matthias kettner - Hamburger Institut für Sozialforschung

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matthias kettner - Hamburger Institut für Sozialforschung
Diskussionspapiere
Matthias Kettner
Menschenwürde als Begriff und
Metapher
Irmgard Schultz
Soll die "Würde des Menschen"
politisch oder philosophisch
begründet werden?
MATTHIAS KETTNER
Menschenwürde als Begriff und
Metapher
IRMGARD SCHULTZ
Soll die "Würde des Menschen" politisch
oder philosophisch begründet werden?
Diskussionspapier, 1-94
Hamburger Institut für Sozialforschung, 1994
Hamburger Institut für Sozialforschung
Mittelweg 36, 20148 Hamburg
Telefon: 040/414097-15
Telefax: 040/414097-11
Zu den Autoren:
Matthias Kettner, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Philosophie der
Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt, Mitarbeiter am Forum für Philosophie Bad
Homburg und Fellow am Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen. Arbeitsschwerpunkte:
Deutscher Idealismus, Psychoanalyse, philosophische und psychologische Moraltheorien,
speziell Diskursethik.
Irmgard Schultz, Dr. phil., ist Mitarbeiterin am Institut für sozial-ökologische Forschung,
Frankfurt am Main. Arbeitsschwerpunkte: Feministische Umweltforschung, Alltagsökologie
und Stoffströme.
MATTHIAS KETTNER
Menschenwürde als Begriff und Metapher
Zusammenfassung
Die politischen , ideologiekritischen, philosophischen, ökoethischen Einwände gegen die Idee
der Menschenwürde sind erheblich, jedoch nicht zwingend. Versuche argumentativer
Rechtfertigung dieser eurogenen, aber vielleicht nicht eurozentrischen Idee sind wichtig, weil
Menschenrechte als erfahrungsoffene Operationalisierungen von Menschen-würde
aufzufassen sind und daher gilt: Können wir die moralische Normativität dieser nicht
überzeugend darlegen, dann auch nicht die moralische Normativität jener.
Rechtfertigungsversuche müssen zwischen Menschenwürde als Metapher und als
politischem, moralischem, juridischem Begriff unterscheiden. Vor allem aber müssen Fragen
der Zuschreibungslogik und Fragen der Rechtfertigungslogik des Würdebegriffs
unterschieden werden, sonst entstehen der Überzeugungskraft des Würdebegriffs abträg-liche
Konfusionen, was an Beispielen der höchstrichterlichen Rechtsprechung gezeigt wird.
Rechtfertigungsversuche auf naturrechtlich metaphysischer, jüdisch-christlich religiöser,
postmodern existenz-ästhetischer Bahn enden in Sackgassen, aber eine diskursethische
Argumentationsrichtung, die vom Problem ausgeht, wie sich überhaupt ein Adressatenbereich
von Moral konstituieren kann, ist aussichtsreich.
Human dignity as a concept and a metaphor
Abstract
The political, ideology-critical, philosophical and eco-ethical objections to the concept of
human dignity are substantial but not necessarily conclusive. Attempts to legitimate this
Eurogenic but perhaps not Eurocentric concept are important, since human rights can be
perceive as an operationalisation of the idea of human dignity which is open to changing
experiences. Therefore, if we cannot convincingly demonstrate the moral normativity of
human dignity, then the same must be the case for human rights.
Any attempt at legitimation must differentiate between human dignity as a metaphor and
human dignity as a political, moral and legal concept. In particular, one must differentiate
between questions of the logic of attribution and the logic of legitimation; otherwise, the
resulting confusion will lead to a loss in the persuasive power of the conccept of human
dignity, as will be demonstrated with examples from recent superior court decisions. Attempts
to legitimate this concept on the basis of natural law and metaphysics, judaic-christian
religious traditions, or along postmodern existential-aesthetic lines are destined to dead-end.
However a fruitful approach seems to be to ask how the group of those who are the addressees
of moral principles might be constituted and then to follow the argumentative scheme of
discourse ethics.
IRMGARD SCHULTZ
Soll die "Würde des Menschen" politisch oder philosophisch begründet werden?
Eine Kritik am ethischen Letztbegründungsanspruch von Philosophie
Zusammenfassung
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Die Würde des Menschen ist in den Menschenrechten festgeschrieben. Sie ist als historische
und soziale Erscheinung im modernen staatlichen Rechts- und Strafsystem angesiedelt und hat
damit einen politisch regulativen Anspruch.
Der Letztbegründungsanspruch der philosophischen Ethik wird aus einer feministischen
Perspektive kritisiert: Die philosophische Moralbegründung vernachlässigt die historische
Einbindung der Menschenwürde und läßt allein ein Argumentationsschema als vernünftig
gelten, das sich als Denkweise westlicher, männlicher Philosophen erweist. Deren
universalistisches Denken ist heute de facto durch die vielfältige Artikulation partikularer
Interessen aufgebrochen. Der Machtanspruch der philosophischen Ethik und die
Institutionalisierung des ethischen Diskurses legen den Verdacht nahe, daß die Einführung
neuer Macht- und Gewaltverhältnisse (z.B. im Bereich der "Biomedizin" der Angriff auf das
Selbstbestimmungsrecht, die Unversehrtheit des Körpers und die Würde der Frau) kaschiert
werden sollen.
Eine historisch-genetische Untersuchung des "Subjekts der Menschenwürde", zeigt die
Verknüpfung europäischer Rechtstraditionen mit biologischen Vorstellungen des 18. und 19.
Jahrhunderts. Spätestens seit der Französischen Revolution ist die natürliche Lebenszeit eines
jeden die minimale Grundlage der Subjekthaftigkeit der Menschen. Mit der
männerbündlerischen Wende der Französischen Revolution wurden Frauen aus der
naturrechtlich-politischen Verfassung der demokratischen Gesellschaft zugleich wieder
ausgeschlossen. Ihre "Natur" wurde als reproduktiv-geschlechtlich definiert, ihre
Lebenszeit naturgeschichtlich, nicht aber naturrechtlich bestimmt. Wenn das naturwissenschaftlich-naturrechtliche
Muster
der
Wirklichkeitswahrnehmung
mit
seiner
Verschränkung von Zeit- und Subjektvorstellung heute durch neue Einflüsse aus der Biologie
zerstört wird, verliert die moderne, auf alle Menschen zielende Menschenrechtskonzeption
ihren Boden. Moderne Verfassungen enthalten zudem hinsichtlich der generativen Familienund Lebensformen Elemente mit sakraler Legitimation. Diese Verfassungen sind deshalb nicht
durchgängig "Letztbegründung" moralischer Maximen. Es wird vorgeschlagen, moralische
Maximen unabhängig von Naturvorstellungen, völlig säkularisiert und allein aus den
Traditionen und Erfahrungen der Politik zu diskutieren.
Should "human dignity" be defined politically or philosophically?
A critique of philosophy's claim to being the highest authority in ethical questions
Abstract
Human dignity is embodied in codes of human rights. As a historical and social phenomenon,
the concept of human dignity is anchored in the legal and penal systems of modern states and
thus is intended to serve as a political regulative.
The claim of philosophical ethics to being the highest authority in ethical questions is
critized from a feminist perspective. The philosophical argumentation on morals neglects the
historical context of the definition of human dignity and accepts as reasonable only that line of
argument which proves to be compatible with the thought of Western male philosophers.
However, the universalistic way of thinking of such Western male philosophers has today de
facto been disrupted by the articulation of a variety of particular interests. The claim to power
of philosophical ethics and the institutionalisation of ethical discourse lead one to suspect that
5
the aim is to conceal the introduction of new relations of power and violence (e.g. in the area of
"biomedicine", the attack on women's right to self-determination, on their bodily integrity and
their dignity).
An historic-genetic study of the "subject of human dignity" reveals the connection between
European legal traditions and the biological concepts of the 18th and 19th centuries. Since the
French Revolution (at the latest), the natural life span of the individual has been the minimal
basis of a human being's claim to subjecthood. At the same time, the male-dominated turning
point of the French revolution marked the exclusion of women fron the political and natural
law constitution of democratic society. Women's "nature" was defined as reproductive-sexual,
their life span determined by natural history, but not by natural law. This pattern of perceiving
reality, determined by the principles of science and naturral law and characterized by the
intertwining of the concepts of time and subject, is today being destroyed by new
developments in biology. As a result, the modern concept of human rights, which is intended
to apply to all human beings, is losing its basis. Furthermore, with respect to generative forms
of family and social life, modern constitutions include elements of sacral legitimation.
Therefore, such constitutions can not be considered to argue consistently as final authorities
with respect to moral principles.It is suggested here that moral principles be developed and
discussed as independent of concepts of nature, as wholly secular ideas and solely founded on
the traditions and experience of politics.
7
MATTHIAS KETTNER
MENSCHENWÜRDE ALS BEGRIFF UND METAPHER
1. Die Fragwürdigkeit des Würdebegriffs
Die Berufung auf Menschenwürde ist zumeist von argumentativer Hilflosigkeit überschattet.
Menschenwürde gerät zur diffusen Metapher für das Allerheiligste der Moral, von dem man
nicht recht weiß, ob es groß und erhaben oder leer und lächerlich ist.
1
Ich nenne dies
metaphorische Menschenwürde.
Würde ist ein veraltetes Wort. Erst die modernen Gesellschaften kennen die Metapher der
Menschenwürde als moralisch-rechtlichen Begriff. Konnotativ verweist sie jedoch eher auf
feudal organisierte Gesellschaften oder auf Hierarchien der sozialen Anerkennung in
Stammesgesellschaften. Priester, Könige, Stammesfürsten und Adlige haben Würde, niemals
das gemeine Volk. Nicht die "Würde der Frauen", nicht die "Würde der Männer", sondern die
Würde des Menschen kommt kategorisch jedem Menschen als solchem zu, das bedeutet eine
gar nicht zu überschätzende Revolutionierung in den europäischen Vokabularen der
Selbstdeutung.
Für einen Konservativen wie Edmund Burke war die durch die Aufklärung
wirkungsmächtig gemachte Idee, der gemeine Mann habe eine Würde, noch Anlaß zu
zynischem Spott. Erst in der Französischen und der amerikanischen Revolution wurde
endgültig die alte Lesart abgelöst, die unterschiedlich nach Stand, Rang, Bildung und
Geschlecht Würde zuwies. Die alte, konventionelle Lesart wurde, jedenfalls in der politischen
Semantik, durch die moderne, radikal egalitäre Lesart von Menschenwürde ersetzt. Diese
1
Repräsentativ ercheint mir der folgende Ausschnitt aus einem der Interviews, die der Soziologe Tilmann
Sutter (1990:157) mit fünf Personen im Alter zwischen 26 und 32 Jahren führte. Der Interviewte denkt über die
moralische Verurteilung eines terroristischen Anschlags nach, bei dem zwei Menschen ermordet wurden: "Also was
wäre dann Moral?" - "Ja, Moral wär' in dem Sinne was weiß ich... ähm... die Würde ... wie war das nochmal? (lacht)
die Würde des Menschen ist unantastbar (lacht laut und herzlich)." (...) "Also ich... ich steh' dazu irgendwie so, ich
kann da irgendwie nicht... (schlägt mit Händen auf Schenkel) ich kann mir das theoretisch so überlegen, aus
welchen Gründen das vielleicht nicht gut ist oder doch vielleicht berechtigt oder irgendwie sonstwas, aber also ich
würd' sowas nicht machen und ich find's auch nicht gut, sowas zu machen."
8
Ablösung, die aus der Menschenwürdemetapher einen Kernbegriff postkonventioneller Moral
gemacht hätte, ist jedoch nur unvollständig gelungen. Der universale Gehalt der
Menschenwürdemetapher ist begrifflich seltsam blaß geblieben und kann daher jederzeit als
"bloß metaphorisch" skeptisch distanziert werden.
1
Menschenwürde als Metapher hat für die meisten unserer Zeitgenossen anachronistische
Züge längst untergegangener Ethosformen behalten. Vielleicht sollten wir daraus den Schluß
ziehen, daß diese Metapher deshalb ungeeignet ist, diejenigen normativen Vorstellungen und
Ideale abkürzend auszudrücken, die uns, geprägt von einer europäischen, einstmals
emphatisch universalistischen Moderne, die wichtigsten sind. Ist Menschenwürde vielleicht
ein unrettbar konventioneller Ausdruck für ein postkonventionelles moralisches Ideal und
daher notorisch mißverständlich?
Würde können auch Staatsbürger ihrem Land und Volksgenossen ihrem Volk zuschreiben.
In Serbien kann heute (1993) jede Tat im Namen der Verteidigung der "Würde des Serbentums
2
und nationaler Unabhängigkeit" gerechtfertigt werden. Wahrscheinlich trifft dies nicht nur
auf die Serben zu.
Weder den kulturgeschichtlichen noch den politischen Registern der Würdemetapher ist
also zu trauen.
Zur Fragwürdigkeit der Menschenwürdemetapher trägt auch ein ideologiekritischer
Verdacht bei. Nominaldefinitionen, die die Metapher der Menschenwürde vorsichtig, ohne
voreilige Inhaltsfestlegung, begrifflich bestimmen wollen, wecken ein eigentümliches
Unbehagen. Man mag Menschenwürde als "Inbegriff gelungener Humanität" (Wils 1991:138)
nominell definieren, doch wer soll definieren, was Humanität ist, und wer, wann sie gelungen
ist? Erst die Antworten auf Fragen nach der Definitionsmacht über den Begriff entscheiden
1
Die schärfste mir bekannte Distanzierung des normativen Syndroms von Menschenwürde und
Menschenrechten ist die von Alasdair MacIntyre (1984:65f.). Als Fazit seiner historistisch-relativistischen Einwände
kommt er zu dem Schluß: "(T)he truth is plain: there are no such rights, and belief in them is one with belief in
witches and in unicorns. The best reasons for asserting so bluntly that there are no such rights is indeed of precisely
the same type as the best reason which we possess for asserting that there are no witches and the best reason which
we posses for believing that there are no unicorns: every attempt to give good reasons for believing that there are
such rights has failed" (ebd.). Der zuletzt zitierte Allsatz ist freilich nicht allen so evident wie seinem Autor.
2
Das kritisierte Anfang 1993 Nenad Briski von der serbischen Tageszeitung Borba.
9
darüber, ob sich "ein dekorativer Begriff von der Würde (...), mit dem sich die Macht umgibt",
vermeiden läßt, wie Gabriel Marcel (1966:159) solche ideologiekritische Skepsis pointiert
artikuliert.
Die Skepsis richtet sich auf zwei Syndrome. Zum einen auf die Ideologie des Humanen als
Deckmantel für Praktiken der Inhumanität. "Der Mensch ist die Ideologie der
Entmenschlichung" diagnostiziert Adorno (1977:452). Zum anderen auf das Syndrom von
menschlicher Überheblichkeit, "Speziezismus" und Naturverachtung. Zivilisationskritische
Kulturphilosophie von Rousseau bis Lévi-Strauss hat in der Metapher der Menschenwürde
stets die Hybris aufgespürt, eine fragwürdige Selbstüberhöhung der Menschenart, mit der
diese alle andersgearteten Lebewesen hegemonial ausgrenzt. Es sind die Implikationen von
Ausgrenzung durch Abgrenzung und von Unterordnung durch Überordung, die für
Lévi-Strauss die Menschenwürdemetapher so überaus fragwürdig machen. "Ist es nicht der
Mythos von der ausschließenden Würde der menschlichen Natur, der die Natur selbst eine
erste Verstümmelung erleiden ließ, der unweigerlich weitere folgen müssen?" (Lévi-Strauss
1975:53)
Gegen den Pauschalverdacht, in der Menschenwürdemetapher verschanze sich die
Angriffswut der Menschheit gegen die übrige Natur, finde ich drei Einwände überzeugend:
Einwand 1: In ökoethischen Diskussionszusammenhängen, die durch Resonanz mit dem
Credo einiger Grüner und vieler Tierschützer auch eine gewisse Bedeutung für den
polititischen Diskurs gewinnen, werden zu schnell "Zentrismen" diagnostiziert. Patho- und
biozentrische
Ansätze
werden
gegen
anthropozentrische
Ethiken
ausgespielt.
Anthropozentrischen Auffassungen zufolge bezieht sich das moralische Sollen primär auf
Verhältnisse zwischen Menschen, und zwar darum, weil es dort entsteht. Von dieser
Auffassung, die ich für richtig halte, muß freilich die Auffassung unterschieden werden, alles
Wertvolle sei wertvoll allein für menschliche Bewerter. Nur gegen diese zweite,
anthropochauvinistische Position ist Verdacht berechtigt (vgl. Kettner 1992b).
Einwand 2: Erst durch das neuzeitliche Denkverbot gegen Anthropomorphismus, das den
cartesischen Wissenschaftstypus begleitet (vgl. Spaemann 1987:102), wird Anthropozentrismus
hegemonial, wird zum Anthropochauvinismus.
Einwand 3: "Der Verzicht auf die Kategorie 'Menschenwürde' befördert noch nicht eo ipso
die Respektierung der Natur - das Gegenteil könnte der Fall sein" (Wils 1991:132). Ähnlich, so
10
scheint mir, denkt auch Hans Jonas, in dessen "Prinzip Verantwortung" eine Rolle für den
Menschen qua Menschen begründet werden soll, die in der traditionellen Ethik nicht
vorgesehen ist, nämlich die eines Treuhänders der natura naturans.
1
2. Menschenrechte und Menschenwürde
Warum wird der Würdebegriff trotz seiner Fragwürdigkeit nicht aufgegeben? Was hängt
davon ab, ob sich die Metapher der Menschenwürde in Begriffsnetzen philosophischer
Begründungsdiskurse fassen und durchdenken läßt? Was steht auf dem Spiel, falls alle
derartigen Versuche zuletzt an wertsubjektivistischen, kulturrelativistischen, vernunftskeptischen oder anderen Einwänden scheiterten?
Eines der Felder, auf denen Begriffe der Menschenwürde heute kontrovers sind, ist die
Bioethik und die öffentliche Diskussion, die teils über sie, teils mit ihr geführt wird. Derzeit
wird vor allem in Deutschland in der Meinungsbildung über Abtreibung, Euthanasie,
Gentechnik und die neuen Techniken menschlicher Reproduktion mit dem Begriff der
Menschenwürde argumentiert, oder es wird dagegen protestiert, Menschenwürde überhaupt
als Argument anzuführen.
Die argumentative Hilflosigkeit, die die metaphorische Menschenwürde umgibt, befördert
unfreiwillig die Diskreditierung der Idee der Menschenwürde als solcher. So meint etwa Peter
Singer (1978:159), die Berufung auf Menschenwürde gehöre zu den "fine phrases" und sei "last
resort" derjenigen, "who have run out of arguments". Singers berechtigte Kritik trifft freilich
1
Doch wie? Jonas meint, die Sorge für all dasjenige, was als Selbstzweckwesen anerkannt ist, oder die Sorge
dafür, daß alles, was Selbstzweckcharakter hat, auch wirklich von uns als Zweck an sich selbst anerkannt werde,
müsse in die Auszeichnung des Menschen einbezogen werden. An diese Position richtet sich die Frage, ob Jonas
nicht alles, was er sagen will, auch mit dem Begriff des Interesses sagen könnte, anstatt mit Wertbegriffen wie dem
der Würde? Könnte Jonas dieselben Präzepte, die er im "Prinzip Verantwortung" durch
neoaristotelisch-metaphysische Appelle an die Würde der von Zweckhaftigkeit durchzogenen Natur begründet,
nicht ebenso, und einsichtiger, unter Berufung auf allgemeine Überlebensinteressen der Menschheit
kontraktualistisch begründen? (Zur Analyse von Jonas' metaphysischer Begründungsstrategie siehe Kettner 1990.)
Eine kontraktualistische Begründung hat den Vorteil, daß sie an Interessen appelliert, die jeder einzelne Mensch
darum nachvollziehen kann, weil sie auch im je individuellen Interesse liegen. (Davon unberührt bleibt der
pilosophisch interessante Punkt, daß eine nur kontraktualistische Begründung universalistischer Moralprinzipien
begründungstheoretisch unmöglich ist, vgl. bes. Apel 1992:47-57).
11
primär die dogmatische Rhetorik jener anglo-amerikanischen Lebensschützer, die ihre
antiliberalen Unternehmungen mit der Doktrin von der Heiligkeit des Lebens absegnen.
1
Aber angenommen, es wäre tatsächlich so, daß der Metapher der Menschenwürde auf
argumentativem Wege kein allgemeinverbindlicher Begriffsgehalt zugeschrieben werden
könnte, selbst dann würde nach meinem Erachten daraus nicht folgen, daß es irrational sei, an
ihr als etwas Wertvollem festzuhalten. Daß eine Metapher immer dann rational entwertet sei,
wenn sie kognitiv entwertet ist, wenn sich also kein ihr entsprechender begrifflicher Gehalt
strikt allgemeinverbindlich ausweisen läßt, erscheint mir kurzschlüssig. Ein zwingender
Zusammenhang von rationaler und kognitiver Entwertung ergibt sich vielmehr nur unter
Voraussetzung bestimmter, keineswegs zwingender metatheoretischer Annahmen über die
2
Natur von Metaphern, Rationalität und die Sprache der Moral. Diese Annahmen machen
blind für die Denkmöglichkeit, die ich hier aber nicht verteidigen will, daß die
Menschenwürdemetapher eine kognitivistische Leerstelle setzt, die genau als Leerstelle eine
wichtige Funktion im Prozeß kollektiver Selbstverständigung erfüllt und dadurch rational
bedeutungsvoll ist.
Denkbar ist auch, daß für die Forderung der Achtung menschlicher Würde ein
pluralistischer, d.h. auf vielfältigen und verschiedenartigen Gründen beruhender Konsens
besteht, ohne daß es in diesem überlappenden Konsens eine bestimmte Art von
rationalistischen, zwingenden kognitiven Gründen gäbe, die gleichsam die Trümpfe im Spiel
des Begründungsdiskurses wären.
1
Im anglo-amerikanischen Raum spielt der Begriff der human dignity eine viel geringere Rolle als in
kontinentalen moralphilosophischen, politischen und juristischen Zusammenhängen. Allerdings wird heute
zunehmend, besonders in der amerikanischen Bioethik-Diskussion, der Begriff sanctity of life (Heiligkeit des Lebens)
von Theologen aber auch von Laien benutzt, "um einer befürchteten Erosion der Ehrfurcht vor dem Leben
entgegenzuwirken" (Schmidt 1993:54). Im Kampf radikaler AbtreibungsgegnerInnen ("Pro Life!") gegen
BefürworterInnen liberaler Abtreibungsgesetze ("Pro Choice!") wird der Begriff aber tendentiell jedem Diskurs
entzogen und dadurch zu einem Instrument des Gesinnungsterrors. Charakteristisch hierfür ist die folgende
Äußerung der American Life League: "A.L.L. takes the irreversible [!] position that every life is good because it comes
from the only Author of Life. Every life is providential because it plays a unique role in the Great Plan of the
Almighty." (All About Issues 5, 1990, p.4)
2
Bei Peter Singer sind das emotivistische Annahmen über Metaphern und empiristisch-kognitivistische
Annahmen über Rationalität und die Sprache der Moral.
