matthias kettner - Hamburger Institut für Sozialforschung
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matthias kettner - Hamburger Institut für Sozialforschung
Diskussionspapiere Matthias Kettner Menschenwürde als Begriff und Metapher Irmgard Schultz Soll die "Würde des Menschen" politisch oder philosophisch begründet werden? MATTHIAS KETTNER Menschenwürde als Begriff und Metapher IRMGARD SCHULTZ Soll die "Würde des Menschen" politisch oder philosophisch begründet werden? Diskussionspapier, 1-94 Hamburger Institut für Sozialforschung, 1994 Hamburger Institut für Sozialforschung Mittelweg 36, 20148 Hamburg Telefon: 040/414097-15 Telefax: 040/414097-11 Zu den Autoren: Matthias Kettner, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Philosophie der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt, Mitarbeiter am Forum für Philosophie Bad Homburg und Fellow am Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen. Arbeitsschwerpunkte: Deutscher Idealismus, Psychoanalyse, philosophische und psychologische Moraltheorien, speziell Diskursethik. Irmgard Schultz, Dr. phil., ist Mitarbeiterin am Institut für sozial-ökologische Forschung, Frankfurt am Main. Arbeitsschwerpunkte: Feministische Umweltforschung, Alltagsökologie und Stoffströme. MATTHIAS KETTNER Menschenwürde als Begriff und Metapher Zusammenfassung Die politischen , ideologiekritischen, philosophischen, ökoethischen Einwände gegen die Idee der Menschenwürde sind erheblich, jedoch nicht zwingend. Versuche argumentativer Rechtfertigung dieser eurogenen, aber vielleicht nicht eurozentrischen Idee sind wichtig, weil Menschenrechte als erfahrungsoffene Operationalisierungen von Menschen-würde aufzufassen sind und daher gilt: Können wir die moralische Normativität dieser nicht überzeugend darlegen, dann auch nicht die moralische Normativität jener. Rechtfertigungsversuche müssen zwischen Menschenwürde als Metapher und als politischem, moralischem, juridischem Begriff unterscheiden. Vor allem aber müssen Fragen der Zuschreibungslogik und Fragen der Rechtfertigungslogik des Würdebegriffs unterschieden werden, sonst entstehen der Überzeugungskraft des Würdebegriffs abträg-liche Konfusionen, was an Beispielen der höchstrichterlichen Rechtsprechung gezeigt wird. Rechtfertigungsversuche auf naturrechtlich metaphysischer, jüdisch-christlich religiöser, postmodern existenz-ästhetischer Bahn enden in Sackgassen, aber eine diskursethische Argumentationsrichtung, die vom Problem ausgeht, wie sich überhaupt ein Adressatenbereich von Moral konstituieren kann, ist aussichtsreich. Human dignity as a concept and a metaphor Abstract The political, ideology-critical, philosophical and eco-ethical objections to the concept of human dignity are substantial but not necessarily conclusive. Attempts to legitimate this Eurogenic but perhaps not Eurocentric concept are important, since human rights can be perceive as an operationalisation of the idea of human dignity which is open to changing experiences. Therefore, if we cannot convincingly demonstrate the moral normativity of human dignity, then the same must be the case for human rights. Any attempt at legitimation must differentiate between human dignity as a metaphor and human dignity as a political, moral and legal concept. In particular, one must differentiate between questions of the logic of attribution and the logic of legitimation; otherwise, the resulting confusion will lead to a loss in the persuasive power of the conccept of human dignity, as will be demonstrated with examples from recent superior court decisions. Attempts to legitimate this concept on the basis of natural law and metaphysics, judaic-christian religious traditions, or along postmodern existential-aesthetic lines are destined to dead-end. However a fruitful approach seems to be to ask how the group of those who are the addressees of moral principles might be constituted and then to follow the argumentative scheme of discourse ethics. IRMGARD SCHULTZ Soll die "Würde des Menschen" politisch oder philosophisch begründet werden? Eine Kritik am ethischen Letztbegründungsanspruch von Philosophie Zusammenfassung 4 Die Würde des Menschen ist in den Menschenrechten festgeschrieben. Sie ist als historische und soziale Erscheinung im modernen staatlichen Rechts- und Strafsystem angesiedelt und hat damit einen politisch regulativen Anspruch. Der Letztbegründungsanspruch der philosophischen Ethik wird aus einer feministischen Perspektive kritisiert: Die philosophische Moralbegründung vernachlässigt die historische Einbindung der Menschenwürde und läßt allein ein Argumentationsschema als vernünftig gelten, das sich als Denkweise westlicher, männlicher Philosophen erweist. Deren universalistisches Denken ist heute de facto durch die vielfältige Artikulation partikularer Interessen aufgebrochen. Der Machtanspruch der philosophischen Ethik und die Institutionalisierung des ethischen Diskurses legen den Verdacht nahe, daß die Einführung neuer Macht- und Gewaltverhältnisse (z.B. im Bereich der "Biomedizin" der Angriff auf das Selbstbestimmungsrecht, die Unversehrtheit des Körpers und die Würde der Frau) kaschiert werden sollen. Eine historisch-genetische Untersuchung des "Subjekts der Menschenwürde", zeigt die Verknüpfung europäischer Rechtstraditionen mit biologischen Vorstellungen des 18. und 19. Jahrhunderts. Spätestens seit der Französischen Revolution ist die natürliche Lebenszeit eines jeden die minimale Grundlage der Subjekthaftigkeit der Menschen. Mit der männerbündlerischen Wende der Französischen Revolution wurden Frauen aus der naturrechtlich-politischen Verfassung der demokratischen Gesellschaft zugleich wieder ausgeschlossen. Ihre "Natur" wurde als reproduktiv-geschlechtlich definiert, ihre Lebenszeit naturgeschichtlich, nicht aber naturrechtlich bestimmt. Wenn das naturwissenschaftlich-naturrechtliche Muster der Wirklichkeitswahrnehmung mit seiner Verschränkung von Zeit- und Subjektvorstellung heute durch neue Einflüsse aus der Biologie zerstört wird, verliert die moderne, auf alle Menschen zielende Menschenrechtskonzeption ihren Boden. Moderne Verfassungen enthalten zudem hinsichtlich der generativen Familienund Lebensformen Elemente mit sakraler Legitimation. Diese Verfassungen sind deshalb nicht durchgängig "Letztbegründung" moralischer Maximen. Es wird vorgeschlagen, moralische Maximen unabhängig von Naturvorstellungen, völlig säkularisiert und allein aus den Traditionen und Erfahrungen der Politik zu diskutieren. Should "human dignity" be defined politically or philosophically? A critique of philosophy's claim to being the highest authority in ethical questions Abstract Human dignity is embodied in codes of human rights. As a historical and social phenomenon, the concept of human dignity is anchored in the legal and penal systems of modern states and thus is intended to serve as a political regulative. The claim of philosophical ethics to being the highest authority in ethical questions is critized from a feminist perspective. The philosophical argumentation on morals neglects the historical context of the definition of human dignity and accepts as reasonable only that line of argument which proves to be compatible with the thought of Western male philosophers. However, the universalistic way of thinking of such Western male philosophers has today de facto been disrupted by the articulation of a variety of particular interests. The claim to power of philosophical ethics and the institutionalisation of ethical discourse lead one to suspect that 5 the aim is to conceal the introduction of new relations of power and violence (e.g. in the area of "biomedicine", the attack on women's right to self-determination, on their bodily integrity and their dignity). An historic-genetic study of the "subject of human dignity" reveals the connection between European legal traditions and the biological concepts of the 18th and 19th centuries. Since the French Revolution (at the latest), the natural life span of the individual has been the minimal basis of a human being's claim to subjecthood. At the same time, the male-dominated turning point of the French revolution marked the exclusion of women fron the political and natural law constitution of democratic society. Women's "nature" was defined as reproductive-sexual, their life span determined by natural history, but not by natural law. This pattern of perceiving reality, determined by the principles of science and naturral law and characterized by the intertwining of the concepts of time and subject, is today being destroyed by new developments in biology. As a result, the modern concept of human rights, which is intended to apply to all human beings, is losing its basis. Furthermore, with respect to generative forms of family and social life, modern constitutions include elements of sacral legitimation. Therefore, such constitutions can not be considered to argue consistently as final authorities with respect to moral principles.It is suggested here that moral principles be developed and discussed as independent of concepts of nature, as wholly secular ideas and solely founded on the traditions and experience of politics. 7 MATTHIAS KETTNER MENSCHENWÜRDE ALS BEGRIFF UND METAPHER 1. Die Fragwürdigkeit des Würdebegriffs Die Berufung auf Menschenwürde ist zumeist von argumentativer Hilflosigkeit überschattet. Menschenwürde gerät zur diffusen Metapher für das Allerheiligste der Moral, von dem man nicht recht weiß, ob es groß und erhaben oder leer und lächerlich ist. 1 Ich nenne dies metaphorische Menschenwürde. Würde ist ein veraltetes Wort. Erst die modernen Gesellschaften kennen die Metapher der Menschenwürde als moralisch-rechtlichen Begriff. Konnotativ verweist sie jedoch eher auf feudal organisierte Gesellschaften oder auf Hierarchien der sozialen Anerkennung in Stammesgesellschaften. Priester, Könige, Stammesfürsten und Adlige haben Würde, niemals das gemeine Volk. Nicht die "Würde der Frauen", nicht die "Würde der Männer", sondern die Würde des Menschen kommt kategorisch jedem Menschen als solchem zu, das bedeutet eine gar nicht zu überschätzende Revolutionierung in den europäischen Vokabularen der Selbstdeutung. Für einen Konservativen wie Edmund Burke war die durch die Aufklärung wirkungsmächtig gemachte Idee, der gemeine Mann habe eine Würde, noch Anlaß zu zynischem Spott. Erst in der Französischen und der amerikanischen Revolution wurde endgültig die alte Lesart abgelöst, die unterschiedlich nach Stand, Rang, Bildung und Geschlecht Würde zuwies. Die alte, konventionelle Lesart wurde, jedenfalls in der politischen Semantik, durch die moderne, radikal egalitäre Lesart von Menschenwürde ersetzt. Diese 1 Repräsentativ ercheint mir der folgende Ausschnitt aus einem der Interviews, die der Soziologe Tilmann Sutter (1990:157) mit fünf Personen im Alter zwischen 26 und 32 Jahren führte. Der Interviewte denkt über die moralische Verurteilung eines terroristischen Anschlags nach, bei dem zwei Menschen ermordet wurden: "Also was wäre dann Moral?" - "Ja, Moral wär' in dem Sinne was weiß ich... ähm... die Würde ... wie war das nochmal? (lacht) die Würde des Menschen ist unantastbar (lacht laut und herzlich)." (...) "Also ich... ich steh' dazu irgendwie so, ich kann da irgendwie nicht... (schlägt mit Händen auf Schenkel) ich kann mir das theoretisch so überlegen, aus welchen Gründen das vielleicht nicht gut ist oder doch vielleicht berechtigt oder irgendwie sonstwas, aber also ich würd' sowas nicht machen und ich find's auch nicht gut, sowas zu machen." 8 Ablösung, die aus der Menschenwürdemetapher einen Kernbegriff postkonventioneller Moral gemacht hätte, ist jedoch nur unvollständig gelungen. Der universale Gehalt der Menschenwürdemetapher ist begrifflich seltsam blaß geblieben und kann daher jederzeit als "bloß metaphorisch" skeptisch distanziert werden. 1 Menschenwürde als Metapher hat für die meisten unserer Zeitgenossen anachronistische Züge längst untergegangener Ethosformen behalten. Vielleicht sollten wir daraus den Schluß ziehen, daß diese Metapher deshalb ungeeignet ist, diejenigen normativen Vorstellungen und Ideale abkürzend auszudrücken, die uns, geprägt von einer europäischen, einstmals emphatisch universalistischen Moderne, die wichtigsten sind. Ist Menschenwürde vielleicht ein unrettbar konventioneller Ausdruck für ein postkonventionelles moralisches Ideal und daher notorisch mißverständlich? Würde können auch Staatsbürger ihrem Land und Volksgenossen ihrem Volk zuschreiben. In Serbien kann heute (1993) jede Tat im Namen der Verteidigung der "Würde des Serbentums 2 und nationaler Unabhängigkeit" gerechtfertigt werden. Wahrscheinlich trifft dies nicht nur auf die Serben zu. Weder den kulturgeschichtlichen noch den politischen Registern der Würdemetapher ist also zu trauen. Zur Fragwürdigkeit der Menschenwürdemetapher trägt auch ein ideologiekritischer Verdacht bei. Nominaldefinitionen, die die Metapher der Menschenwürde vorsichtig, ohne voreilige Inhaltsfestlegung, begrifflich bestimmen wollen, wecken ein eigentümliches Unbehagen. Man mag Menschenwürde als "Inbegriff gelungener Humanität" (Wils 1991:138) nominell definieren, doch wer soll definieren, was Humanität ist, und wer, wann sie gelungen ist? Erst die Antworten auf Fragen nach der Definitionsmacht über den Begriff entscheiden 1 Die schärfste mir bekannte Distanzierung des normativen Syndroms von Menschenwürde und Menschenrechten ist die von Alasdair MacIntyre (1984:65f.). Als Fazit seiner historistisch-relativistischen Einwände kommt er zu dem Schluß: "(T)he truth is plain: there are no such rights, and belief in them is one with belief in witches and in unicorns. The best reasons for asserting so bluntly that there are no such rights is indeed of precisely the same type as the best reason which we possess for asserting that there are no witches and the best reason which we posses for believing that there are no unicorns: every attempt to give good reasons for believing that there are such rights has failed" (ebd.). Der zuletzt zitierte Allsatz ist freilich nicht allen so evident wie seinem Autor. 2 Das kritisierte Anfang 1993 Nenad Briski von der serbischen Tageszeitung Borba. 9 darüber, ob sich "ein dekorativer Begriff von der Würde (...), mit dem sich die Macht umgibt", vermeiden läßt, wie Gabriel Marcel (1966:159) solche ideologiekritische Skepsis pointiert artikuliert. Die Skepsis richtet sich auf zwei Syndrome. Zum einen auf die Ideologie des Humanen als Deckmantel für Praktiken der Inhumanität. "Der Mensch ist die Ideologie der Entmenschlichung" diagnostiziert Adorno (1977:452). Zum anderen auf das Syndrom von menschlicher Überheblichkeit, "Speziezismus" und Naturverachtung. Zivilisationskritische Kulturphilosophie von Rousseau bis Lévi-Strauss hat in der Metapher der Menschenwürde stets die Hybris aufgespürt, eine fragwürdige Selbstüberhöhung der Menschenart, mit der diese alle andersgearteten Lebewesen hegemonial ausgrenzt. Es sind die Implikationen von Ausgrenzung durch Abgrenzung und von Unterordnung durch Überordung, die für Lévi-Strauss die Menschenwürdemetapher so überaus fragwürdig machen. "Ist es nicht der Mythos von der ausschließenden Würde der menschlichen Natur, der die Natur selbst eine erste Verstümmelung erleiden ließ, der unweigerlich weitere folgen müssen?" (Lévi-Strauss 1975:53) Gegen den Pauschalverdacht, in der Menschenwürdemetapher verschanze sich die Angriffswut der Menschheit gegen die übrige Natur, finde ich drei Einwände überzeugend: Einwand 1: In ökoethischen Diskussionszusammenhängen, die durch Resonanz mit dem Credo einiger Grüner und vieler Tierschützer auch eine gewisse Bedeutung für den polititischen Diskurs gewinnen, werden zu schnell "Zentrismen" diagnostiziert. Patho- und biozentrische Ansätze werden gegen anthropozentrische Ethiken ausgespielt. Anthropozentrischen Auffassungen zufolge bezieht sich das moralische Sollen primär auf Verhältnisse zwischen Menschen, und zwar darum, weil es dort entsteht. Von dieser Auffassung, die ich für richtig halte, muß freilich die Auffassung unterschieden werden, alles Wertvolle sei wertvoll allein für menschliche Bewerter. Nur gegen diese zweite, anthropochauvinistische Position ist Verdacht berechtigt (vgl. Kettner 1992b). Einwand 2: Erst durch das neuzeitliche Denkverbot gegen Anthropomorphismus, das den cartesischen Wissenschaftstypus begleitet (vgl. Spaemann 1987:102), wird Anthropozentrismus hegemonial, wird zum Anthropochauvinismus. Einwand 3: "Der Verzicht auf die Kategorie 'Menschenwürde' befördert noch nicht eo ipso die Respektierung der Natur - das Gegenteil könnte der Fall sein" (Wils 1991:132). Ähnlich, so 10 scheint mir, denkt auch Hans Jonas, in dessen "Prinzip Verantwortung" eine Rolle für den Menschen qua Menschen begründet werden soll, die in der traditionellen Ethik nicht vorgesehen ist, nämlich die eines Treuhänders der natura naturans. 1 2. Menschenrechte und Menschenwürde Warum wird der Würdebegriff trotz seiner Fragwürdigkeit nicht aufgegeben? Was hängt davon ab, ob sich die Metapher der Menschenwürde in Begriffsnetzen philosophischer Begründungsdiskurse fassen und durchdenken läßt? Was steht auf dem Spiel, falls alle derartigen Versuche zuletzt an wertsubjektivistischen, kulturrelativistischen, vernunftskeptischen oder anderen Einwänden scheiterten? Eines der Felder, auf denen Begriffe der Menschenwürde heute kontrovers sind, ist die Bioethik und die öffentliche Diskussion, die teils über sie, teils mit ihr geführt wird. Derzeit wird vor allem in Deutschland in der Meinungsbildung über Abtreibung, Euthanasie, Gentechnik und die neuen Techniken menschlicher Reproduktion mit dem Begriff der Menschenwürde argumentiert, oder es wird dagegen protestiert, Menschenwürde überhaupt als Argument anzuführen. Die argumentative Hilflosigkeit, die die metaphorische Menschenwürde umgibt, befördert unfreiwillig die Diskreditierung der Idee der Menschenwürde als solcher. So meint etwa Peter Singer (1978:159), die Berufung auf Menschenwürde gehöre zu den "fine phrases" und sei "last resort" derjenigen, "who have run out of arguments". Singers berechtigte Kritik trifft freilich 1 Doch wie? Jonas meint, die Sorge für all dasjenige, was als Selbstzweckwesen anerkannt ist, oder die Sorge dafür, daß alles, was Selbstzweckcharakter hat, auch wirklich von uns als Zweck an sich selbst anerkannt werde, müsse in die Auszeichnung des Menschen einbezogen werden. An diese Position richtet sich die Frage, ob Jonas nicht alles, was er sagen will, auch mit dem Begriff des Interesses sagen könnte, anstatt mit Wertbegriffen wie dem der Würde? Könnte Jonas dieselben Präzepte, die er im "Prinzip Verantwortung" durch neoaristotelisch-metaphysische Appelle an die Würde der von Zweckhaftigkeit durchzogenen Natur begründet, nicht ebenso, und einsichtiger, unter Berufung auf allgemeine Überlebensinteressen der Menschheit kontraktualistisch begründen? (Zur Analyse von Jonas' metaphysischer Begründungsstrategie siehe Kettner 1990.) Eine kontraktualistische Begründung hat den Vorteil, daß sie an Interessen appelliert, die jeder einzelne Mensch darum nachvollziehen kann, weil sie auch im je individuellen Interesse liegen. (Davon unberührt bleibt der pilosophisch interessante Punkt, daß eine nur kontraktualistische Begründung universalistischer Moralprinzipien begründungstheoretisch unmöglich ist, vgl. bes. Apel 1992:47-57). 