Philosophie der Neuzeit - Philosophischen Instituts

Transcrição

Philosophie der Neuzeit - Philosophischen Instituts
1
Philosophie der Neuzeit
0. Einleitung
Ich begrüße Sie zu einer weiteren Sitzung der Ringvorlesung „Einführung in die Philosophie“.
Nachdem ich Ihnen unvorhergesehenerweise im November etwas über Logik erzählt habe1 und in
der vergangenen Woche etwas über Philosophie im Mittelalter,2 heißt es heute also: „Philosophie
der Neuzeit“!
Die Neuzeit beginnt in der Philosophiegeschichte etwas später als in der allgemeinen Geschichte
ungefähr um 1650, und sie endet im Rahmen dieser Vorlesung um 1900. Beim Mittelalter hatte ich
noch den Anflug eines schlechten Gewissens angesichts einer Einführung in 90 Minuten. Der
Gedanke, die Neuzeit in der gleichen Zeit darstellen zu wollen, von vornherein jenseits von Gut
und Böse. Ich bekenne mich also gleich zu jeder nur denkbaren Menge Unwissenschaftlichkeit,
Oberflächlichkeit und Verkürzung, persönlicher Sympathie und Antipathie sowie zur
Unvollständigkeit. Schnallen Sie sich bitte an, jetzt kommt der Panoramaflug – genießen Sie‘s,
lehnen Sie sich dieses eine Mal in der Vorlesung zurück wie im Fernsehsessel; in den nächsten
Semestern werden Sie sich am Boden durch den Dschungel kämpfen. Schreiben Sie nicht mit,
versuchen Sie nicht, irgendetwas gründlich zu verstehen oder gar zu behalten, ich werde Sie jetzt
überfordern. Im Radio hieße das, was ich versuchen will, wohl „Feature“, und so bitte ich es zu
behandeln. In der schriftlichen Fassung - nächste Woche bei Frau Holtz und im Internet - werde
ich die schlimmsten Auslassungen und wildesten Abweichungen vom interpretatorischen
mainstream in Fußnoten kennzeichnen.
Die Gliederung heute ist sehr einfach: Ich werde nach einigen allgemeinen Bemerkungen
chronologisch vorgehen. Dabei werde ich es mit dem 19. Jahrhundert sehr kurz machen. Den
Anfängen der Neuzeit werde ich dagegen viel Zeit widmen.
Insgesamt werde ziemlich hin- und herspringen: zwischen ziemlich viel theoretischer und sehr
wenig praktischer Philosophie, und auch zwischen nationalen Schwerpunkten - Frankreich,
England, Deutschland.
1. Die Epoche
1.1. Beginn und Ende
Zunächst will ich die Epocheneinteilung etwas näher begründen.
Warum ich um 1900 einen Schnitt mache, ist leicht begründet: Wir sind - wenn auch inzwischen
im 21. Jahrhundert angelangt - einfach noch daran gewöhnt, das 20. Jahrhundert als unsere weit
ausgedehnte historische Gegenwart zu betrachten. Außerdem stirbt just 1900 - nach einem
Jahrzehnt des Wahnsinns - Friedrich Nietzsche, der letzte noch ganz im vorletzten Jahrhundert
stehende Philosoph europäischen Formats.
Was dazu geführt hat, den Beginn der Neuzeit in der Philosophie auf etwa 1650 zu datieren, ist
zunächst auch leicht gesagt:
1
2
http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/demo/logik.doc.
http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/demo/philosophie im mittelalter.doc.
2
- 1641 erscheinen die "Meditationen über die Erste Philosophie" von René Descartes.
- 1651, vor genau 350 Jahren, erscheint das Hauptwerk von Thomas Hobbes mit dem seltsamen
Titel "Leviathan".
1.2. Warum beginnt die philosophiehistorischer Neuzeit nicht früher?
Sie werden sich wahrscheinlich fragen: Warum beginnt die philosophiehistorischer Neuzeit nicht
150 Jahre früher? In den Büchern zur allgemeinen Geschichte tut sie das doch! Vorige Woche
habe ich versucht, das zum Teil mit dem Bild vom Verhalten einer Flüssigkeit zu erklären: das
Mittelalter schlägt lange Wellen und verebbt langsam, es rollt eher aus, als dass es an einem
bestimmten Punkt aufhört.3 Das schließt nun aber nicht aus, dass sich währenddessen auch schon
andere Strömungen bemerkbar machen, ja sogar schon ihren Höhepunkt erreichen und
überschreiten: jene „Renaissance“ - also Wiedergeburt (der Antike) - genannte Kreiswelle mit
Erregerzentrum in Italien; und in Gegenrichtung und mit Erregerzentrum im Norden der neue
religiöse Fundamentalismus der sogenannten „Reformation“, der für sich wie gegen sich, viel an
intellektueller Energie des 16. und frühen 17. Jahrhunderts absorbiert.
Für die Philosophiegeschichte darf man diese großen Kreiswellen tatsächlich als
Nebenströmungen behandeln. Das schließt nicht aus, dass dort verborgene Schätze schlummern.
Aber die Themen und die Art der Verarbeitung dessen, was sich in den Philosophiegeschichten
etwa unter dem Stichwort "Philosophie der Renaissance" findet, sind doch erstaunlich weit von
den traditionellen und in der philosophiehistorischen Neuzeit wieder aufgenommenen Formen
entfernt.4
1.3. Die wissenschaftssoziologische Rahmen der Philosophie der Neuzeit
1.3.1. Die genialen Amateure
Eines fällt allerdings schon an den mehr oder weniger philosophierenden Schriftstellern der
Renaissance von Francesco Petrarca (1304 - 1374) bis zu Niccolo Machiavelli (1469 - 1527)
auf, was - wenn auch nicht inhaltlich, so doch wissenschaftssoziologisch in Richtung Neuzeit
weist: Im Mittelalter ist die Philosophie eine Sache von professionellen Philosophen an
Universitäten und in Klöstern; die Philosophen der Renaissance sind Höflinge oder gelehrte
weltliche Stadtbürger. Das sind auch manche Philosophen der philosophiehistorischen Neuzeit,
manch anderer ist dann Gentleman-Politiker, Mathematiker und Naturwissenschaftler (das heißt zu
dieser Zeit: Tüftler mit verwegenem Privatlabor), Hof-Bibliothekar, Linsenschleifer, tatkräftiger
Bischof, weltlicher Universitätsprofessor für alle möglichen Fächer... Professioneller PhilosophieMönch ist keiner mehr. Und wenn ich bei aller Verschiedenheit der Ansichten die frühe Neuzeit
Vgl. a.a.O. 2.5.3. (S.9).
Sonst typischerweise zur Renaissance gerechnete Philosophen werden einführend behandelt in den letzten Kapiteln von
Kurt Flasch, Das philosophische Denken im Mittelalter, Stuttgart (Reclam) 1986. Für Textausschnitte empfiehlt sich wie
üblich die “Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung bei Reclam” , Hg. Rüdiger Bubner, in diesem Fall Band
3 “Renaissance und frühe Neuzeit”, hg. v. Stephan Otto, Stuttgart 1986. Petrarcas Beschreibung seiner Wanderung auf
den Mont Ventoux (die ihn mit ihrem Anschluss an Augustinus allerdings m.E. eher ins Mittelalter als in die Neuzeit
verweist) und Machiavellis “Principe” (das ich eher als praktisches Handbuch lese denn als philosophisches Werk) sind
bei Reclam in schönen zweisprachigen Ausgaben erhältlich.
3
4
3
insgesamt charakterisieren sollte, so würde ich sagen: Die frühe Neuzeit ist die Epoche der
genialen Amateure. Michel Foucault, der große französische Postmoderne, hat den Nagel auf den
Kopf getroffen, als er einmal auf die Frage eines Journalisten, wie sich die Philosophen denn in die
Gesellschaft integrieren könnten, zunächst mit einem historischen Exkurs antwortete:5 in der
Neuzeit habe sich diese Frage bis ins späte 18. Jahrhundert nicht gestellt, weil man bis dahin keine
hauptberuflichen Philosophen kannte.
1.3.2. Wissenschaftliche Zweisprachigkeit
Völlig anders als die Gelehrten des Mittelalters beginnen die Gebildeten der Neuzeit langsam statt
der allgemein-europäischen Wissenschaftssprache Latein verschiedene Regionalsprachen zu
schreiben. Noch sehr lange schreiben sie beides nebeneinander her - Italienisch und Latein,
Englisch und Latein, Französisch und Latein, Deutsch und Latein - und sie integrieren dabei ein
großes Stück lateinischer Gelehrtensprache in die modernen Sprachen. Das Französische hat dabei
den besonderen Vorteil, dass es nicht allein in Frankreich, sondern an jedem europäischen
Adelshof gesprochen wird.
Das wissenschaftliche Latein wird nicht etwa schlechter, aber es büßt das Kristallklare des
philosophischen Mittellateins ein und tritt zuweilen etwas aufgedonnert auf, gleichsam nicht mehr
Kutte, sondern Perücke tragend, was einen Schlag ins Vergrübelte nicht ausschließt.
Das mag auch daran liegen, dass die Texte nicht mehr Vorlesetexte für die cathedra sind,
sondern Lesetexte, vom Autor am Schreibtisch geschrieben, um in gedruckter Form vom Leser womöglich am anderen Ende der Welt - im Studierzimmer leise gelesen zu werden. Man fühlt sich
dabei allmählich als Mitglied einer globalen chatgroup, einer Gesellschaft des geschriebenen
Wortes, republique des lettres, der im Prinzip jeder angehörte, der Muße zum Lesen hatte.
Das soll an erster Skizze der Kulissen genügen, und die story kann beginnen.
2. Die story
2.1. Hobbes' "Leviathan"
Ich beginne mit Thomas Hobbes (1588 - 1679) - und das, obwohl das Hauptwerk des englischen
Gelehrten und Politikers ein paar Jahre später erscheint als Descartes' "Meditationes". Auf der
revolutionären ersten Seite des "Leviathan" scheint mir der Ausgangspunkt der neuzeitlichen
Philosophie einfach besonders deutlich zu sein: Ein Leviathan ist ein Großlebewesen. Ursprünglich
bezeichnet das Wort ein grauenerregendes Seemonster.6 Das Großlebewesen, das Hobbes
"Leviathan" nennt, ist ein Staat, ein großer Mensch, der sich aus lauter kleinen Menschen
5
Michel Foucault, Dits et Ecrits 1954 - 1988, Bd. I 1954 - 1969, Paris (Gallimard) 1994, S. 553. Original als: Qu’estce qu’un philosophe, in: Connaissance des hommes no22, automne 1966, S.9: “M’integrer... vous savez, jusqu’au XIXe
siècle, les philosophes n’étaient pas reconnus. Descartes était mathematicien, Kant n’enseignait pas la philosophie, mais
l’anthropologie et la géographie, on apprenait la rhétorique, pas la philosophie, il n’était donc pas question pour le
philosophe de s’intégrer. C’est au XIXe siècle qu’on trouve enfin des chaires de philosophie; Hegel était professeur
philosophie. Mais, à cette epoque, on s’accordait à penser que la philosophie touchait à son terme”. Auch wenn mir das
im Detail (Kant, deutsche Universitätsphilosophie im 18. Jahrhundert!) nicht ganz korrekt zu sein scheint - die Richtung
stimmt!
6
Altes Testament, Psalm 74, 14; Jesaja 27,1; ausführliche Schilderung: Hiob 40, ab 25 und 41 passim!
4
zusammensetzt. Sie sehen das auf der Folie, dem Titelblatt der Erstausgabe. Der Staat als
Lebewesen - das ist noch nicht allzu originell: Platons Staat hat Züge eines Lebewesens,7
Aristoteles' Staat ist eindeutig ein Gewächs8 und das Bild vom Staat als großem Menschen hat eine
lange Tradition in der römischen Staatsideologie.9 Originell ist, dass Hobbes' Buch eine
Bauanleitung für einen Leviathan ist. Kann man denn für ein Lebewesen, obendrein eines von der
Form eines Menschen, eine Bauanleitung schreiben?
"Aber sicher!", ist Hobbes' Antwort - und hier setzt die Neuzeit ein: "Lebewesen haben
dieselbe Grundstruktur wie Taschenuhren. Wenn Menschen Taschenuhren bauen, imitieren sie
Gott beim Bau von Lebewesen. Man muss ja nur einmal hinschauen, wie Lebewesen konstruiert
sind..."
“Was ist das Herz anderes als eine Antriebsfeder; was sind die Nerven anderes als Schnüre; was die Gelenke anderes
als Räder, die die Bewegung auf den ganzen Körper so übertragen wie es der Konstrukteur beabsichtigt hat?” 10
Es ist also möglich, eine Bauanleitung für den Staat zu schreiben, weil der Staat im Prinzip ein
großer Mensch ist und der Mensch wiederum im Prinzip eine Taschenuhr ist.
Ich glaube, am besten erklärt sich dieser kühne Gedanke als Verarbeitung einiger
beeindruckender kollektiver Erlebnisse:
1. Es gelingt schon seit dem 16. Jahrhundert, immer feinere Maschinen zu bauen, und tatsächlich
wird eine Taschenuhr mit ihren Metallrädchen zu Beginn mindestens so erstaunlich gewirkt haben
wie der erste Laptop vor einem Jahrzeht. 11
2. Man vermag im Laufe des 17. Jahrhunderts das Verhalten schwerer starrer Körper auch immer
besser theoretisch zu berechnen (Galilei!).
Höhepunkt dieser Entwicklung sind eine Generation nach Hobbes die "Mathematischen
Prinzipien der Naturphilosophie" von Isaac Newton, denen zufolge den Bewegungen der
Vgl. die Analogie mit der menschlichen Seele (Pol. IV 435b) in Verbindung mit Pol. IX 588c - 591a und Timaios
69e; Zusammenfassung der “Politeia” unter:
http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/veranst/platon/staat1.doc.
8
Vgl. Pol. I 2 1252b30 - 1253a1. Gerade als erwachsenes Dorf ist der Staat deshalb kein Dorf mehr, so wie auch
ein erwachsenes Kind kein Kind mehr ist (dies ist Aristoteles Antwort auf die theoretischen Gegner in Pol. I 1
1252a8 - 16!). Vgl. für den Text
http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/hroseminare/pol/politika.htm; und für eine Einführung
meine “Lectures on Aristotle’s Politics” unter
http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/demo/pol/deck.html, besonders Lecture 3.
9
Der sagenhafte Auszug der Plebejer aus Rom in grauester republikanischer Vorzeit soll durch eine Rede
rückgängig gemacht worden sein, in der die Republik mit einem menschlichen Körper und die Stände mit
verschiedenen Körperteilen verglichen wurde. Vgl. dazu Livius, Ab urbe condita, Buch II, Kap. 32.