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Die angedeuteten Strategien zur Verteidigung eines rationalen Sinns der Menschenwürdemetapher lassen sich verfeinern. Sie bleiben aber begründungstheoretisch gesehen
Defensivstrategien von minderem Interesse. Die emphatische Bedeutung der Menschenwürdemetapher erschließt sich hingegen erst unter einem veränderten Blickwinkel: Der
Hauptgrund, warum wir versuchen müssen, aus der metaphorischen Menschenwürde einen
auch begründungstheoretisch tragfähigen Menschenwürdebegriff zu entwickeln, ist nämlich
die enge Verbindung von Menschenwürde und Menschenrechten.
Ich plädiere für eine Auffassung, derzufolge Menschenwürde und Menschenrechte zwei
Seiten eines Sachverhalts sind. Wenn eine Menschenwürdeverletzung immer nur aufgrund
1
einer zugleich erfolgenden Menschenrechtsverletzung rechtlich sanktioniert werden kann, so
ergibt sich aus dem Verfassungsauftrag, die Menschenwürde zu achten, offenbar ein
"Verrechtlichungsauftrag" (Böckenförde & Spaemann 1987:314), um
Mißachtungen der
Menschenwürde rechtlich, d.h. mit der nachhaltigen Deckung durch staatliche Monopole
demokratisch legitimierter Gewalt, entgegentreten zu können.
Kann ein Akteur die Menschenwürde eines anderen verletzen, ohne ein Menschenrecht des
anderen zu verletzen? Ich denke, daß dies nicht möglich ist. Beweisen läßt sich diese
Ausschlußbehauptung vielleicht nur induktiv hermeneutisch: Wenn wir Fälle betrachten, in
denen moralischer common sense urteilt, etwas sei wider die Menschenwürde, ohne diese
Behauptung durch einen Hinweis auf Menschenrechtsverletzungen stützen zu können, würde
sich vermutlich herausstellen, daß solche Urteile auf Menschenbilder zurückgehen, die nur
"lokal" in bestimmten Gemeinschaften ideell verbindlich sind und nicht universalisiert, d.h. im
Namen aller für alle verbindlich gemacht werden können. Proklamierte Menschenrechte
hingegen
sind,
wenn
sie
ihren
Namen
verdienen,
durch
den
Filter
von
Universalisierbarkeitsprüfungen (ob jeder wollen kann, daß sie für alle verbindlich sind)
hindurchgegangen.
2
Da Universalisierbarkeitsprüfungen keinen definitiven normativen
Grund der Verbindlichkeit liefern, sondern nur filtern, während Menschenwürde eben jenes
1
Vgl. Begründungen für die Einrichtung internationaler Gerichtshöfe für Kriegsverbrechen und Verbrechen
gegen die Menschlichkeit.
2
Zur "Neutralisierung von Menschenbildern" im Rechtsinstitut der Menschenrechte als notwendiger
Bedingung ihrer Zumutbarkeit für alle möglichen Kulturen vgl. Höffe (1992:6f.).
13
(definitive
normative
Verbindlichkeitsgründe
zu
geben)
verspricht,
bleiben
Menschenrechtsidee und die Idee menschlicher Würde aufeinander angewiesen. Daher scheint
es mir sinnvoll, Menschenwürde und Menschenrechte implikativ aufeinander zu beziehen.
Begrifflich aber bleiben beide distinkt: Menschenrechte sind Rechte, d.h., in ihrem Begriff liegt
eine Symmetrie von Recht und Pflicht. Menschenwürde ist kein Recht, sondern ein Anspruch.
Ein Akteur y mißachtet die Würde eines Menschen x genau dann, wenn y ein Menschenrecht
von x verletzt.
1
Das eigentümliche normative Implikationsverhältnis, das zwischen dem moralisch-politischen Menschenwürdebegriff und Menschenrechten besteht,
2
läßt sich vielleicht als die
Lösung des Anwendungsproblems eines zunächst nur moralisch-politischen Idealprinzips
(nämlich der gesollten allseitig-wechselseitigen Achtung als Mitmensch) im Medium des
positivierbaren Rechts konkreter politischer Gemeinschaften (Staaten) betrachten. Man müßte
dann sagen:
1
Die Akteurvariable y kann sich außer auf natürliche Personen auch auf kollektive Handlungssysteme (z.B.
Gruppen mit Entscheidungsstrukturen, Wirtschaftsunternehmen, Religionsgemeinschaften, Staaten, Staatenbünde
mit zentralen Entscheidungsinstanzen) beziehen. Die Individuenvariable x hingegen bezieht sich ausschließlich auf
individuell existierende Menschen. So heißt es in Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UNO
vom 10.12.1948: "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren." Spätere erweiternde
Menschenrechtsdeklarationen, die z.B. auch Selbstverwirklichungsrechte von Kulturgemeinschaften anerkennen,
ändern nichts an der ontologischen Prämisse, daß alle und nur individuell existierende Menschen logisches Subjekt
von Menschenwürdezuschreibungen sind, und nicht z.B. Kulturgruppen. Spezifische Menschenrechte einer
Kulturgruppe sind Rechte einzelner Menschen qua Repräsentanten dieser Kulturgruppe. Und die einzelnen
Menschen qua Repräsentanten dieser Kulturgruppe hätten nicht solche Rechte, wenn sie nicht auch unabhängig
von den Eigenschaften, die sie zu Repräsentanten jener Kulturgruppe machen, die Würde (und Rechte) von
Menschen simpliciter hätten.
2
In der allgemeinen Menschenrechtserklärung der UNO (1948), Art. 1, ist dieses Implikationsverhältnis in
noch unentwickelter, gedrängter Form ausgesprochen: "All human beings are born free and equal in dignity and
rights." Spätere Deklarationen desambiguieren dieses Verhältnis: Weil Menschen Würde haben, darum haben sie
auch Menschenrechte. So heißt es im International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights vom Dezember
1966 über die gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Menschen, daß "these [human] rights derive from the
inherent dignity of the human person". Hiervon ableitende Lesarten sind nicht sehr plausibel, aber auch nicht
unmöglich zu vertreten. So vertritt Joel Feinberg (1980:151) die umgekehrte Position, daß der Sinn der Rede von
Menschenwürde sich vom Sinn der Rede von Menschenrechten herleite: "What is called 'human dignity' may simply
be the recognizable capacity to asssert claims. To respect a person, then, or to think of him as possessed of human
dignity, simply is to think of him as a potential maker of claims." Und Jacques Maritain (1951) vertritt die Position,
daß Menschenwürde und Menschenrechte begrifflich identisch sind. Diese drei möglichen Positionen unterscheidet
Gewirth (1992), der seinerseits für die erste plädiert, die ich oben die Beziehung der "normativen Implikation"
genannt habe.
14
Menschenrechte
konkretisieren
Menschenwürde
durch
deren
geschichtsbezogene
Kontextualisierung. Die Menschenwürde ist ein abstraktes (nämlich von konkreten
soziohistorischen Umständen und Gegebenheiten absehendes) moralisch-politisches Ideal, das
- unter Voraussetzung der Existenz des demokratischen Rechtsstaats - zu subjektiven Rechten
transformiert wird.
1
Um das zu veranschaulichen: Die Würde des Menschen in Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes
(GG)
2
enthält den alle Kontextrelativitäten aufhebenden, für alle vernünftigen Personen
einsehbare
Gültigkeit
beanspruchenden
Legitimationsgrund
der
Grundrechte
aller
3
Staatsbürger eines besonderen politischen Gemeinwesens, hier Deutschlands. Grundrechte
sind, soweit sie Menschenrechte sind, Ausdruck eines geschichtsoffenen (lernfähigen)
Prozesses der Interpretation und Implementation von Menschenwürde unter jeweiligen
historischen Bedingungen. Die Frage nach dem Geltungsgrund der Menschenrechte und die
andersgelagerte Frage nach ihren realen Bedingungen und Ausprägungen haben sich
grundrechtssystematisch in die Unterscheidung von Menschenwürde und Menschenrechten
ausdifferenziert (vgl. Geddert-Steinacher 1990:45).
Durch die Deklaration von Menschenrechten operationalisieren wir, als Bürger diverser
Staaten, die allgemeine Menschenwürde. Menschenwürde ist das, was sich in Form von
Menschenrechten operationalisieren läßt und was die Forderung solcher Operationalisierung
zu einer für jede vernünftige Person begründeten Forderung macht.
1
Ob man überdies sagen kann, die Menschenwürde "fordere" den Rechtsstaat, wie Tatjana Geddert-Steinacher (1990:45) meint, ist ein eigenes komplexes Problem, das ich hier nicht behandeln will.
2
"Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen
Gewalt."
3
Ähnlich exponiert wie die deutsche Verfassung beruft sich die kanadische Verfassung auf die Menschenwürde, weniger explizit berufen sich die Verfassungen einer großen Zahl von Staaten auf sie (vgl. Cohn 1983).
15
3. Menschenwürde als moralischer, politischer und rechtlicher Begriff
Um die Menschenwürdemetapher begrifflich artikulieren zu können, müssen wir
Menschenwürde als moralischen, politischen und rechtlichen Begriff unterscheiden.
Menschenwürde ist als politischer Begriff chronisch umstritten: Er treibt eine Dynamik von
Anerkennungskämpfen in der wirklichen Welt an, nicht nur eine Dynamik der Explikation
und Rechtfertigung im Diskursuniversum guter Gründe. Aber die Dynamik von politischen
Anerkennungskämpfen im Zeichen des politischen Menschenwürdebegriffs wäre, falls
Menschenwürde sich nicht auch als Moralbegriff rechtfertigen ließe, normativ ungedeckt; ihr
vermeintlich normativer Gehalt, auf den oder auf dessen Prätention zumindest noch die
parolenhafteste Menschenwürderhetorik nicht verzichten kann, wäre chimärisch. Daß die Idee
der Menschenwürde bei fortschreitend "realistischer" Aufklärung ähnlich failliere wie andere
einstmals hehre Ideen, ist eine Möglichkeit, die man nicht darum ausschließen kann, weil man
- wie ich - die Konsequenzen dieser Möglichkeit verabscheut.
Aus der Beobachtung, daß eine normative Idee politisch folgenreich ist, "Geschichte
macht", wird oft fälschlich gefolgert, die Idee sei nur scheinbar normativ und in Wirklichkeit
ein Vektor politischer Macht. Dieser Fehlschluß beruht auf einer Prämisse, die zusammen mit
der Einübung des genealogischen und des dekonstruktiven Blicks heute ebenso
selbstverständlich erscheint, wie sie zuvor (etwa zu Hegels Zeit) als greller Reduktionismus
aufgefallen wäre, der Prämisse nämlich, daß normative Ideen keine geschichtsmächtigen
Kausalmächte und geschichtsmächtige Kausalmächte keine normativen Ideen sein können.
1
Richtiger als diese ontologische Dichotomie erscheint mir die Ansicht, daß normative Ideen in
die realen geschichtlichen Kräfte, die Lebensformen hervortreiben und umgestalten, verwoben
sind, da sie mit diesen Lebensformen selbst bereits verwoben sind (vgl. Will 1988; Kettner
1993). Aus dem Potential guter Gründe, das die rationale Deckung einer normativen Idee
ausmacht, folgt dann zwar nicht, daß diese Idee politisch erfolgreich sein muß, aber es folgt
auch nicht, daß die Idee kausal inert ist. Es ist eine empirische Frage, ob - wir Vernunftoptimisten mit der Überzeugung recht haben, daß die gut begründeteten normativen
1
Eine Variante der Kritik an dem bezeichneten Fehlschluß ist Kants Verriß des Gemeinspruchs: "Das mag in
der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis".
16
Ideen geschichtlich im großen und ganzen à la longue politisch erfolgreicher sind als die
weniger gut begründeten, grundlosen oder aberwitzigen (vgl. Kettner 1992a:321-328).
Gewiß, alles wäre viel einfacher, wenn wir Menschenwürde als unser, d.h. als im
Abendland
erfundenes
("eurogenes")
und
dessen
eigentümliche
Werteordnungen
("eurozentrisch") verkörperndes politisches Ideal auslegen dürften, ohne darin zugleich eine
universalistische, d.h. im Namen von allen Menschen allen Menschen Vorschriften machende,
weil für alle Menschen überall und jederzeit gültige moralische regulative Idee zu sehen - mit
dem
immensen
Rechtfertigungsbedarf,
der
mit
solchen
Erfindungen/Entdeckungen
einhergeht. Könnten wir uns mit Menschenwürde als politischem Begriff begnügen, so wäre
sie die Chiffre für die Erfindung/Entdeckung einer bestimmten Gesellschaftsordnung, in der
nichts weiter für die konkreten Lebensformen festgelegt ist, als daß diese im Rahmen
demokratisch-rechtsstaatlicher Verfassungen stehen müssen, die ihrerseits allgemeine
Menschenrechte als Trümpfe über alle besonderen Gesetzgebungen akzeptiert haben. Die
guten Erfahrungen (und zweifellos gibt es sie), von denen wir, die Mitglieder
demokratisch-rechtsstaatlicher Gemeinwesen, leben, besagen, daß sich die politische Idee der
Menschenwürde in langen Anerkennungskämpfen als sehr durchsetzungsfähig bewährt hat.
Aufgrund unserer guten Erfahrungen mit dieser politischen, genauer demokratietheoretisch
ausgelegten
Idee
von
Menschenwürde
wünschen
wir
nachdrücklich
unsere
Entdeckung/Erfindung auch für die übrigen Staaten der Welt ... Werden wir damit zu
Missionaren einer eurozentrischen Idee?
Ob beispielsweise das Kastenwesen im orthodoxen Hinduismus oder die Sozialordnung in
der Umma mit unserer Idee von Menschenwürde vereinbar sind, ist mir nicht klar. Mit der
Operationalisierung der politischen Idee der Menschenwürde in Form der Menschenrechte,
1
die in der Charta der UN 1949 deklariert wurden, halte ich sie nicht für vereinbar. Doch zu
welchen Konsequenzen berechtigt uns diese Diskrepanz?
1
Der theozentrischen Gesellschaftsidee des Islam entspricht eine theonome Moralidee: Moralischer Wert
wird "ausschließlich" nach dem "Maßstab des Gott wohlgefälligen bzw. seiner Anweisung widersprechenden
Handelns" bestimmt (Antes 1984:52), nach einem normativen Maßstab also, dessen Normativität nichts weniger als
offenbart ist. Theonom sind Moralprinzipien, die Allgemeingültigkeit darum beanspruchen, weil und genau sofern
sie auf göttliche Offenbarung zurückgehen. Der Koran, das heilige, weil von Gott selbst verfaßt und von
Mohammed lediglich verkündete Buch der Muslime, und die Sunna, die prophetische Verkündigung, die
gottinspiriert und deren Autorität deshalb unantastbar ist, enthalten zwar keinen umfassenden präskriptiven
Kodex, um alle Praxisbereiche gestalten zu können. Zu den beiden göttlichen Quellen islamischer Normativität
17
Können wir unsere europäische Idee von Menschenwürde pflegen und propagieren, und
pflegen andere Kulturkreise ihre Idee von Menschenwürde oder auch überhaupt keine? Hier
kehrt die Zentrismusproblematik der Ein- und Ausgrenzung, Über- und Unterordnung
wieder, nun freilich nicht als Selbstüberhöhung der Menschenart und Naturverachtung,
sondern in einem innerartlichen ("intraspeziellen") Format. Sie kehrt wieder unter dem
Stichwort des Kulturrelativismus und als dessen Schatten Kulturhegemonismus. Als
politisches Konstrukt betrachtet, fällt die Idee der Menschenwürde in den Prozeß des
allseitigen Konkurrenzkampfs politischer Ideen mit politischen Mitteln. Kolonialherren in
Indien konnten freilich durch geschickte Religions- und Kulturpolitik, notfalls auch mit
1
Gewalt, ihre - unsere! - Idee der Menschenwürde politisch-strategisch durchsetzen; aber steht
dafür ein legitimierender und nicht bloß rationalisierender Gedanke zur Verfügung, der
besagt: Unsere Idee der Menschenwürde ist genausogut die Idee derer, denen wir sie jetzt
noch oktroyieren müssen?
2
hinzutreten muß das "durch bestimmte Methodologien, z.B. durch Analogieschluß und andere Arten des Denkens
abgeleitete Gesetzessystem" (Antes 1984:53), melioristisches Interpretationsprodukt eines ständigen
Auslegungsgeschehens durch islamische Rechtsgelehrte. Im Strafrecht gelten uns viele vorgeschriebene Strafen als
barbarisch, z.B. die Steinigung für vollverantwortlich begangenen Ehebruch der Frau, die Todesstrafe für
Glaubensabfall und das Auspeitschen bei Weingenuß. Besonders markant im Feld von Heiratsregeln, Besteuerungsgrundsätzen, Bürgerrechten, politischen Rechten und religiösen Konvertierungsregeln zeigt sich eine
systematische Diskriminierung Andersgläubiger in der Umma (vgl. Antes 1984:71). Die Religionsgemeinschaft
selber ist wegen der Sanktionierung des Austritts mit dem Tod eine unmittelbare Zwangsgemeinschaft. Für das
Verhältnis von Muslimen zu Andersgläubigen ist eine Leitvorstellung bedeutsam, mit der sich die Muslime immer
an die Spitze aller Kommunitaristen gesetzt haben: Es ist die "Wunschvorstellung von der islamischen
Glaubensgemeinschaft als Modellfall für die übrige Menschheit, entsprechend den koranischen Kernsätzen (...) Ihr
seid die beste Gemeinschaft, die je für die Menschheit hervorgebracht wurde und (...) Fürwahr, Wir haben euch zu einem Volk
der Mitte gemacht" (Durán 1991).
1
2
Ein Beispiel war das Verbot von Witwenverbrennungen in Indien durch die englische Kolonialregierung.
An diese abstrakt scheinende Frage knüpfen sich unmittelbar massive rechtlich-politische Konsequenzen,
wenn man sie auf konkrete Probleme bezieht. Wenn französische Schulbehörden Kopftuchfreiheit in den
Schulklassen erzwingen, befreien sie dann (im Namen universalistischer Gleichstellungsgebote) oder unterdrücken sie
(als Hegemonialmacht einer bestimmten Kultur)? Wenn im europäischen Rechtsraum Staatsbürgern afrikanischer
Herkunft verboten wird, Klitorisbeschneidungen zu praktizieren, egal ob diese Praxis ist in den Üblichkeiten der
Kultur, mit der sie sich identifizieren, tief verankert ist, befreien wir dann (im Namen unserer Menschenwürdeidee)
oder unterdrücken wir (als Agenten eurozentrischer Kultur)? Im ersten Fall, so scheint es uns, komme es stärker auf
die individuellen Umstände an als im zweiten. Aber auch im zweiten Fall ist die Meinungsbildung nicht so
eindeutig und einheitlich wie wir wünschen, wenn wir die betreffende Praxis als empörenden Barbarismus
verurteilen.
18
Zweifellos ist unsere Idee der Menschenwürde universalistisch, d.h., sie respektiert
intrinsisch keineswegs den Kulturrelativismus in bezug auf sich selbst. Zwar zieht die
Menschenrechtsdeklaration der UN aus dem Hut unserer Menschenwürdeidee auch ein
Menschenrecht auf die eigene Religion. Aber dieses Menschenrecht folgt unter Voraussetzung
der politischen Idee der Menschenwürde. Eine Religion, die intern die politische
Menschenwürdeidee (und die aus ihr folgenden Menschenrechte) nicht unterstützt oder die sie
sogar negiert, würde sich damit auch aus dem Geltungs- und Schutzbereich des
Menschenrechts auf Religionsfreiheit katapultieren. (Und was hätten wir hiergegen
einzuwenden?)
Mißtrauisch stimmen muß uns freilich die lange Reihe der europäischen und USamerikanischen Ideen, die, stets mit starkem universalistischem Selbstverständnis ausgestattet,
sich noch immer als Imperialismus entpuppten. Erinnert sei an die Ideen wirtschaftlicher
Entwicklung, die der internationalen Entwicklungspolitik bis Ende der 60er Jahre zugrunde
lagen. Sie verschafften vorgeblich universalen Entwicklungsmodellen faktisch eine weltweite,
kulturelle Unterschiede tatsächlich transzendierende Geltung. Ihr vermeintlich gerechtfertigter
Universalismus verschaffte denen, die diese Entwicklungsmodelle durchsetzten, ein gutes
Gewissen. Ein solcher salavatorischer Universalismus vertuscht moralische Kosten unter dem
idologischen Schleier moralischer Scheinlegitimation.
Könnte sich auch unsere Idee der Würde aller Menschen als bloß unsere Idee
1
herausstellen? Als politische Idee betrachtet, ist das nicht a priori auszuschließen, doch als
moralische Idee? Die Frage ist, ob der universalistische Anspruch "getestet" werden kann.
Universalistische Geltungsansprüche können nur im argumentativen Diskurs "getestet",
nämlich mit möglichst guten Gründen gerechtfertigt, werden.
2
Kann eine moralische Idee
vom Subjekt der Menschenwürde, ungeachtet ihrer europäischen Genese, dann für beide
Parteien (Opponent und Proponent) aus denselben Gründen überzeugen? Das ist das
eigentlich philosophische Begründungsproblem. Von seiner Lösung hängt ab, ob wir sagen
dürfen (wie wir gerne würden), daß der Moralbegriff der Menschenwürde zwar eurogen, aber
1
2
Vgl. Jimmy Carters sogenannte Menschenrechtspolitik und ihr Scheitern.
D.h. unter Interaktionsbedingungen, wo z.B. der Kolonialherr nicht mehr nur als Kolonialherr, der Brahmane
nicht mehr nur als Brahmane, der Paria nicht mehr nur als Paria auftritt.
19
nicht eurozentrisch ist. Eurozentrische und andere Bornierungen in der Geschichte des
politischen Begriffs der Menschenwürde, die nicht weniger Grauen erregen als die Geschichte
der Inquisition der katholischen Kirche, ließen sich dann als ideologiekritisch zu erklärende
Verzerrungen des universalistischen Gehalts, der im Moralbegriff der Menschenwürde
repräsentiert ist, begreifen.
Universalistische Gehalte können ihre partikularistische
Pervertierung nicht ausschließen und machen deshalb ein affirmatives Festhalten am
Universalismus zu einer schwer erträglichen Haltung. Die empörte Zurückweisung aller
universalistischer Prätentionen erscheint hingegen als emotional verständliche Reaktion, ist
aber keine konsistente Alternative.