11 primär die dogmatische Rhetorik jener anglo-amerikanischen Lebensschützer, die ihre antiliberalen Unternehmungen mit der Doktrin von der Heiligkeit des Lebens absegnen. 1 Aber angenommen, es wäre tatsächlich so, daß der Metapher der Menschenwürde auf argumentativem Wege kein allgemeinverbindlicher Begriffsgehalt zugeschrieben werden könnte, selbst dann würde nach meinem Erachten daraus nicht folgen, daß es irrational sei, an ihr als etwas Wertvollem festzuhalten. Daß eine Metapher immer dann rational entwertet sei, wenn sie kognitiv entwertet ist, wenn sich also kein ihr entsprechender begrifflicher Gehalt strikt allgemeinverbindlich ausweisen läßt, erscheint mir kurzschlüssig. Ein zwingender Zusammenhang von rationaler und kognitiver Entwertung ergibt sich vielmehr nur unter Voraussetzung bestimmter, keineswegs zwingender metatheoretischer Annahmen über die 2 Natur von Metaphern, Rationalität und die Sprache der Moral. Diese Annahmen machen blind für die Denkmöglichkeit, die ich hier aber nicht verteidigen will, daß die Menschenwürdemetapher eine kognitivistische Leerstelle setzt, die genau als Leerstelle eine wichtige Funktion im Prozeß kollektiver Selbstverständigung erfüllt und dadurch rational bedeutungsvoll ist. Denkbar ist auch, daß für die Forderung der Achtung menschlicher Würde ein pluralistischer, d.h. auf vielfältigen und verschiedenartigen Gründen beruhender Konsens besteht, ohne daß es in diesem überlappenden Konsens eine bestimmte Art von rationalistischen, zwingenden kognitiven Gründen gäbe, die gleichsam die Trümpfe im Spiel des Begründungsdiskurses wären. 1 Im anglo-amerikanischen Raum spielt der Begriff der human dignity eine viel geringere Rolle als in kontinentalen moralphilosophischen, politischen und juristischen Zusammenhängen. Allerdings wird heute zunehmend, besonders in der amerikanischen Bioethik-Diskussion, der Begriff sanctity of life (Heiligkeit des Lebens) von Theologen aber auch von Laien benutzt, "um einer befürchteten Erosion der Ehrfurcht vor dem Leben entgegenzuwirken" (Schmidt 1993:54). Im Kampf radikaler AbtreibungsgegnerInnen ("Pro Life!") gegen BefürworterInnen liberaler Abtreibungsgesetze ("Pro Choice!") wird der Begriff aber tendentiell jedem Diskurs entzogen und dadurch zu einem Instrument des Gesinnungsterrors. Charakteristisch hierfür ist die folgende Äußerung der American Life League: "A.L.L. takes the irreversible [!] position that every life is good because it comes from the only Author of Life. Every life is providential because it plays a unique role in the Great Plan of the Almighty." (All About Issues 5, 1990, p.4) 2 Bei Peter Singer sind das emotivistische Annahmen über Metaphern und empiristisch-kognitivistische Annahmen über Rationalität und die Sprache der Moral. 12 Die angedeuteten Strategien zur Verteidigung eines rationalen Sinns der Menschenwürdemetapher lassen sich verfeinern. Sie bleiben aber begründungstheoretisch gesehen Defensivstrategien von minderem Interesse. Die emphatische Bedeutung der Menschenwürdemetapher erschließt sich hingegen erst unter einem veränderten Blickwinkel: Der Hauptgrund, warum wir versuchen müssen, aus der metaphorischen Menschenwürde einen auch begründungstheoretisch tragfähigen Menschenwürdebegriff zu entwickeln, ist nämlich die enge Verbindung von Menschenwürde und Menschenrechten. Ich plädiere für eine Auffassung, derzufolge Menschenwürde und Menschenrechte zwei Seiten eines Sachverhalts sind. Wenn eine Menschenwürdeverletzung immer nur aufgrund 1 einer zugleich erfolgenden Menschenrechtsverletzung rechtlich sanktioniert werden kann, so ergibt sich aus dem Verfassungsauftrag, die Menschenwürde zu achten, offenbar ein "Verrechtlichungsauftrag" (Böckenförde & Spaemann 1987:314), um Mißachtungen der Menschenwürde rechtlich, d.h. mit der nachhaltigen Deckung durch staatliche Monopole demokratisch legitimierter Gewalt, entgegentreten zu können. Kann ein Akteur die Menschenwürde eines anderen verletzen, ohne ein Menschenrecht des anderen zu verletzen? Ich denke, daß dies nicht möglich ist. Beweisen läßt sich diese Ausschlußbehauptung vielleicht nur induktiv hermeneutisch: Wenn wir Fälle betrachten, in denen moralischer common sense urteilt, etwas sei wider die Menschenwürde, ohne diese Behauptung durch einen Hinweis auf Menschenrechtsverletzungen stützen zu können, würde sich vermutlich herausstellen, daß solche Urteile auf Menschenbilder zurückgehen, die nur "lokal" in bestimmten Gemeinschaften ideell verbindlich sind und nicht universalisiert, d.h. im Namen aller für alle verbindlich gemacht werden können. Proklamierte Menschenrechte hingegen sind, wenn sie ihren Namen verdienen, durch den Filter von Universalisierbarkeitsprüfungen (ob jeder wollen kann, daß sie für alle verbindlich sind) hindurchgegangen. 2 Da Universalisierbarkeitsprüfungen keinen definitiven normativen Grund der Verbindlichkeit liefern, sondern nur filtern, während Menschenwürde eben jenes 1 Vgl. Begründungen für die Einrichtung internationaler Gerichtshöfe für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. 2 Zur "Neutralisierung von Menschenbildern" im Rechtsinstitut der Menschenrechte als notwendiger Bedingung ihrer Zumutbarkeit für alle möglichen Kulturen vgl. Höffe (1992:6f.). 13 (definitive normative Verbindlichkeitsgründe zu geben) verspricht, bleiben Menschenrechtsidee und die Idee menschlicher Würde aufeinander angewiesen. Daher scheint es mir sinnvoll, Menschenwürde und Menschenrechte implikativ aufeinander zu beziehen. Begrifflich aber bleiben beide distinkt: Menschenrechte sind Rechte, d.h., in ihrem Begriff liegt eine Symmetrie von Recht und Pflicht. Menschenwürde ist kein Recht, sondern ein Anspruch. Ein Akteur y mißachtet die Würde eines Menschen x genau dann, wenn y ein Menschenrecht von x verletzt. 1 Das eigentümliche normative Implikationsverhältnis, das zwischen dem moralisch-politischen Menschenwürdebegriff und Menschenrechten besteht, 2 läßt sich vielleicht als die Lösung des Anwendungsproblems eines zunächst nur moralisch-politischen Idealprinzips (nämlich der gesollten allseitig-wechselseitigen Achtung als Mitmensch) im Medium des positivierbaren Rechts konkreter politischer Gemeinschaften (Staaten) betrachten. Man müßte dann sagen: 1 Die Akteurvariable y kann sich außer auf natürliche Personen auch auf kollektive Handlungssysteme (z.B. Gruppen mit Entscheidungsstrukturen, Wirtschaftsunternehmen, Religionsgemeinschaften, Staaten, Staatenbünde mit zentralen Entscheidungsinstanzen) beziehen. Die Individuenvariable x hingegen bezieht sich ausschließlich auf individuell existierende Menschen. So heißt es in Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UNO vom 10.12.1948: "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren." Spätere erweiternde Menschenrechtsdeklarationen, die z.B. auch Selbstverwirklichungsrechte von Kulturgemeinschaften anerkennen, ändern nichts an der ontologischen Prämisse, daß alle und nur individuell existierende Menschen logisches Subjekt von Menschenwürdezuschreibungen sind, und nicht z.B. Kulturgruppen. Spezifische Menschenrechte einer Kulturgruppe sind Rechte einzelner Menschen qua Repräsentanten dieser Kulturgruppe. Und die einzelnen Menschen qua Repräsentanten dieser Kulturgruppe hätten nicht solche Rechte, wenn sie nicht auch unabhängig von den Eigenschaften, die sie zu Repräsentanten jener Kulturgruppe machen, die Würde (und Rechte) von Menschen simpliciter hätten. 2 In der allgemeinen Menschenrechtserklärung der UNO (1948), Art. 1, ist dieses Implikationsverhältnis in noch unentwickelter, gedrängter Form ausgesprochen: "All human beings are born free and equal in dignity and rights." Spätere Deklarationen desambiguieren dieses Verhältnis: Weil Menschen Würde haben, darum haben sie auch Menschenrechte. So heißt es im International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights vom Dezember 1966 über die gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Menschen, daß "these [human] rights derive from the inherent dignity of the human person". Hiervon ableitende Lesarten sind nicht sehr plausibel, aber auch nicht unmöglich zu vertreten. So vertritt Joel Feinberg (1980:151) die umgekehrte Position, daß der Sinn der Rede von Menschenwürde sich vom Sinn der Rede von Menschenrechten herleite: "What is called 'human dignity' may simply be the recognizable capacity to asssert claims. To respect a person, then, or to think of him as possessed of human dignity, simply is to think of him as a potential maker of claims." Und Jacques Maritain (1951) vertritt die Position, daß Menschenwürde und Menschenrechte begrifflich identisch sind. Diese drei möglichen Positionen unterscheidet Gewirth (1992), der seinerseits für die erste plädiert, die ich oben die Beziehung der "normativen Implikation" genannt habe. 14 Menschenrechte konkretisieren Menschenwürde durch deren geschichtsbezogene Kontextualisierung. Die Menschenwürde ist ein abstraktes (nämlich von konkreten soziohistorischen Umständen und Gegebenheiten absehendes) moralisch-politisches Ideal, das - unter Voraussetzung der Existenz des demokratischen Rechtsstaats - zu subjektiven Rechten transformiert wird. 1 Um das zu veranschaulichen: Die Würde des Menschen in Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) 2 enthält den alle Kontextrelativitäten aufhebenden, für alle vernünftigen Personen einsehbare Gültigkeit beanspruchenden Legitimationsgrund der Grundrechte aller 3 Staatsbürger eines besonderen politischen Gemeinwesens, hier Deutschlands. Grundrechte sind, soweit sie Menschenrechte sind, Ausdruck eines geschichtsoffenen (lernfähigen) Prozesses der Interpretation und Implementation von Menschenwürde unter jeweiligen historischen Bedingungen. Die Frage nach dem Geltungsgrund der Menschenrechte und die andersgelagerte Frage nach ihren realen Bedingungen und Ausprägungen haben sich grundrechtssystematisch in die Unterscheidung von Menschenwürde und Menschenrechten ausdifferenziert (vgl. Geddert-Steinacher 1990:45). Durch die Deklaration von Menschenrechten operationalisieren wir, als Bürger diverser Staaten, die allgemeine Menschenwürde. Menschenwürde ist das, was sich in Form von Menschenrechten operationalisieren läßt und was die Forderung solcher Operationalisierung zu einer für jede vernünftige Person begründeten Forderung macht. 1 Ob man überdies sagen kann, die Menschenwürde "fordere" den Rechtsstaat, wie Tatjana Geddert-Steinacher (1990:45) meint, ist ein eigenes komplexes Problem, das ich hier nicht behandeln will. 2 "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." 3 Ähnlich exponiert wie die deutsche Verfassung beruft sich die kanadische Verfassung auf die Menschenwürde, weniger explizit berufen sich die Verfassungen einer großen Zahl von Staaten auf sie (vgl. Cohn 1983). 15 3. Menschenwürde als moralischer, politischer und rechtlicher Begriff Um die Menschenwürdemetapher begrifflich artikulieren zu können, müssen wir Menschenwürde als moralischen, politischen und rechtlichen Begriff unterscheiden. Menschenwürde ist als politischer Begriff chronisch umstritten: Er treibt eine Dynamik von Anerkennungskämpfen in der wirklichen Welt an, nicht nur eine Dynamik der Explikation und Rechtfertigung im Diskursuniversum guter Gründe. Aber die Dynamik von politischen Anerkennungskämpfen im Zeichen des politischen Menschenwürdebegriffs wäre, falls Menschenwürde sich nicht auch als Moralbegriff rechtfertigen ließe, normativ ungedeckt; ihr vermeintlich normativer Gehalt, auf den oder auf dessen Prätention zumindest noch die parolenhafteste Menschenwürderhetorik nicht verzichten kann, wäre chimärisch. Daß die Idee der Menschenwürde bei fortschreitend "realistischer" Aufklärung ähnlich failliere wie andere einstmals hehre Ideen, ist eine Möglichkeit, die man nicht darum ausschließen kann, weil man - wie ich - die Konsequenzen dieser Möglichkeit verabscheut. Aus der Beobachtung, daß eine normative Idee politisch folgenreich ist, "Geschichte macht", wird oft fälschlich gefolgert, die Idee sei nur scheinbar normativ und in Wirklichkeit ein Vektor politischer Macht. Dieser Fehlschluß beruht auf einer Prämisse, die zusammen mit der Einübung des genealogischen und des dekonstruktiven Blicks heute ebenso selbstverständlich erscheint, wie sie zuvor (etwa zu Hegels Zeit) als greller Reduktionismus aufgefallen wäre, der Prämisse nämlich, daß normative Ideen keine geschichtsmächtigen Kausalmächte und geschichtsmächtige Kausalmächte keine normativen Ideen sein können. 1 Richtiger als diese ontologische Dichotomie erscheint mir die Ansicht, daß normative Ideen in die realen geschichtlichen Kräfte, die Lebensformen hervortreiben und umgestalten, verwoben sind, da sie mit diesen Lebensformen selbst bereits verwoben sind (vgl. Will 1988; Kettner 1993). Aus dem Potential guter Gründe, das die rationale Deckung einer normativen Idee ausmacht, folgt dann zwar nicht, daß diese Idee politisch erfolgreich sein muß, aber es folgt auch nicht, daß die Idee kausal inert ist. Es ist eine empirische Frage, ob - wir Vernunftoptimisten mit der Überzeugung recht haben, daß die gut begründeteten normativen 1 Eine Variante der Kritik an dem bezeichneten Fehlschluß ist Kants Verriß des Gemeinspruchs: "Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis". 16 Ideen geschichtlich im großen und ganzen à la longue politisch erfolgreicher sind als die weniger gut begründeten, grundlosen oder aberwitzigen (vgl. Kettner 1992a:321-328). Gewiß, alles wäre viel einfacher, wenn wir Menschenwürde als unser, d.h. als im Abendland erfundenes ("eurogenes") und dessen eigentümliche Werteordnungen ("eurozentrisch") verkörperndes politisches Ideal auslegen dürften, ohne darin zugleich eine universalistische, d.h. im Namen von allen Menschen allen Menschen Vorschriften machende, weil für alle Menschen überall und jederzeit gültige moralische regulative Idee zu sehen - mit dem immensen Rechtfertigungsbedarf, der mit solchen Erfindungen/Entdeckungen einhergeht. Könnten wir uns mit Menschenwürde als politischem Begriff begnügen, so wäre sie die Chiffre für die Erfindung/Entdeckung einer bestimmten Gesellschaftsordnung, in der nichts weiter für die konkreten Lebensformen festgelegt ist, als daß diese im Rahmen demokratisch-rechtsstaatlicher Verfassungen stehen müssen, die ihrerseits allgemeine Menschenrechte als Trümpfe über alle besonderen Gesetzgebungen akzeptiert haben. Die guten Erfahrungen (und zweifellos gibt es sie), von denen wir, die Mitglieder demokratisch-rechtsstaatlicher Gemeinwesen, leben, besagen, daß sich die politische Idee der Menschenwürde in langen Anerkennungskämpfen als sehr durchsetzungsfähig bewährt hat. Aufgrund unserer guten Erfahrungen mit dieser politischen, genauer demokratietheoretisch ausgelegten Idee von Menschenwürde wünschen wir nachdrücklich unsere Entdeckung/Erfindung auch für die übrigen Staaten der Welt ... Werden wir damit zu Missionaren einer eurozentrischen Idee? Ob beispielsweise das Kastenwesen im orthodoxen Hinduismus oder die Sozialordnung in der Umma mit unserer Idee von Menschenwürde vereinbar sind, ist mir nicht klar. Mit der Operationalisierung der politischen Idee der Menschenwürde in Form der Menschenrechte, 1 die in der Charta der UN 1949 deklariert wurden, halte ich sie nicht für vereinbar. Doch zu welchen Konsequenzen berechtigt uns diese Diskrepanz? 1 Der theozentrischen Gesellschaftsidee des Islam entspricht eine theonome Moralidee: Moralischer Wert wird "ausschließlich" nach dem "Maßstab des Gott wohlgefälligen bzw. seiner Anweisung widersprechenden Handelns" bestimmt (Antes 1984:52), nach einem normativen Maßstab also, dessen Normativität nichts weniger als offenbart ist. Theonom sind Moralprinzipien, die Allgemeingültigkeit darum beanspruchen, weil und genau sofern sie auf göttliche Offenbarung zurückgehen. Der Koran, das heilige, weil von Gott selbst verfaßt und von Mohammed lediglich verkündete Buch der Muslime, und die Sunna, die prophetische Verkündigung, die gottinspiriert und deren Autorität deshalb unantastbar ist, enthalten zwar keinen umfassenden präskriptiven Kodex, um alle Praxisbereiche gestalten zu können. Zu den beiden göttlichen Quellen islamischer Normativität 17 Können wir unsere europäische Idee von Menschenwürde pflegen und propagieren, und pflegen andere Kulturkreise ihre Idee von Menschenwürde oder auch überhaupt keine? Hier kehrt die Zentrismusproblematik der Ein- und Ausgrenzung, Über- und Unterordnung wieder, nun freilich nicht als Selbstüberhöhung der Menschenart und Naturverachtung, sondern in einem innerartlichen ("intraspeziellen") Format. Sie kehrt wieder unter dem Stichwort des Kulturrelativismus und als dessen Schatten Kulturhegemonismus. Als politisches Konstrukt betrachtet, fällt die Idee der Menschenwürde in den Prozeß des allseitigen Konkurrenzkampfs politischer Ideen mit politischen Mitteln. Kolonialherren in Indien konnten freilich durch geschickte Religions- und Kulturpolitik, notfalls auch mit 1 Gewalt, ihre - unsere! - Idee der Menschenwürde politisch-strategisch durchsetzen; aber steht dafür ein legitimierender und nicht bloß rationalisierender Gedanke zur Verfügung, der besagt: Unsere Idee der Menschenwürde ist genausogut die Idee derer, denen wir sie jetzt noch oktroyieren müssen? 2 hinzutreten muß das "durch bestimmte Methodologien, z.B. durch Analogieschluß und andere Arten des Denkens abgeleitete Gesetzessystem" (Antes 1984:53), melioristisches Interpretationsprodukt eines ständigen Auslegungsgeschehens durch islamische Rechtsgelehrte. Im Strafrecht gelten uns viele vorgeschriebene Strafen als barbarisch, z.B. die Steinigung für vollverantwortlich begangenen Ehebruch der Frau, die Todesstrafe für Glaubensabfall und das Auspeitschen bei Weingenuß. Besonders markant im Feld von Heiratsregeln, Besteuerungsgrundsätzen, Bürgerrechten, politischen Rechten und religiösen Konvertierungsregeln zeigt sich eine systematische Diskriminierung Andersgläubiger in der Umma (vgl. Antes 1984:71). Die Religionsgemeinschaft selber ist wegen der Sanktionierung des Austritts mit dem Tod eine unmittelbare Zwangsgemeinschaft. Für das Verhältnis von Muslimen zu Andersgläubigen ist eine Leitvorstellung bedeutsam, mit der sich die Muslime immer an die Spitze aller Kommunitaristen gesetzt haben: Es ist die "Wunschvorstellung von der islamischen Glaubensgemeinschaft als Modellfall für die übrige Menschheit, entsprechend den koranischen Kernsätzen (...) Ihr seid die beste Gemeinschaft, die je für die Menschheit hervorgebracht wurde und (...) Fürwahr, Wir haben euch zu einem Volk der Mitte gemacht" (Durán 1991). 