Interessanterweise werden die Patrizier dabei mit nicht mit dem Kopf verglichen, sondern mit dem Bauch, was die
Geschichte irgendwie schon humorvoller macht und wofür sich Livius denn auch gleich einleitend entschuldigt.
Weniger konkretere Version: Cicero, De officiis, Buch III, Kap. 5.
10
Thomas Hobbes, Leviathan [1651], edited with an introduction by C.B. Macpherson, London (Penguin) 1985, S. 81
(erste Seite der “Introduction” des Haupttextes). Original: "What is the heart but a spring; and the Nerves, but so many
Strings; and the Joynts, but so many Wheeles, giving motion to the whole Body such as was intended by the Artificer?”.
Die für diese Vorlesung wichtigsten Textausschnitte auch unter:
http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/veranst/empiricists/HOBBES3.html.
11
Der Brockhaus gibt als ungefähren Zeitpunkt der Erfindung der ersten Taschenuhren (durch Peter Henlein in
Nürnberg) das Jahr 1510 an.
7
5
Himmelskörper dieselben in einfachen Gesetzen bechreibbaren Kräfte zugrunde liegen wie dem
Verhalten mittelgroßer Felsbrocken oder Maschinenteile auf der Erde, wenn man sie sich nur als in
gigantischen Entfernungen voneinander Weltraum verstreut denkt, wobei sie umeinander
taumeln.12
Man meint nun: Man versteht, was geschieht, wenn ein Zahn eines Zahnrades den eines anderen
Zahnrades wegdrückt und dadurch das eine Zahnrad das andere zwingt, sich in Bewegung zu
setzen; man versteht, was geschieht, wenn eine Kugel auf einer schiefen Ebene Schwung nimmt
und eine andere wegschubst; man versteht, was geschieht, wenn man einem Klingelseil zieht, eine
Feder aufzieht, eine Flüssigkeit durch einen Schlauch pumpt, eine Last mit einem Hebel bewegt,
einen Stützbalken einzieht...
3. Man schneidet Leichen auf (auf der Folie das berühmte Bild Rembrandts von einer
Leichenöffnung) - und siehe: man findet nichts als Klingelseile, Pumpen, Stützbalken und
dergleichen. Mitte des 18. Jahrhunderts schreibt der ansonsten vergessene französische Philosoph
Julien Offray de Lamettrie (1709 - 1751) dann ein Buch mit dem programmatischen Titel
"L'homme machine" - “Die Mensch-Maschine”. 13
Hobbes' Konsequenz ist radikal: Was immer es gibt, ist "matter in motion" - Stoff in
Bewegung.14 Auch die menschliche Seele und wohl sogar Gott mutieren zu Materie-Wolken-aus
zwar sehr feiner Materie, aber im Prinzip doch stofflich15 (ein übrigens bereits in der antiken Stoa
vorgebildeter Gedanke16 ). Wie sollte man sich auch sonst die Einwirkung des Geistes auf andere
Körperteile vorstellen, wenn doch alle Einwirkung offenbar Druck, Zug, Pumpen und Hebeln ist?
Übrigens hindert das Hobbes nicht daran, die Seele als System zur Verarbeitung kleiner mentaler
Bildelemente17 - ein Ansatz, der noch eine ziemliche Karriere vor sich haben sollte.
Maschinenbau - und darum geht es im "Leviathan” - ist die Kunst der geschickten Koordination
von Kräften. Im unkoordinierten Zustand (Hobbes nennt ihn "Naturzustand"18) führt ausgerechnet
die allen Menschen innewohnende Tendenz zur Selbsterhaltung dazu, dass sie sich aus Misstrauen
gegeneinander in einem "Krieg aller gegen alle"19 gegenseitig umbringen - Der Mensch ist dem
Menschen dann ein Wolf. Aber sollte es nicht möglich sein, die jedem einzelnen innewohnende
12
Schöne deutsche Leseausgabe seit neuestem in der Übersetzung von Volkmar Schüller. Besonders lesenswert ist
das “allgemeine Scholion”, die große philosophische Schlussbemerkung Newtons. Zur Entwicklung der modernen
Astronomie vor Newton (Kopernikus - Kepler - Galilei) absolut lesenswert: Arthur Koestler, The Sleepwalkers,
übers. v. W.M. Preichinger als "Die Nachtwandler", Wiesbaden (Emil Vollmer Verlag) 1959.
13
Die Übersetzung - viel schöner als das holprige “Der Mensch als Maschine” - stammt von Kraftwerk, die
schätzungsweise ziemlich gut wussten, auf wen sie mit ihrem inzwischen klassischen Album von 1978 anspielten.
14
Die Formel, z.B. bei Priest, The British Empiricists, S.25, 27, ist angelehnt an Stellen wie Leviathan IV 46 (S.689
der Macpherson-Ausgabe).
15
Hobbes, Leviathan, Buch I, Kap. 1 (S. 86 der Macpherson-Ausgabe).
16
Vgl. z.B. Nemesius 78,7-79,2 (SVF 1.518, teilw.), LS 1 272 / LS2 269 (C) und Nemesius 81,6-10 (SVF 2.790,
teilw.), LS 1 272 / LS2 269 (D) und weitere Textausschnitte (1 - 5) unter
http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/veranst/therapy/stoa.html.
(“LS” = Long / Sedley, The Hellenstic Philosophers, “SVF” = Arnim, Stoicorum Veterum Fragmenta).
17 Hobbes nennt sie im Leviathan noch nicht “ideas”, aber die späteren britischen Empiristen werden das tun. Vgl.
Leviathan Buch I, Kap. 1 + 2 (S. 85 - 94, Macpherson).
18 Hobbes, Leviathan, Buch I, Kap. 13.
19 Vgl. ebd. (S. 185f , Macpherson).
6
Tendenz zur Selbsterhaltung mit derselben Tendenz jedes Anderen so zu koordinieren, dass sie
auch wirklich zur Selbsterhaltung führt? Dies gelingt, wenn Menschen einen Staat (ein "CommonWealth" im wörtlichen Sinn20) bilden, was man sich wie einen Vertragsschluss vorstellen mag:
Jeder überträgt dabei sein Recht auf Gewaltausübung auf einen "Souverän" genannten staatlichen
Machthaber.21
Daraus folgt, dass etwa ein König seine Legitimation zum Erteilen von Befehlen auch nur
daraus gewinnt, dass er als Schaltzentrale zur Koordination der Kräfte aller zum Zwecke der
Selbsterhaltung aller praktisch ist. Für Selbstherrlichkeit ist in solcher Konzeption nicht der
geringste Platz. Der nach den Wirren des englischen Bürgerkrieges gerade neu eingesetzte
englische König, mit dem Hobbes eigentlich auf gutem Fuß stand,22 war nicht besonders amüsiert,
und beließ es wie seine Kollegen lange noch lieber bei der Theorie, er sei Herrscher von Gottes
Gnaden.23 Aber ein interessanter Gedanke lässt sich nicht so einfach aus der Welt schaffen.
2.2. Descartes' "Meditationes"
Auch das philosophische Werk des französischen Mathematikers und Naturwissenschaftlers René
Descartes (1694 - 1651) lässt sich als Reaktion auf die Entdeckung des Maschinenhaften am
menschlichen Körper sehen. Doch er reagiert anders als Hobbes, der das Denken verkörperlicht.
Descartes nimmt eine radikale Trennung des Körpers von der Seele vor: Er denkt, anders als
Hobbes (aber ähnlich wie z.B. schon Platon), die Seele als immateriellen Gegenstand.
1641 veröffentlicht er ein kleines Büchlein über die "Erste Philosophie".24 Es besteht aus sechs
ziemlich kurzen Kapiteln, die er "Meditationen" nennt. Descartes betritt kein neues Gebiet: "Erste
Philosophie" ist nichts anderes als die originale Bezeichnung von Aristoteles für das, was man
später Metaphysik genannt hat.25 Doch das Fortbewegungsmittel der Meditation in diesem Gebiet
ist eine Neuerfindung. Was "Meditation" hier heißen soll, erläutert Descartes in der noch kürzeren
französischen Fassung desselben Gedankenganges, dem "Discours de la methode". Er tut dies
durch die Beschreibung der Umstände, in denen er die entscheidende Entdeckung für die zweite
Meditation machte:
Ich war in Deutschland, wohin mich der Krieg... gerufen hatte, und ... der Einbruch des Winters hielt mich in einem
Quartier fest, wo ich, ohne irgendein Gespräch zu finden, das mich zerstreute - und, zum Glück, auch ohne dass mich
20 So der Titel des gesamten 2. Buches des Leviathan.
21 Hobbes, Leviathan, Buch II, Kap. 17. NB: Der Souverän ist nicht mit dem Leviathan identisch!
22 Vgl. Stephen Priest, The British Empiricists, London (Penguin) 1990, S.23
23 Vgl. ebd. und S.49.
24 Text der ersten zwei Mediatationen:
http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/hroseminare/modul/rene.html;
Schlüsselstellen aus der 6. Meditation:
http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/hroseminare/modul/MEDVI.html.
Eine Zusammenfassung der “Meditationes” findet sich unter:
http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/hroseminare/modul/berflug.htm.
25 Aristoteles, Metaphysik, Buch VI, Kap. (E) 1, 1026a15, a24.
7
irgendwelche Sorgen oder Leidenschaften beunruhigten, den ganzen Tag allein in einer warmen Stube eingeschlossen
blieb und hier alle Muße fand, mich mit meinen Gedanken zu unterhalten.26
Die Meditationen sind also das Gegenteil des Philosophierens im Dialog (wie es Platons Sokrates
betreibt): Sie sind das (stilisierte) Tagebuch der gedanklichen Erlebnisse einer Woche einsamen
Philosophierens in der Kaminstube. Kein Wunder, dass sie, wie jedes Tagebuch in der Ich-Form
geschrieben sind. Anlass für seine Einkehr sind Descartes' Zweifel an der Glaubwürdigkeit aller
Sätze, für deren Begründung man sich auf irgendwie Bezweifelbares verlässt. Besonders wichtig
sind dabei für ihn "metaphysische" Aussagen wie:27
A) Gott existiert
B) Jedem lebenden menschlichen Körper wohnt eine Seele inne, die sich derart von ihm
unterscheidet, dass sie seine Zerstörung überleben kann. (Leib / Seele-Dualismus)
Zwar hatte Descartes in der Schule gelernt, dass diese Sätze wahr seien. Aber konnten sich die
Lehrer nicht alle irgendwo geirrt haben? Wenn man diese Sätze doch einmal beweisen könnte,
ohne auf irgendwie Bezweifelbares zurückgreifen zu müssen! Das hätte obendrein den schönen
Nebeneffekt, das sich auch Ungläubige von ihrer Wahrheit überzeugen müssten.28
Mit diesem Ziel vor Augen, macht sich Descartes daran, wenigstens einen Satz zu finden, der
über jeden Zweifel erhaben ist, um mit ihm als einziger inhaltlicher Prämisse Sätze wie A) und B)
logisch folgern zu können. Denn erst dann, aufgebaut auf einem "fundamentum inconcussum",29
einem unerschütterlichen Baugrund, können auch diese Sätze als bewiesen gelten. Descartes hat
ein sehr anspruchsvolles Kriterium dafür, wann etwas über jeden Zweifel erhaben ist:
Der genius-malignus-Test
Ein Satz p ist genau dann über jeden Zweifel erhaben, wenn selbst ein böser Geist mit
unbeschränkten Täuschungsmöglichkeiten (genius malignus) es nicht schaffen könnte, mir
vorzumachen, p sei wahr, obwohl p falsch ist.30
A) besteht diesen Test nicht. Man kann sich z.B. vorstellen, dass ein böser Geist mir vormacht, es
26 Descartes, Discours de la methode II 1, Übersetzung leicht abgewandelt nach der Ausgabe der “Philosophischen
Schriften”, Hamburg (Meiner) 1996, S. 19 [Seitenzählung des “Discours”].
27 Dies sind die schon aus dem Titel der zweiten Auflage von 1642 ersichtlichen und nochmals am Beginn des
Widmungsschreibens direkt genannten Beweisziele: “Meditationes de Prima Philosophia, In quibus Dei existentia,
et animae humanae a corpore distinctio, demonstrantur”. Im Titel der Erstausgabe hieß es noch: “...et animae
immortalitas demonstrantur”. Dass die “a corpore distinctio” notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung für
“immortalitas” ist, macht Descartes in der Zusammenfassung der 2. Meditation in der Synopsis sehr deutlich.
28 Vgl. Meditationes, Widmungsschreiben 2. Absatz.
29 Der Ausdruck “fundamentum inconcussum” findet sich m.W. in den Meditationen nicht direkt. Allerdings ist in
Med I 1+2 die Metapher des Baugrundes als Leitmetapher für den ganzen Text eigeführt und wird in Med. II 1
deutlich wieder (Abschnittzählung nach der Meiner-Ausgabe). Von “etwas Unerschütterlichem” (inconcussum) ist
dann in den entscheidenden Sätzen am Ende von Med. II 1 + 4 die Rede. Vorbild für die Metapher ist vermutlich
Seneca, De vita beata.
30 Med. I 12.
8
gäbe Gott, obwohl es ihn gar nicht gibt. 31 Und auch eine ganze Menge andere Aussagen fallen
dabei durch. Die beiden interessantesten unter ihnen kann man so wiedergeben:
C) Einer idea in meinem Geist entspricht in der Regel ein Gegenstand außerhalb meines
Geistes.32
C+) Wenn einer idea in meinem Geist ein Gegenstand außerhalb meines Geistes enstspricht,
dann bildet die idea den Gegenstand genau so ab, wie dieser an sich ist.33
Eine idea im wissenschaftlichen Latein der frühen Neuzeit (oder auf Französisch eine "idée") ist
gerade das, was bei Hobbes “fancy” heißt, und was und bei seinen englischsprachigen Nachfolger
"idea" nennen, also ein kleines Bild im Geist:34 es ist ungefähr das, was man im Comic in eine
Denkblase malen würde. Es hat übrigens nicht das Geringste mit dem zu tun, was im Griechischen
bei Platon zufällig auch manchmal "idea" heißt und in der Philosophiegeschichte unter dem
Stichwort "platonische Ideen" abgehandelt wird.35 Man sieht das schon an ihrer philosophischen
Grammtik: platonische Ideen gibt es, neuzeitliche Ideen hat man.
Darunter, dass einer idea ein äußerer Gegenstand entspricht, versteht Descartes, dass ein
äußerer Gegenstand diese idea verursacht. Man kommt selbst im Detail relativ weit, wenn man
sich das nach dem Modell einer Wachstafel vorstellt, in die man Eindrücke einstempelt (das Bild
wird in Platons Spätdialog "Theätet" bereits ausdiskutiert und mit guten Gründen verworfen,36 was
aber nicht verhindert hat, dass es in der Neuzeit für eine ganze Weile das philosophische
Paradigma für die Funktionsweise des Geistes wurde).