4. Was heißt es, Würde zu haben?
Um das Begründungsproblem zu explorieren, betrachte ich die doppelte Logik Zuschreibungslogik und Rechtfertigungslogik -, die den moralischen, rechtlichen und
politischen Menschenwürdebegriff gleichermaßen regiert.
Mit Hilfe dieser Unterscheidung können wir sagen: Menschenwürde ist ein Begriff, der
einen präskriptiven Gehalt (Menschenwürde) und einen deskriptiven Gehalt (Menschenwürde)
hat.
Auf
der
Basis
des
deskriptiven
Gehalts
wird
der
Begriff
zugeschrieben
(Zuschreibungslogik), und auf der Basis des präskriptiven Gehalts etabliert der Begriff
bezüglich aller so-und-so beschaffenen Subjekte, denen er zugeschrieben wird, etwas mit
Sollgeltung, die vernünftig begründet werden kann (Rechtfertigungslogik). Kraft seines
deskriptiven Gehalts erstreckt sich der Begriff der Menschenwürde auf jeden einzelnen
Menschen. Was Menschenwürde vorschreibt oder verbietet, ist vorgeschrieben oder verboten
in bezug auf alles, was Menschenantlitz trägt.
Die Zuschreibungslogik klärt die Frage, wie etwas beschaffen sein muß, um Subjekt von
Zuschreibungen von Menschenwürde zu sein. (Wem oder was schreibt man etwas zu, wenn
man Menschenwürde zuschreibt?)
20
Wenn der Menschenwürdebegriff einen präskriptiven, d.h. vorschreibenden oder
verbietenden Gehalt G hat, dessen Präskriptivität von der Art des moralischen Sollens ist (so
daß wir auch statt "präskriptiv" einfach "normativ" sagen könnten), dann gilt G von allem, was
ein Mensch ist. Ob x ein Mensch ist, sieht man. Im Zweifelsfall sagt es uns die Biologie. Denn
ob x ein Mensch ist, ist eine empirische Frage: Wenn der empirisch-deskriptive Begriff des
Menschen
durch
bestimmte
(notwendige
und
zusammengenommen
hinreichende)
Eigenschaften definiert ist, und x hat diese Eigenschaften, dann fällt x unter jenen Begriff. Aber
hat der Menschenwürdebegriff einen präskriptiven Gehalt? Und welchen?
Die Rechtfertigungslogik klärt zwei Fragen: Erstens die Frage, was der so zugeschriebene
präskriptive Gehalt ist, d.h., was, insofern x Menschenwürde hat, für x und in bezug auf x zu
tun oder zu lassen geboten und verboten ist. (Worin besteht Menschenwürde?) Die zweite
Frage, die die Rechtfertigungslogik klären muß, ist die Frage, aufgrund wessen der
zugeschriebene präskriptive Gehalt präskriptiv ist, d.h., woher die Präskriptivität der
Menschenwürde rührt und wodurch sie die Autorität des moralischen Sollens hat. (Wodurch
verpflichtet Menschenwürde?)
Bevor Anworten auf diese Fragen betrachtet werden können, muß geklärt werden, was wir
1
meinen, wenn wir von jemandem, x, sagen, daß x eine (bestimmte) Würde habe. Das ist u.a.
deshalb unerläßlich, weil Würdehaben, Würdezeigen und sich einer Würde bewußt sein zu
2
unterscheiden sind. Ich schlage für das Phänomen des Würdehabens die folgende Analyse
vor:
1
Diese Klärung verdeutlicht die Struktur des Phänomens; sie soll keine notwendigen und hinreichenden
Bedingungen für die Bedeutung von "Würde" aufstellen, denn so gesehen wäre sie zirkulär.
2
Die mögliche Verwirrung hat ihren sachlichen Grund in der Mühe der Differenzierung von konventionellen
und postkonventionellen Würdebegriffen. Auch ein Löwe kann Würde zeigen (Spaemann 1987), und zwar in
anthropomorpher Analogie zu der Weise, wie z.B. ein edler Krieger (den es ja gegeben haben soll) Würde zeigen
kann. Aber dieser expressive Sinn von Würdezeigen ist nicht normativ, schon deshalb nicht, weil keine Expression
von Subjektivität vorliegt. Die Würde, die der Löwe (für uns) zeigt, ist nicht Ausdruck eines Bewußtseins seiner
Würde. - Rechte zu beanspruchen, ist eine unter Menschen anerkannte, vorzügliche Weise, auf die eine Person
normalerweise ein Bewußtsein ihrer Würde ausdrücken kann. Solches Ausdrucksverhalten ist expressiv, aber nicht
nur dies, sondern als performative Handlung. Feinberg (1970) hat sogar versucht, Menschenwürdehaben auf
Rechtebeanspruchenkönnen zu reduzieren. Daß dies scheitert, beweist Meyer (1989). Meyers Analyse der
Expressivität von Würdezeigen ist auch ein gutes Antidot gegen die reduktionistische Verabsolutierung von
Luhmanns Beobachtung, daß Würde mit Takt als Bedingung gelingender Selbstdarstellung in der Kommunikation
zu tun hat. (Auf diese Verabsolutierung fällt Giese (1979) herein.)
21
Würde zu haben, das bedeutet für x:
(1) von anderen anerkannt zu werden,
(2) als deren Beachtung (deren Respekt) beanspruchend, und zwar
(3) in bestimmter Weise, nämlich passend zu derjenigen Würde,
(4) als deren Träger sie (die anderen) x anerkennen.
1
5. Zuschreibungslogik
Ich möchte einen wichtigen Zug der Zuschreibungslogik des Menschenwürdebegriffs, den
man mit dem Stichwort der "Unverlierbarkeit der Menschenwürde" bezeichnen kann, am
Sprachgebrauch demonstrieren.
Man kann bei Gott oder bei sonst etwas, das einem heilig ist, schwören, d.h. in sakral
bekräftigter ritueller Weise ein Versprechen geben. Aber man kann nicht bei der
Menschenwürde jemandem etwas schwören oder versprechen. "Bei meiner Menschenwürde
verspreche ich, mich für x einzusetzen!", klingt begrifflich deplaziert, weil meine
Menschenwürde etwas ist, das ich nicht verlieren kann, egal was ich tue. Ich kann sie also auch
dann nicht verlieren, wenn ich Versprechen breche, die ich durch Berufung auf meine
Menschenwürde bekräftigt habe. Sie ist unverlierbar, d.h. sie plaziert mich und jeden
einzelnen Menschen vis-à-vis allen anderen Menschen im moralischen Raum so, daß meine
Menschenwürde nicht von Bedingungen abhängt, unter denen die Anderen sie mir
zuschreiben. Sie verlangt von den anderen, mir zugeschrieben und dadurch anerkannt zu
werden, aber sie erscheint den Regeln solcher Zuschreibungen gegenüber vorgeordnet,
vorausgesetzt; sie wird durch Zuschreibungen zwar attribuiert, aber nicht konstituiert. Solche
Zuschreibungen erscheinen weder als eine notwendige noch hinreichende Bedingung meiner
Menschenwürde. Darauf, sie zugeschrieben (d.h. kraft Anerkennung durch andere Personen
affirmiert) zu bekommen, habe ich und hat jeder andere Mensch ein unbedingtes Recht, ein
1
Aus der Perspektive der ersten Person Singular gesprochen, besagt diese Analyse:
Würde zu haben, das bedeutet, für mich:
(1') von euch anerkannt zu werden,
(2') als eure Beachtung (euren Respekt) beanspruchend, und zwar
(3') in bestimmter Weise, nämlich passend zu derjenigen Würde,
(4') als deren Träger ihr mich anerkennt.
22
unbedingtes Recht darum, weil die fällige Zuschreibung seitens der anderen ja nur Ausdruck
ihrer Anerkennung von etwas ist, das ich und das jeder andere Mensch unbedingt hat. Was ein
Mensch aber unbedingt hat, kann er nicht loswerden, weder an andere übertragen noch
verlieren.
Doch was hat das Possesivpronomen "mein" hier zu besagen? "Meine Menschenwürde" hat
nicht den selben Sinn wie "mein Besitz". Daß etwas ein möglicher Besitz ist, heißt, daß es unter
gewissen Bedingungen mein Eigentum sein kann und unter anderen Bedingungen nicht. Im
Begriff des Besitzes liegt normalerweise die Kontingenz des Besitzes. Wenn man
Menschenwürde also als Besitz bezeichnen wollte, so müßte man sie einen absoluten (im Sinne
von nichtkontingenten) Besitz nennen. Die Analogie zum Besitz wird durch die Disanalogie von
Kontingenz und Nichtkontingenz zwangsläufig mißverständlich. Das zeigt besonders ein Blick
auf die Rechtsrhetorik, die den rechtlichen Menschenwürdebegriff im Grundgesetz umgibt.
"Die Würde des Menschen ist unantastbar." Als dreiste Deklaration erscheint uns dieser
Satz, wenn wir millionenfache Verletzungen und Bedrohungen der Menschenwürde anklagen.
Mißglückt ist der Satz, weil er sich als eine Feststellung auffassen läßt, statt als absolute
Forderung. Was unantastbar ist, läßt sich weder verletzen noch bedrohen, und es braucht und
kann nicht vor dem Antasten geschützt zu werden.
1
Auf eine Eigenschaft, in deren Besitz
jeder schon ist, kann sich niemand berufen, um herrschendes Unrecht zu kritisieren. In der
offiziellen englischen Übersetzung unserer Verfassung ist der absolute Forderungscharakter
der Rechtsidee der Menschenwürde besser ausgedrückt: "The dignity of man shall be
inviolable. To respect and protect it shall be the duty of all state authority" (Meyer & Parent
1992:2).
Mißverständlich wird der Unantastbarkeitssatz, weil er ohne weitere Erläuterung dem
Grundgesetz vorangestellt wird. Den Anschein des Selbstverständlichen, des Beken1
Vgl. Gieses (1979:45f.) Kritik an Dürigs "Behauptung der Würdeunverlierbarkeit". Der "Hintergrund dieses
Satzes sind historische Ereignisse der wirklichen empirischen Welt, nämlich: die Atombomben auf Hiroshima und
Nagasaki, die Konzentrationslager und Gaskammern von Auschwitz und Dachau. Angesichts zuwiderlaufender
Erfahrung stellt Art. 1 Abs.1 Satz 1 GG als Rechtsnorm die Unantastbarkeit der Würde als Desiderat fest, nicht als
Seinsgegebenheit. Normen, die Wirklichkeit produzieren wollen, behaupten etwas beschwörend als wahr, was
nicht unmittelbar der Fall ist. Damit widersprechen sie dem, was der Fall war, in der Weise, daß Wiederholbarkeit
ausgeschlossen wird. Die Setzung einer Norm verweist auf Enttäuschung der nunmehr normierten Erwartung in
der Vergangenheit. Die Kopula des interpretierten Satzes verurteilt Verhältnisse, die die Kopula in ihrer Negation
bewahrheitet hatten."
23
ntnishaften, keiner Erläuterung bedürftigen oder fähigen, müssen wir als ein rechtsrhetorisches Stilmittel verstehen, um ihn nicht mißzuverstehen. Der Unantastbarkeitssatz codiert
stilistisch die historische Erfahrung, in deren Kontext er formuliert wurde, nämlich die
Situation Deutschlands 1945. "Zweifellos ist das Bekenntnis zur Menschwürde durch die
Verachtung und Erniedrigung des Menschen in der Zeit der nationalsozialistischen
Gewaltherrschaft geprägt", erläutert der ehemalige Verfassungsrichter Ernst Benda (1987:14).
Es "bestand Einigkeit darüber," - so Benda weiter - daß nach den Erfahrungen des "Dritten
Reiches" der Mensch niemals wieder zum Objekt einer Gemeinschaftsideologie degradiert
werden dürfe. "Wenn das BVerfG [Bundesverfassungsgericht] in einer sehr frühen
Entscheidung darlegte, daß Art. 1. Abs.1 nicht eine Pflicht des Staates zum Schutz vor
materieller Not, sondern gegen Angriffe auf die Menschenwürde durch andere, wie
Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung usw. meine, so entsprach das ganz dem
damaligen Verständnis der Norm als einer Reaktion auf das historisch erfahrene Unrecht"
(Benda 1987:15).
1
6. Rechtfertigungslogik
6.1 Aporien naturrechtlich-metaphysischer Rechtfertigungslogik
Die Rechtfertigungslogik des Menschenwürdebegriffs kann nicht auf naturrechtliche
Fundamente gestellt werden. Alle naturrechtlich begründete Ethik vor Kants kopernikanischer
Wende versucht, sich an einer objektiven Seinsordnung des Vorzugswürdigen auszurichten.
An der Spitze dieser Ordnung soll das summum bonum, das höchste Gut, stehen. An dieser
Ordnung muß sich der menschliche Wille, wenn er gut sein will, orientieren. Die
Naturrechtslehre, die nicht nur für die Scholastik sondern auch für viele katholische
Moraltheologen noch heute einen selbstverständlichen Hintergrund bildet, beruht auf der
Annahme, daß diese axiologische (wertmäßige) Seinsordnung nicht auf menschliche Setzung
und Vereinbarung zurückgeführt werden kann. Sie steht über allen menschlichen
1
Übrigens liegt in dieser historischen Erinnerung keine kontextualistische Relativierung, etwa auf spezifisch
deutsche Erfahrungen, einen "deutschen Sonderweg" o.ä., denn auch der Verfassung Kanadas ist der
Menschenwürdegrundsatz vorangestellt.
24
Rechtssetzungen, die nur pragmatisch-konventioneller Art sind. Naturrecht steht über dem
positiven Recht.
Plausibel ist ein derartiger Ordnungsgedanke freilich nur unter folgenden Prämissen,
deren Zusammenhang die Begründungsstruktur des Naturrechts wiedergibt:
1
"1. Die Welt ist eine Art von Kosmos .
2. Die Welt ist von Gott erschaffen worden.
3. Sie wird von ihm nach einer vernünftigen Richtschnur regiert, der lex aeterna, deren
Maßstab die exemplarischen Ideen im Intellekt Gottes sind.
4. Der Mensch hat erkennenden Zugang zur lex aeterna.
5. Sofern er diesen Zugang hat, existiert eine lex naturalis." (Specht 1973:47).
Gegen diese Begründungsstruktur lassen sich starke Zirkularitätseinwände machen. Denn
offensichtlich wird in (1)-(3) ein Naturbegriff vorausgesetzt, der im Ansatz schon normativ
aufgeladen ist, um dann aus diesem Begriff der Natur und einer naturgemäßen Seinsordnung
eine Wertordnung zu entwickeln, die eigentlich vorausgeht und die nachträglich in die
Seinsordnung nur hineinprojiziert wird.
2
6.2 Aporien jüdisch-christlicher Rechtfertigungslogik
Die moderne Idee der Menschenwürde ist ohne den Traditionshintergrund des religiösen
jüdisch-christlichen Menschenbildes vielleicht nicht einmal denkbar. In jenem Bild vom
Menschen sind alle einander darin gleich, daß sie von Gott geschaffen, gottesebenbildlich und
alle gleichermaßen Besitzer einer göttlichen Seele sind. (In dieser Eigenschaft, Verkörperung
einer göttlichen Seele zu sein, gründet die Vorstellung vom unendlichen Wert des
3
Individuums als solchem. Das Christentum hat das Individuum gleichsam erfunden.) Vor
1
"Kosmos" bei Specht im Sinne einer fertigen, geschlossenen Ordnung.
2
Für eine differenziertere Darstellung der Stärken undd Schwächen des Naturrechtsdenkens siehe Ellscheid
(1989).
3
Ich vermute, daß die merkwürdige Modalität der Unverlierbarkeit, die in allen modernen (postkonventionellen) Menschenwürdebegriffen auftaucht, sich nur im Bezugsrahmen der christlichen Vorstellung von der
Gottesebenbildlichkeit des Menschen als Qualität konsistent denken läßt. Denn einen Verlust der
Gottesebenbildlichkeit kann es nicht geben; sie bildet nach verbreiteter theologischer Auffassung einen "character
indelebilis" (vgl. Thielicke 1972). Außerhalb eines dualistischen Rahmens von Diesseits-Jenseits Realitäten erscheint
25
Gott sind alle Menschen als beseelte Geschöpfe gleich, und wenn wir einander aus dem
Blickpunkt Gottes betrachten könnten, käme uns diese Gleichheit im Angesicht Gottes auch als
Gleichheit von Angesicht zu Angesicht des Mitmenschen zu Bewußtsein.
In dieser Gleichheit aller aus dem Blickpunkt Gottes liegt vermutlich die ideengeschichtliche Erklärung des radikalen Egalitarismus und der Inkommensurabilität in der Idee
der Menschenwürde, wie wir sie kennen: Menschenwürde kommt allen Menschen zu, jedem
Einzelnen in gleichem Maße ungeachtet aller Unterschiede zwischen Menschen.
Was wird aus Egalitarismus und Inkommensurabilität der Menschenwürde ohne
christlichen Gott? Man müßte interkulturell einmal vergleichen, ob, wodurch und wie-weit die
Menschen-
und
Gottesbilder
nicht-christlicher
Religionen
eine
ähnliche
Idee
von
Menschenwürde, wie die in Europa ausgeprägte, unterstützen. Man könnte dann indirekt
testen, welche Züge im Bild von Mensch und Gott in einem religiösen Weltdeutungsmuster
relevant sind für die Züge der Egalität und Inkommensurabilität, die die moderne europäische
Deutung der Menschenwürde aufweist. Wenn meine These stimmt, daß Egalitarismus und
Inkommensurabilität säkularisierte Interpretamente der menschlichen Gottesebenbildlichkeit
und der Ausstattung mit einer singulären unsterblichen Seele sind, dann sollte die moderne
Menschenwürdeidee von nichtchristlichen Religionen unterstützt werden, soweit diese
Sinnäquivalente für Gottesebenbildlichkeit (des Menschen) und Seelensingularität (jedes
einzelnen Menschen) aufweisen.
1
die Vorstellung, eine menschliche Person habe und behalte eine allen anderen Menschen respektgebietende
Qualität, vollkommen gleichgültig wie monströs sich die Person aufführt, einfach absurd, und es ist eine der härtesten
Zumutungen postkonventioneller Moral, daß wir gegenüber einem Menschen, der die Menschenwürde anderer
verachtet, nicht entpflichtet sind. Die postkonventionelle Idee der Menschenwürde durchbricht das quid pro quo.
Zwar dürfen wir uns gegen den, der Menschenwürde aktuell abweist, nicht so verhalten, als akzeptierte er sie. (Daß
solche Naivität auch moralisch verboten ist, habe ich unter dem Stichwort "Strategiekonterstrategie" (Kettner
1992a:346f.) erläutert.) Wir müssen annehmen, er könnte sie akzeptieren. Als potentielles Opfer eines Kriegsverbrechers, der bestialische "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" begeht, wird man sich wehren wie gegen ein
wildes Tier. Der Handlungsdruck von Notwehrsituationen macht diese moralisch tragisch. Entlastet von solchem
Handlungsdruck überzeugt der Gedanke, daß, wer den Folterer foltert, ihm gleich würde; daß "Verbrecher gegen
die Menschlichkeit" vor ein geeignetes Tribunal gestellt, verurteilt und bestraft werden müssen; daß es gegen
Feinde der Menschlichkeit keinen totalen Krieg, in dem alles erlaubt wäre, geben darf. Unter diesem Aspekt läßt sich
Menschenwürde vielleicht als der Begriff desjenigen Minimums einführen, das auch noch konterstrategische
Handlungsmöglichkeiten restringiert.
1
Verglichen werden müßten etwa die Religionen der ewigen Widergeburt, die eine graduelle, degenerierbare
und regenierbare Würde annehmen. Ein solcher Würdebegriff, so scheint es, paßt in eine hierarchisch strukturierte
Gesellschaft (Feudalismus, Kastenwesen), aber nicht mehr in eine funktional ausdifferenzierte Gesellschaft.
26
Man darf nicht aus dem Blick verlieren, daß Menschenwürde zwar (nach unserem
Verständnis) jedem einzelnen Menschen zukommt, daß die Würde, die da jedem einzelnen
zukommt, jedoch keine monadische, sondern eine relationale Eigenschaft ist, die sich vielleicht
auf die Menschheit als Gattung bezieht. Ein Argument, das die Menschenwürde des einzelnen
aus der Zugehörigkeit zur Menschengattung und die Kostbarkeit der Menschengattung, des
Menschen an sich, aus dem besonderen Verhältnis dieser Gattung zu Gott herleitet, ist das
onto-theologische Argument aus der Geschöpflichkeit des Menschen: "genitum non factum",
geschaffen, nicht hergestellt, heißt es im Schöpfungsmythos der Bibel. "Die Kostbarkeit des
Menschen an sich, also nicht nur für den Menschen, macht sein Leben zu etwas Heiligem, und
sie gibt dem Begriff der Würde erst jene ontologische Dimension, ohne welche das mit diesem
Begriff Gemeinte gar nicht gedacht werden kann. Der Begriff der Würde meint etwas Sakrales:
Er ist ein im Grunde religiös-metaphysischer" (Spaemann 1987).
Offenbar sehen viele in Versuchen, für ein vermeintlich Absolutes Grundlagen zu finden,
bereits gefährliche Säkularisierungs- und Relativierungsversuche. So meint etwa der
Rechtsphilosoph Martin Kriele (in Böckenförde & Spaemann 1987:315), daß die Würde an der
Geschöpflichkeit des Menschen hänge, nicht aber an seiner Vernunft und auch nicht - das geht
gegen Kant - an der praktischen Vernunft, die ihre Träger als pflichtfähige Wesen qualifiziert.
Ich sehe jedoch nicht, was die Vorstellung der "Geschöpflichkeit" noch bedeutet, sobald die
Vorstellung eines Schöpfergottes ihre Plausibilität einbüßt. Und diese Vorstellung hat für viele
Menschen ihre Plausibilität eingebüßt, die sich gleichwohl auf Menschenwürde berufen.
Entweder also ist solche Berufung eine hohle Geste, nachgeahmte Religiösität nach dem Tod
Gottes, oder die moderne Idee der Menschenwürde ist modern auch darin, daß ihre Evidenz
auf Grundlagen umstellbar ist, die das Wegbrechen religiöser Glaubensgründe unbeschadet
überstehen.
1
Feststellungen, was in welche Gesellschaft paßt oder nicht paßt, sind aber nur empirische Aussagen und noch keine
normativen Rechtfertigungen.
1
R. Löw (1990:24) erinnert in seiner Darstellung der "anthropologischen Grundlagen einer christlichen
Bioethik" daran, daß die Idee einer prinzipiellen Gleichheit aller Menschen eine junge politische Idee ist, die vor der
Mitte des 18. Jahrhunderts allenfalls als religiöse Idee wirklich war, "und zwar als ein christlicher Glaubensinhalt:
daß jeder Mensch Gottes Ebenbild sei." Die Aufklärung versuchte dann, diese universalistische Anthropologie
beizubehalten und zugleich, religionskritisch, von ihrer metaphysisch-religiösen Autoritätsbasis zu befreien, indem
diese auf die Autoritätsbasis einer natürlich, allen Menschen potentiell innewohnenden Vernunft umgestellt wird.
