
Ad 3) Einschränkungen sind bei Big Brother bezüglich des Live-Charakters insofern zu
machen, als dass es sich bei der täglichen Sendung jeweils um Zusammenschnitte des
Tagesverlaufs handelte. Andererseits ist zu berücksichtigen, dass es bei Big Brother Der
Talk Liveschaltungen in den Container gab und im Internet Bilder und Geräusche aus der
Wohnanlage live abzurufen waren.
Ad 4) Mit Blick auf die alltagsnahe Kommunikation bei Big Brother sei auf die zahlreichen
und an verschiedenen Orten präsenten Äußerungen der BewohnerInnen hingewiesen sie sind im Internet abrufbar, in Tageszeitungen abgedruckt, in verschiedenen
Fernsehsendungen zitiert oder als T-Shirt-Aufdrucke zu erwerben.
Nach der Bestimmung von Big Brother als intimes Format gilt es, seine Etablierung im
Wechselverhältnis von gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen mit den
Anforderungen des Medienwandels zu betrachten. So hat auch BETTINA FROMM in ihrer
5
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medienpsychologischen und soziologischen Einordnung von intimen Formaten auf
aktuelle Diagnosen des gesellschaftlichen Wandels zurückgegriffen.
Demnach hat die Modernisierung unserer Gesellschaft zu einer Pluralisierung der
Lebensstile geführt, und in der Folge wird Sinn nicht mehr einheitlich und
gesamtgesellschaftlich vermittelt, sondern den Einzelnen werden potenziell eine Vielzahl
alternativer Lebensbiografien angeboten (FROMM 1999, S. 61). Bei den Aushandlungsund Suchprozessen gewinnt der Selbstbezug immer mehr an Bedeutung - ULRICH BECK
spricht in diesem Zusammenhang von Selbstorganisation. Auch der britische Soziologe
ANTHONY GIDDENS bietet mit dem Hinweis auf existentielle Strategien ein
Erklärungsmodell an, um die Bedeutung von Lifestyle-Inszenierungen als
Orientierungsrahmen für junge Zuschauer zu fassen. Angesichts der
Enttraditionalisierungen entsteht nach GIDDENs den Zwang zur "Politisierung der
Lebensführung" (GIDDENS 1991, S. 214). Dabei basieren die Prozesse der
Identitätsbildung nicht mehr allein auf der Orientierung an Traditionen, sondern immer
mehr auf selbstreflexive Entscheidungen.8
Die Big Brother-Rezeption
Die Rezeption von Big Brother ist zu einem populärkulturellen Phänomen mit einer
Tragweite geworden, wie es bislang von kaum einem anderen Angebot erreicht wurde
(MIKOS u.a. 2000, S. 141). Im Durchschnitt erreichte die Sendung 3,02 Millionen
Fernsehzuschauer9, dies bedeutet, dass RTL2 einen Markanteil von konstant über 10%
erzielte. Mehrmals wurde die 20%-Marke überschritten und beim Einzug von VERONA
FELDBUSCH sogar knapp die 40%-Marke erreicht. Für die Positionierung des Senders
auf dem Fernsehmarkt von noch größerer Bedeutung ist allerdings der
Zuschauerzuspruch in der sogenannten Kernzielgruppe der 14- bis 29Jährigen10: In
8
Der Ansatz von GIDDENS wurde auch für die Deutung der Rolle der deutschen Daily Soaps
herangezogen, vgl. GÖTTLICH/NIEI,ANI) 1998a.
9
Bei diesem Wert sind die Sendungen Big Brother (Montags bis Samgtags, 20.15-21.05 Uhr) und Big
Brother - Der Talk (Sonntags) zusammengefasst.