Die Aussage C) bedeutet also, dass ich mir meine ideae in der Regel nicht zurechtspinne wie im
Traum, sondern diese Eindrücke äußerer Gegenstände sind. Wäre C) falsch, so wäre eben das
ganze Leben ein Traum. Gerade deshalb besteht die Aussage C) den genius-malignus-Test nicht:
Es könnte ja sein, dass das ganze Leben ein Traum ist, bei dem der böse Geist Regie führt.37
Nun sollte man meinen, dass es mit der Suche nach einer Aussage, die den genius-malignusTest besteht, ziemlich mau aussieht, wenn selbst ein Satz wie C) dabei durchfällt, und das ist die
Situation am Ende der 1. Meditation.
Erstaunlicherweise findet sich in der 2. Meditation ein ganz einfacher Satz, der den Test
31 Med. II 3, vgl. auch Med. I 10.
32 Med. I 5 + 12. Descartes formuliert hier die Thesen nicht mit dem Wort “idea”, aber sein Gebrauch des Wortes
im weiteren Verlauf und auch schon Vorwort (4. Absatz) rechtfertigt die vorgenommene Reformulierung.
33 Med. I 5-9. Vgl. zum Unterschied zwischen C) und C+) bes. Med. I 6 (meine Herv.): “...nec forte...tales manûs
nec tale totum corpus [...sed] manûs totumque corpus...” (“...zwar vielleicht nicht solche Hände und einen solchen
Körper [...aber doch wohl] Hände und überhaupt einen Körper...”).
34 Vgl. zum Begriff der “idea” v.a. Vorwort, 4. Absatz,und Med. VI 3.
35 Vgl. mit Belegen http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/demo/hannover/hannover.html.
Das griechische Analogon zu idea / idée ist eher phantasma.
36 Platon, Theätet 191c - 196c.
37 Med. I 5 - 12, II 2. Das Traumargument selbst ist auch anderweitig bekannt: vgl. z.B. Platon, Theätet 157e 158e; Hobbes, Leviathan, Buch I, Kap. 2. Sehr schön ist die altchinesische Version mit Schmetterling (Tschuang
Tse), die sich, neben weiteren Versionen verschiedenster Herkunft, findet in. Hans-Ludwig Freese, Gedankenreisen,
Reinbek bei Hamburg (Rowohlt) 1996, S.59.
9
besteht. Er lautet:
D) Ich existiere.
Das ist das unerschütterliche Fundament. Der Trick ist ganz einfach: Wenn dieser Satz falsch wäre,
könnte der böse Geist mir nicht vormachen, er sei wahr, denn dann gäbe es mich nicht, und somit
könnte er mir auch nichts vormachen.38 Auch dieser Gedanke ist nicht ganz neu, sondern findet
sich in der Formulierung, "si enim fallor, sum" ("wenn ich mich täusche, gibt es mich") bei
Augustinus.39 Aber was soll's: Erst Descartes hat ihn wirklich ausgeschlachtet. Oft kürzt man ihn
in die Formel "Cogito ergo sum" ab, die zwar so nirgends bei Descartes steht, wohl aber im
"Discours de la methode" ihr französisches Gegenstück "Je pense, donc je suis" - "ich denke, also
bin ich".40
Die abkürzende Formel zeigt auch schon, wie Descartes weiter argumentiert. Da noch
ausgeklammert bleibt, ob mir der böse Geist meinen Körper nicht nur vormacht, bedeutet D) im
Zusammenhang mit dem Täuschungs-Szenario genau genommen:
D+) Ich existiere als ein denkendes Wesen und begreife mich als solches
("sum res cogitans" - Ich bin ein denkend Ding). 41
Damit ist allerdings weniger gesagt, als man zunächst meinen mag - was Descartes auch klar
sagt,42 was aber trotzdem oft übersehen wird. Denn damit ist z.B. noch nicht die Existenz der
körperunabhängigen Seele bewiesen: Es könnte ja sein, dass ich ein denkendes Wesen bin und
mich als solches begreife, aber mit nichts anderem denke als einem meiner materiellen und
vergänglichen Körperteile - meinem Gehirn.
Descartes geht denn auch zunächst daran, die Existenz Gottes zu beweisen. In seinen beiden
Argumenten dafür, in der 3. und in der 5. Meditation, blickt er konsequent nach innen, denn die
Existenz der Außenwelt hat er ja noch nicht etabliert. Beide Argument ähneln etwas dem
(allerdings im Detail viel raffinierteren) Argument von Anselm von Canterbury: schon aus dem
Vorhanden sein einer idea von Gott im Geist soll folgen, dass Gott existiert. (Sie werden
wahrscheinlich schon die Nähe von Anselms Projekt zu Descartes' Projekt bemerkt haben: beide
suchen Vernunftbeweise, die auch den Ungläubigen bekehren, wenn er nur vernünftig ist).43
Um schließlich die Existenz der körperunabhängigen Seele zu beweisen, greift Descartes nunmehr bereits im großen argumentativen showdown der 6. Meditation - noch tiefer in die
38 Med. II 3.
39 Augustinus, De civitate dei XI 26, vgl. auch De libero arbitrio II 3, 7; dazu Kurt Flasch, Augustin, Stuttgart
(Reclam) 19942, S.59- 61.
40 Discours IV 3.
41 Med. II 7 + 8 (“Sed quid igitur sum? res cogitans...”, II 8).
42 Vgl. Vorwort, 3. Absatz (1. Einwand), + Med. II 7: “nescio, de hac re non iam disputo” (“ich weiß nicht,
darüber streite ich jetzt noch nicht”).
43 Zu Anselm: http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/veranst/mittelalter/mittelalter.html;
10
Trickkiste.44
Und noch immer steht - schon mitten in der 6. Meditation - ein Beweis für die Existenz äußerer
Gegenstände aus. Descartes liefert ein Argument, 45 es ist subtil und nach allen Regeln der Kunst
geführt (ich hatte es schon in der Logik-Vorlesung erwähnt). Aber es hat einen Haken: An einer
Stelle setzt es die Existenz Gottes voraus. Descartes glaubt diese zwar inzwischen bewiesen zu
haben, und so macht er mit dieser Voraussetzung an dieser Stelle keinen f ormalen Fehler. Aber
eher wenige Leser haben Zutrauen zu seinen Argumenten für die Existenz Gottes gefunden.
Immerhin war Blaise Pascal (1623-1662), ein Zeitgenosse von Descartes, prinzipiell gegenüber
Gottesbeweisen schon skeptisch genug, um für die Annahme der Gottes Existenz nur noch damit
zu argumentieren, dass man, auch wenn man nicht wissen kann, ob Gott existiert, mit einer Wette
darauf, dass er existiert, eine optimale Gewinnstrategie fährt.46
Descartes aber lehnt sich nach sechs Tagen harter Arbeit zufrieden zurück, und meint, dass alles
sehr gut geworden ist. Nur die Aussage C+), dass die Dinge auch an sich so sind, wie unsere ideae
von ihnen, ließ sich nicht beweisen. Aber er vertraut darauf, dass uns Gott über die Beschaffenheit
der Dinge schon nicht allzusehr hinters Licht führt, wenn wir uns nur Mühe geben zu erkennen,
und zumindest eine gewisse Strukturanalogie zwischen den Dingen und den von ihnen
hinterlassenen ideae besteht.47
2.3. Der Problemstand nach den "Meditationen"
Der Eindruck, den Descartes' "Meditationen" bei vielen Lesern hinterlassen haben und noch heute
hinterlassen, ist:
"Das unerschütterliche Fundament ist wohl tatsächlich gelegt. Aber überraschenderweise ist das
größere Problem offenbar, etwas Stabiles darauf zu bauen!"
Und so haben Descartes' "Meditationen" vor allem offene Fragen hinterlassen (vielleicht macht
http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/demo/philosophie im mittelalter.doc.
44 Vgl. Med. VI 9: Die von Descartes hier eingeführte Zusatzprämisse lautet, daß jede Sache, die sich abgesehen
von einer anderen klar und distinkt (clare et distincte) erkennen läßt, auch eine selbständige Schöpfungseinheit ist.
Das Argument ist m.E. erst in einer weit raffinierteren Version im zweiten Teil der dritten Vorlesung von Saul
Kripkes “Naming and Necessity” von 1971 in eine diskussionswürdige Form gebracht worden.
45 Med. VI 10. Für eine Grobanalyse vgl.:
http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/hroseminare/modul/berflug.htm.
46 Vgl. Pascal, Pensées Bd.2, hg. v. Léon Brunschvicg (Bd. 13 der Werkausgabe), Paris 1904, Fragment Nr. 233.
Stark vereinfacht geht das Argument so: Wenn es Gott nicht gibt, aber ich glaube dran, dann verliere ich nichts;
wenn es ihn nicht gibt, und ich glaube nicht dran, verliere ich auch nichts; wenn es ihn gibt, und ich glaube dran,
komme ich (daraus resultierendes Wohlverhalten vorausgesetzt) in den Himmel; wenn es ihn gibt, und ich glaube
nicht dran, komme ich in die Hölle. Genauere Analyse: Hermann Weidemann: Wetten, daß...?, in: Archiv für
Geschichte der Philosophie 81 (1999), S. 290 - 315.
47 Vgl. Med. IV 13 - 16, VI 24 (Schlussparagraph) in Verbindung mit VI 14: “...recte concludo aliquas esse in
corporibus, a quibus variae istae sensuum perceptiones adveniunt, varietates iis respondentes, etiamsi f orte iis non
similes” (“...ich schließe mit Recht, dass in den Körpern, von denen mir diese verschiedenartigen Wahrnehmungen
entgegenkommen, gewisse Verschiedenheiten vorhanden sind, die ihnen entsprechen, wenngleich sie ihnen
11
gerade das ein großes philosophisches Buch aus):
Fragenkomplex 1: Wie soll man sich denn eine Wirkung einer immateriellen Seele auf den Körper
vorstellen? Welches Bild haben wir von Einwirkungen, wenn nicht das in diesem Fall offenbar
absurde von Druck, Stoß, Pumpen und Hebeln? Was ist das überhaupt abstrakt ausgedrückt:
Einwirkung?
Fragenkomplex 2: Wie kann man sich überhaupt noch der Existenz der Außenwelt gewiss sein,
wenn zwar das Gedankenexperiment des radikalen Zweifels so gut funktioniert, aber der
Gegenbeweis auf so tönernen Füßen steht?
Fragenkomplex 3: Was nützte uns selbst die Gewissheit über die Existenz der äußeren Dinge,
wenn wir keine Ahnung haben, ob unsere ideae von ihnen irgendetwas damit zu tun haben, wie sie
an sich sind? Könnte es da z.B. nicht sein, dass wir uns alle nur einbilden, Menschengestalt zu
haben, unsere Körper aber an sich Elefantenform haben?
Fragenkomplex 4: Lässt sich die Existenz Gottes nicht etwas überzeugender beweisen? Oder
deuten die "Meditationen" darauf hin, dass das gar nicht geht?
Mit den von Descartes hinterlassenen Fragen sind auf die eine oder andere Weise die Philosophen
der nächsten Jahrhunderte beschäftigt.
2.4. Erste Reaktionen
Die Radikalität der Reaktionen in der nächsten Generationen großer Philosophen lässt den Schock
ahnen, den Hobbes und Descartes hinterlassen haben müssen.
2.4.1. Spinoza
Eine Reaktion besteht darin, sowohl den Materialismus von Hobbes als auch Descartes' Trennung
in nur Materielles einerseits und nur Mentales andererseits radikal abzulehnen, und zu sagen:
Körperliche Ausdehnung und Denken sind zwei Attribute desselben Gegenstandes, und es
ist eine Frage des Blickwinkels, welches man gerade in den Blick bekommt.
Das ist dann gerade kein Dualismus wie bei Descartes, sondern ein Monismus, eine EinGegenstand-Lehre. Das Einwirkungsproblem ist damit ebenso vom Tisch wie das
Außenweltproblem. Es ist Baruch de Spinoza, der mit dieser These reagiert - vielleicht der
aktuellste Denker des 17. Jahrhunderts und einer der kühnste Denker überhaupt.48
Will man seiner kurzen Biografie von 43 Jahren etwas Positives abgewinnen, so mag man
vielleicht nicht ähnlich sind.”).
48 Vgl. für eine moderne Interpretation: Jonathan Bennett, A Study of Spinoza’s “Ethics”, Cambridge (CUP), 1984.
12
sagen, dass sie ihm sein kühnes Denken ermöglichte, indem er jeder Rücksichtnahme enthoben
war: die Traditionslast des Christentums musste er dank seiner Herkunft nie tragen, und aus der
jüdischen Gemeinde von Amsterdam wurde er schon als junger Mann als Ketzer unter
schrecklicher Verfluchung hinausgeworfen. Spinoza verdingte sich als Linsenschleifer und lehnte
schießlich eine Professur in Heidelberg ab, um auch weiterhin nicht Rücksicht nehmen zu
müssen.49
Spinoza macht klar, dass er die Monismus-These sehr radikal versteht: Es gibt streng
genommen, überhaupt nur einen Gegenstand, nämlich die ganze Welt. Jeder von uns ist eigentlich
kein Ding, sondern nur eine Eigenschaft des Großen Ganzen. Man mag dieses Große Ganze auch
"Gott" nennen.50 Damit wird die Existenz Gottes geradezu eine Trivialität (wie sollte man an der
Existenz er Welt zweifeln?). Allerdings wird man sich dann von einigen primitiven Deutungen der
traditionellen Attribute Gottes verabschieden müssen:
“Der Verstand und der Wille [Gottes sind] von unserem Verstand und Willen himmelweit verschieden [...]; nämlich
51
nicht anders, als das Sternbild Hund und das bellende Tier Hund einander gleichen.”
All das verkündet Spinoza nun nicht etwa im Ton eines Schwärmers, sondern deduziert es in
einem der abstraktesten Texte der Philosophiegeschichte, dem 1. Buch seiner sogenannten "Ethik".
Er übernimmt nämlich von Descartes den Gedanken, in einem philosophischen Werk müsse jede
Behauptung durch eine logische Deduktion aus unbezweifelbaren Axiomen und Definitionen
etabliert werden; die Philosophen, so meint er, hätten "ordine geometrico"52 zu arbeiten, also wie
die Geometrie treibenden Mathematiker seit Euklid. Trotz viel Gewusel im Detail kommt Spinoza
mit diesem Projekt ziemlich weit. Das liegt natürlich daran, dass er sehr starke Axiome und
inhaltlich extrem aufgeladene Definitionen verwendet.