1 2 Ein Beispiel war das Verbot von Witwenverbrennungen in Indien durch die englische Kolonialregierung. An diese abstrakt scheinende Frage knüpfen sich unmittelbar massive rechtlich-politische Konsequenzen, wenn man sie auf konkrete Probleme bezieht. Wenn französische Schulbehörden Kopftuchfreiheit in den Schulklassen erzwingen, befreien sie dann (im Namen universalistischer Gleichstellungsgebote) oder unterdrücken sie (als Hegemonialmacht einer bestimmten Kultur)? Wenn im europäischen Rechtsraum Staatsbürgern afrikanischer Herkunft verboten wird, Klitorisbeschneidungen zu praktizieren, egal ob diese Praxis ist in den Üblichkeiten der Kultur, mit der sie sich identifizieren, tief verankert ist, befreien wir dann (im Namen unserer Menschenwürdeidee) oder unterdrücken wir (als Agenten eurozentrischer Kultur)? Im ersten Fall, so scheint es uns, komme es stärker auf die individuellen Umstände an als im zweiten. Aber auch im zweiten Fall ist die Meinungsbildung nicht so eindeutig und einheitlich wie wir wünschen, wenn wir die betreffende Praxis als empörenden Barbarismus verurteilen. 18 Zweifellos ist unsere Idee der Menschenwürde universalistisch, d.h., sie respektiert intrinsisch keineswegs den Kulturrelativismus in bezug auf sich selbst. Zwar zieht die Menschenrechtsdeklaration der UN aus dem Hut unserer Menschenwürdeidee auch ein Menschenrecht auf die eigene Religion. Aber dieses Menschenrecht folgt unter Voraussetzung der politischen Idee der Menschenwürde. Eine Religion, die intern die politische Menschenwürdeidee (und die aus ihr folgenden Menschenrechte) nicht unterstützt oder die sie sogar negiert, würde sich damit auch aus dem Geltungs- und Schutzbereich des Menschenrechts auf Religionsfreiheit katapultieren. (Und was hätten wir hiergegen einzuwenden?) Mißtrauisch stimmen muß uns freilich die lange Reihe der europäischen und USamerikanischen Ideen, die, stets mit starkem universalistischem Selbstverständnis ausgestattet, sich noch immer als Imperialismus entpuppten. Erinnert sei an die Ideen wirtschaftlicher Entwicklung, die der internationalen Entwicklungspolitik bis Ende der 60er Jahre zugrunde lagen. Sie verschafften vorgeblich universalen Entwicklungsmodellen faktisch eine weltweite, kulturelle Unterschiede tatsächlich transzendierende Geltung. Ihr vermeintlich gerechtfertigter Universalismus verschaffte denen, die diese Entwicklungsmodelle durchsetzten, ein gutes Gewissen. Ein solcher salavatorischer Universalismus vertuscht moralische Kosten unter dem idologischen Schleier moralischer Scheinlegitimation. Könnte sich auch unsere Idee der Würde aller Menschen als bloß unsere Idee 1 herausstellen? Als politische Idee betrachtet, ist das nicht a priori auszuschließen, doch als moralische Idee? Die Frage ist, ob der universalistische Anspruch "getestet" werden kann. Universalistische Geltungsansprüche können nur im argumentativen Diskurs "getestet", nämlich mit möglichst guten Gründen gerechtfertigt, werden. 2 Kann eine moralische Idee vom Subjekt der Menschenwürde, ungeachtet ihrer europäischen Genese, dann für beide Parteien (Opponent und Proponent) aus denselben Gründen überzeugen? Das ist das eigentlich philosophische Begründungsproblem. Von seiner Lösung hängt ab, ob wir sagen dürfen (wie wir gerne würden), daß der Moralbegriff der Menschenwürde zwar eurogen, aber 1 2 Vgl. Jimmy Carters sogenannte Menschenrechtspolitik und ihr Scheitern. D.h. unter Interaktionsbedingungen, wo z.B. der Kolonialherr nicht mehr nur als Kolonialherr, der Brahmane nicht mehr nur als Brahmane, der Paria nicht mehr nur als Paria auftritt. 19 nicht eurozentrisch ist. Eurozentrische und andere Bornierungen in der Geschichte des politischen Begriffs der Menschenwürde, die nicht weniger Grauen erregen als die Geschichte der Inquisition der katholischen Kirche, ließen sich dann als ideologiekritisch zu erklärende Verzerrungen des universalistischen Gehalts, der im Moralbegriff der Menschenwürde repräsentiert ist, begreifen. Universalistische Gehalte können ihre partikularistische Pervertierung nicht ausschließen und machen deshalb ein affirmatives Festhalten am Universalismus zu einer schwer erträglichen Haltung. Die empörte Zurückweisung aller universalistischer Prätentionen erscheint hingegen als emotional verständliche Reaktion, ist aber keine konsistente Alternative. 4. Was heißt es, Würde zu haben? Um das Begründungsproblem zu explorieren, betrachte ich die doppelte Logik Zuschreibungslogik und Rechtfertigungslogik -, die den moralischen, rechtlichen und politischen Menschenwürdebegriff gleichermaßen regiert. Mit Hilfe dieser Unterscheidung können wir sagen: Menschenwürde ist ein Begriff, der einen präskriptiven Gehalt (Menschenwürde) und einen deskriptiven Gehalt (Menschenwürde) hat. Auf der Basis des deskriptiven Gehalts wird der Begriff zugeschrieben (Zuschreibungslogik), und auf der Basis des präskriptiven Gehalts etabliert der Begriff bezüglich aller so-und-so beschaffenen Subjekte, denen er zugeschrieben wird, etwas mit Sollgeltung, die vernünftig begründet werden kann (Rechtfertigungslogik). Kraft seines deskriptiven Gehalts erstreckt sich der Begriff der Menschenwürde auf jeden einzelnen Menschen. Was Menschenwürde vorschreibt oder verbietet, ist vorgeschrieben oder verboten in bezug auf alles, was Menschenantlitz trägt. Die Zuschreibungslogik klärt die Frage, wie etwas beschaffen sein muß, um Subjekt von Zuschreibungen von Menschenwürde zu sein. (Wem oder was schreibt man etwas zu, wenn man Menschenwürde zuschreibt?) 20 Wenn der Menschenwürdebegriff einen präskriptiven, d.h. vorschreibenden oder verbietenden Gehalt G hat, dessen Präskriptivität von der Art des moralischen Sollens ist (so daß wir auch statt "präskriptiv" einfach "normativ" sagen könnten), dann gilt G von allem, was ein Mensch ist. Ob x ein Mensch ist, sieht man. Im Zweifelsfall sagt es uns die Biologie. Denn ob x ein Mensch ist, ist eine empirische Frage: Wenn der empirisch-deskriptive Begriff des Menschen durch bestimmte (notwendige und zusammengenommen hinreichende) Eigenschaften definiert ist, und x hat diese Eigenschaften, dann fällt x unter jenen Begriff. Aber hat der Menschenwürdebegriff einen präskriptiven Gehalt? Und welchen? Die Rechtfertigungslogik klärt zwei Fragen: Erstens die Frage, was der so zugeschriebene präskriptive Gehalt ist, d.h., was, insofern x Menschenwürde hat, für x und in bezug auf x zu tun oder zu lassen geboten und verboten ist. (Worin besteht Menschenwürde?) Die zweite Frage, die die Rechtfertigungslogik klären muß, ist die Frage, aufgrund wessen der zugeschriebene präskriptive Gehalt präskriptiv ist, d.h., woher die Präskriptivität der Menschenwürde rührt und wodurch sie die Autorität des moralischen Sollens hat. (Wodurch verpflichtet Menschenwürde?) Bevor Anworten auf diese Fragen betrachtet werden können, muß geklärt werden, was wir 1 meinen, wenn wir von jemandem, x, sagen, daß x eine (bestimmte) Würde habe. Das ist u.a. deshalb unerläßlich, weil Würdehaben, Würdezeigen und sich einer Würde bewußt sein zu 2 unterscheiden sind. Ich schlage für das Phänomen des Würdehabens die folgende Analyse vor: 1 Diese Klärung verdeutlicht die Struktur des Phänomens; sie soll keine notwendigen und hinreichenden Bedingungen für die Bedeutung von "Würde" aufstellen, denn so gesehen wäre sie zirkulär. 2 Die mögliche Verwirrung hat ihren sachlichen Grund in der Mühe der Differenzierung von konventionellen und postkonventionellen Würdebegriffen. Auch ein Löwe kann Würde zeigen (Spaemann 1987), und zwar in anthropomorpher Analogie zu der Weise, wie z.B. ein edler Krieger (den es ja gegeben haben soll) Würde zeigen kann. Aber dieser expressive Sinn von Würdezeigen ist nicht normativ, schon deshalb nicht, weil keine Expression von Subjektivität vorliegt. Die Würde, die der Löwe (für uns) zeigt, ist nicht Ausdruck eines Bewußtseins seiner Würde. - Rechte zu beanspruchen, ist eine unter Menschen anerkannte, vorzügliche Weise, auf die eine Person normalerweise ein Bewußtsein ihrer Würde ausdrücken kann. Solches Ausdrucksverhalten ist expressiv, aber nicht nur dies, sondern als performative Handlung. Feinberg (1970) hat sogar versucht, Menschenwürdehaben auf Rechtebeanspruchenkönnen zu reduzieren. Daß dies scheitert, beweist Meyer (1989). Meyers Analyse der Expressivität von Würdezeigen ist auch ein gutes Antidot gegen die reduktionistische Verabsolutierung von Luhmanns Beobachtung, daß Würde mit Takt als Bedingung gelingender Selbstdarstellung in der Kommunikation zu tun hat. (Auf diese Verabsolutierung fällt Giese (1979) herein.) 21 Würde zu haben, das bedeutet für x: (1) von anderen anerkannt zu werden, (2) als deren Beachtung (deren Respekt) beanspruchend, und zwar (3) in bestimmter Weise, nämlich passend zu derjenigen Würde, (4) als deren Träger sie (die anderen) x anerkennen. 1 5. Zuschreibungslogik Ich möchte einen wichtigen Zug der Zuschreibungslogik des Menschenwürdebegriffs, den man mit dem Stichwort der "Unverlierbarkeit der Menschenwürde" bezeichnen kann, am Sprachgebrauch demonstrieren. Man kann bei Gott oder bei sonst etwas, das einem heilig ist, schwören, d.h. in sakral bekräftigter ritueller Weise ein Versprechen geben. Aber man kann nicht bei der Menschenwürde jemandem etwas schwören oder versprechen. "Bei meiner Menschenwürde verspreche ich, mich für x einzusetzen!", klingt begrifflich deplaziert, weil meine Menschenwürde etwas ist, das ich nicht verlieren kann, egal was ich tue. Ich kann sie also auch dann nicht verlieren, wenn ich Versprechen breche, die ich durch Berufung auf meine Menschenwürde bekräftigt habe. Sie ist unverlierbar, d.h. sie plaziert mich und jeden einzelnen Menschen vis-à-vis allen anderen Menschen im moralischen Raum so, daß meine Menschenwürde nicht von Bedingungen abhängt, unter denen die Anderen sie mir zuschreiben. Sie verlangt von den anderen, mir zugeschrieben und dadurch anerkannt zu werden, aber sie erscheint den Regeln solcher Zuschreibungen gegenüber vorgeordnet, vorausgesetzt; sie wird durch Zuschreibungen zwar attribuiert, aber nicht konstituiert. Solche Zuschreibungen erscheinen weder als eine notwendige noch hinreichende Bedingung meiner Menschenwürde. Darauf, sie zugeschrieben (d.h. kraft Anerkennung durch andere Personen affirmiert) zu bekommen, habe ich und hat jeder andere Mensch ein unbedingtes Recht, ein 1 Aus der Perspektive der ersten Person Singular gesprochen, besagt diese Analyse: Würde zu haben, das bedeutet, für mich: (1') von euch anerkannt zu werden, (2') als eure Beachtung (euren Respekt) beanspruchend, und zwar (3') in bestimmter Weise, nämlich passend zu derjenigen Würde, (4') als deren Träger ihr mich anerkennt. 22 unbedingtes Recht darum, weil die fällige Zuschreibung seitens der anderen ja nur Ausdruck ihrer Anerkennung von etwas ist, das ich und das jeder andere Mensch unbedingt hat. Was ein Mensch aber unbedingt hat, kann er nicht loswerden, weder an andere übertragen noch verlieren. Doch was hat das Possesivpronomen "mein" hier zu besagen? "Meine Menschenwürde" hat nicht den selben Sinn wie "mein Besitz". Daß etwas ein möglicher Besitz ist, heißt, daß es unter gewissen Bedingungen mein Eigentum sein kann und unter anderen Bedingungen nicht. Im Begriff des Besitzes liegt normalerweise die Kontingenz des Besitzes. Wenn man Menschenwürde also als Besitz bezeichnen wollte, so müßte man sie einen absoluten (im Sinne von nichtkontingenten) Besitz nennen. Die Analogie zum Besitz wird durch die Disanalogie von Kontingenz und Nichtkontingenz zwangsläufig mißverständlich. Das zeigt besonders ein Blick auf die Rechtsrhetorik, die den rechtlichen Menschenwürdebegriff im Grundgesetz umgibt. "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Als dreiste Deklaration erscheint uns dieser Satz, wenn wir millionenfache Verletzungen und Bedrohungen der Menschenwürde anklagen. Mißglückt ist der Satz, weil er sich als eine Feststellung auffassen läßt, statt als absolute Forderung. Was unantastbar ist, läßt sich weder verletzen noch bedrohen, und es braucht und kann nicht vor dem Antasten geschützt zu werden. 1 Auf eine Eigenschaft, in deren Besitz jeder schon ist, kann sich niemand berufen, um herrschendes Unrecht zu kritisieren. In der offiziellen englischen Übersetzung unserer Verfassung ist der absolute Forderungscharakter der Rechtsidee der Menschenwürde besser ausgedrückt: "The dignity of man shall be inviolable. To respect and protect it shall be the duty of all state authority" (Meyer & Parent 1992:2). Mißverständlich wird der Unantastbarkeitssatz, weil er ohne weitere Erläuterung dem Grundgesetz vorangestellt wird. Den Anschein des Selbstverständlichen, des Beken1 Vgl. Gieses (1979:45f.) Kritik an Dürigs "Behauptung der Würdeunverlierbarkeit". Der "Hintergrund dieses Satzes sind historische Ereignisse der wirklichen empirischen Welt, nämlich: die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki, die Konzentrationslager und Gaskammern von Auschwitz und Dachau. Angesichts zuwiderlaufender Erfahrung stellt Art. 1 Abs.1 Satz 1 GG als Rechtsnorm die Unantastbarkeit der Würde als Desiderat fest, nicht als Seinsgegebenheit. Normen, die Wirklichkeit produzieren wollen, behaupten etwas beschwörend als wahr, was nicht unmittelbar der Fall ist. Damit widersprechen sie dem, was der Fall war, in der Weise, daß Wiederholbarkeit ausgeschlossen wird. Die Setzung einer Norm verweist auf Enttäuschung der nunmehr normierten Erwartung in der Vergangenheit. Die Kopula des interpretierten Satzes verurteilt Verhältnisse, die die Kopula in ihrer Negation bewahrheitet hatten." 23 ntnishaften, keiner Erläuterung bedürftigen oder fähigen, müssen wir als ein rechtsrhetorisches Stilmittel verstehen, um ihn nicht mißzuverstehen. Der Unantastbarkeitssatz codiert stilistisch die historische Erfahrung, in deren Kontext er formuliert wurde, nämlich die Situation Deutschlands 1945. "Zweifellos ist das Bekenntnis zur Menschwürde durch die Verachtung und Erniedrigung des Menschen in der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft geprägt", erläutert der ehemalige Verfassungsrichter Ernst Benda (1987:14). Es "bestand Einigkeit darüber," - so Benda weiter - daß nach den Erfahrungen des "Dritten Reiches" der Mensch niemals wieder zum Objekt einer Gemeinschaftsideologie degradiert werden dürfe. "Wenn das BVerfG [Bundesverfassungsgericht] in einer sehr frühen Entscheidung darlegte, daß Art. 1. Abs.1 nicht eine Pflicht des Staates zum Schutz vor materieller Not, sondern gegen Angriffe auf die Menschenwürde durch andere, wie Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung usw. meine, so entsprach das ganz dem damaligen Verständnis der Norm als einer Reaktion auf das historisch erfahrene Unrecht" (Benda 1987:15). 1 6. Rechtfertigungslogik 6.1 Aporien naturrechtlich-metaphysischer Rechtfertigungslogik Die Rechtfertigungslogik des Menschenwürdebegriffs kann nicht auf naturrechtliche Fundamente gestellt werden. Alle naturrechtlich begründete Ethik vor Kants kopernikanischer Wende versucht, sich an einer objektiven Seinsordnung des Vorzugswürdigen auszurichten. An der Spitze dieser Ordnung soll das summum bonum, das höchste Gut, stehen. An dieser Ordnung muß sich der menschliche Wille, wenn er gut sein will, orientieren. Die Naturrechtslehre, die nicht nur für die Scholastik sondern auch für viele katholische Moraltheologen noch heute einen selbstverständlichen Hintergrund bildet, beruht auf der Annahme, daß diese axiologische (wertmäßige) Seinsordnung nicht auf menschliche Setzung und Vereinbarung zurückgeführt werden kann. Sie steht über allen menschlichen 1 Übrigens liegt in dieser historischen Erinnerung keine kontextualistische Relativierung, etwa auf spezifisch deutsche Erfahrungen, einen "deutschen Sonderweg" o.ä., denn auch der Verfassung Kanadas ist der Menschenwürdegrundsatz vorangestellt. 24 Rechtssetzungen, die nur pragmatisch-konventioneller Art sind. Naturrecht steht über dem positiven Recht. Plausibel ist ein derartiger Ordnungsgedanke freilich nur unter folgenden Prämissen, deren Zusammenhang die Begründungsstruktur des Naturrechts wiedergibt: 1 "1. Die Welt ist eine Art von Kosmos . 2. Die Welt ist von Gott erschaffen worden. 3. Sie wird von ihm nach einer vernünftigen Richtschnur regiert, der lex aeterna, deren Maßstab die exemplarischen Ideen im Intellekt Gottes sind. 4. Der Mensch hat erkennenden Zugang zur lex aeterna. 5. Sofern er diesen Zugang hat, existiert eine lex naturalis." (Specht 1973:47). Gegen diese Begründungsstruktur lassen sich starke Zirkularitätseinwände machen. Denn offensichtlich wird in (1)-(3) ein Naturbegriff vorausgesetzt, der im Ansatz schon normativ aufgeladen ist, um dann aus diesem Begriff der Natur und einer naturgemäßen Seinsordnung eine Wertordnung zu entwickeln, die eigentlich vorausgeht und die nachträglich in die Seinsordnung nur hineinprojiziert wird. 2 6.2 Aporien jüdisch-christlicher Rechtfertigungslogik Die moderne Idee der Menschenwürde ist ohne den Traditionshintergrund des religiösen jüdisch-christlichen Menschenbildes vielleicht nicht einmal denkbar. In jenem Bild vom Menschen sind alle einander darin gleich, daß sie von Gott geschaffen, gottesebenbildlich und alle gleichermaßen Besitzer einer göttlichen Seele sind. (In dieser Eigenschaft, Verkörperung einer göttlichen Seele zu sein, gründet die Vorstellung vom unendlichen Wert des 3 Individuums als solchem. Das Christentum hat das Individuum gleichsam erfunden.) Vor 1 "Kosmos" bei Specht im Sinne einer fertigen, geschlossenen Ordnung. 2 Für eine differenziertere Darstellung der Stärken undd Schwächen des Naturrechtsdenkens siehe Ellscheid (1989). 