Tierzucht, Strahlen und Pigmente: Genetik und die

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Tierzucht, Strahlen und Pigmente: Genetik und die
Tierzucht, Strahlen und Pigmente:
Genetik und die Herstellung von
Tiermodellen für die Humangenetik
Aus dem Institut für Medizingeschichte
der Freien Universität Berlin
Geschäftsführender Direktor: Prof. Dr. Dr. Rolf Winau
Tierzucht, Strahlen und Pigmente:
Genetik und die Herstellung von Tiermodellen für die
Humangenetik
Hans Nachtsheim und die vergleichende und experimentelle Erbpathologie
in Deutschland, 1920-1945
Inaugural-Dissertation
zur
Erlangung des Grades Doctor rerum medicarum
des Fachbereichs Humanmedizin
der Freien Universität Berlin
vorgelegt von: Alexander v. Schwerin
aus Bonn
Referent: Prof. Dr. Gerhard Baader
Korreferent: Prof. Dr. Hans-Jörg Rheinberger
Veröffentlicht mit Genehmigung des Fachbereichs Humanmedizin der
Freien Universität Berlin
Promoviert am: 5. Oktober 2003
Inhalt
(Übersicht)
Einleitung...........................................................................................................10
1
Wie erobert man ein Terrain? Heilsbringender Mendelismus und
Landwirtschaft...........................................................................................30
1.1 Nachtsheim und das Primat der Gene an der Landwirtschaftlichen
Hochschule in Berlin......................................................................................... 31
1.2 Mendelisierung der Pelztierzucht ..................................................................... 48
2
Tierzucht und Erbpathologie.....................................................................71
2.1 Vom Pigment zum Pathologischen als epistemischer Gegenstand ................. 72
2.2 Pathologie und Mendelgenetik ......................................................................... 87
3
Genetik und Medizin – Maus, Meerschweinchen und Kaninchen als
„standardisierte Reagenzien” (A. Kühn) .................................................102
3.1 Eine Versuchstierzuchtanlage in Dahlem aus der Not heraus und Pläne
der Notgemeinschaft zur „Massenaufzucht reiner Stämme im Grossen“....... 103
3.2 Einfach nur Tiere vermehren? Experiment, Reinzucht und Konstitution........ 111
3.3 Von der Methode zur Aufgabe – züchtungstechnisch vermittelte
Übergänge (Konjunkturen) zwischen Infektionsmedizin und
Säugetiergenetik ............................................................................................ 132
4
Innovative Kooperation: Die Versuchstierzucht als Knotenpunkt
biomedizinischer Forschung am Ende der Weimarer Republik oder
Versuchstiere zwischen Instrument und Modell .....................................163
4.1 Standard, Technik, Differenz.......................................................................... 163
4.2 Vom Konzept zum Experiment: Genetik und Entwicklungsphysiologie ......... 175
4.3 Varianten generieren: die differenzielle Verwendung der
Züchtungsanlage reiner Tierstämme (vom Experimentalsystem zum
Konzept) ......................................................................................................... 194
5
Genetik und Medizin – Eine Kontroverse um Tiermodelle......................205
5.1 Gynäkologie und temporäre Sterilisation ....................................................... 207
5.2 Von der Individualmedizin zur Eugenik: Die Intervention der Genetik ........... 215
5.3 Die ‚feindliche Übernahme’ des Problems der Röntgenschäden durch die
Genetik ........................................................................................................... 222
5.4 Kompetenzgerangel um die Allgemeingültigkeit der Vererbungsgesetze ...... 242
6
Erbpathologie des Tieres, menschliche Erblehre und Eugenik ..............258
6.1 Von der Tierzucht zur „experimentellen und vergleichenden
Erbpathologie“ im technokratischen Bewusstsein.......................................... 259
6.2 Die Genetifizierung der Epilepsie und die vergleichende Erbpathologie in
der Praxis ....................................................................................................... 283
6.3 Strukturelemente und die verschleierte Praxis der vergleichenden
Erbpathologie ................................................................................................. 296
7
Genetik und Innovation in der menschlichen Erblehre ...........................315
7.1 Krise der menschlichen Erblehre: Phänogenetik und Pigmente .................... 316
7.2 Genetifizierung der menschlichen Erblehre ................................................... 329
7.3 Medikalisierung der menschlichen Erblehre................................................... 339
7.4 Nachtsheims Integration am KWI für Anthropologie ...................................... 351
8
Vom Tierexperiment zum Menschenversuch: Modell des Modells.........374
8.1 Von der Diagnostik zur Pathogenese. Das richtige experimentelle Modell
für die Epilepsie.............................................................................................. 375
8.2 Die Leichtigkeit des Menschenversuchs ........................................................ 397
8.3 Abschließende Bewertung: Nachtsheim, Experimente, Eugenik und
Nationalsozialismus........................................................................................ 417
9
Schluss: Tierzucht, Strahlen und Pigmente – verborgene
Wirkmächtigkeit des Genetischen zwischen 1920 und 1945..................430
Anhang ............................................................................................................446
A
Bibliographie und biographischer Abriss Hans Nachtsheim ...................447
B
Nachweise ..............................................................................................468
Inhalt
Einleitung...........................................................................................................10
1
Wie erobert man ein Terrain? Heilsbringender Mendelismus und
Landwirtschaft...........................................................................................30
1.1 Nachtsheim und das Primat der Gene an der Landwirtschaftlichen
Hochschule in Berlin......................................................................................... 31
1.1.1 Vom Organismus zum Korpuskel............................................................................. 32
1.1.2 Der Mendelismus und deutsche Biologie – Primat der Gene .................................. 36
1.1.3 Genetik und Modernisierung: Vom Mandarin zum Experten ................................... 39
1.1.4 Kultur vs. Zivilisation: Spezialisierung und Technik im Vorbild Amerikas ................ 43
1.2 Mendelisierung der Pelztierzucht ..................................................................... 48
1.2.1 Die Schnittstelle von Theorie und Praxis: Technisierung des „Künstlerischen“ ....... 49
1.2.2 Kaninchenzucht, Nationalökonomie und Ordnung des Sichtbaren.......................... 53
1.2.3 Vom Wissenschaftler zum Experten: ‚High Noon’ im Diskurs um den ‚König’
der Kaninchen .......................................................................................................... 58
1.2.4 Vom Experten zum Mediator.................................................................................... 62
1.2.5 Nachspiel: Rexzüchter im Abseits, „Kaninchenzucht wird politisch“ und
Wirtschaftszucht durch Nationalsozialismus ............................................................ 67
2
Tierzucht und Erbpathologie.....................................................................71
2.1 Vom Pigment zum Pathologischen als epistemischer Gegenstand ................. 72
2.1.1 Das Experimentalsystem der Pigmente ................................................................... 73
2.1.2 Pigmente, Degeneration und der Vergleich in der Genetik...................................... 76
2.1.3 Geburt des pathologischen Gegenstandes: differenzielle Reproduktion im
Diskurs... .................................................................................................................. 79
2.1.4 ... und im Experimentalsystem ................................................................................. 84
2.2 Pathologie und Mendelgenetik ......................................................................... 87
2.2.1 Bruch in der Episteme des Pathologischen: Prinzip von Broussais......................... 88
2.2.2 Das Pathologische zwischen Medizin und Genetik: Variabilität und Mutationen
(die mutationsgenetische Episteme) ........................................................................ 91
2.2.3 Der mendelgenetische Begriff von Erbkrankheit und seine subversive
Wirkung: Eugenik und Klassifikation ........................................................................ 95
3
Genetik und Medizin – Maus, Meerschweinchen und Kaninchen als
„standardisierte Reagenzien” (A. Kühn) .................................................102
3.1 Eine Versuchstierzuchtanlage in Dahlem aus der Not heraus und Pläne
der Notgemeinschaft zur „Massenaufzucht reiner Stämme im Grossen“....... 103
3.1.1 Versuchstiere in den Laboratorien ......................................................................... 104
3.1.2 Die Zuchtanlage in Dahlem.................................................................................... 106
3.1.3 Die Initiative Wilhelm Kolles und die Gemeinschaftsarbeiten der
Notgemeinschaft .................................................................................................... 108
3.2 Einfach nur Tiere vermehren? Experiment, Reinzucht und Konstitution........ 111
3.2.1 Der experimentelle Vorteil experimentalisierter Versuchstiere .............................. 113
3.2.2 Die Experimentalisierung des Versuchstierkörpers zum „Reagenzmaterial“ –
das ‚Prinzip des erweiterten Laboratoriums’ .......................................................... 114
3.2.3 Inzucht vermeiden und analysierte ‚second-hand’ Tiere........................................ 116
3.2.3.1 Die Kleintierzucht der Notgemeinschaft in der Strafanstalt Sonnenburg........ 117
3.2.3.2 Der trojanische Stall aus Dahlem ................................................................... 120
3.2.3.3 Die Versuchstierzucht am Institut für Vererbungsforschung .......................... 121
3.2.4 Reinzucht als genetische Homogenisierung .......................................................... 123
3.2.5 Auslese und Reinzucht: Negation der „erblichen Konstitution“ .............................. 125
3.2.5.1 Die genetische Analyse als Mittel verbesserter medizinischer Forschung..... 126
3.2.5.2 Der genetische Gegenstand im Prozess der Werkzeugherstellung ............... 127
3.2.6 Auslese, Reinzucht und Organisationsstruktur: Positivität der erblichen
Konstitution ............................................................................................................ 128
3.2.6.1 Kühns Initiative: „Reine Vermehrungs-Zuchtanstalten“ und „genetische
Züchtungsanstalten“ ....................................................................................... 129
3.2.6.2 Erbliche Konstitution: Vom negierter Gegenstand zum epistemischen
Gegenstand .................................................................................................... 131
3.3 Von der Methode zur Aufgabe – züchtungstechnisch vermittelte
Übergänge (Konjunkturen) zwischen Infektionsmedizin und
Säugetiergenetik ............................................................................................ 132
3.3.1 Der Plauerhof – Professionalisierung der Versuchstierzucht: Standardisierung.... 133
3.3.2 Vom Sinn einer Züchtungsanstalt – Die Göttinger Säugetierzuchten und ihre
Kooperationen........................................................................................................ 136
3.3.2.1 Das Göttinger Zoologische Institut und die Säugetierzuchtanlage................. 136
3.3.2.2 „Medizinisch-biologische Grenzprobleme“ und die Arbeit an den
Versuchstieren................................................................................................ 139
3.3.2.3 Die Kooperation der Züchtungsanstalt mit dem Staatlichen Institut für
experimentelle Therapie – Standardisierung von Impfstoffen ........................ 142
3.3.3 Genetisch homogene Versuchstiere sensibilisieren ein experimentelles
Prüfsystem: Diphtherieimpfstoffe ........................................................................... 144
3.3.3.1 Das Problem und die Einstellung des Experimentalsystems ......................... 144
3.3.3.2 Im Prüfsystem vom Zufall zum „Wesen“: genetisch reine Versuchstiere ....... 147
3.3.3.3 Das experimentelle (Prüf-)System: widerständig gegen Genetisches ........... 148
3.3.4 Erbliche Disposition der Infektionskrankheiten: Die Tuberkuloseresistenz als
Versuchsballon....................................................................................................... 150
3.3.4.1 Tuberkulose und Genetik ............................................................................... 151
3.3.4.2 Feuerprobe der ätiologischen Wende am Staatsinstitut................................. 154
3.3.4.3 Tuberkulose: ein prekärer genetischer Gegenstand ...................................... 156
3.3.5 Nachspiel: Tumorfarm und Ende Kühns „genetischer VersuchstierZuchtanstalt“ .......................................................................................................... 158
4
Innovative Kooperation: Die Versuchstierzucht als Knotenpunkt
biomedizinischer Forschung am Ende der Weimarer Republik oder
Versuchstiere zwischen Instrument und Modell .....................................163
4.1 Standard, Technik, Differenz.......................................................................... 163
4.1.1 Versuchstiere als Instrument.................................................................................. 164
4.1.2 Versuchstiere als Modell ........................................................................................ 167
4.1.3 Die „Gemeinschaftsarbeiten“ der Notgemeinschaft (Exkurs)................................. 170
4.2 Vom Konzept zum Experiment: Genetik und Entwicklungsphysiologie ......... 175
4.2.1 Vorgriff auf die Gemeinschaftsarbeit über die Frage der Erbschädigung durch
Röntgenstrahlung................................................................................................... 175
4.2.2 Variable Genmanifestation im Blick – das Interesse deutscher Genetiker
Anfang der dreißiger Jahre .................................................................................... 178
4.2.2.1 Konstitution und Konzepte der Genwirkung ................................................... 179
4.2.2.2 Variable Phänomene und neue experimentelle Optionen .............................. 182
4.2.3 Vitalität und das Experimentalsystem der genetischen
Entwicklungsphysiologie ........................................................................................ 184
4.2.3.1 „Lebenseignung“ und Konjunkturen in der biologischen Wissenschaft .......... 184
4.2.3.2 Experimentelle Entwicklungsphysiologie und „gute Merkmale“...................... 188
4.2.3.3 Experimentelle Bestimmung der Vitalität und Vitalitätsforschung an
Kühns Göttinger Institut .................................................................................. 190
4.3 Varianten generieren: die differenzielle Verwendung der
Züchtungsanlage reiner Tierstämme (vom Experimentalsystem zum
Konzept) ......................................................................................................... 194
4.3.1 Der Mangel an „schlechten“ Merkmalen und seine Behebung in den
Versuchstierzuchtanstalten .................................................................................... 194
4.3.2 Varianten generieren.............................................................................................. 199
4.3.3 Das Zusammenspiel von hervorgebrachten Varianten und Forschungsfragen ..... 201
5
Genetik und Medizin – Eine Kontroverse um Tiermodelle......................205
5.1 Gynäkologie und temporäre Sterilisation ....................................................... 207
5.1.1 Die Frage nach der Keimschädigung..................................................................... 208
5.1.2 Die Zeichen der „Vollwertigkeit“ einer Eizelle und der verschobene Blick in das
Innere der Eizelle ................................................................................................... 210
5.1.3 Genotypische Keimschädigungen und die Rezeption der Strahlengenetik ........... 212
5.2 Von der Individualmedizin zur Eugenik: Die Intervention der Genetik ........... 215
5.2.1 Von der Keimschädigung zur Schädigung der Keimbahn...................................... 216
5.2.2 Die eugenische Dynamik der Röntgenmutation..................................................... 219
5.3 Die ‚feindliche Übernahme’ des Problems der Röntgenschäden durch die
Genetik ........................................................................................................... 222
5.3.1 Die Gynäkologie in die Enge gedrängt. Die Entschließung der
Vererbungswissenschaftler .................................................................................... 222
5.3.2 Gemeinschaftsarbeiten zur Frage der Erbschädigung durch Röntgenstrahlen ..... 228
5.3.3 Paula Hertwig, Mutationsraten bei Mäusen und die vergleichende
Erbpathologie ......................................................................................................... 232
5.3.4 Der eigentliche Erfolg der strahlengenetischen Experimente ................................ 238
5.4 Kompetenzgerangel um die Allgemeingültigkeit der Vererbungsgesetze ...... 242
5.4.1 Die Rhetorik der Genetik, und die Gynäkologen im „tribunal of reason“................ 243
5.4.2 Die diskursive ‚Härte’ der Allgemeingültigkeit und das Ideologische der
Analogie ................................................................................................................. 247
5.4.3 Fragen der Kompetenz und Modelle (Fazit: Genetik und Eugenik) ....................... 252
6
Erbpathologie des Tieres, menschliche Erblehre und Eugenik ..............258
6.1 Von der Tierzucht zur „experimentellen und vergleichenden
Erbpathologie“ im technokratischen Bewusstsein.......................................... 259
6.1.1 Nachtsheims Situation an der Landwirtschaftlichen Hochschule........................... 260
6.1.2 Von der Haustiergenetik der Pigmente zur Erbpathologie der Pigmentierung....... 263
6.1.3 Die Kaninchengesellschaft als Abbild des neuen erbhygienischen Staats ............ 266
6.1.4 Indienststellung der Genetik für die „Erbpflege“: Verwissenschaftlichung als
Szientokratie .......................................................................................................... 269
6.1.5 Eugenisches Ikon, genetisches Krankheitskonzept und kühle Radikalisierung..... 273
6.1.6 Technokratisches Bewusstsein und rassenhygienisches Paradigma.................... 279
6.2 Die Genetifizierung der Epilepsie und die vergleichende Erbpathologie in
der Praxis ....................................................................................................... 283
6.2.1 Genetifizierung der („)Epilepsie(“) .......................................................................... 284
6.2.2 Diagnose der „erblichen Fallsucht“ ........................................................................ 288
6.2.3 Nachtsheims Förderpolitik: zwischen Landwirtschaft und Erbpathologie .............. 291
6.2.4 Kaninchengenetik und Experimentalkomplex im Test: Cardiazolexperimente ...... 294
6.3 Strukturelemente und die verschleierte Praxis der vergleichenden
Erbpathologie ................................................................................................. 296
6.3.1 Vergleichende Erbpathologie in Dahlem – eine Frage des Stils/der Kultur ........... 297
6.3.2 Die Rationalität und Strukturelemente der vergleichenden Erbpathologie –
revisited.................................................................................................................. 300
6.3.3 Synthetische Modelle: Homologie – Domestikation – Art- und Rassebildung ....... 302
6.3.4 Tiermodelle als Modellsysteme und Supplement................................................... 308
7
Genetik und Innovation in der menschlichen Erblehre ...........................315
7.1 Krise der menschlichen Erblehre: Phänogenetik und Pigmente .................... 316
7.1.1 Eugen Fischer zwischen Erbpathologie und Phänogenetik ................................... 316
7.1.2 Genetik als Leitwissenschaft, entwicklungsphysiologische Phänogenetik und
Pigmente ................................................................................................................ 321
7.1.3 Phänogenetik als Instrument der Genanalyse ....................................................... 326
7.2 Genetifizierung der menschlichen Erblehre ................................................... 329
7.2.1 Institutsstruktur und Funktion – „Reine Forschung“ und Ideologie......................... 330
7.2.2 Kaninchengenetik als Innovationsraum zwischen experimenteller Genetik und
menschlicher Erblehre ........................................................................................... 335
7.3 Medikalisierung der menschlichen Erblehre................................................... 339
7.3.1 Erbarzt und Humangenetik: Institutionelles Konzept der medizinischen
Genetik begründet in der naturwissenschaftlichen Methode ................................. 340
7.3.2 Medizinische Genetik auf dem Weg zur disziplinären Eigenständigkeit ................ 343
7.3.3 Zwischen Ideologie und Struktur: Humangenetik und Rassenkunde..................... 345
7.3.4 Verschuer, Phänogenetik und vergleichende Genetik am KWI für
Anthropologie ......................................................................................................... 348
7.4 Nachtsheims Integration am KWI für Anthropologie ...................................... 351
7.4.1 Chondrodystrophie als Paradigma der Genanalyse medizinischer Syndrome ...... 352
7.4.2 Blut als Gegenstand in der Expansionslogik der genetischen Eugenik ................. 357
7.4.3 Ein uninnovatives boundary object und der innere Zwang des Tiermodells
nach „Menschenmaterial“. Nachtsheim und Auschwitz ......................................... 360
7.4.4 Konjunktur des Bluts – Innovation vs. Primat der Vererbung................................. 366
7.4.5 Forschungsintegration und Integration des Forschers........................................... 369
8
Vom Tierexperiment zum Menschenversuch: Modell des Modells.........374
8.1 Von der Diagnostik zur Pathogenese. Das richtige experimentelle Modell
für die Epilepsie.............................................................................................. 375
8.1.1 Die Modellkonzeption muss sich als centre of calculation entfalten ...................... 376
8.1.2 Epilepsiemodelle zwischen Phänogenetik, Altern und Erbkreis............................. 378
8.1.3 Das multiple Netzwerk Höhenmedizin und Epilepsie............................................. 382
8.1.4 Der Weg des Kaninchenexperimentalsystems zur Unterdruckkammer................. 389
8.1.5 Unterdruckversuche mit Kaninchen und der Versuch am Menschen .................... 394
8.2 Die Leichtigkeit des Menschenversuchs ........................................................ 397
8.2.1 Die Vernetzung von Wissenschaft und Vernichtung .............................................. 398
8.2.2 Die Unterdruckversuche mit Kindern ..................................................................... 403
8.2.3 Die Sauerstoffversuche als Ergebnis eines soziotechnischen Prozesses ............. 406
8.2.4 Außerhalb der rationalen Rekonstruktion: Der gefährliche Menschenversuch
als Option ............................................................................................................... 408
8.2.5 Abschließende Bemerkungen zu Menschenversuchen in der Wissenschaft......... 413
8.3 Abschließende Bewertung: Nachtsheim, Experimente, Eugenik und
Nationalsozialismus........................................................................................ 417
9
Schluss: Tierzucht, Strahlen und Pigmente – verborgene
Wirkmächtigkeit des Genetischen zwischen 1920 und 1945..................430
Anhang ............................................................................................................446
A
Bibliographie und biographischer Abriss Hans Nachtsheim ...................447
A.1
Biographischer Abriss..................................................................................... 447
Vita.................................................................................................................... 447
Herausgabe von Zeitschriften ........................................................................... 448
Mitgliedschaften, Ämter und Tätigkeiten........................................................... 449
Nachtsheims Doktoranden................................................................................ 450
A.2
Personalbibliographie Nachtsheim ................................................................. 451
B
Nachweise ..............................................................................................468
B.1
B.2
B.3
B.3
Abkürzungen .................................................................................................. 468
Archivarische Quellen..................................................................................... 470
Fachzeitschriften ............................................................................................ 474
Literatur .......................................................................................................... 476
10
Einleitung
„[W]enn man jetzt durch rassenhygienische Maßnahmen die Zukunft des Volkes zu sichern
sucht, so bedeutet das die Anwendung jener allgemeinen züchterischen Grundsätze auf
1
den Menschen, von denen hier die Rede sein wird.“
Auf der Homepage des Max-Planck-Instituts für molekulare Genetik in BerlinDahlem konnte man im Jahr 2000 folgenden Eintrag zur Geschichte des Instituts lesen: „In 1941, twenty years before the foundation of MPIMG, the first
foundation stone for genetic research in Berlin was set with the formation of the
new department ‚Experimentelle Erbpathologie’ at the ‚Kaiser-Wilhelm-Institut
für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik.’“2 Die Geschichte der
Genetik in Berlin war demnach an den Auftritt Hans Nachtsheims, der Leiter der
neuen Abteilung wurde, gebunden, einen Zoologen und Genetiker, dessen wissenschaftliche Leistungen und moralische Integrität über jeden Zweifel erhaben
waren. Diese Darstellung verkürzte die Geschichte des Instituts, da alle Verbindungen zu Rassenhygiene und Eugenik sowie die Kollaboration mit dem NSRegime sorgsam entlang einer unsichtbaren Trennlinie verschwanden. Diese
Trennlinie heißt ‚gute Wissenschaft’. Die Genetik in Nachfolge Nachtsheims und
die medizinische Genetik gehörten demnach zu dieser guten Wissenschaft. Sie
gehörten also zu den ‚echten’ oder auch ‚harten’ Wissenschaften, deren Wissenschaftlichkeit sie vor Verführungen durch die nationalsozialistische Ideologie
und in der Folge weiteren Verfehlungen bewahrte. Diese Erzählung ist symptomatisch für das geschichtliche Bewusstsein nach 1945, in dem Genetik und Humangenetik den Kern ihrer Wissenschaft von der ‚Verwicklung’ in den Nationalsozialismus zu trennen suchten.3 Methodisch korrektes wissenschaftliches Arbeiten wird dabei mit moralischer Integrität identifiziert – entweder als ein historischer Befund oder als implizit wissenschaftstheoretische Annahme von der
Autonomie der Wissenschaft, das heißt ihrer „Reinheit“.4 Die These der autonomen Wissenschaft ist indes historisch stark in Frage gestellt worden.5 Den gegensätzlichen Auffassungen liegt eine grundsätzlich unterschiedliche Beurteilung des Zusammenhangs von Gesellschaft und Wissenschaft zu Grunde.
Wenn der Geschichte der Genetik und Humangenetik nachgegangen werden
soll, dann muss die Frage nach diesem Zusammenhang im Blick behalten wer1
Nachtsheim 1936d: VII-VIII
http://www.mpimg-berlin-dahlem.mpg.de/institute/structure.html (am: 17.3.2000). Auf der inzwischen neu gestalteten Homepage wird die Geschichte des MPIMG nun salomonisch 1964
eingesetzt, dem Datum der Umbenennung und Umstrukturierung des MPI für vergleichende
Erbbiologie und Erbpathologie, das Nachtsheim seit 1953 bis 1960 als Nachfolgerin seiner experimentellen Abteilung am KWI für Anthropologie geführt hatte. Die inhaltliche Neuausrichtung
des Instituts (von Säugetiergenetik hin zu Bakteriengenetik und Biochemie) wurde aber bereits
1960 mit der Neubesetzung eingeleitet.
3
Vgl. Massin 1999; vgl. auch Weindling 1993: 643. Als konkrete Beispiele, vgl. Nachtsheim
1952b: 23-24; Propping & Heuer 1991.
4
Zum argumentativen Zusammenhang von methodisch korrekter Wissenschaft und moralischer
Integrität, vgl. Baader 2002: 223; zur Argumentation der „Reinheit“, vgl. Mehrtens 1990; Gausemeier 2002. Diese Reinheit steht dann entweder für den ‚gesellschaftsfreien’ Abbildungscharakter von Erkenntnis oder die wissenschaftssoziologische Bedingung der Möglichkeit von „freier
Wissenschaft“. Für letztere Position ist die frühe Beschreibung der Wissenschaft im Nationalsozialismus von Merton 1968 (1938) ein Beispiel (ebenfalls abgedruckt in: Merton 1996a: 277ff.).
2
11
den. Jene Trennung von ‚echter’ und Pseudowissenschaft findet sich dann auch
in solchen Historiographien wieder, in denen die Entwicklung der Humangenetik
eng an die eugenische und rassenhygienische Bewegung, die Rassenanthropologie oder nationalsozialistische Ideologie gebunden wird6 – mit dem Effekt,
dass nun die Wissenschaftlichkeit der unter Verdacht stehenden Bereiche der
Humangenetik in Frage gestellt und diese auf diese Weise von der ‚eigentlichen’ Humangenetik abgesondert werden können. Wenn aber umgekehrt festgestellt wird, dass für die deutsche Entwicklung der Rassenhygiene von Beginn
an die Bindung an die Wissenschaft ein entscheidendes Moment war und für
die Humangenetik insbesondere die Anthropologie von Einfluss war,7 dann ist
jenes Spannungsverhältnis – Humangenetik zwischen Ideologie und Wissenschaft – wieder hergestellt. Schmuhl (1987) hat erstmals dieser Spannung eine
neue Richtung zur Auflösung gewiesen, indem er das „rassenhygienische Paradigma“ in Anschluss an T. S. Kuhns historisierende Paradigmen einführte.8 Die
Auflösung besteht dann darin, die Produkte der Wissenschaft selbst als historische Produkte zu begreifen und sie – hier: Lehren der Rassenhygiene und Humangenetik – nicht einem zeit- und ortsunabhängigen Maßstab der ‚Wahrheit’
zu unterwerfen. Dieser Ansatz soll in dieser Arbeit die Behandlung des Problems der Integrität der Wissenschaft leiten.
Die Anfänge der Humangenetik gehen auf den Beginn des letzten Jahrhunderts zurück. Als ein Teilfach der Medizin etablierte sich die medizinische Genetik – in Deutschland – disziplinär aber erst endgültig in den fünfziger und
sechziger Jahren.9 Die Darstellbarkeit der menschlichen Chromosomen einerseits und die Entwicklung biochemischer Tests für Stoffwechselerkrankungen
war die Grundlage für die Identifizierung von Veranlagungen zu möglichen erblichen Krankheiten und damit für den Aufbau einer genetischen Beratung und
pränatalen Diagnostik.10 Die Humangenetik erfüllte keine medizinisch-kurative
Aufgabe, sondern bewegte sich in der Tradition des Gedankens der Eugenik.11
Es wäre aber dennoch falsch, die Geschichte der Humangenetik in eine der Eugenik und Rassenhygiene oder der Anthropologie zu erschöpfen. Die Humangenetik war über viele Jahrzehnte, wie die Eugenik auch,12 kein geschlossenes
Wissensfeld.13 Die Vererbung beim Menschen beschäftigte unterschiedliche
professionelle Gruppen: die Rassenhygieniker waren oft zum Beispiel Medizi5
Vgl. Mehrtens 1994a: 17; Gausemeier 2002: 180.
Als Beispiele, vgl. Friedlander 1995: 135 u. 216ff.; Kater 2000; Müller-Hill 2000: 212-13 u. 223.
7
Vgl. Schmuhl 1987: 70ff.; Weingart et al. 1992: 66ff. bzw. Massin 1993; Massin 1996: 135-36.
8
Vgl. Schmuhl 1987: 399 bzw. Kuhn 1967: 28-29. Allerdings, so muss kritisch angemerkt werden, bleibt die Explikation des „rassenhygienischen Paradigmas“ meiner Meinung nach mit der
Beschränkung auf seine ideengeschichtliche Strukturierung hinter der epistemologischen Tiefe
des Kuhnschen Begriffs zurück. Zur näheren Erläuterung des Begriffs, siehe 2.2.3, Fußn. 139.
9
Im Nationalsozialismus waren allerdings an den medizinischen Fakultäten zahlreiche Institute
für Rassenhygiene, Erblehre und/oder Rassenbiologie eingerichtet worden, die nach 1945 nicht
mehr fortgesetzt wurden (vgl. Weingart et al. 1992: 438-39; Kater 2000: 193ff.). Es wäre im einzelnen zu prüfen, in wieweit Humangenetik als medizinische Genetik betrieben wurde, um die
Frage nach ihrer disziplinären Genese zu klären.
10
Vgl. Weingart et al. 1992: 635 u. 659-62; Waldschmidt 1996.
11
Vgl. Gaudillière 2001a: 184. Zu einer kurzen Darstellung der Eugenik: Kaufmann 1998;
Schleiermacher 1998: 184-02.
12
Vgl. Kaufmann 1998: 348.
13
Vgl. Massin 1996: 134.
6
12
ner, Psychiater, Anthropologen oder Paläontologen. ‚Humangenetik’ fand in der
Regel im Zusammenhang anderer Forschungskontexte statt: als Stammbaumforschung in der Klinik, als Konstitutionspathologie in oder am Rand der Sozialhygiene oder als Splitter in der Infektionsmedizin, als Konstitutionslehre, als
Biometrie zwischen Statistik und Demographie oder als menschliche Erblehre in
der Anthropologie. Welche Rolle aber spielte die Vererbungslehre, ein experimentelles Fach der Biologie? Die Frage, wie die Erforschung des Menschen zur
Genetik kam und umgekehrt, wird in dieser Arbeit gestellt. Da aber angesichts
jener Polyzentrik nicht von einer Disziplin der Humangenetik, sondern nur von
einem humangenetischen Interesse gesprochen werden kann, lautet die Frage
besser: Wie wurde der Mensch zu einem vererbungswissenschaftlichen Thema?14
Der zeitliche Schwerpunkt der Arbeit liegt in den zwanziger und dreißiger
Jahren, einem Zeitraum, in dem einerseits die Vererbungswissenschaft und vor
allem die mendelsche Genetik deutlich an Bedeutung für den Vererbungsdiskurs gewonnen hatte – Anfang der zwanziger Jahre wurde die Deutschen Gesellschaft für Vererbungswissenschaft gegründet –, in dem andererseits der humangenetische Gegenstand zwischen den Disziplinen frei flottierte. Zu Recht ist
auf die Verbindung von ideologischen Diskursen jener Zeit und ihrer Legitimierung im Wissen um die Vererbung hingewiesen worden. Andere Zusammenhänge sind damit aber aus dem Blick geraten, die nicht nur von akzidentiellem
Einfluss waren, sondern vielmehr von theoretischer Bedeutung für den Zusammenhang von Wissenschaft und Gesellschaft allgemein sind. Beispielsweise ist
es mehr als ein arbiträres Zusammentreffen, das die rassistische Gesetzgebung in den USA, die auf einer Trennung weißer und schwarzer Bürger abzielte, im direkten Zusammenhang mit Infektionsmedizin und öffentlicher Gesundheitspolitik standen. Die speziellen Maßnahmen zur Segregation lassen sich
nämlich auf die Entwicklung der Bakteriologie und die epidemiologische Bekämpfung der Tuberkulose zurückführen und veränderten dann – als Nebenprodukt gewissermaßen – die rassistische Ideologie.15
Wenn nach dem humangenetischen Interesse als einem Interesse gefragt
wird, das Genetik und Mensch zusammenbrachte, darf nicht vom Ergebnis aus
– der Etablierung einer medizinischen Genetik – nach dieser Verbindung gesucht werden. Nichtsdestotrotz spielte der medizinische Kontext eine besondere Rolle in der Bewahrung humangenetischer Themen. Hans Grüneberg stellte
gegen Ende der vierziger Jahre, als sich die Verbindung von Genetik und Medizin bereits in Forschungsstrukturen niedergeschlagen hatte, fest: „The study
of inherited diseases in animals is a new branch of medical science.“16 Medizin
war einer der Motoren des Prozesses, aber, wie hier gezeigt werden soll, nicht
in der Form, dass der Verbindung aus Genetik und Medizin ein vorformuliertes
Bedürfnis vorausging. Es ist noch einen Schritt weiter zu gehen und zeitlich wie
epistemologisch vor der Anwesenheit eines Interesses am Humangenetischen
einzusetzen.
14
In einem eigenen Ansatz verfolgt Früh 1997 diese Frage.
Vgl. Brown 2001: 121.
16
Grüneberg 1947: 256
15
13
Die Aufgabe dieser Arbeit kann jetzt also dahin gehend präzisiert werden,
Verbindungspunkten von Medizin und Genetik nachzugehen, die nicht institutionell oder durch ein vorhergehendes Interesse etabliert wurden, sondern sich
entgegen disziplinären Grenzziehungen und ungeachtet theoretischer oder
ideologischer Determinanten diskursiv oder auf der Ebene der wissenschaftlichen Praxis herstellten. Der humangenetische oder erbpathologische Gegenstand, um den es hier geht, ist ein Gegenstand der Forschung, der nicht schon
Gegenstand eines institutionalisierten oder formulierten humangenetischen
Interesses war. Genau genommen, handelt es sich dabei um verschiedene
Gegenstände der experimentellen Befragung, in denen sich Genetisches und
Medizinisches vermischten, überschnitten und gemeinsam artikuliert wurden
und die allmählich den Repräsentationsraum der Humangenetik bildeten.17
Diesen Gegenständen zu folgen, heißt, im mikroskopischen Blick Wege der
Verbindung („Konjunktur“) und Trennung aufzuzeigen und damit Dynamiken
transparent zu machen, die quer zu der Geschichte von Konzepten, Themen,
Problemen, Techniken und Institutionen liegen.18 Dieser methodische Weg
heißt nicht, makroskopische Perspektiven und Kategorien außer Acht zu lassen. Wo aber lagen die Anfänge der Verbindung von Medizin und Genetik?
Was machte sie möglich, und was stärkte sie? So gefragt, wecken scheinbar
nebensächliche Gegenstände und Zusammenhänge die Aufmerksamkeit, wie
sie als „Tierzucht, Strahlen und Pigmente“ thematisch im Titel anklingen.
Forschungsstand
Bevor konkretisiert wird, was damit gemeint ist, soll ein thematischer Überblick
auf den Forschungsstand gegeben werden. Es ist darauf hingewiesen worden,
dass die Vererbungswissenschaft als Referenzwissenschaft für die Rassenhygiene und für sozialdarwinistische Theorien in den ersten Jahrzehnten des 20.
Jahrhunderts an Bedeutung gewann,19 dass umgekehrt die (deutschen) zeitgenössischen Vererbungswissenschaftler keine Berührungsängste mit der Rassenhygiene oder Eugenik hatten und auch dort, wo sie heute Pseudowissenschaft zu sein scheint, als Wissenschaft firmierte.20 Die Weimarer Eugenik –
auch ihr rassenhygienisch und sozialdarwinistischer Teil – repräsentierte einen
„modern type of science“.21 Die Geschichte der Genetik in Deutschland ist unter
Gesichtspunkten dieser Entwicklung von Eugenik, Rassenhygiene und Rassenanthropologie in zahlreichen Arbeiten angeschnitten worden. Die „interne“ Ge17
Diese Begriffswahl lehnt sich an Rheinbergers Bestimmung von „epistemic things“ an als die
noch im Wagen liegenden materiellen Entitäten und Prozesse, um die herum experimentelle
Systeme organisiert sind (vgl. Rheinberger 1997: 21, 23 u. 28-29). Epistemische Dinge sind nur
historisch bestimmbar (vgl. ebd.: 33 u. 76). Die hiesige Verwendung weicht von dieser Definition
ab, insofern der Begriff zur Bezeichnung einer Klasse von Dingen benutzt wird.
18
Vgl. Rheinberger 1997: 34; zum Begriff der Konjunktur, vgl. ebd.: 133-35; Rheinberger &
Hagner 1997: 23.
19
Vgl. Weindling 1989: 235; Weingart et al. 1992: 355 bzw. Schmuhl 1987: 58.
20
Vgl. Weingart et al. 1992: 355. Zu Einzelheiten, vgl. zum Beispiel Weindling 1989: 329 u.
340f.; Weber 1993; Kröner et al. 1994; Deichmann 1995: passim; Lösch 1997. Für eine Bibliographie weiter gefasster Arbeiten über das Verhältnis von wissenschaftlicher Vererbungs- und
Rasseforschung und Rassepolitik im Nationalsozialismus verweise ich auf Sachse & Massin
2000: 9-10.
21
Weindling 1985: 309
14
schichte der Genetik wird dabei zumeist ausgespart, sodass über den Beitrag
deutscher Genetiker zu diesen Gebieten weitgehend eine Wissenslücke besteht.22 Die Genetik in Deutschland ist in umfassender Weise bislang lediglich
von Harwood für den Zeitraum von 1900-1933 dargestellt worden.23
Das Verhältnis von Gesellschaft und Rassenhygiene und ihren Referenzwissenschaften, das durch das „rassenhygienische Paradigma“ charakterisiert worden ist, soll neu hinterfragt werden.24 Die konkrete strukturelle Vermittlung wissenschaftlicher Theorieproduktion und sozioökonomischer, politischer bzw. kultureller Kontexte umreißt Schmuhl wissenssoziologisch als schichtenspezifische
Wahrnehmung und somit „Reflex realhistorischer Transformationsprozesse“ seit
dem späten 19. Jahrhundert.25 Weindling spezifiziert dies und sieht Eugenik vor
allem als ein Produkt des Bildungsbürgertums und der Überschneidung von
Biologie und Medizin,26 sodass dann gilt, dass „the new directions in Weimar
biology were determined by the political and economic conditions“.27 Im Sinne
einer solchen sozialhistorischen oder sozioökonomischen Perspektive stellen
sich das rassenhygienische und das vererbungswissenschaftliche Wissen und
die mit ihnen verbundenen Institutionen als Ausdruck von Wandlungsprozessen
moderner Gesellschaften dar. Zu diesen Wandlungsprozessen zählen Szientismus als die Identifizierung empirisch-quantitativer Verfahren mit wissenschaftlichem Vorgehen überhaupt und Verwissenschaftlichung als die zunehmende
Durchdringung aller Lebens- und Handlungsbereiche durch wissenschaftliche
Rationalität. Unter diesem gesellschaftstheoretischen Blickwinkel subsumieren
Weingart et al. Eugenik als Produkt der – biologischen – Wissenschaft.28
Die Verwissenschaftlichung stellt sich bei ihnen im konkreten als Biologisierung des Sozialen dar.29 Der „technokratische“ Gesellschaftsbezug von Wissenschaft, den sie dabei entdecken,30 lässt aber fragen, ob jener Rationalisierungsprozess damit einem technokratischen Gesellschaftswandel entspricht.31 Wird
Wissenschaft im Nationalsozialismus unter diesem Aspekt untersucht, so lassen die vielgestaltigen Machtverhältnisse zwischen politischen und wissenschaftlichen Institutionen ein vorsichtigeres Bild zeichnen, das keine klare
Struktur aufweist, sondern nur „Ideologen“ und „Technokraten“ unterscheiden
22
Vgl. Kröner et al. 1994: 78; Kröner 1998: 4 u. 12; Weingart et al. 1992: 544.
Vgl. Harwood 1993. Zu speziellen Darstellungen zu dem Zeitraum 1900-1945, vgl. unter
anderen Goldschmidt 1960; Kappert 1978; Roth 1986; Plarre 1987; Dorna 1995; Deichmann
1995; Dietrich 1995; Harwood 1996; Satzinger 1996; Potthast 1996; Harwood 1997; Satzinger
1998; Harwood 2000a; Satzinger 2000; Rheinberger 2000a; Rheinberger 2001; Mendelsohn
2001; Heim 2002; Harwood 2002; Gausemeier 2002; Flittner 2002; Wieland 2002; Scheich
2002. Vgl. auch diverse Artikel in Jahn 1990.
24
Vgl. Schmuhl 1987: 71. Vgl. auch Kaufmann 1998: 348.
25
Schmuhl 1987: 71
26
Vgl. Weingart et al. 1992: 6 (5-10).
27
Weindling 1985: 318
28
Vgl. Weingart et al. 1992: 16-18, 87 u. 142-43; Kröner 1998: 11.
29
Vgl. Weingart et al. 1992: 143 u. 528.
30
Weingart et al. 1992: 142
31
Die Technokratiethese ist aus der Technokratiediskussion der sechziger Jahre in der BRD
hervorgegangen, angestoßen durch Gehlen 1957 und Schelsky 1965 bzw. ebenfalls entwickelt
von Marcuse 1970 und Habermas 1968. In Umwandlung dieser wissenschaftsdeterministischen
Perspektive sieht Stehr 1994: 40 in der Verwissenschaftlichung die Eröffnung neuer Handlungsoptionen in der „Wissensgesellschaft“.
23
15
lässt.32 Unter Berücksichtigung dieser Einschränkung bietet es sich an, den
entscheidenden Kern der These vom technokratischen Gesellschaftswandel –
die Ersetzung politischen Handelns (gesellschaftlicher Willensbildung und
staatlicher Steuerung) durch wissenschaftlich-technische Sachzwänge – zu
verwenden, um bestimmte Formen des wissenschaftlichen Selbstverständnisses beschreiben zu können: Im „technokratischen Bewusstsein“ wird Normativität durch die Faktizität wissenschaftlicher und technologischer Produktion
ersetzt.33 Eine weitere Bestimmung, die in direktem Zusammenhang der Verwissenschaftlichung steht und sich als nützlich erweisen wird, ist die des „Experten“.
Positionen
Um zu verdeutlichen, in welcher Weise sich diese Begriffe – technokratisches
Bewusstsein und Experte – im Übergang von der Trennung wissenschaftstheoretischer und wissenschaftssoziologischer, kognitiver und sozialer oder interner
und externer Annäherungen an Wissenschaft einordnen, soll erst die grundsätzliche Position dieser Arbeit hinsichtlich der Rolle der Genetik bei der Entwicklung der Humangenetik und Rassenhygiene verdeutlicht werden, um dann ihren
konzeptuellen Rahmen zu erläutern. Ich teile die These Weindlings, dass die
Humangenetik älter als ihr Taufdatum ist, dass ihre Geschichte nicht mit einem
fundamentalen Bruch anzusetzen ist und ihre Wurzeln nicht zuletzt in der Pflanzen- und Tiergenetik zu suchen sind.34 Die Verbindung von Genetik und Humangenetik ist von der Eugenik zwar nicht zu trennen. Die Feststellung, dass
„genetics was indistinguishable from scientific eugenic“,35 trifft aber nicht den
Punkt, wenn damit die eingleisige Bedingtheit der Entwicklung des Mendelismus durch den medizinischen Gedanken der Verhütung von Erbkrankheiten
gemeint ist.36 Andererseits ist der These von der Schwäche der Genetik und
ihrer Vernachlässigung im Nationalsozialismus nicht haltbar.37 Dies gilt gleich32
Vgl. Weindling 1985: 493-97, Herv. Verf.. Während Weindling diese Spaltung im Herrschaftssystem des Nationalsozialismus selbst verortet, wo sie Konfliktstoff birgt, entspricht sie bei
Kröner der – sich ergänzenden – Entgegensetzung von Wissenschaft und Nationalsozialismus
selbst. Die „technokratischen Träume und Utopien“ der Erbforscher und Anthropologen hätten
„die Nazis“ als Legitimierung ihrer Ideologie genutzt (Kröner 1998: 59). Wissenschaft und Nationalsozialismus standen im Verhältnis der „gegenseitigen Indienstnahme“ zu einander, deren
Effekt die ‚verschleiernde’ „Szientifizierung der Ideologie“ war (ebd.). Dies heißt, dass das
Verhältnis von Wissenschaft und Nationalsozialismus im Zentralen keine Einheit bildete.
33
Vgl. auch Mehrtens 1980: 42 (40-45). Zu „technokratischem Bewusstsein“, vgl. Habermas
1968: 88-89.
34
Vgl. Weindling 1993: 643 u. 648. Die Emanzipierung der Humangenetik als medizinische Genetik wird als Bruch mit der Eugenik verstanden, der in England und den USA in den 1930er
einsetzte (vgl. Kevles 1995: 193 u. 205), in Deutschland in den frühen vierziger, tatsächlich sich
aber erst in den sechziger Jahren vollzog (vgl. Weingart et al. 1992: 144-45, 561 u. 622ff.). Es
ist jedoch andererseits auf die zunehmende Bedeutung der Genetik für die Anthropologie als
einem Strang der disziplinären Genese der Humangenetik in den zwanziger und dreißiger
Jahren hingewiesen worden (vgl. Massin 1993: 225ff.), so dass Kaufmann 1998: 348 von einer
„rassenhygienisch-genetischen Wende in der Anthropologie“ spricht.
35
Weindling 1985: 307
36
Vgl. Weindling 1993: 644.