2.4.2. Leibniz
Auf völlig andere Weise stellt sich Spinozas Zeitgenosse Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 1716) der Herausforderung durch Descartes und den Mechanismus.
Leibniz war als brillianter Jurist und vielseitiger Hobbywissenschaftler für seinen Arbeitgeber,
den Herzog von Hannover, universell einsetzbar: als Bibliothekar, als Aufpasser auf der grand
tour, also der obligatorischen Bildungsreise des fürstlichen Nachwuchses durch Frankreich und
Italien, zur Durchsetzung von Erbansprüchen und zu vielem mehr. Wenn er in seiner Postkutsche,
z.B. auf dem Weg zur - nicht besonders erfolgreichen - Restrukturierung der Harzer
Silberbergwerke nicht gerade dabei war, sich mit der Kreiszahl π oder einem System der formalen
Logik zu beschäftigen, die Differentialrechnung, die binären Zahlen und die Feuerversichung zu
erfinden oder mit Missionaren in China zu korrespondieren, schrieb er auch in immer neuen, oft
49 Vgl. zu (leider dort schlecht belegten) Zitaten zur Biographie und Wirkungsgeschichte Wilhelm Weisschedel,
Die philosophische Hintertreppe, München (dtv) 1988 17, S.134f.
50 Vgl. Spinoza, Ethik I, propositio 14 + 15 und die dazu gehörigen Anmerkungen.
51 Anmerkung zu propositio 17. Vgl. auch die große Schlussanmerkung zu Ethik I.
52 So im Titel der “Ethik”: “Ethica ordine geometrico demonstrata”.
13
unveröffentlichten Anläufen Metaphysisches; natürlich auf Französisch und Latein (auf Deutsch
konnte man dem Kutscher befehlen...)!53
Was Leibniz als Antwort auf Descartes bietet, ist vollkommen konsequent und vollkommen
abgedreht. Am leichtesten lässt sich seine' Antwort skizzieren, wenn man vom Problem der
Einwirkung eines Gegenstandes auf einen anderen ausgeht. Leibniz' Lösung ist:
Es gibt überhaupt keine Einwirkung von Gegenständen aufeinander,
es sieht nur so aus als ob.54
Wenn das so ist, dann gibt es natürlich auch kein Problem mit der Einwirkung der Seele auf den
Körper. Zugleich ist Leibniz' Ansatz die denkbar radikalste Gegenposition zum Bild von der Welt
als Maschine mit Kraftübertragung von einem starren Körper auf den anderen. Doch wie kommt
es, dass die Welt so aussieht, als wirke ein Ding auf ein anderes ein?55 Man mag es sich ein wenig
wie im Kasperletheater vorstellen:
Für den sehr jungen Zuschauer sieht es so aus, als schleudere das Krokodil genau deshalb einen
halben Meter zurück, weil ihm das Kasperle gerade einen gewaltigen Nasenstüber versetzt hat. In
Wirklichkeit koordiniert aber der Puppenspieler die Bewegungen der Puppen, indem er das
Krokodil gerade dann zurückzieht, wenn die Vorwärtsbewegung von Kasperles Faust seine
Schnauze erreicht hat. Eine Kraftübertragung findet nicht statt. Vielmehr stimmt der Puppenspieler
die Bewegungen der Puppen harmonisch aufeinander ab.
Der große Koordinator in Leibniz' Welttheater ist Gott, für dessen Existenz er, ebenso wie
Descartes, glaubt, einen hieb- und stichfesten Beweis zu haben.56 Nur hinkt das Bild vom
Puppenspieler, indem es voraussetzt, dass das Geschehen zurselben Zeit koordiniert wird, zu der
es geschieht. Leibniz ist dagegen der Meinung, dass die Koordinationsleistung Gottes eigentlich im
Augenblick der Schöpfung stattfindet: die Harmonie im Verhalten der Dinge ist prästabiliert vielleicht wäre es besser, sich statt eines Marionettentheaters ein Kasperletheater mit
Aufziehpuppen vorzustellen; auch dieser Vergleich hinkt, denn das Element der Selbstentfaltung
ist bei Aufziehpuppen nicht gegeben; aber ich habe einen besseren.
53 Vgl. zur Biographie Eike Christian Hirsch, Der berühmte Herr Leibniz, München (Beck) 2000
(philosophiehistorisch leider unergiebig - davon hat Hirsch nicht viel Ahnung - und daher ziemlich langweilig).
54 Der beste (wenn auch nicht leichte) Text zum Einsteigen in Leibniz’ System ist die “Metaphysische Abhandlung”
von 1686 (z.B. zweisprachig bei Meiner), nicht die spätere, noch komprimiertere und befremdlichere
“Monadologie”. Im kurzen Text der “Metaphysischen Abhandlung” finden sich die referierten Meinungen sämtlich
belegt; zentral sind §§ 8, 13 und 15.
55 Leibniz kommentiert seine Lösung in §15 der Metaphysischen Abhandlung: “C’est donc ainsi qu’on peut
concevoir que les substances s’entrempechent ou se limitent, et par consequent on peut dire dans ce sens qu’elles
agissent l’une sur l’autre, et sont obligées pour ainsi dire de s’accommoder entre elles.” (“So also kann man sich
vorstellen, dass sich Substanzen behindern oder begrenzen, und daher kann man in diesem Sinne sagen, dass sie
aufeinander wirken und sozusagen verpflichtet sind, sich untereinander zu akkomodieren”; Herv. N.St.).
56 Vgl. Text Nr. XIII (De la demonstration Cartesienne) der Abteilung “Leibniz gegen Descartes und den
Cartesianismus (1677 - 1702”) in: Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, hg. v. C.J.
Gerhardt, Bd.IV, Berlin 1880, S. 405f.; weitere relevante Text: Theodicée § 7, Monadologie § 43, De vita beata
(Gerhardt-Ausg. Bd. VII, S.96). Analyse: Gotfried Martin, Leibniz, Berlin (De Gruyter) 1967, Kap. XI §38, S.196200.
14
Da Gott sowohl allmächtig als auch vollkommen gut ist, hat er im Augenblick der Schöpfung
übrigens die bestmögliche Koordinationsvariante, die "beste aller möglichen Welten", gewählt.
Denn nichts geschieht ohne Grund, und so wird erst recht Gott immer gute Gründe für seine Wahl
haben.57 Das mag zwar auf den ersten Blick nicht einleuchten und ist im Detail nicht
nachvollziehbar; aber gegen einen logischen Schluss kann man ja wohl nichts machen.58
Außerdem ist klar, dass es nicht jetzt noch offen sein kann, was ich morgen tun werde, denn das
würde die ganze Abstimmung meines Verhaltens mit dem Rest der Welt durcheinanderbringen:
Man stelle sich vor, das Krokodil pralle plötzlich wie vorgesehen zurück, obwohl sich das Kasperle
inzwischen dafür entschieden hat, es in Ruhe zu lassen.
2.5. Die britischen Inseln
2.5.1. Überleitung
Mit Descartes, Spinoza und Leibniz haben wir damit die Philosophen zusammen, die in
traditionellen Einteilungen das kontinentaleuropäische Dreigestirn des sogenannten
"Rationalismus" im 17. Jahrhundert bilden. Ich kann mit diesem Etikett wenig anfangen und werde
ebensowenig versuchen, es zu motivieren wie das des angeblich entgegengesetzten "britischen
Empirismus" des späten 17. und dann des 18. Jahrhunderts, dem man ebenfalls ein Dreigestirn
zuordnet. Ich habe es allerdings bei der traditionellen Gruppierung belassen, und so schalten wir
nun hinüber auf die britischen Inseln zu Locke, Berkeley und Hume.
2.5.1. John Locke
Verglichen mit dem geistigen Extremsport von Spinoza und Leibniz scheint es in England nach
Hobbes’ Tod vergleichsweise normal zuzugehen. Tatsächlich ist John Locke ein moderater
Philosoph des "Ja, aber" - was allerdings Gründlichkeit und auch geniale Lösungen nicht
ausschließt. Doch vielleicht finden wir Locke auch deshalb normal, weil seine Philosophie so
einflussreich war, dass sie in manchem Bereich definiert hat, was wir für normal halten.59
Vielleicht ist es auch die soziale Atmosphäre um die Entstehung seines Hauptwerkes "An Essay
concerning Human Understanding", die diesem einen gewissen entspannten Charakter verleiht, und
die Locke im Vorwort beschreibt:
Wenn es sich ziemte, [lieber Leser], dich mit der Geschichte dieses “Versuchs” zu belästigen, so würde ich dir
erzählen, dass fünf oder sechs Freunde, die sich in meiner Wohnung trafen und über ein Thema diskutierten, das sehr
weit von diesem hier entfernt ist, bald steckenblieben, durch Schwierigkeiten, die sich auf jeder Seite ergaben.
57 Diese Ansicht reizt Leibniz im 2. und 3. Brief seines kontroversen Briefwechsels mit dem Newtonianer Samuel
Clarke bis ins Letzte aus, indem er argumentiert: Wäre der Raum absolut, wie Newton meinte, so hätte sich Gott im
Augenblick der Schöpfung nicht mit guten Gründen zwischen der Welt und ihrer exakten Punktspiegelung
entscheiden können. Damit Gott nicht in die Situation von Buridans Esel kommt, der in der Mitte zwischen zwei
Heuhaufen verhungert, muss also der Raum relativ sein; denn im Sinne des relativen Raumes sind die Welt und
“Spiegelbild” voneinander ununterscheidbar und nur dasselbe aus verschiedenen Blickwinkeln.
58 Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz, Essais de Théodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l‘homme et l’origine du
mal, Philosophische Schriften Band II (zwei Halbbände), hg. und übers. V. Herbert Herring, Frankfurt a.M. (Insel)
1990. Zentral: Teil I, §10 - “vous le devez juger avec moi ab ef f ectu” (“Ihr müsst es mit mir aus dem Ergebnis
beurteilen!”) - und 2. Halbband, S. 286-289.
59 Priest, op. cit. S.53: "Locke's political theory is the blueprint for the West".
15
Nachdem wir eine Weile herumgerätselt hatten, ohne einer Lösung der Zweifel, die uns verwirrten, irgendwie näher
zu kommen, kam es mir in den Sinn, dass wir ganz auf dem falschen Weg waren. Und dass, bevor wir uns an
Untersuchungen dieser Art machten, wir erst einmal unsere eigenen Fähigkeiten zu untersuchen hätten und zu sehen
hätten, was für Objekte der Beschäftigung unseres Verstandes überhaupt angemessen seien und was für welche
vielleicht nicht.60
Hier, im Gespräch unter Freunden, beginnt langsam das Jahrhundert der Aufklärung, des
"enlightenment".
"Ja, Gott existiert - irgendeine letzte Ursache muss es doch geben!61 aber eine eingeborene idea
Gottes als Signatur des Schöpfers auf dem Geschöpf, wie Descartes sich das dachte? Nein: Zu
Beginn ist die Wachstafel vollkommen leer.62
Ja, der Geist ist wie eine Wachstafel, auf der äußere Gegenstände ideas einprägen; aber der
Geist hat auch die Fähigkeit, ideas von seiner eigenen Tätigkeit zu bekommen, sich gewissermaßen
anhand von Gebrauchsspuren seiner selbst bewußt zu werden.63
Ja, ich habe eine Seele;64 aber viel wichtiger ist, dass ich eine Person bin, meiner selbst bewusst
mich daran erinnern kann, was ich gestern gemacht habe, worum ich Angst hätte, was ich zu mir
selbst als Körper rechne.65
Ja, der König sollte die Gottesdienste aller möglicher Konfessionen und Freikirchen tolerieren;
aber Katholiken mit ihrem angeblich unfehlbaren Papst nicht - die sind ja selbst intolerant und
deshalb gefährlich!66
Ja, es gibt ein Recht auf Privateigentum; aber nur auf soviel, wie ich auch selbst sinnvoll nutzen
kann.67
Ja, der Mensch sollte den Naturzustand überwinden und Staaten gründen; aber der
Naturzustand ist auch nicht so übel - nur auf die Dauer etwas unbequem.68
Ja, eine gerechte Staatsgründung muss man sich wie einen Vertragsschluss vorstellen; aber bei
diesem Vertragsschluss verzichten die Bürger nicht auf sämtliche Rechte. Es gibt nämlich
unveräußerliche natürliche Rechte jedes Menschen, weil er ein Geschöpf Gottes ist. Die kann er
60 Locke, An Essay Concerning Human Understanding, London (Dent) 1977, S.xl (“Epistle to the Reader”), meine
Übersetzung. Vgl. auch:
http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/veranst/empiricists/epistle.htm.
61 Locke, Essay Buch IV, Kap. 10.
62 Locke, Essay, Buch I passim, Buch II 1 + 2.
63 Locke, Essay Buch II, Kap. 1; Text unter:
http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/veranst/empiricists/book2-1.htm.
64 Locke, Essay Buch II, Kap. 23 §15.
65 Locke, Essay, II, Kap. 27; Text unter:
http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/veranst/empiricists/book1-27.htm
66 Vgl. Lockes vier verschiedene Letters on Toleration, die einen ganzen Band der Werkausgabe von 1823 füllen
(Bd. 6, Reprint, Aalen (Scientia) 1963). Zu den Katholiken vgl. dort Brief I, S.44f sowie: Locke, An Essay on
Toleration, in: ders.: political Essays, hg. v. Mark Goldie, Cambridge (CUP) 1997, S.134-159, bes. S.151.
67 Locke, Second Treatise on Government, Kap. V, bes. §§ 27 - 34.
68 Locke, Second Treatise on Government, Kap. II; Text unter:
http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/veranst/empiricists/locke2t.htm.
16
gar nicht abtreten."69
Das sind einige typische Ja-aber-Thesen von Locke. Ist es Zufall, wenn auf den Geldscheinen eines
der wenigen Staaten, die wirklich durch eine Art Vertragsschluss enstanden, und dessen
Unabhängigkeitserklärung auf einzigartige Weise von Locke inspiriert ist, steht: "In God we
trust"? Ich glaube nicht.
Das vielleicht folgenreichste "Ja - aber" von Locke habe ich mir noch aufgespart. Es ist Lockes
Antwort auf das, was ich im Anschluss an Descartes den Fragenkomplex 3 genannt habe. Zur
Erinnerung:
Fragenkomplex 3: Was nützte uns selbst die Gewissheit über die Existenz der äußeren Dinge,
wenn wir keine Ahnung haben, ob unsere ideae von ihnen irgendetwas damit zu tun haben, wie sie
an sich sind...?
Lockes Antwort ist:
"Ja, ok, die ideas, die ein Gegenstand hinterlässt, bilden den Gegenstand nicht in jeder
Beziehung so ab, wie er an sich ist; aber in mancher Beziehung doch. Es gibt nämlich zwei Sorten
von Eigenschaften eines Gegenstandes.