10 Die hier referierten Daten stammen aus einer RTL2-Untersuchung und stützen sich auf die GfKFernsehnutzungsdaten. Dabei beziehen sich die Aussagen zur Altersstruktur, dem Bildungsstand und der
6
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diesem Zuschauersegment lag der Markanteil um die 30%, ein Wert, der bislang nur von
erfolgreichen Daily Soaps wie z.B. Gute Zeiten - schlechte Zeiten mit dieser
Regelmäßigkeit erzielt wurde. Gerade der Vergleich der Altersstruktur der Big BrotherZuschauer mit der Gesamtzuschauerschaft des Fernsehens zu diesem Zeitpunkt
verdeutlicht den Stellenwert dieses Formats. Wie Abb. 1 zeigt, ist die Mehrzahl der Big
Brother-Zuschauer unter 50 Jahre alt sind (86,2%), wohingegen lediglich 57,6% der TVGesamtzuschauerschaft über 50 Jahre alt sind.
Abb. 1: Vergleich der Zuschaueraltersstruktur für die Sendezeit Montag-Samstag
20.15-21.05 Uhr (in Prozent)
Alter der Zuschauer
Erwachsene über 50
Erwachsene zwischen 30 und 49
Erwachsene zwischen 14 und 29
Big Brother
13,8,
43,2
43,0
TV-Gesamt
57,6
30,7
11,7
Quelle: AGF/Gfk; Basis: BRD gesamt, April 2000
Außerdem erreicht Big Brother überproportional mehr Zuschauer mit höherer Schulbildung
im Vergleich mit der Gesamtzuschauerschaft während dieser Sendezeit: 62% der Big
Brother-Zuschauer besuchen weiterführende Schulen oder haben Abitur oder einen
Hochschulabschluss. Bei der TV-Gesamtzuschauerschaft liegt dieser Wert bei 42%.
Ebenso auffällig ist, dass die Big Brother-Zuschauer im Vergleich mit der
Gesamtzuschauerschaft über eine höhere berufliche Position und entsprechend höheren
Haushaltseinkommen verfügen. Nach einer RTL2-Studie war Big Brother besonders in der
Zuschauerschaft aus dem "postmodernen" und "adaptiven Milieu" erfolgreich.
Nach dieser, an den Sinus-Milieus11 orientierten Einteilung lassen sich folgende
Beschreibungen treffen: Die Mitglieder des "postmodernen Milieus" sind extrem
individualistisch und neigen der multi-optionalen Lifestyle-Avantgarde zu. Die Vertreter
des "adaptiven Milieus" sind gut ausgebildet und gehören dem mobilen und
pragmatischen Mainstream der jungen Mitte an. Zur Rezeption und Stellung dieses
Einkommenssituation auf den Erbebungszeitraum April 2000.
11 Neben den beiden hier genannten Milieus weisen die Sinus-Studien noch weitere zehn Milieus auf.
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Formats in der Alltagskommunikation ist damit jedoch noch nichts Näheres ausgesagt. So
ist insbesondere offen, welche Rezeption Big Brother bei Jugendlichen erfahren hat, die
noch in der Schule sind und über kein eigenes Einkommen verfügen. Stützt Big Brother
die Ausbildung von Einstellungen, die die Milieus aufweisen, bei denen das Format
besonders erfolgreich war? Nach welchem Muster verläuft die Rezeption?
Big Brother in der Wahrnehmung von Jugendlichen
Im Folgenden werden erste Auszüge - aber noch keine abschließenden Ergebnisse aus
Gruppendiskussionen präsentiert, die einen Einblick in die Anschlusskommunikation zu
Big Brother bei Jugendlichen erlauben.12 Wie die Verläufe der Diskussionen zeigen,
entwickeln Jugendliche aus dem Vergleich mit verwandten Formaten wie Daily Soaps und
Daily Talks, die ebenfalls Dramatisierungen von Alltagsformationen und Problemen
beinhalten, eine erste Einordnung des neuen Formats und gleichen diese im Rahmen
ihrer Alltagskommunikation ständig ab. Den Hintergrund dieses Prozesses bilden im
Wesentlichen Orientierungsfragen, in denen es um das Verhältnis von Fiktionalität und
Wahrhaftigkeit bzw. Inszenierung und Authentizität geht. Erst in zweiter Linie werden die
Aspekte der Privatisierung und Intimisierung relevant. Diese äußern sich vor allem im
Rahmen der Personalisierung, die die neuen Stars selbst in den Diskussionen erfahren.