Die allgemeine Evidenz dieser Idee zehrt aber, meint Löw, parasitär von dem Verallgemeinerungsmedium der
27
Ist religiöser Glaube für die Anerkennung der Menschenwürde notwendig? Die definitive
Bejahung dieser Frage würde die Akzeptanz der Menschenwürdeidee auf sehr viel weniger
allgemeinverbindliche Gründe stellen als der in dieser Idee selber ausgedrückte Anspruch.
Einen universalistischen Geltungsanspruch mit partikularen Gründen einlösen zu wollen, ist
unmöglich und daher irrational. Mir scheint, wir sollten eher umgekehrt fragen: Steht denn die
Menschenwürde zu mißachten dem frei, der nicht glaubt? Können wir den, der die
Menschenwürde mißachtet, wirklich nicht moralisch verachten, z.B. darum, weil er kein Christ
ist? Solche Zurückhaltung erscheint mir nicht als angemessener Ausdruck von moralischer
Bescheidenheit, sondern als absurder Relativitismus. Und diese Beobachtung spricht deutlich
gegen die Annahme, religiöser Glaube sei eine notwendige Bedingung für die Anerkennung
der Menschenwürde. Denn wenn dem so wäre, könnten nur Gläubige einander mit Recht
Menschenrechtsverletzungen vorwerfen.
Freilich - wenn der Konsens, der die Achtung der Menschenwürde trägt, ein pluraler
Konsens ist, dann können z.B. auch Atheisten die Menschenwürde achten (oder bewußt
verachten). Man kann die Menschenwürde sogar achten, ohne sie überhaupt begründen zu
können. Denn es gibt kein Rationalitätspostulat, das verlangen würde, allein nur solches zu
achten, was ich als begründet einsehe. Freilich kann ich dann jemandem, der an
Menschenwürde nicht glauben will, nicht vorwerfen, er handle wider die Vernunft oder "wider
besseres Wissen". (Aber dieser Vorwurf ist ohnehin nicht immer der treffendste; es gibt
stärkere.)
Von der Art der Gründe, die wir zur Rechtfertigung der Menschenwürdeidee anzubieten
(oder auch nicht anzubieten) haben, hängt offenbar auch ab, welche Konsequenzen wir zu
ziehen berechtigt sind gegenüber jemandem, der die Menschenwürde - gleich aus welchen
Gründen - mißachtet.
Ich schließe an dieser Stelle die Betrachtung religiös-metaphysischer Rechtfertigungslogiken ab. Sie erbringen
kein Fundament, auf dem eine allgemeinverbindliche
christlichen Religion: "Eines war diesem aufgeklärten, universalistischen Menschenrechtsdenken allerdings
entgangen: daß es selbst zunächst einmal die partikulare Idee einiger europäischer Intellektueller war, deren
allgemeine Evidenz vorläufig noch darauf beruhte, daß die wesentliche Gleichheit aller Menschen als christlicher
Glaubensinhalt allgemein präsent war. Die Säkularisierung dieses Inhalts mußte den Prüfstein dafür abgeben, wie
tragfähig die Menschenrechtsidee war." Löw meint natürlich, die hier ansetzende Dialektik sei nur negativ: eine rein
säkulare Menschenrechtsidee sei ein Unding. - Aber diese Annahme bleibt bei Löw bloße petitio.
28
Rechtfertigungslogik dem ungesättigten Würdebegriff einen Inhalt anweisen könnte. Ich
betrachte nun die Aporien, in welche einige nichtreligiöse Rechtfertigungswege führen.
6.3 Aporien säkularer Rechtfertigungslogik
Inkommensurabilität, gleicher Respekt und Quantitätsfrage
Wenn die Idee der Menschenwürde als eine Gleichheit des Respekts, den menschliche Personen
allem, was menschliches Antlitz trägt (also auch Komatösen und anderen menschlichen
Noch-nicht-Personen oder Nicht-mehr-Personen) schulden, ausgelegt wird, so lädt die
Kategorie der Gleichheit sofort zur Frage nach intensiver und extensiver Größe ein: Welchen
Grad soll der Respekt haben, und auf wieviele der unzähligen menschlichen Eigenschaften,
z.B. Bedürfnisse, die Ansprüche stellen, denen entsprochen werden könnte, soll sich der
schuldige Respekt erstrecken? Auch wenn jeder jedem einen vernachlässigbar kleinen, also fast
gar keinen Respekt entgegenbrächte, wäre ja der Gleichheitsforderung Genüge getan.
Überspitzt gesagt: Kein Respekt für irgendjemand ist so gleich wie maximaler Respekt für
jeden.
Soll ich (und jeder gleich mir) von dem Respekt ausgehen, den ich mir selber
entgegengebracht sehen möchte, und die Menschenwürdeidee so auslegen, daß sie mir einen
Grund gibt, dasselbe Maß von Respekt allen anderen entgegenzubringen und von allen zu
fordern, daß ein jeder sich selbst und allen übrigen eben dasselbe Maß von Respekt
entgegenbringe? Was aber, wenn ich eine Person bin, die gar nicht wünscht, daß ihr besonders
viel Respekt entgegengebracht werde? Oder die nur ein sehr geringes Maß von Respekt
wünscht und ihrerseits anderen entgegenzubringen bereit ist? Eine, die meint, die Welt wäre
besser dran, wenn mehr Mitmenschen glaubten, mehr Mitmenschen weniger Respekt
entgegenbringen zu müssen? Das klingt freilich kontra-intuitiv, weil ich, wie wohl die meisten,
eher das Gegenteil sagen würde. Wir würden natürlich sagen, daß die Welt besser dran wäre,
wenn mehr Mitmenschen mehr Mitmenschen mehr Respekt entgegenbringen würden. Aber
wieviel mehr? Gibt es Obergrenzen? Gibt es überhaupt Grenzen? Wer setzt sie fest? Oder ist es
wie beim Sammeln, und jeder gibt soviel Respekt in den großen Hut, auf dem
Menschenwürde geschrieben steht, wie er geben kann oder geben möchte?
Oben haben wir bei der Erläuterung der Zuschreibungslogik gesehen, daß die Gleichheit
des Respekts, den alle allen schulden, eher binär strukturiert ist, nämlich koextensiv mit der
29
binären Mensch/Nichtmensch Unterscheidung. Darin ist ein jeder Mensch jedem anderen
Menschen gleich, daß er Mensch ist. Das ist deskriptiv formuliert. Normativ formuliert müssen
wir sagen: Darin sollen alle Menschen einander gleich sein, daß jeder, der Mensch ist, von
jedem, der Mensch ist, derjenigen Anerkennung sicher ist, die damit einhergeht, daß er ein
Mensch ist. Aber wie ist die Anerkennung bestimmt, die damit einhergeht, daß jemand ein
Mensch ist? Wodurch begründet sich eine mit dem Menschsein gesetzte Würde?
Die Frage nach dem Grund des anthropozentrisch-egalitären Respekts
Worauf am Menschen bezieht und worauf gründet sich der anthropozentrisch-egalitäre
Respekt? So lautet die rechtfertigungslogische Frage. Eine mögliche Antwort heißt: Auf die
Würde des menschlichen Lebens. Worin besteht das am menschlichen Leben, was wir seine
Würde nennen müßten?
Vor einer bestimmten Antwort auf diese Frage können wir den Umriß möglicher und
unmöglicher Antworten skizzieren. Unmöglich sind Beschreibungen, die auf menschliches
genauso gut wie auf nichtmenschliches Leben passen, also z.B. biologische Beschreibungen.
Eine Antwort in Ausdrücken der Biologie führt nämlich dazu, daß wir eine analoge Würde
wie die Menschenwürde auch nichtmenschlichen Formen des Lebendigen zusprechen müßten.
Was menschlichem Leben eine Würde gibt, die alle menschlichen Personen zur Achtung
auffordert, kann allenfalls in einer Beschrei-bungssprache gefaßt werden, in der auch unsere
Wertschätzungen unseres eigenen menschlichen Lebens ausgedrückt werden können.
Kontinuität des Lebensvollzugs
Wie schätzen wir unser eigenes Leben? Ist die Kontinuität meines Lebensvollzugs für mich
von unendlichem Wert? Von so hohem Wert also, daß ich über diesen Wert hinaus mir etwas
von für mich höherem Wert nicht denken kann? Vielleicht. Aber ich könnte auch anders über
mein Fortleben denken. Wenn in allen Situationen die Kontinuität des eigenen Lebens für jeden
Menschen unendlich wertvoll wäre, hätte niemals jemand guten Grund, sein Leben zu
beenden, sei es für sich selbst, für irgendwen oder für irgendetwas. Es kann keinen guten
Grund für jemanden geben, etwas aufzugeben oder auch nur zu riskieren, das für diese Person
unendlich wertvoll ist. Daß aber jeder vernünftigerweise das Andauern seines Lebens unendlich
hoch schätzen müßte, dafür sehe ich nirgends ein überzeugendes Argument und ziehe hieraus
30
den Schluß, daß die Wertschätzung des Andauerns meines Lebens nicht dasjenige sein kann,
worin ich gleich allen Menschen mich auf einen Wert beziehen würde, der unermeßlich hoch,
also unverrechenbar, also "Würde", nicht "Preis" ist.
1
Mikrokosmos der Subjektivität
Zweiter Anlauf: Schätzen wir vielleicht an unserem Leben die subjektive Unendlichkeit dieses
Lebens unendlich hoch, eine Unendlichkeit der Erfahrungen, die dem Leben eines jeden
Menschen
aus
der
Binnensicht
dieses
Menschen
eine
Unvergleichbarkeit,
eine
respektfordernde Individualität gibt?
Wenn das so wäre, dann könnten wir sagen: Jeder Mensch lebt ein menschliches Leben,
und alle menschlichen Leben sind darin einander gleich, daß keines dem anderen gleicht.
Die Unvergleichbarkeit des individuellen menschlichen Lebens wäre dann das, worin jeder
Mensch jedem Menschen gliche; und was die Würde eines jeden Menschen gleichermaßen
ausmachte, wäre die Anlage, ein Leben zu führen, das aus der je subjektiven Perspektive die
unendliche Eigenschaftstiefe der konkreten Individualität hat ... Menschenwürde wäre eine
Figur des Erhabenen, des Respekts vor Unendlichkeit, hier vor der Unendlichkeit des
subjektiven Universums, in das jedes menschliche Leben sich entfaltet.
Aber dieser Gedanke ist unhaltbar, obwohl er der spezifisch modernen Verehrung für den
Mikrokosmos je einzigartiger Subjektivität ästhetisch entgegenkommt. Dieser Gedanke läßt
gerade diejenige Frage, auf die normativ alles ankommt, offen: Wieso nötigt mich das
unendliche Potential meiner subjektiven Erfahrungen zu reziproker Achtung des anderen
Menschen? Warum nicht nur zu Erstaunen oder zu asymmetrischen Gefühlen wie Stolz oder
Neid?
Mag auch das Erfahrungspotential eines jeden Subjekts unendlich sein, was davon
aktualisiert wird, ist gewiß weder unendlich noch allseits gleich. Viele Menschen führen
hundsmiserable Leben, viele kurze, viele lange Leben. Potentiell freilich kann jeder Mensch ein
erfülltes Leben leben. Manche dieser Leben sind sehr reich, andere sehr arm an Erfahrungen.
1
Vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 77. Der rhetorische Topos von der Würde, die alles
überragt, was nur von relativem Wert ist und daher bloß einen Preis hat, läßt sich schon bei Cicero nachweisen.
31
Ich glaube daher nicht, daß die Inkommensurabilität der in sich potentiell unendlichen
Individuen menschlichen Lebens den Menschenwürdebegriff normativ interpretieren kann.
6.4 Ein Ausweg: Die Inkommensurabilität natürlicher Personen als Ankerpunkte von
Moral
Moralisch relevant und begründungstheoretisch vielversprechend erscheint mir der Ansatz bei
einer anderen Inkommensurabilität, nämlich der Inkommensurabilität der natürlichen
Personen als den Ankerpunkten der Moral.
1
Bezugsproblem ist jetzt die Definition des Subjekts der Moral. Es geht darum, die Punkte
zu definieren, die das Netz moralischer Rücksichtnahmen auf eine bestimmte Weise im Raum
aller möglichen Entitäten verankern. Der Moralbegriff der Menschenwürde, lautet meine
These, löst dieses Problem; und er löst es, im Vergleich mit anderen möglichen Lösungen, auf
die rational beste Weise. Das ist seine normative Funktion: der Moral einen Adressatenbereich
reflexiv zu konstitutieren, durch Rückgriff auf eine in allen möglichen Moralsystemen
notwendige Eigenschaft, nämlich die Supervenienz von Moralregeln auf zurechnungsfähiges
Handeln. Zurechnungsfähiges Handeln ist für Menschen keineswegs immer und überall nur
das Handeln menschlicher Personen - darüber belehrt die kindliche Entwicklung ebenso wie
die Kulturgeschichte der religiösen Deutungssysteme -, es ist aber für Menschen immer und
überall unbezweifelbar auch das Handeln menschlicher Personen, nämlich ihr eigenes.
2
Die
Ankerpunkte für das Netz moralischer Rücksichtnahmen sollen einzelne Menschen sein, keine
kollektiven
Akteure
(wie
Paare,
Familien,
Volksgruppen,
Staatsvölker,
partikulare
Kommunikationsgemeinschaften, etc.) und auch keine nichtmenschlichen Wesen (Tiere,
Pflanzen,
unbelebte
Naturgebilde).
Diese
Vorgabe
drückt
der
moralische
Menschenwürdebegriff aus. Der Bereich dessen, was moralische Berücksichtigung erfährt,
kann selbstverständlich variieren - in manchen Ökoethiken schließt er Tiere, Pflanzen und
1
Ich vermeide an dieser Stelle eine Abgrenzung bestimmter Moralen voneinander. Unter "Moral" verstehe ich
hier ein System von Rücksichtnahmen, das Ideen der Gerechtigkeit aufnimmt und seinen Sitz in Lebensformen hat,
also die etica utens, nicht die philosophische etica docens.
2
Selbst in kultisch verankerten Moralen, die ihre Autorität aus dem Glauben an überweltliche Mächte und
Einrichtungen beziehen, sind es die Menschen selbst, die moralisch handeln müssen; unmöglich, daß die Götter (die
die Moral für die Menschen gestiftet haben) durch das Handeln der Menschen hindurchgreifen, um ihrerseits statt
der Menschen die moralisch Handelnden zu sein.
32
anderes ein -, aber salva rationalitate so, daß er die Wesen, von denen etwas moralische
Berücksichtigung erfahren kann, einschließt.
Der einzelne Mensch als einzelner muß daher eine wertende Auszeichnung erfahren, die
garantiert, daß die Stelle, die er für die Moral einnimmt, nicht innerhalb dieser Moral
(zugunsten von etwas anderem, einem anderen oder einem Kollektiv von anderen)
durchgestrichen werden kann. Die Inkommensurabilität eines jeden konkreten einzelnen
Menschen unter dem Blickpunkt der Moral ist die Nichtsubstituierbarkeit eines jeden
konkreten einzelnen Menschen im Netz der Moral: Jeder konkrete Mensch repräsentiert, als
ein zumindest potentiell moralisches Wesen, die Idee der Moral, die Idee eines Systems
moralischer Rücksichtnahme schlechthin.
Würde ist demnach eine symbolische Qualität, die den Adressatenbereich einer Moral
dadurch konstituiert, daß moralische Rücksichtnahme selbstreflexiv wird, sich auf ihren
Ursprung bezieht, also auf diejenigen Wesen, die überhaupt moralische Rücksichten nehmen
können. Moralische Veranwortung (jene Art von Verantwortung, die einer insofern hat, als er
sein Handeln an moralischen Rücksichtnahmen orientiert)
1
ist nicht delegierbar und nicht
teilbar, sondern irreduzibel der einzelnen konkreten Person zugerechnet, die darum als Akteur
mit freiem Willen gedacht wird. Dies ist nur eine weitere Seite des Phänomens, daß jede Moral,
ob dies nun denen, die sie befolgen, bewußt ist oder nicht, ein Kulturerzeugnis von Menschen
ist. Keine Moral ist den Menschen von Natur aus auferlegt. Keine Moral wird den Menschen
von Institutionen, die über den Institutionen der Menschen stünden, geboten.
7. Würde, Recht und Moral
Dieselbe reflexive Konstitution eines Adressatenbereichs, die ich in Abschnitt 6.4 für den
moralischen Menschenwürdebegriff beschrieben habe, läßt sich auch am Rechtsbegriff der
Menschenwürde ablesen, wie er in Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes als "Menschenwürdegrundsatz" festgehalten ist.
1
Vgl. das Spezifikum moralischer Verantwortung gegenüber anderen Arten der Verantwortung (Kettner
1992c).
33
Ein signifikanter Unterschied zwischen dem verfassungsrechtlichen Menschenwürdegrundsatz und dem Moralbegriff liegt allein in der Adressatendifferenz. Während der
verfassungsrechtliche Menschenwürdegrundsatz den Willen eines Gesetzgebers binden soll,
also die politische Macht,
binden,
also
die
1
sollen Moralprinzipien den Willen von natürlichen Personen
persönliche
Handlungsmacht
von
einzelnen,
zur
überlegten
Selbstbestimmung fähigen Menschen. Die Perspektive des Grundgesetzes spricht die Würde
schon begrifflich ohne Rücksicht auf "sittlichen Entwicklungsstand" oder soziale Position allen
Personen gleichermaßen zu. Begründet wird dies als historischer Lernpro-zeß: "... gerade die
historische Erfahrung des Unrechtssystems zeigt, daß es dem Staat verwehrt sein muß,
Menschen nach ihrem vermeintlichen sittlichen Wert zu klassifizieren", also nur selektiv zu
schützen (Benda 1987:15).
Der Adressatenbereich des Menschenwürdegrundsatzes oder -prinzips ist aus der
Perspektive des Rechts (GG) die natürliche Person. Sie ist Träger der Menschenwürde. Das
verbietet, zwischen würdigem und unwürdigem Leben zu differenzieren. So heißt es
beispielsweise in der Abtreibungsentscheidung des BVerfG von 1974:
2
(a) "Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu; es ist nicht
entscheidend, ob der Träger sich dieser Würde bewußt ist und sie selbst zu wahren weiß."
(b) "Die von Anfang an im menschlichen Sein angelegten Fähigkeiten genügen, um die
Menschenwürde zu begründen."
Freilich bleibt in dieser Erklärung eine Lücke. Das Rechtfertigungsproblem bleibt offen,
denn in (a) werden keine Rechtfertigungsgründe, sondern nur Zuschreibungskriterien genannt
-
1
wo aber existiert "menschliches Leben"? Und Punkt (b) spielt zwar auf Rechtfer-
Eine richtige, aber zu selektive Bestimmung, wie Menschenwürde staatliche Souveränität restringiert, gibt
Giese (1979:86): "Die Würdenorm weist staatliche Gewalt an, Kommunikationsherrschaft niemals würdeverletzend
auszuüben."
2
Der vollständige Text der Begründung des BVerfG für die soeben (28.5.1993) ausgesprochene Ablehnung
einer bedingungslosen Fristenregelung liegt mir noch nicht vor. Ich vermute aber, daß der Sinn des zitierten
Arguments beibehalten worden ist. Wie sonst sollte verfassungrechtlich ein normativer Kernsatz begründet werden
wie der, "daß das Ungeborene in jedem Stadium der Schwangerschaft auch ihr [der Schwangeren] gegenüber ein
eigenes Recht auf Leben hat (...)." (Anordnung des BVerfG, Abschnitt 3. (1). Zitiert in: Das Bundesverfassungsgericht
erläßt eine Übergangsregelung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.5.1993, S.3).
34
tigungsgründe an, jedoch ohne sie wirklich zu explizieren - welche "Fähigkeiten" begründen
Menschenwürde?
Wenn wir an anderen Stellen des juristischen Diskurses nach Rechtfertigungen suchen, die
die Lücke schließen würden, stoßen wir auf den kantianischen Boden unserer Verfassung.
7.1 Kantianismus auf dem Boden des Grundgesetzes
Um die Frage zu beantworten, unter welchen Bedingungen die Menschenwürde verletzt sei,
verwendet das Bundesverfassungsgericht bei der Definition der Menschenwürde die von
Dürig geprägte Objektformel (vgl. Dürig 1974). Sie ist eine Variante der Selbstzweckformel des
Kantischen kategorischen Imperativs. Nach Dürigs Objektformel widerspricht es "der
menschlichen Würde, den Menschen zum bloßen Objekt im Staate zu machen." "Der Mensch
muß immer Zweck an sich selbst bleiben." Er darf nicht einer Behandlung ausgesetzt werden,
"die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt."
1
Kants Selbstzweckformel lautet zum
Vergleich: "Der Mensch kann von keinem Menschen (weder von anderen noch sogar von sich
selbst) bloß als Mittel, sondern muß jederzeit zugleich als Zweck gebraucht werden, und darin
besteht eben seine Würde (die Persönlichkeit), dadurch er sich über alle Weltwesen, die nicht
Menschen sind und doch gebraucht werden können, mithin über alle Sachen erhebt."
2
Das rechtfertigungslogische Argument, das Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der
Sitten (BA 65, 66) für die Selbstzweckformel aufbietet, ist mager: Die "vernünftige Natur
existiert als Zweck an sich selbst. So stellt sich notwendig der Mensch sein eigenes Dasein vor;
so fern ist es also ein subjektives Prinzip menschlicher Handlungen. So stellt sich aber auch
jedes andere vernünftige Wesen sein Dasein, zufolge eben desselben Vernunftgrundes, der
auch für mich gilt, vor; also ist es zugleich ein objektives Prinzip, woraus, als einem obersten
1
Vgl. Geddert-Steinacher (1990:31) für Hinweise auf mehrere Urteile des BVerfG. Eine Auflistung von
Themen, bei denen das Würdeargument in der Rechtssprechung von BVerfG, Bundesarbeitsgericht,
Bundesgerichtshof in Zivilsachen, Bundesgerichtshof in Strafsachen und Bundesverwaltungsgericht bis 1979 eine
mehr oder minder bedeutsame Rolle spielt, gibt Giese (1979:14-17). Gieses Liste schärft den Blick für die notorische
Unsicherheit in bezug auf die Frage, wo, von wem und mit welchen Gründen die Trivialisierungsgrenze von
Menschenwürde gezogen wird. Subjektiv sind offenbar keine Grenzen gesetzt: es gibt Personen, die ihre
Menschenwürde dadurch verletzt sehen, daß ihr Name auf computergeschriebenen Formularen mit oe statt mit ö
ausgedruckt wurde.