3 Ich vermute, daß die merkwürdige Modalität der Unverlierbarkeit, die in allen modernen (postkonventionellen) Menschenwürdebegriffen auftaucht, sich nur im Bezugsrahmen der christlichen Vorstellung von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen als Qualität konsistent denken läßt. Denn einen Verlust der Gottesebenbildlichkeit kann es nicht geben; sie bildet nach verbreiteter theologischer Auffassung einen "character indelebilis" (vgl. Thielicke 1972). Außerhalb eines dualistischen Rahmens von Diesseits-Jenseits Realitäten erscheint 25 Gott sind alle Menschen als beseelte Geschöpfe gleich, und wenn wir einander aus dem Blickpunkt Gottes betrachten könnten, käme uns diese Gleichheit im Angesicht Gottes auch als Gleichheit von Angesicht zu Angesicht des Mitmenschen zu Bewußtsein. In dieser Gleichheit aller aus dem Blickpunkt Gottes liegt vermutlich die ideengeschichtliche Erklärung des radikalen Egalitarismus und der Inkommensurabilität in der Idee der Menschenwürde, wie wir sie kennen: Menschenwürde kommt allen Menschen zu, jedem Einzelnen in gleichem Maße ungeachtet aller Unterschiede zwischen Menschen. Was wird aus Egalitarismus und Inkommensurabilität der Menschenwürde ohne christlichen Gott? Man müßte interkulturell einmal vergleichen, ob, wodurch und wie-weit die Menschen- und Gottesbilder nicht-christlicher Religionen eine ähnliche Idee von Menschenwürde, wie die in Europa ausgeprägte, unterstützen. Man könnte dann indirekt testen, welche Züge im Bild von Mensch und Gott in einem religiösen Weltdeutungsmuster relevant sind für die Züge der Egalität und Inkommensurabilität, die die moderne europäische Deutung der Menschenwürde aufweist. Wenn meine These stimmt, daß Egalitarismus und Inkommensurabilität säkularisierte Interpretamente der menschlichen Gottesebenbildlichkeit und der Ausstattung mit einer singulären unsterblichen Seele sind, dann sollte die moderne Menschenwürdeidee von nichtchristlichen Religionen unterstützt werden, soweit diese Sinnäquivalente für Gottesebenbildlichkeit (des Menschen) und Seelensingularität (jedes einzelnen Menschen) aufweisen. 1 die Vorstellung, eine menschliche Person habe und behalte eine allen anderen Menschen respektgebietende Qualität, vollkommen gleichgültig wie monströs sich die Person aufführt, einfach absurd, und es ist eine der härtesten Zumutungen postkonventioneller Moral, daß wir gegenüber einem Menschen, der die Menschenwürde anderer verachtet, nicht entpflichtet sind. Die postkonventionelle Idee der Menschenwürde durchbricht das quid pro quo. Zwar dürfen wir uns gegen den, der Menschenwürde aktuell abweist, nicht so verhalten, als akzeptierte er sie. (Daß solche Naivität auch moralisch verboten ist, habe ich unter dem Stichwort "Strategiekonterstrategie" (Kettner 1992a:346f.) erläutert.) Wir müssen annehmen, er könnte sie akzeptieren. Als potentielles Opfer eines Kriegsverbrechers, der bestialische "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" begeht, wird man sich wehren wie gegen ein wildes Tier. Der Handlungsdruck von Notwehrsituationen macht diese moralisch tragisch. Entlastet von solchem Handlungsdruck überzeugt der Gedanke, daß, wer den Folterer foltert, ihm gleich würde; daß "Verbrecher gegen die Menschlichkeit" vor ein geeignetes Tribunal gestellt, verurteilt und bestraft werden müssen; daß es gegen Feinde der Menschlichkeit keinen totalen Krieg, in dem alles erlaubt wäre, geben darf. Unter diesem Aspekt läßt sich Menschenwürde vielleicht als der Begriff desjenigen Minimums einführen, das auch noch konterstrategische Handlungsmöglichkeiten restringiert. 1 Verglichen werden müßten etwa die Religionen der ewigen Widergeburt, die eine graduelle, degenerierbare und regenierbare Würde annehmen. Ein solcher Würdebegriff, so scheint es, paßt in eine hierarchisch strukturierte Gesellschaft (Feudalismus, Kastenwesen), aber nicht mehr in eine funktional ausdifferenzierte Gesellschaft. 26 Man darf nicht aus dem Blick verlieren, daß Menschenwürde zwar (nach unserem Verständnis) jedem einzelnen Menschen zukommt, daß die Würde, die da jedem einzelnen zukommt, jedoch keine monadische, sondern eine relationale Eigenschaft ist, die sich vielleicht auf die Menschheit als Gattung bezieht. Ein Argument, das die Menschenwürde des einzelnen aus der Zugehörigkeit zur Menschengattung und die Kostbarkeit der Menschengattung, des Menschen an sich, aus dem besonderen Verhältnis dieser Gattung zu Gott herleitet, ist das onto-theologische Argument aus der Geschöpflichkeit des Menschen: "genitum non factum", geschaffen, nicht hergestellt, heißt es im Schöpfungsmythos der Bibel. "Die Kostbarkeit des Menschen an sich, also nicht nur für den Menschen, macht sein Leben zu etwas Heiligem, und sie gibt dem Begriff der Würde erst jene ontologische Dimension, ohne welche das mit diesem Begriff Gemeinte gar nicht gedacht werden kann. Der Begriff der Würde meint etwas Sakrales: Er ist ein im Grunde religiös-metaphysischer" (Spaemann 1987). Offenbar sehen viele in Versuchen, für ein vermeintlich Absolutes Grundlagen zu finden, bereits gefährliche Säkularisierungs- und Relativierungsversuche. So meint etwa der Rechtsphilosoph Martin Kriele (in Böckenförde & Spaemann 1987:315), daß die Würde an der Geschöpflichkeit des Menschen hänge, nicht aber an seiner Vernunft und auch nicht - das geht gegen Kant - an der praktischen Vernunft, die ihre Träger als pflichtfähige Wesen qualifiziert. Ich sehe jedoch nicht, was die Vorstellung der "Geschöpflichkeit" noch bedeutet, sobald die Vorstellung eines Schöpfergottes ihre Plausibilität einbüßt. Und diese Vorstellung hat für viele Menschen ihre Plausibilität eingebüßt, die sich gleichwohl auf Menschenwürde berufen. Entweder also ist solche Berufung eine hohle Geste, nachgeahmte Religiösität nach dem Tod Gottes, oder die moderne Idee der Menschenwürde ist modern auch darin, daß ihre Evidenz auf Grundlagen umstellbar ist, die das Wegbrechen religiöser Glaubensgründe unbeschadet überstehen. 1 Feststellungen, was in welche Gesellschaft paßt oder nicht paßt, sind aber nur empirische Aussagen und noch keine normativen Rechtfertigungen. 1 R. Löw (1990:24) erinnert in seiner Darstellung der "anthropologischen Grundlagen einer christlichen Bioethik" daran, daß die Idee einer prinzipiellen Gleichheit aller Menschen eine junge politische Idee ist, die vor der Mitte des 18. Jahrhunderts allenfalls als religiöse Idee wirklich war, "und zwar als ein christlicher Glaubensinhalt: daß jeder Mensch Gottes Ebenbild sei." Die Aufklärung versuchte dann, diese universalistische Anthropologie beizubehalten und zugleich, religionskritisch, von ihrer metaphysisch-religiösen Autoritätsbasis zu befreien, indem diese auf die Autoritätsbasis einer natürlich, allen Menschen potentiell innewohnenden Vernunft umgestellt wird. Die allgemeine Evidenz dieser Idee zehrt aber, meint Löw, parasitär von dem Verallgemeinerungsmedium der 27 Ist religiöser Glaube für die Anerkennung der Menschenwürde notwendig? Die definitive Bejahung dieser Frage würde die Akzeptanz der Menschenwürdeidee auf sehr viel weniger allgemeinverbindliche Gründe stellen als der in dieser Idee selber ausgedrückte Anspruch. Einen universalistischen Geltungsanspruch mit partikularen Gründen einlösen zu wollen, ist unmöglich und daher irrational. Mir scheint, wir sollten eher umgekehrt fragen: Steht denn die Menschenwürde zu mißachten dem frei, der nicht glaubt? Können wir den, der die Menschenwürde mißachtet, wirklich nicht moralisch verachten, z.B. darum, weil er kein Christ ist? Solche Zurückhaltung erscheint mir nicht als angemessener Ausdruck von moralischer Bescheidenheit, sondern als absurder Relativitismus. Und diese Beobachtung spricht deutlich gegen die Annahme, religiöser Glaube sei eine notwendige Bedingung für die Anerkennung der Menschenwürde. Denn wenn dem so wäre, könnten nur Gläubige einander mit Recht Menschenrechtsverletzungen vorwerfen. Freilich - wenn der Konsens, der die Achtung der Menschenwürde trägt, ein pluraler Konsens ist, dann können z.B. auch Atheisten die Menschenwürde achten (oder bewußt verachten). Man kann die Menschenwürde sogar achten, ohne sie überhaupt begründen zu können. Denn es gibt kein Rationalitätspostulat, das verlangen würde, allein nur solches zu achten, was ich als begründet einsehe. Freilich kann ich dann jemandem, der an Menschenwürde nicht glauben will, nicht vorwerfen, er handle wider die Vernunft oder "wider besseres Wissen". (Aber dieser Vorwurf ist ohnehin nicht immer der treffendste; es gibt stärkere.) Von der Art der Gründe, die wir zur Rechtfertigung der Menschenwürdeidee anzubieten (oder auch nicht anzubieten) haben, hängt offenbar auch ab, welche Konsequenzen wir zu ziehen berechtigt sind gegenüber jemandem, der die Menschenwürde - gleich aus welchen Gründen - mißachtet. Ich schließe an dieser Stelle die Betrachtung religiös-metaphysischer Rechtfertigungslogiken ab. Sie erbringen kein Fundament, auf dem eine allgemeinverbindliche christlichen Religion: "Eines war diesem aufgeklärten, universalistischen Menschenrechtsdenken allerdings entgangen: daß es selbst zunächst einmal die partikulare Idee einiger europäischer Intellektueller war, deren allgemeine Evidenz vorläufig noch darauf beruhte, daß die wesentliche Gleichheit aller Menschen als christlicher Glaubensinhalt allgemein präsent war. Die Säkularisierung dieses Inhalts mußte den Prüfstein dafür abgeben, wie tragfähig die Menschenrechtsidee war." Löw meint natürlich, die hier ansetzende Dialektik sei nur negativ: eine rein säkulare Menschenrechtsidee sei ein Unding. - Aber diese Annahme bleibt bei Löw bloße petitio. 28 Rechtfertigungslogik dem ungesättigten Würdebegriff einen Inhalt anweisen könnte. Ich betrachte nun die Aporien, in welche einige nichtreligiöse Rechtfertigungswege führen. 6.3 Aporien säkularer Rechtfertigungslogik Inkommensurabilität, gleicher Respekt und Quantitätsfrage Wenn die Idee der Menschenwürde als eine Gleichheit des Respekts, den menschliche Personen allem, was menschliches Antlitz trägt (also auch Komatösen und anderen menschlichen Noch-nicht-Personen oder Nicht-mehr-Personen) schulden, ausgelegt wird, so lädt die Kategorie der Gleichheit sofort zur Frage nach intensiver und extensiver Größe ein: Welchen Grad soll der Respekt haben, und auf wieviele der unzähligen menschlichen Eigenschaften, z.B. Bedürfnisse, die Ansprüche stellen, denen entsprochen werden könnte, soll sich der schuldige Respekt erstrecken? Auch wenn jeder jedem einen vernachlässigbar kleinen, also fast gar keinen Respekt entgegenbrächte, wäre ja der Gleichheitsforderung Genüge getan. Überspitzt gesagt: Kein Respekt für irgendjemand ist so gleich wie maximaler Respekt für jeden. Soll ich (und jeder gleich mir) von dem Respekt ausgehen, den ich mir selber entgegengebracht sehen möchte, und die Menschenwürdeidee so auslegen, daß sie mir einen Grund gibt, dasselbe Maß von Respekt allen anderen entgegenzubringen und von allen zu fordern, daß ein jeder sich selbst und allen übrigen eben dasselbe Maß von Respekt entgegenbringe? Was aber, wenn ich eine Person bin, die gar nicht wünscht, daß ihr besonders viel Respekt entgegengebracht werde? Oder die nur ein sehr geringes Maß von Respekt wünscht und ihrerseits anderen entgegenzubringen bereit ist? Eine, die meint, die Welt wäre besser dran, wenn mehr Mitmenschen glaubten, mehr Mitmenschen weniger Respekt entgegenbringen zu müssen? Das klingt freilich kontra-intuitiv, weil ich, wie wohl die meisten, eher das Gegenteil sagen würde. Wir würden natürlich sagen, daß die Welt besser dran wäre, wenn mehr Mitmenschen mehr Mitmenschen mehr Respekt entgegenbringen würden. Aber wieviel mehr? Gibt es Obergrenzen? Gibt es überhaupt Grenzen? Wer setzt sie fest? Oder ist es wie beim Sammeln, und jeder gibt soviel Respekt in den großen Hut, auf dem Menschenwürde geschrieben steht, wie er geben kann oder geben möchte? Oben haben wir bei der Erläuterung der Zuschreibungslogik gesehen, daß die Gleichheit des Respekts, den alle allen schulden, eher binär strukturiert ist, nämlich koextensiv mit der 29 binären Mensch/Nichtmensch Unterscheidung. Darin ist ein jeder Mensch jedem anderen Menschen gleich, daß er Mensch ist. Das ist deskriptiv formuliert. Normativ formuliert müssen wir sagen: Darin sollen alle Menschen einander gleich sein, daß jeder, der Mensch ist, von jedem, der Mensch ist, derjenigen Anerkennung sicher ist, die damit einhergeht, daß er ein Mensch ist. Aber wie ist die Anerkennung bestimmt, die damit einhergeht, daß jemand ein Mensch ist? Wodurch begründet sich eine mit dem Menschsein gesetzte Würde? Die Frage nach dem Grund des anthropozentrisch-egalitären Respekts Worauf am Menschen bezieht und worauf gründet sich der anthropozentrisch-egalitäre Respekt? So lautet die rechtfertigungslogische Frage. Eine mögliche Antwort heißt: Auf die Würde des menschlichen Lebens. Worin besteht das am menschlichen Leben, was wir seine Würde nennen müßten? Vor einer bestimmten Antwort auf diese Frage können wir den Umriß möglicher und unmöglicher Antworten skizzieren. Unmöglich sind Beschreibungen, die auf menschliches genauso gut wie auf nichtmenschliches Leben passen, also z.B. biologische Beschreibungen. Eine Antwort in Ausdrücken der Biologie führt nämlich dazu, daß wir eine analoge Würde wie die Menschenwürde auch nichtmenschlichen Formen des Lebendigen zusprechen müßten. Was menschlichem Leben eine Würde gibt, die alle menschlichen Personen zur Achtung auffordert, kann allenfalls in einer Beschrei-bungssprache gefaßt werden, in der auch unsere Wertschätzungen unseres eigenen menschlichen Lebens ausgedrückt werden können. Kontinuität des Lebensvollzugs Wie schätzen wir unser eigenes Leben? Ist die Kontinuität meines Lebensvollzugs für mich von unendlichem Wert? Von so hohem Wert also, daß ich über diesen Wert hinaus mir etwas von für mich höherem Wert nicht denken kann? Vielleicht. Aber ich könnte auch anders über mein Fortleben denken. Wenn in allen Situationen die Kontinuität des eigenen Lebens für jeden Menschen unendlich wertvoll wäre, hätte niemals jemand guten Grund, sein Leben zu beenden, sei es für sich selbst, für irgendwen oder für irgendetwas. Es kann keinen guten Grund für jemanden geben, etwas aufzugeben oder auch nur zu riskieren, das für diese Person unendlich wertvoll ist. Daß aber jeder vernünftigerweise das Andauern seines Lebens unendlich hoch schätzen müßte, dafür sehe ich nirgends ein überzeugendes Argument und ziehe hieraus 30 den Schluß, daß die Wertschätzung des Andauerns meines Lebens nicht dasjenige sein kann, worin ich gleich allen Menschen mich auf einen Wert beziehen würde, der unermeßlich hoch, also unverrechenbar, also "Würde", nicht "Preis" ist. 1 Mikrokosmos der Subjektivität Zweiter Anlauf: Schätzen wir vielleicht an unserem Leben die subjektive Unendlichkeit dieses Lebens unendlich hoch, eine Unendlichkeit der Erfahrungen, die dem Leben eines jeden Menschen aus der Binnensicht dieses Menschen eine Unvergleichbarkeit, eine respektfordernde Individualität gibt? Wenn das so wäre, dann könnten wir sagen: Jeder Mensch lebt ein menschliches Leben, und alle menschlichen Leben sind darin einander gleich, daß keines dem anderen gleicht. Die Unvergleichbarkeit des individuellen menschlichen Lebens wäre dann das, worin jeder Mensch jedem Menschen gliche; und was die Würde eines jeden Menschen gleichermaßen ausmachte, wäre die Anlage, ein Leben zu führen, das aus der je subjektiven Perspektive die unendliche Eigenschaftstiefe der konkreten Individualität hat ... Menschenwürde wäre eine Figur des Erhabenen, des Respekts vor Unendlichkeit, hier vor der Unendlichkeit des subjektiven Universums, in das jedes menschliche Leben sich entfaltet. Aber dieser Gedanke ist unhaltbar, obwohl er der spezifisch modernen Verehrung für den Mikrokosmos je einzigartiger Subjektivität ästhetisch entgegenkommt. Dieser Gedanke läßt gerade diejenige Frage, auf die normativ alles ankommt, offen: Wieso nötigt mich das unendliche Potential meiner subjektiven Erfahrungen zu reziproker Achtung des anderen Menschen? Warum nicht nur zu Erstaunen oder zu asymmetrischen Gefühlen wie Stolz oder Neid? Mag auch das Erfahrungspotential eines jeden Subjekts unendlich sein, was davon aktualisiert wird, ist gewiß weder unendlich noch allseits gleich. Viele Menschen führen hundsmiserable Leben, viele kurze, viele lange Leben. Potentiell freilich kann jeder Mensch ein erfülltes Leben leben. Manche dieser Leben sind sehr reich, andere sehr arm an Erfahrungen. 1 Vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 77. Der rhetorische Topos von der Würde, die alles überragt, was nur von relativem Wert ist und daher bloß einen Preis hat, läßt sich schon bei Cicero nachweisen. 31 Ich glaube daher nicht, daß die Inkommensurabilität der in sich potentiell unendlichen Individuen menschlichen Lebens den Menschenwürdebegriff normativ interpretieren kann. 6.4 Ein Ausweg: Die Inkommensurabilität natürlicher Personen als Ankerpunkte von Moral Moralisch relevant und begründungstheoretisch vielversprechend erscheint mir der Ansatz bei einer anderen Inkommensurabilität, nämlich der Inkommensurabilität der natürlichen Personen als den Ankerpunkten der Moral. 1 Bezugsproblem ist jetzt die Definition des Subjekts der Moral. Es geht darum, die Punkte zu definieren, die das Netz moralischer Rücksichtnahmen auf eine bestimmte Weise im Raum aller möglichen Entitäten verankern. Der Moralbegriff der Menschenwürde, lautet meine These, löst dieses Problem; und er löst es, im Vergleich mit anderen möglichen Lösungen, auf die rational beste Weise. Das ist seine normative Funktion: der Moral einen Adressatenbereich reflexiv zu konstitutieren, durch Rückgriff auf eine in allen möglichen Moralsystemen notwendige Eigenschaft, nämlich die Supervenienz von Moralregeln auf zurechnungsfähiges Handeln. Zurechnungsfähiges Handeln ist für Menschen keineswegs immer und überall nur das Handeln menschlicher Personen - darüber belehrt die kindliche Entwicklung ebenso wie die Kulturgeschichte der religiösen Deutungssysteme -, es ist aber für Menschen immer und überall unbezweifelbar auch das Handeln menschlicher Personen, nämlich ihr eigenes. 2 Die Ankerpunkte für das Netz moralischer Rücksichtnahmen sollen einzelne Menschen sein, keine kollektiven Akteure (wie Paare, Familien, Volksgruppen, Staatsvölker, partikulare Kommunikationsgemeinschaften, etc.) und auch keine nichtmenschlichen Wesen (Tiere, Pflanzen, unbelebte Naturgebilde). Diese Vorgabe drückt der moralische Menschenwürdebegriff aus. Der Bereich dessen, was moralische Berücksichtigung erfährt, kann selbstverständlich variieren - in manchen Ökoethiken schließt er Tiere, Pflanzen und 1 Ich vermeide an dieser Stelle eine Abgrenzung bestimmter Moralen voneinander. Unter "Moral" verstehe ich hier ein System von Rücksichtnahmen, das Ideen der Gerechtigkeit aufnimmt und seinen Sitz in Lebensformen hat, also die etica utens, nicht die philosophische etica docens. 