Der erste Interviewauszug stammt aus einer Gruppendiskussion, die mit 13- und 14jährigen Mädchen und Jungen eines Gymnasiums einer Großstadt im Westen der
Bundesrepublik am 21. März 2000 geführt wurde. Insgesamt bestand die Gruppe aus 7
Personen. Auffällig ist, dass trotz der negativen Einschätzungen zu Beginn der
Gesprächssequenz keine grundsätzliche Ablehnung, sondern eine Auseinandersetzung
über den "Reiz" des neuen Formats folgt.
JUNGE I: Also 'ne Soap, die ist ja von Anfang so ausgelegt, wenn man die guckt, die
versucht, nicht krankhaft realistisch zu sein. Wenn man die guckt, ist das klar, das ist eine
12 Die Erhebung wurde im Rahmen des Forschungsprojektes Daily Soaps und Kult-Marketing anhand von
Gruppendiskussionen durchgeführt. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die Rezeption von Daily
Soaps. Die Erhebungsphase fiel in die Zeit der Ausstrahlung der 1. Staffel Big Brother.
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Geschichte. So, und wenn man sich jetzt eine Talkshow ansieht, ja, dann kommen die
Leute da rein, fangen an zu diskutieren, das soll jetzt echt sein, und wahrscheinlich
werden die aber sowieso dafür bezahlt irgend 'ne komische Meinung da zu haben. Und da
werden die Leute so unterschiedlich bezahlt, dass sie nach Möglichkeit möglichst heftig in
die Wolle geraten oder, dass die sich dann anfangen sollen zu kloppen und das natürlich
die Leute dann toll finden.
MÄDCHEN I: Ich finde ja aber irgendwie, das Deutsche Fernsehen steigert sich in solche
reellen Shows immer mehr rein. Erst waren es die Daily Soaps, dann kamen die
Talkshows und jetzt Big Brother. Ich weiß nicht, ob das noch krasser geht. Ich finde, "Big
Brother" schon ziemlich krass in solchen Sachen.
JUNGE I: "Big Brother" ist irgendwo Scheiße. Ich habe das einmal nur geguckt. Ich finde
das erst mal überhaupt, ich weiß nicht, totale Spannerei irgendwie, da irgendwelchen
anderen Leuten beim Leben zuzugucken, aber die sitzen dann den ganzen Tag auf dem
Sofa und unterhalten sich, was sie irgendwann in ihrem Leben gemacht haben, wie sie
mal eine Freundin gekriegt haben. Dann sieht man die schlafen, 'ne Viertelstunde lang
sieht man die schlafen! Mein Gott, das kann ich aber selber, eine Kamera in mein Zimmer
bauen, mich schlafen gucken (Lachen).
MÄDCHEN II: Manchmal ist das ganz witzig da, bei "Big Brother", z.B. dieser komische
Zlatko, der überhaupt nichts kann ...
JUNGE I: Der könnte in jede Talkshow kommen ...
MÄDCHEN II: Der überhaupt nichts kann, dem die alles Mögliche erklären müssen, und
der das dann doch nicht kapiert.
MÄDCHEN I: Aber Schachspielen kann er.
MÄDCHEN II: Aber Schachspielen ...
MÄDCHEN I: ... Vielleicht ist auch irgendwie der Reiz ...
MÄDCHEN II: ... ob er jetzt hetero ist, dann sagt er. "Ne", und dann fragen die ihn: "Bist
Du bi?" "Ne", und der weiß überhaupt nicht, was das heißt, und dann muss man dem das
erst mal erklären.
MÄDCHEN I: Für mich ist auch der Reiz dabei, wenn man diese Typen sieht, die da von
dieser Kamera beobachtet werden, dass sie auch genau wissen und in dieses Spiel
eingestiegen sind, dass man sich immer überlegt, wie wäre das denn, wenn ich denn mal
dabei wäre, und sich das dann dabei vorstellt. Und das ist vielleicht auch der Reiz daran.