Eigenschaften der Sorte 1, die primary qualities, hinterlassen ideas, die ihnen selbst ähnlich sind.
Eine typische Eigenschaft der Sorte 1 ist z.B. die kubische Gestalt eines Würfels: Er ist, was seine
Gestalt angeht, an sich kubisch; und prompt hinterlässt auch genau die idea eines kubischen
Gegenstandes.
Eigenschaften der Sorte 2, die secondary qualities, hinterlassen dagegen ideas, die ihnen nicht
ähnlich sind. Eine typische Eigenschaft der Sorte 2 ist die Farbe des Würfels: Die
mikrophysikalische Oberflächenstruktur des Würfels, an sich ja ein farbloses Atomgitter,
hinterlässt nämlich nicht etwa die idea eines farblosen Atomgitters, sondern die idea von roter
Farbe."70
Das ist eine moderate Antwort: sie ist selbstkritisch und skeptisch genug, um nicht naiv zu wirken.
Und sie ist optimistisch genug, um uns hoffen zu lassen, dereinst mit immer besseren
Rasterelektronenmikroskopen zu erkennen, wie die Oberfläche des Würfels an sich ist.
69 Ebd.
70 Diese Interpretation weicht vom mainstream ab, der die sekundären Qualitäten stärker ins Subjekt verlegt, wozu
Locke leider durch unvorsichtige Formulierungen mit beiträgt. Ich stütze mich auf Sätze wie Locke, Essay II 8, § 23 / 24
“... bulk, figure, number, situation, and motion or rest of their solid parts. [...] we have by these an idea of the thing as it is
in itself [...]. These I call primary qualities. [...] The first are resemblances; the second thought to be resemblances, but
are not; [...].” Text (Essay II 8) unter:
http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/veranst/empiricists/book2-1.htm.
17
2.5.2. George Berkeley
Doch während das 18. Jahrhundert seinen Lauf nimmt, gelingt es dem tüchtigen irischen Bischof
George Berkeley, die beruhigende Ausgleichsposition Lockes in bezug auf Fragenkomplex 3 als
schlicht unhaltbar zu erweisen. Sein Einwand lautet sinngemäß so:
"Um die Unterscheidung zwischen Eigenschaften der Sorte 1 und Eigenschaften der Sorte 2
zu machen, müsste ich die idea, die eine Eigenschaft in mir hinterlässt, mit der Eigenschaft an
sich vergleichen können. Denn nur so könnte ich sagen, ob die idea der sie hervorrufenden
Eigenschaft ähnlich ist. Aber ein solcher Vergleich ist unmöglich. Denn auch durch das beste
Mikroskop ist nie zu sehen, wie die Oberfläche des Würfels an sich ist, sondern ich bekommen
nur wieder eine idea davon - einfach, weil ja wieder ich es bin, der hinschaut."71
Berkeleys Reaktion auf den Zusammenbruch von Lockes Unterscheidung ist so heftig, dass im
Vergleich dazu (zumindest der frühe) Leibniz geradezu geerdet wirkt:72 Berkeley entscheidet sich
dafür, dass es überhaupt nichts Körperliches gibt. Alles, was es gibt, sind mentale Subjekte (minds)
und ideas als mentale Objekte in ihnen. Produziert werden die ideas in jedem einzelnen Subjekt von
Gott, der natürlich auch nichts anderes ist als ein mentales Subjekt. Und alle vermeintliche Physik
wird zur Grammatik der ideas.73
Tatsächlich erübrigen sich alle Fragen nach der Beziehung von Körperlichem und Geistigem,
wenn es keine Außenwelt gibt. Man fragt sich allerdings, ob das nicht etwas viel hat vom Prinzip:
"Operation gelungen - Patient tot".
2.5.3. David Hume
Die Kritik, die David Hume (1711 - 1776) 1740 in seiner "Treatise on human Nature" und später
in seiner "Enquiry concerning human Understanding" an Positionen seiner Vorgänger übt, geht in
ganz andere Richtungen als die Kritik Berkeleys an Locke, ist aber kaum weniger machtvoll.74 Die
Impulse, die von Hume ausgehen, sind vielfältig:
71 Berkeley, A Treatise concerning the Principles of Human Knowledge, Part I, §8: “But, say you, though the ideas
themselves do not exist without the mind, yet there may be things like them, whereof they are copies or resemblances,
which things exist without the mind in an unthinking substance. I answer, an idea can be like nothing but an idea; a colour
or figure can be like nothing but another colour or figure. If we look but never so little into our thoughts, we shall find it
impossible for us to conceive a likeness except only between our ideas.” Expliziter Bezug auf Lockes Unterscheidung:
§9.
72 Die wichtigsten Ausschnitte aus Berkeleys Treatise finden sich unter:
http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/veranst/empiricists/berkeleyshort.html
73 Berkeley, Treatise, Part I §50: “To explain the phenomena, is all one as to shew why, upon such and such
occasions, we are affected with such and such ideas.”.
74 Hume ist der wichtigste Vertreter der sogenannten schottischen Aufklärung, zu deren Vertretern man auch Thomas
Reid ( 1710 - 1796) und Humes Freund, den Moralphilosophen und Gründervater der Volkswirtschaftslehre, Adam
Smith ( 1723 - 1790) rechnet.
18
Er stellt dem Wachstafel-Mythos (den er allerdings selbst auch noch benutzt 75) das Bild vom
Geist als bloßes Bündel von ideas gegenüber.76
Er zweifelt am Vorrang der Vernunft, die er zur voller Zustimmung zur Sklavin der
Leidenschaften erklärt (die Leidenschaften bestimmen, was man will, die Vernunft sucht bloß die
Mittel dazu).77
Er entwirft eine Ethik moralischer Gefühle,78 stellt aber auch als erster deutlich den Grundsatz
auf, dass man nicht von Sein aufs Sollen Schließen darf.79
Er stellt klar, dass eine endliche Zahl von Experimenten niemals ein Naturgesetz beweisen
kann.80
Und er polemisiert, wenn er auch sein letztes Wort zur Religion geschickt in der Dialogform
kaschiert, wie kein anderer gegen Leibniz' Behauptung, die Wirklichkeit sei die beste aller
möglichen Welten:
“Wenn ich dir ein Haus oder einen Palast zeigte, in dem nicht eine Wohnung praktisch oder angenehm ist; wo die
Fenster, Türen, Kamine, Flure, Treppen und der ganze Plan des Gebäudes eine Quelle von Lärm, Durcheinander,
Stress, Dunkelheit und extremen Temperaturen wäre ... dann würde der Architekt vergebens seinen Scharfsinn zur
Schau stellen und dir beweisen, dass, wenn man dieses Fenster oder jene Tür veränderte, alles noch schlimmer würde
...” 81
Unter all dem noch heraus ragen seine Ausführungen zum freien Willen und seine damit
verbundene Attacke auf den Kraftbegriff in der Physik. Sie werden schon ahnen, dass eine
bestimmte starke Art von freiem Willen im ganzen mechanistischen Weltbild zum Problem wird und selbst bei dessen Gegner Leibniz und bei Spinoza keinen Platz findet.
Am Ende des 18. Jahrhunderts, einige Jahrzehnte nach Hume, bringt der französische
Mathematiker Pierre Simon de Laplace die philosophischen Konsequenzen der Physik Newtons
mit seinem berühmten Dämonen-Gleichnis auf den Punkt: Wenn ein Dämon mit unbegrenzten
Rechenkapazitäten eine Art kompletten Schnappschuss des Universums zu einem Zeitpunkt vor
sich hätte, könnte er aufgrund der Gesetze der Physik dessen gesamte Geschichte und Zukunft
75 Vgl. z.B. Hume A Treatise of Human Nature, book I, part I, sections 1 + 2; First Enquiry (“Enquiry concerning
Human Understanding”), section II.
76 Hume, Treatise, book I, part IV, section 6.
77 Hume, Treatise, book II, part III, section 3: “Reason alone can never be a motive to any action of the will.
[Reason] can never oppose passion in the direction of the will. [...] Reason is, and ought only to be the slave of the
passions, and can never pretend to any other office than to serve and obey them."
78 Im dritten Buch des Treatise und, lesbarer, in der zweiten Enquiry, “An Enquiry concerning the Principles of
Morals”. Vgl. dort zum Projekt z.B. section 1, § 137: “it is probable [..] that this final sentence [concerning morality]
depends on some internal sense or feeling, which nature has made universal in the whole species.”; Appendix 1, §
239: “...morality is determined by sentiment.”
79 Vgl. das Ende von Treatise, book III, part I, section 1.
80 Hume, First Enquiry, Section IV.
81 Hume, Dialogues Concerning Natural Religion, Abschnitt 11, meine Übersetzung. Original: “Did I show you a house
or palace, where there was not one apartment convenient or agreeable; where the windows, doors, fires, passages, stairs,
and the whole economy of the building were the source of noise, confusion, fatigue, darkness, and the extremes of heat
and cold [...t]he architect would in vain display his subtlety, and prove to you, that if this door or that window were
altered, greater ills would ensue.”
19
berechnen.82
Wie kann dann aber noch offen stehen, was ich morgen tun werde? Und wenn es nicht mehr
offen steht, bin ich dann überhaupt noch frei? Humes Antwort ist:
"Ja, nur in einem etwas schwächeren, aber eigentlich dem einzig vernünftigen Sinn von 'frei'.
'Freiheit' heißt 'Ungehindert-Sein, meinem Willen Taten folgen zu lassen', und in diesem Sinne bin
ich normalerweise frei, wenn ich nicht gerade in Ketten liege.83 Mein Wille aber wird von meinen
Motiven bestimmt,die festlegen, wie ich auf Umstände reagiere, und die Motive haben ihren
Ursprung in meiner Biographie. Das ist gut so, denn was soll es sonst überhaupt heißen, dass ich
es bin, der eine Tat begeht?84 Hätte ich anders handeln können? Sicher: in anderen Umständen, mit
anderer Biographie."
Man könnte viel darüber sagen, ob das an Freiheit reicht. Interessant ist Humes Vorschlag allemal.
Aber beinahe noch interessanter ist seine Antwort auf einen von Hume vorweggenommenen
Einwand gegen seine Theorie. Der Einwand lautet:
"Wenn ich auf bestimmte Umstände gar nicht anders kann, als in bestimmter Weise reagieren, dann
verhalte ich mich wie ein physikalischer Gegenstand, den z.B. eine Kraft zwingt, sich in bestimmter
Weise zu bewegen. Wieso spüre ich denn dann keinen Zwang, keine Kraft?"85
Und Humes Antwort ist sinngemäß: "Weil es auch im Falle des physikalischen Objektes keinen
Zwang und keine Kraft gibt. Was wir für Zwang in der Natur halten, ist in Wirklichkeit ein in uns
liegender psychologischer Zwang; und zwar der Denkzwang, nach wiederholten Erfahrungen in
bestimmten Umständen ein bestimmtes Ereignis zu erwarten. Dinge wie Billardkugeln spüren
keinen Zwang, wenn sie sich den Naturgesetzen gemäß verhalten. Es mag perfekte
Regelmäßigkeiten des Naturlaufs geben - Naturkräfte? Da kann man gleich an Voodoo glauben."86
Wenn man genau hinschaut, ist das die Aushöhlung des mechanistischen Paradigmas von innen:
82 Pierre Simon de Laplace, Introduction à la théorie des probabilités, zitiert nach: Ch.Brunot / J.Jacob (Hg.), Choix de
textes philosophiques de Montaigne à Louis de Broglie, Paris (Librairie Classique Eugène Belin), Paris 1961, S.108:
“Une intelligence qui pour un instant donné connaîtrait toutes les forces dont la nature est animée et la situation
respective des êtres qui la composent, si d'allieurs elle était assez vaste pour soumettre ces données à l'analyse,
embrasserait dans une même formule les mouvements des plus grands corps de l'Univers et ceux du plus léger atome.
Rien ne serait incertain pour elle, et l'avenir comme le passé serait présent à ses yeux.”
83 Vgl. First Enquiry, section VIII, part 1, §73.
84 Vgl. das Ende von Treatise, book II, part III, section 1.
85 Vgl. First Enquiry, section VIII, part 1, § 71: “When [we] turn [our] reflections towards the operations of [our]
own minds, and feel no [...] connexion of the motive and the action, [we...] thence [...] suppose, that there is a
difference between the effects which result from material force, and those which arise from thought and intelligence".
86 Vgl. Treatise, book II, part III, section 2: “Let no one [object] that I assert the necessity of human actions, and
place them on the same footing with the operations of senseless matter. I do not ascribe to the will that unintelligible
necessity, which is suppos'd to lie in matter. But I ascribe to matter that intelligible quality, call it necessity or not,
which the most rigorous orthodoxy ... must allow to belong to the will [predictability]. I change, therefore, nothing in
the receiv'd systems with regard to the will, but only with regard to material objects."
20
nach außen hin bleibt alles beim alten - nichts spricht dagegen, die Welt nach dem Modell des
Verhaltens von vermeintlich guten alten Bekanntem wie Pumpen, Hebeln, Klingelseilen und
Billardkugeln zu berechnen. Aber verstehen wir überhaupt deren Verhalten? Mit Humes
konsequenter Weigerung, sich in die Natur einzufühlen, werden die guten alten Bekannten des
mechanistischen Paradigmas mit einem Mal Fremde. Es ist eine Ironie der Philosophiegeschichte,
dass man das kaum wahrgenommen hat, sondern stattdessen versucht hat, in Humes Text eine
Kausalitätstheorie hineinzulesen, die es dort nicht gibt.87
2.6. Frankreich vor der Revolution
Hume konnte sich kurz vor seinem Tod noch über die amerikanische Revolution von 1776 freuen.