2 Selbst in kultisch verankerten Moralen, die ihre Autorität aus dem Glauben an überweltliche Mächte und Einrichtungen beziehen, sind es die Menschen selbst, die moralisch handeln müssen; unmöglich, daß die Götter (die die Moral für die Menschen gestiftet haben) durch das Handeln der Menschen hindurchgreifen, um ihrerseits statt der Menschen die moralisch Handelnden zu sein. 32 anderes ein -, aber salva rationalitate so, daß er die Wesen, von denen etwas moralische Berücksichtigung erfahren kann, einschließt. Der einzelne Mensch als einzelner muß daher eine wertende Auszeichnung erfahren, die garantiert, daß die Stelle, die er für die Moral einnimmt, nicht innerhalb dieser Moral (zugunsten von etwas anderem, einem anderen oder einem Kollektiv von anderen) durchgestrichen werden kann. Die Inkommensurabilität eines jeden konkreten einzelnen Menschen unter dem Blickpunkt der Moral ist die Nichtsubstituierbarkeit eines jeden konkreten einzelnen Menschen im Netz der Moral: Jeder konkrete Mensch repräsentiert, als ein zumindest potentiell moralisches Wesen, die Idee der Moral, die Idee eines Systems moralischer Rücksichtnahme schlechthin. Würde ist demnach eine symbolische Qualität, die den Adressatenbereich einer Moral dadurch konstituiert, daß moralische Rücksichtnahme selbstreflexiv wird, sich auf ihren Ursprung bezieht, also auf diejenigen Wesen, die überhaupt moralische Rücksichten nehmen können. Moralische Veranwortung (jene Art von Verantwortung, die einer insofern hat, als er sein Handeln an moralischen Rücksichtnahmen orientiert) 1 ist nicht delegierbar und nicht teilbar, sondern irreduzibel der einzelnen konkreten Person zugerechnet, die darum als Akteur mit freiem Willen gedacht wird. Dies ist nur eine weitere Seite des Phänomens, daß jede Moral, ob dies nun denen, die sie befolgen, bewußt ist oder nicht, ein Kulturerzeugnis von Menschen ist. Keine Moral ist den Menschen von Natur aus auferlegt. Keine Moral wird den Menschen von Institutionen, die über den Institutionen der Menschen stünden, geboten. 7. Würde, Recht und Moral Dieselbe reflexive Konstitution eines Adressatenbereichs, die ich in Abschnitt 6.4 für den moralischen Menschenwürdebegriff beschrieben habe, läßt sich auch am Rechtsbegriff der Menschenwürde ablesen, wie er in Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes als "Menschenwürdegrundsatz" festgehalten ist. 1 Vgl. das Spezifikum moralischer Verantwortung gegenüber anderen Arten der Verantwortung (Kettner 1992c). 33 Ein signifikanter Unterschied zwischen dem verfassungsrechtlichen Menschenwürdegrundsatz und dem Moralbegriff liegt allein in der Adressatendifferenz. Während der verfassungsrechtliche Menschenwürdegrundsatz den Willen eines Gesetzgebers binden soll, also die politische Macht, binden, also die 1 sollen Moralprinzipien den Willen von natürlichen Personen persönliche Handlungsmacht von einzelnen, zur überlegten Selbstbestimmung fähigen Menschen. Die Perspektive des Grundgesetzes spricht die Würde schon begrifflich ohne Rücksicht auf "sittlichen Entwicklungsstand" oder soziale Position allen Personen gleichermaßen zu. Begründet wird dies als historischer Lernpro-zeß: "... gerade die historische Erfahrung des Unrechtssystems zeigt, daß es dem Staat verwehrt sein muß, Menschen nach ihrem vermeintlichen sittlichen Wert zu klassifizieren", also nur selektiv zu schützen (Benda 1987:15). Der Adressatenbereich des Menschenwürdegrundsatzes oder -prinzips ist aus der Perspektive des Rechts (GG) die natürliche Person. Sie ist Träger der Menschenwürde. Das verbietet, zwischen würdigem und unwürdigem Leben zu differenzieren. So heißt es beispielsweise in der Abtreibungsentscheidung des BVerfG von 1974: 2 (a) "Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu; es ist nicht entscheidend, ob der Träger sich dieser Würde bewußt ist und sie selbst zu wahren weiß." (b) "Die von Anfang an im menschlichen Sein angelegten Fähigkeiten genügen, um die Menschenwürde zu begründen." Freilich bleibt in dieser Erklärung eine Lücke. Das Rechtfertigungsproblem bleibt offen, denn in (a) werden keine Rechtfertigungsgründe, sondern nur Zuschreibungskriterien genannt - 1 wo aber existiert "menschliches Leben"? Und Punkt (b) spielt zwar auf Rechtfer- Eine richtige, aber zu selektive Bestimmung, wie Menschenwürde staatliche Souveränität restringiert, gibt Giese (1979:86): "Die Würdenorm weist staatliche Gewalt an, Kommunikationsherrschaft niemals würdeverletzend auszuüben." 2 Der vollständige Text der Begründung des BVerfG für die soeben (28.5.1993) ausgesprochene Ablehnung einer bedingungslosen Fristenregelung liegt mir noch nicht vor. Ich vermute aber, daß der Sinn des zitierten Arguments beibehalten worden ist. Wie sonst sollte verfassungrechtlich ein normativer Kernsatz begründet werden wie der, "daß das Ungeborene in jedem Stadium der Schwangerschaft auch ihr [der Schwangeren] gegenüber ein eigenes Recht auf Leben hat (...)." (Anordnung des BVerfG, Abschnitt 3. (1). Zitiert in: Das Bundesverfassungsgericht erläßt eine Übergangsregelung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.5.1993, S.3). 34 tigungsgründe an, jedoch ohne sie wirklich zu explizieren - welche "Fähigkeiten" begründen Menschenwürde? Wenn wir an anderen Stellen des juristischen Diskurses nach Rechtfertigungen suchen, die die Lücke schließen würden, stoßen wir auf den kantianischen Boden unserer Verfassung. 7.1 Kantianismus auf dem Boden des Grundgesetzes Um die Frage zu beantworten, unter welchen Bedingungen die Menschenwürde verletzt sei, verwendet das Bundesverfassungsgericht bei der Definition der Menschenwürde die von Dürig geprägte Objektformel (vgl. Dürig 1974). Sie ist eine Variante der Selbstzweckformel des Kantischen kategorischen Imperativs. Nach Dürigs Objektformel widerspricht es "der menschlichen Würde, den Menschen zum bloßen Objekt im Staate zu machen." "Der Mensch muß immer Zweck an sich selbst bleiben." Er darf nicht einer Behandlung ausgesetzt werden, "die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt." 1 Kants Selbstzweckformel lautet zum Vergleich: "Der Mensch kann von keinem Menschen (weder von anderen noch sogar von sich selbst) bloß als Mittel, sondern muß jederzeit zugleich als Zweck gebraucht werden, und darin besteht eben seine Würde (die Persönlichkeit), dadurch er sich über alle Weltwesen, die nicht Menschen sind und doch gebraucht werden können, mithin über alle Sachen erhebt." 2 Das rechtfertigungslogische Argument, das Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (BA 65, 66) für die Selbstzweckformel aufbietet, ist mager: Die "vernünftige Natur existiert als Zweck an sich selbst. So stellt sich notwendig der Mensch sein eigenes Dasein vor; so fern ist es also ein subjektives Prinzip menschlicher Handlungen. So stellt sich aber auch jedes andere vernünftige Wesen sein Dasein, zufolge eben desselben Vernunftgrundes, der auch für mich gilt, vor; also ist es zugleich ein objektives Prinzip, woraus, als einem obersten 1 Vgl. Geddert-Steinacher (1990:31) für Hinweise auf mehrere Urteile des BVerfG. Eine Auflistung von Themen, bei denen das Würdeargument in der Rechtssprechung von BVerfG, Bundesarbeitsgericht, Bundesgerichtshof in Zivilsachen, Bundesgerichtshof in Strafsachen und Bundesverwaltungsgericht bis 1979 eine mehr oder minder bedeutsame Rolle spielt, gibt Giese (1979:14-17). Gieses Liste schärft den Blick für die notorische Unsicherheit in bezug auf die Frage, wo, von wem und mit welchen Gründen die Trivialisierungsgrenze von Menschenwürde gezogen wird. Subjektiv sind offenbar keine Grenzen gesetzt: es gibt Personen, die ihre Menschenwürde dadurch verletzt sehen, daß ihr Name auf computergeschriebenen Formularen mit oe statt mit ö ausgedruckt wurde. 2 Metaphysik der Sitten, Paragraph 38. (Stuttgart: Reclam, 1990, S.354) 35 praktischen Grunde, alle Gesetze des Willens müssen abgeleitet werden können. Der praktische Imperativ wird also folgender sein: Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest." Im Licht gängiger Rationalitätskonzepte erscheint es keineswegs widervernünftig (wenngleich vielleicht traurig), sich das eigene Dasein nicht als an sich zweckvoll vorzustellen, sondern als letztendlich vollkommen zweckfrei. 1 Doch zurück zum Recht. Erklärt wird die unverlierbare Menschenwürde dort so: Sie bestehe in der Subjektivität des Menschen, und zwar Subjektivität im Sinne von Selbstbestimmung, Personalität und Verantwortlichkeit. Diese drei Interpretamente des BverfG zeigen ein kantianisches Verständnis von Subjektivität, nämlich als Autonomie. Denn Autonomie ist Kants zentraler Begriff der Begründung der Würde, freilich nicht nur der des Menschen sondern der eines jeden Wesens, das ein Vernunftwesen ist. Jedoch wäre es kurzschlüssig, "die Rechtsprechung des BVerfG ausschließlich im Sinne einer höchstrichterlichen Kant-Exegese zu verstehen" (Geddert-Steinacher 1990:33), da in Kants Moraltheorie bereits eine Synthese verschiedener ethischer Denktraditionen, die in zwei Jahrtausenden in Europa ausgebildet worden sind, vorliegt. Insofern kann man sehr wohl von 1 Iris Murdoch (1970) z.B. plädiert für "acceptance of the utter lack of finality in human life. The Good has nothing to do with purpose, indeed it excludes the idea of purpose. 'All is vanity' is the beginning and the end of ethics. The only genuine way to be good is to be good 'for nothing' in the midst of a scene where every 'natural' thing, including one's own mind, is subject to chance, that is, to necessity" (S.71). "There are properly many patterns and purposes within life, but there is no general and as it were externally guaranteed pattern or purpose of the kind for which philosophers and theologians used to search. We are what we seem to be, transient mortal creatures subject to necessity and chance. (...) Our destiny can be examined but it cannot be justified or totally explained. We are simply here. And if there is any kind of sense or unity in human life, and the dream of this does not cease to haunt us, it is of some other kind must be sought within a human experience which has nothing outside it" (S.79). Sehr stringent kritisiert Philippa Foot (1972) Kants Rechtfertigungsargument. - Einen konzilianten Rettungsversuch macht Alan Donagan (1977:237): "Kant did not demonstrate a priori that reason must by its very nature prescribe for free and rational beings what the fundamental principle of morality says it must. Rather, he drew attention to certain characeristics implicit in being a rational creature, with regard to which he claimed to have sufficient insight into the nature of practical reason confidently to affirm that it must prescribe that rational creatures be unconditionally respected. They are: first, that rational creatures are negatively free because they exhibit a kind of causality by virtue of which their actions are not determined to any end by their physical or biological nature; and second, that because of that causality, they are creatures of a higher kind than any others in nature. These characteristics, according to Kant, provide rational creatures with an end which their own reason must acknowledge: their own rational nature. That end is not a producible one, like those of instinct and desire; but, as an end to be respected, by virtue of which things are to be done, it can generate action." 36 einer höchstrichterlichen Exegese der europäischen Tradition universalistischen Moraldenkens sprechen. Besonders bedeutsam scheint mir, daß der Kantianismus, der in den ersten Artikel unseres Grundgesetzes eingegangen ist, dem Begriff der Menschenwürde die Schwächen und Stärken mitteilt, die überhaupt für normative Begriffe in deontologischen Prinzipienmoralen, wie die Kantische eine ist, charakteristisch sind. Erster Schwachpunkt: Wirklichkeitsferne durch starke Idealisierungen Das Kriterium, mit dem die Zuschreibung von Menschenwürde an einzelne operationalisiert wird, ist das unmittelbar einfache, notwendige und hinreichende empirische Kriterium der Zugehörigkeit zur biologischen Gattung Mensch. Die Rechtfertigungslogik des so zugeschriebenen normativen Gehalts arbeitet allerdings mit starken kontrafaktischen Idealisierungen. Zwischen der Zuschreibungs- und Begründungslogik des Menschenwürdebegriffs tritt eine schwer einsichtig zu machende Spannung auf. Die Engführung zwischen Kant und dem BVerfG ist auch in puncto Zuschreibungslogik perfekt. Kants Zuschreibungslogik liegt in folgender Formulierung: "Nichts desto weniger kann ich selbst dem Lasterhaften als Menschen nicht alle Achtung versagen, die ihm wenigstens in der Qualität eines Menschen nicht entzogen werden kann; ob er zwar durch seine Tat sich derselben unwürdig macht." Völlig parallel ist die vom BVerfG vertretene Auffassung, jedem Menschen, auch dem Geisteskranken, dem Kind oder dem Verbrecher komme Menschenwürde zu. 1 1 Eine weitere Parallele läßt sich an der Reziprozitätsstruktur der Menschenwürde ablesen. Kant verbindet mit dem Achtungsanspruch, den ich an andere stelle (insofern ich für die anderen Menschenwürde repräsentiere), eine Pflichtkomponente, nämlich die Wechselseitigkeit solchen Anspruchs zwischen Alter und Ego. Dem Anspruch auf Achtung der Menschenwürde korrespondiert die Pflicht zur Achtung der Menschenwürde jedes anderen Menschen. "Nicht anders die Struktur der Würdegarantie des Art.1 Abs.1 GG: Die Achtungspflicht richtet sich an jedermann, nicht nur an den Staat", meint Geddert-Steinacher (1990:36). Nicht nur an den Staat - also doch zumindest auch an den Staat. Bedenkt man zudem die Funktionsstellung des Menschenwürdebegriffs im Verfassungstext, so erscheint mir plausibler, daß die Würdegarantie qua Rechtsbegriff sich doch primär an den Staat richtet. Nur qua Moralbegriff richtet sich die Menschenwürde, wie alle Moral, unmittelbar an die natürliche, zu überlegter Selbstbestimmung fähige Person. Qua Moralbegriff entbehrt sie die Durchsetzungsgarantien, die, wie alles Recht, vom staatlichen Monopol legitimer Gewalt zehren. 37 Zweiter Schwachpunkt: Anwendungsprobleme durch Formalismus Die präskriptiven Gehalte, die sich in strikt universalistischen, d.h. im Namen von allen an alle adressierten Prinzipienmoralen rechtfertigen lassen, sind "dünn". Die Konsentierbarkeit, die sie durch ihren Mangel an konkretem Inhalt, durch ihren Formalismus gewinnen, bezahlen sie mit Anwendungsproblemen. Wie können wir konkret wissen, ob etwas eine Bedrohung, Beeinträchtigung, Kränkung, Verletzung, Mißachtung der Menschenwürde wäre oder nicht? "Keine der vom BVerfG neben der Objektformel verwendeten Umschreibungen vermag (...) eine Verletzung der Menschenwürde zu implizieren. Mißachtungsabsicht und Willkür" - zwei wichtige Kriterien, die z.B. im Abhörurteil des BVerfG benutzt wurden, um gegen alle Opportunität staatlicher Macht den Schutz eines absolut privaten Bereichs zu bestätigen - "können zwar Indizien für die Verletzung der Menschenwürde sein, sie reichen aber nicht aus, um eine Verletzung der Menschenwürde in jedem Fall zu begründen" (Geddert-Steinacher 1990:58). Auch der Versuch, Verletzungen der Menschenwürde über das Willkürverbot zu definieren, d.h. die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für die Verwendung des Begriffs "Verletzung der Menschenwürde" anzugeben, endet in einem Zirkelschluß, weil sich das, was illegitime Willkür ist, erst an einem vorauszusetzenden materialen Menschenwürdekonzept, das Spielräume legitimer Willkür bestimmt, bestimmen kann. Auch ein weiteres Kriterium, das in der Verfassungshermeneutik auftaucht - der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit - ist definitionsuntauglich, da dieser Grundsatz Güterabwägungen verlangt, die einen von der Menschenwürde unabhängigen Maßstab erfordern würden, was aber mit dem Absolutheitsanspruch der Menschenwürde, selber Maßstab aller Maßstäbe von Güterabwägungen zu sein, kollidiert. Denn letztlich soll ja die Würde des Menschen Kriterium aller Verhältnismäßigkeit sein - und nicht umgekehrt. 1 Dritter Schwachpunkt: Paternalismusanfälligkeit durch Unbestimmtheit Die in unserer Verfassung ausgedrückte Menschenwürde, verstanden als absolute Forderung, erscheint kategorisch wie Kants kategorischer Imperativ, ist aber leider kein Imperativ, kein Sollsatz. Während Kants kategorischer Imperativ sich in Argumentationsregeln, in diskursive 1 Vgl. Geddert-Steinacher (1990:59), deren Argumentation ich hier uneingeschränkt folge. 38 Prüfverfahren, in kriteriologisch relevante Maßstäbe übersetzen läßt, läßt die moralische Forderung der Menschenwürde dies kaum zu. Die Moralidee der Menschenwürde läßt sich nicht in Abwägungen übersetzen - anders als Güter. Sie läßt sich nicht in Priorisierungsregeln übersetzen - anders als Werte und Ziele. Sie läßt sich nicht in Imperative rationaler Wahl übersetzen - anders als Mittel zu Zwecken. Sie läßt sich nicht in Widerspruchstests übersetzen - anders als Handlungsmaximen. Sie läßt sich nicht in Regel-Ausnahme Schemata übersetzen - anders als kontextsensitive Gebote. Wie ein einsames Absolutes thront sie über allem Konkreteren, das man mit ihr vielleicht in Verbindung bringen möchte, doch immer nur in sphinxhaften Formeln mit ihr in Verbindung bringen kann. Diese notorische Unbestimmtheit der moralischen Menschenwürdeidee schlägt auf die rechtliche und politische durch, wo diese zur normativen Deckung auf jene rekurrieren. Die einen bringen die Gewährleistung von Asyl, das Verbot von Keimbahntherapie oder von Leihmutterschaft in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1, die anderen sehen nur einen bestenfalls indirekten Bezug oder gar keinen. 1 Der Unbestimmtheitsverdacht wirft auf die moralische (und somit auch die rechtliche und politische) Menschenwürdeidee den Schatten der krypto-definitorischen Willkür eines paternalistischen Gesetzgebers. Das zeigt sich an der moralischen Unsicherheit angesichts der Frage, ob und in welchem Umfang der einzelne über seine Würde disponieren kann. Ist diese Frage vorweg absurd? Lautete die Frage, ob der einzelne über ein ihm vorgegebenes Absolutum disponieren könne, so wäre sie tatsächlich absurd. Denn entweder ist ein Absolutum vorgegeben - dann läßt sich darüber nicht disponieren; oder es läßt sich darüber disponieren, - dann wäre das, was da vorgegeben ist, kein Absolutum. Aber das ist gar nicht die Frage. Denn das, was als Menschenwürde absolut sein soll, ist gerade die menschliche Autonomie. Ist sie aber absolut, so ist ihr, der menschlichen Autonomie, nichts anderes vorgegeben als sie selbst. Über alles kann sie disponieren, außer über ihre konstitutiven Bedingungen. Diese muß sie als nicht disponibel respektieren, will sie mit sich selbst in Übereinstimmung sein. 1 Vgl. Kaufmann (1987) und Reiter (1987). Reiters Bestandsaufnahme zeigt unbeabsichtigt, wie wenig Spezifisches eine top down "Beurteilung der Gentechnologie anhand des Prüfungskriteriums Menschenwürde" (S. 26-33) bringt, wenn konkretere Operationalisierungen, vor allem Menschenrechte, argumentativ ausgelassen werden. 39 So gewinnt die Frage, ob und in welchem Umfang der einzelne über seine Würde disponieren kann, einen guten Sinn als Frage nach der Begründbarkeit bestimmter Unterscheidungen zwischen konstitutiven und nichtkonstitutiven Bedingungen menschlicher Autonomie; nach der Unterscheidung zwischen dem, worüber disponiert werden kann, und dem, was unmöglich zur Disposition steht. Die Unsicherheit angesichts dieser Frage möchte ich durch den Hinweis auf zwei gegenläufige Antworttendenzen, die in der Verfassungshermeneutik des BVerfG und des BVerwG (Bundesverwaltungsgerichts) vorkommen, veranschaulichen. Ich wähle zwei exemplarische Problemfälle, (a) das Transsexualitätsgesetz und (b) die vieldiskutierte "Peepshow-Entscheidung" des BVerwG. 