2
Metaphysik der Sitten, Paragraph 38. (Stuttgart: Reclam, 1990, S.354)
35
praktischen Grunde, alle Gesetze des Willens müssen abgeleitet werden können. Der
praktische Imperativ wird also folgender sein: Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in
deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß
als Mittel brauchest."
Im Licht gängiger Rationalitätskonzepte erscheint es keineswegs widervernünftig
(wenngleich vielleicht traurig), sich das eigene Dasein nicht als an sich zweckvoll vorzustellen,
sondern als letztendlich vollkommen zweckfrei.
1
Doch zurück zum Recht. Erklärt wird die unverlierbare Menschenwürde dort so: Sie
bestehe in der Subjektivität des Menschen, und zwar Subjektivität im Sinne von
Selbstbestimmung, Personalität und Verantwortlichkeit. Diese drei Interpretamente des BverfG
zeigen ein kantianisches Verständnis von Subjektivität, nämlich als Autonomie. Denn
Autonomie ist Kants zentraler Begriff der Begründung der Würde, freilich nicht nur der des
Menschen sondern der eines jeden Wesens, das ein Vernunftwesen ist. Jedoch wäre es
kurzschlüssig,
"die
Rechtsprechung
des
BVerfG
ausschließlich
im
Sinne
einer
höchstrichterlichen Kant-Exegese zu verstehen" (Geddert-Steinacher 1990:33), da in Kants
Moraltheorie bereits eine Synthese verschiedener ethischer Denktraditionen, die in zwei
Jahrtausenden in Europa ausgebildet worden sind, vorliegt. Insofern kann man sehr wohl von
1
Iris Murdoch (1970) z.B. plädiert für "acceptance of the utter lack of finality in human life. The Good has
nothing to do with purpose, indeed it excludes the idea of purpose. 'All is vanity' is the beginning and the end of
ethics. The only genuine way to be good is to be good 'for nothing' in the midst of a scene where every 'natural'
thing, including one's own mind, is subject to chance, that is, to necessity" (S.71). "There are properly many patterns
and purposes within life, but there is no general and as it were externally guaranteed pattern or purpose of the kind
for which philosophers and theologians used to search. We are what we seem to be, transient mortal creatures
subject to necessity and chance. (...) Our destiny can be examined but it cannot be justified or totally explained. We
are simply here. And if there is any kind of sense or unity in human life, and the dream of this does not cease to
haunt us, it is of some other kind must be sought within a human experience which has nothing outside it" (S.79). Sehr stringent kritisiert Philippa Foot (1972) Kants Rechtfertigungsargument. - Einen konzilianten Rettungsversuch
macht Alan Donagan (1977:237): "Kant did not demonstrate a priori that reason must by its very nature prescribe
for free and rational beings what the fundamental principle of morality says it must. Rather, he drew attention to
certain characeristics implicit in being a rational creature, with regard to which he claimed to have sufficient insight
into the nature of practical reason confidently to affirm that it must prescribe that rational creatures be
unconditionally respected. They are: first, that rational creatures are negatively free because they exhibit a kind of
causality by virtue of which their actions are not determined to any end by their physical or biological nature; and
second, that because of that causality, they are creatures of a higher kind than any others in nature. These
characteristics, according to Kant, provide rational creatures with an end which their own reason must
acknowledge: their own rational nature. That end is not a producible one, like those of instinct and desire; but, as an
end to be respected, by virtue of which things are to be done, it can generate action."
36
einer höchstrichterlichen Exegese der europäischen Tradition universalistischen Moraldenkens
sprechen. Besonders bedeutsam scheint mir, daß der Kantianismus, der in den ersten Artikel
unseres Grundgesetzes eingegangen ist, dem Begriff der Menschenwürde die Schwächen und
Stärken mitteilt, die überhaupt für normative Begriffe in deontologischen Prinzipienmoralen,
wie die Kantische eine ist, charakteristisch sind.
Erster Schwachpunkt: Wirklichkeitsferne durch starke Idealisierungen
Das Kriterium, mit dem die Zuschreibung von Menschenwürde an einzelne operationalisiert
wird, ist das unmittelbar einfache, notwendige und hinreichende empirische Kriterium der
Zugehörigkeit zur biologischen Gattung Mensch. Die Rechtfertigungslogik des so
zugeschriebenen normativen Gehalts arbeitet allerdings mit starken kontrafaktischen
Idealisierungen.
Zwischen
der
Zuschreibungs-
und
Begründungslogik
des
Menschenwürdebegriffs tritt eine schwer einsichtig zu machende Spannung auf.
Die Engführung zwischen Kant und dem BVerfG ist auch in puncto Zuschreibungslogik
perfekt. Kants Zuschreibungslogik liegt in folgender Formulierung: "Nichts desto weniger
kann ich selbst dem Lasterhaften als Menschen nicht alle Achtung versagen, die ihm
wenigstens in der Qualität eines Menschen nicht entzogen werden kann; ob er zwar durch
seine Tat sich derselben unwürdig macht." Völlig parallel ist die vom BVerfG vertretene
Auffassung, jedem Menschen, auch dem Geisteskranken, dem Kind oder dem Verbrecher
komme Menschenwürde zu.
1
1
Eine weitere Parallele läßt sich an der Reziprozitätsstruktur der Menschenwürde ablesen. Kant verbindet mit
dem Achtungsanspruch, den ich an andere stelle (insofern ich für die anderen Menschenwürde repräsentiere), eine
Pflichtkomponente, nämlich die Wechselseitigkeit solchen Anspruchs zwischen Alter und Ego. Dem Anspruch auf
Achtung der Menschenwürde korrespondiert die Pflicht zur Achtung der Menschenwürde jedes anderen
Menschen. "Nicht anders die Struktur der Würdegarantie des Art.1 Abs.1 GG: Die Achtungspflicht richtet sich an
jedermann, nicht nur an den Staat", meint Geddert-Steinacher (1990:36). Nicht nur an den Staat - also doch
zumindest auch an den Staat. Bedenkt man zudem die Funktionsstellung des Menschenwürdebegriffs im
Verfassungstext, so erscheint mir plausibler, daß die Würdegarantie qua Rechtsbegriff sich doch primär an den Staat
richtet. Nur qua Moralbegriff richtet sich die Menschenwürde, wie alle Moral, unmittelbar an die natürliche, zu
überlegter Selbstbestimmung fähige Person. Qua Moralbegriff entbehrt sie die Durchsetzungsgarantien, die, wie
alles Recht, vom staatlichen Monopol legitimer Gewalt zehren.
37
Zweiter Schwachpunkt: Anwendungsprobleme durch Formalismus
Die präskriptiven Gehalte, die sich in strikt universalistischen, d.h. im Namen von allen an alle
adressierten Prinzipienmoralen rechtfertigen lassen, sind "dünn". Die Konsentierbarkeit, die sie
durch ihren Mangel an konkretem Inhalt, durch ihren Formalismus gewinnen, bezahlen sie
mit Anwendungsproblemen.
Wie können wir konkret wissen, ob etwas eine Bedrohung, Beeinträchtigung, Kränkung,
Verletzung, Mißachtung der Menschenwürde wäre oder nicht? "Keine der vom BVerfG neben
der Objektformel verwendeten Umschreibungen vermag (...) eine Verletzung der
Menschenwürde zu implizieren. Mißachtungsabsicht und Willkür" - zwei wichtige Kriterien,
die z.B. im Abhörurteil des BVerfG benutzt wurden, um gegen alle Opportunität staatlicher
Macht den Schutz eines absolut privaten Bereichs zu bestätigen - "können zwar Indizien für
die Verletzung der Menschenwürde sein, sie reichen aber nicht aus, um eine Verletzung der
Menschenwürde in jedem Fall zu begründen" (Geddert-Steinacher 1990:58).
Auch der Versuch, Verletzungen der Menschenwürde über das Willkürverbot zu
definieren, d.h. die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für die Verwendung des
Begriffs "Verletzung der Menschenwürde" anzugeben, endet in einem Zirkelschluß, weil sich
das,
was
illegitime
Willkür
ist,
erst
an
einem
vorauszusetzenden
materialen
Menschenwürdekonzept, das Spielräume legitimer Willkür bestimmt, bestimmen kann.
Auch ein weiteres Kriterium, das in der Verfassungshermeneutik auftaucht - der
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit - ist definitionsuntauglich, da dieser Grundsatz
Güterabwägungen verlangt, die einen von der Menschenwürde unabhängigen Maßstab
erfordern würden, was aber mit dem Absolutheitsanspruch der Menschenwürde, selber
Maßstab aller Maßstäbe von Güterabwägungen zu sein, kollidiert. Denn letztlich soll ja die
Würde des Menschen Kriterium aller Verhältnismäßigkeit sein - und nicht umgekehrt.
1
Dritter Schwachpunkt: Paternalismusanfälligkeit durch Unbestimmtheit
Die in unserer Verfassung ausgedrückte Menschenwürde, verstanden als absolute Forderung,
erscheint kategorisch wie Kants kategorischer Imperativ, ist aber leider kein Imperativ, kein
Sollsatz. Während Kants kategorischer Imperativ sich in Argumentationsregeln, in diskursive
1
Vgl. Geddert-Steinacher (1990:59), deren Argumentation ich hier uneingeschränkt folge.
38
Prüfverfahren, in kriteriologisch relevante Maßstäbe übersetzen läßt, läßt die moralische
Forderung der Menschenwürde dies kaum zu.
Die Moralidee der Menschenwürde läßt sich nicht in Abwägungen übersetzen - anders als
Güter. Sie läßt sich nicht in Priorisierungsregeln übersetzen - anders als Werte und Ziele. Sie
läßt sich nicht in Imperative rationaler Wahl übersetzen - anders als Mittel zu Zwecken. Sie
läßt sich nicht in Widerspruchstests übersetzen - anders als Handlungsmaximen. Sie läßt sich
nicht in Regel-Ausnahme Schemata übersetzen - anders als kontextsensitive Gebote. Wie ein
einsames Absolutes thront sie über allem Konkreteren, das man mit ihr vielleicht in
Verbindung bringen möchte, doch immer nur in sphinxhaften Formeln mit ihr in Verbindung
bringen kann. Diese notorische Unbestimmtheit der moralischen Menschenwürdeidee schlägt
auf die rechtliche und politische durch, wo diese zur normativen Deckung auf jene rekurrieren.
Die einen bringen die Gewährleistung von Asyl, das Verbot von Keimbahntherapie oder von
Leihmutterschaft in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1, die anderen sehen nur einen bestenfalls
indirekten Bezug oder gar keinen.
1
Der Unbestimmtheitsverdacht wirft auf die moralische (und somit auch die rechtliche und
politische) Menschenwürdeidee den Schatten der krypto-definitorischen Willkür eines
paternalistischen Gesetzgebers. Das zeigt sich an der moralischen Unsicherheit angesichts der
Frage, ob und in welchem Umfang der einzelne über seine Würde disponieren kann. Ist diese
Frage vorweg absurd? Lautete die Frage, ob der einzelne über ein ihm vorgegebenes
Absolutum disponieren könne, so wäre sie tatsächlich absurd. Denn entweder ist ein
Absolutum vorgegeben - dann läßt sich darüber nicht disponieren; oder es läßt sich darüber
disponieren, - dann wäre das, was da vorgegeben ist, kein Absolutum. Aber das ist gar nicht
die Frage. Denn das, was als Menschenwürde absolut sein soll, ist gerade die menschliche
Autonomie. Ist sie aber absolut, so ist ihr, der menschlichen Autonomie, nichts anderes
vorgegeben als sie selbst. Über alles kann sie disponieren, außer über ihre konstitutiven
Bedingungen. Diese muß sie als nicht disponibel respektieren, will sie mit sich selbst in
Übereinstimmung sein.
1
Vgl. Kaufmann (1987) und Reiter (1987). Reiters Bestandsaufnahme zeigt unbeabsichtigt, wie wenig
Spezifisches eine top down "Beurteilung der Gentechnologie anhand des Prüfungskriteriums Menschenwürde" (S.
26-33) bringt, wenn konkretere Operationalisierungen, vor allem Menschenrechte, argumentativ ausgelassen
werden.
39
So gewinnt die Frage, ob und in welchem Umfang der einzelne über seine Würde
disponieren kann, einen guten Sinn als Frage nach der Begründbarkeit bestimmter
Unterscheidungen zwischen konstitutiven und nichtkonstitutiven Bedingungen menschlicher
Autonomie; nach der Unterscheidung zwischen dem, worüber disponiert werden kann, und
dem, was unmöglich zur Disposition steht.
Die Unsicherheit angesichts dieser Frage möchte ich durch den Hinweis auf zwei
gegenläufige Antworttendenzen, die in der Verfassungshermeneutik des BVerfG und des
BVerwG (Bundesverwaltungsgerichts) vorkommen, veranschaulichen. Ich wähle zwei
exemplarische Problemfälle, (a) das Transsexualitätsgesetz und (b) die vieldiskutierte
"Peepshow-Entscheidung" des BVerwG.
1
(a) Beim Transsexualitätsgesetz wurde argumentiert, dem Transsexuellen selbst solle es
überlassen bleiben, ob er eine geschlechtsanpassende Operation durchführen lassen wolle. Die
Auffassung anderer sei unmaßgeblich, denn die mit Art. 1 Abs. 1 geschützte Würde sei die
Würde des Menschen, "wie er sich in seiner Individualität selbst begreift und seiner selbst
bewußt wird."
2
Offenbar ist diese Antworttendenz individualisierend und nonpaternalistisch, denn sie
gesteht die "Definitionsbefugnis über den konkreten Inhalt der Würde in erster Linie dem
Betroffenen selbst" (Geddert-Steinacher 1990:88) zu.
(b) Bei der Peep-Show Entscheidung hingegen führte das BVerwG "objektive Kriterien in
den Würdebegriff ein und hielt eine Verletzung der Menschenwürde selbst dann für gegeben,
wenn die Mitwirkung der Frau freiwillig geschehe" (Geddert-Steinacher 1990:89). Das BVerwG
argumentierte, die Verletzung der Menschenwürde werde hier "nicht dadurch ausgeräumt
und gerechtfertigt, daß die in der Peepshow auftretende Frau freiwillig handelt." Die
Darbietung diene nicht der Selbstdarstellung und Selbstverwirklichung der beteiligten Frauen,
sondern diese - und der Veranstalter - verfolgten kommerzielle Interessen.
Offenbar ist diese Antworttendenz majorisierend und paternalistisch. Sie vernachlässigt
die Betroffenenperspektive und konzeptualisiert den Fall einfach unter der nicht weiter
1
BVerwGE 64, 274 (278f.). Vgl. hierzu Geddert-Steinacher (1990:88f.), deren Darstellung ich hier
zugrundelege.
2
BVerfG 49, 286 (298), zitiert bei Geddert-Steinacher (1990:88).
40
begründeten Vorgabe, daß die Darbietung erotischer Reize aus kommerziellem Interesse vor
einem anonymen Publikum menschenunwürdig sei und deshalb gesetzlich verboten werden
müsse. Genau diese Vorgabe ist aber kontrovers. Denn die guten Gründe, mit denen die
beschriebene Interaktionssituation als unsittlich bewertet werden kann, sind nicht eo ipso auch
schon gute Gründe, sie als menschenunwürdig zu bewerten. Daher drängt sich der Eindruck auf,
mit der Argumentation des BVerwG würden Frauen im Namen des Schutzes der Menschenwürde (und somit im Namen ihrer menschlichen Autonomie) vor ihrer menschlichen
Autonomie geschützt.
7.2 Rechtlicher Schutz von pränataler Menschenwürde? Ein Epilog.
Im Blick auf den pränatalen Schutz der Menschenwürde zeigt die öffentlich vorherrschende
Argumentation eine eigenartige Vermischung von Zuschreibungs- und Rechtfertigungslogik.
Nach der Rechtsprechung des BVerfG gebührt auch dem ungeborenen Leben, "jedenfalls vom
14. Tag von der Zeugung an", der Schutz des Grundrechts auf Leben und die Achtung seiner
Würde. Da eine Differenzierung zwischen den einzelnen Stadien der Embryonalentwicklung
willkürlich erscheint, muß darüber hinaus jede menschliche Zelle, solange sie noch totipotent
ist, unabhängig von der Art und dem Ort der Zeugung in den Schutz von Leben und Würde
einbezogen sein.
1
Nach verbreiteter verfassungsexegetischer Auffassung ist der
pränatale Schutz der
Menschenwürde am besten als Reflexwirkung der Rechtsposition des geborenen lebendigen
Menschen zu sehen, ähnlich also, wie auch der postmortale Schutz der Menschenwürde (z.B.
im Schutz der Persönlichkeitsrechte eines verstorbenen Menschen) als Reflexwirkung der
Rechtsposition des lebenden Menschen betrachtet wird.
2
Doch was ist eine "Reflexwirkung"? An dieser Stelle biegt sich die versuchte
Rechtfertigung der Würde des fötalen Menschen zurück ins bloß Metaphorische. Klar ist allein
die Zuschreibungslogik; auch Fötus und Embryo sind, deskriptiv gesehen, menschliches Leben.
Die normativen Gehalte hingegen, die die kantianische Rechtfertigungslogik begründet
1
"Entscheidend ist die Abstammung vom Menschen und die genetisch programmierte Fähigkeit, sich zu
einem vollständigen Individuum zu entwickeln" (Geddert-Steinacher 1990:78).
2
Affirmativ hierzu Geddert-Steinacher (1990:79).
41
(Selbstbestimmung, Personalität, Verantwortlichkeit, s.o.), passen nicht auf das noch
präpersonale Menschenwesen, das "werdende Leben" - während sie auf die werdende Mutter
und auf den werdenden (biologischen oder sozialen) Vater passen.
Fälle wie dieser zeigen gut, wie Zuschreibungs- und Rechtfertigungslogik in nichttrivialer
Weise miteinander in Konflikt geraten, gleichsam auseinanderfallen können. Nach der Devise,
daß sein muß, was sein soll, stur auf die Zuschreibungslogik zu pochen, erscheint wenig
überzeugend. Der Fötus ist menschliches Leben, die Mutter ist menschliches Leben. Die Mutter
aber hat die präskriptiv maßgeblichen Gattungseigenschaften (z.B. Selbstbestimmung,
Personalität und Verantwortlichkeit) als Individuum, und nicht bloß als "Reflex" aktualisiert.
Der Fötus hat die präskriptiv maßgeblichen Gattungseigenschaften weder als Individuum
noch als "Reflex" aktualisiert.
Abstrakt gesprochen gibt es drei Möglichkeiten, um die Rationalität im Verhältnis von
Zuschreibungs- und Rechtfertigungslogik zu wahren. Man kann Brückenbegründungen
konstruieren, die die Zuschreibungslogik von der Begründungslogik her restringieren, oder
umgekehrt solche, die die Begründungslogik von der Zuschreibungslogik her restringieren,
oder beides, so daß sich Zuschreibungs- und Rechtfertigungslogik aufeinander zubewegen.
Die erste Möglichkeit wird durch die sogenannten Potentialitätsargumente in den Debatten
über Abtreibung und neue Reproduktionstechniken (vgl. Leist 1990:24-26) gut veranschaulicht.
Für die zweite Möglichkeit finden sich sehr heterogene Beispiele, die jedoch alle von
1
naturalistischen Fehlschlüssen (z.B. metaphysisches Naturrecht) und Dogmatismen geplagt
werden. Für die dritte, attraktivste Möglichkeit finden sich bisher nur Ansätze.
1
2
Z.B."Speziezismus", (vgl. Leist 1990:21-24), sowie die Doktrin von der Heiligkeit des Lebens, (vgl. Kuhse
1990).
2
Z.B. der transzendental-anthropologische Ansatz von Otfried Höffe (1992). Höffe operiert mit einer
kontraktualistischen Rechtfertigungslogik für Menschenrechte (derzufolge sie gesollte Klugheitsregeln sind) und
einer "partialanthropologischen" Zuschreibungslogik, wobei freilich die integrative Funktion des
Menschenwürdebegriff tendentiell verblaßt. Vgl. auch die interessanten Vorschläge für den engeren Bereich der
Bioethik, die Dieter Birnbacher (1990) aus der Unterscheidung von individuenbezogener Menschenwürde und
Menschenwürde, die auf normative Gattungsbegriffe bezogen ist, gewinnt. Eine interessante dialogische
Interpretationen der Menschenwürdeklausel in der UNO-Menschenrechtsdeklaration gibt John Wetlesen (1990),
auf den ich mich in einem diskursethischen Versuch (Kettner 1992d) beziehe. Ich skizziere dort eine
transzendentalpragmatische Rechtfertigungslogik, die von der Situation desjenigen ausgeht, der ernsthaft die Frage
aufwirft, wessen Bedürfnisansprüche denn von anderen erfüllt werden sollten. Wer so fragt, hat bereits eigene,
deren Legitimität er unterstellt, und diese Voraussetzung im eigenen Fall muß er salva rationalitate als Paradigma
42
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von Einsicht in die verschiebbaren Grenzen möglicher Kommunikation abhängiger Begriff basaler Personalität, der
die Bindung von Menschenwürde an homo sapiens kontingent setzt und die Möglichkeit zumindest nicht theoretisch
ausschließt, daß wir u.U. auch Walen oder Marsmenschen dasjenige zuschreiben, was wir zunächst und primär uns
Menschen als Menschenwürde zuschreiben.
43
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46
IRMGARD SCHULTZ
SOLL DIE "WÜRDE DES MENSCHEN" POLITISCH ODER PHILOSOPHISCH
BEGRÜNDET WERDEN?
Eine Kritik am ethischen Letztbegründungsanspruch von Philosophie
In Frankfurt ist die Würde einmal geklaut worden. In der Frankfurter Rundschau war dann ein
Foto zu sehen, wie sie in einem Weiher lag. Die eckigen Buchstaben ragten etwas fremd und
unpassend in dieser biotopischen Umgebung aus dem Wasser. Dort gehört sie wirklich nicht
hin, habe ich mir gedacht, sondern vielmehr dorthin, von wo sie geklaut wurde: nämlich von
der Außenwand des Frankfurter Gerichts. Weil da aber nur noch zu lesen war Die ... des
Menschen ist unantastbar, hat man schnell eine neue Würde angefertigt. Jetzt wissen wir nicht,
ob da am Gericht die alte oder die neue Würde des Menschen hängt.