37
Vgl. Propping & Heuer 1991: 79-80. Die Autoren beziehen sich auf die These von Nachtsheim 1955b: 10; vgl. auch Nachtsheim 1953a: 319; Nachtsheim 1947c: 149. Nachtsheims
Beurteilung bezieht sich auf die Breitenwirksamkeit der Genetik und die Verankerung der Erb-
16
falls für die These ihrer Wirkungslosigkeit im Vererbungsdiskurs und Diskurs
der Eugenik und Rassenhygiene in der Weimarer Republik.38 Aus all dem folgt,
dass die Medikalisierung der Humangenetik und ihre Abkehr von sozialtechnologischen Konzepten der Eugenik unzulässig mit dem „Sieg der Genetik über
die Eugenik“ zusammengebracht werden.39 Die These ist dagegen, dass die
Genetik von der Weimarer Republik an die Verbindung von Medizin und Eugenik substanziell stärkte.40
An der Geschichte des KWI für Anthropologie, das an der Spitze der Medikalisierung stand, lässt sich zeigen, dass sie mit dem ununterbrochen bis heute
aktuellen Programm der „Genetifizierung“ der Medizin41 verbunden und Teil des
Programms der genetischen Fundierung des Wissens vom Menschen und untrennbar von Eugenik war. Ferner lautet die These, dass dieses Programm gerade im Rückgriff auf Genetik und die konzeptuellen und methodischen Innovationen der Genetik in den dreißiger Jahren einen Entwicklungsschub erlebte.
Die Medikalisierung der Humangenetik folgte ihrer Mendelisierung. Diese Verbindung wurde bereits in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren unter starker Beteiligung der Genetik in zweierlei Weise präformiert.
1. In die Medizin wanderten genetische Methoden und mendelgenetische Problemstellungen ein.
2. Die Genetik näherte sich – aus unterschiedlichen Gründen – pathologischen
Themen. Dies wird anhand dreier Fallbeispiele in dieser Arbeit erhärtet:
A. am Werdegang des Genetikers Hans Nachtsheim und der Kaninchengenetik
am Institut für Vererbungsforschung der Landwirtschaftlichen Hochschule,
Berlin, und dem KWI für Anthropologie (Kapitel 2, 6 u. 7),
B. am Aufbau von zentral organisierten Versuchstierzuchten für medizinische
Forschung durch die Notgemeinschaft deutscher Wissenschaft (Kapitel 3 u. 4),
C. am Diskurs um die Gefahr der Erbschädigung durch die Anwendung von
Röntgenstrahlen in der Gynäkologie (Kapitel 5).
Es zeigt sich, dass die Genetisierung und Medikalisierung der menschlichen
Vererbungsforschung mit der Entwicklung in den angelsächsischen Ländern
den Umstand teilte, dass sie bereits Anfang der dreißiger Jahre einsetzte und
durch den ‚Mutationismus’ – die große Bedeutung der Mutationsphänomene in
der Genetik – befördert wurde.42 Es wird das Bild einer durch ein mutationsgenetisches Dispositiv eingefassten strahlengenetischen Episteme zu zeichnen
und Rassenlehre des Nationalsozialismus, nicht auf ihr Verhältnis zur Eugenik. Nachtsheim
betont zugleich die Verantwortung und das schuldhafte Versäumnis der Genetiker zum Protest
gegen die „Rassentheorie Hitlers“. Dagegen, vgl. Weingart et al. 1992: 556-57. Weingart et al.
1992: 560 sehen die Schwäche der Genetik – trotz einer zunehmenden genetischen Fundierung der Rassenhygiene im Nationalsozialismus – in ihrer politischen Marginalisierung.
38
Vgl. Weingart et al. 1992: 355 u. 365-66; dagegen Weindling 1993: 646.
39
Vgl. Weingart et al. 1992: 635-36. – Dagegen steht die These, dass die deutsche Eugenik im
Wesentlichen ein medizinisches Profil annahm. Sie ist demnach als ein Produkt sozialer Umbrüche in der deutschen Gesellschaft seit der zweiten Hälfte des 19. Jh. zu begreifen, in deren
Folge Wissenschaft, Biologie und Medizin zu zentralen Elementen sozialer Interessen und Affirmation wurde: Eugenik als medizinisch-biologische Ideologie der sozialen Integration (vgl.
Weindling 1989: 7-10 u. 574-77).
40
In diese Richtung geht Roth 1986 (zugleich: Roth 1999).
41
Zur Aktualität, vgl. Vogel 1990, Höhn 1997; Vogel 1998.
17
sein, deren produktive Wirkung in allen drei Beispielen von entscheidender Bedeutung war.
Hans Nachtsheims sticht in der Genetik dieser Zeit hervor, da seine Forschung spätestens ab Mitte der dreißiger Jahre programmatisch eine Verbindung zwischen Humangenetik, Medizin und Genetik darstellte. Sein Programm
einer „vergleichenden Erbpathologie“ ist insofern ein besonderes; dennoch ist
es auch exemplarisch für die Hinwendung der Genetik und speziell der Säugetiergenetik zu pathologischen Problemen (wenn auch der Bezug damit nicht
unbedingt humangenetischer Art war). Die Person Nachtsheims war wiederholt
Gegenstand historiographischer Untersuchungen, da er im Nationalsozialismus
geradezu personifiziert am Schnittpunkt von Genetik, Humangenetik und Eugenik stand sowie eine führende Rolle in der Reetablierung der Genetik und Humangenetik in der Bundesrepublik einnahm.43 In der Beachtung dieser Zusammenhänge sind aber seine Tätigkeiten im Kaiserreich und in der Weimarer Republik unterbelichtet geblieben. Dies erweist sich im Hinblick auf die hier aufgeworfenen Fragen nun aber als Nachteil, da, so wird zu zeigen sein, die Darstellung Nachtsheims Rolle nach 1933 im Lichte vorhergehender Ereignisse von
erheblicher Bedeutung für die Interpretation seiner Person im Spannungsfeld
von „Wissenschaft und Gesellschaft“ ist.
Der Schlüssel zum Genetiker und Eugeniker Nachtsheim scheint mir weniger
in seiner mendelschen Eugenik als seinem technokratischen Selbstverständnis
als Wissenschaftler zu liegen, das ihn unter den Bedingungen der Techniknähe
und des Universalitätsanspruchs der mendelschen Genetik innerhalb des biomedizinischen Diskurses zu einer kompromisslosen Haltung disponierte, die
Züge eines ‚mendelgenetischen Weltbildes’ annahm. Diese Haltung bedingte
die szientistische Anwendung genetischer Konzepte auf nicht-genetische Problemfelder und ergänzte sich mit einem selbstbeschränkten politischen Bewusstsein. Da der mögliche Raum von Politik in Nachtsheims Verständnis eng
entlang der Grenzen der eigenen Wissenschaft orientiert war, konvergierte die
Dichotomie von Wissenschaft und Politik von ihren beiden Polen her. Die eugenische Exponierung war nur ein folgerichtiger Ausschnitt dieser Haltung. Darüber hinaus betraf sie den mendelgenetischen Fundamentalismus, den Nachtsheim im Spektrum der deutschen Vererbungslehre einnahm, die kämpferische
Genetisierung der Landwirtschaft, die eng gefasste Programmatik der vergleichenden Genetik und Erbpathologie sowie letztendlich die Modellierung von Kaninchen im Wechselspiel von Experiment und Menschenversuch. Die grundlegenden Aussagen dieser Charakterisierung bilden eine Struktur und Verfasstheit wissenschaftlicher Arbeit und ihrer gesellschaftlichen Verortung, die auch
auf andere Teile und Vertreter der Genetik zutreffen.
42
Zu USA und England und der Erforschung von Mutationsraten und der Frequenz rezessiver
Gene, vgl. Kevles 1995: 204ff..
43
Vgl. Weindling 1989: 557-73 u. Register; Harwood 1993: siehe Register; Deichmann 1995:
302-19; Klee 1997: 228-30; Kröner 1998: 97-118 u. 209-35; Müller-Hill 2000: 216 u. 220 (zugleich: Müller-Hill 1999); Paul & Falk 1999; Deichmann 1999; Proctor 2000: 19 u. 35; Sachse &
Massin 2000: 36-38; Klee 2001: siehe Register. Studien, die über den hiesigen Untersuchungszeitraums hinausgehen: Paul, Diane: The Cold War in Genetics: Hans Nachtsheim and Human
Genetics in Post-War-Germany, History of Science Annual Meeting, New Mexico, 17.1.1993;
Neppert 1997; Hahn 2000: 8, 60-61, 110 u. 122-29.
18
Die Geschichte Nachtsheims, dessen exponierte Rolle zunächst zu einer
personalisierten Wahrnehmung der Verbindung von Genetik und Medizin verleiten mag, führt unter dem zeitlich erweiterten Blickwinkel zu einer Wissenschaftsgeschichte, die sich abseits der intentional oder ideologisch, ideengeschichtlich oder konzeptuell sowie institutionell geleiteten Sicht ereignet. In diese Richtung gehen auch die anderen beiden Beispiele dieser Arbeit, die weiter
unten erläutert werden. Unter einer solchen Perspektive vervielfältigen sich die
Verbindungen zwischen Genetik und Medizin oder Genetischem und Medizinischem, in denen der erbpathologische Gegenstand hergestellt wurde. Sie waren häufiger, intensiver und von größerem Einfluss, als bislang dargestellt.
Dieser Blickwechsel korrespondiert mit der Kritik an bisherigen Ansätzen. In
der soziologischen Sicht der Wissenschaft als einer neuen und dominierenden
Produktivkraft bleibt die Produktion dessen, was ihre Mächtigkeit begründet,
Wissen und Technik nämlich, unterbelichtet. Das Unternehmen Wissenschaft
bleibt in einer kaum thematisierten Autonomie verhangen. Die Frage, wie es zur
Stabilisierung und Vereinheitlichung wissenschaftlichen Wissens kommt, bleibt
in einer Black Box.44 So behält die Wissenschaft auch in Gesellschaftstheorien,
die den besonderen Einfluss der Wissenschaft auf die Gesellschaft konstatieren
und dies mit Kritik an der Art des wissenschaftlichen Wissens verbinden, ihren
Sonderstatus. Entstehungsbedingungen der modernen Wissenschaft, die Qualitäten der wissenschaftlichen Erkenntnis und die Art und Weise ihrer praktischen
Durchsetzung bleiben außerhalb der Betrachtung bzw. werden vorausgesetzt.45
Angenommen aber, wissenschaftliches Wissen ist wesentlich fragil, dann
heißt das, dass es ständig aktiv stabilisiert, erhalten und vermittelt werden
muss. Damit rücken die Aktivitäten der Wissenschaft, ihre Produktionsprozesse
und der Wissenschaftler selbst als aktive Teilnehmer in den Mittelpunkt der Betrachtung. In den verschiedenen Beispielen dieser Arbeit geht es um Formen
dieser Aktivität in der Wissenschaft. Mit „Experten“ und „technokratischem Bewusstsein“ werden dann im weiteren die Weisen charakterisiert, wie Wissenschaftler die Grenzen der Wissenschaft aktiv überschreiten.46 Unter dieser
Maßgabe stellen sich beispielsweise die Beziehungen von Genetikern zum
Machtapparat des Nationalsozialismus als verschiedene Formen von „Kollaborationsverhältnissen“ dar.47
Vor dem Hintergrund jener vielfältigen Verbindungen und Bedingungsverhältnisse, unter denen der erbpathologische Gegenstand Form gewann, ist zudem
zu schlussfolgern, dass sie dem Verhältnis von Eugenik und Genetik vorhergehend sein konnten oder sich unabhängig davon herstellten. Wenn dies so ist,
stellt sich allerdings die Frage, was das Gemeinsame dieser vielfältigen ‚Pro44
Vgl. Stehr 1994: 209 u. 219. Zu dem Problem der Einheit und Stabilität in der Wissenschaft,
vgl. auch Hacking 1992: 29.
45
Vgl. Stehr 1994: 276. Das trifft auch auf die ältere Wissenschaftssoziologie im Ganzen zu
(vgl. Hasse et al. 1994: 225).
46
Als „Experte“ wird hier jemand verstanden, der Spezialwissen bereitstellt, über das und mit
dem Macht und Herrschaft zunehmend mediatisiert wird (vgl. Szöllösi-Janze 2000: 47-48). In
die Vermittlung und Anwendung von Wissen ist der Experte aktiv eingebunden (vgl. Stehr 1994:
391). Auf die Rolle des Experten in den spezifischen Kontexten weisen auch Weindling 1989: 34 u. 7, Mehrtens 1994a: 14 und Harwood 1993: 306 hin.
47
Zu „Kollaborationsverhältnisse“, vgl. Mehrtens 1994a: 14.
19
duktionsverhältnisse’ war, durch das letztendlich die genetische Humangenetik
hervorgebracht wurde. Als Antwort auf diese Fragestellung soll hier nur thesenhaft formuliert werden, dass die Experimentalisierung, das technokratische Bewusstsein und das rassenhygienische Paradigma gemeinsam diese überbrückende und konvergierende Funktion einnahmen.
Aktualität
Mit Blick auf die außerwissenschaftlichen Einflüsse ist aber zum rassenhygienische Paradigma anzumerken, das es als Paradigma einer Kuhnschen Normalwissenschaft und scientific community48 kein soziologischer Begriff in dem Sinne ist, dass er für sich schon verdeutlichte, wie Wissenschaft zu Gesellschaft
kommt und umgekehrt.49 Bevor ich deutlich machen werde, in welcher Weise
die Produktion des erbpathologischen Gegenstands außer als normalwissenschaftliche Explikation eines Paradigmas verstanden werden kann, möchte ich
kurz auf die Aktualität einiger Themen dieser Arbeit hinweisen, die sich mit
jüngsten Entwicklungen in der Genetik und Genomforschung auftun. Nicht zuletzt wegen mancher Ähnlichkeiten zwischen den historischen Debatten und der
Gegenwart erscheinen die methodischen Überlegungen wichtig, um die richtigen Vergleiche anzustellen, die ‚richtige’ Geschichte von Kontinuität und Brüchen schreiben und heute die richtigen Fragen stellen zu können. An der Person Hans Nachtsheims ließe sich zeigen, in welcher ungebrochenen Weise in
der genetischen Forschung Probleme und Themen nach 1945 wieder aufgenommen und weiter entwickelt wurden. Die Geschichte liest sich aber auch auf
der Folie des heutigen Booms molekulargenetischer Forschung und des Human
Genome Projects als eine Wiederaufnahme von Problemen und Fragen des
Mendelismus der zwanziger und dreißiger Jahre in Deutschland – in molekularbiologischer Lesart. Allen voran steht die Renaissance entwicklungsphysiologischer Fragen, mit denen in der functional genomics die Brücke zwischen Genloci und dem Phänotyp geschlagen werden soll. Für die Humangenetik und das
genetische Verständnis von Krankheiten sind der Ausbau der vergleichenden
48
Mit der „scientific community“ wird der oben angesprochenen Notwendigkeit nachgekommen,
unterhalb von Disziplinen und oberhalb verstreuter lokaler Praktiken, die Bildung von Homogenität und Stabilität zu beschreiben. S.c. charakterisiert eine spezialisierte Gruppe von Wissenschaftlern, die durch die Befolgung eines gemeinsamen Paradigmas bestimmt ist (vgl. Kuhn
1967: 29). Ich möchte im Folgenden Kuhns Bergriffsverwendung nur eingeschränkt übernehmen, da andere Gruppierungen sinnvoll und notwendig sind (Forschergruppen innerhalb
einer „Experimentalkultur“ oder um ein „boundary object“ herum).
49
Es sei zudem angemerkt, dass die Vermittlung von „Wissenschaft und Gesellschaft“ auch in
der Diskurs- und Machttheorie Michel Foucaults nicht voll erfasst wird (vgl. Honneth 1989: 19091). Allerdings ist für Foucault (ab „Überwachen und Strafen“) wissenschaftliches Wissen wie
Wissen überhaupt nicht nur konstitutiv für Macht, sondern umgekehrt auch durch Macht hervorgebracht, wenn auch Foucault es nicht auf die diskursive Hervorbringung zu reduzieren scheint
(vgl. Foucault 1976: 39; Deleuze 1987: 58; Lemke 1997: 90ff.). Es böte sich auch an, Foucaults
„Mikrophysik der Macht“ und seinen dezentralen Machtbegriff auf die Vielfältigkeit der Vermittlungswege zwischen genetischen Wissen und Machtverhältnisse anzuwenden, zumal anderseits Foucault mit der „Bio-Macht“, der Regulierung der Bevölkerung, Disziplin der Körper und
zuletzt der Gouvernementalität der Risiken selbst das biomedizinische Wissen ins Zentrum
seiner Genealogie der Macht stellt (Foucault 1999a). Dass dies zumeist mit dem Blick auf
neuere Entwicklungen der Gentechnologien geschieht (vgl. Lemke 2000), liegt nicht zuletzt
daran, dass sich die spezifischen Entstehungsbedingungen und Ausformungen des Nationalsozialismus der genealogischen Analytik entziehen (vgl. Foucault 1999a: 96 u. 300-02).
20
Genetik und die Rückkehr von Säugetieren als Modelle entscheidend. Aus der
Sicht der Humangenetik stellt sich die entwicklungsbiologische Untersuchung
der Pathogenese als eine Möglichkeit dar, den komplex verursachten Krankheiten in genetischen Begriffen Herr zu werden.50 Von einer ähnlichen Motivation war die Humangenetik der dreißiger Jahre geleitet, als sie sich mit der genetischen Entwicklungsphysiologie zu verbünden suchte (Kapitel 7). Es wird
heute auch an die über Jahrzehnte zurückgestellte Hoffnung angeknüpft, den
genetischen Erklärungsanspruch auf so genannte multifaktorielle Formen der
Vererbung, auf alle Arten der variablen Merkmalsmanifestation und die Verschränkung von Vererbung, Epigenese und Umwelt (Ernährungsfragen und
Infektionskrankheiten) ausweiten zu können (Kapitel 4).51 Es bahnt sich ein
genetisch fundiertes „ganzheitliches Modell’ an ähnlich der Ankündigung einer
„modernisierten und genetisch fundierten Ganzheitsauffassung des Organismus“ durch den Genetiker Nikolaj Timoféeff-Ressovskys 1934 – mit dem Unterschied, dass heute die Grenze zwischen Individuum und Umwelt in der Interaktion verschiedener (menschlicher und nicht-menschlicher) Genome aufgelöst
wird.52 Daher stellt sich die Frage umso dringender, was es mit der „postgenomischen“ Ära auf sich haben wird.53
Methodische Einordnung
Auch in der neueren Geschichtsschreibung des Nationalsozialismus wird die
Unterscheidung von good science und bad science beibehalten. Die Frage
nach der Gesellschaftlichkeit von Wissenschaft und danach, wie Wissenschaft
sich genau in Strukturen und Ziele gesellschaftlicher Arbeitsteilung einbindet,54
drängt aber danach, auf neuere Entwicklungen in der Historiographie der Wissenschaften und Epistemologie zurückzugreifen und die ‚interne’ wissenschaftlichen Tätigkeiten nicht vorauszusetzen, sondern Wissenschaft als einen Prozess der Produktion von Wissen zu verstehen.55 Die szientistische Wissenschaftskonzeption ist in den vergangenen Jahren von einem soziohistorischen
Verständnis der Wissenschaftsentwicklung abgelöst worden. Die Black Box
wurde geöffnet. Es zeigte sich, dass Wissen keineswegs an eine bestimmte
Form der Rationalität oder Logik gebunden ist oder ausschließlich als nicht-lokales Wissen produziert wird. Wissenschaftliches Wissen ist fragil, und der Ort
der Produktion wissenschaftlicher Erkenntnis unterscheidet sich vielfach nicht
von der Situation der Produktion alltäglicher Wissensformen. Wird Wissenschaft
und speziell die hier im Zentrum stehenden experimentellen Wissenschaften
nicht als eine Institution verstanden, die – zumindest im Kern – eigenen Gesetzen gehorcht und einen Prozess der Kumulation und linearen Fortentwicklung
von Wissen und seiner fortschreitenden Verbesserung, Rationalisierung oder
Annäherung an eine unabhängig von ihr bestehende Realität trägt, dann erklärt
sich der neue Stellenwert ihrer Aktivitäten für historische Betrachtungen.
50
Vgl. Vogel 2000: 492.
Vgl. Vogel 2000: 489-99; von Schwerin 2001; Lemke 2002.
52
Vgl. Timoféeff-Ressovsky 1935b: 112; Lemke 2002: 25.
53
Vgl. Fox Keller 2000: 9.
54
Vgl. Mehrtens 1980: 40.
55
Vgl. Biagioli 1992: 199.
51
21
Diese Arbeit versucht deshalb den Anschluss zu Strömungen herzustellen,
die sich in den science studies mit den Schlagworten science-as-practice bzw.
Experimentalismus verbinden. Kennzeichnend ist die Kritik nicht nur an ideen-,
personen- und institutionenzentrierter Wissenschaftsgeschichte, sondern auch
an dem fortwährenden Primat von Theorie in relativististischen Wissenschaftstheorien (kulturrelativ) und in der sociology of scientific knowledge (interessenrelativ).56 Wenn ich auf der anderen Seite weiterhin auf umfassende historische
oder soziologische Termini nicht verzichte, so stellt dies keinen Eklektizismus
dar, sondern spiegelt die – anhaltende – Schwierigkeit wider, zwischen der lokalen, situativen und differenziellen Produktion von Wissen einerseits und
seiner Stabilität oder der Einheit der Wissenschaft andererseits sowie dem
Zusammenwirken von Wissenschaft und anderen gesellschaftlichen Praktiken
und Diskursen zu vermitteln.57
Gegen die reduzierende und idealisierende Soziologisierung führte die Beschäftigung mit der wissenschaftlichen Praxis und ihrer materiellen Gestalt
(Techniken, Apparate) ein Stück weit zurück.58 Die experimentelle und technische Praxis stellen sich als Bereiche relativer Autonomie dar. Wissenschaftliche
Kultur, so aber die wichtige Botschaft, besteht gleichermaßen aus materiellen,
institutionellen, sozialen und konzeptuellen Aspekten, die nicht in einheitlicher
Beziehung zu einander stehen und somit disziplinäre Schemata obsolet machen. Die Betonung der Heterogenität, Multiplizität und Unreduzierbarkeit verabschiedete zugleich „Interesse“ als zentrale Kategorie.59
Dies führt zur Frage, wie Theorie und Experiment technisch und sozial vermittelt sind.60 Von hier aus erklärt sich die aufgeworfene Frage, wie eine Ge56
Das Experiment und die Praxis werden letztlich immer nur als Überprüfung oder Exemplifikation von Theorie dargestellt und untersucht (Die Vorliebe des logischen Empirismus für die Empirie bezieht sich auf die Beobachtung, die nicht mit dem Experiment gleichgesetzt werden
kann). Bei Kuhn drückt sich dies in der „Priorität der Paradigma“ aus (Heidelberger 1998: 7275). – Die Spannung zwischen Sozialem und Politischen einerseits und dem Wissenschaftlichen andererseits ist seit fast dreißig Jahren Gegenstand der inzwischen stark diversifizierten
science studies, die zumindest eines zusammenhält: die Historisierung des wissenschaftlichen
Wissens und damit die Zugänglichkeit auch seines bisherigen „internen“ Kerns – des Rechtfertigungszusammenhangs – und damit die Kontextualisierung der Wissenschaft als Ganzes. Dies
fand als die Betonung der Theorie und Sprache bei Bachelard, Wittgenstein und Kuhn gegenüber den wissenschaftlichen Tatsachen statt, denen in der positivistischen Wissenschaftsphilosophie oder in realistischen Konzeptionen ein besonderer Status zugeordnet wurde. An die
Historisierung schloss die Soziologisierung an, der Versuch, wissenschaftliches Wissen als ein
soziales – und damit entweder relativistisches, konstruktivistische oder diskursives – Produkt
darzustellen (vgl. Pickering 1992: 1; Lynch 1992: 215). Daneben findet sich ein Strang der
ethnomethodologischen Studien, die zum Teil aber eng mit der sociology of scientific knowledge (SSK) verbunden sind (vgl. ebd.: 216). Teil der SSK war die Beschäftigung mit der wissenschaftlichen Praxis, wodurch die Frage aufgeworfen wurde, in welchem Verhältnis Praxis
und Theorie stehen.
57
Vgl. Pickering 1992: 8-9; Rheinberger & Hagner 1997: 26. – Das Problem tritt auch dann auf,
wenn – wie bei Foucault – Macht in ähnlicher Weise wie ‚Erkenntnis’ an Mikropraktiken in- und
außerhalb von Institutionen gebunden und somit verstreuter, pluraler und dezentrierter gedacht
wird.
58
Die Beschäftigung mit der wissenschaftlichen Praxis und dem Experiment wurde durch empirische Untersuchungen von Latour & Woolgar 1979 und Knorr-Cetina 1991 und wissenschaftsphilosophisch durch Hacking 1996 eingeleitet. Als Überblick, vgl. Hasse et al. 1994.
59
Vgl. Pickering 1992: 8 bzw. Lynch & Woolgar 1990: 9 u. 16.
60
Vgl. Lenoir 1992b: 177.
22
schichte der Details den besonderen Einfluss erklären kann, den die Wissenschaft entfaltet. Wie können wenige Bewegungen in einem Labor eine Gesellschaft verändern, wie es Latour provokativ mit der „Pasteurisierung“ Frankreichs ausgedrückt hat?61 Vor dem Hintergrund, dass wissenschaftliches Wissen als ein historisches Produkt gelten kann, stellt sich nun umgekehrt die Frage, wie dieses Wissen politisch, kulturell, sozial oder ökonomisch wirksam wird.
Latour hat ein Modell für diese aktive Rolle der Wissenschaft entworfen, in dem
das gesellschaftliche Handeln des Wissenschaftlers als Teil der Produktion des
wissenschaftlichen Wissens begriffen wird.62 Die historiographische Beschreibung folgt Handlungen und Aktivitäten oder dem „interessement“ als einer
Gruppe von Aktionen.63 Daraus ergibt sich ein erweitertes Netzwerk, in dem die
Interessen verschiedenartigster Akteure nur im transitorischen Zustand der
Übersetzung („translation“) existieren.64 Wenn der Prozess, in dem beispielsweise sich Nachtsheims vergleichende Erbpathologie zu einem Programm herausbildete, nicht als Aufeinandertreffen von fixen Interessen beschrieben wird,
sondern als die Möglichkeit und Realisierung von Assoziationen, dann erweitert
sich das Bild von der wissenschaftlichen Aktivität um die Eigenbewegung der
technischen und experimentellen Ermöglichungsbedingungen und die zahlreichen Gegenstände im Experiment (Kapitel 2 u. 6).65
Die Stärke dieses Praxisbezuges für das Thema dieser Arbeit, das nicht die
Disziplin der Humangenetik, sondern – davor- und danebenliegend – die Herausbildung des erbpathologischen Gegenstands ist, liegt darin, die Realisierung
des erbpathologischen Gegenstands in verschiedenen Formen seiner Repräsentation verfolgen zu können. Verschiedene Repräsentationsräume, in denen
menschliche Krankheiten in Konzepten der Vererbungswissenschaft dargestellt
wurden, werden nun angetroffen.66 In der Sicht, in der die Dinge und Objekte
der Wissenschaft an ihr materielles und diskursives Medium gebunden sind,
stellen die experimentellen Anordnungen „hybride Gebilde“ dar: die „Forschungsobjekte, Experimentiervorrichtungen, Instrumente sowie disziplinäre,
institutionelle, soziale und kulturelle Dispositive bilden hier ein Amalgam“, in
dem die relative Autonomie von Theorie und Praxis einschmilzt.67 Die Analyseebene der experimentellen Systeme und ihrer Gegenstände umfasst Aktivitäten
innerhalb eines Ensembles von Experimentalsystemen eines Instituts,68 wech-
61
Vgl. Latour 1999a: 269 bzw. Latour 1988.
Vgl. Latour 1987.
63
Vgl. Latour 1987: 213 bzw. Callon 1999: 71.
64
Vgl. Latour 1987: 108-16.
65
Vgl. Latour 1987: 141, 175 u. 202; Latour 1999b: 284.
66
Repräsentation wird hier im Zuge der Überwindung der paradigmatischen Rolle sprachlicher
Strukturen als eine materiell verankerte kulturelle Tätigkeit verstanden (vgl. Rheinberger &
Hagner 1997: 25). Eine praxisorientierte Repräsentationsanalyse rekurriert auf die experimentellen, instrumentellen, pragmatischen und diskursiven Aspekte wissenschaftlicher Symbolproduktion gleichermaßen (vgl. ebd.; Hagner 1997: 338). Repräsentation ist Produktion und Reproduktion oder „eventuation“ (intervention, invention, creation of events) (Rheinberger 1997: 108).
67
Rheinberger & Hagner 1997: 14-15. Foucault fasst Dispositive als ein Netz aus heterogenen
Elementen auf, die diskursives und nicht-diskursives umfassen (vgl. Foucault 1978: 119-20).
68
Diese Ensembles in den Grenzen eines Instituts nenne ich im Folgenden „Experimentalkomplex“. Siehe zur Erläuterung 2.1.2, Seite 80.
62
23
selt aber nahtlos zu anderen Laboren, anderen wissenschaftlichen Kulturen,
verstreut sich und zielt nicht zuletzt auch auf außerwissenschaftliche Bereiche.
Im Folgenden soll der ‚rote Faden’ dieser Arbeit entlang thematischen Blöcken
– Tiermodelle, das Verhältnis von „Wissenschaft und Gesellschaft“ und der erbpathologische Gegenstand – aufgezeigt werden. Anschließend folgt eine inhaltliche Übersicht der Reihe nach.
Modelle
Zu jenen Aktivitäten der Wissenschaft gehört die für die Experimentalwissenschaften zentrale Prozedur der technologischen und irreversiblen Umwandlung
von einem aufgefundenen Objekt in ein „wissenschaftsfähiges Modellobjekt“.69
Zu solchen Modellobjekten gehören die Modellorganismen der Biologie und der
Genetik. Sie sind die Objekte der Experimente: Fliegen, Frösche, Mäuse, Kaninchen usw. Auch die erbpathologischen Gegenstände waren an Modellobjekte und die Herstellung von Modellsystemen gebunden. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich im genetischen Diskurs der zwanziger und dreißiger Jahre die
grundlegende Bedeutung von Modellorganismen für die genetische Forschung
und ihre praktisch-diskursive Wirkung auf die Medizin. Diese Bedeutung wurde
mit der Geburt der vergleichenden Genetik, die gegen Anfang der dreißiger
Jahre anzusetzen ist noch verstärkt. In einer historischen Perspektive haben die
Modelltiere der Genetik bereits einige Beachtung erfahren.70 Gerade im Hinblick
auf die Renaissance von Modellorganismen im Zusammenhang des Human
Genome Projects bzw. mit Entwicklung der functional genomics könnte eine
methodische Reflexion in den Fachwissenschaften erwartet werden.71 Es zeigt
sich aber, dass die Geltung von Modellen wie schon in den dreißiger Jahren
nicht in expliziten und isolierten Verhandlungen, sondern im Gebrauch bestimmt
wird und ihre Einführung als soziotechnischer Prozess aufzufassen ist.72
Es sei an dieser Stelle angedeutet, dass die Modelle der vergleichenden Genetik als experimentelle Modelle für den Menschen eine besondere Problematik
aufwerfen. In die Schemata wissenschaftstheoretischer Unterscheidungen lassen sie sich nicht einfach einordnen. Ein theoretisches Modell ist beispielsweise
die Repräsentation eines Mechanismus, eines Ablaufs oder einer Beziehung.
Das vergleichende Modell versucht hingegen eine Simulation, auf deren Grundlage erst Repräsentationen angestrebt werden. Das vergleichende Modell interessiert nur als Modell für die Medizin. Der Maßstab ist der menschliche Organismus, mit dem in der Regel nicht experimentiert werden darf. Es ist ein Ersatz. „The mouse was – and still is – a powerful useful surrogate for man in inquiry as to whether principles and phenomena found in ‚simpler’ systems apply
69
Rheinberger & Hagner 1997: 22; vgl. auch Rheinberger 1997: 108-10.
Vgl. Clarke, Fujimura 1992; Clause 1993; Zallen 1993a; Kohler 1993; Burian 1993;
Gaudillière 1994; Amann 1994, Rader 1995; Keirns 1999; Gaudillière 1999; Rader 1999;
Fujimura 1999; Amsterdamska 2001; Gaudillière 2001a. Neuere Literatur zu Modellorganismen
schließt zumeist an wissenschaftsphilosophische Unterscheidungen an (vgl. Wagner 1997;
Schaffner 1998 (u. folgende Aufsätze darin); Ankeny 2001).
71
Ausnahmen sind: Bell 1984; Leiter et al. 1987; Erickson 1989; Darling & Abbott 1992;
Brenner 2000; Benner & Gaucher 2001.
72
Vgl. Gaudillière 1994: 233; Gaudillière 2001a: 91.
70
24
to the human.”73 Das Tiermodell hat den Vorteil, dass es ein einfacheres „System” ist als der menschliche Referent. Dies ist zugleich der Ausgang der Problematik solcher imitierenden Modelle: Das Manipulative und Konstruktive ist
expliziter und ausgeprägter als sonst in den Modellorganismus eingeschrieben.74 Kapitel 5.4 und 6.3 vertiefen diesen Denkansatz.
Der Umgang mit Organismen steht auch in den anderen Kapiteln – bis auf
das erste – in verschiedener Weise im Mittelpunkt: Die Modelltiere treten einerseits als Vermittler der wissenschaftlichen Praxis, Konzepte, Probleme und des
politisch-gesellschaftlichen Kontextes auf. Differenzielle Reproduktion ist eine
zentrale Bedingung der Möglichkeit der Experimentalwissenschaften, die die
‚Mitarbeit’ der Modelle erforderte (Kapitel 4). Diese Möglichkeitsbedingung verbindet die Organismen mit der Produktion neuer epistemischer Dinge wie auch
mit der Formung des Diskurses moderner Naturwissenschaften (Kapitel 2). In
einem anderen Beispiel lässt sich darstellen, wie Modelltiere das Zusammentreffen und die Dynamik zwischen zwei Fachgebieten (Säugetiergenetik und
Serologie) vermittelten; die Vermittlerrolle basierte auf ihrem konstruktiven Charakter und nicht auf ihrem ‚Wesen’ (Kapitel 3). Das Zusammentreffen von bislang getrennten scientific communities kann unter gegebenen Umständen auch
konfrontativ sein. Die Verknüpfungen, die durch das Ereignis der Röntgenmutationen möglich wurden, verwirklichten die unterschiedlichen Akteure, indem sie
den Status von genetischen Modellen und experimentellen Repräsentationsräumen der Genetik härteten (Kapitel 5). Die direkte Übertragung von Techniken,
Objekten und Modellen zwischen Genetik und Humangenetik wiederum blieb im
Wesentlichen einseitig (Kapitel 7). Die Zuspitzung von Modellen auf Modellorganismen der vergleichenden Genetik bzw. Erbpathologie führt ins Zentrum des
Themas dieser Arbeit. Die Modellierung von Tiermodellen für menschliche Erbkrankheiten bewegte sich in einer zweifachen Reflexionsstufe der Experimentalisierung, die als Bewegung zwischen Imitat, Surrogat und Supplement verdeutlicht werden kann (Kapitel 6). Die unerfüllte Identität zwischen dem Modell und
seinem menschlichen Referenten sowie die Handlungszwänge der science in
action sind der Ausgangspunkt dafür, ein extremes Beispiel wissenschaftlicher
Grenzüberschreitung – den Menschenversuch – und die Frage nach dem Zusammenhang von Experimentalisierung und Brutalisierung der Forschung zu
thematisieren (Kapitel 8).
Das Verhältnis „Wissenschaft und Gesellschaft“
Ausgehend von Harwoods wissenssoziologischer Unterscheidung zweier Denkstile in der deutschen Vererbungswissenschaft wird der frühe Werdegang von
Hans Nachtsheim nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft untersucht (Kapitel 1). Die Produktivität seiner Unterscheidung liegt meines Erachtens darin, auf Kontexte der mendelschen Genetik hinzuweisen, die ‚alte’ Fragen nach dem Zusammenhang von Moderne, Wissenschaft und Technik wieder
73
McKusick & Roderick 1987: 5
Unmittelbar einsichtig zeigt sich die Produziertheit von Modellen mit Beginn der transgenetischen Ära in der Molekularbiologie. Durch Genmanipulation und schließlich durch Übertragung
menschlicher Gene in den tierischen Organismus sollen die Tiermodelle eine immer bessere
Simulation eines Prozesses im Menschen ergeben.
74
25
aufnehmen. Unter welchem Vorzeichen dieser Zusammenhang dann aber ausgeführt wird, hängt nicht zuletzt von der gesellschaftstheoretischen Fundierung
ab. Anhand der Untersuchung von Nachtsheims Verständnis von Wissenschaft
kann in Abgrenzung zu anderen Handlungsformen von Wissenschaftlern eine
spezifiziert werden, die sich allgemein durch die Tendenz zur Suspendierung
von Politik durch wissenschaftlich-technisches Wissen charakterisieren lässt,
das heißt die Ersetzung politischen Handelns durch die unbeschränkte Übersetzung von Naturwissenschaft, Technik und andere Bereiche gesellschaftlicher
Praxis ineinander (das heißt nicht, dass keine Politik mehr statt findet, sondern
die Performanz politischen Handelns ersetzt wird). Diese Übersetzungen sind
mit Blick auf die Rolle des Wissenschaftlers das Thema von Kapitel 1, 2 und 6.
Der pathologische Gegenstand
In Kapitel 2 wird gezeigt, wie sich der pathologische Gegenstand aus einer bestimmten Konstellation der experimentellen Bedingungen in Nachtsheims Experimentalsystem herausbildete. Kapitel 6 verfolgt dann die weiteren Einflüsse,
unter denen der pathologische Gegenstand zum zentralen Gegenstand für
Nachtsheims Experimentalkomplex wurde. Diese Einflüsse liegen in der Konstitution moderner Naturwissenschaft wie der forschungspolitischen Situation des
Nationalsozialismus. Kapitel 3 zeigt ähnlich zum zweiten Kapitel die Entwicklung des humangenetischen Gegenstands als unintendiertes Ergebnis, das
heißt – hier – als die tastende und explorative Anwendung der genetischen Experimentalmethode auf serologische Probleme. Die Verschiebungen sind wechselseitig, da im Zusammentreffen („conjuncture“) der Experimentalsysteme medizinische Probleme genetisch umgedeutet wurden sowie die Genetik medizinische Fragestellungen adaptierte. Kapitel 4 exemplifiziert die Nichtintentionalität dieser Entwicklungen. Kapitel 5 nimmt dann eine institutionelle Perspektive
ein, da in der Auseinandersetzung über die Gefahr von Röntgenstrahlen sich
zwei disziplinär getrennte und institutionell organisierte Gruppen, Gynäkologen
und Genetiker, gegenüberstanden. Der erbpathologische Gegenstand ging aus
der Mischung politischer Interessen und interessement hervor. Kapitel 6 zeigt,
wie unter den veränderten Bedingungen des Nationalsozialismus die Technikund Politikfähigkeit der Genetik die Stabilisierung und Stärkung des erbpathologischen Gegenstands übernahm. Kapitel 7 bewegt sich innerhalb des – in der
deutschen Genetik – schon institutionell präformierten Übergangsfeldes von
Genetik und Anthropologie. Das spezielle Interesse der Humangenetiker an der
umfassenden Genetifizierung des Menschen führte zur Adaptation genetischer
Konzepte und Methoden sowie zur Instrumentalisierung des Pathologischen in
ihrer experimentellen Strategie.
Gliederung der Inhalte
Die Arbeit kann ihrem historischen Gegenstand nach in drei Teile gegliedert
werden: Teil A (Nachtsheim, Tierzucht und Pigmente) umrahmt dabei Teil B
(Versuchs-Tierzucht) und Teil C (Röntgenstreit, Strahlen und Mutationen). Teil
B und C liefern Interpretationshilfen für den ersten Teil. Alle Teile werden nicht
nur durch Überschneidungen in den Protagonisten, Institutionen, Problemen
oder Zielen zusammengehalten. Sie bewegen sich alle im Diskurs und inner-
26
halb der experimentellen und gesellschaftlichen Praxis der mendelschen Genetik und liefern jeweils Facetten für ein verallgemeinerndes Bild der Genetik
der zwanziger und dreißiger Jahre.
Teil A umfasst die ersten zwei Kapitel und wird ab Kapitel sechs fortgesetzt.
Die Kapitel dieses Teils bewegen sich entlang des Entwicklung von Hans
Nachtsheim und fragen danach, wie aus Nachtsheims Experimentalsystem zur
genetischen Analyse von Merkmalen von Haustieren für die Landwirtschaft an
der Landwirtschaftlichen Hochschule das Forschungsprogramm einer vergleichenden und experimentellen Erbpathologie erwuchs und Nachtsheim damit in
den Mittelpunkt einer humangenetisch orientierten Genetik rückte. Diese Entwicklung umfasst den Zeitraum 1920 bis 1945. Es macht wenig Sinn, Nachtsheim als singuläre Figur auftreten zu lassen. Der erbpathologische Gegenstand
und die vergleichende Genetik hatten viele Entstehungsgründe und -quellen. So
war Nachtsheims Weg eng an das Arbeitsumfeld im Institut für Vererbungswissenschaft und ganz besonders an seine verehrte Kollegin Paula Hertwig gebunden. Es hätte sich also angeboten, eine Gruppenbiographie anzulegen, die
auch Hans Stubbe oder Günther Just sowie die Schülergeneration (Kurt Koßwig, Hans Grüneberg, Hans Steiniger und Archibald Kaven) hätte umfassen
können. Aus den erwähnten epistemologischen Gründen sollte aber gerade
über die Sozialisation und Enkulturation von Mentalitäten, Stilen und Schulen
hinausgegangen werden. Zwischen dem ersten Teil sind deshalb zwei inhaltlich
eigenständige Teile eingeschoben. Im Teil B, der Kapitel 3 und 4 umfasst, steht
das Zoologische Institut von Alfred Kühn in Göttingen und die Versuchstierzuchtanlagen der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft im Mittelpunkt.
Die Aufmerksamkeit gilt der Zusammenarbeit mit dem Staatlichen Institut für
experimentelle Therapie in Frankfurt und seinem Leiter Friedrich Kolle zwischen
1928 und 1934. Teil C (Kapitel 5) bewegt sich in einem Diskursraum zwischen
Genetikern, Anthropologen, Gynäkologen und Röntgenologen – Experimentalmedizinern, Klinikern und Eugenikern. Er handelt von einer langwierigen Auseinandersetzung zwischen 1927 und 1936 um die möglichen Gefahren, die von
der Verwendung von Röntgenstrahlen in der medizinischen Diagnostik und
Therapie, insbesondere in der Gynäkologie, ausgehen würden.
Inhalt und Realgeschichte
Zunächst wird die wissenschaftliche Sozialisation von Hans Nachtsheim dargestellt – von Richard Hertwig und Richard Goldschmidt kommend zu Erwin Baur
an die Landwirtschaftliche Hochschule, wo sich seine Genetik als eine auf
Landwirtschaft zweckorientierte „Haustiergenetik“ und ideale Ergänzung am Institut darstellte. (1.1) Nachtsheim entsprach dem exakten Spiegelbild Baurs in
der Weise, wie er in der aufstrebenden, aber noch ungeordneten deutschen
Pelztierzucht im Sinne der Genetik und Nationalökonomie agierte. (1.2)
Hieran schließt sich eine Fallstudie an, die die Verhandlungen und Verschiebungen im Diskurs des Wissenschaftlers Nachtsheim mit Kaninchenzüchtern
über die Signifikation und Bedeutung eines neuen Fellmerkmals verfolgt. Als
zentraler Ordnungspunkt dieser konfliktreichen Auseinandersetzung fungierte
die Pathologisierung des Merkmals. (2.1) Von hier aus lässt sich in einer Art
Exkurs ein Leitkonzept von Krankheit entsprechend dem Prinzip von Broussais
27
ausmachen, das ebenso wesentlich für das Verständnis von Affinitäten und
Neuorientierungen in Genetik und Eugenik war wie der ‚Mutationismus’ der
Genetik. (2.2)
Der zweite Teil beginnt mit der Darstellung der Aktivitäten in der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft zur Einrichtung zentraler und professionalisierter Versuchstierzuchten für die medizinische Forschung zwischen 1920 und
1934. (3.1) Im Verlauf dieser von Medizinern und Genetikern getragenen Bemühungen wurde der Zweck solcher Anstalten wiederholt neu bestimmt und letztlich eng an genetisches Know-how gebunden. (3.2) In der Mikroperspektive
lässt sich die methodisch-technische Dynamik verfolgen, durch die im Staatsinstitut für experimentelle Therapie (Frankfurt) genetische Fragestellungen mit
Legitimität und Relevanz versehen wurden und, umgekehrt, am Göttinger Zoologischen Institut die Säugetiergenetik unter Friedrich Kröning zunehmend mit
pathologischen Merkmalen zu tun bekam. (3.3)
Die Darstellung wird fortgesetzt mit der Untersuchung von Alfred Kühns Engagement bei der Einrichtung von Versuchstierzuchten in einer epistemologischen Perspektive. Nach Überlegungen zum Verhältnis von Standards (Identität) und Differenz im Forschungsprozess, (4.1) wird der paradigmatische Umbruch in der mendelschen Genetik um 1930, das heißt die Hinwendung zu kleinen, variablen und physiologischen Merkmalen, dargestellt (4.2) und herausgearbeitet, in welcher Weise den Versuchstierzuchten am Göttinger Institut eine
integrale Rolle in der Neukonzipierung des genetischen Organismusbildes zufiel
(4.3).
Im dritten Teil werden Kühn und das Institut für Vererbungsforschung von
Baur zusammengebracht. Der Hintergrund ist die therapeutische Anwendung
von Röntgenstrahlen in der Gynäkologie zur „temporären Sterilisation“. (5.1)
Unter dem Banner von Strahlengenetik und Mutationsforschung wurden die
damit verbundenen medizinischen Probleme eugenisch umgedeutet. (5.2) Dies
gab Anlass zu Forschungsvorhaben in der Genetik (unter anderen durch F. Kröning und F. Martius, P. Hertwig, N. Timoféeff-Ressovsky, H. Stubbe) – durchaus mit Gewinn für die Genetik. (5.3) Die Auseinandersetzung zwischen Genetikern und Gynäkologen war vor allem eine über die experimentelle und vergleichende Methode der Genetik und ihrer Modelle. (5.4)
Diese Diskussion um Tiermodelle in der Genetik leitet über zur Fortsetzung
der Geschichte Nachtsheims. Die Entwicklung seiner experimentellen und publizistischen Tätigkeit in den dreißiger Jahren und die Formulierung des Forschungsprogramms einer „vergleichenden und experimentellen Genetik“ 1934
wird entlang der historischen Kategorien von Bruch und Kontinuität untersucht.