Und längst gärt es auch schon in Frankreich, wo die Monarchie in offensichtlichster Weise
abgewirtschaftet ist. Die französische Aufklärung ist im großen und ganzen politisch radikaler und
polemischer, zum Teil materialistischer, definitiv antiklerikaler als die britische und erst recht die
deutsche. Nach keiner Revolution in einem anderen großen europäischen Land - wenn es sie
gegeben hätte! - hätte man wohl flächendeckend Kirchen zu Lagerhäusern gemacht, den
christlichen Kalender abgeschafft und ein staatliches "Fest des höchsten Wesens" gefeiert. Aber“Unter dem Pflaster der Strand” - Radikalität schließt Feinsinnigkeit nicht aus. Und so ist die
Polemik eines Voltaire, Montesquieu oder Rousseau aus den Jahrzehnten vor der Revolution von
1789 noch heute ein Lesevergnügen. Montesquieu bringt die Staatsphilosophie mit seiner klaren
Forderung nach Gewaltenteilung auch theoretisch ein enormes Stück voran. Als Literat bedient
sich geschickt des satirischen Mittels des "fremden Blicks": Er veröffentlicht eine Sammlung von
fiktiven Briefen von persischen Gesandten, die aus Frankreich allerlei Exotisches zu berichten
haben. Kostprobe:
Dieser König von Frankreich ist übrigens ein großer Magier: Er herrscht sogar über den Verstand seiner Untertanen;
er macht sie denken, wie er will. Wenn er z.B. nur eine Million Ecu in seiner Schatzkammer hat, aber zwei Millionen
braucht, dann muss er sie bloß überreden, dass ein Ecu zweie wert ist - und sie glauben es. Wenn er einen schwierig
zu finanzierenden Krieg führt und kein Geld hat, muss er ihnen bloß in den Kopf setzen, dass ein Stück Papier Geld
ist; und schon sind sie davon überzeugt!88
Einige Stufen härter und druckvoller - aber auch mit einer Tendenz zum Überspannten - kommt
Jean-Jaques Rousseau rüber, und man wundert sich nicht, dass er nach seinem Tod 1778 bald
zur intellektuellen Galionsfigur der Revolutionäre wurde. Besonders zwei Details seiner Version
der Theorie des Gesellschaftsvertrages (die dritte bedeutende Variante neben der von Hobbes und
87 Diese Interpretation weicht vom mainstream erheblich ab. Ich hoffe, sie demnächst genauer ausarbeiten zu
können. Ein Argumentgerüst ist enthalten in der Anordung der wesentlichen Zitate in:
http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/veranst/empiricists/HUME.html.
Die relevanten Texte sind: Treatise, Book II "Of the passions", part III "Of the will and direct passions", section 1-2
"Of liberty and necessity", section 3 "Of the influencing motives of the will"; First Enquiry, Section VIII, Part I §§
62-74, part II §§ 75-81.
88 Montesquieu, Lettres persanes XXIV, meine Übersetzung. Original: “...ce roi est un grand magicien: il exerce
son empire sur l’esprit même de ses sujets; il les fait penser comme il veut. S’il n’a qu’un million d’écus dans son
tresor, et qu’il en ait besoin de deux, il n’a qu’à leur persuader qu’un écu en vaut deux; et ils le croient. S’il a une
guerre difficiele à soutenir, et qu’il n’ait point d’argent, il n’a qu’à leur mettre dans la tête qu’un morceau de papier
21
Locke) haben die Revolutionäre interessiert:89
(1) die Ansicht, zu ermitteln sei für die Gesetzgebung das etwas irreführend “volonté générale”
genannte Gemeininteresse, und unter natürlichen Bedingungen der Meinungsbildung sei ein Volk
dazu auch in der Lage, dieses Gemeininteresse zu ermitteln (Rousseau hat hier die
basisdemokratische Verfassung seiner Heimatstadt Genf als leuchtendes Vorbild vor Augen);
(2) die Ansicht, das Volk gebe beim Vertragsschluss nicht etwa die Souveränität, also das Recht
zur Machtausübung ab (wie Hobbes meinte), sondern das Volk sei selbst der Souverän und lasse
sich durch Regierende nur vertreten.
Hier ist Rousseaus endgültiger Kommentar zum Thema "Herrscher von Gottes Gnaden":
Alle Macht kommt von Gott, das geb ich gern zu; aber alle Krankheit kommt auch von ihm. Soll das heißen, dass es
verboten ist, den Arzt zu rufen?90
Wer Gegner hat, die so schreiben können, hat schon verloren. Wenn Marx mehr als ein halbes
Jahrhundert später schreibt, die Philosophen sollten die Welt nicht immer nur interpretieren,
sondern endlich auch mal verändern, so ist das gegenüber dem 18. Jahrhundert etwas unfair.91
2.7. Kant
Alles, was ich bisher an theoretischen Ansätzen des 17. und 18. Jahrhunderts referiert habe, wird in
einem der entlegensten Winkel des deutschen Sprachraums, in Königsberg in Ostpreußen, von
einem kleinen Universitätsprofessor für alle möglichen Fächer über Jahrzehnte aufgenommen und
verarbeitet. Was er bei Hume liest, beeindruckt ihn nach eigenem Bekunden besonders.92 Aber
nicht nur das, sondern auch die - an Leibniz orientierte - inzwischen entstandene deutschsprachige
Universitätsphilosophie eines Christian Wolff und die sensiblen Werke der deutschsprachigen
Aufklärung mit ihrer Vorurteilskritik: Lessings “Nathan” mit seinem Plädoyer für religiöse
Toleranz, Baumgartens erste Theorie des Schönen mit dem ungewöhnlichen Namen “Ästhetik”,
die eleganten Schriften seines Freundes Moses Mendelssohn.
Der da liest und liest und seine Heimatstadt nie verlassen hat, ist als Sohn eines Sattlermeisters
nicht gerade für die akademische Laufbahn prädestiniert gewesen, aber die Talentförderung klappt
damals noch einigermaßen. Mit Mitte vierzig beginnt er nur noch für den Zettelkasten zu
est de l’argent; et ils en sont aussitôt convaincus.”
89 Textausschnitte unter:
http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/hroseminare/pol/rousseau.htm.
90 Rousseau, Du contrat social I 3 (“Du droit du plus fort”). Meine Übersetzung. Original: “Toute puissance vient
de Dieu, je l’avoue; mais toute maldie en vient aussi. Est-ce à dire qu’il soit défendu d’appeler le medecin?”
91 Als ich neben der Arbeit an dieser Vorlesung eine CD mit Musik aus einem ziemlich entlegenen Winkel Afrikas
eingeworfen hatte, konnte ich plötzlich mit dem Gedanken aufhorchen “Den Text kennst Du doch”...: “Vingt six aout
Dix-sept cent quatre-vingt neuf. Declaration des droits de l’homme et du citoyen: Tous les hommes naissent libres et
egaux en droits [...] La race n’a pas plus d’importance que la couleur des yeux. La liberté de chacun commence, où se
termine celle d’autrui.” (26. August 1798. Erklärung der Rechte des Menschen und des Bürgers. Alle Menschen werden
frei und gleich an Rechten geboren. Die Rasse hat nicht mehr Bedeutung als die Farbe der Augen. Die Freiheit jedes
Einzelnen beginnt, wo die des Anderen aufhört.”) Ich habe übrigens bisher noch nicht einmal herausbekommen können,
wo die CD (Hilaire Geoffroy, Dibidibile (Frank Productions)) genau herkommt.
92 Kant, Prolegomena A12 (Akademie-Ausgabe IV 260).
22
schreiben, und seine Kollegen vergessen ihn fast. Was ist auch aus so einem Nest im hohen
Nordosten zu erwarten? Doch zwischen 1781 und 1790, seinem 56. und seinem 66. Lebensjahr
veröffentlicht Immanuel Kant (1724 - 1804) drei dicke Bücher die allesamt das Wort “Kritik” im
Titel tragen, sowie zwei dazugehörige Einführungen - sein sogenannte “kritisches Werk”.93 Und
die Philosophie ist um einen ebenso kreativen wie systematischen Neuansatz reicher: die
sogenannte “Transzendentalphilosophie”.94
Kants Gedankengebirge wirkt einschüchternd, was nicht nur an der Komplexität der Gedanken
liegt, sondern auch am Stil: Kant muss - halb im Universitätslatein und halb im grammatisch
exzentrischen ostpreußischen Dialekt denkend - seine neuen Ideen in eine noch unfertige
Fachsprache fassen; und weil er soviel zu sagen hat, stopft er in jeden seiner Schachtelsätze ein
ganzes Argument, von dem er manchmal wohl selbst eher ahnt als weiß, wie es funktionieren soll:
wem das Herz voll ist, dem geht der Mund über.
Man kann in das Gebirge des kritischen Werks auf verschiedenen Routen einsteigen.
Traditionell versucht man sich, eventuell nach einigem Training an den “Prolegoma zu jeder
künftigen Metaphysik” zunächst am höchsten Gipfel, der “Kritik der reinen Vernunft”, begibt sich
dann über die “Grundlegung zur Metaphysik der Sitten” zur “Kritik der praktischen Vernunft” und
meistert schließlich, wenn die Puste reicht, die “Kritik der Urteilskraft”. Das entspricht dem
Tourenverlauf “theoretische Philosophie - praktische Philosophie - Ästhetik”. Für die theoretische
Philosophie gibt es mehrere Möglichkeiten. Ich möchte in den nächsten 10 Minuten zwei mögliche
Routen dafür skizzieren:
(a) Die von Kant selbst vorgeschlagene, etwas gemächlichere Route
(b) Die direttissima, also den direkten Steilweg
Die Routen tatsächlich zu gehen, dauert mehrere Semester, aber vielleicht ergeben beide Skizzen
zusammen einen allerersten Eindruck von Gelände.
Kants eigene Route führt über die erstaunliche These, dass sämtliche folgenden Sätze dieselbe
besonders interessante logische Struktur haben:
1) 7 + 5 = 12
2) Die Winkelsumme jedes Dreiecks beträgt 180°
3) In einem geschlossenen System bleibt die Menge der Materie immer gleich
4) Jedes Ereignis hat eine Ursache
93 Als Biographie gut lesbar: Arsenij Gulyga, Immanuel Kant, Frankfurt / M. (suhrkamp), 1985.
94 Text der B-Vorrede und Einleitung in die KrV unter:
http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/hroseminare/modul/krvtext.html (Text)
Eine etwas ausführliche, aber immer noch sehr skizzenhafte Einführung mit einer Sammlung von wichtigen KantZitaten unter:
http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/hroseminare/modul/werke.html;
(etwas ausführlicher: Hans-Michael Baumgartner, Kants “KrV”, Freiburg (Alber), 1985; inzwischen Standard der
ausführliche Kooperativ-Kommentar zur KrV, hg. v. Georg Mohr und Marcus Willaschek, Berlin (Akademie) 1998;
(evtl. nützliche) Analyse der Abschnitte 1 - 5 der B-Einleitung in die KrV:
http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/hroseminare/modul/analyse.html.
23
B) Ich habe eine Seele
5) Die Welt ist (un-)endlich
6) Es gibt (keine) Freiheit
A) Gott existiert.95
Was Kant an diesen Sätzen interessiert, ist, dass es sich dabei (seiner Einteilung von Sätzen
zufolge) weder um Erfahrungssätze handelt, noch um reine Begriffsanalysen, sondern eine Art
Mittelding dazwischen, das er “synthetische Sätze a priori” nennt.96
Dass die ersten vier Sätze wahr sind, meint Kant beweisen zu können. Seine Begründung ist
wieder höchst überraschend. Kant argumentiert nämlich als Informatiker: Diese Sätze, so meint er,
sind eigentlich Aussagen über die Formen, in denen wir unseren anschaulichen Input verarbeiten,
und zwar jeden anschaulichen Input. Deshalb, und nur deshalb, kann man sie allgemein beweisen:
Hat das Programm einen bestimmten bekannten Aufbau, so wird man nämlich allgemeine
Aussagen über die Struktur des Output machen können, ohne dass man sich die konkreten als
Input eingefütterten Daten im einzelnen ansehen muss.97 Ganz entfernt hat das wieder mit
Berkeleys Ideengrammatik zu tun.
Von den zweiten vier Sätzen (wobei 5) und 6) streng genommen sogar jeweils zwei Sätze sind)
meint Kant beweisen zu können, dass man sie nicht beweisen kann.98 Die Begründung lautet sehr
grob: Nur wenn es in diesen Sätzen ebenfalls um die Verarbeitung von anschaulichem Input ginge,
hätte man vielleicht eine Chance. Aber die Sätze, um die es geht, sind Sätze, in denen es allesamt
um etwas geht, das man prinzipiell nicht sehen kann: die Seele, die Welt als Ganzes, Freiheit und
Gott. Soviel zu Kants eigener Route, dem Aufbau der Kritik der reinen Vernunft.
Und nun zur direttissima. Ich skizziere sie deshalb, weil Sie eigentlich gut darauf vorbereitet
sind.
1. Stellen Sie sich einen vernünftigen Menschen vor, der Lockes Versuch kennt, zwei Sorten von
Eigenschaften der Dinge zu unterscheiden: Eigenschaften, die ihnen selbst ähnliche ideas
hinterlassen, und solche die ihnen unähnliche ideas hinterlassen.
95 Die Sätze 1) und 2) werden in der “Transzendentalen Ästhetik” der KrV untersucht, und zwar 1) in Verbindung
mit der Zeit und 2) in Verbindung mit dem Raum. Die Sätze 3) und 4) werden in der “Transzendentalen Analytik”
untersucht, und zwar 3) als die erste, 4) als die zweite Analogie der Erfahrung. Die zweite Vierergruppe bildet den
Untersuchungsgegenstand der “Transzendentalen Dialektik; B) ist Thema des Paralogismus-Kapitels, 5) die erste
und 6) die dritte Antinomie und A) wird im letzten Großabschnitt der Transzendentalen Dialektik untersucht.
96 Vgl. B-Einleitung in die KrV, Abschnitte 4 und 5 (B12ff).
97 Dies ist eine Möglichkeit, den berühmten Satz KrV B XV (Akademie-Ausg. III 11f) von der “kopenijanischen
Wende” in der Philosophie zu lesen, der lautet: “Man versuche es [...] einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der
Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem [sic]
Erkenntnis richten...”.
98 Besonders seine Argumentation gegen den ontologischen Gottesbeweis (KrV B 626, 627 (AA III 401)) scheint
mir ein Volltreffer zu sein, wie er nur selten in der Philosophiegeschichte gelandet wurde. Allerdings wird sie
meistens missverstanden: Kant behauptet nicht, dass “Sein” kein Prädikat ist, sondern lediglich, dass “Sein” kein
reales, d.h. begriffserweiterndes Prädikat ist!
24
2. Stellen Sie sich vor, Sie kennen Berkeleys Einwand:
"[Ein Vergleich zwischen der Beschaffenheit der Dinge an sich einerseits und meinen ideas
davon andererseits] ist unmöglich. Denn auch durch das beste Mikroskop ist nie zu sehen, wie
die Oberfläche des Würfels an sich ist, sondern ich bekommen nur wieder eine idea davon."
3. Stellen Sie sich vor, Sie kennen Berkeleys persönliche Konsequenz, die ja lautet: “Dann gibt es
eben keine Dinge, sondern nur mentale Subjekte und ideas.”
4. Stellen Sie sich schließlich vor, Sie finden Berkeleys Einwand richtig, aber Sie sehen plötzlich:
seine Reaktion ist völlig überzogen. Denn was liegt näher, als zu sagen?:
“Ich kann zwar tatsächlich die Beschaffenheit meiner ideas niemals mit der Beschaffenheit der
Dinge vergleichen, wie sie an sich sind. Auch das beste Mikroskop liefert bringt wieder nur mir
das Ding zur Erscheinung. Aber schon wenn ich so rede, setze ich doch voraus, dass es das
Ding gibt. Ich lerne es eben bloß nie kennen, wie es an sich ist, sondern immer nur, wie es mir
erscheint - auch wenn ich als Wissenschaftler durchs Mikroskop schaue!”99
Soviel zur direttissima.