Auf jeden Fall ist mir deutlich geworden, daß die Würde des Menschen nicht von ihrer
Verortung am Gericht zu trennen ist. Es gibt alle möglichen Würden: Würde des Alters,
Würde eines bestimmten Verhaltens. Aber es gibt nur die eine Würde des Menschen, und
diese ist nicht losgelöst von ihrer Verankerung in den Menschenrechten zu sehen. Das muß
doch nicht letztbegründet werden. Sie ist nicht zu trennen von ihrer Geschichte im modernen
staatlichen Rechts- und Strafsystem, d.h. in Macht- und Gewaltverhältnissen, auf die sie
bezogen ist. Die Würde hat nicht nur einen Kontext, der diskursiv zu erschließen ist, sondern
auch eine Geschichte, in der noch eine andere als eine rein diskursive Logik des Begründens
liegt. In unserer Verfassung wird in Klammern diese andere Logik als Grundrechtsbindung
der staatlichen Gewalt verdeutlicht, die eine Schutzbestimmung für jedes Individuum gegen
das staatliche Gewaltmonopol ist, das den Kern der Geschichte des staatlichen Straf- und
Rechtssystems ausmacht:
"Artikel 1
(Menschenwürde, Grundrechtsbindung der staatlichen Gewalt)
47
(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist
Verpflichtung aller staatlichen Gewalt."
Mein erster Einwand gegen Matthias Kettners Ausführungen betrifft die Trennung der Würde
von ihrer historischen und sozialen Verortung im modernen staatlichen Rechts- und
Strafsystem, das Macht- und Gewaltverhältnisse reguliert. Was ich problematisiere, ist nicht
die Evidenz von Matthias Kettners Beweisführung, sondern die Plausibiliät der Fragerichtung:
Muß man sich wirklich ansehen, wie der Begriff "Würde" alltagssprachlich verwendet wird,
um den Gehalt des Begriffs "Menschenwürde" zu verstehen? Ich halte diese Fragerichtung für
falsch. Es ist doch nicht die zwingende Logik notwendiger und hinreichender Begründungen,
die einer wie immer auch konkretisierten Menschenwürde Geltungsanspruch verschafft.
Mein zweiter Einwand betrifft eine andere Perspektive von diskursiver Macht, die ich vertrete:
Wir Feministinnen haben oft einen Hang, uns von historisch scheinbar überholten und
veralteten Vorstellungen angezogen zu fühlen. Das liegt wohl darin begründet, daß wir Frauen
im modernen Denken immer eine halbe Entwicklungsstufe zurückgestuft wurden und
mittlerweile nicht mehr so sicher sind, ob wir diese halbe Stufe, die die Männer uns angeblich
voraus sind, überhaupt einholen wollen. Jedenfalls hat die Würde des Menschen - das hat
Matthias Kettner gut veranschaulicht - "irgendetwas historisch Überholtes" an sich. Aber kaum
fangen einige Philosophen an, die Kraft der Menschenwürde als regulative moralische Idee in
Frage zu stellen, da besinnen sich einige Feministinnen um so mehr auf ihren normativen wie
politisch-regulativen
Anspruch.
Die
Würde
des
Menschen
in
der
feministischen
Differenzierung als "Würde der Frau" ist in der feministischen Bewegung immer schon und in
den letzten Jahren verstärkt zu einem wichtigen Bezugspunkt feministischer Diskussionen
geworden. So haben einige deutsche Feministinnen vor zweieinhalb Jahren in Frankfurt am
Main einen Kongreß für eine neue deutsche Verfassung veranstaltet, auf dem wir die Würde
des Menschen/Artikel 1 für eine neue deutsche Verfassung dahingehend präzisiert haben:
"Artikel 1
(1) Die Würde von Frau, Mann und Kind ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist
Pflicht des Staates, der Gesellschaft sowie jeder und jedes Einzelnen.
48
(2) Die Bürgerinnen und Bürger der Republik Deutschland bekennen sich darum zu
unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen
Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit der Welt.
(3) Die Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtssprechung als
unmittelbar geltendes Recht."
Reflektiere ich, was wir da gemacht haben, dann läßt sich das unter dem Stichwort
"Definitionsmacht ausüben" zusammenfassen. Diese Definitionsmacht ist ein anderer Typus
diskursiver Macht, als die Macht korrekter Begründungen dafür, daß es ethisch vertretbar ist,
daß Menschen Definitionsmacht ausüben. Sie ist rückgebunden an gesellschaftliche
Herrschafts- und Machtverhältnisse, in die sie verändernd einzugreifen versucht.
Damit komme ich zu meinem dritten Einwand, der diesen Gedanken grundsätzlicher zu
fassen versucht:
Ich habe ein Problem mit dem Ethikdiskurs als einer diskursiven Praxis, die sich hegemonial
als Metaebene über gesellschaftliche Problematisierungen legt. Ich habe den Verdacht, daß die
Funktion dieses ethischen Begründens noch eine ganz andere ist, als sich am Resultat logisch
einwandfreier Argumente messen läßt. Ersteinmal muß ich feststellen, daß die Wissenschaft
der Ethik und ihre neuen Formen der Institutionalisierung spätestens seit Hans Jonas
Erfolgsbuch über die Begründung einer prinzipiellen Ethik eine Position als "Dach der
Wissenschaften" beansprucht. Dieser Machtanspruch der Ethik ist problematisch, auch wenn
er so symphatisch und offen formuliert wird, wie Matthias Kettner das tut, der sich ja explizit
vom Anspruch universeller Gültigkeit der alten spekulativen Philosophie abgrenzt und im
Sinne eines praktischen Diskurses letztlich den Prozeß des Argumentierens und Begründens
autorisieren möchte.
Wenn ich es recht verstanden habe, liegt die rechtfertigende Letztbegründung bei Matthias
Kettner in der Dynamik des Diskurses selbst, der nach ihm nicht nur universelle Normen,
sondern auch partikulare moralische Bewertungen aufnehmen kann und die Partikularität von
unterschiedlichen Diskurswelten durchaus mitreflektiert.
Na gut, sage ich dazu aus meiner feministisch partikularistischen wie zugleich immer auch
menschlich-universalistischen Interessenperspektive, seit einiger Zeit ist das monolithische,
universalistische
Denken
de
facto
multiperspektivisch
auseinandergebrochen.
Der
49
Exklusivitätsanspruch einer universalistischen Ineinssetzung von "Mensch" mit der Norm des
weißen Mannes, der sich in der christlichen und darwinistischen Tradition stehend als "Krone
der Schöpfung" über die Tiere, die Naturvölker und die Frauen erhebt, ist ja heute historisch
unwiederbringlich "geknackt". Gott ist tot und Lamarcks wie Darwins genealogische
Vorstellung von der Höherentwicklung der Arten ist spätestens mit der Möglichkeit
technischer Produktion von Schimären auch zutiefst erschüttert. Frauen und die sogenannten
Naturvölker, die Nichtweißen, die Nichtchristen, sie alle haben de facto eine Stimme im
globalen Diskurs. Das drückt unter anderem die UN-Charta von 1948 aus.
Die Frage an die philosophischen Moralbegründungen ist doch nun: Warum sollten die
Partikularen denn ihre Argumente auf ein bestimmtes Argumentationsschema, das als
vernünftig nur gelten läßt, was im Diskurs des rationalen Begründens vorgebracht wird,
einschränken? Haben sie und haben wir, die wir qua Geschlecht als "das Andere der Vernunft"
definiert wurden, nicht allen Grund und die historische Berechtigung, auch in den Schemata
zu
argumentieren,
die
als
"irrational"
gelten?
Warum
sollen
wir
denn
den
Letztbegründungsanspruch einiger westlicher, männlicher Philosophen anerkennen und
unsere historisch endlich wahrnehmbaren Stimmen für die Begründung einer Logik von
Argumenten einsetzen, statt direkt für die Begründung unserer "partikularen" Interessen,
beispielsweise für unser Interesse nach Anerkennung und Würdigung eines Rechts auf
Unverletzlichkeit des Körpers? Um welche Dynamik geht es denn in der angewandten
Diskursethik? Um eine Dynamik des Logikbeweises, daß Ehtik und Diskurs möglich sind,
oder um eine Dynamik der Veränderung historisch ungleicher Ausgangsbedingungen mit der
Möglichkeit, z.B. unverletzt ein Leben führen zu können?
Die Würde des Menschen hängt ja nicht undefiniert am Frankfurter Gericht. Sie ist
historisch definiert, z.B., als Schutz vor der Gewalt körperlicher Verletzungen: "unantastbar".
Damit komme ich zu meiner vierten und letzten Überlegung, die ich zur Diskussion stellen
möchte. Sie ist mehr ein Verdacht als ein im Sinne des rationalen Diskurses beweisbares
Argument: Es ist der Verdacht, daß es bei der Institutionalisierung des ethischen Diskurses in
Ethikkommissionen, aufgeregten Radiosendungen und Talk Shows noch um etwas ganz
anderes geht, als um sauberes Argumentieren, nämlich um eine beruhigende und pazifierende
50
Begleitmusik bei der Brechung sozialer, kultureller und rechtlicher Normen, die neue Machtund Gewaltverhältnisse einführen. Solche neuen Macht- und Gewaltverhältnisse werden im
Moment am deutlichsten im Bereich der "Biomedizin" sichtbar und betreffen zentral das
Selbstbestimmungsrecht, die Unversehrtheit des Körpers und die Würde der Frau.
Ich möchte diesen Verdacht an dem vieldiskutierten Beispiel der technischen Verlängerung
der
Sterbephase
des
Unfallopfers
Marion
Ploch
in
Erlangen
darstellen,
deren
Körperfunktionen zum Zwecke des Ausbrütens ihres Fötus über 14 Wochen von Ärzten
mechanisch "am Leben" gehalten werden sollten.
Ich beziehe mich dabei vor allem auf die Darstellung und Analyse des "Falls Marion Ploch"
durch die feministische Rechtswissenschaftlerin Monika Frommel am 9. Februar 1993 in der
Frankfurter Rundschau ("Die Entscheidungsbefugnis neu regeln - Lebensrecht: ein mehr als
fragwürdiges
Zauberwort").
Monika
Frommel
arbeitet
dort
die
Bedeutung
der
Rechtssprechung des Falles heraus und zeigt sie als klaren Bruch mit der bisher geltenden
juristischen Definition eines Fötusses. Wenn die Erlanger Rechtsprechung sich durchsetzt,
wird dem Embryo in Zukunft ein eigenes "Lebensrecht" zugesprochen, eine juristische
Neubeschreibung, die schwerwiegende Konsequenzen für die gesellschaftliche Fassung von
Menschenwürde und Würde der Frau haben wird:
"Verfassungsrechtlich handelt es sich bei der Leibesfrucht um ein Rechtsgut, also keinen
Träger von Grundrechten (so auch das Bundesverfassungsgericht in seiner berühmten
Entscheidung aus dem Jahre 1975). Allerdings genießt es den objektiven Schutz der
Verfassung, was bedeutet, daß Dritte zur Verantwortung zu ziehen sind und sich strafbar
machen, wenn sie das Rechtsgut werdendes Leben verletzen. Es bedeutet aber nicht
logisch zwingend, daß sich auch die Schwangere strafbar macht, wenn sie abtreiben läßt:
Diesen Schluß zieht zwar das Bundesverfassungsgericht 1975, aber aus einer weiteren
Prämisse, nämlich der damaligen These von der Strafpflicht des Staates auch gegenüber
der
Schwangeren.
Worauf
es
hier
ankommt,
ist
die
Klarstellung,
daß
das
Bundesverfassungsgericht jedenfalls nicht von einem Lebensrecht der Leibesfrucht im
juristisch-technischen Sinne ausgeht. Dieses ist aber die tragende Prämisse der
sogenannten Lebensschützer, die eine Ideologie verfolgen, die man persönlich teilen kann,
die aber nicht verbindlich für diejenigen ist, die sie ablehnen.
51
Man mag zu der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1975 stehen
wie man will, jedenfalls hat das Gericht damals nicht das Lebensrecht der Leibesfrucht
postuliert, sondern "nur" ein Prinzip der Verfassung klargestellt. Lebensschutz ist eine
Staatsaufgabe. Liest man die Urteilsbegründung genau, zeigt sich, daß an keiner Stelle
explizit vom Lebensrecht Ungeborener gesprochen wird, sondern immer nur vom Schutz
des sich entwickelnden Lebens. Diese Deutung wird bestätigt durch eine Passage, in der
das Gericht die Frage explizit ausklammert, ob ein Embryo Träger von Grundrechten sei."
Das Vormundschaftsgericht in Hersbruck, das für den Fall Marion Ploch zuständig war, traf
hingegen eine Entscheidung im Sinne der Lebensschützer-Ideologie "und zwar freihändig
ohne gesetzliche Grundlage über einen kühnen Analogieschluß zu Paragraph 1922 BGB. Die
tote Frau sei eine 'lebenserhaltende Schutzhülle', so steht es in der Begründung, ihr
postmortaler Persönlichkeitsschutz sei dem 'selbständigen Lebensrecht des ungeborenen
Kindes' nachgeordnet. Für die Frage, ob die funktionserhaltenden Apparate abzuschalten seien
oder nicht, sei eine 'Genehmigung durch das Gericht' erforderlich."
Diese Entscheidung ist insofern eine Ungeheuerlichkeit, als sie diejenigen entmün-digt, die
im Sinne einer Verantwortungsethik die Entscheidung treffen sollten. Das sind die, die für die
Kinderaufzucht praktisch die Verantwortung übernehmen wollen, im Falle des Fötusses von
Marion Ploch also die Eltern der Hirntoten. Installiert wird mit dieser juristischen
Entscheidung eine Expertenallianz von Richtern und Medizinern als neue Macht der
tatsächlichen "Letztbegründung". Eine prinzipielle Diskussion über diskursethische Probleme
der
"Letztbegründungen"
verdeckt
diese
de
facto
geschaffene
Neuverteilung
der
Entscheidungsmacht über Tod und Leben:
"Am vordringlichsten für künftige Fälle ist die Frage, wer die Entscheidungsbefugnis
haben soll. Die Erlanger Ärzte und ihre Berater gingen davon aus, eine solche Entscheidung könne 'objektiv' als Ergebnis einer Güterabwägung getroffen werden. Die für
die Entscheidung relevanten Güter waren in ihren Augen das 'Lebensrecht' des 'Kindes'
auf der einen und das postmortale Persönlichkeitsrecht der Toten auf der anderen Seite. Bei
einer solchen Bewertung des Problems nehmen Ärzte und gegebenenfalls Juristen die
52
Entscheidungskompetenz in Anspruch. Das Ergebnis ist vorprogrammiert. Das 'Interesse
des Kindes' überwiegt, wenn die Risikoeinschätzung eines solchen Experiments positiv ist.
So gesehen war es nur konsequent, daß in Erlangen die künftigen Sorgeberechtigten vor
vollendete Tatsachen gestellt und ihre Sicht ignoriert wurde. Aber es liegt auf der Hand,
daß
diese
Bewertung
nicht
richtig
sein
kann.
Unter
verantwortungsethischen
Gesichtspunkten gibt es weder ein Argument für eine ärztliche noch für eine
vormundschaftsgerichtliche Kompetenz. Denn weder die Ärzte noch die angerufenen
Gerichte tragen die Verantwortung für die Folgen ihres Tuns. Wenn überhaupt, dann
können nur die Personen entscheiden, die ihr Leben auf den immer riskanten Ausgang
und die Freuden und Lasten der Versorgung eines auf diese Weise geborenen Kindes
ausrichten."
Das Gewaltmonopol des Staates ist damit zum einen unzulässig in den Persönlichkeitsschutzraum, den Artikel 1 des Grundgesetzes definiert, ausgedehnt worden. Zwei-tens,
und das möchte ich besonders betonen, ist das Monopol der Strafrechtsverantwortlichen im
Staate stillschweigend um ihre Allianz mit der Biomedizin erweitert worden.
Fasse ich meine Ausführungen in einer pointierten Forderung zusammen, dann geht es in der
Diskussion über die Menschenwürde heute nicht darum, ein alltagssprachliches Verständnis
von Menschenwürde verbindlich durchzusetzen, sondern den Artikel 1 um eine
Grundrechtsbindung der Biomedizin als Schutz der einzelnen vor einer monopolistischen
Definitionsmacht der Biomedizin zu erweitern. Das ist aber keine Frage von philosophischen
Letztbegründungen, sondern eine Frage politischer Einflußnahme und Gestaltung der
Grundrechte. Als Feministin geht es mir dabei um eine Definition von Menschenwürde, die
die frauenverachtende Einordnung einer hirntoten Frau als "lebens-erhaltender Schutzhülle"
explizit ausschließt.
53
Das Subjekt der Menschenwürde - eine historisch-genetische Betrachtung
1
Das "Subjekt der Menschenwürde" ist das "Subjekt der Moderne", das ich im Folgenden als das
Muster der modernen, historisierenden Fortschritts- und Entwicklungsvorstellung zeigen
möchte. Diese baut fundamental auf den evolutionären Leitvorstellungen der Biologie des 19.
Jahrhunderts auf und auf eine spezifische mitteleuropäische Rechtstradition, die zu Beginn der
Neuzeit in Anknüpfung
an die Doppelstruktur des römischen Rechts mit seiner
Unterscheidung zwischen heiligem und weltlichem Recht ausgebildet wurde. Die tradierte
Sphäre des "heiligen Rechts" bestimmt bis heute innerhalb der säkularisierten Verfassungen
der modernen europäischen Staaten den Anspruch von "Letztbegründungen" bei allen Fragen,
die den moralischen Rahmen der generativen Familien- und Lebensformen betreffen. Gegen
solche Rückgriffe auf moralische Maximen des "Heiligen" als Letztbegründungen, plädiere ich
für eine Radikalisierung der neuzeitlich-modernen Säkularisierungsbewegung und für eine
völlig politische Begründung ethisch-moralischer Normen.
Ein Gegenbild zu einer politisch verfaßten, aber sakral teillegitimierten Verfassung wäre eine
rein politisch-säkulare Verfassung, die selbst als "Letztbegründung" moralischer Maximen
fungierte. Die Struktur einer solchen säkularisierten Politikverfassung bestimmte nach den
Erkenntnissen der althistorischen Forschung den Gesellschaftstypus der antiken Polis Athens
zur Zeit ihrer klassischen Phase, d.h. nach der Zerstörung der alten, kultisch bestimmten
Hausmacht-Verfassungen (OîKOI). Die Sozialordnung der Polisstruktur war in der
demokratischen Phase Athens selbst "das Heiligste", oberstes Ideal, das nicht noch einmal
göttlich legitimiert werden mußte. Im Gegensatz zu Rom hatten die Priester im klassischen
Athen keinen politischen Einfluß, den sie in Rom und zu Beginn der Neuzeit durch das
Monopol der Vorhersage und Zukunftsdeutung sowie der Kalender- und Zeitfestsetzung
hatten. Das ganze Problem der "Legitimität des Staates" und der Moralbegründung, das die
Theoretiker der Neuzeit beschäftigen sollte, stellte sich in Athen nicht. Über die Polis hinaus
1
Die hier angesprochenen Zusammenhänge sind detailliert in meiner Veröffentlichung von 1994 "Der
erregende Mythos vom Geld - Die neue Verbindung von Zeit, Geld und Geschlecht im Ökologiezeitalter"
ausgeführt.
54
bedurfte es weiter keiner göttlichen Legitimation, "obwohl sie anerkannten, was bei den
Römern ius sacrum hieß, gab es in Wirklichkeit kein Äquivalent zum kanonischen Recht, denn
das ius sacrum wurde von den gleichen Staatsorganen festgelegt und durchgesetzt wie das
profane Recht" (Finley 1986:121f.).
Das moderne, neuzeitlich-europäische Recht gründet wie das römische Recht auf die
doppelte Legitimation als weltlich und göttlich legitimiertes Recht. Es existierte zu Beginn der
Neuzeit zum einen als kanonische Gesetze (Kirchenrecht), die etwa ab dem 11. Jahrhundert in
Mitteleuropa die Familienformen regulierten (Becker, Bovenschen, Brackert 1981:37ff) und
zum anderen in unterschiedlichen Formen von peinlichen Gerichtsordnungen, die der
Hofjurist des französischen Königs, Jean Bodin, im 16. Jahrhundert in Rekurs auf das römische
Recht neu systematisierte. Indem Bodin dem weltlich-staatlichen Souverän das alleinige
Gewalt- und Strafmonopol zuerkannte, verleibte er das in Gott gegründete kanonische Recht
und die im Papst begründete Inquisi-tionsgerichtsbarkeit dem Staatsrecht ein (Schultz 1990).
An Bodins Begründung des neuzeitlichen Staates aus dem Gewalt- und Strafmonopol (auf ihn
geht der Begriff des "Absolutismus" zurück) wird die spezifische Struktur einer besonderen
Legitimierung der zuvor dem "jus sacrum" zugeordneten Sphäre der Familienordnungen,
insbesondere der moralischen Norm von ehelicher Sittlichkeit und Keuschheit für Frauen,
ersichtlich. Bodin war zu seiner Zeit der schärfste Vertreter von Hexenverfolgungen und schuf
den juristischen Kanon für den staatlichen Strafverfolgungsanspruch. Er unterstellte die
sexuelle Führung der Strafpflicht des Staates, indem er den Straftatbestand der
Teufelsbuhlschaft zur Grundlage der Hexenverfolgung machte und als Ausdruck des freien
Willens der Frauen zu ehelicher Unkeuschheit definierte.
Haben sich auch die Rechtsbestimmungen unter dem Gleichheitsanspruch des modernen
Rechts total verändert, so ist unsere Rechtsverfassung jedoch immer noch durch eine
besondere, andere moralische Legitimationsgrundlage des Familienrechts, das historisch dem
alten Geltungsbereich des "jus sacrum" unterlag, gekennzeichnet. Diese Sphäre sakraler
Legitimation von Rechtsbestimmungen wird heute bei moralischen und rechtlichen Fragen der
Selbstbestimmung von Frauen über ihre kreatürlich-reproduktiven Potenzen immer wieder ins
Spiel gebracht. Das ist beispielsweise in der Urteilsbegründung des BGH von 1975 gegen eine
Fristenlösung bei Abtreibungen geschehen (Schultz 1987). Das BGH begründete dort eine
Strafpflicht des Staats (gegen abtreibende Frauen) in Berufung auf eine sittliche
55
"Schöpfungsordnung". Solch ein Rückgriff auf die Gebote einer Schöpfung Gottes - und damit
auf sakrale Rechtsnormen - ist für die Ethikdiskussion über Fragen, die den Bereich der
Abtreibung wie auch den von biomedizinischen Eingriffen in die menschlich-kreatürliche
Reproduktion betreffen, kennzeichnend. Feministinnen spannen deshalb den historischen
Bogen in der Frage der moralischen Begründung von Rechtsnormen mit guter Begründung
zurück in die Konstitutionsphase des neuzeitlichen Staates, als parallel zu den Hexenprozessen
und ihrer Normierung ehelicher Keuschheit auch erstmals der Straftatbestand der Abtreibung
geschaffen wurde.
In einem zweiten historischen Bogen, der ein Verständnis für die Umbruchsituation heute
eröffnen soll, die mit den Schlagworten vom "Ende der Geschichte", dem "Ende des Subjekts"
oder dem "Ende der Moderne" gekennzeichnet wird, versuche ich nun einen Zusammenhang
zwischen
der
neuzeitlichen
Säkularisierungsbewegung,
den
Leitvor-stellungen
der
Wissenschaft der Biologie sowie der modernen Menschenrechtsvorstellung herauszuarbeiten.
