Friedrich Ludwig Jahn
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Friedrich Ludwig Jahn
Friedrich Ludwig Jahn Jahn – kein „Turnopa“, sondern ein Symbol des Fortschritts Was fällt Ihnen ein, wenn Sie an den Namen Jahn denken? – Bitte schließen Sie die Augen – und lesen Sie erst nach einem Weilchen weiter! Ich will Ihnen meine Assoziationen mitteilen: Da ist ein 33jähriger junger Mann, der im Frühjahr 1811 mit einigen Jugendlichen auf die Hasenheide bei Berlin wandert und dort das gründet, was unter dem Begriff „Turnen“ in die Geschichte eingegangen ist. 33 Jahre war er, dieser Jahn, jung und voller Lebenskraft. Nicht der ältere Herr, kahlköpfig und mit dem langen Bart, der als „Turnvater“ in unzähligen Bildern und Büsten bis heute ältere Turnhallen schmückt und leider ein Bild von sich selbst und dem Turnen vermittelt, das so gar nicht der Wirklichkeit einer epochenmachenden Tat entspricht. Ein junger Mann hat das Turnen geschaffen, nicht der „Turnvater“, der eher an einen „Turnopa“ erinnert. Nein, kein antiquierter Greis, sondern ein dynamischer Mann. Mit 33 Jahren! – Man stelle sich heute einen 33jährigen Menschen vor. Und frage sich: wird man nach mehr als 180 Jahren noch von ihm sprechen? – Wer kann denn von uns Lebenden in Anspruch nehmen, etwas geschaffen zu haben, das noch nach 180 Jahren Bestand hat und weiter bestehen wird?! Ein neues Jahnbild Wir brauchen ein neues Jahnbild! – Die bärtige Büste muss weg. Sie gibt immer wieder Anlass zu Diskriminierungen des Turnens. Turnen gilt als verkalkt, als überholtes Überbleibsel des 19. Jahrhunderts, Jahn gilt als Symbol des Gestrigen, als lächerliche Figur von Disziplin, Grätschsitz und Kniestütz. Ja, wenn ein Sündenbock für Formalismus gesucht wird, dann muss Jahn herhalten, und das Turnen „kriegt einen drauf“. So ist es dann auch mit den Vorwürfen, Jahn sei nationalistisch und militaristisch gewesen. Dieser Jahn hat von 1819 bis 1840 in Haft gesessen bzw. unter Polizeiaufsicht gestanden, weil er, so sagt es die Anklageschrift, die „höchst gefährliche Lehre von der Einheit Deutschlands entwickelt und verbreitet habe.“ Diese Anklage muss man sich vorstellen vor dem Hintergrund der imperialistischen Eroberungsfeldzüge Napoleons und der herrschaftlichen Feudalpolitik von über 300 Fürsten, Herzögen, Grafen seinerzeit in Deutschland! Jahns Menschenbild Jahns Menschenbild war ganzheitlich. In seiner „Deutschen Turnkunst“ von 1816 schreibt er, dass es darauf ankomme, der „bloß einseitigen Vergeistigung die wahre Leiblichkeit zuzuordnen.“ Er war einer der wenigen seiner Zeit, der erkannt hatte, dass menschliches Leben nicht nur „Kopfarbeit“, sondern aus seiner Leib-SeeleGeist-Einheit geschieht. Und er war der erste, der diese „wahre Leiblichkeit“ nicht nur gefordert hat, sondern in dem von ihm geschaffenen „Turnen“ umzusetzen wusste. Und zwar außerhalb der Pflicht einer Schule. Zur freien Wahl für jedermann. Die schnelle Ausbreitung seiner Idee gab ihm recht. Leibesübungen, wie Jahn sein Turnen noch 1810 in seinem Buch „Volksthum“ nannte, sollten „ein Mittel zur vollkommenen Volksbildung“ sein, wohlgemerkt ein „Mittel“, nicht ein absolutes Ziel. Unter