1 (a) Beim Transsexualitätsgesetz wurde argumentiert, dem Transsexuellen selbst solle es überlassen bleiben, ob er eine geschlechtsanpassende Operation durchführen lassen wolle. Die Auffassung anderer sei unmaßgeblich, denn die mit Art. 1 Abs. 1 geschützte Würde sei die Würde des Menschen, "wie er sich in seiner Individualität selbst begreift und seiner selbst bewußt wird." 2 Offenbar ist diese Antworttendenz individualisierend und nonpaternalistisch, denn sie gesteht die "Definitionsbefugnis über den konkreten Inhalt der Würde in erster Linie dem Betroffenen selbst" (Geddert-Steinacher 1990:88) zu. (b) Bei der Peep-Show Entscheidung hingegen führte das BVerwG "objektive Kriterien in den Würdebegriff ein und hielt eine Verletzung der Menschenwürde selbst dann für gegeben, wenn die Mitwirkung der Frau freiwillig geschehe" (Geddert-Steinacher 1990:89). Das BVerwG argumentierte, die Verletzung der Menschenwürde werde hier "nicht dadurch ausgeräumt und gerechtfertigt, daß die in der Peepshow auftretende Frau freiwillig handelt." Die Darbietung diene nicht der Selbstdarstellung und Selbstverwirklichung der beteiligten Frauen, sondern diese - und der Veranstalter - verfolgten kommerzielle Interessen. Offenbar ist diese Antworttendenz majorisierend und paternalistisch. Sie vernachlässigt die Betroffenenperspektive und konzeptualisiert den Fall einfach unter der nicht weiter 1 BVerwGE 64, 274 (278f.). Vgl. hierzu Geddert-Steinacher (1990:88f.), deren Darstellung ich hier zugrundelege. 2 BVerfG 49, 286 (298), zitiert bei Geddert-Steinacher (1990:88). 40 begründeten Vorgabe, daß die Darbietung erotischer Reize aus kommerziellem Interesse vor einem anonymen Publikum menschenunwürdig sei und deshalb gesetzlich verboten werden müsse. Genau diese Vorgabe ist aber kontrovers. Denn die guten Gründe, mit denen die beschriebene Interaktionssituation als unsittlich bewertet werden kann, sind nicht eo ipso auch schon gute Gründe, sie als menschenunwürdig zu bewerten. Daher drängt sich der Eindruck auf, mit der Argumentation des BVerwG würden Frauen im Namen des Schutzes der Menschenwürde (und somit im Namen ihrer menschlichen Autonomie) vor ihrer menschlichen Autonomie geschützt. 7.2 Rechtlicher Schutz von pränataler Menschenwürde? Ein Epilog. Im Blick auf den pränatalen Schutz der Menschenwürde zeigt die öffentlich vorherrschende Argumentation eine eigenartige Vermischung von Zuschreibungs- und Rechtfertigungslogik. Nach der Rechtsprechung des BVerfG gebührt auch dem ungeborenen Leben, "jedenfalls vom 14. Tag von der Zeugung an", der Schutz des Grundrechts auf Leben und die Achtung seiner Würde. Da eine Differenzierung zwischen den einzelnen Stadien der Embryonalentwicklung willkürlich erscheint, muß darüber hinaus jede menschliche Zelle, solange sie noch totipotent ist, unabhängig von der Art und dem Ort der Zeugung in den Schutz von Leben und Würde einbezogen sein. 1 Nach verbreiteter verfassungsexegetischer Auffassung ist der pränatale Schutz der Menschenwürde am besten als Reflexwirkung der Rechtsposition des geborenen lebendigen Menschen zu sehen, ähnlich also, wie auch der postmortale Schutz der Menschenwürde (z.B. im Schutz der Persönlichkeitsrechte eines verstorbenen Menschen) als Reflexwirkung der Rechtsposition des lebenden Menschen betrachtet wird. 2 Doch was ist eine "Reflexwirkung"? An dieser Stelle biegt sich die versuchte Rechtfertigung der Würde des fötalen Menschen zurück ins bloß Metaphorische. Klar ist allein die Zuschreibungslogik; auch Fötus und Embryo sind, deskriptiv gesehen, menschliches Leben. Die normativen Gehalte hingegen, die die kantianische Rechtfertigungslogik begründet 1 "Entscheidend ist die Abstammung vom Menschen und die genetisch programmierte Fähigkeit, sich zu einem vollständigen Individuum zu entwickeln" (Geddert-Steinacher 1990:78). 2 Affirmativ hierzu Geddert-Steinacher (1990:79). 41 (Selbstbestimmung, Personalität, Verantwortlichkeit, s.o.), passen nicht auf das noch präpersonale Menschenwesen, das "werdende Leben" - während sie auf die werdende Mutter und auf den werdenden (biologischen oder sozialen) Vater passen. Fälle wie dieser zeigen gut, wie Zuschreibungs- und Rechtfertigungslogik in nichttrivialer Weise miteinander in Konflikt geraten, gleichsam auseinanderfallen können. Nach der Devise, daß sein muß, was sein soll, stur auf die Zuschreibungslogik zu pochen, erscheint wenig überzeugend. Der Fötus ist menschliches Leben, die Mutter ist menschliches Leben. Die Mutter aber hat die präskriptiv maßgeblichen Gattungseigenschaften (z.B. Selbstbestimmung, Personalität und Verantwortlichkeit) als Individuum, und nicht bloß als "Reflex" aktualisiert. Der Fötus hat die präskriptiv maßgeblichen Gattungseigenschaften weder als Individuum noch als "Reflex" aktualisiert. Abstrakt gesprochen gibt es drei Möglichkeiten, um die Rationalität im Verhältnis von Zuschreibungs- und Rechtfertigungslogik zu wahren. Man kann Brückenbegründungen konstruieren, die die Zuschreibungslogik von der Begründungslogik her restringieren, oder umgekehrt solche, die die Begründungslogik von der Zuschreibungslogik her restringieren, oder beides, so daß sich Zuschreibungs- und Rechtfertigungslogik aufeinander zubewegen. Die erste Möglichkeit wird durch die sogenannten Potentialitätsargumente in den Debatten über Abtreibung und neue Reproduktionstechniken (vgl. Leist 1990:24-26) gut veranschaulicht. Für die zweite Möglichkeit finden sich sehr heterogene Beispiele, die jedoch alle von 1 naturalistischen Fehlschlüssen (z.B. metaphysisches Naturrecht) und Dogmatismen geplagt werden. Für die dritte, attraktivste Möglichkeit finden sich bisher nur Ansätze. 1 2 Z.B."Speziezismus", (vgl. Leist 1990:21-24), sowie die Doktrin von der Heiligkeit des Lebens, (vgl. Kuhse 1990). 2 Z.B. der transzendental-anthropologische Ansatz von Otfried Höffe (1992). Höffe operiert mit einer kontraktualistischen Rechtfertigungslogik für Menschenrechte (derzufolge sie gesollte Klugheitsregeln sind) und einer "partialanthropologischen" Zuschreibungslogik, wobei freilich die integrative Funktion des Menschenwürdebegriff tendentiell verblaßt. Vgl. auch die interessanten Vorschläge für den engeren Bereich der Bioethik, die Dieter Birnbacher (1990) aus der Unterscheidung von individuenbezogener Menschenwürde und Menschenwürde, die auf normative Gattungsbegriffe bezogen ist, gewinnt. Eine interessante dialogische Interpretationen der Menschenwürdeklausel in der UNO-Menschenrechtsdeklaration gibt John Wetlesen (1990), auf den ich mich in einem diskursethischen Versuch (Kettner 1992d) beziehe. Ich skizziere dort eine transzendentalpragmatische Rechtfertigungslogik, die von der Situation desjenigen ausgeht, der ernsthaft die Frage aufwirft, wessen Bedürfnisansprüche denn von anderen erfüllt werden sollten. Wer so fragt, hat bereits eigene, deren Legitimität er unterstellt, und diese Voraussetzung im eigenen Fall muß er salva rationalitate als Paradigma 42 Literatur Adorno, T.W. (1977): Jargon der Eigentlichkeit. Frankfurt. Antes, Peter, et al. (1984): Ethik in nichtchristlichen Kulturen. Mainz. Apel, Karl-Otto (1992): Diskursethik vor der Problematik von Recht und Politik. In: K.-O. Apel & M. Kettner, Hg.: Zur Anwendung der Diskursethik in Politik, Recht und Wissenschaft. Frankfurt, S. 29-61. Benda, Ernst (1987): Menschenwürde: Begriff und Inhalt. In: O. 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Feinberg, Joel (1980): The Nature and Value of Rights. In: Ders.: Rights, Justice, and the Bounds of Liberty. Princeton. anerkennen für beliebige andere, die ernsthaft jene Frage aufwerfen könnten. Als Zuschreibungslogik ergibt sich ein von Einsicht in die verschiebbaren Grenzen möglicher Kommunikation abhängiger Begriff basaler Personalität, der die Bindung von Menschenwürde an homo sapiens kontingent setzt und die Möglichkeit zumindest nicht theoretisch ausschließt, daß wir u.U. auch Walen oder Marsmenschen dasjenige zuschreiben, was wir zunächst und primär uns Menschen als Menschenwürde zuschreiben. 43 Foot, Philippa (1972): Morality as a System of Hypothetical Imperatives. Philosophical Review, 81, 305-316. Geddert-Steinacher, Tatjana (1990): Menschenwürde als Verfassungsbegriff. Aspekte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz. Berlin. Gewirth, Alan (1992): Human Dignity as the Basis of Rights. In: M.J. Meyer und W.A. 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Jetzt wissen wir nicht, ob da am Gericht die alte oder die neue Würde des Menschen hängt. Auf jeden Fall ist mir deutlich geworden, daß die Würde des Menschen nicht von ihrer Verortung am Gericht zu trennen ist. Es gibt alle möglichen Würden: Würde des Alters, Würde eines bestimmten Verhaltens. Aber es gibt nur die eine Würde des Menschen, und diese ist nicht losgelöst von ihrer Verankerung in den Menschenrechten zu sehen. Das muß doch nicht letztbegründet werden. Sie ist nicht zu trennen von ihrer Geschichte im modernen staatlichen Rechts- und Strafsystem, d.h. in Macht- und Gewaltverhältnissen, auf die sie bezogen ist. Die Würde hat nicht nur einen Kontext, der diskursiv zu erschließen ist, sondern auch eine Geschichte, in der noch eine andere als eine rein diskursive Logik des Begründens liegt. In unserer Verfassung wird in Klammern diese andere Logik als Grundrechtsbindung der staatlichen Gewalt verdeutlicht, die eine Schutzbestimmung für jedes Individuum gegen das staatliche Gewaltmonopol ist, das den Kern der Geschichte des staatlichen Straf- und Rechtssystems ausmacht: "Artikel 1 (Menschenwürde, Grundrechtsbindung der staatlichen Gewalt) 47 (1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." Mein erster Einwand gegen Matthias Kettners Ausführungen betrifft die Trennung der Würde von ihrer historischen und sozialen Verortung im modernen staatlichen Rechts- und Strafsystem, das Macht- und Gewaltverhältnisse reguliert. Was ich problematisiere, ist nicht die Evidenz von Matthias Kettners Beweisführung, sondern die Plausibiliät der Fragerichtung: Muß man sich wirklich ansehen, wie der Begriff "Würde" alltagssprachlich verwendet wird, um den Gehalt des Begriffs "Menschenwürde" zu verstehen? Ich halte diese Fragerichtung für falsch. Es ist doch nicht die zwingende Logik notwendiger und hinreichender Begründungen, die einer wie immer auch konkretisierten Menschenwürde Geltungsanspruch verschafft. Mein zweiter Einwand betrifft eine andere Perspektive von diskursiver Macht, die ich vertrete: Wir Feministinnen haben oft einen Hang, uns von historisch scheinbar überholten und veralteten Vorstellungen angezogen zu fühlen. Das liegt wohl darin begründet, daß wir Frauen im modernen Denken immer eine halbe Entwicklungsstufe zurückgestuft wurden und mittlerweile nicht mehr so sicher sind, ob wir diese halbe Stufe, die die Männer uns angeblich voraus sind, überhaupt einholen wollen. Jedenfalls hat die Würde des Menschen - das hat Matthias Kettner gut veranschaulicht - "irgendetwas historisch Überholtes" an sich. Aber kaum fangen einige Philosophen an, die Kraft der Menschenwürde als regulative moralische Idee in Frage zu stellen, da besinnen sich einige Feministinnen um so mehr auf ihren normativen wie politisch-regulativen Anspruch. Die Würde des Menschen in der feministischen Differenzierung als "Würde der Frau" ist in der feministischen Bewegung immer schon und in den letzten Jahren verstärkt zu einem wichtigen Bezugspunkt feministischer Diskussionen geworden. So haben einige deutsche Feministinnen vor zweieinhalb Jahren in Frankfurt am Main einen Kongreß für eine neue deutsche Verfassung veranstaltet, auf dem wir die Würde des Menschen/Artikel 1 für eine neue deutsche Verfassung dahingehend präzisiert haben: "Artikel 1 (1) Die Würde von Frau, Mann und Kind ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Pflicht des Staates, der Gesellschaft sowie jeder und jedes Einzelnen. 48 (2) Die Bürgerinnen und Bürger der Republik Deutschland bekennen sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit der Welt. (3) Die Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtssprechung als unmittelbar geltendes Recht." Reflektiere ich, was wir da gemacht haben, dann läßt sich das unter dem Stichwort "Definitionsmacht ausüben" zusammenfassen. Diese Definitionsmacht ist ein anderer Typus diskursiver Macht, als die Macht korrekter Begründungen dafür, daß es ethisch vertretbar ist, daß Menschen Definitionsmacht ausüben. Sie ist rückgebunden an gesellschaftliche Herrschafts- und Machtverhältnisse, in die sie verändernd einzugreifen versucht. Damit komme ich zu meinem dritten Einwand, der diesen Gedanken grundsätzlicher zu fassen versucht: Ich habe ein Problem mit dem Ethikdiskurs als einer diskursiven Praxis, die sich hegemonial als Metaebene über gesellschaftliche Problematisierungen legt. Ich habe den Verdacht, daß die Funktion dieses ethischen Begründens noch eine ganz andere ist, als sich am Resultat logisch einwandfreier Argumente messen läßt. Ersteinmal muß ich feststellen, daß die Wissenschaft der Ethik und ihre neuen Formen der Institutionalisierung spätestens seit Hans Jonas Erfolgsbuch über die Begründung einer prinzipiellen Ethik eine Position als "Dach der Wissenschaften" beansprucht. Dieser Machtanspruch der Ethik ist problematisch, auch wenn er so symphatisch und offen formuliert wird, wie Matthias Kettner das tut, der sich ja explizit vom Anspruch universeller Gültigkeit der alten spekulativen Philosophie abgrenzt und im Sinne eines praktischen Diskurses letztlich den Prozeß des Argumentierens und Begründens autorisieren möchte. Wenn ich es recht verstanden habe, liegt die rechtfertigende Letztbegründung bei Matthias Kettner in der Dynamik des Diskurses selbst, der nach ihm nicht nur universelle Normen, sondern auch partikulare moralische Bewertungen aufnehmen kann und die Partikularität von unterschiedlichen Diskurswelten durchaus mitreflektiert. Na gut, sage ich dazu aus meiner feministisch partikularistischen wie zugleich immer auch menschlich-universalistischen Interessenperspektive, seit einiger Zeit ist das monolithische, universalistische Denken de facto multiperspektivisch auseinandergebrochen. Der 49 Exklusivitätsanspruch einer universalistischen Ineinssetzung von "Mensch" mit der Norm des weißen Mannes, der sich in der christlichen und darwinistischen Tradition stehend als "Krone der Schöpfung" über die Tiere, die Naturvölker und die Frauen erhebt, ist ja heute historisch unwiederbringlich "geknackt". Gott ist tot und Lamarcks wie Darwins genealogische Vorstellung von der Höherentwicklung der Arten ist spätestens mit der Möglichkeit technischer Produktion von Schimären auch zutiefst erschüttert. Frauen und die sogenannten Naturvölker, die Nichtweißen, die Nichtchristen, sie alle haben de facto eine Stimme im globalen Diskurs. Das drückt unter anderem die UN-Charta von 1948 aus. Die Frage an die philosophischen Moralbegründungen ist doch nun: Warum sollten die Partikularen denn ihre Argumente auf ein bestimmtes Argumentationsschema, das als vernünftig nur gelten läßt, was im Diskurs des rationalen Begründens vorgebracht wird, einschränken? Haben sie und haben wir, die wir qua Geschlecht als "das Andere der Vernunft" definiert wurden, nicht allen Grund und die historische Berechtigung, auch in den Schemata zu argumentieren, die als "irrational" gelten? Warum sollen wir denn den Letztbegründungsanspruch einiger westlicher, männlicher Philosophen anerkennen und unsere historisch endlich wahrnehmbaren Stimmen für die Begründung einer Logik von Argumenten einsetzen, statt direkt für die Begründung unserer "partikularen" Interessen, beispielsweise für unser Interesse nach Anerkennung und Würdigung eines Rechts auf Unverletzlichkeit des Körpers? Um welche Dynamik geht es denn in der angewandten Diskursethik? Um eine Dynamik des Logikbeweises, daß Ehtik und Diskurs möglich sind, oder um eine Dynamik der Veränderung historisch ungleicher Ausgangsbedingungen mit der Möglichkeit, z.B. unverletzt ein Leben führen zu können? Die Würde des Menschen hängt ja nicht undefiniert am Frankfurter Gericht. Sie ist historisch definiert, z.B., als Schutz vor der Gewalt körperlicher Verletzungen: "unantastbar". Damit komme ich zu meiner vierten und letzten Überlegung, die ich zur Diskussion stellen möchte. Sie ist mehr ein Verdacht als ein im Sinne des rationalen Diskurses beweisbares Argument: Es ist der Verdacht, daß es bei der Institutionalisierung des ethischen Diskurses in Ethikkommissionen, aufgeregten Radiosendungen und Talk Shows noch um etwas ganz anderes geht, als um sauberes Argumentieren, nämlich um eine beruhigende und pazifierende 50 Begleitmusik bei der Brechung sozialer, kultureller und rechtlicher Normen, die neue Machtund Gewaltverhältnisse einführen. Solche neuen Macht- und Gewaltverhältnisse werden im Moment am deutlichsten im Bereich der "Biomedizin" sichtbar und betreffen zentral das Selbstbestimmungsrecht, die Unversehrtheit des Körpers und die Würde der Frau. Ich möchte diesen Verdacht an dem vieldiskutierten Beispiel der technischen Verlängerung der Sterbephase des Unfallopfers Marion Ploch in Erlangen darstellen, deren Körperfunktionen zum Zwecke des Ausbrütens ihres Fötus über 14 Wochen von Ärzten mechanisch "am Leben" gehalten werden sollten. Ich beziehe mich dabei vor allem auf die Darstellung und Analyse des "Falls Marion Ploch" durch die feministische Rechtswissenschaftlerin Monika Frommel am 9. Februar 1993 in der Frankfurter Rundschau ("Die Entscheidungsbefugnis neu regeln - Lebensrecht: ein mehr als fragwürdiges Zauberwort"). Monika Frommel arbeitet dort die Bedeutung der Rechtssprechung des Falles heraus und zeigt sie als klaren Bruch mit der bisher geltenden juristischen Definition eines Fötusses. Wenn die Erlanger Rechtsprechung sich durchsetzt, wird dem Embryo in Zukunft ein eigenes "Lebensrecht" zugesprochen, eine juristische Neubeschreibung, die schwerwiegende Konsequenzen für die gesellschaftliche Fassung von Menschenwürde und Würde der Frau haben wird: "Verfassungsrechtlich handelt es sich bei der Leibesfrucht um ein Rechtsgut, also keinen Träger von Grundrechten (so auch das Bundesverfassungsgericht in seiner berühmten Entscheidung aus dem Jahre 1975). Allerdings genießt es den objektiven Schutz der Verfassung, was bedeutet, daß Dritte zur Verantwortung zu ziehen sind und sich strafbar machen, wenn sie das Rechtsgut werdendes Leben verletzen. Es bedeutet aber nicht logisch zwingend, daß sich auch die Schwangere strafbar macht, wenn sie abtreiben läßt: Diesen Schluß zieht zwar das Bundesverfassungsgericht 1975, aber aus einer weiteren Prämisse, nämlich der damaligen These von der Strafpflicht des Staates auch gegenüber der Schwangeren. Worauf es hier ankommt, ist die Klarstellung, daß das Bundesverfassungsgericht jedenfalls nicht von einem Lebensrecht der Leibesfrucht im juristisch-technischen Sinne ausgeht. Dieses ist aber die tragende Prämisse der sogenannten Lebensschützer, die eine Ideologie verfolgen, die man persönlich teilen kann, die aber nicht verbindlich für diejenigen ist, die sie ablehnen. 