Der "Blick zurück in die Geschichte" zeigt, daß mit den neuesten Welt- und
Lebenserklärungen, die die Wissenschaft der Biologie heute in ihren Unterdisziplinen der
Genetik (als Modell vom Leben) und der Autopoiesis (als Rahmen-theorie von sich selbst
organisierenden Systemen) anbietet, auch das rechtslegitimatorische Fundament des "Subjekts
der Menschenwürde" wegbricht. Diesen Zusam-menhang von Biologie und Recht versuche ich
in einer historischen Rekonstruktion des neuzeitlichen Säkularisierungsbogens entlang des
Begriffs der "Moderne" darzustellen:
Adelard von Barth, ein englischer Ritter und Benediktinermönch, kehrte im Jahre 1130 nach
längerem Aufenthalt in Spanien und Süditalien auf seine heimatliche Insel zurück und schrieb
dort die Abhandlung "Questions Naturalis", in der er seine Begeisterung über die
Wissenschaften ausdrückte, die er bei arabischen und jüdischen Gelehrten kennengelernt
hatte. In dieser Schrift nannte er seine Zeit den Höhepunkt der Geschichte und verwendete
dafür einen unüblichen lateinischen Begriff: modernus, frei übersetzt: der Gipfel der Zeit (Durant
1981, Bd. 7:178).
Wenn heute über die Moderne ('modernus') geschrieben wird, spannen die AutorInnen
den historischen Bogen nicht zurück bis ins 12. Jahrhundert. Der Begriff der Moderne, wie er
üblich verwendet wird, ist an die vernunftfixierte Tradition der Aufklärung gebunden, die mit
56
Fortschrittsdenken identifiziert wird. Er beinhaltet eine bestimmte Zukunftsausrichtung, in der
"die Menschheit" als ein einziges Subjekt gedacht wird, das seine Geschichte selbst
hervorbringt. "Die Menschheit" oder "der Mensch" ist das "Subjekt der Moderne".
Der
Zeittheoretiker Wendorff belegt diese neuartige Vorstellung mit einem Satz von Schelling aus
dem Jahr 1789: "Der Mensch hat Geschichte, weil er seine Geschichte nicht mit-, sondern selbst
hervorbringt" (Wendorff 1980:145). Zur Moderne gehört also die Entdeckung der Geschichte
als einer eigenständigen, subjekthaften Macht. In Deutschland wurde der Begriff "Geschichte"
im 18. Jahrhundert ausgebildet. "Vorher gab es den Plural von Geschichten einzelner Gebiete.
Erst die Aufklärungsphilosophie verdichtete und bereicherte jedoch 'Geschichte' zu einem
allgemeinen Begriff" (Wendorff 1980:308). Neu war im Gegensatz zur bisher üblichen
Historienschreibung:
1. Diese bestimmte Ausrichtung auf Zukunft,
2. daß Geschichte als Handlungsbegriff eines Gattungssubjekts "der Mensch" gedacht wurde,
der seine Geschichte selbst "macht",
3. die Vorstellung von einer Entwicklung zum Besseren.
Dieses Vertrauen, das hat der Althistoriker Christian Meier in einem Vergleich mit antiken
Fortschrittsvorstellungen griechischer Philosophen herausgearbeitet (Meier 1983:435ff),
gründete sich auf die Vorstellung, daß das menschliche Wissen voranschreite. Ein solches
Denken, das dem Wissen Entwicklungs- und Geschichtsdimensionen unterstellt, war den
Griechen fremd.
Diese Konzeption des fortschreitenden Wissens ist es, die "dem Menschen" als
Kollektivsubjekt wie als normativ vorgestellten männlichen Individuum eine "Subjektivität" in
Form der zunehmenden, aufgeklärten Vernunft gab. Es ist diese spezifische Form des
historisierenden Wissens in seinem Bezug auf Subjektentwicklungsstufen, die das Grundmuster des
modernen Denkens ausmacht. Deshalb ist eine Reflexion auf das moderne Muster von
Geschichtsbewußtsein und Zeit der Schlüssel für ein Verständnis des Zusammenhangs von
Wissen/Subjektverständnis und - wie ich am Ende meiner Darlegungen zeigen werde - von
Recht und Moral.
Das Subjekt der Moderne kann in Nachzeichnung der neuzeitlich-europäischen
Säkularisierungsbewegung als das Irdischwerden Gottes im gattungsgeschichtlichen
Entwicklungsbegriff beschrieben werden:
57
Im Mittelalter wurde Zeit als Teil der Allmacht Gottes begriffen. Zeit war ein Synonym für den
lateinischen Begriff säculum und bedeutete Menschheit (Glasser 1936:93). Säkularisierung
bezeichnet dementsprechend die Trennung der Menschheit von Gott als Prozeß ihrer Verzeitlichung. Dieser Prozeß der Säkularisierung spannt sich wie ein Bogen von der
mittelalterlichen Zeitauffassung, die in Gott ruhte, über das Fließendwerden der Zeit am
Beginn der Neuzeit, bis sie im unendlich gewordenen Universum Newtons als Bewegung zum
Grundzustand des Seins wurde, um in der Aufklärung schließlich zu einer von Gott gelösten,
unabhängigen Gesetzmäßigkeit zu werden. Als Geschichtsprozeß, der den universell
gedachten Gattungsmenschen leitet und sich über die in Natur wurzelnden, vergänglichen
Menschen erhebt, ist säculum der neue Gott, der die Schicksale der einzelnen überdauert. Bleibend sind nicht die irdischen Naturwesen, bleibend ist die Gattungsgeschichte, die als
Vernunftentwicklung über das richtige, vernünftige Wissen erkennbar wird. Damit hat die
kreatürlich-menschliche Reproduktion keine Geschichtsmächtigkeit. Die moderne NaturKulturopposition, die Kultur mit Entwicklung und aufklärendem Wissen identifiziert, ist in
das moderne Verständnis von Natur und natürlicher Reproduktion eingeschrieben.
"Bios", der aufkommende Begriff für Leben, der die neue Entwicklungsvorstellung an der
Wende zur Moderne markiert, bezeichnet eine Entwicklung des Lebens, die nicht durch Geburt und
Tod funktioniert. Es ist vielmehr die Gattungsgeschichte als eine Entwicklung von "Arten", auf
deren Spitze - dem "Gipfel der Zeit" (modernus) - die vernünftige Gattung Mensch steht. Bios
ist das Schicksal, nicht als launische Dame Fortuna, die dem einzelnen begegnet, sondern als
unabhängig vom einzelnen sich voll-ziehendes Kollektivschicksal, als historisches Gesetz, das
sich allein dem erkennenden Geist offenbart. Unendlich im Progress seines Wissenszuwachses
ist nur dieser vernünftige Geist, die Summe aller möglichen Erkenntnis; das konkrete, einzelne
Leben jedoch ist endlich wie alles Kreatürliche und vergänglich. Seit Montaigne (1533-1592)
schon zählt die Vernunfttradierung über ein Buch höher als die Tradierung des kreatürlichen
Lebens durch Geburt (Zemon-Davis 1986).
58
Der Ansatzpunkt für ein Begreifen der Entwicklungsvorstellung des Kollektivsubjekts
"Mensch" ist deshalb die moderne Fassung der Unendlichkeitsproblematik.
1
Sie liegt als
spezifisches Ordnungsschema der Welt, das zeitlich-historisierend funktioniert, auf der
Nahtstelle der beiden erkenntnisleitenden Hauptwissenschaften der Moderne, d.h., sie drückt
die Verbindung zwischen Physik und Biologie aus. Bis Newton war "Unendlichkeit" in den
physikalischen Rahmen des Kreislaufs der Gestirne gebannt und mit der festen Ordnung
Gottes gleichgesetzt. Eine "Physik" unabhängig von Gott war nicht denkbar. Seit Newton wird
das Maß der Veränderung als Zustand berechnet, nicht als übertragene Kraftgrößen. Das
mechanische Weltbild seit Newton ist deshalb bei genauer Betrachtung eher als ein
dynamisch-innovatives zu bezeichnen: Bewegung ist der Grundzustand des Kosmos und
Umlaufgeschwindigkeit die Logik des bürgerlichen Zeitalters. Das Neue an Newtons Theorie,
wogegen sich Leibniz mit aller Scharfsichtigkeit sperrte, war Newtons direkte Verknüpfung
von Zeit und Raum mit Gott, womit Zeit und Raum der Schöpfung vorausgesetzt wurden, die
absolute Zeit und der absolute Raum allem Dinglich-Weltlichen apriorisch vorangestellt
wurden. Ein jedes Ding bekam damit seine Dauer in der Zeit. Koyré betont, daß Leibniz
hingegen Bewegung tatsächlich immer noch als Veränderung und nicht als Grundzustand
begreifen wollte. Er baute noch auf dem Prinzip der Beobachtbarkeit auf und leugnete die
Entdeckung der Rotation und das erste und wichtigste Axiom der Bewegung, das besagt, daß
eine kreisförmige Bewegung, die an jedem Punkt ihrer Bahnkurve ihre Richtung ändert,
obwohl sie ihre Winkelgeschwindigkeit konstant beibehält, unter dem Aspekt des
Trägheitsgesetzes nicht als einheitliche, sondern als konstant beschleunigte Bewegung zu
fassen ist. Bei Newton - und das macht die Wende vom christlich-feudalen, anthropozentrischen zum christlich-"mechanistischen" Weltbild aus - wird unter der Annahme des
Trägheitsgesetzes Beschleunigung nicht als Veränderung gefaßt, sondern als ein Zustand. Aus
dem Gott Newtons wurde in 100 Jahren eine "erhaltende Kraft" ohne jeden göttlichen
Ursprung. Das Universum war jetzt die Unendlichkeit, eine sich unablässig beschleunigende
Bewegung der Zeit.
1
Diesen Zugang zur Analyse de modernen Zeitbewußtseins verdanke ich Alexandre Koyrés Interpretation
des "mechanischen Weltbildes" des 17. Jahrhunderts (Koyré 1969).
59
Die "moderne" Konzeption von Unendlichkeit drückte sich schließlich in einer von Gott
getrennten
Transzendenzvorstellung
aus,
die
als
biologisch-evolutionäres
Ge-
schichtsverständnis zu beschreiben ist. Die bedeutendsten, weil am nachhaltigsten wirkenden
Aufklärer für die Ausprägung der modernen Zeit- und Entwicklungsvorstellung waren die
Biologen Jean-Baptiste Lamarck und später Charles Darwin. Sie führten die historische Zeit in
die damit zeitlich werdende Natur ein. Lamarck behauptete, daß Zeit grenzenlos in Natur sei.
Dadurch bekam die Zeit Natur-Wurzeln und die Men-schengeschichte ihre "tiefere Zeit". Das
neue biologisierende Weltverständnis drückte sich in dem Satz aus: Alles hat seine Zeit.
Wenn heute von Moderne im Gegensatz zur Postmoderne die Rede ist, wird auf die
vernunftfixierte Tradition der Aufklärung Bezug genommen, die eine Zukunftsausrichtung
hervorbrachte, in der "die Menschheit" als ein Subjekt gedacht wurde, das seine Geschichte
selbst hervorbringt und auf Naturgeschichte gründet. Erst diese Vorstellung eines sich selbst
hervorbringenden Gattungssubjekts systematisierte das neue Geschichtsbewußtsein als eine
kosmologische Anordnung von Menschen und Natur, die zeitlich-perspektivisch hierarchisiert
ist. Es ist die Perspektive, für die Adelard von Barth schon den richtigen Begriff gebrauchte,
wenn er auch zu seiner Zeit die Welt noch nicht in dieser Perspektive sehen konnte: vom
"Gipfel der Zeit" ('modernus') auf die Naturgeschichte herabschauend als vernünftiges
Gattungssubjekt, das sich Entwicklungsstufe um Entwicklungsstufe vom Affen zum Menschen
aus Natur herausgearbeitet hat.
Bis ins 18. Jahrhundert wurde Natur räumlich bestimmt vorgestellt als eine "Kette der
Wesen", die, wie auf einem Tableau, horizontal angeordnet wurden. Das Universum wurde
wie eine immense Bibliothek betrachtet oder wie ein großes Buch, in dem abzulesen war, wie
alle von Gott geschaffenen Wesen zueinander stehen. Die Aufgabe der Botaniker war es, die
Pflanzen zu sammeln, zu systematisieren und im Tableau einzutragen. Linnés Systematik, die
alle Pflanzen nach ihren Geschlechtsmerkmalen in Gruppen einteilte, wurde noch von den
Evolutionisten des 18. Jahrhunderts berücksichtigt. Ihr Beitrag zur Transformation der
Naturgeschichte in eine "Geschichte des Lebens" bestand in der Ausprägung der Metapher von
der "Stufenleiter der Geschöpfe", nach der sich die Lebe-Wesen entsprechend ihren von Gott
mitgegebenen präformierten Anlagen "auswickeln". Evolution ist das französische Wort für
"Auswicklung" und meint die Auswicklung von mitgegebenen (Erb-)Anlagen. Es gab eine
60
Schule der Evolutionisten, die annahm, daß das neue Leben im männlichen Samen als Anlage
mitgegeben sei, eine andere sah sie im weiblichen Ei verschlüsselt.
Voltaire bemerkte zu diesem Stufenbild kritisch, es gefalle vor allem jenen Leuten, die
glaubten, den Papst und seine Kardinäle darin zu erkennen, gefolgt von den Erzbischöfen und
Bischöfen ... Natur dürfe sich nicht "feudal" vorgestellt werden, mahnte er, sondern - darüber
gab es eine ausführliche Debatte zwischen den Aufklärern - wie eine Republik (Lepenies
1978:45-54).
Der Übergang von der vormodernen Naturvorstellung zur evolutionären Naturvorstellung
wurde durch einen Wechsel der Leitorientierung von den Pflanzen zu den Großprimaten
vollzogen. Die Botanik war bis ins 18. Jahrhundert für die Medizin und vor allem für die
Landwirtschaft orientierend gewesen. Die größten technischen Neuerungen des 17. und 18.
Jahrhunderts waren Techniken der Bodenurbarmachung und -kultivierung. Im Paradigmenwechsel zu den Primaten, in deren Stufenleiter schließlich "der Mensch" an der Spitze
eingereiht wurde, drückte sich eine neue Form der Vergesellschaftung aus, die
Gesellschaftlichkeit nicht mehr als von Gott gegebene Fülle und größtmögliche Harmonie
1
bewertete. Gott wurde also nicht mehr in dem von ihm gegebenen Reichtum erkannt, sondern
Reichtum wurde jetzt unabhängig von Gott als ein säkularisiertes Potential gedacht, als ein auf
Zukunft ausgerichteter, sich vergrößernder Wert, der in Entwicklungsaktivität liegt und von
Adam Smith als Arbeit
gefaßt wurde. Damit bekam die Zukunftsvorstellung eine an die
Herstellung von "Reichtum" gebundene Dynamik.
Bis ins 18. Jahrhundert und noch in der Grundrententheorie der Physiokraten - einer
Theorie zur Verteidigung feudaler Privilegien der adligen und klerikalen Grundherren gegen
die in Kapitalien rechnenden Bürger -, wurde Reichtum als abhängig von den Beträgen der
Erde verstanden. Aber schon die Physiokraten begriffen Natur produktivistisch als eine von
Gott unabhängige wertgebende Naturressource. Parallel zu dieser Ökonomisierung der Erde
wurden
die
Frauen
in
Analogie
mit
demselben
produktivistischen
Muster
des
Wertehervorbringens durch "Natur" auf ihre Gebärfähigkeit reduziert. Weibliche Arbeit wurde
1
Das war der Gottesbeweis durch den Satz vom hinreichenden Grund, den noch Leibniz gegen Newton
einwandte, er besagt, Gott habe die Welt in größtmöglicher Harmonie erschaffen, und in dieser Harmonie könne
das Wirken Gottes erkannt werden. Newton lehnte diese alte Gottesvortellung als eine "mechanische" Vorstellung
von Gott ab. (nach Koyre 1969)
61
als Naturvoraussetzung mit menschlich-kreatürlicher Reproduktion identifiziert. Zu dem
säkularen, evolutionär-biologischen Weltverständnis, das den Kosmos nur noch als eine
Entwicklung von "biologischen Arten" begreift, die das Gattungssubjekt Mensch als
vernunftbegabtes Tier krönt, gehört untrennbar der Arbeitsbegriff der politischen Ökonomie.
Die im eigentlichen Sinne moderne Zeitvorstellung "Geschichte wird gemacht" hat damit
eine unsichtbare, weil vorausgesetzte
Naturwurzel. Geschichte wird gemacht als
Gattungsgeschichte, die in Naturgeschichte gründet. Arbeit - das was seit Ricardo und Adam
Smith zählt - ist somit Gattungsarbeit: Bearbeitung äußerer Natur und zugleich, durch
zunehmende Vernunfttätigkeit, auch Einwirkung auf die innere, die menschliche Natur.
Die Wende vom christlich-physikalischen zum säkularisiert-modernen Weltbild drückte
sich in einer Abkehr von der Chronologie als Großrahmen der Geschichte aus. Jetzt wurde
durch das chronologische Jahreszahlenraster hindurchschauend als "eigentliche" Geschichte
die Naturgeschichte entdeckt, die über den Artbegriff in ein durch Entwicklungsstufen
gekennzeichnetes System verwandter Lebewesen systematisiert wurde. Kant spekulierte schon
1790 in der "Kritik der Urteilskraft", daß "gewisse Wassertiere sich nach und nach zu
Sumpftieren, und aus diesen, zu Landtieren ausbildeten" (nach Lepenies 1978:38).
Schon Buffon, der berühmte französische Botaniker, dessen letzter Ergänzungsband seiner
"Histoire Naturelle" 1789 (ein Jahr nach seinem Tod) erschien, benutzte den Artbegriff. Seine
Systematik der Natur war aber noch Linnés vorgegebenem klassifikatorischen Tableau
verpflichtet. Buffon wollte mit dem Begriff der Art einen "ordre de temps" explizit
ausschließen. Die Arten standen bei ihm gleichzeitig nebeneinander, nicht in einer
historisch-genetischen Anordnung, in der eine aus der anderen "sich entwickelt". Über die
Entdeckung von Übergangs- oder Zwischenstufen, die zwischen zwei Arten lagen, wurde eine
Vorform eines genetisch-historisierenden Verständnisses von Entwicklung ausgebildet, das
Lamarck schließlich in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts zu einer biologisch fundierten
Geschichtstheorie ausformulierte.
In Lamarcks Werken ist der Paradigmenwechsel von der Botanik zur Zoologie anschaulich
nachzuvollziehen. Bevor 1809 seine "Philosophie Zoologique" erschien und die entscheidenden
Grundbausteine für Darwin legte, war er als Botaniker berühmt, galt er als der französische
Linné. Lepenies beschreibt den von ihm vollzogenen Paradigmenwechsel in einem schönen
Bild: Der Affe, wie der Wilde, der im Buch der Geschöpfe Gottes dem Menschen zur Seite
62
gestellt war, ist jetzt nicht mehr der "Bruder", sondern der "Großvater". Der Kosmos - der alte
Großrahmen der Welt, der früher durch die "Physik" definiert war - wurde jetzt vorgestellt
nach dem familiarisierten Muster einer patriarchalen Genealogie. Das ist der vorausgesetzte und
nicht explizit gemachte Rahmen der modernen Entwicklungsvorstellung "der Mensch".
Naturgeschichte wird in diesem Entwicklungsmodell durch die zeitliche Strukturierung
der Artverwandschaften zu einem Überbleibsel einer vergangenen Entwicklungsstufe, und die
Ethnologie, das formulierte der Aufklärer Condorcet, befaßt sich ab jetzt ebenfalls mit
historischen Resten : "Was an den Gesellschaften der Primitiven früher als Absurditäten
aufgefaßt wurde, wird jetzt zu den Überbleibseln einer früheren Entwicklungsstufe. Nicht
mehr der Rückgriff auf eine natürliche und universelle Vernunft, sondern eine
Geschichtstheorie bestimmt nunmehr die Stellung des Abendlandes, das als das einzigartige
Resultat dieses Entwicklungsprozesses erscheint, zu den Wilden." (Lepenies 1978:77).
Im Evolutionsbegriff, den Darwin um die Erklärung, daß sich Artenbildung über das
Prinzip natürlicher Auslese vollziehe, ergänzte, drückt sich so die Vollendung des
Säkularisierungsbogens aus. Gott ist durch ein Geschichtsverständnis ersetzt, das auf einem
entwicklungsperspektivischen
Arbeitsverständnis
aufbaut,
das
hierarchisierend
seine
naturalen Wurzeln und alle mit ihr Assoziierten in der Entwicklung zurückstuft. Die irdische
Familie wird zum formgebenden Muster dieses Gottes, insofern jetzt die Weltentwicklung
nach dem Muster einer Familiengenealogie gedacht wird: der Primitive als Großvater des
weißen Mannes. Es ist eine abstraktifizierte, patriarchale Familiengenealogie, in der keine
irdische Reproduktion mehr stattfindet. Die von den Physiokraten zur Naturressource
heruntergestufte menschlich-kreatürliche Reproduktion wird als natürliche Voraussetzung
1
von der Evolution kategorial getrennt und den Frauen als Artmerkmal zugeordnet .
Mit der Vorstellung von der Entwicklung des Lebens als verwandtschaftlicher
Entstehungsgeschichte der Arten sind die Frauen als evolutionäres Zwischenglied zwischen
dem Gesellschaftlichen und dem Gattungsmäßigen hierarchisierend immer in Beziehung zum
Mann als Kulturträger verortet, d.h., die primitive Frau ist der naturale Grund, in dem der
primitive Mann seine natürliche Zukunft garantiert bekommt, gleichermaßen gehört an die
1
Die Entstehung einer hierarchisierenden Funktionstrennung zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit über
den Artbegriff hat im einzelnen Elvira Scheich brillant aufgezeigt (Scheich 1989).
63
Seite des weißen Mannes eine weiße Frau als Garantin seiner natürlichen Zukunft. Über die
evolutionistische Fassung des Artbegriffs, der Frauen und Männern unterschiedliche
Entwicklungspotentiale nach dem Natur-KulturSchema mitgibt, ist die Differenz zwischen
Männern und Frauen als Differenz zwischen einer Entwicklung zur Individualität der Männer
und einer Entwicklung zum Geschlecht der Frauen vorgegeben.
Es ist die Doppelstruktur von gattungsgeschichtlich-natürlicher und biographischindividueller Zeit, die eine Geschlechtshierarchisierung nach der Kultur-Natur-Dichotomie
hervorbringt.