(6.1) Ein weiteres Fallbeispiel – die Diskussion um die Diagnostik der „erblichen
Epilepsie“ in der Psychiatrie nach Erlass des „Gesetz zu Verhütung erbkranken
Nachwuchses“ und Nachtsheims Beitrag dazu – kann die in 6.1 kursorisch entwickelte These vom technokratischen Gesellschaftsbezug der Wissenschaftler
exemplifizieren. (6.2) Es wird dann auf die Konjunktur der vergleichenden Genetik in Dahlem und die Bedingungen des Diskurses um Tiermodelle in der vergleichenden Genetik zurückgekommen, um sich mit der epistemologischen Problematik des Homologiekonzepts zu beschäftigen. (6.3)
28
Hiernach werden die Fortentwicklung Nachtsheims vergleichender Genetik in
den vierziger Jahren und ihre Integration am Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, Eugenik und menschliche Erblehre dargestellt. (7.4) Den Hintergrund
dazu liefert die Entwicklung der Humangenetik in den dreißiger Jahren, wie sie
an diesem Institut antizipiert wurde. Methodische Unzulänglichkeiten und das
Projekt der ‚Genetifizierung’ des Menschen führten in der Adaptation des „Höheren Mendelismus“ und der Phänogenetik zur Entwicklung von Strategien zur
Ausweitung der humangenetischen Kompetenz. (7.1) Genetifizierung und Medikalisierung der menschlichen Erblehre waren ein starker Trend. (7.2 u. 7.3)
Von hier aus könnte der Anschluss an die medizinische Humangenetik nach
1945 gesucht werden. Das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft ist
aber über Eugenik (6.1) hinaus auch im Zusammenhang von Menschenversuchen zu untersuchen. Die Epilepsieforschung Nachtsheims am KWI entwickelte
eine eigene Dynamik, in der die naturwissenschaftlich-analytische Konzeption
von Modellorganismen nicht zufällig (8.1) neben sozialen Bedingungen der Forschungskultur (8.2) von entscheidender Bedeutung waren. An dieser Stelle kumulieren die in den vorausgehenden Kapiteln vorgenommenen Bestimmungen
und Unterscheidungen zu mendelscher Genetik, Experten, „technokratischem
Bewusstsein“ und Experimentalisierung. (8.3)
Es kann schließlich am Beispiel von Hans Nachtsheim angedeutet werden,
inwiefern der Nationalsozialismus für die Genetiker und die Vererbungswissenschaft alles andere als einen Ausnahmezustand bedeutete und wie in der Bundesrepublik nahtlos die alten Probleme der Forschung aufgenommen und weiterentwickelt wurden sowie ihre gesellschaftliche Relevanz in Kontinuität aktualisiert wurde. (8.3)
Quellen
Als Quellen wurde auf wissenschaftliche Literatur (siehe Literaturverzeichnis)
und Archivalien (siehe Anhang: archivarische Quellen) zurückgegriffen. Einige
Fachzeitschriften wurden systematisch zu bestimmten Themen (Vererbungswissenschaft, vergleichende Genetik, Kaninchenzucht, temporäre Sterilisation,
Cardiazolprovokation von Krampfanfällen) durchgesehen (siehe Anhang: Fachzeitschriften). Den Kern der Archivarbeit bildete die Recherche von Korrespondenzpartnern von Hans Nachtsheim, seinem Umfeld und der Genetik und von
Beständen einschlägiger Institutionen der Forschungs-, Gesundheits- und
Agrarpolitik. Darüber hinaus wurden Interviews mit Schülern und Mitarbeitern
Nachtsheims geführt (siehe Anhang: archivarische Quellen). Über die Präsidentenkommission der Max-Planck-Gesellschaft „Geschichte der Kaiser-WilhelmGesellschaft im Nationalsozialismus“ erhielt ich Zugang zu dem seit 1989 geschlossenen (Geschäftszimmer-)Nachlass von Hans Nachtsheim im Archiv der
Max-Planck-Gesellschaft.75 Der Nachlass konnte allerdings nicht mehr in Gänze
berücksichtigt werden – zum Beispiel nicht Nachtsheims Laborbücher aus den
zwanziger Jahren. (Die im Nachlass enthaltenen Dokumente stammen zum allergrößten Teil aus der Zeit nach 1945 und sind für die Entwicklung der Humangenetik in der Bundesrepublik eine wichtige Quelle.)
75
Vgl. dazu Kröner 1998: 8.
29
Zitation
Außer Zitaten stehen Ausdrücke und Begriffe in Anführungszeichen, die dem
zeitgenössischen Sprachgebrauch entnommen sind und einen spezifischen Jargon wiedergeben, aber nicht im Einzelnen belegt werden.
In einfachen Anführungszeichen beziehen sich auf eigene Ausdrücke.
30
1 Wie erobert man ein Terrain? Heilsbringender Mendelismus
und Landwirtschaft
1
„Man sagt immer: ‚Züchten ist eine Kunst’, aber ‚Züchten ist auch eine Wissenschaft!’”
Die Entwicklung der Erbpathologie und der landwirtschaftlichen Genetik in
Deutschland weist Parallelen in ihren Problemen und Zielen auf.2 Diese Parallelen scheinen nicht zufällig zu sein, da die Konzepte und Techniken der mendelschen Genetik in hervorragender Weise dazu geeignet waren, als Instrumente
einer neuen, modernisierten Form von Wissenschaft zu dienen. Der Zoologe
und Genetiker Hans Nachtsheim war Vertreter eines pragmatisch orientierten
Typus von Wissenschaftlern, deren Verständnis von Wissenschaft eng an ihren
Nutzen gebunden war und deren kognitive und mentale Strukturierung das subjektive Gegenstück zu jenem Transformationsprozess der industriellen Gesellschaft war, der allgemein als Verwissenschaftlichung gefasst wird. Dementsprechend war Nachtsheim ein glühender Verfechter der mendelschen Genetik, die,
nachdem die Arbeiten Gregor Mendels 1900 neu gelesen worden waren,3 einen
ungeahnten Siegeszug angetreten hatte. Mendelismus, Verwissenschaftlichung
und technisch verstandener Fortschritt tendierten dazu, eine Einheit zu bilden.
Bevor noch die mendelsche Genetik in den medizinischen Diskurs eindringen
und für die Humangenetik produktiv werden konnte, entfaltete sie im landwirtschaftlichen Vererbungs- und Züchtungsdiskurs eine umwälzende Wirkung. Sie
stand in Koinzidenz mit dem agrar-industriellen Umwälzungsprozess des späten Kaiserreichs und der nationalökonomischen Autarkiepolitik Deutschlands
nach dem ersten Weltkrieg, welche den sozioökonomischen Hintergrund für die
Szientifizierung der Landwirtschaft bildete. Der einfache Formalismus der mendelschen Gesetze entsprach den Ansprüchen an eine technisch effektivierte
Landwirtschaft. Er ermöglichte die atomisierende und ökonomische Zergliederung der Oberflächen der Organismen und zugleich die Abtrennung ihres Lebensgeheimnisses als monadisches Wirkprinzip im Körperinnersten. Die Landwirtschaft als ein spezifisches Terrain, das durch eine eigene Rationalität strukturiert war, bildete die Projektionsfläche für die Techniknähe der mendelschen
Genetik, und sie bildete das Terrain, auf dem die „messianischen Mendelianer“4, die Genetiker, die hier im Mittelpunkt stehen werden, mit dem Zweck tätig
wurden, wissenschaftliches Wissen als Anwendungswissen zu implementieren.
‚Züchten’, um Nachtsheim zu paraphrasieren, ‚ist nichts anderes als Wissenschaft’.5
Die Genetiker bewährten sich bei der Ausdehnung der gesellschaftlichen
Funktion des Wissenschaftlers, indem sie als Experten, Mediatoren und Organisatoren agierten. Diese Wissenschaftler befanden sich mehr, als jemals Wissenschaftler zuvor, aktiv mitten im gesellschaftlichen Vermittlungsgefüge von
Macht und Herrschaft.6 Um die epistemologische Seite dieser neuen Funktio1
Nachtsheim 1934f: 525
Vgl. auch Heim 2002: 151.
3
Zum Begriff der „Wiederentdeckung“ der mendelschen Regeln, vgl. Falk 1995b: 221-25.
4
Harwood 2000a: 1065 – Oder vorsichtiger: die missionarischen Mendelianer.
5
Vgl. das voran gestellte Zitat Nachtsheims.
6
Vgl. Szöllösi-Janze 2000: 48.
2
31
nen hervorzuheben, könnten sie auch als boundary persons bezeichnet werden, verwandt also mit den boundary objects, jenen wissenschaftlichen Gegenständen, durch die verschiedene Bereiche der Wissenschaft verbunden und in
einander übersetzt werden.7 Übersetzen bedeutet, zu interpretieren und zu verschieben: Interessen werden verschoben, Fakten ‚re-repräsentiert’.8 Der Wissenschaftler als Mediator kennt keine Grenze zwischen Wissenschaft und Politik – ohne dass er sich selbst als politisch verstehen muss. Hier trifft Latours
Diktum zu: „Science is politics pursued by other means“.9 Mit eigenen Mitteln
verfolgte die Wissenschaft ihre Politik auch im politischen Raum, hier: auf
einem agrarpolitischen Terrain. Die Durchsetzung von wissenschaftlicher Autorität lässt sich als die Bildung von Allianzen beschreiben, die durch wissenschaftliche boundary objects und persons vermittelt werden.
1.1
Nachtsheim und das Primat der Gene an der
Landwirtschaftlichen Hochschule in Berlin
„Die Gene bewahren also ihre Integrität, das ist der Fundamentalsatz der Theorie vom
10
Gen, der Genotypenlehre und des ganzen Mendelismus.“
Die hier am Beispiel des Zoologen und Genetikers Hans Nachtsheim vorgestellte Geschichte der vergleichenden Erbpathologie beginnt mit einer scheinbaren
Zäsur, dem Wechsel Nachtsheims 1921 vom Zoologischen Institut der Universität München an die Landwirtschaftliche Hochschule in Berlin. Nach Harwoods
wissenssoziologischer Typologie der deutschen Genetik seit 1900 war dies ein
Wechsel vom einen zum anderen Extrem. Der Weg Nachtsheims von der ganzheitlichen Biologie zur mendelschen Genetik ist der Rahmen, in dem der Harwoodschen Typisierung veräußerter kognitiver und mentaler Struktur – „Stile“ –
nachgegangen werden soll. Während die meisten deutschen Vererbungswissenschaftler dem Gelehrtenideal der deutschen Universität verpflichtet waren
und sich und ihre Wissenschaft als Träger der Kultur in einem umfassenden
Sinne verstanden – als „Mandarine“ –, bildete sich eine Gruppe von „Außenseitern“ heraus, deren biologisches Interesse und deren vererbungswissenschaftliche Probleme und Strategien sich auf die mendelsche Genetik
beschränkten.11 Diese Wissenschaftler forcierten den Spezialisierungsprozess
in der Wissenschaft. Sie orientierten sich nicht an umfassenden Fragen,
sondern an der Praxis.
Nachtsheim erscheint als Prototyp des pragmatischen Genetikers.12 Mithin
spiegelt sich nach Harwood in dieser kognitiv distinkten Charakterisierung der
Modernisierungsprozess in Deutschland wider.13 Den Topos der Modernisie7
Vgl. Star & Griesemer 1999: 509.
Vgl. Latour 1987: 108 (99, 117 u. 241).
9
Latour 1999a: 273
10
Federley 1930: 24
11
Hier und nachfolgend, vgl. Harwood 1993: 351-52.
12
„Denn das Pragmatische, nicht das Philosophische ist die Essenz dieses großen Genetikers
und Biologen. [...] Dieses Pragmatische in Form und Inhalt macht Nachtsheim zu einem modernen Menschen, [...]“ (Günther & Hirsch 1970: II-III).
13
Vgl. Harwood 1993: 352.
8
32
rung aufnehmend, soll Harwoods Unterscheidung durch Einbezug des modernen Szientismus ergänzt werden. Die mendelsche Genetik – oder „Mendelismus“ in der Sprache seiner kompromisslosen Verfechter – entsprach dem, was
von einer nutzfähigen biologischen Wissenschaft erwartet werden konnte. Die
These ist, dass der pragmatische Stil der so genannten Außenseiter nicht nur
Reaktion auf die Demontage des Mandarin, des alten Gelehrtenmodells, war,
sondern selbst ein aktiver Teil in der Bewegung der Verwissenschaftlichung
gesellschaftlicher Produktions-, Lenkungs- und Entscheidungsprozesse.
1.1.1 Vom Organismus zum Korpuskel
Hans Nachtsheim, 1890 geboren, entstammte der gebildeten Mittelklasse und
aus einem alt-katholischen Elternhaus. Er war der einzige Sohn eines geheimen Justizrates.14 Seine Ausbildung und Enkulturation entsprach dem traditionellen deutschen Bildungsideal. In Köln besuchte er ein humanistisches Gymnasium und wuchs zwischen griechischer und lateinischer Sprachwelt, deutscher Geschichte und deutscher Literatur auf. Seine Abiturrede hielt er über das
Thema „Was sind uns Griechen und Römer?“ Die Liebe zu den Naturwissenschaften entwickelte er jedoch schon parallel dazu durch „die von mütterlicher
Seite ererbte Freude an der lebenden Natur“.15 Ganz ähnlich zu dem Verhaltensforscher Konrad Lorenz fand er über populärwissenschaftliche Literatur
Zugang zu den Problemen der Biologie, war einer der ersten Mitglieder der
1904 gegründeten Gesellschaft der Naturfreunde und begann eigene kleine
Artikel zu verfassen.16 Sein früher Berufswunsch traf nicht auf Gegenliebe, da
Biologie als Liebhaberei und teils als weltanschaulich gefährlich galt, während
die Mehrzahl der Gebildeten, so Nachtsheim rückblickend, „keine Ahnung“ von
den Möglichkeiten dieser Wissenschaft hatte.17 Forschen und Wissenschaft
waren im Kaiserlichen Deutschland erst auf dem Weg, eine akzeptierte Alternative für Beruf und Karriere darzustellen.18 An den großen Fragen von Abstammungs- und Vererbungslehre interessiert, plante Nachtsheim, bei Ernst Haeckel, dem Abstammungsforscher und einflussreichen Denker eines biologischmaterialistischen Weltbildes, zu studieren.
Seine akademischen Lehrer wurden aber Richard Hertwig, ein Schüler und
Anhänger Haeckels,19 und Richard Goldschmidt. Hertwig hatte sich von der
Dominanz der vergleichenden Anatomie des 19. Jahrhunderts gelöst und war
einer der Wegbereiter der experimentellen Physiologie geworden. Nachtsheim
promovierte 1913 mit zytologischen Untersuchungen über die Chromosomenverteilung und die Geschlechtsdeterminierung bei der Honigbiene und dem viel
beachteten Ergebnis, daß Drohnen aus unbefruchteten Eiern hervorgehen und
14
Die folgenden biografischen Daten sind entnommen aus: Ulrich 1950; Nachtsheim 1964b;
Günther & Hirsch 1970; Wolf 1981; Vogel 1980a; BA D, RME, ZB II 1869, Akte 2, HSA FU, PA
Nachtsheim; UHUB, Landw. Fak. v. 1945, PA Nachtsheim, Nr. 1067, Bd. 2. Vgl. auch Nachtsheims Lebenslauf im Abriss im Anhang.
15
Nachtsheim 1964b: 9
16
Vgl. zum Beispiel Nachtsheim 1911b; Nachtsheim 1911a.
17
Nachtsheim 1964b: 10
18
Vgl. Weindling 1991: 182-83.
19
Richard Hertwig, geb. 1850, Friedberg (Hessen), gest. 1937. Jüngerer Bruder von Oscar
Hertwig. 1878 o. Prof. in Jena, dann Ordinarius in Königsberg, Bonn u. seit 1885 in München.
33
demzufolge nur einen einfachen Chromosomensatz besitzen.20 Nach
Aufenthalten in den deutschen zoologischen Stationen in Triest und Rovigno in
Italien dehnte er die Untersuchung auf ein mikroskopisches Objekt, einem
marinen Borstenwurm, aus. Durch den Krieg unterbrochen, den Nachtsheim
nicht an der Front, sondern als Soldat bei der Zensurbehörde und Mitglied der
Mazedonischen Landeskundlichen Kommission erlebte, forschte er an Franz
Dofleins Zoologischen Institut in Freiburg, das noch der Geist von August
Weismann durchwehte, und abermals bei Hertwig in München. In der
Habilitation über die Geschlechtsbestimmung bei einem marinen Borstenwurm
(Dinophilus apatris) zeigte Nachtsheim, dass das Geschlecht vor der Befruchtung, noch in der Oocyte festgelegt wird.21
Richard Hertwigs Schule war eine der angesehensten biologischen Schmieden in Deutschland. Aus ihr zu kommen, bedeutete, das mandarine Gelehrtentum erfahren zu haben, mit einer allgemeinen Kenntnis und einem umfassenden Verständnis der biologischen Wissenschaft ausgerüstet zu sein und ihre
Probleme im Zusammenhang sehen zu können.22 Nachtsheims Selbstverständnis war es sein Leben lang, tief in der Biologie verwurzelt zu sein.23 Die umfassende Kenntnis baute er aber als Spezialist aus, wurde durch seine unbestechliche Gründlichkeit zum teils gefürchteten Kenner der genetischen Spezialliteratur und geschätzten umsichtigen Kritiker. Mehr noch blieb Nachtsheim dem aufgeschlossenen Doktorvater Goldschmidt zeitlebens verbunden, wenn sich auch
nach dessen Wechsel 1914 an das Kaiser-Wilhelm-Institut für Biologie ihre Wege nicht mehr kreuzten.24 Die anhaltende Verehrung erklärt sich nicht zuletzt
daraus, dass es Goldschmidt war, der Nachtsheim die mendelsche Vererbungslehre nahe brachte.25
Hertwig war der mendelschen Vererbungslehre fern geblieben.26 Sein Schüler Goldschmidt, der sich zunächst mit Morphologie und Zellanatomie beschäftigt hatte, begann hingegen 1909 mit genetischen Untersuchungen. Goldschmidt hielt in München pionierhafte Vorlesungen zur Vererbungslehre, aus
denen eins der ersten deutschsprachigen genetischen Lehrbücher hervorging.27
Darin entwickelte er den „Mendelismus“ systematisch aus der Abstammungslehre und dem Problem der Variation der Lebewesen heraus.28 Für Goldschmidt
war die Vererbungslehre nicht nur von umfassender theoretischer Bedeutung,
20
Vgl. Nachtsheim 1913a.
Vgl. Nachtsheim 1919b.
22
Zum breiten Spektrum Hertwigs Arbeiten, vgl. Doflein 1920; Nachtsheim 1920c; Goldschmidt
1920b und andere Artikel in dieser Ausgabe der Naturwissenschaften. Zum Familienhintergrund
u. zur akademischen Sozialisation, vgl. Weindling 1991: 187-95.
23
Die umfangreiche Separatasammlung deckte alle Gebiete der Biologie ab (vgl. IGMH, SDNL).
24
Vgl. Nachtsheim 1948d bzw. Besprechung der deutschen Ausgabe von Goldschmidts Erinnerungen „In and Out the Ivory Tower“ von 1963 und das Besprechungsmanuskript zu Übersetzung von Goldschmidts „Theoretical Genetics“ ins Deutsche 1961, in der von „unserem [der jüngeren Genetiker] Meister“ die Rede ist (vgl. AMPG, Abt. III, Rep. 20A, Nr. 62).
25
Vgl. Nachtsheim 1948d: 141.
26
Vgl. Hartmann 1938: 66.
27
Vgl.Nachtsheim 1948d: 141; Goldschmidt 1960: 317, neben den Lehrbüchern von Baur 1911
u. Haecker 1912.
28
Diese Schwerpunktsetzung entsprach der zeitgenössischen Auseinandersetzung über die
‚Natur’ der Variationen der Lebewesen zwischen Biometrikern und mendelschen Genetikern
(vgl. de Marrais 1974; MacKenzie & Barnes 1975; Schulz 1998: 548-51).
21
34
sondern stand bereits im Zeichen des möglichen unbegrenzten praktischen
Nutzens. Die „exakte Erblichkeitslehre“ (Johannson) sei in gleicher Weise für
„Zoologen und Botaniker, wie für den Arzt, den praktischen Züchter, den Anthropologen und Sociologen bedeutungsvoll“.29 In einer populären Darstellung
spitzte Goldschmidt 1919 dies dahingehend zu, dass der Mendelismus „Grundlage aller Tier- und Pflanzenzucht, aber auch Rassenhygiene“ sei.30
Goldschmidt, selbst angeregt durch Richard Hertwig, war zudem ein Agent
der Wissenschaft in der Öffentlichkeit.31 In Zeitungsartikeln, Vorträgen, Ringvorlesungen und später auch im Radio widmete er sich intensiv der Popularisierung der Wissenschaft. In den zwanziger Jahren regte er den Verleger Ferdinand Springer zu der dann durch ihn herausgegebenen erfolgreichen Buchreihe
Verständliche Wissenschaft an. Der Schritt in die Öffentlichkeit entsprach nach
Goldschmidt ganz der intellektuellen Situation der Weimarer Republik, in der ein
„idealistic spirit“ zu Hause war.32 Die liberale Frankfurter Zeitung ließ wöchentlich Forscher über den Fortschritt in der Wissenschaft berichten, und es wurden
Klubs und Gesellschaften gegründet, die sich mit den Themen der Wissenschaft auseinander setzten. Für Goldschmidt gehörte dieses Engagement zur
kulturellen Sendung des Wissenschaftlers. Wenn Nachtsheim Goldschmidt in
dem Engagement folgte, so trennten sich an diesem Punkt ihre Wege.
Nachtsheims Verständnis von der Vermittlung wissenschaftlichen Wissens
folgte keinem Kulturauftrag. Es ging um die Nutzanwendung oder die Legitimation der Wissenschaft. Eine scharfe akademische Auseinandersetzung mit
einem Kollegen über die Geschlechtsbestimmung bei Bienen wurde nicht zufällig ‚vor den Augen’ der bayerischen Bienenzüchter in ihren Zuchtfachblättern
ausgetragen.33 Die Frage, wie Drohnen oder Bienen entstehen, war von direktem züchterischem Interesse. Die Lösung dieser „schwierigen und viel umstrittenen Frage“ in seiner „außergewöhnlich tüchtigen“ Doktorarbeit brachte
Nachtsheim nicht nur frühe Lorbeeren ein,34 sondern bescherte den Züchtern
eine Möglichkeit, das Geschlecht des Bienennachwuchses zu kontrollieren. Diese Form des Interdiskurs – des Austauschs zwischen einer Spezialwissenschaft
und anderen Bereichen der Gesellschaft – war in diesem Fall noch der Resonanzraum einer akademischen Frage. Später verkehrte sich dieses Verhältnis,
als Anwendungsfragen die Folie für Nachtsheims experimentelle Arbeit hergaben. Neben der Popularisierung seiner zytologischen Arbeiten entwickelte
Nachtsheim Interesse an der mendelschen Genetik. Seine Karriere als Wissenschaftsmediator gründete in der Verbindung dieser beiden Elemente: der öffentlichen Vermittlung des Mendelismus als technischer Heilsbringer.
Mit der Herausbildung des Mendelismus wurde das alte Verständnis von
„Vererbung“, das auf die Ausbildung gleicher Strukturen und Formen abzielte
und deshalb Wachstum, Entwicklung und Reproduktion als einheitlichen Prozess begriff, durch die Trennung in Phänotyp und Genotyp abgelöst. Die Be29
Goldschmidt 1911: III
Goldschmidt 1920a: Vorwort
31
Vgl. Nachtsheim 1948d: 141; Goldschmidt 1960: 233-34 u. 339-42.
32
Goldschmidt 1960: 234
33
Vgl. Nachtsheim 1912a; Nachtsheim 1912b; Nachtsheim 1915.
34
8.4.1927, Hertwig an Baur, hands. (GStA, I. HA, Rep. 87B, 20283: Bl. 41-42)
30
35
deutung von Vererbung engte sich auf die Übertragung der Vererbungsträger –
die Transmission – und ihren Mechanismus ein. Der Organismus wurde zur bloßen Erscheinung oder Manifestierung der An- oder Abwesenheit der Vererbungsträger.35 Nachtsheim war der Überzeugung, dass die mendelschen Vererbungsgesetze, wie sie an Pflanzen entwickelt worden waren, auch auf das
Tierreich zutreffen mussten – wenn auch ihre praktische Nutzanwendung bislang auf Schwierigkeiten stieß.36 Noch im Krieg begann er, die Brauchbarkeit
seines Bienen-Experimentalsystems für mendelgenetische Arbeiten auszuloten.37 Die erbanalytischen Untersuchungen Morgans und seiner Schule, die die
Fruchtfliege als innovatives Forschungsobjekt der Genetik eingeführt hatten,
hielt Nachtsheim für so fundamental, dass er umfassend über das schnell
wachsende und in Deutschland kriegsbedingt noch völlig unrezipierte Gebiet
der Drosophilagenetik berichtete und bald darauf mit der Übersetzung Thomas
H. Morgans „The physical basis of heredity“ begann.38
Morgan vertrat in seiner Schrift gegen – noch – zahlreiche gegenteilige Stimmen die Überzeugung, dass die analytisch-hypothetischen „Erbfaktoren“ der
mendelschen Erbanalyse in irgendeiner Weise eine stoffliche Grundlage haben
müssten und dass das Keimplasma nichts anderem als der Summe dieser Elemente entspräche.39 Nachtsheim entwickelte sich zum glühenden Anhänger
und Verteidiger der Chromosomentheorie der Vererbung und ihrer korpuskularen Grundlage.40 Eine physiologisch-chemische Theorie der Vererbung sei zwar
noch entfernt und bedürfe der Zusammenarbeit verschiedener Forschungsrichtungen, dennoch sei die Ablehnung der „korpuskulären Vererbungstheorie“ ein
„krasses Beispiel dafür, wie fremd Physiologen und physiologische Chemiker
vielfach der modernen Vererbungsforschung“ gegenüberständen.41 Angesichts
der Lage, dass die von der Schule Morgans favorisierte chromosomale Interpretation der phänomenologisch beschriebenen Gen-Koppelungsgruppen keineswegs Commonsense war,42 repräsentierte Nachtsheim mit der absolutierenden
35
Vgl. Churchill 1987: 360-61; Falk 1991: 468-72.
Vgl. Nachtsheim 1916b: 50-51. Nachtsheim bezog in diesem Übersichtsartikel die angelsächsische Literatur mit ein – vor allem die Ergebnisse der Morgan-Gruppe und zur Säugetiergenetik (Castle, Little, MacDowell). Weitere Übersichten folgten: Nachtsheim 1920b; Nachtsheim 1922c. – Die Position als Militärzensor gestattete es Nachtsheim, sich einen Überblick
über die gesamte genetische Literatur zu verschaffen.
37
Vgl. Armbruster et al. 1917: 274. Nachtsheim wollte die „experimentelle Verifikation der
Hauptthese des Mendelismus“ an der Biene durchführen, indem er sich die parthogenetische
Fortpflanzung der Bienen zunutze machen wollte (Parthogenese = Jungfernzeugung. Die
Männchen entstehen aus unbefruchteten Eiern.). An der Arbeit war der Pflanzenzuchtwissenschaftler Theodor Roemer (ab 1920 in Halle) beteiligt, der auf Arbeiten Mendels mit Bienen
hinwies und die landwirtschaftliche Bedeutung des Mendelismus für die Tierzucht betonte. (Vgl.
Nachtsheim 1916b: 50-51; vgl. auch Harwood 2002: 25ff.)
38
Vgl. Nachtsheim 1919a bzw. Morgan 1921: III; Harwood 1993: 38.
39
Vgl. Carlson 1966: 75-76.
40
Nachtsheim vertrat schon 1914 das „Kernmonopol“ der Vererbung und machte sich seine
mendelsche Interpretation sofort mit der Rezeption der Arbeiten Morgans zu Eigen (vgl.
Nachtsheim 1914a; Nachtsheim 1916a; Nachtsheim 1920a).
41
Nachtsheim in: Morgan 1921: 3-4, Fußn. 1
42
Der Inaugurator des Phänotypkonzepts, der Kopenhagener Pflanzenphysiologe Wilhelm
Johannson, bestand zum Beispiel nach wie vor auf einer rein formalen Interpretation der GenMerkmal-Beziehung (vgl. Carlson 1966: 20-23, 36 u. 49ff.; Weingart et al. 1992: 328-35).
Nachtsheim befand sich dagegen in Übereinstimmung mit zum Beispiel Curt Stern, Karl Belar
36
36
Verteidigung der Chromosomentheorie unter den deutschen Biologen eine radikale Interpretation der mendelschen Erbkonzeption, auch wenn er eingestand,
dass der „zytologische Unterbau der Theorie“ ihre schwache Stelle sei.43
1.1.2 Der Mendelismus und deutsche Biologie – Primat der Gene
Im Herbst 1921 wurde die Deutsche Gesellschaft für Vererbungswissenschaft in
Berlin gegründet. Biologen, Vererbungswissenschaftler, Züchter und Mediziner
– Anthropologen, Pathologen, Hygieniker, Psychiater – gehörten zu den Gründungsmitgliedern.44 Trotz dieser gemischten Zusammensetzung garantierte die
biologische bzw. experimentelle Ausrichtung der Mitglieder genügend Gemeinsamkeiten. Paläontologen und Anthropologen sowie Zuchtwissenschaftler alten
Stils waren nicht vertreten. Neo-Lamarckianer und die Anhänger der Keimplasmalehre45, die konträrsten Strömungen also innerhalb der Evolutionslehre und
in den Vorstellungen von der Vererbung, blieben somit getrennt.
Das heißt nicht, dass die deutsche Vererbungswissenschaft inhaltlich homogen gewesen wäre. Sie war in den zwanziger Jahren durchaus durch eine differenzierte Haltung gegenüber dem Problem der erworbenen Eigenschaften charakterisiert.46 Es existierten zahlreiche Modifikationen der strikten mendelschen
Genetik auf der Basis Weismanns Keimplasmalehre einerseits und der neo-lamarckistischen Position der durch Umweltwirkung vermittelten Artentstehung. In
der deutschen experimentellen Biologie und Vererbungswissenschaft dominierte anders als in der US-amerikanischen Genetik nicht jene Trennung zwischen
Phänotyp und Genotyp.47 Die Frage, wie die Vererbung mit dem ganzen Organismus zusammenhing, blieb präsent. Dagegen blendete der Mendelismus den
Organismus aus. Die mendelgenetische Beschäftigung mit der Vererbung als
und Erwin Baur. Die meisten Zoologen und Anatomen standen der Chromosomentheorie der
Vererbung kritisch gegenüber. Eine mittlere Position vertraten die meisten der deutschen
Genetiker (vgl. Harwood 1993: 34, 36 u. 39-43).
43
Nachtsheim 1920a: 127-28
44
Vgl. Nachtsheim 1921a: 844. – Zu den Aufrufenden gehörten 29 biologische Wissenschaftler,
Anthropologen, Mediziner und Wissenschaftler aus der landw. Zucht (zum Beispiel Correns,
Fischer, Gruber, Haecker, Kronacher usw.) (vgl. Nachtsheim 1922b: 230). Von 221 Gründungsmitgliedern stammten mindestens 25 aus der Medizin (nach Angabe in der Mitgliederliste, vgl.
ebd.: 274-80).
45
Die Keimplasmalehre ging auf August Weismann (1834-1914) zurück. Sie trennte die Entwicklung der Keimzellen vom übrigen Körper. Die mendelsche Vererbungslehre stützte hierauf
ihre Hinwendung zur Transmission, bei der der Organismus ausgeblendet werden konnte (vgl.
Churchill 1995: 437-40). Das anti-lamarckistische Lager war selbst gespalten in orthodoxe Darwinisten, die die Selektion für den entscheidenden Evolutionsmechanismus hielten, und die Mutationisten, zu denen meist auch die Mendelianer zählten. Für die mendelsche Genetik entstand
daraus, dass die phänotypische Erscheinung und der Genotyp prinzipiell unabhängig von einander konzipiert wurden, die zwingende Ablehnung des Lamarckismus (vgl. Falk 1995b: 23441).
46
Vgl. Harwood 1993: 121.
47
Vgl. Weingart et al. 1992: 332+34; Harwood 1993: 51ff. u. 138; Deichmann 1995: 93. – Die
Mehrheit deutscher Vererbungswissenschaftler beschäftigte sich mit Problemen der Entwicklung oder Evolution. An diese Traditionslinie, insbesondere die Schule um Hans Spemann,
konnte sehr viel später die Verbindung aus Entwicklungsbiologie und molekularer Genetik anknüpfen (vgl. Fox Keller 2000: 116-17; vgl. auch Galperin 1998; Morange 2000). – In den USA
wurden vereinzelt auch andere genetische Forschungsansätze verfolgt. Zum Beispiel ging der
Pflanzengenetiker Rolins A. Emerson physiologischen Fragestellungen nach (vgl. Kimmelman
1992: 199).
37
Transmission ging einher mit der Prämisse vom Primat der Gene. Treffender
als der Titel des amerikanischen Drosophilagenetikers Hermann J. Muller geht
es nicht: „The Gene as The Basis of Life“.48
Anlässlich einer gemeinsamen Tagung der deutschen Paläontologischen und
der vererbungswissenschaftlichen Gesellschaft 1929 traten die extremen Positionen deutlich zu Tage. Dabei zeigte sich, dass der Konflikt über die Mechanismen der Evolution und die Bedeutung der mendelschen Erbanlagen darin auch
ein Konflikt um Methoden war. Die experimentelle Analyse, welche das Kreuzungsexperiment der mendelschen Genetik symbolisierte, stand gegen die deskriptiven Methoden der Feldforscher und vergleichenden Morphologen. Während der Paläontologe Franz Weidenreich vermittelnd beschwor, dass bei allen
Schwächen der vergleichenden Methode und des hypothetischen Charakters
der aus ihr abgeleiteten Deduktionen der Organismus nicht in einzelne Teile
zerlegt werden dürfe, sondern offensichtlich doch als Gesamtsystem aufgefasst
werden müsse, vertrat der finnische Genetiker Harry Federley die rigorose Position des Mendelismus: Die Gene seien analog zum Atom, sie seien „das Wesentliche und Konstante“, die konstanten Bausteine des Individuums, der Organismus hingegen das Abgeleitete und Zufällige.49 Für Federley machte sich die
Grenze zwischen Spekulation und Exaktheit, Einsichtigen und Uneinsichtigen
entlang der Methode fest: dort Morphologen, Phylogenetiker und Paläontologen, die sich der Methoden der Geschichtsforschung bedienten, hier die Genetik, die induktiv verfahre, sich auf Mathematik stütze und als physiologische Disziplin experimentell arbeite.50 Das Primat der Gene, der Transmission oder der
Erblichkeit, das Federleys Position charakterisierte, war aber nicht die notwendige Konsequenz daraus, dass sich die Genetik als Experimentalwissenschaft
verstand, sondern war in dieser Verabsolutierung eine Doktrin.51
Nachtsheims wissenschaftliches Engagement in der Vererbungswissenschaft
bewegte sich kompromisslos entlang diesem Primat. Auf besagter Gründungsversammlung der vererbungswissenschaftlichen Gesellschaft, auf der er einen
Hauptvortrag hielt, widmete sich Nachtsheim der unterschiedlichen Bedeutung
des Kerns und des Zellplasmas für die Vererbung. Er verabsolutierte die mendelsche Vererbung stipulativ zum einzigen Typ „echter Vererbung“.52 In einem
48
Vgl. Harwood 1993: 84 (Bezug auf: Muller 1962b).
Vgl. Weidenreich 1930: 9 u. 12 bzw. Federley 1930: 21 u. 23; vgl. auch Harwood 1993: 119f..
– Seit Muller in Berlin auf dem Internationalen Kongress für Genetik seine Röntgenexperimente
über die Erzeugung von Mutationen vorgelegt hatte, sah sich diese Strömung noch bestätigt, da
sie in den Genmutationen nun auch den Zugang zum Evolutionsproblem sah (vgl. Federley
1930: 42). – Selektion und Mutation blieben aber noch unvermittelt. Die kleinen Mutationen
schienen den sprunghaften Mutationen der Mutationisten zu widersprechen. Mit ihnen konnte
nicht erklärt werden, wie Formen und Arten aus einzelnen Mutationen entstanden.
50
Vgl. Federley 1930: 29. – Der Zoologe Max Hartmann, der keineswegs die mendelsche Vererbung verabsolutierte, gestand dem Experiment in wissenschaftstheoretischen Überlegungen
ebenfalls Priorität über die verallgemeinernde Induktion der vergleichenden Methode zu (vgl.
Hartmann 1930).
51
In den Worten Federleys präsentierte sich die mendelsche Genetik als die Inkarnation einer
Experimentalwissenschaft. Dies war nicht untypisch, insofern die Genetik die legitime Nachfolgerschaft einer experimentellen Bewegung beanspruchte, die sich aus der Krise der Selektionstheorie seit den neunziger Jahren entwickelt hatte (vgl. Beurton 1994: 109-15). Die Verbindung
von Experiment und Mendelismus war aber nicht zwingend (vgl. Harwood 1993: 94-98).
52
Nachtsheim 1922b: 251. Herv. Verf.
49
38
hierarchischen Bild charakterisierte er das Zellplasma als bloßes Baumaterial
für die Zusammensetzung der Chromosomen, die den Architekten glichen: Die
Erbanlagen standen für das Neue und Kreative; das Material setze nur die
Grenzen.53 Die Vererbung wurde in dieser Lesart, deren mechanistischer Atomismus in der Konstruktionsmetapher des Reißbretts angedeutet war, im Zellgeschehen örtlich und materiell monopolisiert.
Dagegen bestanden gerade in der deutschen Genetik alternative Konzepte,
die teils lamarckistische Vererbungsmodi Raum verschafften (zum Beispiel das
Konzept der Dauermodifikation), teils zwischen den diskreten „Perlen auf der
Kette“ und dem ganzen Organismus vermittelten. Eine solche Zwischenstellung
nahm der Zoologe Ludwig Plate ein, dessen Vorstellungen von der Vererbung
erworbener Eigenschaften durch „somatische Induktion“ wiederholt Ziel Nachtsheims scharfer Kritik wurden. Plates „Erbstock“-Konzept bezeichnete eine „geschlossene, nichtspaltende“ Struktur aus „Biomolekülen“, die neben dem „Mendelstock“ im Kern lokalisiert sein sollte.54 Die alternative Erbsubstanz, die sich
von der Gensubstanz durch ihre Einheitlichkeit unterschied, sollte erklären, wie
die harmonische und charakteristische Ausprägung von Organtypen und Spezies zustande kommt. Für Nachtsheim war der Wert Plates blumiger Überlegungen, die jener selbst nur als theoretisches Sprungbrett betrachtete, um das
Nebeneinander von Phylogenese und Vererbungsvorgänge zu beleuchten, bloß
„schlechte Spekulation“, ohne den „Schatten eines wissenschaftlichen Beweises“.55
Das Primat der Gene, das sich atomistisch und korpuskular als im Chromosom materialisiertes und monopolisierten Vererbungsgeschehen äußerte, wurde in dieser Einseitigkeit nur von einer kleineren Gruppe der Genetiker vertreten. Der grundlegende Konflikt um den Monopolanspruch der Genetik äußerte
sich indes auch in dem Widerspruch gegen die Mendelisten, nur bestimmte –
äußerliche und unwichtige Eigenschaften – würden durch Gene beeinflusst würden. Die mendelschen Genetiker hingegen waren beständig versucht, ihren originären Zuständigkeitsbereich auszudehnen – auf artspezifische, pathologische
oder physiologische Merkmale.56 Der Erfolg dieser Bestrebung war, wie sich
zeigen sollte, von Innovationen abhängig, die den experimentellen Spielraum
53
Vgl. Nachtsheim 1921a: 849. Das Bild des Zellplasmas als das potenzlose Baumaterial befand sich in Gesellschaft zahlreicher sozial aufgeladener Analogien, deren Intension untrennbar
war von der gesellschaftlichen Positionierung der zeitgenössischen Wissenschaftler (vgl. Harwood 1993: 337-39 (329-50); Weindling 1991: 288ff.; zum physikalisch-mechanischen Bild der
Chromosomen, vgl. Falk 1995a: 65-66).
54
Hier und nachfolgend, vgl. Plate 1927: 88, 105-07 u. 113. – Plates Erbstockhypothese war
nicht so weit entfernt von der bei Skeptikern gegenüber der Exklusivität mendelscher Vererbungsmechanismen recht verbreiteten Annahme eines „Grundstocks“, der als Platzhalter nichtmendelscher Vererbungsformen diente (vgl. Haecker 1922: 1221; Wettstein 1928: 378; Harwood 1993: 105-09). Die Grundstock-Hypothese wiederum war Annahmen über die cytoplasmatische Vererbung nahe, die experimentell am weitesten differenziert waren (vgl. ebd.: 115;
zum Beispiel Correns 1928: 132 u. Referat).
55
Vgl. Plate 1927: 109 bzw. Nachtsheim 1925a: 816; Nachtsheim 1927c: 115. – Ganz ähnlich
kritisierte N. Valentin Haecker (vgl. Nachtsheim 1922a: 255).
56
Vgl. einerseits Haecker 1922: 1221; Plate 1927: 100; andererseits: Fischer 1922: 641; Bauer
1925; Federley 1930: 25-27; Nachtsheim 1927c: 116; Koehler 1935: 1297; Baur erscheint ambivalent in: Baur 1923: 62 u. 64. In der Landwirtschaft wurde eine ganz ähnliche Diskussion um
den Zuständigkeitsbereich der mendelschen Genetik geführt (vgl.Nachtsheim 1922f).
39
der mendelschen Genetik erhöhten.57 Für die Stärkung der mendelgenetischen
Position war aber, wie gleich zu sehen ist, noch etwas wesentlich: das technische Versprechen.
1.1.3 Genetik und Modernisierung: Vom Mandarin zum Experten
Nachdem das vererbungswissenschaftliche Feld abgesteckt und Nachtsheim
darin lokalisiert worden ist, lässt sich in Nachtsheim unschwer als Prototyp des
Mendelisten in der deutschen Vererbungswissenschaft erkennen, dem cytoplasmatische Forschung und nicht-mendelische Vererbung fremd waren. Anfang 1921 trat Nachtsheim seinen Dienst als Abteilungsleiter am Institut für Vererbungsforschung der Landwirtschaftlichen Hochschule in Berlin an.58 Er wurde
auf Vererbungswissenschaften umhabilitiert und erhielt Lehraufträge für allgemeine und angewandte Genetik.59 Erwin Baur, Vorstand des Instituts, Mediziner
und Pflanzengenetiker, war einiges daran gelegen, Nachtsheim als einen der
„besten jüngeren Experimentalzoologen“ für sein Institut zu gewinnen.60
Vielleicht waren ihm auch Nachtsheims Fähigkeiten als Mediator und Organisator aufgefallen; denn Baur war eine der tatkräftigsten und entschlossensten
Figuren in der deutschen Genetik, zugleich als Wissenschaftler wenig distinguiert und erst recht kein Mandarin. Der Lesart Harwoods folgend, wurde die Verbindung Baur – Nachtsheim vor allem durch eine weitgehende Strukturähnlichkeit ihres Selbstverständnisses als Forscher und ihrer sozialen wie kognitiven
Loyalitäten getragen. Beide zählten zu den „pragmatics“, den durch einen pragmatischen Denkstil charakterisierten Genetikern.61 Demnach gehörten sie zu
den Außenseitern eines traditionell als Mandarine auftretenden Gelehrtenapparats im Deutschen Reich. Jenes elitäre Gelehrtentum, das sich auf umfassende
Bildung verpflichtet sah und im Denken ganzheitlich disponiert war, verstand
sich als Stifter deutscher Kultur und nationaler Integrität. Doch Industrialisierung
und die Demokratisierung nach 1918 brachten dieses Selbstverständnis in Bedrängnis. Nach Ringer reagierte ein – kleinerer – Teil der Gelehrten mit ‚Selbstmodernisierung’ darauf. Sie blieben Mandarine, schlossen aber politische Kompromisse.62 Harwood dagegen charakterisiert eine dritte akademische Gruppe,
57
Die neuen experimentellen Möglichkeiten ließen auch Vererbungswissenschaftler mit einer
differenzierten Ausrichtung den Mendelismus favorisieren, wie zum Beispiel Alfred Kühn (siehe
4.2 u. 4.3).
58
Nachtsheim blieb bis 1941 am Institut. 1928 wurde N. Oberass.. Formal wurde N. als Assistent eingestellt, obwohl Baur ihm eine Abteilungsleiterstelle versprochen hatte und er faktisch
die Funktion ausfüllte. Dass er dieses Versprechen nicht einlösen konnte, führte 1929 zum
Bruch mit N. (vgl. 8.3.1921, Baur an Rektor der LHB, Abschrift, in: UHUB, Landw. Fak. v. 1945,
PA Nachtsheim, 1067, Bd. 2: Bl. 26; 29.8.1921, PML an Baur, in: GStA, I. HA, Rep. 87B, 20281:
Bl. 113; siehe auch 6.1.1).
59
Nachtsheims Vorlesungen in der chronologischen Reihenfolge der je ersten Lesung: WS
1921/22: Die Zellulosen Grundlagen der Vererbung, SS 1922: Darwinismus und Lamarckismus
im Lichte der Vererbungslehre, WS 1922/23: Angewandte Vererbungslehre in der Tierzucht, SS
1923: Geschlechtsbestimmung, SS 1924: Das Domestikationsproblem, WS 1924/25: Die stofflichen Grundlagen der Vererbung, SS 1927: Die innere Sekretion der Keimdrüsen, Tierzüchterische Konsequenzen der Vererbungswissenschaft, SS 1932: Pelztierzucht (vgl. GStA, I. HA,
Rep. 87B, 20283: versch. Bl.; vgl. auch AMPG, Abt. III, Rep. 20A, Nr. 141).
60
23.1.1921, Baur an PML (GStA, I. HA, Rep. 87B, 20281: Bl. 10)
61
Harwood 1993: 351-52
62
Vgl. Ringer 1987: 123-25.