Der zweite Auszug dokumentiert, welche spontanen Äußerungen bei Jugendlichen zu
beobachten sind, wenn sie um eine Einschätzung des Formats gebeten werden. Das
Gespräch wurde mit 14- und 15-jährigen Jungen einer Hauptschule in einer Großstadt im
9
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Westen der Bundesrepublik am 29. März 2000 geführt. Insgesamt bestand die Gruppe
aus 9 Jugendlichen. Im Mittelpunkt stand die Bewertung von ZLATKO.
Deutlich wird auch, wie in diesem Gespräch intensiv über die Inszenierung und die
Rezeptionsmotive im Vergleich zu den Formaten Daily Soaps du Daily Talks reflektiert
wurde.
FRAGE: Wie sieht das aus mit, äh, mit "Big Brother"?
STIMMENGEWIRR: "Big Brother", der is'geil.
Das is' voll gut.
Ja, genau. Dat is ...
JUNGE I: Ja, manche gehen auch bis da. Nee, ich kann die nich leiden, die benehmen
sich ...
STIMMENGEWIRR: Zlatko geht mir auffe Nerven, neh.
Nee, nee, der Zlatko is'okay, ey.
Nee, der is' cool.
Zlatko is' der Beste.
Jürgen und Zlatko sind die Besten.
JUNGE I: Nee, Zlatko is' cool, Mann! Zlatko und Jürgen sind cool. Aber der eine dann, der
John, Behinderten-Spacko .... der Jürgen hat den doch nachgemacht ...
STIMMENGEWIRR: Ich find' dat auch Scheiße, dat die die Jona direkt so nominiert
haben: Eine Woche da drin, da wird die direkt nominiert!
JUNGE I: Oder Alex: Also, die machen jeden Tach rum, ey. Voll übertrieben!
Shakespeare?
Verstehe!
10
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Im dritten Interviewauszug wird deutlich, wie sich die Anschlusskommunikation zum
Zeitpunkt, nachdem zwei Drittel der ersten Staffel ausgestrahlt worden sind, vollzog. Auch
dieses Gespräch verdeutlicht, wie die Einschätzung des Genres und seine Bewertung aus
einem Vergleich der unterschiedlichen Unterhaltungsformate gewonnen wurde. Während
es für die Soaps selbstverständlich ist, das es sich um eine Inszenierung nach Drehbuch
handelt, wurde der inszenatorische Charakter von Big Brother im Gespräch zwar
angemerkt, aber die Darstellungen dennoch als "nicht gespielt" bewertet. Es handelte es
sich um eine Mädchengruppe im Alter von 13 bis und 17 Jahre einer Gesamtschule aus
einer Großstadt im Osten Nordrhein-Westfalens. Insgesamt bestand die Gruppe aus 12
Personen; geführt wurde das Gespräch am 12. Mai 2000.
FRAGE: Also, im Moment is' "Big Brother" interessant?!
(Zustimmung)
MÄDCHEN I: (lachend) Auf jeden Fall, ja!
MÄDCHEN II: Für alle Leute auch.
FRAGE: Was is' denn da anders als in den Soaps?
MÄDCHEN II: Ja, in den Soaps, da is' das auf Drehbuch, und bei "Big Brother" is' das so,
äh, -ds is' das normale Leben.
MÄDCHEN III: Die denken sich das nich, äh, die haben das nich' vorher ausgedacht. Die
reden einfach nur.
MÄDCHEN II: Nee, die tun einfach, was sie wollen. Und dass die Kameras dabei sind.
MÄDCHEN IV. Die langweiligen Szenen werden dann rausgeschnitten, oder die
interessanten, weil manchmal is' halt auch ziemlich langweilig. Dann sitzen se dann nur
und trinken Kaffee und...
MÄDCHEN II: Zum Beispiel ... ja, genau, wenn die zum Beispiel streiten oder so, dann
zeigense das meistens. Sonst wenn die da jetz'so sitzen ...