51 Man mag zu der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1975 stehen wie man will, jedenfalls hat das Gericht damals nicht das Lebensrecht der Leibesfrucht postuliert, sondern "nur" ein Prinzip der Verfassung klargestellt. Lebensschutz ist eine Staatsaufgabe. Liest man die Urteilsbegründung genau, zeigt sich, daß an keiner Stelle explizit vom Lebensrecht Ungeborener gesprochen wird, sondern immer nur vom Schutz des sich entwickelnden Lebens. Diese Deutung wird bestätigt durch eine Passage, in der das Gericht die Frage explizit ausklammert, ob ein Embryo Träger von Grundrechten sei." Das Vormundschaftsgericht in Hersbruck, das für den Fall Marion Ploch zuständig war, traf hingegen eine Entscheidung im Sinne der Lebensschützer-Ideologie "und zwar freihändig ohne gesetzliche Grundlage über einen kühnen Analogieschluß zu Paragraph 1922 BGB. Die tote Frau sei eine 'lebenserhaltende Schutzhülle', so steht es in der Begründung, ihr postmortaler Persönlichkeitsschutz sei dem 'selbständigen Lebensrecht des ungeborenen Kindes' nachgeordnet. Für die Frage, ob die funktionserhaltenden Apparate abzuschalten seien oder nicht, sei eine 'Genehmigung durch das Gericht' erforderlich." Diese Entscheidung ist insofern eine Ungeheuerlichkeit, als sie diejenigen entmün-digt, die im Sinne einer Verantwortungsethik die Entscheidung treffen sollten. Das sind die, die für die Kinderaufzucht praktisch die Verantwortung übernehmen wollen, im Falle des Fötusses von Marion Ploch also die Eltern der Hirntoten. Installiert wird mit dieser juristischen Entscheidung eine Expertenallianz von Richtern und Medizinern als neue Macht der tatsächlichen "Letztbegründung". Eine prinzipielle Diskussion über diskursethische Probleme der "Letztbegründungen" verdeckt diese de facto geschaffene Neuverteilung der Entscheidungsmacht über Tod und Leben: "Am vordringlichsten für künftige Fälle ist die Frage, wer die Entscheidungsbefugnis haben soll. Die Erlanger Ärzte und ihre Berater gingen davon aus, eine solche Entscheidung könne 'objektiv' als Ergebnis einer Güterabwägung getroffen werden. Die für die Entscheidung relevanten Güter waren in ihren Augen das 'Lebensrecht' des 'Kindes' auf der einen und das postmortale Persönlichkeitsrecht der Toten auf der anderen Seite. Bei einer solchen Bewertung des Problems nehmen Ärzte und gegebenenfalls Juristen die 52 Entscheidungskompetenz in Anspruch. Das Ergebnis ist vorprogrammiert. Das 'Interesse des Kindes' überwiegt, wenn die Risikoeinschätzung eines solchen Experiments positiv ist. So gesehen war es nur konsequent, daß in Erlangen die künftigen Sorgeberechtigten vor vollendete Tatsachen gestellt und ihre Sicht ignoriert wurde. Aber es liegt auf der Hand, daß diese Bewertung nicht richtig sein kann. Unter verantwortungsethischen Gesichtspunkten gibt es weder ein Argument für eine ärztliche noch für eine vormundschaftsgerichtliche Kompetenz. Denn weder die Ärzte noch die angerufenen Gerichte tragen die Verantwortung für die Folgen ihres Tuns. Wenn überhaupt, dann können nur die Personen entscheiden, die ihr Leben auf den immer riskanten Ausgang und die Freuden und Lasten der Versorgung eines auf diese Weise geborenen Kindes ausrichten." Das Gewaltmonopol des Staates ist damit zum einen unzulässig in den Persönlichkeitsschutzraum, den Artikel 1 des Grundgesetzes definiert, ausgedehnt worden. Zwei-tens, und das möchte ich besonders betonen, ist das Monopol der Strafrechtsverantwortlichen im Staate stillschweigend um ihre Allianz mit der Biomedizin erweitert worden. Fasse ich meine Ausführungen in einer pointierten Forderung zusammen, dann geht es in der Diskussion über die Menschenwürde heute nicht darum, ein alltagssprachliches Verständnis von Menschenwürde verbindlich durchzusetzen, sondern den Artikel 1 um eine Grundrechtsbindung der Biomedizin als Schutz der einzelnen vor einer monopolistischen Definitionsmacht der Biomedizin zu erweitern. Das ist aber keine Frage von philosophischen Letztbegründungen, sondern eine Frage politischer Einflußnahme und Gestaltung der Grundrechte. Als Feministin geht es mir dabei um eine Definition von Menschenwürde, die die frauenverachtende Einordnung einer hirntoten Frau als "lebens-erhaltender Schutzhülle" explizit ausschließt. 53 Das Subjekt der Menschenwürde - eine historisch-genetische Betrachtung 1 Das "Subjekt der Menschenwürde" ist das "Subjekt der Moderne", das ich im Folgenden als das Muster der modernen, historisierenden Fortschritts- und Entwicklungsvorstellung zeigen möchte. Diese baut fundamental auf den evolutionären Leitvorstellungen der Biologie des 19. Jahrhunderts auf und auf eine spezifische mitteleuropäische Rechtstradition, die zu Beginn der Neuzeit in Anknüpfung an die Doppelstruktur des römischen Rechts mit seiner Unterscheidung zwischen heiligem und weltlichem Recht ausgebildet wurde. Die tradierte Sphäre des "heiligen Rechts" bestimmt bis heute innerhalb der säkularisierten Verfassungen der modernen europäischen Staaten den Anspruch von "Letztbegründungen" bei allen Fragen, die den moralischen Rahmen der generativen Familien- und Lebensformen betreffen. Gegen solche Rückgriffe auf moralische Maximen des "Heiligen" als Letztbegründungen, plädiere ich für eine Radikalisierung der neuzeitlich-modernen Säkularisierungsbewegung und für eine völlig politische Begründung ethisch-moralischer Normen. Ein Gegenbild zu einer politisch verfaßten, aber sakral teillegitimierten Verfassung wäre eine rein politisch-säkulare Verfassung, die selbst als "Letztbegründung" moralischer Maximen fungierte. Die Struktur einer solchen säkularisierten Politikverfassung bestimmte nach den Erkenntnissen der althistorischen Forschung den Gesellschaftstypus der antiken Polis Athens zur Zeit ihrer klassischen Phase, d.h. nach der Zerstörung der alten, kultisch bestimmten Hausmacht-Verfassungen (OîKOI). Die Sozialordnung der Polisstruktur war in der demokratischen Phase Athens selbst "das Heiligste", oberstes Ideal, das nicht noch einmal göttlich legitimiert werden mußte. Im Gegensatz zu Rom hatten die Priester im klassischen Athen keinen politischen Einfluß, den sie in Rom und zu Beginn der Neuzeit durch das Monopol der Vorhersage und Zukunftsdeutung sowie der Kalender- und Zeitfestsetzung hatten. Das ganze Problem der "Legitimität des Staates" und der Moralbegründung, das die Theoretiker der Neuzeit beschäftigen sollte, stellte sich in Athen nicht. Über die Polis hinaus 1 Die hier angesprochenen Zusammenhänge sind detailliert in meiner Veröffentlichung von 1994 "Der erregende Mythos vom Geld - Die neue Verbindung von Zeit, Geld und Geschlecht im Ökologiezeitalter" ausgeführt. 54 bedurfte es weiter keiner göttlichen Legitimation, "obwohl sie anerkannten, was bei den Römern ius sacrum hieß, gab es in Wirklichkeit kein Äquivalent zum kanonischen Recht, denn das ius sacrum wurde von den gleichen Staatsorganen festgelegt und durchgesetzt wie das profane Recht" (Finley 1986:121f.). Das moderne, neuzeitlich-europäische Recht gründet wie das römische Recht auf die doppelte Legitimation als weltlich und göttlich legitimiertes Recht. Es existierte zu Beginn der Neuzeit zum einen als kanonische Gesetze (Kirchenrecht), die etwa ab dem 11. Jahrhundert in Mitteleuropa die Familienformen regulierten (Becker, Bovenschen, Brackert 1981:37ff) und zum anderen in unterschiedlichen Formen von peinlichen Gerichtsordnungen, die der Hofjurist des französischen Königs, Jean Bodin, im 16. Jahrhundert in Rekurs auf das römische Recht neu systematisierte. Indem Bodin dem weltlich-staatlichen Souverän das alleinige Gewalt- und Strafmonopol zuerkannte, verleibte er das in Gott gegründete kanonische Recht und die im Papst begründete Inquisi-tionsgerichtsbarkeit dem Staatsrecht ein (Schultz 1990). An Bodins Begründung des neuzeitlichen Staates aus dem Gewalt- und Strafmonopol (auf ihn geht der Begriff des "Absolutismus" zurück) wird die spezifische Struktur einer besonderen Legitimierung der zuvor dem "jus sacrum" zugeordneten Sphäre der Familienordnungen, insbesondere der moralischen Norm von ehelicher Sittlichkeit und Keuschheit für Frauen, ersichtlich. Bodin war zu seiner Zeit der schärfste Vertreter von Hexenverfolgungen und schuf den juristischen Kanon für den staatlichen Strafverfolgungsanspruch. Er unterstellte die sexuelle Führung der Strafpflicht des Staates, indem er den Straftatbestand der Teufelsbuhlschaft zur Grundlage der Hexenverfolgung machte und als Ausdruck des freien Willens der Frauen zu ehelicher Unkeuschheit definierte. Haben sich auch die Rechtsbestimmungen unter dem Gleichheitsanspruch des modernen Rechts total verändert, so ist unsere Rechtsverfassung jedoch immer noch durch eine besondere, andere moralische Legitimationsgrundlage des Familienrechts, das historisch dem alten Geltungsbereich des "jus sacrum" unterlag, gekennzeichnet. Diese Sphäre sakraler Legitimation von Rechtsbestimmungen wird heute bei moralischen und rechtlichen Fragen der Selbstbestimmung von Frauen über ihre kreatürlich-reproduktiven Potenzen immer wieder ins Spiel gebracht. Das ist beispielsweise in der Urteilsbegründung des BGH von 1975 gegen eine Fristenlösung bei Abtreibungen geschehen (Schultz 1987). Das BGH begründete dort eine Strafpflicht des Staats (gegen abtreibende Frauen) in Berufung auf eine sittliche 55 "Schöpfungsordnung". Solch ein Rückgriff auf die Gebote einer Schöpfung Gottes - und damit auf sakrale Rechtsnormen - ist für die Ethikdiskussion über Fragen, die den Bereich der Abtreibung wie auch den von biomedizinischen Eingriffen in die menschlich-kreatürliche Reproduktion betreffen, kennzeichnend. Feministinnen spannen deshalb den historischen Bogen in der Frage der moralischen Begründung von Rechtsnormen mit guter Begründung zurück in die Konstitutionsphase des neuzeitlichen Staates, als parallel zu den Hexenprozessen und ihrer Normierung ehelicher Keuschheit auch erstmals der Straftatbestand der Abtreibung geschaffen wurde. In einem zweiten historischen Bogen, der ein Verständnis für die Umbruchsituation heute eröffnen soll, die mit den Schlagworten vom "Ende der Geschichte", dem "Ende des Subjekts" oder dem "Ende der Moderne" gekennzeichnet wird, versuche ich nun einen Zusammenhang zwischen der neuzeitlichen Säkularisierungsbewegung, den Leitvor-stellungen der Wissenschaft der Biologie sowie der modernen Menschenrechtsvorstellung herauszuarbeiten. Der "Blick zurück in die Geschichte" zeigt, daß mit den neuesten Welt- und Lebenserklärungen, die die Wissenschaft der Biologie heute in ihren Unterdisziplinen der Genetik (als Modell vom Leben) und der Autopoiesis (als Rahmen-theorie von sich selbst organisierenden Systemen) anbietet, auch das rechtslegitimatorische Fundament des "Subjekts der Menschenwürde" wegbricht. Diesen Zusam-menhang von Biologie und Recht versuche ich in einer historischen Rekonstruktion des neuzeitlichen Säkularisierungsbogens entlang des Begriffs der "Moderne" darzustellen: Adelard von Barth, ein englischer Ritter und Benediktinermönch, kehrte im Jahre 1130 nach längerem Aufenthalt in Spanien und Süditalien auf seine heimatliche Insel zurück und schrieb dort die Abhandlung "Questions Naturalis", in der er seine Begeisterung über die Wissenschaften ausdrückte, die er bei arabischen und jüdischen Gelehrten kennengelernt hatte. In dieser Schrift nannte er seine Zeit den Höhepunkt der Geschichte und verwendete dafür einen unüblichen lateinischen Begriff: modernus, frei übersetzt: der Gipfel der Zeit (Durant 1981, Bd. 7:178). Wenn heute über die Moderne ('modernus') geschrieben wird, spannen die AutorInnen den historischen Bogen nicht zurück bis ins 12. Jahrhundert. Der Begriff der Moderne, wie er üblich verwendet wird, ist an die vernunftfixierte Tradition der Aufklärung gebunden, die mit 56 Fortschrittsdenken identifiziert wird. Er beinhaltet eine bestimmte Zukunftsausrichtung, in der "die Menschheit" als ein einziges Subjekt gedacht wird, das seine Geschichte selbst hervorbringt. "Die Menschheit" oder "der Mensch" ist das "Subjekt der Moderne". Der Zeittheoretiker Wendorff belegt diese neuartige Vorstellung mit einem Satz von Schelling aus dem Jahr 1789: "Der Mensch hat Geschichte, weil er seine Geschichte nicht mit-, sondern selbst hervorbringt" (Wendorff 1980:145). Zur Moderne gehört also die Entdeckung der Geschichte als einer eigenständigen, subjekthaften Macht. In Deutschland wurde der Begriff "Geschichte" im 18. Jahrhundert ausgebildet. "Vorher gab es den Plural von Geschichten einzelner Gebiete. Erst die Aufklärungsphilosophie verdichtete und bereicherte jedoch 'Geschichte' zu einem allgemeinen Begriff" (Wendorff 1980:308). Neu war im Gegensatz zur bisher üblichen Historienschreibung: 1. Diese bestimmte Ausrichtung auf Zukunft, 2. daß Geschichte als Handlungsbegriff eines Gattungssubjekts "der Mensch" gedacht wurde, der seine Geschichte selbst "macht", 3. die Vorstellung von einer Entwicklung zum Besseren. Dieses Vertrauen, das hat der Althistoriker Christian Meier in einem Vergleich mit antiken Fortschrittsvorstellungen griechischer Philosophen herausgearbeitet (Meier 1983:435ff), gründete sich auf die Vorstellung, daß das menschliche Wissen voranschreite. Ein solches Denken, das dem Wissen Entwicklungs- und Geschichtsdimensionen unterstellt, war den Griechen fremd. Diese Konzeption des fortschreitenden Wissens ist es, die "dem Menschen" als Kollektivsubjekt wie als normativ vorgestellten männlichen Individuum eine "Subjektivität" in Form der zunehmenden, aufgeklärten Vernunft gab. Es ist diese spezifische Form des historisierenden Wissens in seinem Bezug auf Subjektentwicklungsstufen, die das Grundmuster des modernen Denkens ausmacht. Deshalb ist eine Reflexion auf das moderne Muster von Geschichtsbewußtsein und Zeit der Schlüssel für ein Verständnis des Zusammenhangs von Wissen/Subjektverständnis und - wie ich am Ende meiner Darlegungen zeigen werde - von Recht und Moral. Das Subjekt der Moderne kann in Nachzeichnung der neuzeitlich-europäischen Säkularisierungsbewegung als das Irdischwerden Gottes im gattungsgeschichtlichen Entwicklungsbegriff beschrieben werden: 57 Im Mittelalter wurde Zeit als Teil der Allmacht Gottes begriffen. Zeit war ein Synonym für den lateinischen Begriff säculum und bedeutete Menschheit (Glasser 1936:93). Säkularisierung bezeichnet dementsprechend die Trennung der Menschheit von Gott als Prozeß ihrer Verzeitlichung. Dieser Prozeß der Säkularisierung spannt sich wie ein Bogen von der mittelalterlichen Zeitauffassung, die in Gott ruhte, über das Fließendwerden der Zeit am Beginn der Neuzeit, bis sie im unendlich gewordenen Universum Newtons als Bewegung zum Grundzustand des Seins wurde, um in der Aufklärung schließlich zu einer von Gott gelösten, unabhängigen Gesetzmäßigkeit zu werden. Als Geschichtsprozeß, der den universell gedachten Gattungsmenschen leitet und sich über die in Natur wurzelnden, vergänglichen Menschen erhebt, ist säculum der neue Gott, der die Schicksale der einzelnen überdauert. Bleibend sind nicht die irdischen Naturwesen, bleibend ist die Gattungsgeschichte, die als Vernunftentwicklung über das richtige, vernünftige Wissen erkennbar wird. Damit hat die kreatürlich-menschliche Reproduktion keine Geschichtsmächtigkeit. Die moderne NaturKulturopposition, die Kultur mit Entwicklung und aufklärendem Wissen identifiziert, ist in das moderne Verständnis von Natur und natürlicher Reproduktion eingeschrieben. "Bios", der aufkommende Begriff für Leben, der die neue Entwicklungsvorstellung an der Wende zur Moderne markiert, bezeichnet eine Entwicklung des Lebens, die nicht durch Geburt und Tod funktioniert. Es ist vielmehr die Gattungsgeschichte als eine Entwicklung von "Arten", auf deren Spitze - dem "Gipfel der Zeit" (modernus) - die vernünftige Gattung Mensch steht. Bios ist das Schicksal, nicht als launische Dame Fortuna, die dem einzelnen begegnet, sondern als unabhängig vom einzelnen sich voll-ziehendes Kollektivschicksal, als historisches Gesetz, das sich allein dem erkennenden Geist offenbart. Unendlich im Progress seines Wissenszuwachses ist nur dieser vernünftige Geist, die Summe aller möglichen Erkenntnis; das konkrete, einzelne Leben jedoch ist endlich wie alles Kreatürliche und vergänglich. Seit Montaigne (1533-1592) schon zählt die Vernunfttradierung über ein Buch höher als die Tradierung des kreatürlichen Lebens durch Geburt (Zemon-Davis 1986). 58 Der Ansatzpunkt für ein Begreifen der Entwicklungsvorstellung des Kollektivsubjekts "Mensch" ist deshalb die moderne Fassung der Unendlichkeitsproblematik. 1 Sie liegt als spezifisches Ordnungsschema der Welt, das zeitlich-historisierend funktioniert, auf der Nahtstelle der beiden erkenntnisleitenden Hauptwissenschaften der Moderne, d.h., sie drückt die Verbindung zwischen Physik und Biologie aus. Bis Newton war "Unendlichkeit" in den physikalischen Rahmen des Kreislaufs der Gestirne gebannt und mit der festen Ordnung Gottes gleichgesetzt. Eine "Physik" unabhängig von Gott war nicht denkbar. Seit Newton wird das Maß der Veränderung als Zustand berechnet, nicht als übertragene Kraftgrößen. Das mechanische Weltbild seit Newton ist deshalb bei genauer Betrachtung eher als ein dynamisch-innovatives zu bezeichnen: Bewegung ist der Grundzustand des Kosmos und Umlaufgeschwindigkeit die Logik des bürgerlichen Zeitalters. Das Neue an Newtons Theorie, wogegen sich Leibniz mit aller Scharfsichtigkeit sperrte, war Newtons direkte Verknüpfung von Zeit und Raum mit Gott, womit Zeit und Raum der Schöpfung vorausgesetzt wurden, die absolute Zeit und der absolute Raum allem Dinglich-Weltlichen apriorisch vorangestellt wurden. Ein jedes Ding bekam damit seine Dauer in der Zeit. Koyré betont, daß Leibniz hingegen Bewegung tatsächlich immer noch als Veränderung und nicht als Grundzustand begreifen wollte. Er baute noch auf dem Prinzip der Beobachtbarkeit auf und leugnete die Entdeckung der Rotation und das erste und wichtigste Axiom der Bewegung, das besagt, daß eine kreisförmige Bewegung, die an jedem Punkt ihrer Bahnkurve ihre Richtung ändert, obwohl sie ihre Winkelgeschwindigkeit konstant beibehält, unter dem Aspekt des Trägheitsgesetzes nicht als einheitliche, sondern als konstant beschleunigte Bewegung zu fassen ist. Bei Newton - und das macht die Wende vom christlich-feudalen, anthropozentrischen zum christlich-"mechanistischen" Weltbild aus - wird unter der Annahme des Trägheitsgesetzes Beschleunigung nicht als Veränderung gefaßt, sondern als ein Zustand. Aus dem Gott Newtons wurde in 100 Jahren eine "erhaltende Kraft" ohne jeden göttlichen Ursprung. Das Universum war jetzt die Unendlichkeit, eine sich unablässig beschleunigende Bewegung der Zeit. 1 Diesen Zugang zur Analyse de modernen Zeitbewußtseins verdanke ich Alexandre Koyrés Interpretation des "mechanischen Weltbildes" des 17. Jahrhunderts (Koyré 1969). 