Was ist Epilepsie?

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Was ist Epilepsie?
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Was ist Epilepsie?
Autor: Stefan Heiner, Original 1996, März 2008
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Zusammenfassung
• Epilepsie bezeichnet eine Vielfalt von Zuständen und Krankheiten, die zu epileptischen Anfällen
führen.
• Ein einzelner epileptischer Anfall oder epileptische Reaktionen nach Gelegenheitsursachen
begründen keine Epilepsie.
• Erst das wiederholte Auftreten epileptischer Anfälle berechtigt zur Diagnose einer Epilepsie.
• Epilepsie ist der Oberbegriff für eine Gruppe von Syndromen und Krankheiten, die, anlagebedingt
oder aufgrund von Schäden oder Erkrankungen des Gehirns, zu außergewöhnlichen Entladungen in
umschriebenen Arealen, oder gleichzeitig in beiden Hälften des Gehirns führen.
• Die Verwendung des Begriffs Epilepsie im Zusammenhang mit rechtlichen und sozialen
Tatbeständen verlangt eine an den medizinischen Erkenntnissen ausgerichtete Differenzierung.
„Unter Epilepsie versteht man alle Zustände und Krankheiten, die wiederholt zu epileptischen Anfällen
führen“ (Epilepsie-Bericht ´85)
Das Dilemma eines überkommenden Begriffs
Das aus dem altgriechischen Verb „epilambanein“ abgeleitete Substantiv „Epilepsie“ bedeutet soviel wie
„Überraschtsein“, „Ergriffensein“. Für die damit gemeinte Krankheit sind „ungezählte“ weitere Namen überliefert,
von denen heute noch viele gebräuchlich sind. Die meisten nehmen auf das Auftreten des einzigen sichtbaren
Erkrankungszeichens, die epileptischen Anfälle, Bezug.
Die Vielzahl der Bezeichnungen spiegelt die Vielfalt der Erscheinungsformen von Epilepsien wieder. Sie hat aber
auch zu tun mit angenommenen Ursachen („Gewalt Gottes“) und Auslösern („Mondkrankheit“), mit
Behandlungsversuchen („Valentinskrankhiet“) und Wirkungen auf die Gemeinschaft („morbus comitialis“). Das
Bestreben, der Krankheit einen an Epilepsie gerade nicht erinnernden Namen („Ding“, „Wesen“) zu geben, mag
darüber hinaus eine Rolle spielen.
Die mit „Epilepsie“ bezeichnete Gruppe von Krankheiten entzieht sich einer umfassenden Definition. Zudem steht
in Frage, ob das Bestreben, „Epilepsie“ als eine Krankheitseinheit zu definieren, nicht nur falsch ist, sondern nicht
letztlich den Betroffenen selbst schadet. Es tendiert unweigerlich dazu, die Vielfalt der mit „Epilepsie“ bezeichneten
Zustände zu übersehen und vergessen zu machen. Diese können von milden und schweren, von mit oder ohne
Krämpfe, Bewusstseinsstörungen, Sturz, einhergehen, seltenen oder häufigen Anfällen, von völliger Anfallsfreiheit
bis zum lebensbedrohlichen Status epilepticus, von einer relativ kurzen Erkrankung bis zu lebenslanger
chronischer Krankheit reichen.
Heute sind verschiedene Bemühungen zu verzeichnen, den nur scheinbar einheitlichen Begriff aufzubrechen, ihn
zu „pluralisieren“ (Epilepsien) und ihn nicht als Bezeichnung für eine einheitliche Krankheit zu verwenden.
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So ist etwa in englischsprachigen Veröffentlichungen die Feststellung anzutreffen, Epilepsie sei „not a disease“
(keine Krankheit), sondern eine „seizure disorder“, eine durch epileptische Anfälle charakterisierte Störung. Dabei
geht es nicht darum, den Begriff „Epilepsie“ zu ersetzen, sondern ihn als Obergriff für eine Vielfalt von Störungen
und Erkrankungen zu verstehen, die durch das Syndrom epileptischer Anfälle miteinander verbunden sind.
„epileptisch“
Als „epileptisch“ werden Anfälle nur bezeichnet, wenn sie vom Gehirn (Cerebrum) ausgehen. „Zerebrales
Anfallsleiden“ ist indessen kein wirkliches Synonym für Epilepsie, da etwa synkopale Anfälle (zerebrale
Zirkulationsstörungen) oder narkoleptische Anfälle (Schlafanfälle) auch zerebraler, nicht aber epileptischer Natur
sind; denn sie kommen nicht durch Entladungen von Nervenzellen zustande.