Um die Wirkung zu verstehen, die Kants “Kritik der reinen Vernunft” hatte, lohnt es sich, sich
klar zu machen, warum ich die Sätze A) und B) nicht neu etikettieren musste: Sie kennen sie
bereits als die vorrangigen Beweisziele von Descartes’ Meditationen. Von diesen und ähnlichen
Sätzen der klassischen Metaphysik behauptet Kant nun nicht nur, dass alle bisherigen
Beweisversuche dafür defizitär sind. Er glaubt vielmehr, beweisen zu können, dass man diese Sätze
nie wird beweisen können, und zwar selbst falls sie wahr sind - was wiederum auch nicht
auszuschließen ist.
Glaubt man, dass Kants Begründungen alle stimmen - allerdings auch nur dann! - so kann man
auf zweierlei Weise reagieren. Die erste Reaktionsmöglichkeit ist fachliche
Weltuntergangsstimmung. Man sieht das am Beispiel von Kants Freund Moses Mendelssohn, der
nach dem Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft vom “alles zermalmenden” Kant sprach.100
Man kann das Ganze aber auch positiv sehen, und das tut Kant selbst, wenn er schreibt:
Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen...
101
Soll heißen: Die Vernunft soll sich eben nicht übernehmen, und versuchen, Sätze zu beweisen, die
sie nicht beweisen kann (“Kritik” heißt soviel wie “Abstecken des zumutbaren
Aufgabenbereiches”). Aber was nicht auszuschließen ist, daran kann man ja immer noch glauben,
auch wenn man es nicht beweisen kann. Ganz besonders wichtig ist Kant dabei der Glaube an die
Freiheit (in einem stärkeren Sinn, als Hume an sie glaubte 102 ). Interessanterweise meint er, dass der
99 Diese Interpretation stützt sich auf Sätze wie B-Vorrede in die KrV, B XXVI: “Gleichwohl wird [...]
vorbehalten, daß wir eben dieselben auch als Dinge an sich selbst, wenn nicht gleich erkennen, doch wenigstens
müssen denken können. Denn sonst würde der ungereimte Satz daraus folgen, daß Erscheinung ohne etwas wäre,
was da erscheint.”
100 Vgl. Willaschek / Mohr, Einleitung, S.5.
101 Kant, Kritik der reinen Vernunft B XXX (Akademie-Ausgabe III 19).
102 Vgl. KrprV A174 (AA V 97) - “Bratenwender”.
25
Impuls zum Glauben an die starke Freiheit nicht aus der theoretischen, sondern der praktischen
Philosophie stammt. Die Idee ist ganz einfach, aber so wichtig, dass ich sie doch kurz skizzieren
will. Sie ist bekannt unter dem Schlagwort “Du kannst, denn Du sollst”:
Wenn es eine absolut gültige moralische Regel gibt, dann ist es meine Pflicht, mich nach ihr zu
richten. Angenommen nun, es gibt eine solche Regel, aber ich verstoße zu einem Zeitpunkt t
gegen sie. Später wird mir bewußt, dass ich zu t nicht getan habe, wozu ich eigentlich eine
Pflicht gehabt hätte. Es ist klar: Wenn ich zu t die Pflicht hatte, mich nach der Regel zu richten,
so muss das auch gekonnt haben. Denn ich kann nur eine Pflicht haben zu etwas, was ich kann.
Was mich überfordert, kann auch keine Pflicht für micht sein. Also konnte ich mich zu t nach
der Regel richten, obwohl ich es nicht getan habe. Offensichtlich konnte ich aber auch gegen die
Regel verstoßen, denn ich habe ja gegen sie verstoßen. Das heißt aber nichts anderes, als dass
ich wohl zu t die Freiheit hatte, mich danach zu richten oder nicht.103
Tatsächlich meint Kant, zeigen zu können, dass es genau eine absolut gültige moralische Regel
gibt, den sogenannten kategorischen Imperativ.104 Sie werden sich im Modulkurs Ethik Ihre eigene
Meinung darüber bilden können. Deshalb hier dazu nichts weiter als eine ernst gemeinte Warnung:
Es handelt sich beim kategorischen Imperativ nicht um die sogenannte Goldene Regel “Was Du
nicht willst, was man Dir tu, das füg auch keinem andern zu”.105
2.8. Das 19. Jahrhundert
2.8.1. Überleitung
Weil Kant, ohne viele Namen zu nennen, auf alles vor ihm in der Neuzeit Dagewesene reagiert, hat
man es sich im späteren 19. Jahrhundert in Deutschland etwas angewöhnt, die ganze
Philosophiegeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts als bloße Vorbereitung auf Kant anzusehen
und davon auszugehen, dass, was so komplex ist wie die Theorie von Kants kritischem Werk, gar
nichts anders als wahr sein kann (ein wenig Rätselhaftigkeit schadete dabei nichts, nützte eher; gab
es doch den Interpreten zu tun).
Kants unmittelbare Nachfolger zu Beginn des 19. Jahrhunderts haben viel vernünftiger reagiert.
Für sie war Kants Vorschlag einer von vielen, einer, gegen den es Einwände gab, und einer, über
den man hinausgehen konnte. Das mit den Gottesbeweisen war nicht so schlimm. Aber man fühlte
sich nicht wohl mit der Unerreichbarkeit des Dinges an sich, das - so verstand man Kant zu Recht
103 Vgl. KrprV A 171, 283; AA V 95f; KrprV A 283, AA V 159.
104 Kant argumentiert dafür in der “Grundlegung zur Metaphysik der Sitten” und in der “Kritik der praktischen
Vernunft”. Die bekanntesten Formulierungen des kategorischen Imperativs (es ist immer derselbe, und es gibt nur
einen) lauten: “handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines
Gesetz werde” GMS 52 (AA IV 421); “handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum
allgemeinen Naturgesetze werden sollte.” (ebd.); "Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als
Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne" (KrprV hat (A 54)); “ Handle so, daß du die Menschheit,
sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel
brauchest.” GMS 67f (AA IV 429).
105 So Kant selbst GMS, AA 430, Fußnote.
26
oder zu Unrecht - gleichsam nur im Dunkeln von außen ans Fenster klopfte, ohne dass man es je
zu Gesicht bekam.106
Ich habe für das 19. Jahrhundert nicht mehr viel Zeit, und will mich daher für die ganz großen
Entwicklungslinien darauf beschränken, zu zeigen, dass sie letztlich allesamt eines gemeinsam
haben, das das 19. Jahrhundert auch in der allgemeinen Geschichte kennzeichnet: eine gewaltige
Dynamisierung, oft in Gestalt eines - heute etwas unheimlichen - Glauben an den nicht
aufzuhaltenden Fortschritt der Menschheit zum Besseren.
2.8.2. Von Hegel zu Marx
Schon Kants herrlicher Vierseiter “Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?” von 1784,107
in dem er seine Epoche fast schon im Rückblick auf die Formel bringt, analysiert im Grunde
Geschichte als Entwicklungs-Prozess zum Besseren, in diesem Fall als “Ausgang aus der
selbstverschuldeten Unmündigkeit”.
Diesen Gedanken von der Geschichte als Entwicklungsprozess wird der vermutlich leicht
schwäbelnde Berliner Philosophieprofessor Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 - 1831) in den
ersten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ganz anderen Dimensionen weiter ausführen. Dabei
steht sein ganzes Philosophieren unter Spannung, drängt nach vorne, auch in der theoretischen
Philosophie tritt an die Stelle des Denkergebnisses der Gedankengang. So ein Gedanken gang mag
damit beginnen, dass man sich eine Position wie die folgende in allen ihren Konsequenzen zu Ende
denkt (heute würde man vielleicht sagen: “dekonstruiert”):
“Jedes Ding ist an sich eine Einheit; erst am Subjekt brechen sich die Eigenschaften (wie
Lichtstrahlen an einem Prisma)”
Dabei stellt sie sich als unbefriedigend heraus. Das motiviert die Beschäftigung mit der
entgegengesetzten Position, also mit der These:
“Die Einheit jedes Dinges entsteht erst dadurch, dass ein Subjekt viele Eigenschaften als
Eigenschaften eben eines Dinges zusammenfasst”
106 Vgl. zusammenfassend Mohr / Willaschek, Einleitung 1.4. (S.29 - 35). Das größte Problem besteht darin, dass
Kant die Kausalbeziehung - ganz im Sinne der Ideengrammatik - in der 2. Analogie als Beziehung zwischen
“Erscheinungen” erklärt, und meint, über die Beziehung zwischen Ding an sich und Erscheinung könne man gar
nichts sagen. Was soll aber “Erscheinen” anderes sein als eine Kausalbeziehung (Kant bestätigt das selbst in KrV
B344)? Insgesamt mag man sich wundern, ob die Rede von einer Trennung von Ding an sich einerseits und
Erscheinung andererseits überhaupt von Kant beabsichtigt ist. Schließlich kann man den Ausdruck “Ding an sich”
auch als Abkürzung für “[das] Ding [, so wie es] an sich [ist]” lesen. Das passt gut zur B-Vorrede (“dieselben..
Dinge”!). Doch Kant selbst leistet dem Gedanken von zwei verschiedenen Sorten von Gegenständen, den Dingen an
sich einerseits und den Erscheinungen andererseits, leider umso mehr Vorschub, je weiter der Text der KrV geht
(vgl. zu den problematischen Folgen, die das für die 1. Antinomie hat, mein “Prädikatnegation als Schlüssel zum
Verständinis der 1. Antinomie in Kants KrV”, erscheint demnächst in den Akten des 4. Internat. Kant-Kongresses,
Berlin 2000. Die schönste analytische Kritik an Kant ist m.E. Schopenhauers Anhang zu Band I seiner “Welt als
Wille und Vorstellung”.
27
Das bleibt, zu Ende gedacht, ebenso unbefriedigend. Doch erst wenn man diesen Weg gegangen
ist, ist man bereit für den in sich gespannten Gedanken, dass ein jedes Ding an sich sowohl Einheit
als auch Vielheit von Eigenschaften ist. Und das ist noch ein vergleichsweise einfaches Beispiel,
ziemlich am Anfang der “Phänomenologie des Geistes” 108 und verglichen mit der “Wissenschaft
der Logik” noch geradezu anschaulich. Das alles präsentiert Hegel in kurzen Sätzen ohne jedes
Fremdwort, aber unter voller Ausnutzung der metaphorischen Ressourcen des Deutschen bis an
die letzten Grenzen des sprachlich Kommunizierbaren - und oft genug darüber hinaus.
Natürlich findet sich der Gedanke von der unaufhaltsamen Dynamik der Geschichte in extremer
Ausprägung auch bei Hegels wichtigstem Schüler Karl Marx. Dabei kann man sich streiten mag,
ob Marx sein ganzes Leben lang Philosoph im engeren Sinne bleibt oder nicht langsam zum - mehr
oder weniger guten - Wirtschaftswissenschaftler, Politaktivisten und Sektengründer mutiert. Einer
der Möbelpacker, die mir vor einem Jahr geholfen haben, hier mein Büro einzurichten, fragte mich,
mit was für Leuten wir uns denn hier so beschäftigen. Ich nannte unter anderem Marx und
kassierte die Antwort: “Der war Philosoph? - ich dachte immer, der war Kommunist!”; nach etwas
mehr Marx-Lektüre habe ich diese Antwort schätzen gelernt. Aber schätzen gelernt habe ich auch
die jugendlich-romantischen Manuskripte des 26-jährigen Marx von 1844, noch ohne
menschenverachtende Klassenkampf-Theorie, 109 aber mit seiner Absage an die Reduktion des
einen Menschen Umgebenden auf seinen Marktwert, die - als “Entfremdung” - auch immer
Selbstreduktion ist:
Das Privateigentum hat uns so dumm und einseitig gemacht, daß ein Gegenstand erst der unsrige ist, wenn wir ihn
haben, (er) also als Kapital für uns existiert, oder von uns unmittelbar besessen, gegessen, getrunken, an unserem
Leib getragen, von uns bewohnt etc., kurz gebraucht wird. [...][Aber alle] menschlichen Verhältnisse zur Welt,
Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen, Denken, Anschauen, Empfinden, Wollen, Tätigsein, Lieben, [...]sind in
ihrem [...] Verhalten zum Gegenstand die Aneignung desselben [...] 110
2.8.3. England im 19. Jahrhundert: Mill und Darwin
Aber in England, wo Marx ja einen großen Teil seines Lebens verbracht hat, ist auch der größte
dort einheimische Philosoph vom Fortschrittsglauben gepackt. Nach Marx’ Klassifikation wäre
John Stuart Mill vermutlich ein typisches Mitglied der bürgerlichen Oberschicht. Mill selbst hat
sich eher in Opposition zu dieser Schicht sehen können, aus der er kam, ein Freidenker, der
107 Im Internet u.a. unter: http://www.netzhaus.ch/kantcd/aufklaer.htm
108 Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Kap. II (3. Band der Werkausgabe bei suhrkamp (Frankfurt), S. 99 101).
109 Es gelingt mir - im Gegensatz zu vielen anderen - nicht, am von Marx zusammen mit Engels 1848 verfassten
Kommunistischen Manifest mit seiner primitiven Geschichtsdeutung und die organisierte Verketzerung
Andersdenkender in den Literaturtips des 3. Abschnitts ein Dokument einer großen allgemein-menschlichen Utopie
zu sehen.
110 Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), Heft III, (auch veröffentlicht als „Nationalökonomie
und Philosophie“), Blatt VI / VII. Text nach: Karl Marx, Die Frühschriften, hg. v. Siegfried Landshut, Stuttgart (Kröner)
1971, 223-316 (vgl. S.240), abgeglichen mit Bd. I 2.1, 257ff der MEGA (Karl Marx Friedrich Engels Gesamtausgabe,
hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KP der UdSSR und vom Institut für Marxismus-Leninismus beim
ZK der SED, 1. Abteilung, Bd. 2, hg. v. Inge Taubert u.a., Berlin (Dietz) 1982). Vgl. auch: http://www.unirostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/hroseminare/pol/marx.htm
28
vehement für Meinungsfreiheit eingetreten und die Forderung danach philosophisch begründet
hat, 111 und der auch mal für das Verteilen von Flugblättern mit Informationen zur
Geburtenkontrolle ins Gefängnis ihrer Majestät ging. 112
Seine theoretische Philosophie wird - wenigstens in Deutschland - völlig unterschätzt. Dabei hat
er immerhin das einzige Kriterium für das Vorliegen einer Kausalbeziehung geliefert, das praktisch
genug ist, um noch heute von jedem Staatsanwalt verwendet zu werden (auch wenn der den
Namen Mill nie gehört hat). 113
Seine moralischen und politischen Ansichten begründet Mill mit einer Ethik, die völlig anders ist
als die Ethik Kants, nämlich mit seiner Version des sogenannten Utilitarismus. Während es - sehr
verkürzt gesagt - bei Kant vor allem darauf ankommt, ob eine Handlungsregel einen guten Willen
ausdrückt, 114 kommt es für Mill vor allem darauf an, was eine Handlungsregel für Folgen hat.