59 Die "moderne" Konzeption von Unendlichkeit drückte sich schließlich in einer von Gott getrennten Transzendenzvorstellung aus, die als biologisch-evolutionäres Ge- schichtsverständnis zu beschreiben ist. Die bedeutendsten, weil am nachhaltigsten wirkenden Aufklärer für die Ausprägung der modernen Zeit- und Entwicklungsvorstellung waren die Biologen Jean-Baptiste Lamarck und später Charles Darwin. Sie führten die historische Zeit in die damit zeitlich werdende Natur ein. Lamarck behauptete, daß Zeit grenzenlos in Natur sei. Dadurch bekam die Zeit Natur-Wurzeln und die Men-schengeschichte ihre "tiefere Zeit". Das neue biologisierende Weltverständnis drückte sich in dem Satz aus: Alles hat seine Zeit. Wenn heute von Moderne im Gegensatz zur Postmoderne die Rede ist, wird auf die vernunftfixierte Tradition der Aufklärung Bezug genommen, die eine Zukunftsausrichtung hervorbrachte, in der "die Menschheit" als ein Subjekt gedacht wurde, das seine Geschichte selbst hervorbringt und auf Naturgeschichte gründet. Erst diese Vorstellung eines sich selbst hervorbringenden Gattungssubjekts systematisierte das neue Geschichtsbewußtsein als eine kosmologische Anordnung von Menschen und Natur, die zeitlich-perspektivisch hierarchisiert ist. Es ist die Perspektive, für die Adelard von Barth schon den richtigen Begriff gebrauchte, wenn er auch zu seiner Zeit die Welt noch nicht in dieser Perspektive sehen konnte: vom "Gipfel der Zeit" ('modernus') auf die Naturgeschichte herabschauend als vernünftiges Gattungssubjekt, das sich Entwicklungsstufe um Entwicklungsstufe vom Affen zum Menschen aus Natur herausgearbeitet hat. Bis ins 18. Jahrhundert wurde Natur räumlich bestimmt vorgestellt als eine "Kette der Wesen", die, wie auf einem Tableau, horizontal angeordnet wurden. Das Universum wurde wie eine immense Bibliothek betrachtet oder wie ein großes Buch, in dem abzulesen war, wie alle von Gott geschaffenen Wesen zueinander stehen. Die Aufgabe der Botaniker war es, die Pflanzen zu sammeln, zu systematisieren und im Tableau einzutragen. Linnés Systematik, die alle Pflanzen nach ihren Geschlechtsmerkmalen in Gruppen einteilte, wurde noch von den Evolutionisten des 18. Jahrhunderts berücksichtigt. Ihr Beitrag zur Transformation der Naturgeschichte in eine "Geschichte des Lebens" bestand in der Ausprägung der Metapher von der "Stufenleiter der Geschöpfe", nach der sich die Lebe-Wesen entsprechend ihren von Gott mitgegebenen präformierten Anlagen "auswickeln". Evolution ist das französische Wort für "Auswicklung" und meint die Auswicklung von mitgegebenen (Erb-)Anlagen. Es gab eine 60 Schule der Evolutionisten, die annahm, daß das neue Leben im männlichen Samen als Anlage mitgegeben sei, eine andere sah sie im weiblichen Ei verschlüsselt. Voltaire bemerkte zu diesem Stufenbild kritisch, es gefalle vor allem jenen Leuten, die glaubten, den Papst und seine Kardinäle darin zu erkennen, gefolgt von den Erzbischöfen und Bischöfen ... Natur dürfe sich nicht "feudal" vorgestellt werden, mahnte er, sondern - darüber gab es eine ausführliche Debatte zwischen den Aufklärern - wie eine Republik (Lepenies 1978:45-54). Der Übergang von der vormodernen Naturvorstellung zur evolutionären Naturvorstellung wurde durch einen Wechsel der Leitorientierung von den Pflanzen zu den Großprimaten vollzogen. Die Botanik war bis ins 18. Jahrhundert für die Medizin und vor allem für die Landwirtschaft orientierend gewesen. Die größten technischen Neuerungen des 17. und 18. Jahrhunderts waren Techniken der Bodenurbarmachung und -kultivierung. Im Paradigmenwechsel zu den Primaten, in deren Stufenleiter schließlich "der Mensch" an der Spitze eingereiht wurde, drückte sich eine neue Form der Vergesellschaftung aus, die Gesellschaftlichkeit nicht mehr als von Gott gegebene Fülle und größtmögliche Harmonie 1 bewertete. Gott wurde also nicht mehr in dem von ihm gegebenen Reichtum erkannt, sondern Reichtum wurde jetzt unabhängig von Gott als ein säkularisiertes Potential gedacht, als ein auf Zukunft ausgerichteter, sich vergrößernder Wert, der in Entwicklungsaktivität liegt und von Adam Smith als Arbeit gefaßt wurde. Damit bekam die Zukunftsvorstellung eine an die Herstellung von "Reichtum" gebundene Dynamik. Bis ins 18. Jahrhundert und noch in der Grundrententheorie der Physiokraten - einer Theorie zur Verteidigung feudaler Privilegien der adligen und klerikalen Grundherren gegen die in Kapitalien rechnenden Bürger -, wurde Reichtum als abhängig von den Beträgen der Erde verstanden. Aber schon die Physiokraten begriffen Natur produktivistisch als eine von Gott unabhängige wertgebende Naturressource. Parallel zu dieser Ökonomisierung der Erde wurden die Frauen in Analogie mit demselben produktivistischen Muster des Wertehervorbringens durch "Natur" auf ihre Gebärfähigkeit reduziert. Weibliche Arbeit wurde 1 Das war der Gottesbeweis durch den Satz vom hinreichenden Grund, den noch Leibniz gegen Newton einwandte, er besagt, Gott habe die Welt in größtmöglicher Harmonie erschaffen, und in dieser Harmonie könne das Wirken Gottes erkannt werden. Newton lehnte diese alte Gottesvortellung als eine "mechanische" Vorstellung von Gott ab. (nach Koyre 1969) 61 als Naturvoraussetzung mit menschlich-kreatürlicher Reproduktion identifiziert. Zu dem säkularen, evolutionär-biologischen Weltverständnis, das den Kosmos nur noch als eine Entwicklung von "biologischen Arten" begreift, die das Gattungssubjekt Mensch als vernunftbegabtes Tier krönt, gehört untrennbar der Arbeitsbegriff der politischen Ökonomie. Die im eigentlichen Sinne moderne Zeitvorstellung "Geschichte wird gemacht" hat damit eine unsichtbare, weil vorausgesetzte Naturwurzel. Geschichte wird gemacht als Gattungsgeschichte, die in Naturgeschichte gründet. Arbeit - das was seit Ricardo und Adam Smith zählt - ist somit Gattungsarbeit: Bearbeitung äußerer Natur und zugleich, durch zunehmende Vernunfttätigkeit, auch Einwirkung auf die innere, die menschliche Natur. Die Wende vom christlich-physikalischen zum säkularisiert-modernen Weltbild drückte sich in einer Abkehr von der Chronologie als Großrahmen der Geschichte aus. Jetzt wurde durch das chronologische Jahreszahlenraster hindurchschauend als "eigentliche" Geschichte die Naturgeschichte entdeckt, die über den Artbegriff in ein durch Entwicklungsstufen gekennzeichnetes System verwandter Lebewesen systematisiert wurde. Kant spekulierte schon 1790 in der "Kritik der Urteilskraft", daß "gewisse Wassertiere sich nach und nach zu Sumpftieren, und aus diesen, zu Landtieren ausbildeten" (nach Lepenies 1978:38). Schon Buffon, der berühmte französische Botaniker, dessen letzter Ergänzungsband seiner "Histoire Naturelle" 1789 (ein Jahr nach seinem Tod) erschien, benutzte den Artbegriff. Seine Systematik der Natur war aber noch Linnés vorgegebenem klassifikatorischen Tableau verpflichtet. Buffon wollte mit dem Begriff der Art einen "ordre de temps" explizit ausschließen. Die Arten standen bei ihm gleichzeitig nebeneinander, nicht in einer historisch-genetischen Anordnung, in der eine aus der anderen "sich entwickelt". Über die Entdeckung von Übergangs- oder Zwischenstufen, die zwischen zwei Arten lagen, wurde eine Vorform eines genetisch-historisierenden Verständnisses von Entwicklung ausgebildet, das Lamarck schließlich in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts zu einer biologisch fundierten Geschichtstheorie ausformulierte. In Lamarcks Werken ist der Paradigmenwechsel von der Botanik zur Zoologie anschaulich nachzuvollziehen. Bevor 1809 seine "Philosophie Zoologique" erschien und die entscheidenden Grundbausteine für Darwin legte, war er als Botaniker berühmt, galt er als der französische Linné. Lepenies beschreibt den von ihm vollzogenen Paradigmenwechsel in einem schönen Bild: Der Affe, wie der Wilde, der im Buch der Geschöpfe Gottes dem Menschen zur Seite 62 gestellt war, ist jetzt nicht mehr der "Bruder", sondern der "Großvater". Der Kosmos - der alte Großrahmen der Welt, der früher durch die "Physik" definiert war - wurde jetzt vorgestellt nach dem familiarisierten Muster einer patriarchalen Genealogie. Das ist der vorausgesetzte und nicht explizit gemachte Rahmen der modernen Entwicklungsvorstellung "der Mensch". Naturgeschichte wird in diesem Entwicklungsmodell durch die zeitliche Strukturierung der Artverwandschaften zu einem Überbleibsel einer vergangenen Entwicklungsstufe, und die Ethnologie, das formulierte der Aufklärer Condorcet, befaßt sich ab jetzt ebenfalls mit historischen Resten : "Was an den Gesellschaften der Primitiven früher als Absurditäten aufgefaßt wurde, wird jetzt zu den Überbleibseln einer früheren Entwicklungsstufe. Nicht mehr der Rückgriff auf eine natürliche und universelle Vernunft, sondern eine Geschichtstheorie bestimmt nunmehr die Stellung des Abendlandes, das als das einzigartige Resultat dieses Entwicklungsprozesses erscheint, zu den Wilden." (Lepenies 1978:77). Im Evolutionsbegriff, den Darwin um die Erklärung, daß sich Artenbildung über das Prinzip natürlicher Auslese vollziehe, ergänzte, drückt sich so die Vollendung des Säkularisierungsbogens aus. Gott ist durch ein Geschichtsverständnis ersetzt, das auf einem entwicklungsperspektivischen Arbeitsverständnis aufbaut, das hierarchisierend seine naturalen Wurzeln und alle mit ihr Assoziierten in der Entwicklung zurückstuft. Die irdische Familie wird zum formgebenden Muster dieses Gottes, insofern jetzt die Weltentwicklung nach dem Muster einer Familiengenealogie gedacht wird: der Primitive als Großvater des weißen Mannes. Es ist eine abstraktifizierte, patriarchale Familiengenealogie, in der keine irdische Reproduktion mehr stattfindet. Die von den Physiokraten zur Naturressource heruntergestufte menschlich-kreatürliche Reproduktion wird als natürliche Voraussetzung 1 von der Evolution kategorial getrennt und den Frauen als Artmerkmal zugeordnet . Mit der Vorstellung von der Entwicklung des Lebens als verwandtschaftlicher Entstehungsgeschichte der Arten sind die Frauen als evolutionäres Zwischenglied zwischen dem Gesellschaftlichen und dem Gattungsmäßigen hierarchisierend immer in Beziehung zum Mann als Kulturträger verortet, d.h., die primitive Frau ist der naturale Grund, in dem der primitive Mann seine natürliche Zukunft garantiert bekommt, gleichermaßen gehört an die 1 Die Entstehung einer hierarchisierenden Funktionstrennung zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit über den Artbegriff hat im einzelnen Elvira Scheich brillant aufgezeigt (Scheich 1989). 63 Seite des weißen Mannes eine weiße Frau als Garantin seiner natürlichen Zukunft. Über die evolutionistische Fassung des Artbegriffs, der Frauen und Männern unterschiedliche Entwicklungspotentiale nach dem Natur-KulturSchema mitgibt, ist die Differenz zwischen Männern und Frauen als Differenz zwischen einer Entwicklung zur Individualität der Männer und einer Entwicklung zum Geschlecht der Frauen vorgegeben. Es ist die Doppelstruktur von gattungsgeschichtlich-natürlicher und biographischindividueller Zeit, die eine Geschlechtshierarchisierung nach der Kultur-Natur-Dichotomie hervorbringt. Die Entwicklungsvorstellung des "Herausarbeitens aus Natur" als Menschengattung und die Vorstellung eines "Herausarbeitens aus Natur" als Individuum wurden ineinander gesetzt. "Der Mensch" ist beides: Kollektivsubjekt wie Norm des männlichen Individuums, das in seiner Entwicklung die Frau und den zukünftigen Erben immer unterstellt. "Der Mensch" - das Subjekt der Moderne - ist ein spezifisches Muster individualisierender geschlechtsspezifischen Vergesellschaftung Fassung von und patriarchaler Genealo-gie. gattungsmäßig-natürlicher und In der biogra-phisch- individueller Zeit liegt die Geschlechterdifferenz der modernen Rechtsnormen begründet. Den französischen Aufklärern war der Zusammenhang zwischen einer Revolutionierung des Wissens und einer politischen Revolution sehr bewußt. Die meisten, wie Montesquieu, waren selbst Naturwissenschaftler und wußten, daß die Säkularisierung des Denkens durch die politische Entmachtung des Klerus und des Adels politisch nur nachvollzogen werden mußte, daß die Losungen von Gleichheit und Demokratie nur die im neuen Wissen über die Natur angenommene natürliche Gleichheit politisch umsetzten. Nicht "Natur" als natürliche Geburt sollte mehr zählen in der Gesellschaft, sondern die allen Menschen gleichermaßen von Natur gegebene Anteilnahme an der bio-evolutionären Entwicklung der "natürlichen Zeit". Das ist die moderne Formulierung der Evolu-tionsvorstellung als politisches Programm. Durchgesetzt wurde dieses Programm in der Französischen Revolution durch die "Erklärung der Menschenrechte", deren Freiheitsbegriff auf einer doppelten politischen Fassung der Lebenszeit aufbaut: "In dem Artikel 4 und 5 der Erklärung der Menschenrechte vom 27. August 1789 wird durch die Definition des Begriffs der persönlichen Freiheit implizit auch etwas über die ihm zustehende Zeit ausgesagt. Jeder kann innerhalb der ihm gesetzten 64 Grenzen mit seiner Zeit machen, was er will. Im Zeitalter aller möglichen Rechtsansprüche entsteht auch das Bewußtsein des Rechts auf Zeit" (Glasser 1936:232f.). Mit der Erklärung der Menschenrechte wird Zeit zu einer natürlichen Grundausstattung "des Menschen", die allen Menschen gleichermaßen zukommt. Zeit ist das äußerste Minimum an Existenz- und Lebensrecht, der gesellschaftliche "Ort", den jedes Individuum als seinen eigenen beanspruchen darf. Das Recht auf eigene Zeit ist das Recht auf eine nicht fremdbestimmte Zeit, also eine nicht leibeigene, nicht versklavt abhängige, sondern natürlich-freiheitliche Zeit. Das ist eine Dimension der inhaltlichen Beschreibung der Subjektivität des "Subjekts der Menschenwürde". Die "natürliche Zeit" wird in dieser politischen Fassung sowohl zu einem unveräußerlichen Eigentum wie zu veräußerbarem Besitz. Als veräußerbare Zeit, die in Arbeit gegen Geldentlohnung getauscht werden kann, ist sie Besitz, Besitz an Arbeitskraft oder, wie Marx es ausdrückte, die Freiheit, seine Arbeitskraft eine Zeitlang gegen Geld verkaufen zu können. In der grundrechtlichen Beschreibung der natürlichen (Lebens-)Zeit liegt die jedem Vertragsrecht vorausgesetzte Garantie der Subjekthaftigkeit als unantastbares Eigentum, d.h. als eine nicht antastbare Sphäre des Individuums gegenüber dem Gewaltmonopol des Staates. Die "natürliche Zeit" eines jeden Menschen ist das Grundmodell für jedes Eigentum seit der Französischen Revolution, das nicht ohne Einwilligung des Eigentümers verwendet werden darf. Es ist die politische Garantie eines eigenen Willens. Durch die männerbündlerische politische Wende der Französischen Revolution, in der die Frauen "als Geschlecht" von den politischen Versammlungen und von politischer Betätigung ausgeschlossen wurden, sind die Frauen zugleich von der naturrechtlich-politischen Verfassung der demokratischen Gesellschaft wieder ausgeschlossen worden. Durch die Fassung ihrer "Natur" als reproduktiv-geschlechtlicher Natur und der Entgegensetzung der männlich-politischen wurde ihre Lebenszeit nicht naturrechtlich, sondern (evolutionär)naturgeschichtlich bestimmt. Gegen diese naturgeschichtliche Verortung der Frau im modernen Rechtssystem haben Feministinnen immer wieder - mit Erfolg z.B. in Bezug auf die Erkämpfung des Stimm- und Wahlrechts - gekämpft. Grundsätzlich erschüttert wird diese Orientierung auf eine menschenrechtliche Verortung aller Menschen, wenn das Fundament der Menschenrechte, das 65 naturwissenschaftlich-naturrechtliche Muster der Wirklichkeits-wahrnehmung mit seiner Verschränkung von Zeit- und Subjektvorstellung zerstört wird. Die bio-evolutionäre Entwicklungsvorstellung, die auf der einen Seite mit Lamarck und Darwin, auf der anderen Seite mit Adam Smith und auch noch mit Marx verknüpft war, ist historisch überholt. Die popularisierte neue Entwicklungsvorstellung, die Ökologie, sowie das wissenschaftliche Konzept der Autopoeisis hat keine gattungsgeschichtliche Forschrittsperspektive mehr. Zudem zerstört die Gentechnologie die "natürliche Zeit" des Werdens von Pflanzen und Tieren wie Menschen. Kann heute der Großonkel aufgrund von Gen- und Reprotechniken - etwa weil er als befruchtete Eizelle jahrelang konserviert wurde erst lange nach seinem Urgroßneffen das Licht der Welt erblicken, dann stimmt etwas nicht mehr im Muster der patriarchalen Genealogie. Angesichts der Gestaltungsmöglichkeiten technischer Fortpflanzung werden tendenziell alle kreatürlichen Arten "gleich", indem sie gleichermaßen machbar werden. Zerbricht heute mit den neuen Leitorientierungen aus der Biologie das spezifisch moderne Ordnungsmuster einer subjekthaft gedachten Entwicklung, die sich in Entwicklungsstufen vollzieht, dann bricht damit auch das legitimatorische Fundament der modernen Menschenrechtskonzeption auseinander. Das spiegelt sich unter anderem in den Auseinandersetzungen um den westlichen Moral-Universalismus und um westliche Ansprüche auf die Hegemonie über die Entwicklung wider. Mit der Verortung der Naturvölker in historisch zurückgebliebenen "Stufen" war ja immer auch der Zivilisierungsanspruch einer helfenden, nachholenden Entwicklung durch die höher entwickelten Zivilisationen verbunden. Diese Art der "Entwicklungshilfe" ist heute mitsamt des Universalismusanspruches diskreditiert. Es ist ernsthaft zu fragen, ob "Ethik" und moralische Maximen heute nicht unabhängig von Naturvorstellungen, völlig säkularisiert und letztlich allein aus den Traditionen und Erfahrungen von Politik diskutiert werden müssen. 66 Literatur: Becker, Gabriele, Bovenschen, Silvia, Brachet, Helmut u.a. (1977): Aus der Zeit der Ver zweiflung. Zur Genese und Aktualität des Hexenbildes, Frankfurt am Main. Duden, Barbara (1987): Geschichte unter der Haut, Stuttgart. 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Rühmann, Frank (1985). AIDS. Eine Krankheit und die Folgen. Frankfurt/Main und New York: Campus Verlag, edition qumran. (214 Seiten; DM 28,00). Sachse, Carola (1987). Betriebliche Sozialpolitik als Familienpolitik in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. Mit einer Fallstudie über die Firma Siemens, Berlin. Hamburg: Hamburger Institut für Sozialforschung, Forschungsberichte Band 1. (625 Seiten; DM 60,00). 72 Sachse, Carola (1990). Siemens, der Nationalsozialismus und die moderne Familie. Eine Untersuchung zur sozialen Rationalisierung in Deutschland im 20. Jahrhundert. Hamburg: Rasch & Röhring Verlag. (336 Seiten; DM 58,00). Schneider, Wolfgang (Hg.) (1991). "Vernichtungspolitik". Eine Debatte über den Zusammenhang von Sozialpolitik und Genozid im nationalsozialistischen Deutschland, Hamburg: Junius Verlag. (200 Seiten; DM 28,00). Wolf, Winfried (1986). Eisenbahn und Autowahn. Personen- und Gütertransport auf Schiene und Straße. Geschichte, Bilanz, Perspektiven. 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