40
die der Denk- und Mentalitätsstruktur deutscher Mandarine entkommen war.
Vom Kulturideal entfernt, begrüßte sie die Spezialisierung in der Wissenschaft
und verhielt sich, befreit aus dem Gelehrtenkosmos, durchaus politisch.63 Baur,
Nachtsheim und eine ganze Reihe anderer Genetiker entsprachen genau dieser Charakterisierung.64 Von der intellektuellen Synthese waren sie heruntergestiegen, um die Rolle der Spezialisten und Experten anzunehmen.65 Baur war
indes nicht engstirnig, im Gegenteil, er war der nationalen Sache verpflichtet.
Deutsche Wissenschaft, deutsche Ökonomie und Gesundheit des deutschen
Volkes leiteten sein Engagement. Er war einer der wichtigsten Förderer der
Rassenhygiene.66
Mir scheint es vor diesem Hintergrund sinnvoll, den Begriff des Experten aufzugreifen, um die gesellschaftliche Funktion dieser Wissenschaftsgruppe stärker zu betonen.67 Wenn der schillernde Begriff der Modernisierung über sozioökonomische Umstrukturierung einerseits und akademische Spezialisierung andererseits hinaus fruchtbar gemacht werden soll, so kann mit diesem Begriff auf
einen fundamentalen Zusammenhang zwischen beiden aufmerksam gemacht
werden. Modernisierung kann als „Extension von Handlungsmöglichkeiten auf
der Basis von Wissen“ gefasst werden.68 Die Produktion von Wissen, sozialer
Wandel und die Transformation von Produktionsformen und gesellschaftlichen
Strukturen werden dabei zunehmend miteinander verknüpfen. Durch ihren Formalismus war die mendelsche Genetik in besonderem Maße geeignet, als wissenschaftliches Kontroll- und Manipulationswissen an diesen Prozess anzuschließen. Das heißt nicht, dass erst mit der mendelschen Genetik die Praxis
der Zucht von Nutzpflanzen und -tieren rational und planerisch strukturiert werden konnte; den Nimbus der Wissenschaftlichkeit konnte der Mendelismus aber
gegen alte Zuchtmethoden monopolisieren.69 Die Rhetorik von Experimentalismus, Exaktheit, Kontroll- und Zukunftswissen gab der mendelschen Genetik
von Anfang an einen technischen Charakter. Davon zeugt die frühe Verbindung
von Genetik und Pflanzenzucht.70 Die pragmatischen, mehr der Transmissionsgenetik zugewandten Genetiker zeigten sich zugleich an praktischen Fragen
interessiert, entwickelten an ihnen entlang ihre Probleme und Theorien; das Ziel
ihrer Wissenschaft waren Mittel der Vorhersage und Kontrolle.71 Auch zum neuen Wissenschaftlertypus gehörte ein elitäres Selbstverständnis. Anders aber,
63
Vgl. Harwood 1993: 189, 269, 303-06 u. 352. Nicht im Sinne von Parteipolitik.
Vgl. Harwood 1993: 210-12, 258; zu Nachtsheim: 246-47, 250, 253-54 u. 260.
65
Vgl. Harwood 1993: 306.
66
Vgl. Harwood 1993: 212. Zur Eugenik Baurs, siehe Weingart et al. 1992: 352; Weindling
1989: 465; Kröner et al. 1994; Lösch 1997: 168-75.
67
Als „Experte“ wird hier jemand verstanden, der Spezialwissen bereitstellt, über das und mit
dem Macht und Herrschaft zunehmend mediatisiert wird (Szöllösi-Janze 2000: 47-48). In die
Vermittlung und Anwendung von Wissen ist der Experte aktiv eingebunden (vgl. Stehr 1994:
391). Auf die Rolle des Experten in den spezifischen Kontexten weist auch Harwood 1993: 306
hin.
68
Szöllösi-Janze 2000: 46
69
Vgl. Harwood 1997: 188.
70
Die Verbindung zwischen Genetik und Landwirtschaft ist aber trotzdem insgesamt als
schwach zu bewerten (vgl. Harwood 1993: 160).
71
Vgl. Harwood 1993: 212 u. 270.
64
41
als bei den Mandarinen, äußerte es sich im aggressiven Interdiskurs mit anderen gesellschaftlichen Bereichen.
Bevor im nächsten Abschnitt die Figur des experto- und technokratischen
Wissenschaftlers als Mediator im Mittelpunkt steht, soll zuvor an Nachtsheims
Vorstellungen die Verbindung von Mendelismus und Anwendung exemplifiziert
werden.
Baur war seit 1914 Direktor des ersten Instituts für Vererbungsforschung in
Deutschland. Als Genetiker befasste er sich mit dem Problem der Variationserscheinungen beim Löwenmaul (Antirrhinum) und beteiligte sich experimentell
an der Frage, ob die Chloroplasten Vererbungsträger sein können.72 Genetische Theorie und Anwendung der Genetik waren dabei untrennbar mit einander
verbunden. „Gerade so wie unsere chemischen Institute die wissenschaftlichen
Grundlagen liefern, auf denen die chemischen Fabriken weiter arbeiten, gerade
so muß sich auch das Verhältnis zwischen den Instituten für Vererbungslehre
und den praktischen Züchtern gestalten.“73 Baus Vorbild war das schwedische
Pflanzenzuchtinstitut in Svalöv.74 Das 1927 neu gegründete KWI für Züchtungsforschung in Müncheberg wurde unter Baurs Leitung so strukturiert, dass es
mehr einem Industrielabor als einer akademischen Institution glich: Nach Kulturpflanzen unterteilte Arbeitsgruppen arbeiteten an der Herauszüchtung neuer,
agrarintensiver und -stabiler Sorten; bis zur Hälfte des Institutsetats wurde
durch die Agrarindustrie getragen; ähnlich war das Kuratorium besetzt.75
Zum Gedenktag Mendels entwarf Nachtsheim ein „Programm für die Zukunft“
der Vererbungswissenschaft – zugleich die Programmatik seiner Abteilung –
und für ein „verständnisvolles Zusammenarbeiten von Theorie und Praxis“.76
Verwissenschaftlichung und Industrialisierung sollten in Zukunft auch die Tierzucht prägen. Abschätzig monierte Nachtsheim, dass die bestehende Gesellschaft für Züchtungskunde eine „mystischen Anschauungen einer vormendelistischen Zeit befangene Schule” repräsentiere und forderte, „die Nutzbarmachung der auf vererbungswissenschaftlichen Gebiete gewonnenen Ergebnisse”
in der Züchtung.77 Während in der Pflanzenzucht schon einige Erfolge erzielt
worden waren, könne, so Nachtsheim, nicht die Rede davon sein, dass „der
Mendelismus für die Tierzucht bereits nennenswerte praktische Bedeutung gewonnen“ habe; die Tierzüchter zeigten dem „wissenschaftlichen Fortschritt ge72
Vgl. Harwood 1993: 64 u. 346. Zur wiss. Arbeit Baurs, vgl. auch Hagemann 2000. Zu anderen
Arbeitsgebieten am Institut, siehe auch 3.1.2 u. 5.3.3.
73
Baur 1922: 409 – 1930 bereits formulierte er dieses Verhältnis als ein faktisches: „Schon heute ist die Züchtung eine eigene Wissenschaft geworden, welche zu der Vererbungslehre ungefähr die gleichen Beziehungen hat wie die chemische Technologie zu der Chemie” (Baur 1930b:
403, Herv. Verf.).
74
Vgl. Plarre 1987: 162.
75
Vgl. Harwood 1993: 205; Einschätzung: 218; Zahlen: 214-18; vgl. auch Harwood 2002: 29.
Mindestens 11 von 30 Kuratoren waren „Rittergutbesitzer“ oder Firmenvertreter (vgl. BA B,
R1501, 26802: Bl. 17). – Es ist allerdings zu beachten, dass Baur eher einer staatsinterventionistischen, kooperatistischen und antiliberalen Wirtschaftspolitik nahe stand, sich gegen den
Wettbewerb in der Privatzucht aussprach und entsprechend die Verschaltung von Wirtschaft,
Wissenschaft und Staat dachte (vgl. Baur 1927: 377 u. Baur 1933b (auch enthalten in: AMPG,
Abt. III, Rep. 4A, Nr. 13); vgl. auch Harwood 2002: 30-31; 1.2.1).
76
Nachtsheim 1922d: 635+39
77
Nachtsheim 1924b: 183
42
genüber nicht das nötige Verständnis”.78 Ja, unter den Tierzüchten ging ein regelrechter „Horror vor den ‚Aufspaltungen’“ der Eigenschaften, dem Basiskalkül
des Mendelismus, um.79 Die Haustierzucht als „praktischer Teil” der Zoologie,
die in der Genetik nun eine Führungsrolle übernommen habe, stehe aber, prophezeite Nachtsheim, am Beginn einer neuzeitlichen Entwicklung auf dem Boden des Mendelismus; doch dafür sei der Aufbau der Vererbungswissenschaft
an den Universitäten und eigene Anstalten für Züchtungskunde erforderlich.80
Der Mendelismus mit seinem einfachen Kalkül der mendelschen Regeln
eignete sich als technische Wissenschaft, weil sie Kontrolle, Voraussage und
Eingriff ermöglichten. Die Wissenschaft nahm in dieser Programmatik die Rolle
des technologischen Katalysators des agrarischen Industrialisierungsprozesses
an. Im Anschluss an den hier verwendeten Modernisierungsbegriff wurde damit
die Modernisierung der Züchtungskunde und der landwirtschaftlichen Produktion zum Ziel der Genetik. Der Kern dieser Modernisierung bestand in der Verwissenschaftlichung der Produktionsweise. Die technologisch ausgerichtete
Wissenschaft sollte den Platz einer ersten Produktivkraft der Agrarwirtschaft
einnehmen.81
Am Beginn dieser Entwicklung, so fuhr Nachtsheim fort, müsse eine umfassende und am Nutzungszweck der Tiere orientierte genetische Analyse der
Haus- und Nutztiere stehen, was zugleich den Ausbau des theoretischen Fundaments des Mendelismus bedinge.82 Das erste Projekt, das Nachtsheim in
Dahlem in Angriff nahm, führte beispielhaft vor, um was es ging. Vom Preußischen Landwirtschaftsministerium unterstützt, führte Nachtsheim variationsstatistische Untersuchungen über die Vererbung der Zitzenzahl bei Hausschweinen durch. In der technologischen Logik standen Wissenschaft, Genetik, Zitzenzahl, Fruchtbarkeit, Ferkelzahl und Zuchtwert der Sauen in einem Zusammenhang. Nach dem Niedergang der Schweinezucht und Tierzucht allgemein in den
Kriegs- und Revolutionsjahren sah Nachtsheim solche Arbeiten von weittragender „Bedeutung für große Gebiete unseres Wirtschaftslebens“.83
Als Leitfigur diente die Verschaltung von Industrie und Wissenschaft in der
Technologie. Während „die schwerfällige Landwirtschaft bisher den nötigen
Weitblick“ vermissen ließ, schaffe die Industrie „großzügig auch noch heute
neue Institute“.84 Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert entwickelte sich eine
enge Beziehung zwischen Forschung und Industrie – chemische Fabriken stell78
Nachtsheim 1922d: 635. Die eigentliche „Schuld“ läge allerdings nicht bei den Tierzüchtern
selbst, sondern „an den Objekten“, an der Widerständigkeit von Tieren in der genetischen Analyse.
79
Nachtsheim 1922d: 636
80
Vgl. Nachtsheim 1922d: 640. – Hintergrund der Forderung war zudem der sich verzögernde
Ausbau des Institut für Vererbungsforschung, dessen Liegenschaften von Potsdam nach Dahlem in ein neues Institut umziehen sollten. Seit 1914 lag Baur mit den Verwaltungsbehörden
und Ministerienstellen darüber im Clinch (vgl. 8.11.1914, Baur an Rector der Kgl. LHB, in: GStA,
I. HA, Rep. 87B, 20058: Bl. 37; 18.5.1922, Niederschrift [über Besprechung im PML zu Neubauten in Dahlem], in: ebd., 20281: Bl. 224-58).
81
Wissenschaft als erste Produktivkraft, vgl. Habermas 1968: 88.
82
Vgl. Nachtsheim 1922e: 66 u. 68.
83
Nachtsheim 1922d: 639; vgl. Nachtsheim 1922e: 65; Nachtsheim 1925b. Zu den weiteren
Arbeiten am Institut siehe 2.1. Zeitgleich begann Paula Hertwig mit äquivalenten Zuchtversuchen an Hühnern. Zu Hertwigs Arbeiten, siehe 5.3.3.
43
ten den Laboren synthetische Substanzen zur Verfügung und die Forscher ihre
Isolate, Gleichungen und Theoreme der Industrie. Die „Produktion von Natur“ in
der Wissenschaft und die Formierung der Gesellschaft traten in eine Wechselbeziehung, die durch „praktische“ oder instrumentelle Vernunft vermittelt wurde.85 In der biologischen Wissenschaft nahm die Genetik beginnend mit den
zwanziger Jahren eine vorreitende Rolle in der Technologisierung der wissenschaftlichen Arbeit ein. Baur warnte Nachtsheim, an die Landwirtschaftliche
Hochschule zu kommen, hieße, den Weg des Außenseiters zu gehen: „Ich muß
nur bemerken, dass natürlich die Aussichten auf weitere Berufungen pp von
hier aus immer etwas schlechter sind als von einer Universität. Sie würden sich
eben ganz auf ein Fach spezialisieren, für das es noch keine Professuren
gibt.”86 Das spezialisierte Fach, das Baur meinte war der Mendelismus in Reinform, die an der praktischen Verwertbarkeit orientierte Genetik.
1.1.4 Kultur vs. Zivilisation: Spezialisierung und Technik im Vorbild Amerikas
Es könnte auf diesem Hintergrund neu gefragt werden, was zur schnellen Verbreitung des Mendelismus beitrug. Die Wahl des mendelschen Experimentalsystems und seines theoretischen Rahmens war nicht innerwissenschaftlich
zwingend, sondern mit der mentalen und kognitiven Struktur der Protagonisten
rückgekoppelt.87 In den USA, so zeigt Harwood vergleichend, dominierte der
Mendelismus über andere Strömungen der Vererbungswissenschaft auf Grund
eines verbreiteten pragmatischen Wissenschaftsverständnisses. Die zunehmende Spezialisierung wurde von den Wissenschaftlern akzeptiert und befördert; denn Wissenschaft war weder im Binnen- noch im Außenverständnis vorrangig kulturstiftend; Wissenschaftler waren Leute, die halfen, praktische Probleme zu lösen.88 Die Wissenschaft stiftete in den USA den Wohlstand. Dies
zeigt sich paradigmatisch an dem seit Ende des 19. Jahrhunderts ausgebauten
agrarwissenschaftlichen Netz von Agricultural Colleges und Experimental Stations.89 Es gab keine landwirtschaftliche Hochschule ohne ein genetisches Institut.90 Diese Form der Einspannbarkeit der Genetik in die landwirtschaftliche
84
Nachtsheim 1922d: 637
Vgl. Lenoir 1992a: 148, zur Verknüpfung von Wiss. u. Industrie: 152ff.; vgl. auch Harwood
1993: 196-70.
86
29.1.1920, Baur an Nachtsheim am, zit. n. o.D. [vermutl. 1930], Nachtsheim: Auszug aus
meinen Verhandlungen mit Professor Baur (UHUB, Landw. Fak., PA Nachtsheim, Bd. 3: Bl. 51)
Noch 1931 warnte Baur in ähnlicher Weise Hans Stubbe, dass er aus der Landwirtschaft nicht
zurück in die Botanik wechseln könne (vgl. 9.2.1931, Baur an Stubbe, in: BBAW, Stubbe-Fonds,
9).
87
Harwood hat im Vergleich zwischen amerikanischer und deutscher Vererbungswissenschaft
gezeigt, dass die axiomatische Fokussierung auf die Unterscheidung von Genotyp und Phänotyp in den zwanziger und dreißiger Jahren eine mögliche experimentelle Forschungsstrategie
war. Die Entscheidung dazu hing von Vorentscheidungen über das Problem – Entwicklung vs.
Transmission – und wiederum vom sozialhistorischen Kontext ab. (Vgl. Harwood 1993: 94-98.)
88
Vgl. Harwood 1993: 165 u. 189-90.
89
Vgl. Kay 1993: 67 bzw. Kimmelman 1992: 220.
90
Vgl. Nachtsheim 1922d: 637; Harwood 1993: 158-60; Kay 1993: 13; Kimmelman 1992: 20102. – Kimmelman spricht von einer speziellen Ideologie der landwirtschaftlichen Genetik, die
sich aus der Überschneidung von kooperativen Forschungsstil, Objekten der Forschung und
den institutionellen Verbindungen mit sozialen Interessen herausbildete (vgl. ebd.: 200+20). Die
Allianz zwischen akademischer Wissenschaft und Agrarbusiness war in den USA gewöhnlich
nicht ohne Spannung. Die Doppelgesichtigkeit des Mendelismus aber als akademisches und
85
44
Produktion lässt die wissenssoziologische Begründung der Dominanz des Mendelismus durch eine ökonomische und techniktheoretische Blickweise erweitern.
Der Vergleich mit Amerika ist über das Methodische hinaus umso mehr nahe
liegend, als Amerika wiederkehrender Bezugspunkt des mendelistischen Diskurses in Deutschland war. Amerika ist „doch eigentlich das Land der Genetik“,
gestand Nachtsheim,91 und meinte damit die Führungsrolle der USA in der
Transmissionsgenetik. Es war also konsequent, dass Nachtsheim mit der
wärmsten Unterstützung Baurs 1926 zu einem Forschungsaufenthalt in die
USA aufbrach.92 Im Rahmen des Austauschprogramms der Rockefeller Foundation verbrachte Nachtsheim zwölf Monate an Thomas Hunt Morgans Labor
an der Columbia-Universität in New York bzw. im Marine Biological Laboratory,
Woods Hole, und lernte die Methoden der Drosophilagenetik kennen.93 Sein eigentliches Interesse war aber, „Mittel und Wege kennen [zu] lernen, die man in
Amerika eingeschlagen hat, um die Ergebnisse der Vererbungsforschung in der
tierzüchterischen Praxis nutzbar zu machen“.94 Er bereiste drei Monate lang
landwirtschaftlich-genetisch arbeitende Institute im Osten und Mittelwesten der
USA.95
In Nachtsheims Bewunderung für den amerikanischen Weg schimmerte nicht
der feinste Riss auf, der darauf deutete, dass er einen epistemologischen Unterschied zwischen „reiner“ oder angewandter Forschung machte. Im Gegenteil,
die Einheit zwischen Theorie und Praxis war die Bedingung der Proliferation
beider: von Wissen und Technik, von Wahrheit und Produktivkraft. Weil die Genetik, so Nachtsheim, in den USA auf dem Boden der landwirtschaftlichen Forschung stand, sei sie bereits ein selbständigtes Fachgebiet. „Der durchaus
praktisch eingestellte Sinn des Amerikaners ließ ihn sehr bald die große Bedeutung der Genetik für die Landwirtschaft erkennen, und eine solche Erkenntnis
und intensivste Förderung des jungen Forschungsgebietes bedeutet in Amerika
technisches Fach machte die landwirtschaftlichen Wissenschaftler zu der frühesten und entschiedensten Lobby des Mendelismus: Er bediente ihre intellektuellen und die praktischen,
sprich: ökonomischen Interessen (vgl. ebd.: 207 u. 202-03).
91
22.10.1927, Nachtsheim an C. B. Davenport (APS, Davenport papers)
92
Die mendelgenetische Sympathie war gegenseitig: „Baur is the foremost geneticist in Germany. and also the ablest. Nachtsheim is the most intelligent and best [?] of the on-coming generation of experimentalists” (9.7.1925, Morgan an Dr. Rose [Intern. Education Board], hands., in:
RAC, IEB, file Nachtsheim).
93
Vgl. 15.2.1927, Nachtsheim an IEB: Bericht (RAC, IEB, file Nachtsheim); Nachtsheim 1928b;
Nachtsheim 1928f.
94
29.5.1925, Nachtsheim an Morgan (RAC, IEB, file Nachtsheim)
95
Er besuchte alle relevanten Säugetiergenetiker u. viele Pflanzengenetiker [PG], insgesamt 23
Institutionen: L. J. Cole u. R.A. Brink [PG] (College of Agriculture, Univ. Wisconsin, Madison); L.
C. Dunn (Connecticut Agricultural College, Storrs); E. M. East [PG] u. W. E. Castle (Bussey Institution of applied Biology, Harvard Univ., Cambridge); R. A. Emerson (Experimental Station,
New York State College of Agriculture at Cornell Univ., Ithaca); C. C. Little (Dep. of Genetics,
Univ. of Michigan, Ann Arbor; dort auch Sturtevant, W. Landauer und C. L. Strong); Wistar Institute (Philadelphia); E. W. Lindstrom [PG] (Dep. of Genetics, Iowa State College of Agriculture); H.C. Phee u. G. N. Collins [PG] (Animal Husbandry u. Bureau of Plant Industry Division,
U.S. Dep. of Agriculture, Washington); K. B. Hanson (U.S. Experimental Fur Farm, Seratoga
Springs) (vgl. 21.8.1926, Nachtsheim an Wallace Lund, IEB, in: RAC, IEB, file Nachtsheim;
Nachtsheim: Die Genetik der Vereinigten Staaten von Amerika, Reise März-Juni 1927, Anlage 2
zu: 26.7.1927, N. an PLM, in: GStA, I. HA, Rep. 87B, 20283: Bl. 87-92).
45
eines.”96 In Deutschland sei es gerade umgekehrt. Die deutschen Genetiker
seien bis auf wenige Ausnahmen „Theoretiker, reine Botaniker und reine Zoologen, denen vielfach das Interesse und Verständnis für die angewandte Genetik
völlig fehlt“.97
Nachtsheims spontane und bereits vor seiner Reise bestehende Bewunderung der amerikanischen Wissenschaftsorganisation entsprach jenem pragmatischen Denkstil. In der Semantik von Kultur und Zivilisation fand sich der Gegensatz der Mandarine und Modernisierer in der Aufbruchsstimmung eines
technischen Fortschrittsglaubens und der Furcht vor der „Amerikanisierung“
wieder. Die einen sahen die Kulturnation durch den Schulterschluss von Wissenschaft und Industrie gefährdet, die Kultur in der Krise und schlossen damit
an ein verbreitetes antimodernes Diskursfeld an, zu dem unabhängig von politischen Zuordnungen die Kritik an Industrialisierung, Verstädterung, Kapitalismus
und zwecklosem instrumentellen Denken gehörte.98 In der „Zivilisation“ kam hingegen ein gegensätzliches Gesellschaftsbild zum Ausdruck. Sie war der Inbegriff der fortschrittlich und rein praktisch organisierten und verwalteten, kapitalistisch strukturierten und legalistisch verfassten Gesellschaft.99 Im Willen zur
Nutzbarmachung des Mendelismus drückte sich ein grundsätzlich technikfreundliches und technikgläubiges Bewusstsein aus.100 Den Skeptikern warf
Nachtsheim entgegen, dass er „nicht zu den Kleingläubigen“ gehöre, die solche
Probleme für unüberwindlich hielten.101
96
Nachtsheim: Die Genetik der Vereinigten Staaten von Amerika, Reise März-Juni 1927, Anlage 2 zu: 26.7.1927, N. an PLM (GStA, I. HA, Rep. 87B, 20283: Bl. 91)
97
Nachtsheim: Die Genetik der Vereinigten Staaten von Amerika, Reise März-Juni 1927, Anlage 2 zu: 26.7.1927, N. an PLM (GStA, I. HA, Rep. 87B, 20283: Bl. 91) Dieser Absatz wurde im
PML durch Unterstreichung und „richtig“ kommentiert.
98
Vgl. Harwood 1993: 279-80; vom Bruch 1996: 10-12; zu Lebensreform u. völkische Bewegung, vgl. Linse 1983; Hartung 1996; Puschner et al. 1996: XXI-XXII; zu Wissenschaftsfeindlichkeit, vgl. auch Breuer 1993: 198.
99
Zur – deutsch-spezifischen – Unterscheidung von Kultur u. „Zivilisation“, vgl. Ringer 1987: 8486. – In Deutschland umfasste – anders als in Frankreich – der Zivilisationsbegriff eine kulturkritische Komponente, ein Unbehagen an den eigentlich nützlichen Zivilisationserscheinungen
(vgl. Stehr 1994: 263). Max Weber machte sich die Unterscheidung in Zivilisation und Kultur in
seiner Kultursoziologie zu Eigen (1920). Danach war der Zivilisationsprozess gleichbedeutend
mit der Intellektualisierung und Rationalisierung der Gesellschaft durch Wissenschaft und Technik. Allgemeingültigkeit, Notwendigkeit und Zweckhaftigkeit stehen demnach im Gegensatz zur
Einmaligkeit kultureller Ausdrucksformen (vgl. ebd.). Gegen die „vergesellschaftlichte Erkenntnis“ wurde – im konservativen Denken nach Karl Mannheim – die Erfahrungsgemeinschaft
gesetzt (vgl. ebd. 279).
100
Nachtsheims Kollegin Paula Hertwig gebrauchte 1933 den Begriff (vgl. Hertwig 1933a:
1400). N. wechselte die Sprache von „Kulturmensch“ und „Kulturvolk“ (Nachtsheim 1936d: VIIVIII) zu „Zivilisation“ und „Zivilisationsschaden“ erst in den dreißiger Jahren (vgl. Nachtsheim
1939h; Nachtsheim 1940e). N. gebrauchte „Zivilisation“ im eugenischen Diskurs. Der Zivilisation
wurde eine inhärente degenerative Tendenz zugeschrieben. Spätestens in den dreißiger Jahren
wurde der Bezug auf „Zivilisation“ im mendelschen eugenischen Diskurs verankert (vgl. zum
Beispiel Timoféeff-Ressovsky 1935a: 118; von Verschuer 1941: 115; Eintrag im Erbpathologischen Wörterbuch 1943 zum Stichwort „künstliche Auslese“: „So kommt es zum Beispiel beim
Menschen zu einer k.A. als Folge der Zivilisation [...]“ (AMPG, Abt. III, Rep. 20A, Nr. 280: Seite
20 der Druckfahne v. 1.2.1945).
101
Nachtsheim 1922d: 639
46
Amerika war für Nachtsheim prägend. Die geknüpften Verbindungen erwiesen sich immer wieder von unschätzbarem Wert.102 Mit dem ‚Vater der Säugetiergenetik’, William E. Castle, blieb er in wissenschaftlichem Kontakt.103 Mit
Amerika verband Nachtsheim, der zwar formkonservativ auftrat,104 sein „Berufsethos“ – ein kooperativer und offener Arbeitsstil.105 Internationalismus in der
Wissenschaft zog allerdings nicht ebensolche politischen Einstellungen nach
sich. Nachtsheim ließ keine parteipolitischen Bindungen erkennen und war in
dem Sinne unpolitisch; die Bezüge seines Denkens und gesellschaftlichen Handelns waren aber national strukturiert.106 Im Aufbau der Deutschen Gesellschaft
für Vererbungswissenschaft und als Generalsekretär des V. Internationalen
Kongress für Genetik erbrachte Nachtsheim seinen Teil, die deutsche Genetik
international wieder in Führerschaft zu bringen.107
Die festgestellte Anwendungsfreundlichkeit der mendelschen Genetik lässt
auch danach fragen, welche Rolle dies für die Mobilisierung der Genetik für die
Eugenik spielte. Nachtsheim befand sich als Assistent am Baurschen Institut an
einem Knotenpunkt des Vererbungsdiskurses in der Weimarer Republik. Informationen und persönliche Kontakte liefen bei Baur zusammen. Es war unausweichlich, dass Nachtsheim in Berührung mit der menschlichen Erblehre und
102
Neben den amerikanischen Genetikern hatte Nachtsheim guten Kontakt zum 1933 emigrierten Curt Stern, der mit N. an Morgans Labor Gast war. Charles Davenport, Leslie Dunn, Walter
Landauer, Herman Muller waren N.s häufigeren Briefpartner in den USA. In prekären persönlichen Lagen konnte Nachtsheim immer mit der Option, nach Amerika gehen, agieren: 1933, als
er bedrängt wurde und entlassen werden sollte (vgl. Harwood 1993: 269; vgl. auch 6.1.3), 1949,
als die Arbeitsverhältnisse in Deutschland ungenügend waren (vgl. 1.3.1949, ? an Castle, in:
APS, Castle papers) und 1960, als das MPI für Erbbiologie demontiert wurde (vgl. 10.1.1961,
Pätau an Grüneberg, in: WIHM, PP, GRU, box 13). Nach 1945 konnte Nachtsheim vor dem
Hintergrund dieser Verbindungen die Rolle einer Vertrauensperson für die ausländischen Genetiker einnehmen (vgl. Weingart et al. 1992: 565+76). Die guten Beziehungen zur angloamerikanischen (und internationalen) Genetik dokumentiert sich in der Festschrift zum 60. Geburtstag
N.s, in der u.a. W. Landauer, P. B. Sawin, C. Stern und S. Wright (sowie R. Goldschmidt, G.
Dahlberg) Beiträge beisteuerten (vgl. Grüneberg, Ulrich 1950). Eigenen Assistenten, wie Udo
Ehling, konnte N. Forschungsaufenthalte an anerkannten Forschungsstationen zur Säugetiergenetik vermitteln (zum Beispiel Oak Ridge National Laboratory).
103
Vgl. Castle & Nachtsheim 1933. Sie tauschten auch Versuchstiere aus. Zu Castle und
Säugetiergenetik in den USA, vgl. Rader 1998: 327.
104
Seinem Schüler und engeren Korrespondenzpartner Hans Grüneberg bot Nachtsheim mit 88
Jahren das „Du“ an (vgl. 18.7.1977, Nachtsheim an Grüneberg, WIHM, PP/GRU, box 12). Zum
Ausdruck kommt darin auch die teils nüchterne, teils misstrauische Distanz, die N. immer zumindest zu wissenschaftlichen Kollegen hielt. Seine Todesanzeige war überschrieben mit:
„Mensch sein, heißt Kämpfer sein“ (Vogel 1980a: 28).
105
Vgl. 8.4.1947, Nachtsheim an P. Dahr (AMPG, Abt. III, Rep. 20A, Nr. 15). – Ein Trend zur
Teamarbeit entwickelte sich in den dreißiger Jahren auch in Deutschland (siehe 4.1.1).
106
Sein Leben lang vertrat er den Anspruch, Deutsch müsse international eine Wissenschaftssprache sein und bleiben (vgl. Nachtsheim 1933c: 109; Nachtsheim 1961a; Nachtsheim 1968a).
Die genetische Unterstützung der landwirtschaftlichen Genetik begründete sich für N. im nationalökonomischen Nutzen (siehe unten). N.s Nationalismus blieb aber gemäßigt. Dies korrespondiert damit, dass er der Wissenschaft voll und ganz verschrieben war und keine Interessen
außerhalb der Wissenschaft (vgl. Harwood 1993: 253-54) hatte. Nationalismus kritisierte er,
insofern er die Freiheit der Wissenschaft drohte (vgl. 13.4.1928, Nachtsheim an A. F. Blakeslee,
in: APS Blakeslee papers).
107
Vgl. Nachtsheim 1927a: 994. Nachtsheim war 1921 neben E. Baur, Carl Correns und R.
Goldschmidt Mitglied im Gründungsausschuss der Gesellschaft und fungierte bis zu einer
Erkrankung 1931 als ihr Schriftführer. In der Bundesrepublik war er eine maßgebliche Figur in
der Reinstitutionalisierung der (Human-)Genetik.
47
Eugenik kam.108 Es kann angenommen werden, dass Nachtsheim eugenische
Ansichten teilte,109 jedenfalls vertrat er keine kritische Haltung gegenüber der
Eugenik. Es deutet aber nichts darauf, dass er sich in den anfänglichen Jahren
am Institut besonders für Eugenik interessierte.110 Nachtsheim war voll und
ganz mit der landwirtschaftlichen Anwendung des Mendelismus beschäftigt.
Diese Feststellung wird noch von Bedeutung sein, denn in den dreißiger Jahren
wandelte sich Nachtsheim zum vehementen und aktiven Fürsprecher der
Eugenik.
In den USA waren es nach den Tier- und Pflanzenzüchtern und der Landwirtschaft die Eugeniker, die dem Mendelismus zu seiner schnellen Ausbreitung
verhalfen; und die Genetiker funktionierten reibungslos: „Geneticists warmed
easily to their priestly role.“111 Passte der technische Charakter der Genetik und
das technologische Bewusstsein der Genetiker zu dem gesellschaftlichen Umstrukturierungsprozess, in dessen Verlauf auch soziale Probleme als wissenschaftlich-technische Probleme aufgefasst wurden? Der Kurzschluss zwischen
mendelscher Genetik und Gesellschaft knüpft die Annahme Harwoods, dass
108
Die Planungen und die Initiative zur Einrichtung eines KWI für menschliche Vererbungslehre
konnte Nachtsheim unmittelbar mitverfolgen. Nachdem schon 1922 im Preuß. Landesgesundheitsrat eine Reichsanstalt für menschliche Vererbungslehre und Bevölkerungskunde angeregt
worden war, übernahm Baur 1926 die konkrete Initiative. Zusätzlich trat der Jesuit, Privatgelehrte und aktive Eugeniker Dr. Hermann Muckermann als nicht unbedeutender Strippenzieher auf,
da er notwendige Finanzmittel akquirierte. Muckermann weihte N. 1925 in seine Pläne ein (vgl.
30.8.1947, N. an Muckermann, AMPG, Abt. III, Rep. 20A, Nr. 49; siehe auch Lösch 1997:
169+78). 1927 wurde das KWI für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik im Rahmen des Intern. Kongresses für Genetik eingeweiht. An der Stelle von Muckermann wurde 1933
Fritz Lenz Leiter der Abteilung für Eugenik (dann: Rassenhygiene). Nach 1947 ergriff N. die
Initiative zur Wiedereinsetzung Muckermanns (vgl. 21.5.1946, Nachtsheim an Omgus, in:
AMPG, Abt. III, Rep. 20A, Nr. 110).
109
Nachtsheims ersten akademischen Lehrer waren, wie Baur, Teil der rassenhygienischen Bewegung – entweder, wie R. Hertwig, als Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene
(vgl. Hertwig 1930b; Ploetz 1931) oder, wie Goldschmidt, als gemäßigter Sympathisant (Goldschmidt 1920a: 74-76). N. vertrat später ein mendelgenetisch begründetes rassenhygienisches
Paradigma und war der medikalisierten Eugenik zuzuordnen. Die technische Expertise des
Mendelismus fungierte darin als sozialtechnologischer Ausgleich der Effekte der zivilisatorischen „Kontraselektion“ (vgl. Weingart et al. 1992: 142ff.; zur besonderen Rolle der ‚negativen’
Eugenik in Deutschland: Weindling 1989: 976ff.). Die Änderung N.s Interesse an eugenische
Fragen spiegelt sich in seiner Sonderdrucksammlung wider: Erst ab 1933 sammelte er SD
gesondert unter dem Schlagwort „Eugenik“ (Vorhanden sind: 29 SD „Eugenik“ 1912-33, 103 SD
1933-45). (vgl. IGMH, SDNL) – Nachtsheims einziger explizite Bezug auf „Rassenhygiene“
stammt von 1928 im Kontext eines Vergleichs von Tierzucht und „Rassenhygiene“ (vgl.
Nachtsheim 1928e: 611).
110
Einer der wenigen Hinweise ist der Besuch Nachtsheims bei dem kompromisslosen und lautstarken Eugeniker Charles B. Davenport (Station for Experimental Evolution der Carnegie Institution of Washington). Sie diskutierten neben theoretischen auch „angewandte Fragen“ der Genetik (vgl. Nachtsheim: Die Genetik der Vereinigten Staaten von Amerika Reise März-Juni
1927, Anlage 2 zu: 26.7.1927, N. an PLM, in: GStA, I. HA, Rep. 87B, 20283: Bl. 87). Später
versicherte Nachtsheim Davenport, der schon 1921 Mitglied der Deutschen Gesellschaft für
Vererbungswissenschaft geworden war, sein „lebhaftes“ Interesse an den Themen der Rassenhygiene (vgl. 3.11.1922, Davenport an N. bzw. 22.3.1928, Nachtsheim an Davenport, in: APS,
Davenport papers). Dieses Bekenntnis wirkte aber als Teil einer offiziellen Mitteilung als
gezwungene Höflichkeit. Gezwungen war diese Versicherung, da Davenport zwar pionierhaft
den Mendelismus auf menschliche Krankheiten übertrug, aber darüber hinaus sehr spekulativ
war, und eine rassisch gewendete Eugenik vertrat, die Nachtsheims Sache nicht war (zu
Davenport, vgl. Kevles 1995: 46 u. 48).
111
Kevles 1995: 69 bzw. vgl. 69-70.
48
sich die Wahl der genetischen Strategie aus sozialen Strukturen erklärt, über
den Denkstil hinaus an die industriell-administrative Umgestaltung der modernen Gesellschaft.112 Der spezifische modernistische Enthusiasmus für die Verbindung von Theorie und Praxis macht das Institut Baurs exemplarisch für die
szientistische Behandlung von Problemen der Zucht wie der Medizin und Gesellschaft. Wissenschaft an der „Schnittstelle von Theorie und Praxis“113, wie es
die Devise der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft war, machte beispielsweise „Ziegenböcke mit Ausbildung weiblicher Merkmale“ zu einem gleichermaßen landwirtschaftlichen wie eugenischen Problemfall. Wenn die Intersexualität erblich
sei, gab Baur zu bedenken, müssten jene Ziegenböcke von der Zucht ausgeschlossen werden.114 Die Auflösung der Trennung von Theorie und Praxis in der
technischen Auffassung von Wissenschaft hieß zugleich, ihre Gegenstände
technisch zu begreifen. Wie in Physik und Chemie die Erkenntnis der Praxis
diene, so müsse auch die Biologie die Weizenpflanze als Maschine begreifen.
Baur: „Genau so, wie es z.B. Dampfkessel gibt, welche sehr wenig rationell arbeiten, d.h. viel Kohlen verbrauchen und wenig Kraft liefern, so sind auch die
verschiedenen Weizenrassen sehr ungleich leistungsfähig“ und ließen sich
verbessern.115
1.2
Mendelisierung der Pelztierzucht
„Diese Zeilen sollen Sie, hochverehrter Herr Professor, bitten, mich und vielleicht noch
andere Kaninchenzüchter auf den richtigen Weg zur Züchtung verschiedener Haararten
116
beim Kaninchen zu führen.“
Nachdem die mendelsche Genetik im akademischen Raum positioniert wurde,
soll nun genauer charakterisiert werden, in welcher Weise die Genetiker die
Umsetzung ihres Programms anstrebten. Es wird sich schnell zeigen, dass die
Wissenschaftler des Dahlemer Instituts für Vererbungsforschung nicht nur das
nötige Verständnis für die praktische Bedeutung ihrer Tätigkeit besaßen, sondern in aktiver Weise ihr Wissen zur Verfügung stellten. Sie wirkten an der
Schaffung eines gesellschaftlichen Bedürfnisraumes für ihr technisches Wissen
mit, indem sie es produktiv an vorgegebene politische und sozioökonomische
Strukturen und Dynamiken koppelten. Baur und Nachtsheim manövrierten sich
selbst in eine Position, in der sich die Entwicklung ihrer Wissenschaft in einem
offenen und direkten Rückkoppelungsverhältnis mit gesellschaftlichen Teilbereichen vollzog. Der Prozess der Verwissenschaftlichung verschränkte also die
Disziplinenbildung und Spezialisierung der Genetik mit den sozioökonomischen
Strukturen des Weimarer Deutschland.
112
In den Kapiteln 2 u. 6 wird am Beispiel Nachtsheims die Hervorbringung des eugenischen
Anwendungsbezugs im Zusammenwirken des Mendelismus als landwirtschaftliche Produktivkraft und dem konkreten genetischen Experimentalsystem dargestellt.
113
14.2.1928, DAZ, Baur: Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und Landwirtschaft (BA B, alt 168, 83)
114
Vgl. 14.2.1925, Baur an PML, Abschrift (GStA, I. HA, Rep. 87B, 20282: Bl. 159-60).
115
18.10.1929, Baur: Neue Wege der Pflanzenzüchtung [(Rundfunk-)vortrag in Portugal,
11/1929] (AMPG, Abt. III, Rep. 4B, Nr. 3)
116
Kaninchenzüchter Stutzer 1929: 326
49
Der Wissenschaftler wird uns im Folgenden in verschiedenen Rollen begegnen: in der des Experten, des Mediators und des Organisators. Das Beispiel
Nachtsheims zeigt einen spezifischen Zusammenhang zwischen jenem neuen
– „pragmatischen“ – Typ des Wissenschaftlers und seinem Handeln. Seine
Zuchtbemühungen brachten Nachtsheim in Berührung mit dem Diskurs der
Tierzüchter. An seiner schnellen Karriere zum Vorsitzenden des Reichsbundes
deutscher Kaninchenzüchter sind drei Aspekte interessant: 1. der Inhalt der
Auseinandersetzung zwischen traditioneller Zucht- und mendelgenetisch ‚modernisierter’ Zuchtpraxis, 2. die gesellschaftliche Legitimierung der Mendelgenetik und 3. die Machtpolitik des Wissenschaftlers im wissenschaftlichen Interdiskurs mit einer gesellschaftlichen Subgruppe sowie als teilnehmender Akteur
im Gefüge lobbyistischer und staatsinterventionistischer Interessenpolitik. Der
Wissenschaftler tritt als boundary person auf, die ebenso wie bestimmte wissenschaftliche Gegenstände – zum Beispiel mendelnde Gene – geeignet ist,
verschiedene gesellschaftliche Sphären mit einander zu vermitteln und dabei
produktiv Neues hervorzubringen – zum Beispiel „Wirtschaftsrassen“ in der
Kaninchenzucht.
1.2.1 Die Schnittstelle von Theorie und Praxis: Technisierung des
„Künstlerischen“
An der deutschen Tierzucht ging im Vergleich zu den amerikanischen Verhältnissen der mendelgenetische Diskurs lange vorbei. 1922 stellte Nachtsheim
fest, dass sich die Tierzüchter größtenteils in Vorstellungen bewegten, „die mit
neuzeitlicher Vererbungswissenschaft wenig gemein haben, und es kann bisher
nicht die Rede davon sein, daß der Mendelismus für die Tierzucht bereits nennenswerte praktische Bedeutung gewonnen hat”.117 Die deutschen Kaninchenzüchter bildeten da keine Ausnahme, wie der bunte Stimmenwirrwarr in Der
Kaninchenzüchter, einem reichsweiten Züchterorgan, enthüllt. Sie führten zwar
einen lebhaften Diskurs über Zucht, Zuchtwahl und Vererbung; der Mendelismus aber, so wird zu sehen sein, verlangte einen ‚Paradigmenwechsel’ in der
traditionellen Zuchtpraxis.
In den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts drehte sich der Zuchtdiskurs
der Kaninchenzüchter noch darum, welche Merkmale der Tiere zuchtwürdig
waren, das heißt, als schön galten: lange Tiere, kurzes oder langes Behänge
(Ohren) und so weiter. In diese fröhlich-ernste – selbstzweckhafte – Beschäftigung der Sport- und Freizeitzüchter mischte sich die Forderung, nur Tiere von
bestem Blut, also gesunde Tiere zu nehmen.118 Die immer wieder gebetete Formel des „Altmeisters Marpmann“, wie mit kränklichen und „fehlerhaften“ Tieren
zu verfahren sei, lautete „in echter kerniger Züchterübersetzung: ‚Schlage das
armselige Tierchen mit trockenem Holz ins Genick und gib ihm kaltes Eisen
(das Messer) in die Kehle!’“119 Die Messer- und Kochtopfrhetorik zielte nicht zufällig auf einen Gestus entschlossenen und radikalen Handelns; denn in der
Verlängerung des „Kampfes ums Dasein“ schlüpfte die Hand des Züchters nun
117
Nachtsheim 1922d: 635
Vgl. zum Beispiel B. 1905; Marpmann 1905.
119
Baumbach 1928: 862
118
50
in der Rolle der ausmerzenden Natur.120 Mythische Erzählungen vom „Urmensch“ und dem Naturzustand und Adaptionen aus dem wissenschaftlichen
Diskurs bildeten ein haltloses Gemisch, durch das in der Züchterwelt (und im
Alltagsdiskurs) das Normale und Pathologische in eine Ordnung „der Mutter
Natur“ fielen: „Hat der gesunde Mensch noch heute dieses Ekelgefühl gegen
seinen kranken Artgenossen, so hat er erst recht einen Ekel vor dem kranken
Tier.“121
Die Auslese der „Feierabend- und Sportzüchter“ blieb unmittelbar an die Erscheinung des Kaninchens gebunden. Für die Zucht beliebter Kaninchenrassen
wurden unmittelbar der Erfahrung entlehnte, partikulare Regeln aufgestellt: Um
beispielsweise „Englische Schecken“ zu züchten, sollte mit hellen Häsinnen angefangen, ab und zu ein vollfarbiges Tier eingekreuzt und keine blaue Farbe
genommen werden, da sie dazu neige, rasch zu verblassen.122 Mitunter wurden
phänomenologisch inspirierte Gesetze und Kräfte der Vererbung konstruiert.
Nach dem „Gesetz der Variabilität“ ließ ein unbestimmtes Bestreben jedes Tier
von seinen Eltern ein wenig abweichen, während das Gesetz der „Vererbungskraft“ den Umstand verallgemeinerte, dass die Nachkommenschaft den Eltern
ähnelte.123 Ein „System“ in der Züchtung wurde allenthalben angemahnt, und
Diplomlandwirte erläuterten die „Theorie der Züchtung“, deren Kernbestandteile
Inzucht, Verwandtschaftszucht und Kreuzung seien.124
Die Praktiken überschnitten sich zum Teil mit den Grundtechniken der mendelschen Genetik, ihre Verwendung war aber ganz gegensätzlich, sodass gerade sie aus Sicht der mendelschen Genetik den hartnäckigsten Kern irrationaler Züchtungspraxis bildeten. Die Verwandtschaftszucht war beispielsweise in
zwei Diskurse eingebunden: in den lebensweltlichen Degenerationsdiskurs, der
Inzucht mit Verfall der Konstitution zusammenbrachte, und in einen vererbungstheoretischen über die Arithmetik der Vererbungsanteile, nach dem die Einkreuzung von Tieren einer „Blutauffrischung“ gleich kam.125 Die Lehre der Blutanteile war das dominierende Leitkonzept der Zuchtpraxis, mit dem es der Mendelismus zu tun bekam. Danach vermischten sich die Eigenschaften der Eltern in
120
Zum Bezug auf Darwin und das Vorbild „Natur“, vgl. Wendler 1923: 472; Sustmann 1923a:
469; Bappert 1925: 581; zu „Ausmerzung“, vgl. Amtstierarzt Sustmann 1923b.