Die
Entwicklungsvorstellung
des
"Herausarbeitens
aus
Natur"
als
Menschengattung und die Vorstellung eines "Herausarbeitens aus Natur" als Individuum
wurden ineinander gesetzt. "Der Mensch" ist beides: Kollektivsubjekt wie Norm des
männlichen Individuums, das in seiner Entwicklung die Frau und den zukünftigen Erben
immer unterstellt. "Der Mensch" - das Subjekt der Moderne - ist ein spezifisches Muster
individualisierender
geschlechtsspezifischen
Vergesellschaftung
Fassung
von
und
patriarchaler
Genealo-gie.
gattungsmäßig-natürlicher
und
In
der
biogra-phisch-
individueller Zeit liegt die Geschlechterdifferenz der modernen Rechtsnormen begründet.
Den französischen Aufklärern war der Zusammenhang zwischen einer Revolutionierung
des Wissens und einer politischen Revolution sehr bewußt. Die meisten, wie Montesquieu,
waren selbst Naturwissenschaftler und wußten, daß die Säkularisierung des Denkens durch
die politische Entmachtung des Klerus und des Adels politisch nur nachvollzogen werden
mußte, daß die Losungen von Gleichheit und Demokratie nur die im neuen Wissen über die
Natur angenommene natürliche Gleichheit politisch umsetzten.
Nicht "Natur" als natürliche Geburt sollte mehr zählen in der Gesellschaft, sondern die
allen Menschen gleichermaßen von Natur gegebene Anteilnahme an der bio-evolutionären
Entwicklung der "natürlichen Zeit". Das ist die moderne Formulierung der Evolu-tionsvorstellung als politisches Programm.
Durchgesetzt wurde dieses Programm in der Französischen Revolution durch die
"Erklärung der Menschenrechte", deren Freiheitsbegriff auf einer doppelten politischen
Fassung der Lebenszeit aufbaut: "In dem Artikel 4 und 5 der Erklärung der Menschenrechte
vom 27. August 1789 wird durch die Definition des Begriffs der persönlichen Freiheit implizit
auch etwas über die ihm zustehende Zeit ausgesagt. Jeder kann innerhalb der ihm gesetzten
64
Grenzen mit seiner Zeit machen, was er will. Im Zeitalter aller möglichen Rechtsansprüche
entsteht auch das Bewußtsein des Rechts auf Zeit" (Glasser 1936:232f.).
Mit der Erklärung der Menschenrechte wird Zeit zu einer natürlichen Grundausstattung
"des Menschen", die allen Menschen gleichermaßen zukommt. Zeit ist das äußerste Minimum
an Existenz- und Lebensrecht, der gesellschaftliche "Ort", den jedes Individuum als seinen
eigenen beanspruchen darf. Das Recht auf eigene Zeit ist das Recht auf eine nicht
fremdbestimmte Zeit, also eine nicht leibeigene, nicht versklavt abhängige, sondern
natürlich-freiheitliche Zeit. Das ist eine Dimension der inhaltlichen Beschreibung der
Subjektivität des "Subjekts der Menschenwürde".
Die "natürliche Zeit" wird in dieser politischen Fassung sowohl zu einem unveräußerlichen
Eigentum wie zu veräußerbarem Besitz. Als veräußerbare Zeit, die in Arbeit gegen
Geldentlohnung getauscht werden kann, ist sie Besitz, Besitz an Arbeitskraft oder, wie Marx es
ausdrückte, die Freiheit, seine Arbeitskraft eine Zeitlang gegen Geld verkaufen zu können. In
der grundrechtlichen Beschreibung der natürlichen (Lebens-)Zeit liegt die jedem Vertragsrecht
vorausgesetzte Garantie der Subjekthaftigkeit als unantastbares Eigentum, d.h. als eine nicht
antastbare Sphäre des Individuums gegenüber dem Gewaltmonopol des Staates. Die
"natürliche Zeit" eines jeden Menschen ist das Grundmodell für jedes Eigentum seit der
Französischen Revolution, das nicht ohne Einwilligung des Eigentümers verwendet werden
darf. Es ist die politische Garantie eines eigenen Willens.
Durch die männerbündlerische politische Wende der Französischen Revolution, in der die
Frauen "als Geschlecht" von den politischen Versammlungen und von politischer Betätigung
ausgeschlossen wurden, sind die Frauen zugleich von der naturrechtlich-politischen
Verfassung der demokratischen Gesellschaft wieder ausgeschlossen worden. Durch die
Fassung ihrer "Natur" als reproduktiv-geschlechtlicher Natur und der Entgegensetzung der
männlich-politischen wurde ihre Lebenszeit nicht naturrechtlich, sondern (evolutionär)naturgeschichtlich bestimmt.
Gegen diese naturgeschichtliche Verortung der Frau im modernen Rechtssystem haben
Feministinnen immer wieder - mit Erfolg z.B. in Bezug auf die Erkämpfung des Stimm- und
Wahlrechts - gekämpft. Grundsätzlich erschüttert wird diese Orientierung auf eine
menschenrechtliche Verortung aller Menschen, wenn das Fundament der Menschenrechte, das
65
naturwissenschaftlich-naturrechtliche Muster der Wirklichkeits-wahrnehmung mit seiner
Verschränkung von Zeit- und Subjektvorstellung zerstört wird.
Die bio-evolutionäre Entwicklungsvorstellung, die auf der einen Seite mit Lamarck und
Darwin, auf der anderen Seite mit Adam Smith und auch noch mit Marx verknüpft war, ist
historisch überholt. Die popularisierte neue Entwicklungsvorstellung, die Ökologie, sowie das
wissenschaftliche
Konzept
der
Autopoeisis
hat
keine
gattungsgeschichtliche
Forschrittsperspektive mehr. Zudem zerstört die Gentechnologie die "natürliche Zeit" des
Werdens von Pflanzen und Tieren wie Menschen. Kann heute der Großonkel aufgrund von
Gen- und Reprotechniken - etwa weil er als befruchtete Eizelle jahrelang konserviert wurde erst lange nach seinem Urgroßneffen das Licht der Welt erblicken, dann stimmt etwas nicht
mehr im Muster der patriarchalen Genealogie. Angesichts der Gestaltungsmöglichkeiten
technischer Fortpflanzung werden tendenziell alle kreatürlichen Arten "gleich", indem sie
gleichermaßen machbar werden.
Zerbricht heute mit den neuen Leitorientierungen aus der Biologie das spezifisch moderne
Ordnungsmuster einer subjekthaft gedachten Entwicklung, die sich in Entwicklungsstufen
vollzieht, dann bricht damit auch das legitimatorische Fundament der modernen
Menschenrechtskonzeption
auseinander.
Das
spiegelt
sich
unter
anderem
in
den
Auseinandersetzungen um den westlichen Moral-Universalismus und um westliche
Ansprüche auf die Hegemonie über die Entwicklung wider. Mit der Verortung der
Naturvölker in historisch zurückgebliebenen "Stufen" war ja immer auch der Zivilisierungsanspruch einer helfenden, nachholenden Entwicklung durch die höher entwickelten
Zivilisationen verbunden. Diese Art der "Entwicklungshilfe" ist heute mitsamt des
Universalismusanspruches diskreditiert.
Es ist ernsthaft zu fragen, ob "Ethik" und moralische Maximen heute nicht unabhängig von
Naturvorstellungen, völlig säkularisiert und letztlich allein aus den Traditionen und
Erfahrungen von Politik diskutiert werden müssen.
66
Literatur:
Becker, Gabriele, Bovenschen, Silvia, Brachet, Helmut u.a. (1977): Aus der Zeit der Ver zweiflung. Zur Genese und Aktualität des Hexenbildes, Frankfurt am Main.
Duden, Barbara (1987): Geschichte unter der Haut, Stuttgart.
Durant, Will (1981): Kulturgeschichte der Menschheit, Bd. VII. Das hohe Mittelalter
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die Frührenaissance, Frankfurt am Main/Berlin/Wien.
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Glasser,
Richard
(1936):
Studien
zur
Geschichte
des
französischen
Zeitbegriffs,
München.
Koyré, Alexandre (1969): Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum,
Frankfurt am Main.
Lepenies, Wolf (1976): Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, München/Wien.
Scheich, Elvira (1989): Naturbeherrschung und Weiblichkeit. Dissertation, Frankfurt am Main.
Schultz, Irmgard (1990): Staatspaternalismus im Kopf und Vatersehnsucht im Herzen? Zum
zählebigen Überdauern des Modells des absolutistischen Staates: 7 Thesen anhand Jean
Bodins Staatstheorie aus dem 16. Jahrhundert. In: Schaeffer-Hegel, Barbara (Hg.): Vater
Staat und seine Frauen, Pfaffenweiler.
Schultz, Irmgard (1987): "Im Namen des Lebens". Zur aktuellen Auseinandersetzung um
Schultz, Irmgard (1994): Der erregende Mythos vom Geld - Die neue Verbindung von Zeit,
Geld und Geschlecht im Ökologiezeitalter, Frankfurt am Main/New York.
Wendorff, Rudolf (1980): Zeit und Kultur. Geschichte des Zeitbewußtseins in Europa. 2.
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Zemon-Davis, Natalie (1986): Frauen und Gesellschaft am Beginn der Neuzeit, Berlin.
den §218. In: Beiträge zur feministischen T
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Diskussionspapier, 1 - 1988, Hamburger Institut für Sozialforschung, 1988.
Wolfgang Dreßen, Rationalisierung ohne Rest? Probleme einer Wahrnehmungs-geschichte
des Fremden. Diskussionspapier, 1 - 1989, Hamburger Institut für Sozialforschung, 1989.
Götz Rohwer, Anhaltende Arbeitslosigkeit durch technischen Fortschritt und konsumtive
Sättigung? Diskussionspapier, 2 - 1989, Hamburger Institut für Sozialforschung, 1989.
Arno Gottschalk, Die "Modernisierung" der Telekommunikations-Infrastruktur als Prozeß
kapitalistischer Konkurrenz und Machtkämpfe. Kritische Anmerkungen zur bisherigen
Interpretation der Telekommunikationspolitik - Hinweise für einen alternativen Erklärungsansatz. Diskussionspapier, 3 - 1989, Hamburger Institut für Sozialforschung, 1989.
Wolfgang Plum, Zur Entstrukturierungsdiskussion in der Sozialforschung. Diskussionspapier, 4 - 1989, Hamburger Institut für Sozialforschung, 1989.
Dagmar Oberlies, Geschlechtsspezifische Aspekte der Tötungskriminalität. Eine empirische
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Götz Rohwer, Grenzen der Rationalisierbarkeit sozialpolitischer Kontroversen, Georg
Vobruba, Grenzen der Macht (Co-Referat). Diskussionspapier, 1 - 1990, Hamburger Institut für
Sozialforschung, 1990.
(nicht mehr lieferbar)
Sylke Nissen, Die Beschäftigungserpressung. Der Zielkonflikt zwischen Arbeitsplatz-sicherung und Umweltschutz als Problem politischer Legitimation. Diskussionspapier, 2 1990, Hamburger Institut für Sozialforschung, 1990.
Klaus Eder, Kollektive Akteure zwischen Identitätssuche und Mobilisierungsindustrie. Oder:
Wie man kollektive Akteure wieder theoriefähig macht. Diskussionspapier, 3 -1990,
Hamburger Institut für Sozialforschung, 1990.
(nicht mehr lieferbar)
Mechthild Rumpf, "Mystische Aura". Die Bedeutung des 'Mütterlichen' in Max Horkheimers
Schriften. Diskussionspapier, 4 - 1990, Hamburger Institut für Sozialforschung, 1990.
Wolfgang Bonß/Rainer Hohlfeld/Regine Kollek, Risiko und Kontext. Zum Umgang mit den
Risiken der Gentechnologie. Diskussionspapier 5 - 1990, Hamburger Institut für
Sozialforschung, 1990.
(nicht mehr lieferbar)
Bernd Greiner, "Die Frage ist: Wollen die Deutschen die Bombe?" Gespräch mit Gar
Alperovitz, Richard J. Barnet, Norman Birnbaum und Marcus G. Raskin. Diskussionspapier 6 - 1990, Hamburger Institut für Sozialforschung, 1990.
Heinz Steinert, Sozialpolitik als soziale Kontrolle, Carola Sachse, Kontrollpotentiale von
Sozialpolitik (Co-Referat). Diskussionspapier 7 - 1990, Hamburger Institut für Sozialforschung,
1990.
(nicht mehr lieferbar)
Christel Eckart, Selbständigkeit von Frauen im Wohlfahrtsstaat?, Bram van Stolk, Der Staat
als Ernährer (Co-Referat). Diskussionspapier 8 - 1990, Hamburger Institut für Sozialforschung,
1990.
(nicht mehr lieferbar)
Kaspar Maase/Gerd Hallenberger/Mel van Elteren, Amerikanisierung der Alltagskul-tur?
Zur Rezeption US-amerikanischer Populärkultur in der Bundesrepublik und in den
Niederlanden. Diskussionspapier 9 - 1990, Hamburger Institut für Sozialforschung, 1990.
(nicht mehr lieferbar)
Carola Sachse/Ilse Lenz/Tilla Siegel, Personnel Management as
Diskussionspapier 10 - 1990, Hamburger Institut für Sozialforschung, 1990.
(nicht mehr lieferbar)
Gender
Policy.
Uli Bielefeld, Das Fremde Innen und der Fremde außen. Diskussionspapier 11 - 1990,
Hamburger Institut für Sozialforschung, 1990.
Ulrich Dolata, Bio- und Gentechnik in der Bundesrepublik. Konzernstrategien,
Forschungsstrukturen, Steuerungsmechanismen. Diskussionspapier 1 - 1991, Hamburger
Institut für Sozialforschung, 1991.
(nicht mehr lieferbar)
Götz Rohwer, Möglichkeiten und Grenzen einer kapitalistischen Dienstleistungsgesell-schaft.
Diskussionspapier 2 - 1991, Hamburger Institut für Sozialforschung, 1991.
Elvira Scheich/Sandra Harding/Maria Osietzki, "Multiple Subjekt". Feminist Perspec-tives on
Postmodernism, Epistemology and Science. Diskussionspapier 3 - 1991, Hamburger Institut für
Sozialforschung, 1991.
(nicht mehr lieferbar)
Georg Vobruba, Moderne, Modernisierung, Sozialpolitik. Diskussionspapier 4 - 1991,
Hamburger Institut für Sozialforschung, 1991.
69
Carmen Gransee/Ulla Stammermann, Zur Reproduktion normativer Konstruktionen des
Weiblichen im Kontext eines Kriminalisierungsprozesses. Eine Medienanalyse zum Fall
"Monika Weimar". Diskussionspapier 5 - 1991, Hamburger Institut für Sozialforschung, 1991.
Katalin Lévai, Towards a reform of social policy in Hungary. Diskussionspapier 6 - 1991,
Hamburger Institut für Sozialforschung, 1991.
Kaspar Maase, Roll over, Beethoven! The "Americanisation" of West German Youths and the
Emergence of a New Cultural Balance. Diskussionspapier 1 - 92, Hamburger Institut für
Sozialforschung, 1992.
Sylke Nissen, Die ökologische Transformation sozialistischer Arbeitsgesellschaften.
Diskussionspapier 2 - 92, Hamburger Institut für Sozialforschung, 1992.
Werkstatt: Grenzverläufe. Mit einer Vorbemerkung von Jan Philipp Reemtsma und Beiträgen
von Regine Kollek, Elvira Scheich, Bernd Greiner, Wolfgang Kraushaar und Uli Bielefeld.
Diskussionspapier 3 - 92, Hamburger Institut für Sozialforschung, 1992.
Londa Schiebinger, Why Mammals are called Mammals. Gender Politics in EighteenthCentury Natural History. Diskussionspapier 4 - 92, Hamburger Institut für Sozialforschung, 1992.
(nicht mehr lieferbar)
Rosemary Robins, The Conventional and the Controversial: Stabilising the Nature and Risk of
Human Insulin Production. Diskussionspapier 5 - 92, Hamburger Institut für Sozialforschung, 1992.
Lene Koch, The Genetification of Medicine and the Concept of Disease. Diskus
sionspapier 1 - 93, Hamburger Institut für Sozialforschung, 1993.
Zygmunt Bauman, Biology and the Modern Project. Diskussionspapier 2 - 1993,
Hamburger Institut für Sozialforschung, 1993.
Evelyn Fox Keller, Shifting Valences of "Organism". Diskussionspapier 3 - 1993,
Hamburger Institut für Sozialforschung, 1993.
BUCHVERÖFFENTLICHUNGEN des Hamburger Instituts für Sozialforschung
Bauman, Zymunt (1992). Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Hamburg:
Junius Verlag.
(384 Seiten; DM 58,00).
Bergmann, Anna (1992). Die verhütete Sexualität.
Geburtenkontrolle. Hamburg: Rasch & Röhring.
(400 Seiten; DM 58,00).
Die
Anfänge
der
modernen
Bielefeld, Uli (1991). Das Eigene und das Fremde. Neuer Rassismus in der Alten Welt?
Hamburg: Junius Verlag.
(338 Seiten; DM 38,00).
Bölke-Zeuner, Gundula und Strobel, Barbara (1991). Alltag am Bildschirm. Frauen berichten
von ihren Arbeitserfahrungen bei der Bundesversicherungsanstalt Berlin. Hamburg:
Hamburger Institut für Sozialforschung, Forschungsberichte Band 6.
(212 Seiten; DM 16,00).
Bonß, Wolfgang/Hohlfeld, Rainer/ Kollek, Regine (Hg.) (1993). Wissenschaft als Kontext
(192 Seiten; DM 38,00).
Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg.) (1987). Die Auschwitz-Hefte. Texte der polnischen Zeitschrift "Przeglad Lekarski" über historische, psychische und medizinische Aspekte
des Lebens und Sterbens in Auschwitz. Aus dem Polnischen übersetzt von Jochen August,
Friedrich Griese, Veronika Körner, Olaf Kühl und Burkhard Roepke. Textredaktion Jochen
August (2 Bände). Weinheim und Basel: Beltz-Verlag, Hamburger Dokumente.
(657 Seiten; DM 168,00).
Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg.) (1987). Nie wieder! Ein Bericht über
Entführung, Folter und Mord durch die Militärdiktatur in Argentinien. Aus dem Spanischen von Critián Cortès. Mit einem Nachwort von Thomas M. Scheerer. Weinheim und
Basel: Beltz-Verlag, Hamburger Dokumente.
(281 Seiten; DM 98,00).
Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg.) (1988). Friedrich Mennecke. Innen-ansichten
eines medizinischen Täters im Nationalsozialismus. Eine Edition seiner Briefe 1935-1947. Bearbeitet von Peter Chroust (2 Bände). Hamburg: Hamburger Institut für Sozialforschung.
(1721 Seiten; DM 95,00).
Heim, Susanne / Aly, Götz (1986). Ein Berater der Macht. Helmut Meinhold oder der Zusammenhang zwischen Sozialpolitik und Judenvernichtung. Hamburg: Hamburger Institut für
Sozialforschung.
(72 Seiten; DM 7,00).
- Kontext der Wissenschaft. Hamburg: Jun
Maase, Kaspar (1992). Bravo Amerika. Erkundungen zur Jugendkultur der Bundesrepublik in
den fünfziger Jahren. Hamburg: Junius Verlag.
(312 Seiten mit 40 Abbildungen; DM 48,00).
Marsiske, Hans Arthur (1990). Eine Republik der Arbeiter ist möglich. Der Beitrag Wilhelm
Weitlings zur Arbeiterbewegung in den Vereinigten Staaten von Amerika, 1846-1856.
Hamburg: Hamburger Institut für Sozialforschung, Forschungsberichte Band 5.
(343 Seiten; DM 25,00).
Martin, Peter, (1993). Schwarze Teufel, edle Mohren. Afrikaner in Bewußtsein und
Geschichte der Deutschen.
(592 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, ca. 70 Abbildungen; DM 58,00).
Möller, Carola (1988). Flexibel in die Armut. Empirische Untersuchung und theoretische Verortung ungeschützter Arbeitsverhältnisse. Hamburg: Hamburger Institut für Sozialforschung, Forschungsberichte Band 3.
(162 Seiten; DM 20,00).
Pfeiffer, Hermannus (1987). Das Imperium der Deutschen Bank. Frankfurt/Main: Campus
Verlag.
(208 Seiten; DM 24,00).
Plum, Wolfgang (1988). Wohnungslosigkeit in Hamburg. Der institutionelle Umgang mit einer
akuten Armutssituation und die Konsequenzen für die Lebenslage der Betroffenen. Hamburg:
Hamburger Institut für Sozialforschung, Forschungsberichte Band 4.
(135 Seiten; DM 10,00).
Poliakov, Léon, (1993). Der arische Mythos. Zu den Quellen von Rassismus und
Nationalismus.
(431 Seiten; DM 38,00).
Pross, Christian (1988). Wiedergutmachung oder der Kleinkrieg gegen die Opfer. Mit einem
Vorwort von William G. Niederland. Frankfurt/Main: Athenäum Verlag.
(360 Seiten; DM 39,80).
Reemtsma, Jan Philipp (Hg.) (1991). Folter. Zur Analyse eines Herrschaftsmittels, Hamburg:
Junius Verlag.
(264 Seiten; DM 29,80).
Rühmann, Frank (1985). AIDS. Eine Krankheit und die Folgen. Frankfurt/Main und New
York: Campus Verlag, edition qumran.
(214 Seiten; DM 28,00).
Sachse, Carola (1987). Betriebliche Sozialpolitik als Familienpolitik in der Weimarer Republik
und im Nationalsozialismus. Mit einer Fallstudie über die Firma Siemens, Berlin. Hamburg:
Hamburger Institut für Sozialforschung, Forschungsberichte Band 1.
(625 Seiten; DM 60,00).
72
Sachse, Carola (1990). Siemens, der Nationalsozialismus und die moderne Familie. Eine Untersuchung zur sozialen Rationalisierung in Deutschland im 20. Jahrhundert. Hamburg: Rasch &
Röhring Verlag.
(336 Seiten; DM 58,00).
Schneider, Wolfgang (Hg.) (1991). "Vernichtungspolitik". Eine Debatte über den
Zusammenhang von Sozialpolitik und Genozid im nationalsozialistischen Deutschland,
Hamburg: Junius Verlag.
(200 Seiten; DM 28,00).
Wolf, Winfried (1986). Eisenbahn und Autowahn. Personen- und Gütertransport auf Schiene
und Straße. Geschichte, Bilanz, Perspektiven. Hamburg: Rasch & Röhring Verlag.
(464 Seiten; DM 58,00).
Demnächst erscheinen:
Brochhagen, Ulrich (1994). Nach Nürnberg. Vergangenheitsbewältigung und Westin
tegration in der Ära Adenauer, Hamburg: Junius Verlag.
(ca. 580 Seiten, mit 80 Abbildungen; DM 58,00)
Brubaker, Rogers (1994). Staats-Bürger. Frankreich und Deutschland im historischen
Vergleich, Hamburg: Junius Verlag.
(ca. 300 Seiten; DM 58,00)