erzieherischer Aufgabenstellung sah er sein Turnen. Damit sich jeder einerseits gemäß seiner „Eigentümlichkeit“ nach „seinem Schrot und Korn“ bzw., „seinem Gepräge“ entwickeln könne und andererseits jene „Volkstümlichkeit“ erlange, die zur Erhaltung einer Gesellschaft zwingend notwenig sei. Individualerziehung verbunden mit Sozialerziehung, das war Jahns Idee von einer „vollkommene Volksbildung“ und neben der Geistesschulung stand ihm die leibliche Bildung. Ist das etwa eine antiquierte pädagogische Theorie?! Kür und Pflicht Und damit das individuelle und das Soziale gleichermaßen gefördert werde, teilte er die Turnzeit auf der Hasenheide in zwei Halbzeiten. Zunächst konnte jeder während der „Kür“ seinen Interessen und Neigungen nachgehen und das tun, was ihm aus der Vielfalt des Turnens besonders gefiel. Dann erst folgte die „Pflicht“ mit besonderen Lernaufgaben unter der Leitung eines Vorturners. Wie unrichtig, wenn Jahn immer wieder bis heute für Disziplin, Unterordnung und Formalismus herhalten muss! Als Guts Muths 1817 sei „Turnbuch für die Söhne des Vaterlandes“ herausgab, beurteilte Jahn dieses Werk sehr kritisch, weil es ihm zu sehr ins „Drillmäßige“ geraten sein. Gerade gegen formale Disziplin und gegen Militärisches hat sich Jahn gewandt! Vielfalt des Turnens Die Verengung des Turnens auf das Gerätturnen ist ein weiteres Beispiel von Unkenntnis oder bewusster Diskriminierung. Wer die „Turnkunst“ von 1816 liest, findet darin die Vielfalt des damals bekannten Leibesübungen mit Laufen, Werfen, Springen in vielfältigen Variationen, das Ringen, Fechten, Schwimmen, Wandern, viele Spiele und auch das Turnen an den von Jahn erfundenen oder wiederentdeckten Geräten. Das Verbot des Turnens von 1819 bis 1842, die sogenannte Turnsperre, führte zur Verengung auf das heimlich betriebene Gerätturnen. Damit hat aber Jahn nichts zu tun gehabt. Nur acht Jahre blieb Jahn Zeit, seine Idee zu entwickeln und zu verbreiten, dann wurde er in Haft genommen und zwanzig Jahre lang „mundtot“ gemacht. Jahns Ideen leben Aber sein geniales Werk lebte weiter und hat bis heute den Menschen die Freiheit zu Spiel und Bewegung geschenkt. Und ein weiteres Geschenk haben wir Jahn zu verdanken: den Verein als die Bürgerinitiative zur Förderung von Spiel und Bewegung für alle Menschen. Aus der Gemeinschaft und unter Gemeinsinn geschaffen, bestehen die beiden ältesten Turnvereine seit 1816 (Hamburger Turnerschaft) und 1817 (Mainzer Turnverein) noch heute! Wenn sie wie die vielen anderen zigtausende Vereine zum „Sozialtarif“ ein vielfältiges Programm unter dem Begriff „Sport für alle“ anbieten, dann entstammt das der epochenmachenden Idee des 33jährigen Jahns. Der DTB bekennt sich zu diesem Begründer des Turnens, zur Idee seines zeitüberdauernden ganzheitlichen Menschenbildes, zu seinem Sozialbegriff des vom Ehrenamt geführten Vereines und zur Vielfalt von Spiel und Bewegung als „Angebot für alle“. Die bärtige Büste muss weg. Dagegen sei der junge Jahn Symbol für Fortschritt und Ansporn für ein wertbesetztes, zeitgemäßes und zukunftsorientiertes Wirken des DTB – für alle. Jürgen Dieckert Deutsches Turnen, Sonderausgabe April 1998