121
Körner 1925: 765; vgl. zur „Mutter Natur“: Königs 1926: 415.
122
Vgl. Heintz 1905.
123
Vgl. Heintz 1910: 258-59.
124
Auers 1910
125
Inzucht als die extremste Form der Reinzucht wurde schon im 19. Jh. als Zuchttechnik genannt; schon da trug sie die Ambivalenz zwischen der Festigung von „Qualitäten“ bei Nutztieren
und ihrer Schwächung, eine Spannung, die im Züchtungsdiskurs nicht auflösbar war (vgl. Stichwort „Inzucht“ in: Brockhaus‘ Conversations-Lexikon, 13. vollst. umgearbeitete Ausg. in 16 Bd.,
Leipzig 1884). „Reinzucht“ und „I.“ werden hier von einander unterschieden. „Incestzucht“ ist
eine Möglichkeit der I., mit der „allerdings die Gefahr einer Schwächung der Nachkommen
verbunden ist“ (vgl. ebd. nach Nathusius: Vorträge über Viehzucht und Rassenkenntnis, 1872 u.
Settegast: Tierzucht, Breslau 1878). – Reinzucht wurde teils synonym für die Züchtung von
Rassen benutzt („Rassezucht“) (vgl. Wischer 1925d: 393). Die Nutzzüchter (von Schlachttieren)
lehnten eher die Inzucht ab (vgl. Piegsa 1925b). Zur Befürwortung der Inzucht, vgl. Göhlich
1921; zur Ambivalenz, vgl. Porzig 1916: 24; Stang 1926: 653 (Prof. für Tierzucht, Berlin); Loeßl
1927) Zu Inzucht, siehe auch 3.2.3.
51
der Vererbung als Ganzes zu gleichen Teilen zu einem neuen Gemisch.126
Während ein Teil der Züchter aus Furcht vor dem Auftauchen von Zuchtschäden enge Verwandtenpaarung vermied, diskutierte ein anderer Teil immer aufs
Neue und durch eigene Erfahrungen illustriert die rechte Balance zwischen der
Intensität der Paarung verwandter Kaninchen und der „Blutauffrischung“, um
das Zuchtziel zu erreichen, aber der Entartung zu entgehen.127
Hin und wieder von „Wanderlehrern“ oder Tierzuchtwissenschaftlern belehrt,
die in Formeln die Blutlehre rationalisierten, schöpften die Fleischkaninchenzüchter und „Spezialzüchter“ bestimmter Kaninchenrassen jedoch vor allem aus
dem tradierten Erfahrungswissen und ihrer situativen und partikulären Praxis.128
Der erfahrungspraktische Diskurs war der rationale Kern der Zuchtpraxis. Das
züchterische Wissen entstammte nicht der objektivierenden Analyse, sondern
kaum systematisierter, lebensweltlich erhobener, assoziativer und intuitiv umgesetzter Erfahrung. Der Züchter begegnete seinen Kaninchen nicht als Objekten
des Experiments (bzw. pflegte nicht den Gestus der Distanz). Das Kaninchen
war sein Gegenüber, zu dem der Züchter in verschiedener Weise empathische
Beziehungen unterhielt (und offenbarte). Der gelebte Zugang, außerhalb des
Ideals der Objektivierung und Distanz kommt beispielsweise in folgender Stelle
zum Ausdruck, in der sich ein Züchter gegen die Wissenschaft wendet. Trotz
der Nutzenkalkulierenden Drastik seiner Ratschläge drückt seine Sprache doch
einen subjektivierenden Bezug zu den Kaninchen aus. „[Der Züchter] weiß aber
auch sehr genau [...], daß er durch Inzucht und Inzestzucht niemals Glück und
Erfolge in der Zucht hatte. Meist züchtete er dabei recht kränkliche Tiere heraus, welche für die ‚ewigen Jagdgründe’ gerade noch im 3. oder 4. Monat reif
genug waren. Meist drehten sich diese dann noch mehrmals wie irrsinnig im
Kreise herum, um dann mit zusammengebissenen Zähnen dieser schnöden
Kaninchenwelt Valet zu sagen. Und ein alter und echter Kaninchenzüchter hat
für dergleichen undankbare Experimente keine Zeit und kein Geld übrig, denn
Bücherweisheit und Theorie ist grau, und nur langjährige Erfahrung zeigt den
Meister.“129
Auf Grund des Zusammenhangs von Wissen und Erfahrung wurden die alten
verdienten Züchter, die „Meister“, verehrt. Das Wissen der Züchter war nicht fixiert. Mehr noch: Es war nicht fixierbar oder auf eine Formel zu bringen. Das
züchterische Know-how war an das Erfassen der je neuen Zuchtsituation gebunden. Und so ist es konsequent, dass die Züchter in Abgrenzung zum wissenschaftlichen Experiment ihr Tun dem Künstlerischen zuordneten. „Wir können diese Arbeit des Züchters wohl mit der eines bildenden Künstlers verglei-
126
Vgl. Nolte 1926: 6-7. Diese Lehre stand völlig im Gegensatz zur Auffassung der mendelschen Genetik, nach der die Eigenschaften sich aufspalteten und neu kombiniert werden konnten. Siehe auch 3.2.3.
127
Vgl. Porzig 1916: 21. Dieser Kaninchenzüchter stellte die Blutauffrischung als „Kampf um die
Herrschaft (Dominanz)“ der guten und schlechten Determinanten dar (vgl. auch Wischer 1925c:
405). Zu „Degeneration“ u. Blutauffrischung, vgl. Auers 1910: 1063; zum Zusammenhang
Blutauffrischung, Inzucht und Inzuchtschäden, vgl. Stang 1926.
128
Vgl. der Wanderlehrer Königs 1922; der Professor Balser 1918.
129
Baumbach 1928: 862
52
chen.“130 Das Künstlerische lag darin, dass die Tätigkeit des Züchters mehr
dem Modellieren glich, als dass sie aus einem systematischen oder formalisierten Wissensbestand abgeleitet war. „Neulich zeigte mir ein Bekannter seine
Tiere, [...] darunter eine 0,1 [einzehntel Blut] mit nach links spielender Blume.
Als ich ihn auf den Schönheitsfehler aufmerksam machte, sagte er: ‚Macht
nichts, bei ihrem Bruder spielt die Blume gerade so stark nach rechts, wenn der
sie deckt, dann gleicht sich’s aus.’“131 Die Dichotomie dieser Entgegensetzung
mag, so sei angemerkt, vor allem ein Produkt der Performanz der wissenschaftlichen und züchterischen Rede sein, auf die es hier letztlich nur ankommt.
Diesem Spektrum aus planloser bloßer Vermehrung von Schlachtkaninchen
auf dem Lande bis zur tradiert oder systematisch geregelten Praktik des semiprofessionellen Feierabendzüchters stand die mendelsche Genetik gegenüber.
Sie machte sich aber erst Anfang der zwanziger Jahre verhalten im Züchterdiskurs bemerkbar. Der Typ des wissenschaftlich interessierten Züchters, der „die
Lehren Darwins, Malthus und Mendels“ aufmerksam gelesen hatte, trat auf und
vermischte die Begrifflichkeiten der Blutlehre und der Faktorengenetik eigenwillig.132 Der „Mendelismus“ war in aller Munde,133 seine revolutionierende Bedeutung wurde aber zunächst selten verstanden. Markiert durch den Eintritt Nachtsheims in das Kaninchenzuchtwesen, wie unten zu sehen sein wird, professionalisierte und verwissenschaftlichte sich aber der Züchterdiskurs zunehmend.134
Telegonie, progressive Vererbung, Blutmischung, Abnahme der Vererbungskraft mit dem Alter, ihre Unterschiedlichkeit bei den Geschlechtern und die Vererbung erworbener Eigenschaften waren also die „veralteten Vorstellung und
Begriffe“, denen die „neuzeitlichen Methoden“ der Genetik gegenüber standen.135 Die neue Praxis setzte ein Denken voraus, das paradigmatisch anders
geartet war. Der mendelsche Grundbegriff des „Herausspaltens“ von Eigenschaften galt den Züchtern als einer der „schlimmsten Feinde“ der Zucht: „mendeln heißt pendeln“.136 Den Tierzüchtern blieb das Erscheinen und Verschwinden von Merkmalen opak. Das „Mendeln” von Merkmalen war für sie Synonym
für unberechenbare und deshalb gefürchtete Zuchtergebnisse. Aus der Sicht
des Genetikers war klar, dass den Züchtern nur die Möglichkeit fehlte, darin die
Regelmäßigkeit der mendelschen Regeln zu sehen. Dies war nach Nachtsheim
ein Problem der gesamten Tierzucht: Die Züchter verwechselten den „persönli-
130
Mette 1928: 364; vgl. auch Stang 1926: 654; Diplomlandwirt Sommermeyer 1928: 410;
Nachtsheim 1929a: 550.
131
Balser 1918: 74
132
Bspw. wurde gegen die verbreitete Auffassung der Telegonie argumentiert. Nach der T.
wurde durch die erste Paarung die Vererbungsqualität eines Tierweibchens beeinflusst. Es
konnte mit nicht „erwünschten Vererbungsstoffen“ „imprägniert“ werden (vgl. Krieg 1923).
133
Vgl. Piegsa 1925a: 2 bzw. Piegsa 1925b bzw. Nachtsheim 1930f: 733. – Der früheste
explizite Bezug auf die „mendelschen Vererbungsgesetze“ fand sich in Porzig 1916, ebenfalls
vermischt mit „Blutauffrischung“.
134
Vgl. Wischer 1925d; Wischer 1925a; Wischer 1925b; Wischer 1926; der Genetiker Dr.
Schultz aus Allenstein: Schultz 1926.
135
Nachtsheim 1929a: 550. Progressive Vererbung meinte Zunahme der Ausprägung eines
Merkmals von Generation zu Generation (vgl. zum Beispiel Kast 1928: 363). Zu Vererbungskraft u. Alter, vgl. Wischer 1925c: 406; zu Geschlechtsunterschiede, vgl. Königs 1922: 65.
136
Sustmann 1923a: 469 bzw. Nachtsheim 1922d: 636
53
chen Wert” eines Zuchttieres mit seinem „Zeugungswert”, da sie nicht die mendelgenetische Trennung in Phänotyp und Genotyp verstanden.137
Im System des Mendelismus zerfielen die alten Zuchtkonzepte in die monadische Bewegung der Erbanlagen.138 Nachtsheim war bemüht, die Blutanteillehre in „die Rumpelkammer“ zu befördern. Diese sei zwar eingängig – im Mendelismus müsse man mehr beobachten und denken –, aber für die Richtigkeit
und den „praktischen Wert der neuzeitlichen Vererbungslehre“ verwette er seinen Kopf.139 Prompt meldete sich der alte Wanderlehrer Karl Königs, der Beauftrage „für Kleintierzucht der Landwirtschaftskammer für die Rheinprovinz“, zu
Wort: Nachtsheim müsse akzeptieren, dass es auch eine Vererbung nach der
Art der Mischung von Flüssigkeiten gäbe.140 Dagegen stellte Nachtsheim das
Bild des Mosaiks oder loser Steinchen in einem Würfelbecher und verwahrte
sich, die durch die Wissenschaft festgestellten „Tatsachen“ als „seine Ansichten“ klein zu reden.141 Ein ‚bekehrter’ Züchter stimmte in „heller Freude“ ein, ihm
seien die Augen geöffnet worden. Er sähe ein, dass seine „vierzigjährigen
Zuchtmethoden“ mit der neuzeitlichen Vererbungsforschung kollidierten.142 Die
meisten Züchter würden „nach dem alten Stiefel“ weiterzüchten, weil sie die gelehrten Ausführungen nicht verständen. Er hingegen hatte dank Nachtsheims
Ausführungen verstanden, dass es am besten war, wenn man Marderkaninchen züchten wollte, gerade solche Kaninchen mit einander zu paaren, deren
Fell gerade nicht dem von „Mardern“ entsprach. In dieser Denkbewegung kulminierte der Partikularismus des Mendelismus, nach dem der Organismus nicht
seine Erscheinung war, sondern die Transmission der Erbanlagen. Diese neue
Denkweise kam einem Paradigmenwechsel sowohl im Alltags- und interdiskursiven Wissen wie in der Praxis der Freizeitzucht gleich. Doch diese Praxis entzog sich beharrlich dem Einfluss des akademischen Vorbilds.
1.2.2 Kaninchenzucht, Nationalökonomie und Ordnung des Sichtbaren
Die Renitenz der Freizeitzüchter wäre ohne weitere Bedeutung gewesen, wenn
die Kaninchenzucht nicht Objekt der nationalökonomischen Mobilisierung in der
Weimarer Republik geworden wäre. Es ging darum, „aus dem bisherigen Würfelspiel, dem Glücksspiel der Züchtungskunst ein Züchterschach, ein bestimmtes Arbeiten mit bestimmten Werten nach festen Gesetzen“ zu ma137
Nachtsheim 1922d: 637
Unter rein mendelschen Vorgaben löste sich die Ambivalenz der Inzucht zwar nicht auf, sie
erhielt aber eine rationale Grundlage und konnte innerhalb der mendelschen Konzeptualisierung entschärft werden. „Inzuchtschäden“ stellten sich als „Homogetisierung“ latenter „krankhafter Erbanlagen“ dar, die durch ergänzende Selektion entfernt werden können (vgl. Nachtsheim
1933f: 197). In ähnlicher Weise bezog sich Lenz 1936: 582 auf die umfangreichen Rattenversuche der amerikanischen Genetikerin Helen D. King. Baur allerdings nahm einen „zweiten
Typ“ der Inzuchtschwächung an, unter anderem mit Bezug auf seine Antirrhinumversuche (vgl.
Baur 1930b: 381 (180-86), siehe auch 3.2.3.1). Das Problem der Vererbung erworbener Eigenschaften wurde im mendelschen Diskurs ebenfalls relativ schnell abgehandelt. In einem
einfachen Dreh wurden die Umwelteinflüsse zu bloßen Modifikationsfaktoren der Ausprägung
von Merkmalen und Eigenschaften (vgl. Nachtsheim 1931b: 406).
139
Nachtsheim 1930f: 733-34; vgl. Nachtsheim 1929b.
140
Königs 1930a.
141
Nachtsheim 1930b; vgl. Königs 1930b; Nachtsheim 1930d. Herv. Verf.
142
Schürer 1930
138
54
chen.143 Das Ziel war die Effektivierung der Landwirtschaft durch Technisierung
und Industrialisierung. Der Leiter der Tierzucht an der Bayerischen Königlichen
Akademie für Landwirtschaft, Carl Kronacher, hatte die volkswirtschaftliche Bedeutung der Tierzucht und Kleintierzucht schon 1926 ausgearbeitet und gefordert, dass sich das „technische Prinzip“ – „moderne Biologie“ und Vererbungslehre – der Wirtschaft unterordnen müsse.144 Die Kaninchenzüchter wurden so
zum Bestandteil der industriell-ökonomischen Umstrukturierung im Kaiserreich,
des volkswirtschaftlichen (Wieder-)aufstiegs Deutschlands sowie der Autarkiepolitik nach der Erfahrung des Zusammenbruchs der landwirtschaftlichen Versorgung im ersten Weltkrieg.145
Die Einpassung der Tierzucht erforderte allerdings die Entwicklung der richtigen Technik. Dies war die Aufgabe Erwin Baurs und seines Instituts.146 Das
erste Ziel einer neuartigen Tierzucht müsste die „möglichst weitgehende Erbanalyse der wirtschaftlichen wertvollen Eigenschaften unserer Haustierrassen“
sein.147 Diese setzte die Verwendung neuer statistischer Methoden zur Analyse
quantitativer Merkmale, Fehlerstatistik und die Systematisierung der Herd- und
Zuchtbücher, mit denen die staatlichen Tierzuchtinspektoren betraut werden
sollten, voraus. Da aber durch Erbanalyse allein „nichts eigentlich Neues geschaffen“ werden könne, propagierte Baur die Kombinationszüchtung, geleitet
vom Vorbild des schwedischen Pflanzengenetikers Hermann Nilsson-Ehle.148
Durch gezielte Kreuzungen sollten wirtschaftlich interessante Eigenschaften zu
neuen Sorten kombiniert werden. Das Paradebeispiel des Instituts wurde die
Züchtung der Süßlupine.149 In einer ökonomisierten technologischen Logik
erschienen die Naturgegenstände nicht mehr als Erkenntnisgegenstände, sondern als bloß technische Objekte, deren „Konstruktionsfehler” behoben werden
sollten. Durch die Verbesserung der „vielen Millionen kleinen chemischen Maschinen auf unseren Feldern“ sollte die Landwirtschaft immer leistungsfähiger
werden, so Baur.150
143
Nachtsheim 1929a: 550
Kronacher 1916a: VII u. 26 (5ff.); vgl. auch Henseler 1920.
145
Zur allg. Landwirtschaftspolitik, vgl. Wehler 1994: 47-48; zur speziellen Landwirtschaftspolitik, vgl. Kunze 1984: 142-68. Zu Autarkie, vgl. 19.6.1918, Rector der LHB an PML (GStA, I.
HA, 87B, 20059: Bl. 111-116); 21.5.1933, Der Tag, Baur: Deutschlands Nahrungsfreiheit durch
Selbstversorgung (AMPG, Abt. III, Rep. 4B, Nr. 3). Zu Autarkie u. Förderung der wiss. Tierzucht, vgl. Kronacher 1922: 16-17.
146
Vgl. Heim 2002: 146.
147
Nachtsheim 1922d: 636
148
8.12.1917, Illustrierte Landwirtschaftliche Ztg., Baur: Die Organisation der Landw. nach dem
Kriege (AMPG, Abt. III, Rep. 4B, Nr. 5); vgl. 18.10.1929, Baur: Neue Wege der Pflanzenzüchtung, (Rundfunk-)vortrag, Portugal 11/1929 (ebd., Nr. 3). – B. versuchte zudem, durch „physikalische und chemische Reize“ (zum Beispiel Radiumstrahlen) neue Varianten zu erzeugen (vgl.
14.2.1928, DAZ, Baur: KWG u. Landw., in: BA B, alt R 168, 83). Zudem ging es darum, durch
Massenselektion, neue Varianten zu selektieren. Deshalb interessierten die ‚genetischen Ressourcen’ anderer Länder. Eine direkte Linie führt von hier zu den Ausbeutungsprogrammen im
Nationalsozialismus (vgl. Heim 2002: 146).
149
Vgl. 22.2.1933, Hamburger Correspondent, o.N.: Sensation in der Landw. (BA B, alt R 168,
83); 11.11.1929, Schlesische Volks-Ztg., Baur: Wissenschaftliche Überraschungen in der
Landw. (ebd.)
150
18.10.1929, Baur: Neue Wege der Pflanzenzüchtung, (Rundfunk-)vortrag, Portugal 11/1929
(AMPG, Abt. III, Rep. 4B, Nr. 3)
144
55
Genetische Techniken waren Teil der Fantasien zur Industrialisierung und
Technologisierung der Agrarproduktion. In der Wissenschaft musste „in diesem
ganz grossen Maßstabe gewissermaßen fabrikmäßig gearbeitet werden“, um
die „Nationalisierung der Wissenschaft“, das heißt die Symbiose von Wissenschaft, Technologie, Industrialisierung und Nationalökonomie, zu erreichen.151
In der Zeitungsberichtserstattung, in der Baurs Institut eine Präsenz neuen Ausmaßes erreichte,152 erschien es wie der Kulminationspunkt einer technologischen Agrarwende. Komplementär zum Einsatzplan für die Wissenschaft forderte diese ihre disziplinären Interessen ein: Ausbau der Lehre der Vererbungswissenschaft und der genetischen Forschung (finanziell „absolute Bewegungsfreiheit“, staatliche Institute für Züchtungskunde) und – als neuartiges Interesse
einer Wissenschaftsindustrie – den Patentschutz für Sortenneuzüchtungen.153
Die Tierzucht hinkte hinter diesen Entwicklungen in der Pflanzenzüchtung
hinterher. Als die Kaninchen aber Objekt der Pelztierzucht wurden, gerieten sie
ebenfalls in den Sog technisch-ökonomischer Verwertungslogik. „Volkswirtschaft! Nichts ist moderner, als dieses Wort, das nicht von jedem verstanden
wird.“154 In der Kleintierzucht, der Domäne des ‚kleinen Mannes’, schwelte die
Spannung zwischen allgemeinen und partikularen Interessen. Seit Ende des
19. Jahrhunderts war mit zunehmender Begeisterung in Hinterhofverschlägen
und Gärtchen der Laubenkolonien „Sportzucht“ betrieben worden: Die rechte
Einförmigkeit des gemeinen Hauskaninchens wandelte sich durch die Kreuzungslust der Hobbyisten zu einer selbstgenügsamen bunten Vielfalt von Rassen und Schlägen. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs wurde staatlicherseits
allerdings die Kleintierzucht und ihr Potenzial für die Volksernährung entdeckt
und mit ihrer gezielten Propagierung begonnen.155 Schon bald nach Beginn des
Kriegs wurde die Förderung angesichts der sich abzeichnenden Fleischknapp-
151
5.11.1928, Baur an RMEuL (BA B, alt R 168, 14) bzw. 15.3.1929, DAZ: Nationalisierung der
Wissenschaft (AMPG, Abt. III, Rep. 4B, Nr. 3)
152
Baurs offensive Pressepolitik, die inhaltlich und in der Form Werbekampagnen ähnelte,
irritierte Kollegen in der Pflanzenzucht, die „die Müncheberger Züchtungsreklame“ für unzeitgemäß hielten u. über die „unkollegial“ die Ergebnisse anderer Institute dabei verwertete. Baur
wiederum schob die Verantwortung auf die Presse (vgl. 9.11.1932, Börner, BRA, Zweigstelle
Naumburg/Saale, an BRA, Berlin; 22.2.1933, Zillig, BRA, Zweigstelle Berncastel-Cues, an BRA,
Berlin, in: BA B, alt R 168, 127; 25.10.1932, Müller: Bericht zu einer Sitzung im Ausschuß der
Saatzuchtabteilung der D.L.G., in: ebd., 83).
153
Zu Forschung, vgl. 1.4.1927, Illustrierte Landwirtschaftliche Ztg., o.N.: Pflanzenzüchtung und
Tierzüchtung im preußischen und im Reichsetat, Zu den Ausführungen von Baur vor der Gesellschaft zur Förderung deutscher Pflanzenzucht (AMPG, Abt. III, Rep. 4B, Nr. 3); zu Patenten,
vgl. 8.12.1917, Illustrierte Landw. Ztg., Baur: Die Organisation der Landw. nach dem Kriege
(ebd., Nr. 5); Baur 1930c; Baur 1932c: 29-30; Harwood 2002: 27. – Die Organisation des Instituts – keine „wissenschaftlich-unproduktiven Spielereien” – beschrieb Baur wie eine Firmenstruktur: „Es gibt nur einen Chef. Wir sind keine Behörde. Langjährige Mitarbeiter sind vertraglich an den Reingewinn beteiligt. Die erzielten Züchtungsergebnisse werden in Form von
Lizenzen an die Zuchtgüter ausgewertet, [...]“ (11.11.1929, Schlesische Volks-Ztg., Baur: Wiss.
Überraschungen in der Landw., in: BA B, alt R 168, 83). – Die Angleichung der wiss. ‚Produktion’ an ökonomische Strukturen zeigt sich in einem Vorfall von ‚Industriespionage’ zwischen
den konkurrierenden KWI für Züchtungsforschung und der BRA, in dem es um den Vorwurf des
Diebstahls von Pflanzenmaterial ging (vgl. Sache Prof. Müller gegen Baur wegen
„Werksspionage”, in: BA B, alt R 168, 175).
154
Vgl. Wischer 1927: 394
155
Vgl. Reis 1910: 463.
56
heit ausgebaut.156 Zunächst ging es um die Förderung der Subsistenz. Im fortgeschrittenen Kriegsverlauf und mit Einführung der Kriegs-(Aktien-)Gesellschaft
als staatliche Treuhänderin für das Ressourcenmanagement wurden die Felle
für den Heeresbedarf eingezogen. Ende 1918 konnten über den Bedarf hinaus
1,5 Millionen Felle zugunsten der Staatskasse versteigert werden.157 Die Entdeckung des Kaninchens als Pelztier und die Neuzucht des Angorakaninchens
zur gleichen Zeit lösten eine Welle der Kaninchenbegeisterung aus. Nach dem
Krieg sollte dieser Aufschwung fruchtbar gemacht werden, und das Preußische
Ministerium für Landwirtschaft, Provinzialverbände und Landwirtschaftskammern nahmen sich ab 1920 der Kaninchenzucht an.158
Etwa zeitgleich wurde der deutsche Markt durch kanadische Pelzprodukte
aus Zuchtfarmen erobert. In Reaktion darauf wurden Forderungen nach Autarkie in diesem lukrativen Wirtschaftsbereich laut. In der Pelztierzucht machte
sich Goldgräberstimmung breit. Gegen Ende der zwanziger Jahre formierte sich
eine „Pelztierzucht-Bewegung“ mit spekulativen Zügen.159 Je mehr der erwartete Boom aber ausblieb, desto mehr drängten Züchter und pelzverarbeitende Industrie darauf, durch Zölle und veterinärmedizinische Maßnahmen den heimischen Markt zu entlasten.160 „Deutscher Pelz rettet die deutsche Wirtschaft!“,
hieß es.161 Die Wissenschaft wurde zunehmend gutachterlich und beratend in
Lobbyarbeit und in den administrativen Ordnungsprozess einbezogen.162
Innerhalb der Pelztierzucht eroberte sich die Kaninchenzucht eine Spitzenstellung, was den Fellumsatz betraf. 1924 machte der Kaninchenfellhandel mit
2 Millionen Fellen 42 Prozent des Fellumsatzes aus.163 Zugleich bildete die
Kaninchenpelzproduktion in ihrer Struktur eine Ausnahme, da sie sich nicht auf
die Züchtung und Haltung von Tieren in eigenen Betrieben („Pelztierfarmen“)
stützte, sondern auf ca. 300.000 Kaninchenhalter oder Feierabendzüchter.164
Letztere organisierten in den sprichwörtlichen Kaninchenzuchtvereinen die
Muße mit den „lieben Tierchen” als allabendliche Entspannungsübung und
bezeichneten sich als „Idealisten”, die in jahrelanger Zuchtanstrengung hohe
ästhetische Ziele verfolgten. Viele züchteten aber nur auf Größe, um viel
Fleisch und Fell zu erhalten, und die Angorazüchter wiederum waren auf den
156
Vgl. 15.11.1914, Frh. v. Schorlemer an Landwirtschaftskammern (GStA, I. HA, Rep. 87B,
22135: Bl. 10)
157
Vgl. DKa, 24, 20.8.1918: 722.
158
Vgl. Wischer 1933.
159
Vgl. Schöps & Tänzer 1927: 1-3
160
1934 wurden im Deutschen Reich über 2.000 Pelztierzucht-Betreibe gezählt, doppelt so viel
wie 1931 (vgl. Wolff 1934: 98).
161
Mitte der zwanziger Jahre waren in Leipzig, dem Zentrum der Pelzverarbeitung, 50.000 Menschen in der Fellverwertungsindustrie beschäftigt (vgl. Gerriets 1926).
162
Indikator ist hierfür die Gründung verschiedener Zeitschriften: 1925, Deutsche Pelztierzucht;
1926, Der Deutsche Pelztierzüchter; 1928, Z. für Pelztier- und Rauchwarenkunde; 1930, Landwirtschaftliche Pelztierzucht. – 1930 fand in Leipzig die Intern. Pelzfachausstellung (IPA) statt,
auf der Vertreter der Wissenschaft sprachen, um die „notwendige Verbindung zwischen wissenschaftlicher Forschung und praktischer Züchterarbeit“ voran zu bringen (vgl. BA B, R 86, 1468,
Bd. 2).
163
Vgl. Nachtsheim 1928d: 45. – Dies entsprach einem intern. Trend, denn drei viertel des
Weltbedarfs an Tierfellen wurde durch Kaninchenfelle gedeckt (vgl. Tänzer 1926a: 3; Meek
1927: 10-16).
164
Vgl. Wischer 1927: 394.
57
Verkauf der Wolle aus. Außerhalb der Vereine gab es ungezählte „Kaninchenhalter” – wie sie die Vereinsmeier abschätzig bezeichneten. Abertausende Kaninchen warteten stumpfsinnig und von Kindern malträtiert in unansehnlichen
Verschlägen in Scheunen, im Hinterhof und beim Laubenpieper im Gärtchen,
mit Essensresten gepäppelt, auf ihre Schlachtung.
Die Geister schieden sich an der Parole: „Kaninchenfleisch muß Volksnahrung werden!” Im Krieg war der Kaninchenbraten eine nationale Aufgabe; in der
Republik wurde er zur Sache der Arbeiter, während das Pelzkaninchen als nationalökonomische Aufgabe in Erscheinung trat: Volksernährung vs. Industrieproduktion. Der Beauftragte des Instituts für Vererbungsforschung für Pelztierzucht, Hans Nachtsheim, stellte seine Expertise in den Dienst der industriellen
Pelzveredelung. „Läßt sich nicht vielleicht das lebenden Kaninchen veredeln?”,
fragte er rhetorisch, denn eine „Antwort auf diese Frage kann nur der Vererbungsforscher geben, und sie setzt stets eine genaue Analyse der erblichen
Grundlage für die Charaktere des Kaninchenfells voraus”.165
Die Genetik versprach ein Mehr an Effizienz – durch den Einsatz ihrer Techniken; doch dies setzte eine neue Ordnung der Kaninchenfelle voraus. Statt des
Sichtbaren sollte der verborgene Erbfaktor der neue Regulator der Zucht- und
Auslesepraxis werden. „Die Betrachtung der Kaninchenrassen nach genetischen Gesichtspunkten ermöglicht es uns, Ordnung in das bunte Durcheinander der vielen Farben und Zeichnungen zu bringen.”166 Die genetische Kenntnis
der 20 Faktoren für Farb- und Felleigenschaften, die die Züchter – unbewusst –
festgehalten hatten, war die Voraussetzung für kontrollierte Manipulation. „Da
wir die genetische Konstitution der meisten Kaninchenrassen, soweit Haarmerkmale in Frage kommen, heute kennen, haben wir die Rassenbildung nunmehr
in der Hand. Wir können sagen, was an neuen Typen sich noch schaffen läßt,
und wie der Weg ist, um diese neuen Typen zu gewinnen.”167
Die Forschung Nachtsheims situierte sich im Merkmalsraum der „Wirtschaftsrassen”. Sie zergliederte den alten, ästhetisierenden Merkmalsraum der Züchter, ordnete ihn genetisch um und fügte neue Dimensionen hinzu. Die Varianten
der Dimension ‚Farbe’ wurden zunächst in die Begrifflichkeit der Mendelgenetik
übersetzt. Die Farbvarianten stellten sich als Genvarianten dar, die gekoppelt
sein konnten, in einem bestimmten Verhältnis der Epistase zu einander standen
oder die als Allelenserie in Reihen der Dominanz und Rezessivität geordnet
werden konnten.168 Die genetische Analyse wirkte auf die phänomenologische
Seite zurück, indem die Farbverteilung beispielsweise, die zuvor Teil des Aspekts Farbe war, nun als Wirkung eines „Verteilungsfaktors” der Wahrnehmung
hinzugefügt wurde. Die züchterische Systematik und die dazugehörige Wahrnehmungsordnung wurden umgeworfen. Kaninchen, die vormals als sehr ähnlich galten, da ihr Felle gleiche Farbtöne besaßen, wurden durch die Genanalyse getrennt, andere, die der Erscheinung nach nichts gemein hatten, standen
165
Nachtsheim 1928c: 265
Nachtsheim 1929d: 106
167
Nachtsheim 1929d: 106
168
Vgl. die zusammenfassenden Artikel: Nachtsheim 1929d; Nachtsheim 1934g.
166
58
der genotypischen Konstitution nach eng beieinander. Es wurde ein genetisches System der Ähnlichkeit und Klassifikation installiert.169
1.2.3 Vom Wissenschaftler zum Experten: ‚High Noon’ im Diskurs um den
‚König’ der Kaninchen
Der revolutionierende Anspruch der Genetik traf auf die erwähnten Widerstände. Darüber hinaus war die Vermittlung dieses Anspruchs – und also des nationalökonomischen Ziels – an die Implementierung der Wissenschaft als letzte
epistemologische Instanz gebunden. Die Definitionsmacht der wissenschaftlichen Methode musste als ihre selbstverständliche Kompetenz begründet werden. Der Wissenschaftler musste im Interdiskurs einen klaren Trennstrich zwischen sich und dem Traditionswissen der Laien ziehen. Dies gelang dadurch,
dass der Wissenschaftler sich als „Experte“ inszenierte. Die Modernisierung als
Verwissenschaftlichung immer neuer gesellschaftlicher Bereiche, Produktionsverhältnisse und Herrschaftsstrukturen brachte den Wissenschaftler als Experten hervor, dessen Spezialwissen nachgefragt werden kann, der aber selbst
auch aktiv gesellschaftlich relevante Problemfelder mitdefiniert.170
Der Wissenschaftler wirkte also aktiv an der Installierung der Wissenschaft
als scheinbar extragesellschaftliche Sphäre ‚eigenen Rechts’, das heißt mit dem
exklusiven Zugang zu ‚Wahrheit’, mit. Der Gestus des Experten und die Subjektbildung als Experte verbanden sich leicht mit der Techniknähe der mendelschen Genetik und den technophilen Genetikern.171 Im Übergang vom Traditions- zum Expertenwissen und der Konfrontation Nachtsheims mit der Hartnäckigkeit der Kaninchenzüchter wird dieser Zusammenhang transparent.
Der Züchter, der in vorbildlicher Weise die Ergebnisse der Wissenschaft referierte und empfehlenswürdig für den Wissenschaftler wurde, war eine Ausnahme.172 Anderen wurde erst in der Konfrontation mit der wissenschaftlichen Institution die performative Bedeutung ihrer Tätigkeit spontan gegenwärtig. Ein
schlesischer Züchter, der sich im Besuch der Dahlemer „Versuchsanstalt“ einen
„jahrelang gehegten Wunsch“ erfüllte, übersetzte sofort die Botschaft des performativen Gemisches aus Architektur, Habitus und Unverständlichkeit in den
Geltungsanspruch der Wissenschaft: „Die Leser dieser Zeilen haben keine
Ahnung, was dort vorbereitet wird zur Hebung deutscher Kulturwerte. [...] Man
steht dort vor solcher Forscherarbeit mit Staunen, und lachen möchte man über
die kostbare Zeit, die draußen vergeudet wird. Lerne man dort!“173 Jener schlesische Züchter war auch deshalb begeistert, da er als erster deutscher Züchter
ein Exemplar einer neuen Kaninchenrasse sehen konnte, die bereits im Hörensagen Furore machte. Ihm war nun klar geworden, dass dieses Kaninchen „in
die Hände der Wissenschaftler, wie Herr Professor Dr. Nachtsheim einer ist“
gehörte.174
169
Eine ganz parallele – revolutionierenden – Wirkung entfaltete die Genetik, in der Anwendung
auf die Ordnung von Krankheiten in der Humanmedizin (siehe 2.2.3).
170
Vgl. Stehr 1994: 391; Szöllösi-Janze 2000: 47-48.
171
Vgl. auch Harwood 1993: 306; Harwood 2000b: 26-27.
172
Vgl. Wischer 1926: 18 bzw. Nachtsheim 1930b.
173
Zimmermann 1925: 285
174
Zimmermann 1925: 285
59
Neben diesem Reisebericht präsentierte die Schriftleitung des Kaninchenzüchters mit sensationellem Unterton ein erstes Foto des „Rexkaninchens“, das
Nachtsheim mit Unterstützung des Preußischen Landwirtschaftsministeriums
teuer aus Frankreich importiert hatte.175 Was hatte es mit dem Rexkaninchen
auf sich?
Im Frühjahr 1925 berichtete ein Prof. E. Kohler aus dem Elsaß über ein „Zufallsprodukt“ der Natur, ein Kaninchen, dessen Fell eine nie gekannte Weichheit
erreichte, und eine Kaninhandelsgesellschaft bestätigte, dass das Rexkaninchen „das Pelzkaninchen der Zukunft“ sei.176 Kaninchenfelle mussten in der Regel vor ihrer Verwertung industriell veredelt werden. So erklärte sich die entfachte Aufregung unter den Kaninchenzüchtern mit der Annahme, das Fell des
Rexkaninchens sei naturbelassen schon so gut wie das eines Edelpelztiers. In
die Euphorie – „das größte Wunder aller Züchtungen, der erfüllte Wunsch der
Fellverwertungsindustrie, die Goldgrube der Kaninchenzüchter, der Mörder von
einigen dreißig Artgenossen!“ – mischte sich nur vereinzelt Skepsis.177 Hohe
Anschaffungskosten von über 300 RM hinderten immer seltener Züchter, sich
der Rexkaninchenzucht zu verschreiben und sich in speziellen Klubs zu organisieren, um das französische Zufallsprodukt, das leider auch rachitisch und degeneriert sei, und gewisse Makel der Fellbeschaffenheit durch „deutschen
Züchterfleiß“ zu verbessern.178
Anfang 1927 erschienen allerdings widersprüchliche Einschätzungen darüber, ob das Rexfell als „Naturfell“ taugte und für eine maschinelle Verbesserung
überhaupt geeignet war; Kürschner und Fellverarbeiter zeigten sich plötzlich
skeptisch über das zu erwartende Kosten-Nutzen-Verhältnis.179 Es entspann
sich nun eine verwirrende und widersprüchliche Debatte im Kaninchenzüchter
über den Wert des Rexkaninchenfells – verwirrend, da immer deutlicher wurde,
dass sich die Beurteilungskriterien der einzelnen Kombattanten unterschieden,
dass sie verschiedene Beurteilungstechniken anwendeten und dass es letztlich
nicht das Rexkaninchen gab. Das Signifikat der Urteile war in einer Vielheit aufgelöst. Im Verlauf der Konfrontation des Züchterwissens mit der wissenschaftlichen Autorität wurde die unklare Signifikation wieder vereindeutigt. Dabei verschob sich in der Kette der Signifikanten der beurteilende Blick auf die Kaninchenfelle zum Pathologischen hin. Diese Verschiebung soll Thema des 2. Kapitels sein; hier wird nun zunächst der Wirkung Nachtsheims Intervention auf den
Züchtdiskurs nachgegangen.
Nach Rückkehr aus Amerika meldete sich Nachtsheim 1928 mit dem eindeutigen Hinweis zurück, auf die Fragen zum Rexkaninchenfell könne „nur der Vererbungsforscher“ eine Antwort geben.180 Sein Schüler Oskar Thiel hatte während Nachtsheims Abwesenheit die genetische Analyse weitergeführt und
mikroskopische Haarstudien zum Rexkaninchenfell angefertigt. Diese Untersuchungen enthüllten nach Nachtsheim, dass das Rexkaninchen ein „Blender“
175
Vgl. Nachtsheim 1928d: 46.
Vgl. Kohler 1925 bzw. Kanin-Handelsgesellschaft Maerz 1925.
177
Dittes 1925 bzw. vgl. Königs 1926: 414.
178
Kleinhaus & Orphel 1927: 95; vgl. Schaaf 1927, (1. Badische Castorrex-Zuchtstation).
179
Vgl. der Kürschner und PelznählehrerKolley 1927b; Fa. Berger & Friedrich 1927c, Leipzig.
180
Nachtsheim 1928c: 267
176
60
sei, dass die Wirkung des Fells aus der allgemeinen Verkümmerung der Haare
resultiere.181 Dieses Verdikt musste die Rexzüchter herausfordern, und prompt
wurde in Frage gestellt, dass das Institut für Vererbungsforschung ein wirkliches
Rexkaninchen besitze und ein echtes „Zuchtinstitut“ sei. Solches konnte wiederum Nachtsheim nicht auf sich sitzen lassen. Er hielt dem „dreisten“ Vorsitzenden des Berliner Rex-Züchterklubs, Mette, entgegen, dass dieser nicht mit
„neuzeitlicher Züchtungsbiologie“ vertraut sei, dass er, Nachtsheim, als „strenger Wissenschaftler“ nur strenge Urteile fälle und dass, wenn es so etwas überhaupt schon gäbe, nur das Dahlemer Institut ein richtiges „Zuchtinstitut“ sei.182
Die Konfrontation war damit auf eine generelle Ebene zwischen Wissenschaft und Züchtern gehoben. Bezweifelten die Züchter nun nicht die Andersartigkeit der Tätigkeit der Wissenschaftler, so stellten sie aber die epistemologische Vorgängigkeit der Wissenschaft in Frage. Der Experimentallogik des
Labors wurde ein weltferner Gegenstandsbezug vorgeworfen. Die „praktischen
Erfahrungen“ hätten, so die Züchter, noch immer die Wissenschaft korrigiert;
Nachtsheims Urteil begründe sich in theoretischen Ableitungen und zeichne
sich durch „Vorläufigkeit“ aus.183 Dieser Verweis auf die Maßgeblichkeit der
Praxis zog nicht zuletzt seine Autorität aus dem Verständnis der Praxis als
künstlerische Tätigkeit, was hier nichts anderes meinte als die lokalen und sich
einer eindeutigen Protokollierung entziehenden Züchtungspraktiken. Nachtsheim wurde entgegnet, seine Tiere bekämen zu viel Flüssigkeit, die Rexkaninchen bedürften hingegen wegen ihrer Konstitution einer „besonderen Behandlung“, man sollte „gutes Körnerfutter“ wählen, Vitamine, ölhaltige Stoffe und
Vitakalk verwenden usw..184 Schließlich wurde die wissenschaftliche Zuchtpraxis auch als Ausdruck bestimmter Interessen gedeutet und Nachtsheims Verbindung zur Fellveredelungsindustrie kritisiert.185 Wenn Nachtsheim darauf die
Vorstellungen des „Herrn Mette“ zur züchterischen Verbesserung des Rexkaninchenfells als „Wahnvorstellungen“ bezeichnete, so war das dies in den Augen der Züchter die Ignoranz der strikten Logik der mendelschen Vererbungstheorie, nach der nur das erblich war, was im Rahmen des mendelschen Experimentalsystems beschrieben werden konnte.
In gleicher Weise entstand ein Gegensatz zwischen der zählenden und messenden Haarqualitätsbestimmung im Labor und der Bastelei im Hinterhof. Von
Seite der Züchter wurde der Wert der Mikroskopieergebnisse von Thiel in Frage
gestellt, da die Haltbarkeit eines Fells sich nur in der Praxis erweisen könne,
während Nachtsheim ablehnte, den Belastungsversuch der Berliner Rexzüchter
mit einem Treibriemen nachzuvollziehen, da er „wissenschaftlich nicht einwandfrei“ nachprüfbar sei.186
181
Nachtsheim 1928c: 266; vgl. Nachtsheim 1928d; Thiel 1928a; Thiel 1928b.
Nachtsheim 1928i
183
Burkhardt 1928b: 379, vgl. Württembergischer Castorrex-Züchterklub; Will 1928: 394; vgl.
auch Lutz 1928, Amtsgerichtsrat; Bendeler 1928, Mitglied des Castorrex-Züchter-Klubs, Berlin;
Franke & M. 1928, Vors. des Verbandes der Kurzhaarkaninchenzüchter Deutschlands.
184
Sommermeyer 1928: 411
185
Vgl. Burkhardt 1928b.
186
Franke & M. 1928; vgl. Maucher 1928 bzw. Nachtsheim 1929e: 326. Der exakten Bestimmung der Wertigkeit von Wolle und Haar wurde bereits in der Tierzucht einige Aufmerksamkeit
geschenkt (vgl. Tänzer 1926b).
182
61
Nachtsheim nahm eine Haltung ein, die den Züchtern jede Legitimität absprach. Er entzog sich in den geschlossenen Bereich des vererbungswissenschaftlichen Stils, der wissenschaftlichen Regulierung von Praktiken und der ihr
eigenen Dynamik der Konzeptentwicklung.187 Er partizipierte dabei rhetorisch
vom gestiegenen gesellschaftlichen Stellenwert der Wissenschaft. Zunächst
versuchte er den Züchter Mette zu desavouieren, indem er ihm vorwarf, mit
einem Doktortitel hochzustapeln; dann stellte er klar, dass es sich nicht „um
einen Gegensatz zwischen Wissenschaft und Praxis“ handele, sondern um
einen zwischen „objektiver Beurteilung der Sachlage“ und Privatinteressen; die
Vorwürfe träfen ihn nicht. „[M]eine wissenschaftlichen Feststellungen habe ich
nur gegenüber der Wissenschaft zu verteidigen“.188 Nachtsheim brach damit die
Diskussion ab und verwies auf künftige Veröffentlichungen in Fachblättern.189
Expertenwissen ist durch Exklusivität gekennzeichnet. Die strukturelle Rückbindung von gesellschaftlichen Verhältnissen an das Spezialwissen der Wissenschaft entfaltet nur seine Mächtigkeit, wenn die Wissenschaft als ein Monopol, das heißt, als eine Sphäre epistemologischer Vorgängigkeit auftritt. Nachtsheim trat im Kaninchenzüchter erst wieder in Erscheinung, als zwei Jahre später die Frage nach der Identität der Rexkaninchen geklärt schien.190 Die opponierenden Züchter bemühten sich nun, ihre Haltung gegenüber der Wissenschaft zu korrigieren und die Expertenrolle der Wissenschaft anzuerkennen.