MÄDCHEN V: Ich find, da merkt man das doch eben, dass es das richtige normale Leben
is, und nicht, dass das normale Leben gespielt wird irgendwie. Weil dann kommt es ja
total übertrieben rüber. Und die im "Big Brother“-Haus sind ja einfach so, wie sie sind. Is'
ja einfach so. Und bei den Daily Soaps is' das irgendwie ...
11
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MÄDCHEN III: (zustimmend) Mhm. Bei den Soaps, da, wenn die sich da streiten, dann
weiß man, dass das nur gespielt is' Und wenn man Big Brother guckt, dann weiß man,
dass das nich' gespielt is, dass es ernst is'.
MÄDCHEN I: Ja, das is' wesentlich interessanter.
Auch im nächsten Interviewauszug steht die Bewertung des Formats im Mittelpunkt. Die
Gruppendiskussion wurde mit einer gemischten Gruppe 13- und 14jähriger am 31. Mai
2000 in einer Realschule einer Großstadt in Bayern geführt. Insgesamt bestand die
Gruppe aus 9 Personen.
FRAGE: Wie ordnet ihr denn "Big Brother" in Bezug zu den Daily Talks und den Daily
Soaps ein? Guckt Ihr Euch "Big Brother" an?
JUNGE I: Am Anfang war's okay, äh, da war's, da war's neu und da war' s cool und so.
Aber jetzt, jetzt da wird ... voll langweilig irgendwie, weil jetz' is' nichts mehr Neues da und
so. Und jetz' is' auch irgendwie ... Zlatko is' raus und so, da bockt's sich nich' mehr, weil
der Zlatko war irgendwie der Coolste, weil ... die anderen sind irgendwie voll die ...
Trantüten, echt! Weil, die machen null ... Action da drin irgendwie. Außer Sabrina
vielleicht, aber die geht jetz' auch raus, weil die wird 'rausgeschmissen.
JUNGE II: Wieso?
JUNGE I: Ja, Nominierung halt, weil die Scheiße erzählt (lacht). Und da is ...
MÄDCHEN I: Da is' die Sabrina, ähm, dann der John und noch die eine, die Andrea.
JUNGE III: Ja, des is' halt jetz' total lahm, ähm...
JUNGE IV: (protestiert) Laahm...
JUNGE III: Jaa ...
MÄDCHEN I: ... arschig!
JUNGE III: ... lahmarschig, genau! Das wollte ich auch noch sagen.
FRAGE: Warum war das am Anfang interessanter?
JUNGE I: Ja, weil des da neu und so ...
STIMMENGEWIRR: Mehr Leben.
Da war noch Konkurrenz.
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JUNGE I: ... weil, da war. Da kannte man's auch noch nich', weil ... da war's halt total neu
irgendwie und so; da wollte jeder wissen ...
JUNGE III: ja, was is das?
JUNGE I: Jaa, hey, schau dir des an, wie der sich badet oder wie der sich duscht! Jaa,
schau mal! (lacht). ... Aber jetz, da interessiert's einfach keinen mehr, weil ... es is' immer
dasselbe und so.
MÄDCHEN II: Jetz' interessiert des schon, weil jetz' wieder die Entscheidung is', wer jetz'
da gewinnt.
STIMMENGEWIRR: Nein, mich interessiert das nich' mehr, das ...
MÄDCHEN II: Darum hab' ich mir des auch angeschaut.
JUNGE V: Meine Schwester, die schaut des an.
MÄDCHEN II: Aber dann, dann wurd's einfach richtig langweilig, weil ich ... weil ich mir
einfach dachte: "Jaa, (Husten) machste mal an, des is' neu", und dann hat es mir auch
eigentlich ganz gut gefallen. Und dann irgendwie so, denn kannste wirklich auch teilweise
echt raten, was die jetz' vielleicht machen, ja, weil des dann wirklich soo langweilig wird,
ja, des is' echt ...
Die Rolle der intermedialen Verweise wurden deutlich, wenn die Jugendlichen nach den
Quellen ihrer Information gefragt wurden. Die folgenden Passagen stammen ebenfalls
aus der zuletzt beschriebenen Gruppe.