Dabei sind Handlungsregeln alein damit zu rechtfertigen, dass sie möglichst es vielen Menschen
gut gehen lassen oder zumindest unnötiges Leid verhindern. 115 Alle Rede von Rechten und
Pflichten muss sich an diesem Maßstab messen lassen. Dabei ist mit “gut gehen” nicht nur die
Befriedigung von Grundbedürfnissen gemeint, sondern auch die Beförderung der “permanent
interests of man as a progressive being”. 116 Womit wir wieder beim Fortschritt wären:
... Die meisten tatsächlichen Übel in der Welt lassen sich beseitigen, und werden, wenn sich die menschlichen
Angelegenheiten weiter zum Guten verändern, am Ende in enge Grenzen zurückgedrängt werden können. Die Armut,
insofern sie Leid mit sich bringt, kann völlig ausgemerzt werden durch weises Vorgehen der Gesellschaft. [...] Sogar
der widerspenstigste aller Gegner, die Krankheit, kann durch gute körperliche und moralische Erziehung in ihrem
Ausmaß unendlich zurückgedrängt werden [..], während der Fortschritt der Wissenschaft für die Zukunft einen noch
direkteren Sieg über diesen abscheulichen Feind verspricht. [...] Was die Wechselfälle des Schicksals und andere
Enttäuschungen im Zusammenhang mit den irdischen Umständen angeht, so sind sie in erster Linie entweder das
Ergebnis von großer Unvernunft, von unangemessenen Wünschen, oder von schlechten oder unvollkommenen
gesellschaftlichen Institutionen. All die großen Quellen [...] des menschlichen Leidens sind in großem Maße, viele
von ihnen vollkommen, durch menschliches Planen und Engagement besiegbar, [...] auch wenn ihre Beseitigung
schmerzlich langsam vonstatten geht...” 117
111 So in seinem berühmten Essay “On Liberty”.
112 Vgl. Karl Britton, John Stuart Mill, London 1953, S.17f .
113 Und zwar den Test mit kontrafaktischen Aussagen (“counterfactuals”) im “System of Logic” III 5, der seit ca.
1860 als Äquivalenztheorie in der deutschsprachigen Fachliteratur zum Strafrecht bekannt ist (vgl. SchönkeSchröder, StGB-Kommentar, Vorbemerkung zu §§13ff Randnummer 73).
114 Vgl. Kant GMS 1 (Beginn des Haupttextes) (AA IV 393): “Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch
außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter
Wille”.
115 Vgl. Mill, Utilitarianism, v.a. Kap.2.
116 Mill, On Liberty I. Vgl. auch:
http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/hroseminare/pol/mill.htm
117 Mill, Utilitarianism ch. II. Vgl. J.S. Mill and J.Bentham, Utilitarianism and Other Essays, hg. v. Alan Ryan, London
(Penguin) 1987, S.286f. , meine Übersetzung. Original: ...most of the great positive evils of the world are [...] removable,
and will, if human affairs continue to improve, be in the end reduced within narrow limits. Poverty, in any sense implying
suffering, may be completely extinguished by the wisdom of society [...]. Even that most intractable of enemies, disease,
may be indefinitely reduced in dimensions by good physical and moral education [...], while the progress of science holds
out a promise for the future of still more direct conquests over this detestable foe. [...] As for vicissitudes of fortune, and
other disappointments connected with worldly circumstances, these are principally the effect either of gross imprudence,
of ill-regulated desires, or of bad or imperfect social institutions. All the grand sources [...] of human suffering are in a
great degree, many of them almost entirely, conquerable by human care and effort; [...] though their removal is grievously
slow...”
29
Fast zeitgleich findet ebenfalls in England eine weitere wissenschaftliche Revolution statt, die tiefe
Auswirkungen auf das menschliche Selbstverständnis und damit auch auf die Philosophie hat (es
soll nicht die letzte sein, aber es ist die letzte im 19. Jahrhundert). Auch diese Revolution hat eine
Dynamisierungstheorie zum Ergebnis: Charles Darwin kommt zu einer plausiblen Erklärung der
verschiedenen Schnabelform von Finken auf den Galapagosinseln, indem er voraussetzt, dass sich
Tierarten langsam entwickeln und dass die - zuvor nur durch göttlichen Plan erklärbare - Ordnung
in der belebten Natur wahrscheinlich das Ergebnis von ewig unabgeschlossenen und ziellosen
Anpassungsprozessen ist. 118
2.8.4. Von Schopenhauer zu Nietzsche
Zur gleichen Zeit wie der berühmte Hegel kündigt in Berlin der junge Privatdozent Arthur
Schopenhauer (1788 - 1860) seine Vorlesung an. Es kommt kein Mensch, und Schopenhauer
geht schmollend nach Frankfurt und schreibt bis zu seinem Tod 1860 zunächst ziemlich unbeachtet
(Geld ist genug da) an immer umfangreicheren Zusätzen zu seinem Jugendwerk “Die Welt als
Wille und Vorstellung”. 119 Schopenhauer zu lesen ist übrigens ein reines Stil-Vergnügen, wenn
man von den Schimpftiraden gegen Hegel absieht, die ab der 10. Wiederholung etwas ermüden.
Schopenhauer sieht sein Werk als Weiterentwicklung der Philosophie des von ihm kritisch
verehrten Kant. Schopenhauer dynamisiert das Ding an sich.120 Denn er ist der Ansicht, was da zur
Erscheinung gebracht wird, ist eigentlich kein Ding, sondern „Wille“ - und das schon in der
Bewegung der Magnetnadel nach Norden oder dem Zu-Boden-Fallen eines Steines.121
Schopenhauer treibt die Einfühlung in die unbelebte Materie ins Extrem und bildet damit die
exakte Gegenposition zu Hume, der jede Einfühlung verweigert.
Menschen wird der Wille in ihnen unmittelbar bewusst. Das ist schlimm, denn dadurch sind sie
Getriebene, wollen immer, was sie nicht haben. Der erlösende endgültige Verlust des Bewußtseins
beim Tod und damit das Ende des Individuums, das "Zerfließen ins Nichts"122, von dem er
überzeugt ist, wertet er als Glücksfall: Schopenhauer ist der erste dezidiert nichtchristliche
Philosoph in unserer Geschichte, und seine (unsinnigerweise oft als „Pessimismus“ etikettierte)
118 Zum gegenwärtigen Stand der (erheblichen) Weiterentwicklung dieser Theorie inzwischen ein Klassiker:
Richard Dawkins, The Selfish Gene, dt. als “Das egoistische Gen”.
119 Vgl. Weischedel op. cit., S.221.
120 Johann Gottlieb Fichte (1762 - 1814), der zusammen mit Hegel und Friedrich Wilhelm Schelling (1775 - 1854)
wieder so ein Dreigestirn bildet - das des sogenannten “deutschen Idealismus” - hatte etwas Ähnliches schon einige Jahre
vor Hegel mit dem Subjekt getan, was nach Kants Kritik am Subjekt als Ding in Form einer Seele nahelag, und hatte das
“Ich” zu einer Art Handlungsstruktur erklärt. Das ist ein kühner und interessanter Schritt, der aber ansonsten nichts daran
ändert, dass Fichte zu den eher unsympathischen Typen der Philosophiegeschichte zählt: so gehört nationalistische und
antisemitische Hetze gehört ebenso zu seinem Repertoire, wie auch, jeden, der seine befremdlichen Thesen nicht teilt,
von vornherein als schlechten und primitiven Menschen abzustempeln. Lesbarer Originaltext: Entwurf der Einführung in
die Wissenschaftslehre im Meiner-Verlag. Sek.lit.: Peter Rohs, Fichte, München (Beck) 1991.
121Schopenhauer, WWV I, 2 §23 und §24.
Text unter: http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/veranst/nietzsche/wwv2§23f.html.
122Schopenhauer, WWV I,4 Schlußparagraph (§71).
Text unter: http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/veranst/nietzsche/wwv4§652.html.
30
Wertung des Weltgeschehens übernimmt er explizit aus der Philosophie des alten Indien123 - oder
jedenfalls dem, was er dafür hält. Glücklich ist denn auch, wem es gelingt, schon zu Lebzeiten
zeitweise zur Selbsterlösung zu gelangen: das ist ein Zustand des rein passiven Schauens ohne
jedes Interesse, dem man in der meditativen Versenkung, aber auch beim Kunstgenuss, etwa beim
Betrachten eines Stillebens nahekommen mag.124 Dass Kant das Schöne gerade als Objekt des
interesselosen Wohlgefallens charakterisiert hatte, passt da ins Bild.125
Von Schopenhauer ausgehend, ist es eigentlich leicht zu beschreiben, was Friedrich Nietzsche
(1844 - 1900) eigentlich in seinen letzten Schriften aus den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts über
tut 126 (wobei allerdings viel von Nietzsches Raffinement, kulturpsychologischem Scharfblick unter
den Tisch fällt). Den Schritt vom Ding zum Willen, zum Tätigsein, zur Kraftäußerung vollzieht er
mit Begeisterung und Vehemenz nach; gegen Schopenhauers Wertung rebelliert er mit
beispielloser Wortgewalt, wie es nur ein zuvor fanatischer Anhänger 127 und wohl auch, wie es nur
ein fast schon Wahnsinniger tun kann: So kann man nicht leben, dagegen muss man „mit dem
Hammer philosophieren“,128 diese Werte sind nichts wert, es gilt sie „umzuwerten“.129 Steht nicht
Schopenhauer doch in einer Linie mit dem Christentum und seiner Forderung nach
Selbstverkleinerung durch Mitleid,130 seiner „Sklavenmoral“?131 Ist er nicht wie auch Kant einer
dieser „Hinterweltler“,132 einer, der die eigentliche Welt hinter die Erscheinung legt, wo wir doch
mitten drin sind? Ist er nicht auch wie Kant und die Naturwissenschaftler mit ihrem
Objektivitätsfetischismus einer, die immer nur interesselos schauen wollen und den Dreh zur Tat
nicht kriegen?133 Muss der Mensch nicht von alldem weg, sich zu einem freier auftretenden Wesen
entwickeln, das zu seinem interessegeleiteten Blick, zu seinen Vorurteilen, seinem
123 Vgl. z.B. die Vorrede der 1. Aufl. der WWV I (1818).
124 Schopenhauer WWV I, 3. Buch, v.a. §38;
Text unter: http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/veranst/nietzsche/wwv3§38.html.
125 Kant, KdU 16, AA V 211 Text unter:
http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/veranst/nietzsche/kdu.html.
126 Für einen Leseeindruck aus “Also sprach Zarathustra” vgl.:
http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/veranst/nietzsche/Zara1.html
http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/veranst/nietzsche/zar2neu4.html.
Der Text ist an der Grenze zwischen Philosophie und Poesie angesiedelt, mit allem Größenwahn, bewusst ein neues
Evangelium zu schaffen, und wohl der einzige Text der Philosophiegeschichte, zu dem es Richard Strauss gelingen
konnte, eine heute vor allem aus der Werbung für Warsteiner Pils bekannte symphonische Dichtung zu
komponieren. Dazu, dass diese - ebenso wie Bob Marleys “Redemption Song” - auf dem D7-Akkord enden muss,
ließe sich viel sagen.
127 Noch stark unter dem Einfluss Schopenhauers steht z.B. die 2. Unzeitgemäße Betrachtung “Arthur
Schopenhauer als Erzieher”.
128 So im Titel einer der Letzten und schon hart an der Grenze zum Wahn formulierten Schriften “GötzenDämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert”, enthalten in Bd. VI der “Kritischen Studienausgabe”,
hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München / Berlin u.a. (dtv / de Gruyter), 19882 [KSA].
129 Vgl. z.B. ebd. Vorwort und die vergleichsweise argumentativste Schrift des späten Nietzsche, “Zur Genealogie
der Moral” (i.f. ZGdM) [in Bd. V der KSA], I 14 - 16.
130 Vgl. zu Schopenhauers Ethik die Ausschnitte aus der Preisschrift zur Grundlegung der Moral unter:
http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/veranst/nietzsche/wwv3§38.html.
131 ZGdM I 4 - 12.
132 Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1. Teil, Abschnitt “Von den Hinterweltlern”.
133 ZGdM III 22 - 24.
31
interpretierenden Umgang mit der Welt steht? 134 Aber - ist das dann nicht schon eine
Weiterentwicklung zu einer Art neuen Art, einem Übermenschen?135
Dieser Mensch der Zukunft, der uns ebenso vom bisherigen Ideal erlösen wird, als ... vom großen Ekel, vom Willen
zum Nichts ..., dieser Glockenschlag des Mittags und der großen Entscheidung, der den Willen wieder frei macht, der
der Erde ihr Ziel und dem Menschen seine Hoffnung zurückgiebt, dieser Antichrist und Antinihilist, dieser Besieger
Gottes und des Nichts - er muss einst kommen... Aber was rede ich da? Genug! Genug! An dieser Stelle ziemt mir
nur Eins, zu schweigen: ich vergriffe mich sonst an dem, was einem Jüngeren allein freisteht, einem „Zukünftigeren“,
einem Stärkeren, als ich bin, - was alein Zarathustra freisteht, Zarathustra dem Gottlosen... 136
Ungefähr zur selben Zeit entwickelt Gottlob Frege (1848 - 1925), ein unbekannter
Mathematikprofessor in Jena, eine Technik, Argumente mit Diagrammen zu analysieren, die ein
wenig an Schaltpläne erinnern137 (ich hatte davon schon in der Sitzung über Logik erzählt). Auch
er glaubte an den Fortschritt - nämlich den, den seine neue Logik bringen sollte. Wären sich
Nietzsche und Frege einmal begegnet - sie hätten sich nichts, aber auch gar nichts zu sagen gehabt.
Daran sieht man, von welcher Spannbreite aus, aber auch unter welcher Spannung sich die
Philosophie im 20. Jahrhundert weiterentwickeln wird. Aber das ist nun endgültig eine andere
Geschichte. Vielen Dank.
134 ZGdM Vorrede 1, I 13, III 12.
135 Vgl. z.B. “Also sprach Zarathustra”, 1. Teil, Zarathustras Vorrede, Abschnitt 4.
136 ZGdM II 24 / 25.
137 Gottlob Frege, Begriffsschrift des reinen Denkens [1879].