Bei einem epileptischen Anfall handelt es sich um die entweder nur subjektiv fühlbaren oder auch von Dritten zu
beobachtenden seelisch-körperlichen Zeichen von überschießenden bioelektrischen Entladungen, die eine Gruppe
von Hirnzellen oder die gesamte Hirnrinde erfasst. Mit dem Ausdruck „überschießend“ ist eine Entladung gemeint,
die das sonst herrschende Gleichgewicht der interzellulären Kommunikation aufhebt. Als „epileptisch“ werden also
sowohl die Anfälle, wie die ihnen zugrunde liegenden auch hypersynchron genannten Entladungen bezeichnet.
Damit ist noch nicht erfasst, was zu den plötzlichen Entladungen geführt hat. Die Frage nach den Ursachen,
Anlässen und Anstößen ist jedes Mal neu zu stellen.
„Epilepsie“
„Epilepsie“ gilt heute als Oberbegriff für alle mit wiederholten epileptischen Anfällen einhergehende Krankheiten
und Syndrome.
Epilepsie ist bestimmt durch:
• das klinische (sichtbare, mitteilbare) Auftreten epileptischer Anfälle
• ihre Wiederholung
• ihren organischen Ursprung im Gehirn.
Im Fall von einzelnen epileptischen Anfällen oder epileptischen Reaktionen nach Gelegenheitsursachen
(Gelegenheitsanfällen) ist die Diagnose Epilepsie unangemessen. Von Epilepsie spricht man nur bei einem
wiederholten Auftreten epileptischer Anfälle.
Epilepsien sind abzugrenzen gegen:
• Erkrankungen, die von Anfällen oder anfallsweisen Störungen begleitet sind, die epileptischen
Anfällen zum Verwechseln ähnlich sein können (etwa: Ohnmachten, drop attacks, narkoleptische,
katatone, hysterische Anfälle, Affektkrämpfe);
• epileptische Signale im Hirnstrombild ohne subjektive erfahrbare oder objektive beobachtbare
Anfallssymptome – missverständlich auch als „hirnelektrische oder latente Epilepsie“ bezeichnet;
• ein einmaliges, akutes epileptisches Ereignis (Gelegenheitsanfall).
Vorliegende wissenschaftliche Erkenntnisse sind geeignet, überkommende Anschauungen von Epilepsie zu
korrigieren.
• Bei Epilepsie handelt es sich nicht notwendig um eine mit Krämpfen und nicht um eine notwendig
mit Hinstürzen verbundene Krankheit („Krampfleiden“, „Fallsucht“).
• Ihr kommt, verglichen mit anderen Krankheiten, keine ursachenbedingte Sonderstellung zu („heilige
Krankheit, „morbus dämonicus“).
• Psychische Störungen machen ihr Wesen nicht aus („Hysterie“, Geisteskrankheit“).
• Als vererbbar gilt bei einigen Formen von Epilepsie eine Disposition zu epileptischen Reaktionen.
Das Risiko ist nach Art der Epilepsie und Geschlecht des Betroffenen verschieden.
Die bisher zusammengetragenen Bedingungen, die für die Zuschreibung von Epilepsie vorliegen müssen, lassen
sich zu folgender Feststellung verengen:
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Epilepsie ist der Oberbegriff für Syndrome und Krankheiten, die aufgrund anlagebedingter oder aufgrund
von im Laufe des Lebens schädigungs- oder krankheitsbedingter Funktionsstörungen des Gehirns zeitlich
begrenzt und wiederholt zu epileptischen Anfällen führen. Diese beruhen auf außergewöhnlichen
Entladungen in umschriebenen Arealen oder gleichzeitig in beiden Hälften des Gehirns.
Definition und Differenzierung
Definitionen tragen nicht nur zur sprachlichen Vereinheitlichung und zu möglichst widerspruchsfreier
Kommunikation bei. Sie erfüllen handlungsorientierende Zwecke und wecken Erwartungen.
Die Diagnose „Epilepsie“ bedeutet für den Menschen, bei dem sie gestellt wird, auf dem medizinischen, dem
rechtlichen und dem sozialen Feld etwas jeweils anderes. Medizinisch führt sie zu Therapiemaßnahmen und lässt
Behandlungs- und Heilungschancen erwarten. Rechtlich werden durch sie u.U. konkrete
Handlungseinschränkungen erzwungen. Sozial lassen u.U. langfristige Probleme der Lebensgestaltung absehen.