FRAGE: Ihr sagt die ganze Zeit: "Wir haben gehört... " oder "Wir haben gelesen... " Wo
habt ihr denn die ganzen Informationen her?
JUNGE I: Medien. Also, Werbung, also, Fernsehen, Zeitung. Kommt drauf an, was man
halt ... das steht überall. ... Das wird überall ausgestrahlt, oder so Internet- Seiten, jedes.
JUNGE V: Genau! Wenn man ins Internet rein geht, gleich die erste Seite, immer was
geöffnet hat: "Big Brother. Wer muss raus?" Boah!, Und da hab' ich des erste Mal
aufgemacht, und dein Passwort eingibt, da steht: Sie haben Passus. Und dann halt die
erste Seite: Boah, "Big Brother: Wer geht raus?" Boah. "Bitte rufen sie an!" Wow, obwohl
man irgendwann ...
FRAGE: Und da geht ihr immer auf die Internet-Seite?
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JUNGE V: Nein, aber ich mein', wenn ich mir wenn ich jetzt chatten will oder irgendwas
schauen will, 'ne Notiz oder so was, dann mach' ich auf, dann wähl' ich „www", also eine
Internet-Adresse angeben, und unten schon, obwohl ich nicht geöffnet hab, und schon:
"Big Brother: Fiebern Sie mit!", "Rufen Sie an", "Entscheiden Sie, wer raus geht!", "Das
ultimative Hyper-(Pseudo)-Erlebnis!" ey, boah! "Big Brother"!
JUNGE IV: Ja, is' aber echt so. Wenn man zum Beispiel chatten geht, die haben, es gibt's
eigenen Chat-Room, den "Big Brother" Room, und sogar wenn man in den anderen Raum
geht, sofort jeder. "Wer hat Bock, über ,Big Brother' zu chatten?" Das is' so ...
Schließlich ein Auszug, um die ablehnende Haltung gegenüber dem Protagonisten
ZLATKO zu belegen.
JUNGE IV. Was sie halt auch haben, sind ... Was aber auch total wieder kacke is'- Jetz'
hat Zlatko so Erfolg gehabt mit seinem "Ich vermiss dich wie die Hölle"...
JUNGE I: ... und jetzt' kommt der Alex.
JUNGE IV: ... und jetzt' kommt der Alex. Jetz' machen sie eh' voll das Gleiche ...
JUNGE I: Dieselbe Scheiße!...ne CD machen und so im METALLICA-Stil und so... "Ja,
okay, ich mach' jetz' Geld" und so, weil er hat ja, er is' ja rausgeflogen und so, jetz' isser
Superstar, jetz' ...
JUNGE V: Der Jürgen wird hart.
STIMMENGEWIRR: Ja, der Jürgen is' eh' Arsch; ... der soll raus!
FRAGE: Wenn ein Schauspieler aus einer Soap oder ein Bewohner bzw. Ex-Bewohner
des "Big Brother"Hauses eine CD aufnimmt, würdet ihr euch das kaufen?
JUNGE I: Meine Schwester hat die sich gekauft, aber ich würd' sie mir nie selber kaufen,
weil das is' alles nur ... Vermarktung und so. Die wollen nur Geld haben und alles. Die
sind alle so geldgeil, neh, das is' unglaublich.
Eine Auseinandersetzung mit der Alltagskommunikation der (Kern-)Zielgruppe - wie sie im
vorliegenden Beitrag anhand von Auszügen aus Gruppengesprächen präsentiert wurde führte zum einen vor Augen, dass zum einen die Rezeption von Big Brother exemplarisch
für den aktiven Umgang mit populärkulturellen Phänomen steht, wobei die Bewertung und
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Aneignung im Kontext der anderen, den Jugendlichen bekannten Formaten erfolgt. Zum
zweiten können verschiedene Phasen und auch unterschiedliche Lesarten mit
widersprüchlichen und zum Teil auch mit ironischen Brechungen im Umgang mit dem
neuen Format identifiziert werden. Drittens konnte festgestellt werden, dass die
Jugendlichen den Inszenierungscharakter sowie die Risse bzw. Brüche in der
Inszenierung und Vermarktung erkennen und kritisch beurteilen.