Vom Eigenrecht des Erfahrungswissens war nicht mehr die Rede. Herr Mette,
ehemals Wortführer der Widerständigen, der für seine Zuchterfolge am Rexkaninchen nun mit grünem Licht Dahlems zum nationalen Erfolgszüchter und Vorsitzenden eines Reichsverbandes Deutscher Rex-Kaninchenzüchter befördert
werden konnte, kannte plötzlich nur noch die Unterscheidung zwischen Wissenschaft und „Laien“. Unter diesen gäbe es aber auch „reichlich ernsthafte Männer“, die sich „nebenberuflich auf wissenschaftlicher Grundlage“ mit Forschung
befassten, so der Züchter, um hinfort die Leistungen des „verdienten Gelehrten“
und der Wissenschaft insgesamt zu preisen und für eine „mehr wissenschaftlich“ betriebene Zucht zu streiten.191
Die Ereignisse zeigten den Züchtern, dass die „wissenschaftlich betriebene
Zucht eben doch den Sieg davongetragen hat“.192 Ein „Akademiker“ bekräftigte,
dass nur die internationale Wissenschaft über Forschungsergebnisse urteilen
könne, schon die „Moral und die Mentalität der deutschen Wissenschaft“ verpflichte sie „aufrichtig und rückhaltlos“ auf die Wahrheit; der „hochverehrte Herr
Professor“ wurde gebeten, den „richtigen Weg zur Züchtung“ zu weisen, oder
es wurde eingestanden, dass den Züchtern eben die theoretischen Kenntnisse
187
Zum Beispiel hielt er sein fehlerhaftes Verständnis der wiss. Vererbungskonzepte vor (vgl.
Nachtsheim 1929e: 326).
188
Nachtsheim 1928g bzw. vgl. Nachtsheim 1928a.
189
Vgl. Nachtsheim 1929f: 54; Veröffentlichung: Nachtsheim 1929c in ZIAV; Nachtsheim 1931c
auf dem wiss. Forum des Pelzzucht-Kongresses; Nachtsheim 1932c in Forschungen und
Fortschritte.
190
Zu den näheren Umständen, siehe Seite 59 u. Kapitel 2.1.3.
191
Mette 1929a; vgl. Mette 1929c: 735 bzw. Mette 1929b, Herv. Verf.; vgl. auch Mette 1930b:
Widmung: „Der Züchter – dem Forscher. Dem [...] Gelehrten [...] gewidmet“.
192
Mette 1930a: 283; vgl. Tänzer 1931: 353.
62
fehlten, ohne welche überhaupt keine praktische Zucht möglich sei.193 Sieg hieß
auch, dass das Mikroskop über den Treibriemen, die Experimentalpraxis einer
sozial definierten Sphäre der Wissenschaft über die Bastelei der ‚Künstler der
Praxis’ gesiegt hatte.194 In neuerer historiographischer Betrachtung erscheint
die experimentelle Wissenschaft als eine Tätigkeit, deren Eigentümlichkeit
nicht-geplante, spontane, zufällige und nur schwer rational rekonstruierbare
Momente umfasst.195 Die Trennung der Praxen von Genetik und Kaninchenzüchtern stellt sich insofern als die Konsequenz der diskursiven und strukturellen Trennung zweier Rationalitätssphären – der gesellschaftlichen und der wissenschaftlichen Rationalität – dar. Die Ereignisse wirkten wie ein läuterndes
Exempel, das die Verwissenschaftlichung und Mendelisierung der Kaninchenzucht erzwang. Die Wissenschaft hatte sich als der mächtigere Diskursteilnehmer erwiesen.
1.2.4 Vom Experten zum Mediator
Welchem Zweck aber diente die Expertise des frisch gekürten Experten? Es
war nicht ganz zufällig, dass manche Züchter Nachtsheim Kungelei mit der Industrie vorwarfen. Nachtsheim setzte sich unter einigem Aufwand für die Belange der Pelztierwirtschaft ein und orientierte sich streng an der Einpassung der
Zucht an den pelzwirtschaftlichen Betrieb. Nachtsheim ging noch einen Schritt
weiter als Baur, der den Bereich der Forschung nicht eigentlich verließ. Er bespielte eine weitere Möglichkeit des ‚modernen’ Wissenschaftlers. Seine Wissenschaft war nicht nur einem technischen und instrumentellen Erkenntnisinteresse verschrieben, er agierte nicht nur in die Gesellschaft hinein mit dem Ziel,
die technische Macht der Wissenschaft auch als einzig legitimen Wahrheitsdiskurs abzusichern, sondern vermittelte selbst die Herstellung von Macht aus
dem wissenschaftlichen Wissen. Der Begriff des Mediators hebt darauf ab, dass
es einer Vermittlung der Partialrationalitäten gesellschaftlicher Teilsysteme bedarf.196 In diesem Sinne trat der wissenschaftliche Experte als Mediator der nationalökonomischen Interessen Deutschlands auf. Sein Agitationsspektrum erstreckte sich von der Mendelisierung des wissenschaftlichen Diskurses über die
Verwissenschaftlichung des Züchterdiskurses, der Zentralisierung seiner Definitionsmacht, der Standardisierung der Zuchtpraktiken bis hin zur Effektivierung
der Zucht als Ganzes und Ökonomisierung der Kaninchenzucht als ein landwirtschaftliches Teilssystem der Nationalökonomie.
Im Preußischen Landwirtschaftsministerium war Anfang der zwanziger Jahre
bekräftigt worden, dass die Kleintierzucht als Pelztierzucht im staatlichen Interesse lag. Dies entsprach der Tradition sozialökonomischer Ordnungspolitik im
193
Kunze 1929: 168; vgl. Burkhardt 1928a; Stutzer 1929: 326 bzw. Weller 1929.
Vgl. Mette 1929b. – Unter der Präsentation von mikroskopischen Bildern forderte Mette die
Züchter auf, die von Nachtsheim beschriebenen Untersuchungsmethoden zu beachten (vgl.
Mette 1930a: 283; Mette 1931). Die mikroskopischen Untersuchungen wurden von nun an
allgemein als Maßstab der Haarbewertung verwendet (vgl. zum Beispiel Schröder 1930).
195
Vgl. zum Beispiel Rheinberger 1997: 32.
196
Vgl. Szöllösi-Janze 2000: 49.
194
63
Deutschen Reich.197 Die staatsinterventionistischen Strukturen wurden im Umbruch zur Weimarer Republik nicht abgeschafft, sondern an die Bedürfnisse
eines modernen Industriestaats angepasst.198 Das Ziel, die Pelztierzucht und
speziell die Kaninchenzucht in die Autarkiepolitik Deutschlands einzugliedern,199 war aber eine Herausforderung, da es die Verpflichtung auf dieses
Interesse, gemeinsame Zuchtziele und eine gemeinsame Praxis erforderte.
Dies musste umso schwieriger sein, in je mehr Hände die Produktion von Pelztieren verteilt war.
Der Übergang zu einer industriellen Pelzwirtschaft bedurfte also der intensiven staatlichen wie wissenschaftlichen Vermittlungstätigkeit. Während auf
Reichsebene noch unschlüssig beraten wurde, begann das preußische Landwirtschaftsministerium mit koordinierenden Aktivitäten zur Förderung der Pelztierzucht.200 Der massive Unmut in den Kaninchenzüchterkreisen über die Vermarktungspraxis der Kriegs-Fell-Aktiengesellschaft sollte durch die Gründung
von Fellverwertungsgenossenschaften produktiv umgelenkt werden.201 Die zunächst gut angelaufene Zusammenarbeit zwischen Wirtschaftsadministration
und Kaninchenzüchtern zerbrach aber, als das Ministerium Bewertungsstandards zur Bedingung von Staatspreisen bei Ausstellungen machte. Der Bund
Deutscher Kaninchenzüchter (BDK) ging in Konfrontation und provozierte damit
die Spaltung der Landesverbände.202
Die Vereinsposse, die das Pathetische und knochig Persönliche prägte, erklärt sich aus dem Gegensatz zwischen wirtschaftsadministrativen Interessen
und dem politischen Bewusstsein eines Teils der Züchter. Auf der einen Seite
wurde eine genossenschaftliche Selbstverwaltung gefordert – Direktveräußerung nach dem Vorbild von Konsumvereinen, Preisgestaltung ohne Konkurrenz
und Gründung von Genossenschaftsbanken. Auf der anderen Seite verlangte
man die Unterordnung unter die regulativen Vorgaben einer Ministerialkommission.203 Eine zentrale Lenkung der Kaninchenzucht wurde zwar allgemein begrüßt, der Dissens trat in der Frage der Vereinheitlichung der Richtlinien für die
Zucht und die Benotung von Zuchtkaninchen auf Ausstellungen zu Tage. Das
wirtschaftsbürokratische Interesse kollidierte sowohl mit den Bewertungsmaßstäben der „Sportzucht“, die sich nach selbstgesetzten ‚ästhetischen’ Zuchtzie197
Staatsbürokratie und Wirtschaft hatten seit Reichsgründung zu einer engen Zusammenarbeit
zusammengefunden, die durch die faktische Zentralverwaltungswirtschaft im ersten Weltkrieg
noch verstärkt wurde (vgl. Hirsch 1973: 37-38).
198
Vgl. Hirsch 1973: 40. – Zur Einpassung der Genetik am Beispiel Baurs in diese nationalökonomisch verstandene Wirtschaftspolitik: siehe Fußn. 75.
199
Von der Seite des RMI wurde zum Beispiel bemängelt, dass noch 1928 für 28 Mill. RM Kaninchenfelle importiert wurden (vgl. o.D. [1930], Dr. A. Zschiesche [RGA]: Reisebericht über den
Besuch der IPA in Leipzig 13.+14.8.1930, in: BA B, R 86, 1468, Bd. 2).
200
Vgl. o.D., Aktenauszug [zum Schreiben des Reichsministers vom 19.2.1919] (GStA, I. HA,
Rep. 87B, 22137: Bl. 69c-e); Wischer 1933.
201
Vgl. zum Beispiel in DKa, 24, 1918: 513-14, 531 u. 722.
202
Vgl. 11.4.1920, Allgemeinen Kaninchenzeitung: Mitteilungen des BDK (Reichsverband) e.V.,
Nr.18: 173- 75 (GStA, I. HA, Rep. 87B, 22137: Bl. 69c-e); 12.7.1920, Meyer, Hannsen, Fischer
an PML (ebd.: Bl. 276-77); Reis 1921 (Vors. des Landesverbandes Sachsen).
203
Vgl. o.D., Protokoll der Sitzung vom 22.8.1919 zwecks Gründung eines „Verbandes der Fellverwertungsgenossenschaften deutscher Kaninchenzüchter, e.G.m.b.H. Sitz Leipzig” (GStA, I.
HA, Rep. 87B, 22137: Bl. 8-22) bzw. o.D., Niederschrift der Beratungen über Maßnahmen zur
Hebung der Kaninchenzucht im PML zu Berlin am 28.-29.2.1920 (ebd.: Bl. 200).
64
len (zum Beispiel lange Ohren) richtete, als auch mit der Schlachttierzucht, solange diese nicht mit den Qualitätsanforderungen an das Fell vereinbar war.204
Die Einheit der Züchter war in dieser Frage aber zerbrochen und drückte sich in
den Parolen wie: „Kaninchenfleisch: Volksnahrung!“ – „Nutzzucht oder Rassenzucht” – „Sport- vs. Wirtschaftszucht” und „Pelzzucht ist Trumpf!“ aus.
Das Referat für Kleintierzucht im Preußischen Landwirtschaftministerium fädelte eine Initiative zur Gründung einer neuen Reichsvertretung der Kaninchenzüchter ein, die bei den abtrünnigen preußischen Kaninchenzüchtern Unterstützung fand. Ihre Forderung war, „Theorie und Praxis in rechter Mischung miteinander zu vereinen“.205 Hans Nachtsheim wurde 1924 zum Vorsitzenden des
Reichsbundes der Deutschen Kaninchenzüchter (RDK) gewählt.206 Das satzungsgemäße Ziel des Verbands war unter dem Motto: „Arbeit an der Kaninchenzucht – Arbeit am Volke!“ die Herstellung einer reichsweiten Einheit der
Kaninchenzüchter.207 Dies war, erläuterte Nachtsheim, eine Aufgabe von größter volkswirtschaftlicher Bedeutung, da die hiesige, in Entwicklung begriffene
Fellindustrie noch weitgehend auf den Import von Fellen angewiesen sei; die
vaterländische Pflicht der Kaninchenzüchter sei es deshalb, den Bedarf der
Industrie an einheitlichen Rohstoffen decken zu helfen.208
Nachtsheim und der Regierungsrat Dr. Jan Gerriets im Landwirtschaftsministerium bildeten ein enges Paar in der Mediation der volkswirtschaftlichen Interessen. Schon 1922 hatte das Ministerium Kaninchenzuchtversuche am Institut
für Vererbungsforschung angeregt, die nach Gründung des RDK fortgesetzt
und durch einen 13-Punkte-Plan zur Verwissenschaftlichung der Kaninchenzucht erweitert wurden.209 Nachtsheim hatte nun als Verbandsvorsitzender die
Möglichkeit, die mendelsche Bereinigung des Vererbungsdiskurses über eifrige
Windmühlenarbeit in Vorträgen, Besprechungsteilen und Vorlesungen hinaus
auf breiter Front voranzutreiben – zum Beispiel auf der Düsseldorfer Ge-So-Lei
mit Präparaten von „unserer Versuchs-Station in Berlin-Dahlem“. Und auf den
beliebten Wanderausstellungen der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft
kursierten Schautafeln über „die Grundgesetze der Vererbung“, die später in
Zusammenarbeit mit der Bildstelle des Preußischen Landwirtschaftsministeriums zu Unterrichtsfilmen weiterentwickelt wurden.210 Da Nachtsheim mit den
204
Vgl. Wischer 1925d: 393; Wischer 1933.
Burkhardt 1922: 634
206
Vgl. zum Beispiel in DKa, 30, 1924: 356-57 u. 387. – Stellv. Vors. wurde Prof. Valentin
Stang, seit 1923 Direktor des Instituts für Tierzucht der Tierärztlichen Hochschule, Berlin,
O.Reg.Rat u. Referent für Tierzucht im RMEuL.
207
Gerriets 1924: 413-14; vgl. Zeunert 1924: 623.
208
Vgl. Nachtsheim & Zeunert 1924.
209
Müller 1922: 29 bzw. vgl. Gerriets 1924: 413.
210
Vgl. zum Beispiel Nachtsheim 1922f; Nachtsheim 1924b; Nachtsheim 1924a; o.D. [ca. 1928],
Nachtsheim: Vorlesungsmanuskript: „Hereditas“ bzw. o.D. [ca. 1930], „Tierzüchterische Konsequenzen der Vererbungslehre“ (AMPG, Abt. III, Rep. 20A, Nr. 139 bzw. 141) In dieser Vorlesung bespricht N. die in der Tierzucht verbreiteten Vererbungsvorstellungen. Zu „Ge-So-Lei“,
vgl. Thoma 1926: „beherzigende Fingerzeige von der Mendelschen Erblehre“ – ein „vollständiges Verstehen des Gebotenen ist aber für viele noch recht schwer“. – Die „Ge-So-Lei“ (Gesundheit, soziale Fürsorge u. Leibesübungen) war eine 1926 breit angelegte Ausstellung zur
Gesundheitsführung, die neueste Methoden der „health propaganda“ einführte u. 7,5 Mill. Besucher verbuchte (vgl. Weindling 1989: 411+14). – Zu Wanderausstellungen, vgl. Nachtsheim
1931e; zu Bildstreifen, vgl. Nachtsheim 1933e; Nachtsheim 1934c.
205
65
Fachzeitschriften zur landwirtschaftlichen Züchtung unzufrieden war, schuf er
sich 1930 mit der Landwirtschaftliche Pelztierzucht ein eigenes Organ, in dem
auch Wirtschaftsfragen diskutiert wurden.211 Höhepunkt des vererbungswissenschaftlichen Interdiskurses war die Organisation des I. Internationalen Kaninchenzüchter-Kongresses, der 1930 in Verbindung mit der Internationalen Pelzfachausstellung (IPA) in Leipzig, dem Zentrum der deutschen Fellverarbeitung,
stattfand. Das Ausstellungsprogramm wurde durch ein wissenschaftliches
Symposium mit 25 internationalen Vertretern der Züchtungsbiologie begleitet,
das im Schulterschluss mit dem Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft den Ausbau der „Wirtschaftszucht“ erörterte.212 Der Kongress konnte
als Erfolg gelten, denn die Presse hatte verstanden, dass „das Kaninchen das
wertvollste Pelztier“ war, und die Reichsstellen zeigten sich zufrieden mit den
Verdiensten Nachtsheims und der Rolle der Wissenschaft in der Entwicklung
der Kleintierzucht.213
Die mediatisierende Rolle Nachtsheims komplettierte sich aber erst durch die
Einbeziehung der pelzverarbeitenden Industrie. Die Deutsche LandwirtschaftsGesellschaft (D.L.G.) war das ideale Forum. Die D.L.G. war eine aus Züchtern
und Hochschullehrern zusammengesetzte Interessenvertretung der
Landwirtschaft.214 Bereits 1911 hatte sie mit der Ausschreibung des Preisthemas: „Welche Ausnutzung haben bisher die mendelschen Regeln über Verhalten von Bastarden bei Züchtung unserer landwirtschaftlichen Kulturpflanzen
gefunden und welche Ratschläge sind den Züchtern zu erteilen, um [...] möglichst sichere Sorten von besonders hoher Leistungsfähigkeit zu erhalten?“215
szientistischen Spürsinn bewiesen. Nachtsheim war Mitglied der Tierzuchtabteilung der D.L.G. und Vorsitzender des Sonderausschusses für Kaninchenzucht mit beratender Funktion am Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft, in dem Rauchwarenindustrie, Wissenschaft und Züchter zusammengeführt wurden.216 Diesem Gremium kam eine entscheidende Funktion bei der
Fokussierung der Zucht auf bestimmte „Wirtschaftsrassen“ zu. Der Sachverständigenausschuss für Pelztierzucht der Deutschen Reichszentrale für die
Pelztier- und Rauchwarenforschung wirkte ebenfalls als ein vermittelndes Forum.217 Als sein Mitglied nahm Nachtsheim zum Beispiel Einfluss auf die Einfuhrregelungen ausländischer Edelpelztiere, die zwischen Reichsministerium
des Innern, Preußischen Landwirtschaftsministerium und Reichsgesundheitsamt abgestimmt wurden.218 Nachtsheim ließ sich schließlich auch auf die direk211
Vgl. Nachtsheim 1924b; ders.: Zum Geleit, Landwirtschaftliche Pelztierzucht, 1, 1930: 1.
Vgl. Nachtsheim 1930a: 201; vgl. auch Schöps 1930: 217; Nachtsheim 1931a.
213
30.7.1930, Sächsische Staatszeitung [Artikel zu IPA] bzw. vgl. 25.8.1930, 5. Beilage der
Leipziger Neueste Nachrichten, o.N.: Internationaler Kaninchen-Züchter-Kongreß; o.D. [1930],
Dr. A. Zschiesche [RGA]: Reisebericht über den Besuch der IPA in Leipzig 13.-14.8.1930, u.
30.8.1930, G.M. (zu III2266/30): Bericht vom Besuch am 24. u. 25.8. (BA B, R 86, 1468, Bd. 2).
214
Vgl. Harwood 2002: 17.
215
Preisausschreiben der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft, ZIAV, 6, 1911/12: 200
216
Vgl. Schöps 1925; Nachtsheim 1932g: 206.
217
An die durch die sächsische Handelskammer und das sächsische Wirtschaftsministerium gegründete Zentrale waren zahlreiche Wirtschaftsverbände angeschlossen (vgl. Schöps & Tänzer
1927: 29-30).
218
Vgl. Richter 1932: 71-72; o.D., o.N.: Auszug aus Niederschrift über Veterinär-Konferenz in
Oldenburg, 24.-27.7.1931: Punkt 7, Veterinär-polizeiliche Beschränkung der Einfuhr von Edel212
66
te Lobbyarbeit für die Pelztierzüchter ein, indem er Anfang der dreißiger Jahre
den Vorsitz des Reichsverbandes Deutscher Edelpelztier-Züchter übernahm,
um die Reorganisation und Vereinheitlichung des zersplitterten Verbandswesens zu betreiben.219 Das Ziel war, die „Rentabilität der Landwirtschaft“ zu verbessern und „unsere Außenhandelsbilanz zu entlasten“.220
Die Steigerung der Quantität und Qualität der Kaninchenfellproduktion erforderte, das gewöhnliche Kanin den Ansprüchen der Pelzindustrie anzunähern.
Wissenschaft und Praxis mussten dabei an einem Strang ziehen, um die existierenden Kaninchenrassen zielgerecht zu verbessern, die Kennzeichnung der
Kaninchen zu standardisieren, die Zucht durch Standards zu vereinheitlichen
und vor allem auf wenige interessante Rassen zu beschränken.221 Als Vorbild
galt die Geflügelzucht, in der es gelungen war, die Leistungen durch die Konzentration auf wenige Zuchtrassen erheblich zu steigern. 1931 beschloss der
D.L.G.-Ausschuss eine Liste von sieben Kaninchenrassen, die als „Leistungstypen“ oder „Wirtschaftsrassen“ für die Fell-, Wolle- bzw. Fleischerzeugung anerkannt wurden.222 Die Maßnahmen gipfelten in der Einrichtung von „Reichsstammzuchten“, in denen die „Wirtschaftsrassen“ professionell verbessert und
standardisiert werden sollten, damit die „Leistungszüchter“ sie dann nur noch zu
vermehren brauchten.223
An diesem Punkt spitzte sich der Konflikt innerhalb der Züchtergemeinschaft
erneut zu.224 Für die ‚Volkswirtschaftler’ unter den Züchtern waren die Begriffe
„Leistungszucht“ und „Nutzzucht“ synonym. „Der Wert eines Tieres ist abhängig
von seiner Leistung für die Wirtschaft.“225 Die Sportzüchter aber, die Anfang der
dreißiger Jahre noch über 90 Prozent der Züchter stellten und vor allem auch
die Preisrichter waren ihre hartnäckigsten Gegner. Ihnen könne zwar, so
Nachtsheim, ein „hoch entwickeltes“ Zuchtkönnen attestiert werden, doch, da
sie nicht auf „Höchstleistung“ für die deutsche Wirtschaft hinzielten, sei der tat-
pelztieren; o.D., Nachtsheim an PML, 3 Bl. [Anm. mit Tinte: anläßlich der Kommissionssitzung
im RMI am 21.5.1931 als Verhandlungsunterlage erhalten]; 11.10.1931, Nachtsheim an PML;
26.10.1931, PML: Viehseuchenpolizeilichen Anordnung, betreffend die Ein- und Durchfuhr von
Edelpelztieren [entsprechend Nachtsheims Entwurf] (BA B, R 86, 1468, Bd. 3).
219
Vgl. zum Beispiel 29.1.1931, Reichsverband Deutscher Edelpelztier-Züchter, e.V., Sitz
Berlin, Nachtsheim, an Dr. Freyer, D.L.G., Abschrift (BA B, R 86, 1468, Bd. 3); zur Schaffung
eines Einheitsverbandes, vgl. Nachtsheim 1931i: 568-69; zur Organisation des Rohfellmarktes,
vgl. Nachtsheim & Redlich 1932.
220
Nachtsheim & Redlich 1932: 178
221
Hinzu kam eine konsequente und einheitliche Zuchtbuchführung, die nicht zuletzt die Grundlage für wissenschaftliche Arbeit war (vgl. Nachtsheim & Zeunert 1924). – Einheitliche Vorschriften für die Fellbewertung traten 1927 in Kraft, eine einheitliche Reichskennzeichnung und
Zuchtbuchführung schon 1925 (vgl. Nachtsheim 1931h: 838).
222
Vgl. Nachtsheim 1931h: 838.
223
Vgl. Nachtsheim 1932a: 496. – Strukturell wurden die Wirtschaftsstandards in einem geregelten Absatzmarkt für die Rohfelle verankert. Die Züchter sollten ihre Felle über die Vereine
ausschließlich an drei große Vertragshändlerfirmen weitergeben. Den Züchtern wurden auf der
einen Seite Preise und andere Garantien gegeben, auf der anderen Seite hoffte Nachtsheim auf
diese Weise, einen einheitlichen Absatzmarkt zu schaffen (vgl. Loudwin 1928: 209).
224
Der Neologismus „Nutzzucht“ war Mitte der zwanziger Jahre im Züchterdiskurs aufgetaucht,
„Wirtschaftszucht“ und „Leistungszucht“ gegen Ende (vgl. Gruenhaldt 1925).
225
Nachtsheim 1931g: 757
67
sächliche Fortschritt für die Zucht entsprechend unterentwickelt.226 Hinter der
Entgegensetzung von Sport- und Leistungszucht verbarg sich darüber hinaus
ein weiterer vererbungstheoretischer Widerstreit. In der Sportzucht wurde der
Wert eines Tieres an der Farbe der Krallen oder Augen, den Flecken auf den
Ohren, dem geraden Wuchs der Blume usw. gemessen. Dieser „Formalismus“
war, abgesehen von der Ästhetik, in der Konstitutions- und Degenerationslehre
begründet, nach der bestimmte äußerliche Auffälligkeiten als Anzeichen – Stigmata – für eine innere Degeneration oder generelle Konstitutionsschwäche des
Tieres galten.
Zuchtregeln auf der Grundlage der Degenerationslehre waren nicht nur in der
Kaninchenzucht, sondern besonderes in der Großviehzucht verbreitet. Dieser
Praxis entgegenzutreten, war ein beliebtes Agitationsfeld von Erwin Baur. „Zwischen den alten Tierzüchtern mit ihren gewohnten Traditionen und den Genetikern wird ein ganz schwerer Kampf ausgekämpft.“227 Bis jetzt habe „man immer
auf Äußerlichkeiten gezüchtet: der Schwanz durfte nur eine bestimmte Farbe
haben, Hörner eine bestimmte Form usw.; die nebensächlichen Dinge wurden
zu aller erst berücksichtigt, und dann erst die Leistung selbst“. Baur und
Nachtsheim fochten gleiche Kämpfe um die Hegemonie genetischen Wissens.
Die mendelsche Genetik versuchte dem so genannten Formalismus und jenen
Züchterregeln, die aus ihrer Sicht ‚Voodo’-Praktiken gleich kamen,228 bei jeder
Gelegenheit den Garaus zu machen – nicht ohne Erfolg. „Ich erinnere mich, wie
ich einst bei einer solchen Gelegenheit erwartete, dass die Biergläser mir an
den Kopf gehen würden; es geschah aber nicht.“229
1.2.5 Nachspiel: Rexzüchter im Abseits, „Kaninchenzucht wird politisch“ und
Wirtschaftszucht durch Nationalsozialismus
Ungeachtet dieser Konflikte vermehrten sich die Kaninchen Deutschlands in nie
gekannter Weise: Mit Beginn amtlicher Kaninchenzählungen in Preußen 1928
verdoppelte sich ihre Zahl in einem Jahr von 1,8 auf 2,3 Millionen; in den Jahren der Weltwirtschaftskrise überrundete der Fellumsatz aus der Kaninchenzucht mit einer Jahresproduktion von 200 Millionen Fellen den der professionellen und in Farmen organisierten Edelpelztierzüchter.230 Wie auch in zurückliegenden Zeiten einer prekären landwirtschaftlichen Versorgung,231 so eignete
sich auch diese Agrarkrise zur Popularisierung des Kaninchens – beispielsweise durch öffentliche Kaninchenessen. Die Zuspitzung der Krise eignete sich
aber insbesondere dazu, das Programm der Ökonomisierung und eingeführten
effektiven Verschaltung der Produktionskette im schwächsten Glied – der Ein226
Nachtsheim 1931g: 758; vgl. Nachtsheim 1932a: 496. – Der Gegensatz „Sportzucht oder
Rassenzucht“, der von vielen Sportzüchtern aufgemacht wurde, war aus Sicht der Genetik
keiner, da Leistung „Rasse“ voraussetzte (vgl. Nachtsheim 1930e: 298).
227
Vgl. 15.1.1929, Baur: Die praktischen Aufgaben der Pflanzenzüchtung in Deutschland
(AMPG, Abt. III, Rep. 4B, Nr. 5)
228
Vgl. Nachtsheim 1931h: 838; Baur 1932c: 22. – In der späteren Entwicklung der mendelschen Genetik musste die Lehre der Degenerationszeichen bestätigt werden.
229
15.1.1929, Baur: Die praktischen Aufgaben der Pflanzenzüchtung in Deutschland (AMPG,
Abt. III, Rep. 4B, Nr. 5)
230
Vgl. DKa, 36, 1930: 52 bzw. Nachtsheim 1932a: 496.
68
heit der Züchter – propagandistisch zu forcieren. Im Duktus der Zeit wurde der
„Alarm!“ ausgerufen: „Volk in Not – Kaninchenzucht hilft“. Die „Mobilmachung
aller Kräfte“, die Einbeziehung der Frauen- und Jugendbewegung, der Siedlungsbewegung und ihrer Genossenschaften wurde angestrebt. Und vor allem
sollte – um der „Linderung der Not“ willen – alle Kritik zurückgestellt werden.232
Über dieses durchschaubare Manöver zur Disziplinierung der Züchter kochte
aufs Neue der Unmut über die industrieorientierte Reglementierung der Zucht
hoch.233 Gerade aber die Rexkaninchenzüchter hatten von Anfang an ihr Kaninchen als Pelzkaninchen gezüchtet. Die Rexkaninchenvariante, die der Berliner
Züchterklub herausgezüchtet hatte, wurde durchaus auch von Seiten der
Kürschner und Fellverarbeiter gelobt, doch war ihr Fell nicht mehr „seidigweich“, sondern galt als „griffig-derb“. In dieser Weise hatte sich die Identität
des Rexkaninchens aufgespaltet und stabilisiert. Das von der Industrie akzeptierte „griffig-derbe“ Rexfell entsprach aber nicht der ursprünglichen Überzeugung der Züchter, ein Edelpelztierkaninchen gezüchtet zu haben. Das Dilemma
war perfekt, da die extreme Weichheit des Fells nur um den Preis mangelnder
Dichte – und Krankhaftigkeit zu haben war. Für Nachtsheim war die Situation
eindeutig: „Wer das seidig-weiche Tier propagiert, vertritt den Standpunkt: ‚Je
kranker das Haar, umso besser für den Kürschner!’“234 Die Rexkaninchenzüchter standen ungewollt vorm „Scheideweg“: Nutzzucht oder Sportzucht.235
Ein Züchter bedankte sich sogleich, dass Nachtsheim das Zuchtziel gesteckt
hatte: „Die Parole heißt bis auf weiteres: derb-griffig!“236
Die Rexzüchter, die an der Spitze der Züchter die Überzeugung vertraten,
dass Fellzucht „Trumpf“ war, und genetisch auf Linie gebracht worden waren,
stellten jetzt nur noch eine gefügige Manövriermasse dar. Und nur als solche
waren die Züchter vom RDK eingeplant. Die Züchter der ursprünglichen Rexkaninchenvariante riskierten nach der Einigung der Wissenschaft und Industrievertreter auf die doppelte Rexidentität, ihre Felle nur als Schneideware veräußern zu können und als „Lederlappen-Züchter“ beschimpft zu werden.237 Aber
auch die Rexzüchter der „Berliner Richtung“ sahen sich bald mit der Schärfe
der Vermarktungslogik konfrontiert. In den Katalog der „Wirtschaftsrassen“
wurde das Rexkaninchen nicht aufgenommen, da sich eine effektive Produktion
auf wenige Rassen konzentrieren musste.238 Immerhin riet ihr Potenzial, die
Rexzüchter nicht völlig zu entmutigen. Diese hinhaltende Aussonderung war die
Konsequenz der zentralisierten Verschaltung von technischer Wissenschaft,
Industrieproduktion und Landwirtschaft. Nachtsheim ließ keinen Zweifel: Die
231
Gegen „das drohende Gespenst der Unterernährung des Volkes“ (vgl. Strauch 1910) u. „um
der minderbemittelten Bevölkerung Fleisch zu verschaffen“ (vgl. Meyer 1916).
232
Reichsbund der Deutschen Kaninchenzüchter & Wischer 1931a: 613; Reichsbund der
Deutschen Kaninchenzüchter & Wischer 1931b: 645; Reichsbund der Deutschen Kaninchenzüchter & Wischer 1931c: 821-22.
233
Vgl. Klug 1931; Reichsbund der Deutschen Kaninchenzüchter & Wischer 1931c: 823; Weiser
1932; Königs 1932.
234
Nachtsheim 1930e: 298
235
Schröder 1929: 519
236
Mauß 1930; vgl. auch Will 1931: 3.
237
Stöckigt 1930; vgl. Nachtsheim 1931h: 838.
238
Vgl. Nachtsheim 1933b: 165 bzw. Nachtsheim 1934g: 90.
69
„Wirtschaftszucht marschiert, und wir werden dafür sorgen, daß sie auf dem
Marsche bleibt!“239
Auf dem Marsche war auch die nationalsozialistische Bewegung, die bereits
im Frühjahr 1933 die immer noch mit einander ringenden Kaninchenbünde hinwegwischte und an ihre Stelle den Reichsverband Deutscher Kaninchenzüchter
setzte (RVK). Jetzt wurde vollzogen, was unter den Bedingungen einer zwar
staatsinterventionistischen, dennoch aber durch die Freiheit der Wirtschaftssubjekte gekennzeichneten Ökonomie nicht möglich war. Nicht zufällig begrüßte
Nachtsheims RDK, der die zentrale Zusammenfassung der Wirtschaftskräfte als
nationale Aufgabe verstand, noch im April das „neue Deutschland“.240 Der RDK
sah sein „Alarm-Programm“ zur Hebung der nationale Wirtschaft und Linderung
der Not des „kleinen Mannes“ ganz im Geiste der „Revolution“ zum Zusammenschluss der Volksgemeinschaft. Materialismus, „liberalistischer Parteienstaat“
und Marxismus erschienen nun als die natürlichen Antipoden der „antikapitalistischen“ Nationalökonomiedoktrin.241 Der gegnerische Bund Deutscher Kaninchenzüchter, der für die Erhöhung der Subsistenz durch Fleisch- und Fellzucht
eingetreten war, wurde als sozialdemokratisch, liberalistisch-marxistisch, klassenkämpferisch und volkszersetzend denunziert.
Tatsächlich aber konnte der Vorsitzende des BDK, ein bis dahin „sozialdemokratisch denkender Mensch“ und Vorkämpfer für den demokratischen konsumgenossenschaftlichen Weg – damit nicht bestimmte Leute „mit einem Mercedes Benz in der Welt rumfahren“ – überzeugender die Anschlussfähigkeit der
Kaninchenzucht verkörpern. Nachtsheim, der eine Parteimitgliedschaft in der
NSDAP verweigerte,242 wurde abgesetzt und sein ehemals „sozialdemokratisch
denkender“ Kontrahent neuer Spitzenfunktionär im Reichsverband. Im Juni
übernahm der Parteifunktionär aus dem agrarpolitischen Amt der NSDAP, Karl
Vetter,243 die Leitung der Kaninchenzüchter und gesamten Kleintierzucht. Nun
begann die konsequente Durchsetzung des nationalökonomischen Ansatzes.
Durch diktierte Wirtschaftsrassenzucht auf der einen und ihre Verschaltung mit
einer unberührt fortexistierenden weiterverarbeitenden Industrie auf der anderen Seite waren die Züchter nun in einen Staatskapitalismus eingespannt, der
die alten Hoffnungen der Fellindustrie auf die Autarkiepolitik bzw. die Befürchtungen der Züchter vor der „Diktatur“ der Pelzbranche und Industrie erfüllte.244
239
Nachtsheim 1932g: 206
Jokisch 1933: Seite 1 v. 4
241
Hier und nachfolgend Jokisch 1933: Seite 2-3 v. 4
242
24.10.1933, Nachtsheim an W. Landauer (nach Auskunft v. J. Harwood) – Zu Nachtsheims
Konflikt mit Karl Vetter (vgl. 6.1.3).
243
Karl Vetter, geb. 15.4.1895, Todtnau i. Baden, ev.. Seit 1923, selbstständiger praktischer
Landwirt. 1925-27, Mitglied d. Jungdeutschen Ordens. NSDAP-Mitglied, 1.12.1929 (Nr.
177.063), SA-Mitglied bis 1931, SS-Mann, 24.9.1934 (Nr. 239.794). 1932 Kreisleiter der
NSDAP. 4/32, MdL Preußen. 12.11.1933, MdR. Seit 1933 Fachbearbeiter im Amt für Agrarpolitik der NSDAP. 10/1933, Führer d. dt. Kleintierzucht und Reichshauptabt.ltr IV im Reichsnährstand. 1935, Enthebung z.b.V. der Stabskanzlei im RuSHA. 12/1936, v. H. Backe (Vierjahresplan, Geschäftsgruppe Ernährung) beauftragt mit der Durchführung in der Kleintierzucht,
1937 „Sonderbeauftragten für die Kleintierzucht und -haltung“. 13.1.1941, Einberufung zum
Heeresdienst. (Vgl. BA B, BDC-Akte Vetter.)
244
Zu Zwangsmitgliedschaft u. Förderung der Wirtschaftsrassenzucht, vgl. Vetter 1934: 480; zu
dem Industrievertreter als Reichsfachberater, der die Züchtungsziele vorgibt, vgl. Loudwin
240
70
Wenige Jahre später stand die Kaninchenzucht bereits mitten in der „Erzeugungsschlacht“ und sah sich eingebunden in die kriegsvorbereitenden Maßnahmen des Vierjahresplans.245 Da dies die Stärkung der Wirtschaftlichkeit gegen
die Abhängigkeit vom Ausland bedeutete, kam auch Hans Nachtsheim, der in
der Verbandspolitik nun keine Rolle mehr spielte, nicht umhin, die „Zeit der
Erzeugungsschlacht“ zu begrüßen.246
1934: 510; zur Konfrontation von Fellverarbeitern und Züchtern, vgl. Loudwin 1926 bzw.
Zimmermann 1926: 543.
245
Vgl. Vetter 1937.
246
Nachtsheim 1936f: 86
71
2 Tierzucht und Erbpathologie
Nachdem der Kontext dargestellt worden ist, in dem Nachtsheims Züchtungsversuche ab Anfang der zwanziger Jahre standen, und in welcher Weise er als
ein vermittelndes Glied zwischen Wissenschaft, landwirtschaftlicher Tierzucht
und Politik fungierte, soll nun die Spur pathologischer Themen aufgenommen
und verfolgt werden, wie sie Eingang in die Genetik fanden. Das Augenmerk
bleibt zunächst auf Hans Nachtsheim gerichtet. Im zweiten Teil des Kapitels
werden Leitthemen angesprochen, in denen sich Genetik und das Medizin um
1930 diskursiv überschnitten. Im Weiteren wird zu sehen sein, dass diese konzeptuellen und thematischen präfigurierten Schnittstellen immer wieder eine
Verbindung von Vererbung und Pathologie erleichterten.
Wie kam es dazu, dass pathologische Themen in Dahlem auftauchten und
auf verstärktes Interesse stießen? Diese Frage kann nur beantwortet werden,
wenn Nachtsheims Experimentalsystem zur Bestimmung und Überprüfung von
Felleigenschaften des Kaninchens näher betrachtet wird. Das besondere Arrangement des Experimentalsystems war die Bedingung dafür, dass pathologische
Merkmale und Eigenschaften unerwartet, das heißt unintendiert an den Kaninchen zur Geltung kamen und zu einem eigenen Gegenstand des Experimentalsystems gemacht werden konnten. Die Rekonstruktion dieser Entwicklung ist
für die Frage entscheidend, wie Nachtsheim dazu kam, von 1933 an den Dahlemer Experimentalkomplex auf ein neues Forschungsprogramm, das der vergleichenden Erbpathologie, umzustellen. Hier soll die ‚Vorgeschichte’ dargestellt
werden, ohne die – dies ist dann die zentrale These in Kapitel 6 – die Implementierung des neuen Forschungsprogramms nicht verstanden werden kann
und auf seine ideologische Seite eingeengt würde. Diese Vorgeschichte ist als
Geschichte der Praxis Nachtsheims Kaninchenzuchtanlage zu verstehen. Über
die Gegenstände der Experimente – Pigmente und Felleigenschaften – wurden
verschiedene Forschungsprobleme, -bereiche und -interesse mit einander verbunden. Kurz gesagt, mit der Dynamik des Experimentalsystems und seiner Eigenschaft, als Experimentalsystem Neues zu produzieren, können historische
Bedingungen der Möglichkeit dafür benannt werden, dass die pelz- und pigmentgenetische Experimentieranstalt Nachtsheims unter das Regime des pathologischen Gegenstands kam.
An diese Darstellung schließt sich eine provisorische und ausschnitthafte Bestandsaufnahme des konzeptuellen Diskurses in der Medizin über Krankheit
und in der Genetik über das Verhältnis von Gen- und Umweltwirkung an. Damit
wird deutlich, dass zwar das Auftauchen des Pathologischen in Nachtsheims
Experimentalkomplex, nicht aber seine weitere Beachtung ein bloß situatives
Ereignis war. Medizin und Genetik, das Pathologische und das Erbliche gerieten in den zwanziger Jahren an unterschiedlichen Punkten diskursiv in Berührung. Diese thematisch und methodisch interessanten Verbindungspunkte werden herausgearbeitet. Es zeigt sich dann, dass Nachtsheims Aufmerksamkeit
für pathologische Erscheinungen in seinem Experimentalsystem nicht nur im
tierzüchterischen Diskurs, sondern auch zeitgleich im Zusammentreffen von
Genetik und „rassenhygienischen Paradigma“ begründet war.
72
2.1
Vom Pigment zum Pathologischen als epistemischer
Gegenstand
„Aufgrund unserer Untersuchungen müssen wir also sagen, der Züchter seidig-weicher
Rexe hält seine Tiere für um so besser, je kranker ihr Haarkleid ist, und je kranker das
Haarkleid ist, um so stärker machen sich auch die sonstigen schädigenden Wirkungen
1
des Rexfaktors bemerkbar.”
Um zu verstehen, wie die Erbpathologie in Dahlem die Landwirtschaft als Forschungsinteresse verdrängte, ist es notwendig, sich ein weiteres Mal mit
Nachtsheims Beschäftigung mit Kaninchen, der Organisation seines Experimentalsystems und dem Diskurs der Kaninchenzüchter zu beschäftigen.
Die Vererbung von Fellfarben und -eigenschaften stand im Mittelpunkt
Nachtsheims Vererbungsexperimente. Ihr epistemischer Gegenstand waren die
Prozesse, die von Generation zu Generation die Pigmentierung des Kaninchenfells bestimmten.2 Der epistemische Gegenstand verkörpert in einem Experimentalsystem das, was noch nicht eindeutig benennbar ist, was noch nicht gewusst wird und was wage und fragil ist. Mit dieser Unbestimmtheit ist ein wichtiger Aspekt von Experimentalsystemen verbunden. Gerade über diese Unbestimmtheit der Gegenstände und Objekte von Experimentalsystemen lassen
sich verschiedene Interessen, Probleme und Forschungspraxen mit einander
verbinden. So führten auch die Pigmente verschiedene Forschungszusammenhänge zusammen. Sie waren „boundary objects“3, die zum Beispiel die experimentelle und vergleichende Methode in der Genetik verknüpften.
In der Auseinandersetzung Nachtsheims mit den Kaninchenzüchtern, in deren Mittelpunkt das schon erwähnte Rexkaninchen stand, war es genau jene
Unbestimmtheit des epistemischen Gegenstands, die erlaubte, dass etwas
Neues in Nachtsheims Forschungslabor auftauchte. Die besondere Konstellation aus Diskurs und Experimentalsystem führte dazu, dass neben den Pigmenten pathologische Prozesse und Merkmale die Aufmerksamkeit erregten. Diese
und die die Frage nach ihrer Vererbung wurden dann der Gegenstand eigener
Experimentalsysteme.
Die Wissenschaft gestaltete, wie im vorigen Kapitel gesehen, nicht nur aktiv
die Naturordnung der Kaninchenzüchter um. Das aufklärerische Engagement
im Diskurs der Züchter um die Brauchbarkeit und die ‚Identität’ des Rexkaninchens wirkte auch auf Nachtsheims Experimentalsystem zurück, und zwar in
unvorhergesehener Weise. In dieser Zweiseitigkeit zeigt sich die fundamentale
Wechselhaftigkeit der ‚Produktion von Natur’ und ‚Schaffung der Gesellschaft’.4
Der Begriff „Produktion“ ist hier in Abgrenzung zur ‚Ent-deckung’ einer vorhergehenden und immer schon da gewesenen Natur zu verstehen – als Verwobenheit des ‚natürlichen’ Gegenstands, wie er von der Laborwissenschaft beschrie1
Nachtsheim 1931c: 77
Der epistemische Gegenstand ist das Objekt, das in einem Experiment untersucht wird. Er ist
eine materielle Entität oder ein Prozess (vgl. Rheinberger 1997: 28-29; zu „experimental
system“, vgl. ebd.: 27-28).
3
Zum Begriff „boundary object“, vgl. Star & Griesemer 1999: 506-09.
4
Vgl. Lenoir 1992a: 148.
2
73
ben wird, mit ihrem experimentellen Repräsentationssystem.5 Die Repräsentation des Rexkaninchens wandelte sich mehrfach und wurde erst mit der Zeit
eindeutig. Diese Festlegung wurde weniger durch die materiellen Eingenschaften der Rexkaninchen selbst geleitet, als wäre es ein selbstidentisches Ding der
Natur, das nur raffiniert im Experiment enthüllt werden müsste. Im Diskurs über
den Wert des Fells und dann vor allem erst durch die Form der Repräsentation
wurde die Eindeutigkeit in der Repräsentation der variablen Materie erreicht.
Die Darstellungsprozeduren im Labor und im Prozess einer differenziellen Reproduktion – wiederholte Operationen planmäßiger Fortpflanzung und der Analyse der Haarbeschaffenheit – produzierte und stabilisierte allmählich einen Begriff und eine klare Vorstellung von dieser Kaninchensorte. Anschließend diente
das Rexkaninchen selbst als Instrument in Nachtsheims Experimentalsystem –
als technischer Gegenstand oder Black Box –, um anderen Zusammenhängen
nachzugehen. Der pathologische Gegenstand, der unerwartet dabei hervorging,
war deshalb im engen Sinne an den experimentellen Repräsentationsraum des
Rexkaninchens gebunden. Er war wie das Rexkaninchen weder die Enthüllung
eines schon Dagewesenen, noch das intendierte Ereignis einer Hypothesengeleiteten Experimentalpraxis, noch die Materialisierung eines vorhergehenden
Interesses.