Diese einschränkenden und oft lang anhaltenden Folgen machen äußerste Vorsicht bei der Zuschreibung von
„Epilepsie“ zwingend. Eine Fehldiagnose hat gravierende Folgen.
Weder im medizinischen noch im rechtlichen oder sozialen Bereich kommt zudem der Zuschreibung von
„Epilepsie“ eine für das Handeln ausreichende Bedeutung zu. Es gibt keine generelle „Epilepsietherapie“. Über die
rechtliche und soziale Handlungsfähigkeit eines Menschen sagt „Epilepsie“ für sich genommen absolut nichts aus.
Im medizinischen Sprachgebrauch setzt sich Differenzierung immer mehr durch. In sozialen und rechtlichen
Bereichen hält man – von wenigen Ausnahmen abgesehen – weiterhin an einer irrigen Einheitsdefinition fest.
Ein generalisierender Umgang mit der Krankheitsbezeichnung „Epilepsie“ in der Gesetzgebung, der
Verwaltungspraxis, dem öffentlichen Bewusstsein, lässt in der Regel erwarten, dass aus Unkenntnis über die
wahren Konturen des Begriffs (und der damit gemeinten Erscheinung) vorsichtshalber der „größtmögliche
Schadensfall“ angenommen wird. Die korrekte Verwendung des Begriffs in Recht und Gesellschaft setzt nämlich
voraus, dass allen Elementen der medizinischen Definition sowie der Vielfalt der Formen, der Ursachen und der
Verläufe des damit Gemeinten sorgfältig Rechnung getragen wird.
Ein wesentlicher Faktor zur rechtlichen und sozialen Würdigung der Folgen von Epilepsien ist dabei überhaupt
noch nicht angesprochen: ihre Behandelbarkeit, die in der Regel das völlige und dauerhafte Verschwinden
epileptischer Anfälle zum Ziel hat.
Weiterführende Materialien
• Doose, H.: Epilepsien im Kindes- und Jugendalter, 8. Auflage, Desitin, Hamburg 1988
• Engel, J.jr..: Concepts of epilepsy. Epilepsia 36 Suppl. 1 (1995) S23-S29
• Janz, D., Penin, H., Scheidemann, K.F., Thorbecke, R.: Epilepsie-Bericht ´85. Rheinland-Verlag,
Köln 1985
• Matthes, A.: Epilepsien – Diagnostik und Therapie für Klinik und Praxis. 4. Aufl., Thieme,
Stuttgart 1984
• Rabending, G.: Epilepsien – Leitfaden für die Praxis. Edition Medizin, Weinheim 1985
• Rodin, E.: An Assessment of current views on epilepsy. Epilepsia, 28 (1987) 267-271
• Schneble, H.-J.: Krankheit der ungezählten Namen – Ein Beitrag zur Sozial-, Kultur- und
Medizingeschichte der Epilepsie anhand ihrer Benennungen vom Altertum bis zur Gegenwart.,
Huber, Bern 1987
• Temkin, O.: The falling sickness – a history of epilepsy from the greeks to the beginnings of modern
neurology. The John-Hopkins-University Press, Baltimore sec. ed. 1979
• Wolf, P., Wagner, G., Amelung, F.: Anfallskrankheiten. Springer, Berlin 1987
• Wolf, P.: Epileptic seizures and syndromes. Terms and concepts. In: Wolf, P. (Hrsg.), Epileptic
seizures and syndromes, John Libbey & Co., London 1994, 67-73
Informationsblätter
• Policy Statement “Towards a universal understanding of epilepsy”, 1995. (Eine knappe
Begriffsbestimmung von Epilepsie durch das International Bureau for Epilepsy. Zu beziehen durch
IBE, P.O.Box 21, NL-2100 Heemstede.)
• Von den Informationsblättern behandelt Nr. 002 „Basismechanismen epil. Aktivität“ ein angrenzendes Thema.
Hinweise
Informationen über Epilepsie sind auch erhältlich über: Deutsche Epilepsievereinigung/einfälle,
Zillestr. 102, 10585 Berlin, Tel:030/342-4414, Fax:030/342-4466; Internet: www.epilepsie.sh , Stiftung Michael, Münzkamp 5,
22339 Hamburg, Tel:040/538-8540 Fax: 030/538-1559, Internet: www.Stiftung-Michael.de
Herausgeber: Dt. Gesellschaft für Epileptologie
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