Vor diesem Hintergrund ist zu konstatieren, dass die medienpolitischen und
kulturkritischen Betrachtungen sich nicht eigneten, das Spektakel Big Brother so zu
erfassen, wie es für die Jugendlichen Relevanz erlangt. Ein Eingehen auf die
Bewertungen, die die Jugendlichen an die Sendung herantragen, ist auch weiterhin kaum
zu verzeichnen. Die Folgen und die Auswirkungen des Formats werden sich aber nur
erschließen lassen, wenn man den Kontext der Mediennutzung und -aneignung sowie die
unterschiedlichen Formen der Anschlusskommunikation in den Blick nimmt. Auch weil
inzwischen Vertrauen im Unterhaltungssektor eine zentrale Kategorie geworden ist
(GÖTTLICH 2000b).
Fazit
Big Brother konnte als mediales Großereignis identifiziert werden, das die Kriterien eines
intimen Formats erfüllt. Neben der Allgegenwart der ProtagonistInnen ist es vor allem die
Vehemenz der öffentlichen Debatte über die medienpolitischen, -ethischen und
-pädagogischen Auswirkungen des Formats sowie die seit Monaten laufende
Selbstthematisierung in den Medien und schließlich die konsequente Ausnutzung neuer
Vermarktungsmöglichkeiten, die diese Einordnung rechtfertigen. Mit Blick auf die neuen
Vermarktungsstrategien und -erfolge lassen sich als Indizien die Internet-Präsenz und die
damit verbreiteten Interaktions- wie Konsumanlässe sowie die Gewinnspiele etwa im
Rahmen der Sendung call TV (RTL2) anführen. Außerdem kam es zu einem
beträchtlichen Imagetransfer - und zwar nicht nur für die Produktionsfirma und den
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ausstrahlenden Sender (RTL2), sondern für die gesamte RTL-Senderfamilie und
schließlich sogar für die Politik.13
Gerade weil das Format bis heute eine außergewöhnlich intensive und polarisierende
gesellschaftliche Auseinandersetzung begleitet, können und sollen sich die
verschiedenen Disziplinen der Sozial- und Kommunikationswissenschaft nicht
zurückhalten, intensiv über die Möglichkeiten zur Selbstverpflichtung der Produzenten und
Anbieter zu verständigen. Durch den engen Zusammenhang von gesellschaftlichen
Veränderungen und dem Medienwandel wird eine Neubestimmung der Analysekriterien
und Kritikansätze notwendig.
Deutlich wird dies besonders an der Rolle des Trash-Helden ZLATKO: Er ist
Medienprodukt und Medienstar zugleich (vgl. MIKOS u.a. 2000, S. 140ff.). Die
Vermarktungsstrategie scheint aber zugleich an ihre Grenzen zu stoßen, denn die
Inszenierung bleibt nicht ohne Widersprüche, und der Erfolg von Big Brother ist letztlich
doch aufs Engste mit "echter" Prominenz verknüpft, was gerade der Einzug von VERONA
FELDBUSCH in den Container bewiesen hat. Ob ZLATKO auch in einem halben Jahr
noch als "der Coolste" bezeichnet werden wird, darf daher bezweifelt werden - dies
entlässt allerdings weder die Kommunikationswissenschaft noch die Medienpädagogik
aus der Verantwortung, sich verstärkt der Aneignung populärkultureller Phänomen durch
Jugendliche zu widmen.
Literatur
• ALM (Arbeitsgemeinschaft der Landesmedienanstalten in der Bundesrepublik
Deutschland) (2000): Medienregulierung und Programmaufsicht im privaten Fernsehen.