2.1.1 Das Experimentalsystem der Pigmente
Dass Nachtsheim schon bald, nachdem er nach Berlin gekommen war, sich mit
Kaninchen zu beschäftigen begann, lag nicht so sehr an der Bedeutung der Kaninchenzucht.6 Eigentlich hielt Nachtsheim das Hausschwein wegen seiner frühen Fortpflanzungsfähigkeit und den verhältnismäßig vielen Nachkommen für
„zweifellos das günstigste Objekt“ für mendelgenetische Experimente am Tier;7
denn mit dem Hausschwein ließen sich die wissenschaftliche Praxis und das
landwirtschaftliche Interesse verbinden.8 Doch 1922 wurde im Dahlemer Institut
eine neue Stallanlage fertig gestellt, die eine umfangreiche Kleintierzucht ermöglichte. Die Tiere waren vor allem als Versuchstiere für medizinische Experimente verplant, boten aber zugleich Nachtsheim hervorragende experimentelle
5
Vgl. Rheinberger 1997: 108.
Angehalten, sich mit Nutztieren auseinander zusetzen, hatte er zunächst neben seinen Analysen über die Zitzenzahl bei Schweinen Schafe als mögliches Untersuchungsobjekt ausgelotet
(vgl. Nachtsheim 1959b: 1799; 26.4.1922, Nachtsheim an PML, in: GStA, I. HA, Rep. 87B,
20281: Bl. 181; 14.8.1923, Baur an PML, in: ebd.: Bl. 29).
7
Nachtsheim 1922e: 68. Der Nachteil zoologischer Objekte für die mendelsche Genetik lag auf
der Hand, wenn sie mit dem Vorteil der Pflanzenzucht verglichen wurden – ein Grund Nachtsheim zur Folge für die mendelgenetische Abstinenz in der Tierzucht: Der schwedische Genetiker Nilsson-Ehle rechnete mit 20.000 Individuen als Minimum für einen Versuch, um die Sicherheit der Ergebnisse zu gewährleisten (vgl. Nachtsheim 1922d: 636). Die meisten der Kulturpflanzen waren zudem Selbstbefruchter, das heißt ließen sich ohne weiteres in Reinzucht züchten. „Reine Linien” waren ein wesentliches Instrument für erbanalytische Kreuzungsversuche.
8
Viele Merkmale waren für eine landwirtschaftliche Vererbungsforschung interessant; doch anders als die Mastfähigkeit, Fleischfülle oder Krankheitsfestigkeit eignete sich die Zitzenzahl besonders als Gegenstand einer mendelgenetischen Analyse. Die Zahl der Zitzen war, ähnlich
wie Mendels Blütenfarben, äußerlich und eindeutig protokollierbar, wohingegen andere Merkmale kontinuierlich und nicht operationalisierbar waren oder stark von der Umwelt beeinflusst zu
sein schienen. Die Schweineversuche waren von Erwin Baur initiiert worden, der sie im KWI für
6
74
Möglichkeiten, sodass die Voraussetzungen für die Kaninchenzucht jetzt weitaus idealer waren, als die für die Schweineversuche.9 Das landwirtschaftliche
Interesse Nachtsheims Forschung war nun in der Farbe und den Eigenschaften
des Kaninchenfells aufgehoben. Die Pigmentierung war zugleich eines der
bestbearbeiteten Themen der Genetik – nicht zuletzt, weil die äußere Färbung
von Pflanzen und Tieren leicht feststellbar war. Die Mechanismen des Entstehens und der Vererbung der Pigmente waren dennoch nicht leicht zu erhellen,
wie sich herausgestellt hatte. Vieles war noch unklar. Pigmente waren boundary
objects – eindeutig und wage zugleich: eindeutig benennbar und wage darin,
was sie bedeuteten. Es ist nicht zufällig, wenn wir immer wieder über Pigmente
stolpern werden. Ihre Plastizität ermöglichte, Objekte, Forschungsthemen und
unterschiedliche Forschungsinteressen miteinander zu verknüpfen.10
Nachtsheim, dessen wissenschaftliche Leistung es in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren war, die Vererbung der Fellfarben beim Kaninchen genetisch zu analysieren, lotete eine solche Möglichkeit aus, bevor er zur Erbpathologie kam. Die genetische Farbanalyse, die vor allem von Castle, Durham,
Cuénot und Hagedoorn bei Nagetieren vorangebracht worden war, hatte zu
einem System von fünf Erbfaktoren geführt, zu denen je nach Spezies einige
weitere hinzukamen.11 Auch am Institut für Vererbungsforschung war neben
Baurs Versuchen am Löwenmäulchen bereits Pigmentanalysen am Kaninchen
durchgeführt worden.12 Curt Koßwig13, der Nachtsheim bei der Kreuzungsanalyse der Pigmentfaktoren unterstütze, unternahm ab 1924 auch selbstständig
Versuche zur Pigmentierung.14 Systematisch züchteten sie die möglichen KomZüchtungsforschung wieder aufnehmen ließ (durch Hans Peter Ossent) (vgl. Koßwig & Ossent
1934: 306).
9
Vgl. Nachtsheim 1929d: 54, Fußn. 1. Zur Versuchstierzucht in Dahlem, siehe 3.1.
10
Genetische, entwicklungsphysiologische und phänogenetische, anthropologisch-rassenbiologische, erbpathologische und eugenische Probleme überschnitten sich im Pigment. Diese unterschiedlichen Frageräume ließen sich über diesen Gegenstand ineinander übersetzen, und
Pigmente konnten so den Zugang zu neuen Repräsentationsräumen öffnen.
11
Vgl. Koßwig 1925: 104. – Am weitesten war die Pigmentanalyse bei der Maus (sieben
Faktoren für Fell und Augenfarbe) ausgebaut (vgl. Sinnott & Dunn 1925: 100-01). Es wurde
zudem die Verteilung des Pigments und Haarlänge und -form beachtet.
12
Vgl. die Promotionsarbeit von Endre Pap: Ueber Vererbung von Farbe und Zeichnung bei
den Kaninchen, Berlin 1920 (HUB, Teilbibl. Inst. f. Tierzucht: V M 90); Pap 1921; Baur 1922: 69
u. 72.
13
Curt Karl Ferdinand Koßwig, geb. 1903, gest. 1980. 1930, ao. Prof. TH Braunschweig. 1933,
SS-Mitglied. 1937, Emigration aus polit. Gründen in die Türkei und o. Prof. an Univ. Istanbul
(Zoolog. Institut). 1955 o. Prof. in HH (Zoolog. Staatsinstitut und -Museum). (Vgl. Deichmann
1995: 45-46, 80ff. u. 268.)
14
´Koßwigs Experimente schlossen an die „Schwärzungsexperimente“ von Walter Schultz an.
Schultz hatte 1915 als Erster damit begonnen, die Beeinflussbarkeit der Pigmentbildung durch
Temperatur zu verfolgen. Koßwig versuchte, den Ansatz auszuweiten und den „Chemismus der
Pigmentbildung“ zu untersuchen. Die Versuche zeigten, dass sich die Verhältnisse der Farbgebung des Kaninchenfells nicht einfach in der Kombination einzelner Faktoren erschöpften. Die
Beeinflussbarkeit durch Temperatur wies in den Frageraum der chemischen Ausbildungsprozesse der Pigmente. Erst spätere Experimente nahmen aber diese Spur auf und verfolgten ein
entwicklungsgenetisches Interesse (zum Beispiel die Experimente von Rolf Danneel, vgl. 7.1.2).
Entwicklungsgenetische Experimente hätten vorausgesetzt, dass ein enger Bezug zu bestimmten Genotypen hergestellt wurde, was Koßwig nicht versuchte. K. versuchte vergeblich ein oxidatives Ferment in der Kaninchenhaut nachzuweisen und damit eine Annahme über die Bedeutung von Oxidatonsprozessen bei der Pigmentbildung (außer bei Melanin) zu bestätigen. (Vgl.
Koßwig 1927a: 390-92.)
75
binationen der Grundfaktoren für die Farbgebung. Nach Nachtsheims Aufenthalt in Amerika und seinem Besuch bei William E. Castle an der Bussey Institution der Harvard-Universität führten sie die weiteren Analysen in engem Vergleich und zum Teil in Abstimmung mit Castle durch.15 Castle, Mendelgenetiker
der ersten Generation in Amerika und „Vater der Säugetiergenetik“, stand in
seiner unkonventionellen Art, mit Züchtern zu kooperieren und für die Landwirtschaft zu arbeiten, Nachtsheim nahe und war ihm ein Vorbild.16 Die eintönige
Aufgabe, die mit jeder Neubestimmung eines Faktors exponentiell zunehmenden möglichen Faktorenkombinationen im Experiment nachzuvollziehen, war
neben der Erschließung pelzzüchterischer neuer Wirtschaftsformen für Castle
und Nachtsheim auch deshalb interessant, da auf diese Weise ein ‚genetischer
Stammbaum’ der Kaninchenrassen aufgestellt werden konnte. Castle erhoffte
insbesondere mit der Mendelgenetik, die für ihn lange nicht so absolut war wie
für Nachtsheim, ein Instrument für Fragen der Evolution zu haben.17 Nachtsheim begann, möglicherweise von Castle beeinflusst, selbst damit, die Fellgenetik als Repräsentationsraum für Fragen der Evolution zu begreifen. Er sah
den Einsatz der Genetik als eine – vernachlässigte – Ergänzung der vergleichenden Methode in der bisherigen Haustierforschung.18
Nachtsheim ging es darum, die „Haustiergenetik“ als eine eigene Zugangsweise zu dem Problem der Abstammung auszuloten.19 Der Vorteil der Genetik
der Haustiere war, dass sie, wie im Falle des Kaninchens, mit einer Fülle von
verschiedenen Formen zu tun hatte, und diese Formen konnten bequem experimentell untersucht werden, weil es Merkmale der Haut und Haare waren.20 Die
Haustiergenetik beschäftigte sich mit „Domestikationsmerkmalen“, den Eigenschaften und Merkmalen der Haustiere, die oft in der Haustierforschung in lamarckistischer Weise auf die Umstände der Haltung zurückgeführt wurden. Das
Programm des jungen neuen Faches sollte es hingegen sein, sie genetisch –
durch Mutation und Kombination von Erbfaktoren – zu erklären. Die „Rassenbildung“ bei Kaninchen als mendelgenetisches Ereignis wurde somit ein Gegenstand im experimentellen Raum Nachtsheims Experimentalsystems für Pelzkaninchen, und zwar dadurch, dass sich das Problem der „Rassengeschichte“ und
der Manipulierbarkeit der „Wirtschaftseigenschaften“ der Haustiere überschnitt.
Nachtsheim: Damit „haben wir die Rassenbildung nunmehr in der Hand“.21
15
Vgl. unter anderen Nachtsheim 1929c: 12; Castle 1929: 53; Castle & Nachtsheim 1933.
Rader 1998: 327 bzw. 336. William Ernest Castle, geb. 1867, gest. 1962. Doktoranden bei
Castle waren unter anderen E.C. MacDowell, C.C. Little, Sewall Wright, L.C. Dunn, William
Gates, Clyde Keeler, Laurence Synder, George Snell, Paul Sawin, Sheldon Reed. Die Säugetierzuchten existierten seit 1908 (Mäusen, Meerschweinchen, Kaninchen, Ratten – und Tauben
(vgl. ebd.: 330). Die Organisation war den steigenden Anforderungen, die die breit gefächerten
Zuchten stellten, so dass die Zuchten 1936 eingestellt wurden (vgl. ebd.: 353).
17
Vgl. Rader 1998: 335-36.
18
Vgl. Nachtsheim 1929d: 53-54.
19
Vgl. Nachtsheim 1929d: 54.
20
Vgl. Nachtsheim 1929d: 54.
21
Nachtsheim 1929d: 106-07. Nachtsheim verfolgte den Zusammenhang zwischen genotypischer Konstitution der Kaninchenrassen, ihrem historischen Auftreten im Domestikationsprozess und der Rolle der Mutation bis zu einem Buchprojekt weiter (Nachtsheim 1936d). Er begriff
diesen Prozess, ganz ähnlich wie Darwin, als exemplarisch für die Rassenbildung allgemein.
Entgegen verschiedener andere Interpretationen – zum Beispiel dem Einfluss der Ernährung –
erklärte er Domestikationserscheinungen durch die unterschiedlichen Einwirkungen der „natürli16
76
Nachtsheim begann hier, zwischen Evolution und Genanalyse, seine Genetik
als „vergleichende Genetik“ zu verstehen, zum einen, weil die Haustiergenetik
als Beginn einer allgemeinen genetischen Theorie der Rassenbildung verstanden werden konnte, und zum anderen, weil der Domestikationsprozess, so
Nachtsheim, auch über ähnliche Situationen „künstlicher Selektion“ Aufschluss
geben konnte – zum Beispiel die Zivilisation.22
2.1.2 Pigmente, Degeneration und der Vergleich in der Genetik
Ein in Züchterkreisen neu gezüchtetes Kaninchen führte Nachtsheim und Koßwig Ende der zwanziger Jahre zur Neubeschreibung eines sechsten Allels in
einer Serie von Allelen des Erbfaktors A.23 Von dort aus schlossen sich Fragen
nach Konstitution und Degeneration an, die mit dem Problem der Domestikation
in einem Zusammenhang standen. Dieser Zusammenhang konnte entlang des
Experimentalsystems der Pigmente hergestellt werden.24
Zunächst einmal entfaltete die Genetik ihre subversive Kraft gegenüber phänomenologischen Ordnungen. Die A-Serie stand für Pigmentverlust des Fells.
Es kamen alle Abstufungen vor zwischen völlig weißem und nur punktuell weißem Fell sowie von Verlust der Pigmentierung der Iris. Der Haustierforscher
Adametz hatte 1905 die Grade und Formen der Pigmentlosigkeit in eine Stufenabfolge gebracht.25 Die Genetiker waren sich aber uneins, wie viele Gene die
Pigmentlosigkeit steuerten.26 Der Wirrwarr in der genetischen Ordnung der unchen Selektion“ einerseits und der „künstlichen Selektion“ durch den Züchter andererseits (ebd.:
12-13).
22
Nachtsheim 1929d: 107, Nachtsheim 1936d: 12 u. 21 bzw. zu Zivilisation, vgl. ebd.: VII-VIII.
Zum Vergleich von Zivilisation und Domestikation, siehe auch 6.3.3.
23
Vgl. Koßwig 1927b: 271; Nachtsheim 1930c.
24
Vgl. Nachtsheim 1936d: VII-VIII.
25
Vgl. Nachtsheim 1932e: 233-34; N. bezieht sich hier auf Adametz („Die biologische und züchterische Bedeutung der Haustierfärbung“, Jb. d. landw. Pflanzen- u. Tierzchtg., 1905). Der
Wiener Biologie Leopold Adametz war nach Nachtsheim einer der ersten Haustierforscher. –
Die Allele des A-Faktors konnten zwar tatsächlich mit einem sukzessiv zunehmenden Pigmentverlust bis hin zum Albinismus in Verbindung gebracht werden, aber nicht mit allen Formen des
Pigmentverlusts. Baurs Doktorand, Pap, hatte zum Beispiel schon gezeigt, dass die als Holländerscheckung bekannte zunehmende Ausdehnung weißer Fellanteile gegenüber normal-pigmentierter Zonen auf eigene Erbfaktoren zurückgeführt werden müsste, und zusätzlich, dass
die aus einer Holländer-Zucht neu aufgetauchten Weißen Wiener Kaninchen genetisch nichts
mit der Holländerscheckung zu tun hatten (vgl. Pap 1921: 229f. bzw. 194-95). Castle wiederum
war anderer Auffassung und wollte die unterschiedlichen Formen der Scheckung bis zur
völligen Weißheit der Wiener Kaninchen als die Reihe einer multiplen Allelenserie verstanden
wissen (vgl. Nachtsheim 1932e: 239 bzw. 236). Castles Kontrahenten waren in den USA
zunächst Punnet und Pease (vgl. Koßwig 1926: 227ff.).
26
Diese Meinungsverschiedenheit, ob die Phänomenologie des sukzessiven Pigmentverlusts
durch mehrere Gene oder mehrere Allele genetisch zu erklären war, entsprach einem Dissens
darüber, wie allgemein zusammengesetzte Phänotypen gebildet wurden: durch multiple Allelie
oder mehrere Gene (Polymerie). Nachtsheim schlug sich auf letztere Seite, und zeigte in eigenen Experimenten, dass gescheckte Weiße Wiener Kaninchen versteckte Faktoren trugen, die
mit dem ‚Wiener Weiß’ nichts zu tun hatten (vgl. Nachtsheim 1932e: 261). Diese Trennung der
Faktoren nach ihrer Funktion gelang aber nicht wirklich. In ihrer Wirkung auf die Augenfarbe
zeigte sich, dass sich ihre Wirkungswege mehrfach überschnitten. Das charakteristische Merkmal der Weißer Wiener Kaninchen waren blaue Augen, die sich aus dem Pigmentverlust in der
mesodermalen Schicht der Iris erklärten. Diese Charakteristik der homozygoten Weißen Wiener
zeigten auch heterozygote Tiere bei Anwesenheit von Scheckungs-Faktoren. Der Faktor der
Weißen Wiener Kaninchen konnte wiederum in bestimmter Kombination die für die Albinos der
77
übersichtlichen Formenvielfalt der Pigmentlosigkeit war nur auf den ersten Blick
verwirrend – dann nämlich, wenn man, so Nachtsheim, der „gefühlsmäßigen“
phänomenologischen Ordnung folgte wie Adametz.27 Aus der Sicht der Genetik
könne daraus nur ein „künstliches“ System folgen, da nicht die Phylogenese als
ordnender Bezugspunkt diente. Die durch die Genetik enthüllte Rassenbildung
erst führe zu einer „natürlichen Reihe“.
Der zunehmende Pigmentverlust stand aber auch unter Verdacht, mit einer
zunehmenden Schwächung der Konstitution zusammenzuhängen und insofern
eine „Entartungserscheinung“ oder ein „Degenerationszeichen“ zu sein.28 In Begriffen der mendelschen Genetik konnte ein solcher Zusammenhang nun als
pleiotrope – mehrfache – Wirkung eines Erbfaktors beschrieben werden. Auch
dies hatte die Umordnung der äußerlichen Erscheinungen in eine Ordnung
nach Maßgabe des Genotyps zufolge. Bis dahin war der Augenschein maßgeblich. Diese Umordnung war eine Operation, die typischerweise mit der Unterwerfung eines Gegenstands unter ein mendelsches Experimentalsystem einherging.
Während Nachtsheim sich mit Blick auf jene alte Ordnung des Augenscheins
in Züchterkreisen in der Frage der Degenerationszeichen zunächst skeptisch
zeigte,29 war die Verbindung von Pigment und Degenerationszeichen eine typische Position in der menschlichen Vererbungsforschung. Valentin Haecker, der
bemüht war, den Mendelismus in die Medizin hineinzutragen, verband den
mendelnden Albinismus wahlweise mit einem „Habitus albinoidicus“, mit allgemeiner Lebensschwäche oder morphologischen Defekten sowie Rothaarigkeit
mit der Disposition zu malignen Formen der Tuberkulose.30 Der Humangenetiker Eugen Fischer, der sich ganz dem Mendelismus verschrieben hatte, stellte
apodiktisch fest, dass Rothaarigkeit und Albinismus ins „pathologische Gebiet“
führen.31 Die mendelsche Genetik stellte das Konzept der Degenerationszeichen nicht prinzipiell in Frage, sondern verschaffte ihm mit der pleiotropen Gen-
A-Serie typischen roten Augen (völliger Pigmentverlust) bewirken; und so weiter. (Vgl. Nachtsheim 1933c: 105+07.)
27
Hier und nachfolgend: Nachtsheim 1932d: 6 u. 8.
28
Vgl. Nachtsheim 1932d: 4-5. Diese Auffassung vertrat auch L. Adametz in Bezug seine
Stufenabfolge zunehmender Pigmentlosigkeit. Zu Degenerationszeichen, siehe auch 7.1.3,
Seite 327.
29
Er hatte jene alte Ordnung des Augenscheins im Visier, als er auf der Gründerversammlung
der Gesellschaft für Hundeforschung ihre Leitfrage nach dem Zusammenhang von „Farbenverblassung“ und „Leistungsfähigkeit“ aufgriff. Nachtsheim relativierte zunächst die generelle negative Bewertung des Albinismus evolutionstheoretisch, da Entartung relativ zum Wert einer Mutation in einem Lebensraum sei (vgl. Nachtsheim 1932d: 10). Die Auffassungen der Züchter seien
„lediglich als gefühlsmäßiges Urteil zu werten, dem eine persönliche Abneigung gegen die hellen Farben zugrunde liegt, irgendwie wissenschaftlich begründet ist es nicht“ (Nachtsheim
1932d: 12). – Das Milieukonzept der Anpassung warf wiederum die Frage nach der Modifikabilität der Ausprägung von Felleigenschaften und -pigmentierung auf. In der Edelpelztierzucht
wurde allgemein ein Einfluss der klimatischen Bedingungen auf die Fellausprägung angenommen. Nachtsheim regte die experimentelle Nachprüfung dieser Frage an, die er nicht rundweg
auf Grund des Wissens um die Kaninchenfellpigmentierung ausschließen konnte (vgl. Nachtsheim 1932f: 51).
30
Vgl. Haecker 1922: 1219 bzw. 1220. Der Konstitutionspathologe Julius Bauer bestätigte
Haecker darin (vgl. Bauer 1924a: 479; siehe auch Bauer 1924b: 612-13).
31
Fischer 1936b: 120; siehe auch Fischer 1930e: 133.
78
wirkung oder der Kopplung von Genen eine rationale Grundlage.32 Der Preis
war die Umstellung auf das neue Bezugssystem der verborgenen Erbfaktoren –
die Verinnerlichung des Wirkprinzips durch die neue Methodik –, und damit die
Neubewertung und Relativierung der äußeren Erscheinungen als unabhängige
Degenerationszeichen. Tatsächlich vertrat auch Nachtsheim, wie gleich zu sehen sein wird, die Degenerationslehre auf mendelscher Grundlage.
Der Gewinn, der mit der mendelschen Umstellung einherging, lag in der
Kombination von experimenteller und vergleichender Methode.33 Mit der mendelschen Genetik war ein Universalitätsanspruch verbunden, nach dem das Experiment am Kaninchen Modell für andere Nagetiere sein und im Hin- und Herwandern zwischen verschiedenen Spezies im Vergleich beispielsweise ein
theoretisches Modell für die genetische Zusammensetzung der Fellfarbgebung
entwickelt werden konnte.34 Der Disput zwischen dem Paläontologen Weidenreich und dem Genetiker Federley 1929 stellte sich, wie in 1.1.2 gesehen, noch
als eine Konfrontation von vergleichender und experimenteller Methode dar.
Der Preis der unversöhnlichen Position des Genetikers gegenüber der „historischen Wissenschaft“ war, dass Fragen der Evolution für die Genetik unerreichbar schienen.35 Um so signalhafter war es, dass Max Hartmann, der eine differenziert mendelsche Position vertrat, in der Diskussion herausstellte, dass die
Genetik als experimentelle Disziplin auf die vergleichende Methode zurückgreifen müssen werde, um neue Problemstellungen angehen zu können.36
Dies darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass vergleichende Verfahren in der
mendelschen Genetik auch bis dahin schon Verwendung gefunden hatte, wenn
es auch nicht ausdrücklich thematisiert worden zu sein scheint. Noch apodiktischer als Erwin Baur37 verstand Eugen Fischer Nachtsheims Untersuchungen
als Erklärungsgrundlage für die menschlichen Pigmentierungsverhältnisse.38
Eine Ähnlichkeit im Denkstil zwischen Baur, Fischer und Nachtsheim als ‚missionarische’ Mendelisten ist unverkennbar, da Fischer programmatisch in Rekurs auf das Domestikationstheorem die Gleichheit des „anatomischen Verhalten[s] von Iris, Haut und Haar zwischen manchen Stufen von Albinismus und
32
Vgl. unter anderen Vogt & Vogt 1930: 571ff.; Fischer 1939: 54. – Ein Beispiel für eine mendelsche Analyse zur Verknüpfung des Albinismus mit pathologischen Störungen aus dem
angelsächsischen Kontext ist Gates 1931.
33
Die vergleichende Methode war eine besondere Methode in der Biologie und hatte mit der
vergleichenden Anatomie im 19. Jahrhundert eine Hochzeit, als auf ihrer Grundlage die Abstammungslehre ausgebaut wurde. Anders als bei der Induktion von allgemeinen Aussagen im
physikalischen Experiment band sie die Verallgemeinerbarkeit des genetischen Experiments an
den Analogieschluss (vgl. Nachtsheim 1929d: 65).
34
„Wir wissen heute, daß fast die gleichen Erbfaktoren, die die Farbe und Zeichnung des Kaninchens bedingen, einschließlich der Allelenserie, auch bei den anderen Nagern [...] zu finden
sind. Aber nicht nur das. Ich erinnere an die Ähnlichkeit zwischen Marderkaninchen und Siamesischer Katze“ (Nachtsheim 1929d: 107).
35
Federley 1930: 42
36
Vgl. Hartmann 1930: 44.
37
Baur meinte 1922 auf Grund der vorliegenden Erkenntnisse über die Vererbung der Haarfarbe beim Kaninchen, die „unangenehme Überraschung“ erklären zu können, dass aus der Ehe
eines „’weißen Negers’ (aaXXYYZZ ...)“ mit einer „Europäerin (Aaxxyyzz ...) typische d u n k e l h ä u t i g e Mulatten“ hervorgingen (Baur 1922: 382-83. Die Angaben in den Klammern stellen
mendelsche Erbformeln dar). „Dieser Fall entspricht sehr weitgehend der Kreuzung eines ‚albinotischen’ rotäugigen weißen Kaninchens mit einem blauäugigen weißen“ (ebd.: 383).
38
Vgl. Fischer 1936b: 120.
79
blondhaarig-blauäugig-weißhäutigen Rassen, bei Tier und Mensch” postulierte.39 Diese Position war nicht selbstverständlich, wie die Kritik des Anthropologen Karl Saller zeigt. Es sei rein hypothetisch, Erbformeln vom Kaninchen „einfach auf den Menschen“ zu übertragen; die Ergebnisse am Kaninchen auf die
„spezifisch menschlich gelagerten Fragen“ umzuarbeiten, sei aussichtslos.40
Dieser kurze Einblick in Entwicklungsmomente der vergleichenden Genetik
offenbart bereits die Sprengkraft ihres in der mendelschen Erblehre wurzelnden
universalisierenden Anspruchs. Festzuhalten ist hier vor allem, dass sich gegen
Ende der zwanziger Jahre im experimentellen System der Pelzkaninchenzucht
in Dahlem die vergleichende Genetik als eine ergänzende Methode zum Kreuzungsexperiment herausbildete. Als Methode versprach sie, die theoretischen
und praktischen-landwirtschaftlichen Probleme der Genetik miteinander zu verbinden. „Die vergleichende Genetik scheint mir ein zukünftiges Arbeitsfeld zu
sein, das nicht nur manches für den Theoretiker zutage fördern, sondern auch
für den praktischen Züchter Bedeutung gewinnen wird.“41 Nachtsheims Blick
begann sich damit zu verschieben, wie sein Bericht vom VI. Internationalen
Kongress für Genetik zeigte, in dem er ausführlich die vergleichenden Untersuchungen Stockards referierte und ganz ähnlich wie dieser auf die Relevanz
seiner eigenen Untersuchungen über Haut- und Augenfarbe für den Vergleich
mit dem Menschen hinwies.42
2.1.3 Geburt des pathologischen Gegenstandes: differenzielle Reproduktion
im Diskurs...
Das „Pigment“ öffnete Repräsentationsräume für Probleme und Fragestellungen, die über die enger genetisch gefassten hinausgingen. Nachtsheim begann,
wie soeben gesehen, über diese boundary-Eigenschaft des Pigments die
Transmissionsgenetik des Pigments an einen evolutionstheoretischen Diskurs
anzukoppeln. Parallel dazu schob sich subtiler ein neuer Gegenstand in die
Ordnung seines Experimentalsystems. Dieser Vorgang führt nun zurück zum
Rexkaninchen und zur Auseinandersetzung mit den Kaninchenzüchtern.
39
Fischer 1936b: 124. Auf Grund der „vollständigen Parallelen“ könnte der Albinismus allgemein erklärt werden, auch wenn es sich letztlich nur um Arbeitshypothesen handelte, an denen
neue Vorstellungen und Fragestellungen entwickelt werden könnten: „Ich glaube, das paßt auch
für den Menschen ganz ausgezeichnet” (Fischer 1936b: 124 (122 u. 129). Fischer sah spätestens 1930 explizit die experimentelle Genetik als systematische Grundlage für die menschliche
Erblehre (vgl. Fischer 1930e: 134).
40
Saller 1931: 218. In dieser Kritik, die die Fortsetzung eines mehrjährigen Streits um den Erbgang und das Entstehen der Rothaarigkeit war, stand die Auseinandersetzung um eine Arbeit
von Fischers Schüler H. Conitzer im Zentrum. Saller sah die Rothaarigkeit als Ausdruck einer
„besonderen Gesamtkonstitution“, die es unumgänglich mache, zunächst den „Chemismus des
Organismus während der Ontogenese“ zu verstehen (Saller 1931: 217-18). Mit dieser Vorstellung einer „Vererbungsphysiologie“ (Saller) zeichnete sich mit den Pigmenten ein Ansatz zur
Überbrückung der mit der mendelschen Genetik eingeleiteten Trennung von Entwicklung und
Übertragung an. Die Frage, ob „letzten Endes“ Chromogene oder nicht eher Fermente und
Hormone Ursache der Rothaarigkeit waren (Saller 1931: 217; vgl. Saller & Maroske 1932), entsprach der Frage nach der „primären Genwirkung“, wie sie durch Alfred Kühn etwa zeitgleich in
seiner „genetischen Entwicklungsphysiologie“ in Angriff genommen wurde (siehe 4.2). Es wird
zu sehen sein, dass auch der ‚missionarische’ Mendelismus sich im Laufe der dreißiger Jahre –
zu seinen Zwecken – der phänogenetischen Methode zu bedienen begann (siehe 7.1.3).
41
Nachtsheim 1929d: 107
42
Vgl. Nachtsheim 1933f: 205+09. Zu N.s Vortrag vor dem Kongress, vgl. Nachtsheim 1932b.
80
Was die schlesischen Kaninchenzüchter noch nicht mitbekommen hatten,
nämlich dass sich inzwischen auch feinste Kreise nicht mehr schämten, Kaninchenfellimitate zu tragen, verhalf dem Rexkaninchen zu einem ungewöhnlichen
„Siegeszug“, denn die Erwartung war, dass das Rexfell ohne Veredelungsprozess als „Naturfell“ gehandelt werden könnte.43 Umso tiefer war der Fall des
‚Edelkaninchens’, als sich das so genannte Naturimitat als „krankhafte Veränderung“ und die naturgegebene Fellverbesserung als „degenerative Mutation“
herausstellte.
Im Dahlemer Experimentalsystem des Rexkaninchenfells trat also im Verlauf
der Diskussion um den ökonomischen Wert des Fells des Rexkaninchens das
Pathologische als Gegenstand hervor. Im Gesamtarrangement der Dahlemer
experimentellen Forschung trat zugleich der pathologische Gegenstand an die
Seite des Pigments. Um dieses Arrangement der experimentellen Handlungen,
Apparate, Einrichtungen, Probleme und so weiter bezeichnen zu können, das
so zusagen mehrere Experimentalsysteme institutionell zusammenfasste, könnte von dem „Experimentalkomplex“ gesprochen werden, der sich neben den
Pigmenten um einen weiteren und neuen Gegenstand zu gruppieren begann.44
Für das Verständnis der Entwicklungen der Rexkaninchendiskussion ist es
entscheidend, darauf zu achten, wie sich im Verlauf des Diskussionsprozesses
das Ableitungsverhältnis zwischen der Krankhaftigkeit des Fells des Rexkaninchens und der Krankhaftigkeit der Mutation verkehrte und die degenerative Mutation ins Zentrum Nachtsheims Blick und Argument rückte. Während der Diskussion um das Rexfell fanden zwei entscheidende Transformationen statt, die
auf den erbpathologischen Gegenstand hinführten: 1. Das Fell wurde schlecht
bewertet, weil die Haarveränderungen nun als pathologische Veränderungen
galten. 2. Die Haarveränderungen galten als pathologisch, weil die zu Grunde
liegende Mutation „degenerativ“ war. Diese zweite Transformation ist die, die im
Folgenden vor allem interessiert.
Die Rexkanincheneuphorie war 1925 durch den besagten Artikel des elsässischen Professors ausgelöst worden, in dem dieser angab, dass das Rexkaninchen ein so weiches Fell habe, weil ihm Deckhaar (Grannen) fehlte. Die Identität des Rexkaninchens schien eindeutig und unveränderlich zu sein: „Tiere mit
Grannen verdienen den Namen „Rex“ nicht. [...] Seidenweich sind die Felle der
reinrassigen Tiere, ganz besonders weich und grannenfrei.“45 Da das Kaninchen sehr teuer verkauft wurde, wurde es zunächst nur schleppend in Zucht ge43
Vgl. Loudwin 1926; zum „Siegeszug“: Nachtsheim 1929c: 47; zum Veredelungsprozess, vgl.
Nachtsheim 1928d: 45-46; Nachtsheim 1931c: 70-71. Die hohen Erwartungen an das Rexkaninchen spiegeln sich im Anzeigenteil des Kaninchenzüchter wider oder zum Beispiel in dem
„Kaninchenprozeß“ um ein für 7000,- RM verkauftes Rexkaninchen (Amtsgerichtsrat Lutz
1930).
44
Ein Experimentalkomplex wäre in einem bestimmten institutionellen Rahmen (einem Institut)
die Gesamtheit der einzelnen „Experimentalsysteme“, welche jeweils eine Reihe einzelner und
auf eine bestimmte Frage bezogener Versuchsarrangements bezeichnet. Der Begriff stände gewissermaßen zwischen der Epistemologie des Experiments und der Soziologie der Institution.
Zum Begriff des Experimentalsystems, vgl. Rheinberger 1997: 27. „Experimentalkomplex“ ist
dann nicht gleichbedeutend mit „ensembles of experimental systems“ oder „experimental culture“, da damit überinstitutionelle und transdisziplinäre Beziehungen gemeint sind, die sich epistemologisch und nicht soziologisch definieren (ebd.: 137-38).
45
Linde 1927
81
nommen, und nur vereinzelt landeten die kostbaren Zuchttiere beim Kürschner.
Erst Anfang 1927 findet sich eine erste Anmerkung eines Kürschners im Kaninchenzüchter, in der er bemängelte, dass im Fell der Rexkaninchen immer noch
Grannen zu finden seien, die entweder weggezüchtet oder doch maschinell entfernt werden müssten.46 Kritik an der Dichte und Farbe des Fells schloss sich
von Seite der Industrie an.47 Während von Züchterseite der Verbesserungsbedarf teils eingestanden, teils aber in Anspruch genommen wurde, dass die Rexkaninchen der eigenen Zuchten ein günstigeres Bild abgäben oder sich zum
Günstigeren gewandelt hätten, ließ die Kürschnerfirma nun unbeeindruckt verlautbaren, dass sich das Rexfell nicht einmal für die maschinelle Verarbeitung
eigne, weil die Granne „zu weich“ sei, um maschinell entfernt zu werden.48 Und
die Kürschner beharrten ihrerseits darauf, dass sie über den richtigen Maßstab
für ein Rexkaninchenfell verfügten, während die Züchter sich täuschten.49
Aus den wenigen Tieren des Professors im Elsass, die vereinzelt in die Kaninchenzuchtkreise in Deutschland eingesickert waren, waren Hunderte Kreuzungsprodukte geworden. Die differenzielle Selbstreproduktion der neuen Kaninchensorte entzog sich der Eindeutigkeit der Benennung. Die Signifikation
war vervielfacht und ohne feste Referenz. Die eindeutige Artikulation von Signifikant und Signifikat verlor sich mit der immer neuen Produktion von Signifikanten im Kaninchenzüchter und den feinen Differenzen zwischen ihnen von
Ausgabe zu Ausgabe des Fachblattes. Die Identität der Felle blieb auch dann
umstritten, wenn alle Kombattanten sie auch gesehen und befühlt hatten. Der
Diskurs darüber, was das Rexkaninchen ist, verschob nicht nur permanent das
Bild von ihm, sondern brachte es damit zugleich auch immer erst wieder hervor.
Das Rexkaninchen entstand während der und durch die differenzielle Reproduktion der Bezeichnung im Diskurs über sein Fell und den Zusammenhang
von Fell und Konstitution. „Was ein typischer Castorrex ist, bestimmen erst wir,
dann kann der Herr Kürschnermeister kommen.“50 Der kontroverse Diskurs
über die hervorgebrochenen Differenzen war nur die Sichtbarmachung einer
unendlichen Benennungskette und des Umstands, dass es das Rexkaninchen
als präsentes Sein und selbstidentisches Ding „da draußen“ nicht gab.
Die Kürschnerfirma Berger & Friedrich war eine der drei großen Fellvermarktungsfirmen, die vertraglich als Rohfellabnehmer in dem aufeinander abgestimmten System aus Zuchtstandards und Ansprüchen der Weiterverarbei46
Vgl. Kolley 1927a; Kolley 1927b.
Vgl. Berger & Friedrich 1927c.
48
Schaaf 1927; vgl. Ulrich 1927 bzw. Berger & Friedrich 1927a.
49
Das Begutachtungsfell der Kürschner sei ein typisches Rexfell von einem einwandfreien
„Vollbluttier“, während andere dichtere Felle, die maschinell veredelt worden waren, nicht von
vollblütigen Rexen stammten, auch wenn die Züchter sie ‚als Rexfelle’ abgeliefert hatten (Berger & Friedrich 1927d; vgl. Berger & Friedrich 1927b). Züchter hatten nämlich eingewandt, dass
erstens der Farbe nach die begutachteten Felle nicht wirklich von einem Castorrexkaninchen
stammen konnten – „Castor“ stand für eine biberbraune Farbe –, dass, zweitens, die Dichte des
Fells unabhängig von der Grannenlänge vererbt werde und somit sehr wohl verbessert werden
könnte, und, drittens, stellten sie eine Verbindung zwischen den Felleigenschaften und dem oft
schlechten Gesundheitszustand der Tiere her. „In tödlicher Krankheit kann Grannenlosigkeit
nicht das durchschnittliche Normalbild aufzeigen“ (Mendera 1927; vgl. auch Prof. Kohler 1927;
Burkhardt 1928c: 146).
50
Gerichtssekretär a.D. Mendera 1927
47
82
tungsindustrie agierten.51 Wenn der leitende Kürschner der Firma nun gegen
das Fell der Rexkaninchen einwendete, dass die Grannen durch „den
krankhaften Zustand der Haareigenschaft in der Vererbungszelle“ verkümmert
seien,52 dann stand hinter diesem Urteil Nachtsheim, der soeben aus den USA
zurückgekehrt war, wo er mit Castle die Erbanalyse des Rexkaninchens
weitergeführt hatte. Das Ergebnis war entgegen den Annahmen vieler Züchter,
dass die Felleigenschaften völlig unabhängig von der Farbe der Tiere vererbt
wurden.53 Am Dahlemer Institut hatte Nachtsheim zudem mikroskopische
Haaruntersuchungen an Fellproben veranlasst. Das Ergebnis war, dass die
Grannen weder verschwunden noch reduziert waren, sondern dieser Eindruck
nur durch ihre Verkümmerung entstand; außerdem beeinträchtigte ihr
unregelmäßiger Bau – Verdickung der Haarspitze, Einschnürung des
Haarzylinders – die Festigkeit des Haars.54 Da Nachtsheims Kaninchen alle von
dem einen, mit Unterstützung des Landwirtschaftsministeriums erworbenen,
elsässischen Rammlers abstammten, reagierten die Züchter gelassen. Sie
behaupteten, dass sich jene Verkümmerung des Haars herauszüchten ließe
und kein Wesensbestandteil der Rexidentität sei.55 Für Nachtsheim war die
„abnorme Haarbeschaffenheit“ und die Schwächung des Haares hingegen der
identitäre Kern dieser Kaninchenrasse. Die konstituierende
Rasseneigentümlichkeit der neuen Kaninchenrasse und die „abnorme“
Haarbeschaffenheit gingen notwendig miteinander einher, und letztere war
damit hinreichend, um ein Rexfell zu identifizieren.
Nachdem die Haarbeschaffenheit derart neu definiert worden war, verschob
sich von hier aus der Rassenbegriff des Rexkaninchens abermals; denn die
„abnorme“ Eigentümlichkeit betraf nicht nur die Grannen, sondern auch die
Wollhaare, die Schnurrhaare und den Milchhaarwechsel; das „gesamte Haarkleid“ des Rexkaninchens zeigte „eine krankhafte Veränderung“, stellte Nachtsheim vernichtend fest.56 Vom Fell und seinen verschiedenen spezifischen Merkmalen glitt der Blick unbemerkt hinab zum Erbfaktor, als der „Rexfaktor“, der die
anfänglich mit dem weichen Fell identifiziert worden war und genetisch für die
Rexkaninchenrasse stand, jetzt in den Verdacht geriet, auch die „krankhaften“
Veränderungen zu bewirken. Das heißt, die verschiedenen Felleigenschaften
hatten Eines gemeinsam: Sie konvergierten im Rexfaktor.
Dabei blieb es aber nicht. Auch die häufig auftretende „schwächliche Konstitution“ der Rexkaninchen wurde zu einer Frage der Konstitution der über den
Rexfaktor definierten Rasse. Die Sorge um die gebrechliche Gesundheit hatte
sich schon nach der ersten Begutachtung der Rexkaninchen des elsässischen
Professors durch einen reiselustigen Züchter eingestellt. Die Rasse müsse erst
51
Vgl. Loudwin 1928: 209.
Loudwin & Berger & Friedrich 1927
53
Vgl. Nachtsheim 1928c: 266; dagegen der Züchter, vgl. Mendera 1927.
54
Vgl. Thiel 1928b: 50; Nachtsheim 1928c: 266.
55
Vgl. Maucher & Mette 1928a.
56
Nachtsheim 1929c: 8 (6-9) – Es sei bemerkt, dass Nachtsheim den in der mendelschen
Genetik üblichen formalistischen Rassebegriff anwendete, nach dem eine Rasse über ein oder
mehrere homozygot gezüchtete Erbfaktoren definiert wurde. Zum Beispiel übertrug E. Fischer
grundsätzlich diesen Begriff auch auf die menschliche Erblehre (vgl. Fischer 1922: 641).
52
83
noch widerstandsfähig und kräftig „gemacht“ werden.57 Während sich nun eine
deutsche Revanche und elsässische Heimholung abzeichnete, als andere deutsche Züchter aus der Einheit von deutschem und elsässischem „Züchterfleiß“
„fröhliche“ Kaninchen oder überhaupt „kaninchenähnliche“ Tiere aus dem „halbtoten“ französischen „Schund“ hervorgegangen sahen,58 vermehrten sich doch
die sorgenvollen Klagen und Ratschläge. Entscheidend war aber, dass aus der
Sicht der Züchter die allgemeine Schwäche der Rexkaninchen nur zufällig beim
ihnen vermehrt auftrat und sich durch Zucht von der Rasse abtrennen ließe.59
Nachtsheim ging der konstitutionellen Schwäche der Rexkaninchen messgenau nach. Die Jungensterblichkeit der Rexkaninchen erwies sich als doppelt so
hoch als normal, gehäuft waren Atemwegserkrankungen, Augenentzündungen
und rachitische Veränderungen.60 Da im Kreuzungsexperiment diese Erscheinungen anscheinend nicht zu mindern waren, bestätigte sich Nachtsheims Vermutung, dass es sich nicht um Inzuchterscheinungen handelte, sondern um
Folgen des Rexfaktors selbst. Abermals musste der „Stab über der neuen Rasse gebrochen“ werden und wurde dem „deutschen Züchterfleiß“ seine Grenzen
aufgezeigt.61
Alle diese Ergebnisse lenkten den Blick vom Fell auf den Rexfaktor, von dem
aus sich die vielfältigen, rassetypischen Veränderungen erklärten. Es war also
konsequent nun festzustellen, dass „wir es beim Rexkaninchen mit einer stark
degenerativen Mutation zu tun haben“.62 Die Konvergenz der Felleigenschaften
und der Konstitutionsschwächen im Rexfaktor erzwangen die semantische Genauigkeit, das Rexkaninchen nicht mit seinem Merkmal (weiches oder krankes
Fell), sondern nun mit seiner Mutation zu identifizieren.
Mit dem „degenerativen“ Rexfaktor wurde zugleich ein neues inneres Wirkprinzip der Pathologie eingeführt: die mutative Veränderung des wildtypischen
Rexfaktors. Dieses genetische Wirkprinzip fungierte als Gelenk für die Verschiebung in der Rexkaninchenidentität. Die profunden Krankheiten (Rachitis)
ließen keinen Zweifel daran, dass der Rexfaktor „degenerativ“ war. Und die
57
Orphel 1925. Der Professor hingegen, dessen Markenrechte von einem französischen Abbé
angefochten wurden, weil er als Erster, nämlich schon 1919, das Rexkaninchen „fixiert“ habe,
hielt sich zugute, dass er die „gänzlich rachitisch und degeneriert“ daherkommenden Tiere des
Abbé unter viel Mühe zu einem gesunden und zuchtfähigen Stamm gezüchtet habe (Prof. E.
Kohler 1926: 903, Thumenau i. Elsass; vgl. auch Abbé Gillet 1926, Pfarrer von Coulongé
(Sarthe)). Kohler hielt Gillet insbesondere vor, dass er selbst nichts „herausgezüchtet“ habe,
weil das Castorrexkaninchen zunächst „bloß eine Mutation, ein Zufallsprodukt, oder ein Spiel
der Natur“ gewesen sei.
58
Vgl. Schaaf 1927; elsaß-lothringischen Preisrichter Kleinhaus & Orphel 1927: 95; Kohler
1926: 903.