Ein Positionspapier der Landesmedienanstalten im Kontext der Diskussion über Big
Brother. Hamburg
13 Vor dem Hintergrund der Beachtung, die die Sendung erlangte, erklären sich auch die Versuche, einen
Imagetransfer für die Politik zu erreichen (vgl. NIELAND 2000b). Zwei Beispiele stehen exemplarisch für
diese Tendenz: zum einen der Auftritt des FDP-Spitzenkandiaten JÜRGEN W. MÖLLEMANN in der
Sendung Big Brother - Der Talk eine Woche vor der nordrheinwestfälischen Landtagswahl (vgl. NIELAND
2000a) und zum zweiten die Theateraktion von CHRISTOPH SCHLINGENSIEF, der mit seiner
Containeraktion auf die rassistische Politik der in Österreich mitregierenden FPÖ aufmerksam machen
wollte.
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• BALKE, FRIEDRICH / GREGOR SCHWERING / URS STAHELI (Hrsg.) (2000): Big
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Marktes. Düsseldorf: Econ DÖRR, DIETER (2000): Farbe bekennen. Menschenwürde
als Grenze der Programmfreiheit. In: epd medien, 2000, Nr. 55, vom 12. Juli 2000, S. 5 10
• FROMM, BETTINA (1999): Privatgespräche vor Millionen. Fernsehauftritte aus
psychologischer und soziologischer Perspektive. Wissenschaftsforum, Bd. 6. Konstanz:
UVK
• FROTSCHER, WERNER (2000): "Big Brother" und das deutsche Rundfunkrecht.
Schriftenreihe der LPR Hessen, Bd. 12. München: KoPä Verlag
• GIDDENS, ANTHONY (1991): Modernity und Self-Identity. Self and Soeiety in Late
Modern Age. Cambridge/Oxford: Oxford University Press
• GÖTTLICH, UDO (2000a): Zur Reinszenierung des Privaten in Daily Soaps.
Entwicklungschritte auf dem Weg zum Real Life Drama. In: INGRID PAUS-HAASE /
DOROTHEE SCHNATMEYER / CLAUDIA WEGENER (Hrsg.): Information, Emotion,
Sensation. Wenn im Fernsehen die Grenzen zerfließen. GMK Schriften zur
Medienpädagogik, Bd. 30. Bielefeld: GMK, S. 190-209
• GÖTTLICH, UDO (2000b): Die Ware Vertrauen. Back to the Basies oder die
Veralltäglichung von Trash? In: FRIEDRICH BALKE / GREGOR SCHWERING / URS
STAHELI (Hrsg.): Big Brother. Beobachtungen. Bielefeld (in Vorbereitung)
• GÖTTLICH, UDO / JÖRG-UWE NIELAND (1998a): Daily Soaps als Umfeld von Marken,
Moden und Trends. Von Seifenopern zu Lifestyle-Inszenierungen. In: MICHAEL
JÄCKEL (Hrsg.): Die umworbene Gesellschaft. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 179208
• GÖTTLICH, UDO / JÖRG-UWE NIELAND (1998b): Daily Soaps als Experimentierfeld
der Fernsehunterhaltung. In: BLM (Hrsg.): Vom Boulevard- zum Trash-TV Fernsehkultur
im Wandel. Dokumentation des Rundfunkkongresses 1997. BLM-Schriftenreihe, Bd. 49.
München: Fischer, S.155-170
• MIKOS, LOTHAR / PATRICIA FREISE / KATJA HERZOG / ELIZABETH PROMMER /
VERENA VEIHL (2000): Im Auge der Kamera. Das Fernsehereignis Big Brother. BFF,
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• NIELAND, JÖRG-UWE (2000a): Politics goes popular. Anmerkungen zur
Popularisierung der politischen Kommunikation. In: KLAUS KAMPS (Hrsg.): TransAtlantik, Trans-Portabel. Die Amerikanisierungsthese in der Politischen Kommunikation.
Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 307 - 330
• NIELAND, JÖRG-UWE (2000b): Inszenierung und Imagetransfer. Kult-Marketing zur
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• NIELAND, JÖRG-UWE / FRANK LuKASZEWSKI / CHRISTIAN SCHICHA (2000b):
Materialsammlung II zur Analyse der gesellschaftlichen Diskussion über das
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• WERTH, CHRISTOPH (2000): Vom Reality TV zu "Big Brother" ' Medienethik im
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