59
Geklagt wurde über einen krummen Rücken, eine schiefe Blume, weiße Krallen, Röcheln und
immer wieder über krumme Beine und Schnupfen. Einigkeit bestand bald darüber, dass die
Rexkaninchen mehr oder weniger durch Inzucht der Degeneration anheim gefallen waren. Gemeinhin wurde deshalb geraten, die „degenerierte Rasse“ durch Blutauffrischung, „scharfe Auslese“ oder auch bessere Fütterung zu verbessern (Will 1927a: 740; vgl. Ulrich 1927; Burkhardt
1928c: 147; von Otto 1928: 473). Zugleich würde dadurch das Fell verbessert, da das züchterische Kalkül die Annahme beinhaltete, dass sich die „degenerativen“ Veränderungen und
unüberlegten Zuchtziele – zum Beispiel Zucht auf Größe – negativ auf die Felleigenschaften
auswirkten (Mendera 1927; vgl. Maucher & Mette 1928b: 34)
60
Vgl. Nachtsheim 1929c: 37 u. 45.
61
Nachtsheim 1928c: 266
62
Nachtsheim 1931c: 75
84
Haarverkümmerungen, die nicht ohne weiteres als „krankhafte“ Erscheinungen
bezeichnet werden konnten, waren eindeutig „krankhaft“, insofern sie durch
einen „degenerativen“ Erbfaktor bedingt wurden. Die Verkümmerung und Pathologie verschmolzen umso mehr, als Nachtsheim andere degenerative Symptome als eine Folgewirkung der Haarverkümmerung ansah.63 Die Pathologie
bzw. die Gesundheit wurden damit zum Bezugspunkt der Beurteilung der neuen
Kaninchenrasse und ihres Fells.64 Obwohl Nachtsheim feststellte, dass bei günstigen Haltungsbedingungen die Kaninchen genauso vital heranwuchsen wie
andere Rassen, kam für ihn auf Grund seiner wesensmäßigen Pathologisierung
das Rexkaninchen als Wirtschaftskaninchen nicht mehr in Frage.65
2.1.4 ... und im Experimentalsystem
Dieser Kurzschluss von Wirtschaftlichkeit, Pathologie und Degeneration korrespondierte mit der Abwertung des Erfahrungswissens und des bastelnden Ausprobierens zugunsten der – ihrem Anspruch nach – systematischen instrumentellen Prüfung im Labor, die durch den Blick durchs Mikroskop den objektivierenden Blick bis in die „Vererbungszelle“66 lenkte: „Wer aber auf Grund langer
Untersuchungen weiß, daß die Besonderheit des Rexkaninchens in einer krankhaften Entwicklung des gesamten Haarkleides besteht, [...], für den ist die Frage, welches Fell haltbarer ist, das Rexfell oder das normalhaarige Fell, einfach
nicht mehr diskutabel.“67
Es kann nicht unterschieden werden, ob das Laborwissen oder der ökonomische Diskurs um den Fellwert Nachtsheims „anfänglichen Optimismus“68 in eine
pathologisierende Richtung lenkte. Eine eindeutige Entscheidung kann vielleicht
auch nicht erwartet werden, wanderte Nachtsheim doch zwischen Experimentalsystem und dem Züchter-, Kürschner- und Industriediskurs (ZKI-Diskurs) hinund her. Die schnelle Repräsentation des Kaninchenfells als etwas Pathologisches lässt sich aber angemessener durch die Einbindung ihrer Produktion in
den problematischen Kontext und einen bestimmten wissenschaftlichen Stil erklären. Die Spuren, die im Labor dem Rexkaninchen apparativ und experimentell entlockt wurden, waren der Gegenstand ökonomischer Befragungen. In der
Eingliederung der Spuren aus dem Labor in die fortwährende Kette von Re-präsentationen des Rexkaninchens im ZKI-Diskurs begann sich die Darstellung der
Kanincheneigenschaften, zu einer pathologischen Struktur zu verdichten. Die
Verkörperung eines pathologischen Objekts als Komplex aus Haaren, Erbfaktor, krummen Beinen und Schnupfen war eingespannt zwischen Nachtsheims
Positionierung im ZKI-Diskurs und der Darstellung des Objekts in der mendelschen Experimentalkultur. Der spezielle experimentelle Stil führte ‚automatisch’
63
Vgl. Nachtsheim 1929c: 42-45.
Vgl. das Eingangszitat auf Seite 72.
65
Oder sollte ein Kürschner etwa „ein Fell mit durchaus krankem Haar besser verwenden können als ein veredeltes mit gesundem Haar“, fragte Nachtsheim selbstbeantwortend (Nachtsheim 1929c: 42-45). Als neues Zuchtziel empfahl er nun, ein „derb-griffiges“, „möglichst gesundes Haarkleid“ aus dem Rex weiter zu züchten (Nachtsheim 1931c: 77; vgl. Nachtsheim 1928i;
Nachtsheim 1931d: 215; Nachtsheim 1931c: 77; Nachtsheim 1936d: 99).
66
Loudwin & Berger & Friedrich 1927
67
Nachtsheim 1929e: 326; vgl. Nachtsheim 1933d: 770.
68
Nachtsheim 1928c: 266
64
85
zu einer Verknüpfung der konstitutionellen Eigenschaften und der Felleigenschaften im Rasse-konstituierenden Gen.69
Es war dieses patho-ökonomisch ausgerichtete Experimentalsystem, das
dann schließlich den pathologischen Gegenstand als einen epistemischen Gegenstand im eigentlichen Sinne hervorbrachte. Seit dem Jahr 1927 traten in
Nachtsheims Kaninchenbestand gehäuft Lähmungserscheinungen an den Hinterbeinen der Tiere auf, deren Wesen zunächst im Dunklen lag.70 Erst als
Nachtsheim die Herkunft der Kaninchen in die Form einer Liste brachte, stellte
er fest, dass alle diese Tiere aus Versuchsserien zur Kurzhaarigkeit stammten
und alle auf den importierten Rexrammler 744 zurückgingen. Damit „lag natürlich die Vermutung nahe“, dass die Lähmungen erblich waren und zum Charakter der Rexrasse gehörten.71 „Natürlich“ war diese Vermutung, weil sie sich aus
dem Arrangement der mendelschen Experimentalordnung ergab. Die Versuchsserien aus Kreuzung, Rückkreuzung und Inzuchtpaarung organisierten sich in
einem Dokumentationssystem der Abstammungsverhältnisse und des Verhaltens der mendelschen Merkmale.72 Die Darstellung der Tiere und ihrer Fortpflanzung folgte ihrer operativen Anordnung in der mendelschen Experimentalkultur. Die Lähmung der Hinterbeine, die zunächst als arbiträres Ereignis keine
Beachtung gefunden hatte, konnten durch dieses Arrangement als etwas Erbliches repräsentiert werden und durch die Überschneidung mit dem patho-ökonomischen Experimentalsystem des Rexkaninchens zum Gegenstand werden.
Die Überschneidung der Lähmungserscheinung mit den Eigenschaften des
Rexfells wirkte auf die Wahrnehmung des Rexkaninchens zurück. Seine Repräsentation wurde differenziell reproduziert und mit einer Frage oder Lücke versehen. Als Nachtsheim feststellte, dass die Erblichkeit der Lähmung nicht mit dem
Rexfaktor zusammenfiel, blieb als unvorhergesehenes Ereignis die Lähmung
als eigener Gegenstand zurück.73 1929 wurde der Rexrammler 744 an das Pa69
Zu dieser der mendelschen Genetik eigenen Neuordnung und Zusammenfassung von Zeichen und Symptomen, vgl. 2.2.3.
70
An der Berliner Tierärztlichen Hochschule wurde eine Infektion ausgeschlossen; ein Tierpfleger geriet – ungerechtfertigt – in den Verdacht, durch unsachgemäße Behandlung den Tieren
Verletzungen zugefügt zu haben; und so weiter (vgl. Nachtsheim 1931f: 254).
71
Nachtsheim 1931f: 254+58
72
Nachtsheim hatte für diesen Zweck eigens eine standardisierte Form der Kennzeichnung der
Tiere und der Zuchtbuchführung entworfen. In der Kennzeichnung – durch Tätowierung an den
Ohren – wurden bereits die wichtigsten Abstammungsdaten verschlüsselt (vgl. Nachtsheim
1928h: 310-11). Zentrale Felder des Zuchtblatt, das je für ein Kaninchen (und eine Nummer)
ausgestellt wurde, waren ein schematisierter Stammbaum, in dem die Erbformeln und eindeutigen Kennzeichnungsziffern der Elterngenerationen eingetragen wurden, die vermutete Erbformel des betreffenden Kaninchens und die Dokumentation der interessierenden Merkmale. In
einem weiteren Blatt wurden die Paarungen und Verweise auf die Jungen dokumentiert (vgl.
ebd.: 308-09). Diese Zuchtformulare, von Nachtsheim entworfen, sollten allgemein gebräuchlich
werden und waren als Form Nr. 701 (Kaninchenzuchtblatt für wissenschaftliche Versuche) beim
Deutschen Landwirtschaftlichen Formularverlag G.m.b.H., Berlin-Halensee, erhältlich (vgl. zum
Beispiel die Zuchtbücher Nachtsheims: Zuchtbuch XVIII, in: IGMB, S 909; AMPG, Abt. III, Rep.
1a, Nr. 136)
73
Vgl. Nachtsheim 1931f: 256. – Die Unabhängigkeit beider Erbfaktoren diente Nachtsheim als
Erklärung dafür, dass einzelnen Züchtern gelang, die Krankheitsanfälligkeit der Rexkaninchen
zu mindern. Nach dieser mendelschen Lesart konnten sie die Rasse verbessern, indem sie andere, nicht die Rasse konstituierende „degenerativen Erbfaktoren“ züchterisch von ihr trennten
(Nachtsheim 1931c: 76). – In späteren Untersuchungen ergab sich allerdings doch ein Effekt
86
thologische Institut der Heilanstalten Berlin-Buch überwiesen. Nachdem er
„etwa ein Jahr lang in der Irrenanstalt gewesen war, kam er, ohne daß sich sein
Zustand wesentlich verschlimmert hatte“, zurück nach Dahlem.74 Dennoch hatte
sich Entscheidendes geändert: Das Kaninchen hatte jetzt eine Diagnose und
kam zurück, um gezielt, orientiert an dieser Diagnose, weitergezüchtet zu werden. Der Bucher Pathologe Berthold Ostertag war überzeugt, dass es sich bei
der Lähmung um ein dysraphisches und neurodegeneratives Syndrom handelte, das in der Medizin als Syringomyelie bezeichnet wurde. Er stellte sogleich
die Frage, ob beides völlig analog zu einander sei, und, wenn ja, ob dann die
bislang unbekannte Ätiologie der Syringomyelie eine Aufklärung in der Vererbung finden würde.75 Dies war der Ausgangspunkt einer Zusammenarbeit zwischen Ostertag und Nachtsheim, in deren Verlauf weitere erbliche Kaninchenkrankheiten, die auf Vergleichbarkeit mit Krankheiten des Menschen untersucht
wurden, hinzukamen. Dieses Auftauchen eines neuen Gegenstandes und eines
neuen Problems sowie die Beförderung eines neuen Forschungsinteresses und
-programms, das in den Kapiteln 6 und 7 behandelt wird, war, epistemologisch
gesprochen, Ergebnis der differenziellen Reproduktion ‚des’ Rexkaninchens.76
Nachtsheims Aufgabe in dem neuen Forschungsprogramm war die genetische Analyse, die wie im Fall der vom Rexkaninchen abgespaltenen Syringomyelie äußerst kompliziert sein konnte, da die Manifestation und das klinische
Bild der Krankheit äußerst variabel waren.77 Dies zwang Nachtsheim dazu, Umwelteinflüsse, Haupt- und Nebengene und genetisches Milieu in seinem experimentellen Arrangement zu berücksichtigen. Das Experimentalsystem ordnete
sich jetzt nicht mehr nach der Eignung eines Merkmals – Pigment – für eine
mendelsche Analyse, sondern die genetische Analyse musste sich fügen, um
dem pathologischen Gegenstand zu folgen. Dies führte ab einem bestimmten
Punkt dazu, dass die Verbindung mit anderen Experimentalkulturen gesucht
werden musste. Nachtsheim schlug deshalb vor, als die Genanalyse der Syringomyelie an einem toten Punkt angelangt war, den Ort der Primärwirkung des
Gens zu suchen.78 Dies bedeutete, das mendelsche Experimentalsystem nach
Embryologie und Entwicklungsphysiologie hin zu überschreiten. Wie in 7.1 zu
sehen sein wird, war die Verbindung von Genetik und Entwicklungsphysiologie
keine originäre Idee Nachtsheims, sondern eine Strategie, die zeitgleich in ähnlichen Experimentalsystemen mit ähnlicher Problemstellung und ähnlichem For-
des Rexfaktors auf die Nervenkrankheit, den Nachtsheim als indirekte Wirkung des Rexfaktors
auf Manifestation und Verlauf der Erkrankung interpretierte (vgl. Nachtsheim 1939b: 128).
74
Nachtsheim 1933d: 770
75
Vgl. Ostertag 1930a: 166 u. 173-74; Nachtsheim 1934a: Seite 2.
76
Wie gesehen, war das Rexkaninchen als Kaninchenrasse zunächst ein fragiler ‚Gegenstand’,
der sich erst in den wiederholenden Laboroperationen zu stabilisieren begann – nicht aber als
die Entdeckung einer vorgängigen Entität, sondern in seiner Veränderung, die mit seiner Dislokation und der Abspaltung scheinbarer Identitäten verbunden war.
77
Zu polymerer Vererbung u. Einfluss von Milieufaktoren, vgl. Nachtsheim 1936b: 744-45; zu
Einfluss des „genotypischen Milieus“, vgl. Nachtsheim 1939b: 128; zur Variabilität des Krankheitsbildes, vgl. ebd.: 128-29; Nachtsheim 1942b: 80-81. – Nachtsheim stellte schließlich –
nach zehn Jahren – fest, dass die Beteiligung verschiedenster exogener und endogener Faktoren die Suche nach mendelschen Faktoren aussichtslos mache (vgl. Nachtsheim 1939b: 129).
78
Vgl. Nachtsheim 1942b: 81.
87
schungsinteresse (vergleichende Genetik zur Darstellung (komplexer) menschlicher Krankheiten als mendelsche Erbkrankheiten) hervorgebracht wurde.79
2.2
Pathologie und Mendelgenetik
„Durch die Erbanlagen wird nur eindeutig festgelegt, wie sie [die Organismen] auf bestimmte Bedingungen reagieren können, ihre Reaktionsnorm. In den Vererbungs- und
den Modifikationserscheinungen liegen die biologischen Grundlagen der Erziehung der
80
Einzelmenschen und der Völker.“
In diesem Abschnitt soll nun der Blick vom Experimentalsystem auf den konzeptuellen Diskurs gelenkt werden, an dem Nachtsheim partizipierte und vor
dessen Hintergrund sich die Verbindung von Genetik und Pathologie in Dahlem
ereignete. Es wird deutlich, wie durch bestimmte Denkströmungen und unter
der Konjunktur von neuen Gegenständen in der Genetik – den Mutationen –
genetische und medizinische Probleme nahe aneinander geführt wurden und
wie eine besondere Nähe der Genetik zu eugenischen Themen entstand. Die
konzeptuelle Verflechtung von Medizin und Genetik kann hier jedoch nur explorativ erfolgen und durch vereinzelte Beispiele plausibel gemacht werden. Die
Anbindung dieser leitenden Denkansätze in einem gesellschaftstheoretischen
Rahmen, wie sie sich anbietet, kann ebenfalls nur thesenhaft erfolgen. Vorbehaltlich also dieser realhistorischen Bewertung jener konzeptuellen Verknüpfungen scheint mir der aufzuzeigende Zusammenhang eines veränderten Verständnisses vom Verhältnis zwischen Pathologischem und Normalem in der
Medizin und innovativen Konzepten der Genwirkung in der Genetik von großer
Bedeutung für die Annäherung von Medizin, menschlicher Erblehre und Genetik
gewesen zu sein.
Kurz gesagt, gab es in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhundert sowohl
in der Medizin wie in der Genetik jeweils die Tendenz, Dichotomien in Kontinuitäten aufzuheben. In der Medizin betraf dies die Gegenüberstellung von Pathologischem und Gesundem, in der Genetik die von Vererbung und Umweltprägung. Beides war von Bedeutung für das methodisch-konzeptuelle Selbstbewusstsein der Humangenetiker. Von ihnen wurde die nicht selbstverständliche
Auffassung vertreten, dass sowohl normale als auch pathologische Erscheinungen einer genetischen Bearbeitung zugänglich seien. Diese Behauptung erhielt
mit der Annahme, dass es keinen Wesensunterschied zwischen beiden Bereichen gab, eine substanzielle Begründung. In ähnlicher Weise konnte durch die
Auflösung der strikten Trennung von Umwelt und Vererbung in der Genetik der
humangenetische Zuständigkeitsanspruch auf solche Merkmale ausgedehnt
werden, die sich aus der mendelschen Sicht bisher als variabel und unregelmäßig und deshalb unzugänglich dargestellt hatten.
Beide Kontinuitätenräume wurden darüber hinaus in der Genetik ineinander
verschränkt, indem die Evolutionstheorie und ein genetisch interpretierter Begriff der Anpassung als vermittelndes Glied dazwischen geschaltet wurden. Die
79
Zu den Fragen der genetischen Entwicklungsphysiologie, siehe 4.2 u. 7.1 sowie Fußn. 40.
o. D. [ca. 1930-33], Kühn: Hauptaufgaben der Lebensforschung, hands. Mans. (AMPG, Abt.
III, Rep. 5, Nr. 15)
80
88
Genetik zog damit das Interesse der Humangenetiker auf sich und provozierte
das Interesse an einem umfassenden Projekt, nämlich dem, Vererbung und pathologische Erscheinungen miteinander zu verbinden. Unter den Genetikern
wiederum blieb die Nähe zu Themen der Pathologie, die sich aus ihren neuen
Beschäftigungen ergaben, nicht unbemerkt. Diese neuen Beschäftigungen waren neben der Entwicklung von Konzeptionen, die variable Erscheinungen der
Genwirkung integrieren konnten, die Untersuchung von Mutationen. Vom Ende
der zwanziger Jahre an rückten Genmutationen zunehmend in den Fokus der
experimentellen Arbeit der Genetiker. „Höherer Mendelismus“ und Mutationsgenetik bargen ein umwälzendes Potenzial für die Anwendung der Genetik auf
die menschliche Erblehre und die Medizin. Sowohl das eugenische Theorem
von der fortschreitenden Degeneration des menschlichen „Erbguts“ als auch die
Lehre von den Krankheitsursachen (Ätiologie) und die Ordnung der Krankheiten
(Nosologie) standen in ihrer bisherigen Form in Frage bzw. in der Gefahr subversiv auf einer genetischen Grundlage umgeschrieben zu werden.
2.2.1 Bruch in der Episteme des Pathologischen: Prinzip von Broussais
Es lassen sich Anhaltspunkte dafür finden, dass sich in der Genetik eine neue
Weise, das Pathologische zu denken, ausbreitete, zumal diese sich bequem mit
einer neuen Konzeptualisierung der Wirkweise der Gene und damit dem Kardinalproblem ihrer Bedeutung in der Ausprägung eines Organismus kurzschließen ließ. Der krankheitstheoretische Diskurs und die genetische Vorstellung
von der Rolle der Vererbung gegenüber dem Ganzen des Organismus und der
Umweltwirkung überschnitten sich in zwei in einander übersetzbaren Konzepten: das der Anpassungsfähigkeit und das der Reaktionsnorm. Doch zunächst
soll der neue Begriff vom Wesen der Krankheit und dem Krankhaften vorgestellt
werden.
Die Neuorientierung des Krankheitsbegriffs stellte die Wesenhaftigkeit von
Krankheit in Frage. Zur jener ontologischen Vorstellung trat die funktionelle Position zunehmend in Konkurrenz. Während in der ontologischen Betrachtungsweise Krankheit entweder mit den Symptomen selbst, mit spezifischen Kausalitäten (zum Beispiel Krankheitserregern) oder bestimmten veränderten Teilen
des Körpers identifiziert wurde, wurde sie nun als eine Abweichung vom normalen physiologischen Funktionieren verstanden.81 Das funktionelle Konzept, das
nicht zufällig zeitlich mit dem Aufstieg der Physiologie zusammenfiel,82 bedeutete, nicht mehr abstrakte oder materielle Dinge, die für sich stehen konnten, zu
suchen, sondern Veränderungen der Funktion. Diese ideengeschichtliche Entgegensetzung kann auch als die Neuübersetzung der Dichotomie von Krankheit
und Gesundheit in einen Kontinuitätsraum des Normalen und Pathologischen
beschrieben werden. Canguilhem setzt mit die Kontinuierung der qualitativen
Dichotomien mit dem nach dem französischen Arzt benannten Prinzip von
Broussais an, das die Basis eines quantifizierten und später statistischen Normalitätsdenkens im 19. Jahrhundert gewesen sei.83 Diesem Prinzip zu Folge
81
Vgl. Strasser & Fantini 1998: 192-93.
Vgl. Hess 1999: 270.
83
Vgl. Canguilhem 1991: 54-63. Der französische Arzt François-Joseph-Victor Broussais formulierte seine Theorie in: De l’irritation et de la folie, Paris 1828. – Diskursgeschichtlich ist das
82
89
waren die Krankheitsphänomene substanziell mit denen der Gesundheit
identisch und unterschieden sich lediglich der Intensität nach von ihnen.84
In Deutschland vertrat der Mediziner und Humangenetiker Fritz Lenz am
klarsten diese Position und scheint von besonderem Einfluss im disziplinären
Übergangsfeld von Genetik und Medizin gewesen zu sein. Im dritten Teil des
verbreiteten genetisch-rassenhygienischen Lehrbuchs, dem Baur-Fischer-Lenz,
in dem versucht wurde, die menschliche Erb- und Rassenlehre sowie die Eugenik ganz allein im konzeptuellen Rahmen der mendelschen Erblehre anzugehen, formulierte Lenz die Grundsätze einer Theorie der Krankheitslehre. Er
führte aus, dass „zwischen Gesundheit und Krankheit kein biologischer Wesenunterschied“ bestehe.85 Gleiches gelte auch für Erbkrankheiten, also Krankheiten, bei deren Zustandekommen „krankhafte Erbanlagen“ beteiligt waren. Dies
fand sein perfektes Echo beim Koautor und mendelschen Anthropologen Eugen
Fischer, nach dem die „krankhaften Erbanlagen des Menschen“ „auf allen Gebieten ohne scharfe Unterscheidungsmöglichkeit in gesunde“ übergingen.86
Es überrascht zunächst, dass sich in dieser ‚Broussaischen Erbpathologie’
das diskrete Prinzip der Mendelgenetik mit dem Kontinuitätsprinzip verbinden
ließ. Die partikularen Erbfaktoren ließen eher eine Ontologisierung des Krankheitsverständnisses erwarten, da die Identifizierung einzelner Mutationen und
die Unterscheidung von materiell diskreten Allelen desselben Gens eine klare
Trennung möglich machte. Diese Erwartung verkennt aber, dass das mutative
„diskursive Ereignis“ des Normalismus an Auguste Comte gekoppelt, der seine „Soziologie“ in
strikter Analogie zur Physiologie dachte (Link 1999: 209+16). Die Kontinuierung von Diskontinuitäten ist eine Basisoperation in der Ausprägung normalistischer Dispositive (vgl. ebd.
323ff.). Dieses Prinzip wurde zur systematischen Grundlage der Pathologie, welche dadurch
dem Ganzen der Biologie untergeordnet werden konnte, wie Auguste Comte 1851 kommentierte (vgl. Comte: Système politique positive, Bd. 1, Paris 1851, zit. in Schuller 1999: 127).
In einer diskursgeschichtlichen Betrachtungsweise, die mit Comte beginnend, über die medizinische Variante mit dem Arzt Broussais und dem Physiologen Claude Bernard zur Begründung
der statistischen Methoden durch Adolphe Quételet und Francis Galton bis hin zur völligen Expansion im 20. Jahrhundert führt, stellt sich der im Grunde ahistorische Normalitätsbegriff Canguilhems als Kristallisationspunkt eines gesellschaftsstrukturierenden Umbruchs in der Episteme der wahrheitskonstituierenden Spezialdiskurse (und industrialistischer Dispositive) dar, auf
den bis heute gesellschaftliche Machtverhältnisse zurückbezogen werden können (vgl. Link
1999: 15, 81, 126, 192 u. 202). In einer Diskursgeschichte kann in Anschluss an Foucault über
die ideengeschichtliche Beengung hinaus die enge Kopplung von im engeren Sinne diskursiven
(etwa semantischen) Komplexen und operativen Dispositiven (Link nennt als Musterbeispiel die
Gaußkurve und ihren operativen Einsatz bei Intelligenztests usw.) verfolgt werden (vgl. ebd.:
185 u. 187-88).
84
In Bezug auf diese historisch-spezifische Formation muss im Blick behalten werden, dass die
Spezialdiskurse – neben Soziologie Meteorologie, Naturgeschichte und Medizin –, in denen der
epistemologische Umbruch sich zuerst manifestierte, mit anderen gesellschaftlichen Bereichen
in Austausch (Interdiskurs) traten. Der biometrische Normalismus wuchs sich zur Denormalisierungsangst aus und bildete derart die Rationalisierungsgrundlage von Degenerationsvorstellungen und der aufkeimenden Eugenik (vgl. Link 1999: 236+39). Normalität wurde so zum Bindeglied zwischen Biologie und Sozialwissenschaften (vgl. Schuller 1999: 125). Die Verbindung zu
Vererbungstheorien stützte sich zugleich auf den medizinischen Diskurs.
85
Hier und nachfolgend: Lenz 1923: 161
86
Fischer 1922: 641+44; Fischer 1930e: 130. Die Sensation, auf die Fischer dabei abzielte, so
muss angemerkt werden, war in diesem Moment nicht die Kontinuierung, sondern die Behauptung, dass das gesamte Spektrum des Pathologischen prinzipiell auch in den Zuständigkeitsbereich der mendelschen Genetik falle. Mehrheitlich wurde Anfang der zwanziger Jahre dagegen vor allem in der Medizin die Auffassung vertreten, dass die mendelschen Erbregeln nur auf
äußerliche und ‚unwichtige’ Merkmale zutrafen.
90
Ereignis selbst nicht per se als pathologisches Ereignis verstanden werden
konnte. Dies ergab sich aus seiner evolutionstheoretischen Deutung. Die Mutationen standen zwar erst am Anfang einer Karriere, in der sie zum zentralen
Gegenstand der synthetischen Verbindung aus Genetik und Evolutionstheorie
wurden. Der evolutionstheoretische Bezug bildete aber jetzt schon die Grundlage für ein allgemeines entontologisiertes und auf die Erbpathologie ausgedehntes Verständnis von Krankheit. Lenz fasste Gesundheit grundsätzlich als den
„Zustande voller Anpassung“ auf.87 Anpassung wiederum war ein funktioneller
Begriff, der die Leistungsfähigkeit eines Organismus in kontinuierlicher Beziehung zur Umwelt auffasste. „Den Zustand eines Lebewesens, das an den Grenzen seiner Anpassungsfähigkeit lebt, bezeichnen wir als krank. Es gibt also alle
Übergänge zwischen voller Gesundheit und schwerster Krankheit.“ Mit dieser
Anbindung an die relative Funktionalität sah Lenz seinen Krankheitsbegriff in
der allgemeinen Biologie verwurzelt.88
In der Medizin war das Anpassungskonzept durch Lenz’ Lehrer, Ludwig
Aschoff, vertreten. Aschoff verfolgte seit 1906 auf dem Freiburger Lehrstuhl für
Pathologie den Ausbau der Pathologie als funktionelle Wissenschaft, die einerseits die Strukturfixierung der morphologischen Pathologie integrieren andererseits als pathologische Physiologie entwickelt werden sollte.89 Ein funktioneller
Begriff von Krankheit war in der Pathologie gegen Ende des 19. Jahrhundert
formuliert worden, zu dem sich bald „Leistungsfähigkeit“ und „Anpassungsfähigkeit“ gesellten, sodass Aschoff den Organismus als gesund verstand, der „mit
genügender, d.h. die biologische Existenz sichernder Anpassungsfähigkeit“
ausgestattet war.90 Die Begriffe der Leistungs- und Anpassungsfähigkeit, die
sich mit dem der Konstitution verbunden fanden, konnten insbesondere in Diskursen der Sozialhygiene und Psychiatrie Eingang finden und breiteten sich in
den Jahren der Weimarer Republik aus.91 Da Aschoff als Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene die Pathologie als „Hüterin der Erbmasse“ verstand, verwundert es nicht, dass er völlige Zustimmung bei seinem Freiburger Kollegen Eugen Fischer fand.92 Der eugenische und der medizinische
87
Hier und nachfolgend: Lenz 1936: 323
Vgl. Lenz 1927c: 175.
89
Vgl. Prüll 1997: 334.
90
A. Fischer 1932: 66. Fischer bezieht sich auf den Freiburger Pathologen E. Ziegler (1898)
bzw. den Berliner Pathologen Joh. Orth (1904) u. Aschoff (Berl. Klin. Wschr., Nr.3, 1917).
91
Vgl. zum Beispiel eine Diskussion unter Hygienikern und Ärzten in der Badischen Gesellschaft für soziale Hygiene (A. Fischer 1932 u. in Anschluss: 70-79; Maitra 2001: 99-101). Im Zuge des 1. Weltkriegs wurde im psychiatrischen Diskurs ‚normales’ Verhalten an seine Funktionstüchtigkeit gekoppelt (vgl. Kaufmann 1999: 137-38). Vererbung und ökonomische Betrachtungen wurden in der Weimarer Republik untrennbare Bestandteile der Gesundheitsdiskurse
(vgl. Maitra 2001: 91-92). Der Zoologe Valentin Haecker stellte ebenfalls Krankheit als eine
„abnorme Empfänglichkeit für bestimmte Reize“ vor, Ferdinand Hueppe sprach von der „Widerstandskraft“ (Haecker zit. n. ebd.: 64 bzw. Hueppe zit. n. ebd.: 70).
92
6.7.1932, Aschoff an E. Fischer zit. n. Prüll 1997: 349 u. vgl. 343. – Mit der Frage nach der
Anpassungsfähigkeit war nach der medizinischen Seite die Frage verbunden, ob Krankheit
außer als Prozess auch als Zustand (Konstitution u.Ä.) gefasst werden könnte (vgl. Lenz 1923:
160). – Fritz Lenz nahm für sich in Anspruch vor und zunächst gegen seinen Lehrer Aschoff
den Anpassungsbegriff von Krankheit (in: Über die krankhaften Erbanlagen des Mannes, 1912:
95) entwickelt zu haben (vgl. Lenz 1936: 324). Von anderer Seite hieß es dagegen, Schallmayer (in: Vererbung und Auslese, 2. Aufl., Jena 1910: 41) und Aschoff in seinen Vorlesungen
88
91
Kontext scheinen kaum noch trennbar in der interdiskursiven Vermittlung des
Krankheitsbegriffs an die Genetik.93
2.2.2 Das Pathologische zwischen Medizin und Genetik: Variabilität und
Mutationen (die mutationsgenetische Episteme)
Die mendelsche Genetik trat Ende der zwanziger Jahre in eine Umbruchsphase
ein, in deren Verlauf sich die mutative Veränderung von Genen als ein wichtiges Problem und Instrument für die Weiterentwicklung der Genetik herausstellte. Neben neuen Konzepten, die das Verhältnis von Gen und Organismus dynamischer auffassten, wurden gänzlich neue Forschungsfragen erschlossen und
es bahnte sich eine Synthese von Genetik und Evolutionstheorie an. Während
auf Einzelheiten in Kapitel 4 eingegangen wird, soll hier bereits so viel vorweggenommen werden, um das Verhältnis der Genetik zum Pathologischem zu
charakterisieren zu können, wie es sich innerhalb jener avancierten Strömung
der Genetik, deren Ausstrahlungskraft in den dreißiger Jahren auch auf die
Humangenetik enorm war, ergab.
Der Drosophilagenetiker Nikolaj Timoféeff-Ressovsky entwickelte als einer
der Ersten in der deutschen Genetik die Anpassung als einen relativen Begriff.
Er verband ihn zugleich mit dem Broussaisschen Krankheitsprinzip und mit
einer neuen Konzeption des Zusammenwirkens von Gen, Organismus und Umwelt. Krankheiten seien nichts anderes als eine Form von Variation, der Tiere
und Pflanzen unterlagen.94 Diese Variationen der Organismen seien in unterschiedlicher Weise an verschiedene Umwelten angepasst, das heißt, die Vitalität eines Organismus war immer nur relativ zu verstehen.95 „Vitalität“ war gegen
Anfang der dreißiger Jahre ein wichtiger konzeptueller und operativer Begriff in
der Genetik.96 Sie verschaltete Evolution mit Genetik, denn Mutationen konnten
die „relative Vitalität“ des Organismus herab- oder heraufsetzen; Mutationen er(gedruckt: Berl. Klin. Wschr., Nr.3, 1917) hätten die Auffassung entwickelt, Lenz sie dann übernommen (zum Beispiel Lenz u. Jarotzky, MMW, Nr. 39, 1924) (vgl. Fischer 1932: 66-67).
93
Ironischerweise schlich sich auf diese Weise in den Dunstkreis der eugenischen Konzeptualisierung eine Relativierung und Flexibilisierung des Normbegriffs selbst ein. In der funktionellen
Auffassung, in der Krankheit im Gegensatz zur Norm definiert wurde, wurde die Norm zunächst
noch idealtypisch, dann aber vor allem an statistische Mehrheiten gebunden verstanden (vgl.
Strasser & Fantini 1998: 193; Link 1999: 165). Fischer erklärte eigens in konsequent anti-essentialistischer Lesart, dass auch dieses statistische Mittel nur der Anschein von etwas Vorhandenem sei. Und Lenz erklärte, dass die „Lebenstüchtigkeit“ als Gradmesser der Gesundheit
nicht erlaube, einen „normalen Typ“ oder eine „normale Variationsbreite“ zu bestimmen (Lenz
1936: 324). Die Norm sei eine Sache der Definition. Die Norm stand an der Schnittstelle zwischen dem wissenschaftlichen Diskurs, in dem zunächst als Innovation im 19. Jahrhundert
‚Normalität’ von ‚Normativität’ getrennt wurde, und anderen Diskursen. Normative Bestimmungen wurden schnell wieder eingeführt. Die Aufhebung von Dichotomien schloss faktisch die
Entgegensetzung von Polaritäten nicht aus. Die statistisch-biologische Norm(alität) wurde auf
Normativität zurückgewendet: Das Gesunde war das Normale und Erwünschte. (Vgl. Schuller
1999 mit Verweis auf Foucault: 126 (126-30); Hess 1999: 275-76; Link 1999: 180 u. 205.) Andererseits konnte diese Normativität wieder durch Wissenschaftlichkeit eingeholt werden, indem
die Flexibilisierung der Norm über die gelungene oder nicht gelungene „Anpassung“ an evolutionstheoretische Konzepte gekoppelt wurde. Dies führt nun zurück zur Genetik.
94
Vgl. Timoféeff-Ressovsky & Vogt 1926: 1188.
95
Vgl. Timoféeff-Ressovsky 1934c: 102-03; Timoféeff-Ressovsky 1934d: 338; Kühn 1934: 22122; Kühn 1935a: 77-78 u. 87.
96
Vgl. zum Beispiel Kühn & Henke 1930: 206; Vogt & Vogt 1930: 558; Timoféeff-Ressovsky
1934d.
92
zeugten „alle Übergänge, von sehr starken pathologischen Abweichungen“ bis
zu den „kleinen Mutationen“, die sich als kaum merklich oder, im Gegenteil, als
vorteilhaft erwiesen.97
Da nun auch in der mendelschen Genetik die Umwelt mehr und mehr als bestimmender Faktor der Entwicklung eines Organismus einbezogen wurde, resultierte der variable Anpassungswert von Mutationen auch aus ihrer variablen
Wirkung auf den Organismus. Die Beziehung zwischen Gen und Außenmerkmal wurde jetzt in der Genetik als „Entwicklungssystem“ vorgestellt, in dem die
genbedingte Modifikation des Entwicklungsvorgangs außer mit dem äußeren
Milieu (Umwelt) auch mit dem genotypischen und inneren Milieu sowie dem Gesamtgenotyp zusammenwirkte.98 Verbreiteter noch als die Vorstellung eines
Systems war die perspektivische Konzeption allein von der Genwirkung aus.99
Die Erbanlagen bestimmten danach nicht die Ausbildung eines Merkmals
schlechthin, sondern die „Reaktionsnorm, also die Art, wie die Zellen auf bestimmte Entwicklungsreize antworten“.100
Die verschiedenen Begriffszusammenhänge von „Norm“ konnten nun in einander übersetzt werden: Die statistische Norm einer Gaußverteilung, wie sie
sich aus der Modifikationsbreite einer Anzahl genetisch gleicher Individuen ergab, in die reaktive Norm einzelner Erbanlagen und diese wiederum in den
idealen Anpassungswert bezüglich verschiedener Umwelten.101 Für den Mediziner Johannes Schottky zum Beispiel war Krankheit nichts Neues, das in den
Organismus hineinkommt, sondern eine Störung des Gleichgewichts zwischen
Umwelt und Organismus, genauer: eine Störung der Konstitution des Organis-
97
Timoféeff-Ressovsky 1935a: 118; vgl. Vogt & Vogt 1930: 558+72.
Timoféeff-Ressovsky 1935b: 112
99
Eine klare Trennung zwischen der Begrifflichkeit von System und Reaktionsnorm scheint es
aber nicht gegeben zu haben. Der ausgeprägte Organismus stellt bei Kühn auch ein „System“
dar (Kühn 1935b: 38). Timoféeff-Ressovsky beschreibt die Variabilität des Individuums gegenüber der Umwelt in Begriffen wie „Reaktionsmuster des Individuums“ oder „Reaktionsintensität“
(Timoféeff-Ressovsky 1934c: 98). – Kühn bezog die Konzeption der Reaktionsnorm auch auf
den Artbegriff. Die Mitglieder einer Art unterschieden sich demnach in ihrer Reaktionsnorm
untereinander weniger als sie sich von Mitgliedern anderer Arten unterschieden (vgl. Nachtsheim 1940a: 554). Nachtsheim nahm diese Verwendung der Reaktionsnorm auf, um die Domestikationserscheinungen bei Haustieren zu erklären (vgl. ebd.: 565).
100
Kühn 1934: 218; vgl. auch o. D. [ca. 1930-33], Kühn: Hauptaufgaben der Lebensforschung,
hands. Mans. (AMPG, Abt. III, Rep. 5, Nr. 15); Kühn 1935a: 2-3 u. 10; Kühn 1935b: 38. – Erstmals 1909 von Richard Woltereck eingeführt, wurde mit der Reaktionsnorm das in der Genetik
als Modifikabilität beschriebene Variationsspektrum von Erblinien in Beziehung zu unterschiedlichen Umwelten gebracht (vgl. Federley 1930: 49; Sarkar 1998: 84-85; Sarkar 1999: 235;
Schwartz 2000: 35). Wenn dieses Konzept auch in der genetischen Literatur bis 1950 weitgehend ignoriert wurde, so scheint es in der deutschen Diskussion um Vererbung und Entwicklung
zumindest zeitweise – bis Anfang der vierziger Jahre vielleicht – von Genetikern gern benutzt
worden zu sein (vgl. Mendelsohn 2001: 63-64). – Nach dem Paläontologen Weidenreich war
die Reaktionsnorm in der von der Vererbungslehre beeinflussten Literatur ein beliebtes Schlagwort gegen den Lamarckismus (vgl. Weidenreich 1930: 16-17). – Unter Umständen muss die
theoretisch-diskursive Funktion des Konzepts von seiner tatsächlichen Bedeutung in der Experimentalpraxis unterschieden werden. Zum Beispiel bezog sich der Genetiker Federley zwar nicht
in seinem Vortrag, aber in seiner Diskussionsbemerkung gegen den Lamarckisten Weidenreich
auf die Reaktionsnorm (vgl. Federley 1930: 49).
101
Es passt dazu, dass die „quantitative Theorie“ der Genwirkung von Richard Goldschmidt sich
anscheinend in medizinischen und erbpathologisch interessierten Kreisen einer gewissen Beliebtheit erfreute (vgl. unter anderen Conrad 1940: 107; vgl. auch Fischer 1939: 68).
98
93
mus.102 Auf diese Weise wurde das biologisch-statistische Normverständnis
(Modifikationsbreite, Reaktionsnorm) mit der Idealnorm in der Krankheitslehre
(Konstitution, Anpassung) verbunden, wenn auch Krankheit zugleich fließend
definiert wurde (als fließendes funktionelles Zusammenspiel zwischen Genen
und Umwelt).
Die Bindung des Krankheitsbegriffs und der Vererbungskonzeption in Medizin bzw. Humangenetik an die ‚avancierte’ Genetik besaß zwei bestechende
strategische Vorteile. Der „höhere Mendelismus“, wie zeitgenössisch die Forschungsstränge bezeichnet wurden, die auf die Variabilität der Genwirkung abzielten,103 erschloss der Erbpathologie bislang konzeptuell und methodisch unerreichbar gewesene Krankheitsspektren: physiologische, variable und zusammengesetzte klinische Bilder.104 Zugleich konnten die pathologischen Phänomene auf Grund ihrer Verortung im Broussaisschen Kontinuitätenraum der Ausgangspunkt dafür sein, die normalen zu studieren – zumal diese der menschlichen Erblehre besondere Schwierigkeiten bereiteten.105 Grundsätzlich konnte
das eine für das andere stehen. Diese wechselseitige Gültigkeit basierte auf der
Allgemeinheit der Erscheinungen der Variationen.106
Von eben diesen Erscheinungen gingen zu jener Zeit umwälzende Wirkungen aus. Als Grundlage der erblichen Variationen in der Erscheinung der Organismen kam die Kombination der Erbfaktoren und die Mutation in Frage. Die
Mutationen wurden mit den durchbrechenden Experimenten Hermann Mullers
zu einem Schlüsselthema der Genetik,107 sodass geradezu von einem ‚Mutationismus’ gesprochen werden könnte. Ein „Schlüsselthema“ war die Variationsforschung schon deshalb, weil mit den Mutationen das „elementare Evolutionsmaterial“ ‚enthüllt’ wurde.108 Doch die Bedeutung der Mutationen war nicht auf
102
Schottky bezog sich mit dem Normverständnis von Lenz auf die Anpassung und mit Kühns
Interpretation der Norm der Genwirkung auf das Zusammenwirken von Umwelt und Vererbung
in der Formierung der Konstitution. „Die Konstitution ist, wie die Mehrzahl der Forscher heute
anzunehmen geneigt ist, eine Reaktionsbegriff, und A. Kühn bestimmt sie mit Recht dahin, sie
werde ’in der individuellen Lebensgeschichte geschaffen durch die aufeinander folgenden Entwicklungsreaktionen auf die Umweltbedingungen nach der erblich festgelegten Reaktionsnorm’“
(Schottky 1937: 4-5 (Herv. Verf.); vgl. 16 u. 18-19). Dr. Schottky, Abt.ltr. im Stabsamt des
Reichsbauernführer, sah seine Auffassung – Konstitution ist die Reaktionsbereitschaft, die die
Leistungsfähigkeit und Anpassungsfähigkeit bedingt – von den Medizinern F. Curtius und
Siebeck und dem Humangenetiker v. Verschuer geteilt (vgl. ebd.: 19).
103
Vgl. v.Verschuer 1944b: 23; 1943, G. Just: Bericht über Lehrprobe (BA B, BDC-Alte F.
Steiniger).
104
„Die Berücksichtigung komplexer Wirkungszusammenhänge hatte den Effekt, daß nun [...]
Krankheiten als erblich verstanden werden konnten, die sich einem mendelschen Erbgang
entzogen und somit von den klassischen genealogischen Verfahren nicht erfaßt wurden“
(Satzinger & Vogt 2001: 458).
105
Vgl. Fischer 1936b: 110. – Der genaue Charakter des strategischen Bezugs der Humangenetik auf den „höheren Mendelismus“ wird in Kapitel 7 untersucht.
106
Vgl. Timoféeff-Ressovsky & Vogt 1926: 1188.
107
Zu Mullers Experimenten an Drosophila, siehe unten und 5.3.1.
108
„Der wesentlichste Beitrag der experimentellen Genetik, der ihre Anwendung bei der Analyse
der Evolutionsfragen unumgänglich macht, besteht in der Klärung der Frage über das Wesen
und die Ursachen der erblichen und nichterblichen Variabilität der Organismen“ (Timoféeff-Ressovsky 1939: 158). Dies entsprach der neodarwinistischen Interpretation des Evolutionsmechanismus: Mutabilität sei neben Selektion und Isolation ein der elementarer Evolutionsfaktor, nicht
aber als richtender Faktor, sondern als reiner Materiallieferant (vgl. ebd.: 163). Die experimentelle Genetik könne alles wesentlich notwendige für die Theoriebildung der Mikroevolution lie-
94
Art- und Rassenbildung beschränkt, sondern auch in dem beschriebenen Übergangsfeld zwischen Anpassung und Erbpathologie angesiedelt: Sie waren es,
die „neue Leistungsmöglichkeiten“ oder „Erbschäden“ bedingen konnten. Kühn
betrachtete deshalb die „Aufklärung der Erscheinungen der Erbgutveränderung“
als „eine der dringendsten Aufgaben der Vererbungsforschung“.109
Der Einbruch des ‚Mutationismus’ über die Genetik hatte nicht zuletzt seinen
Ursprung im Auftreten von unzähligen „minute imperceptible mutations“ in der
Drosophilaforschung.110 Das distanzierte Verhältnis, das die Genetik in den ersten zwei Jahrzehnten zur Frage der Mutationen eingenommen hatte, verkehrte
sich Anfang der zwanziger Jahre:111 Mutative Variationen waren nun eine Möglichkeit der mendelschen Vererbung.112 Am deutlichsten artikulierte sich die
Umwertung der schillernden Mutationserscheinungen 1923 mit Mullers Bestimmung der Mutation: „mutation is alteration of the gene“.113
Das Zusammentreffen von Genetik und Medizin, wie es in der vorliegenden
Arbeit in drei Fallstudien verfolgt wird, ereignete sich in diesem Diskursfeld um
erbliche Variationen. Es könnte von einer durch ein mutationsgenetisches Dispositiv eingefassten strahlengenetischen Episteme gesprochen werden. Das
Ereignis der durch Strahlen erzeugten Mutationen im Labor Herman J. Mullers
ermöglichte von der Bekanntgabe 1927 an in Konvergenz mit der erweiterten
Phänomenologie des höheren Mendelismus und dem Prinzip von Broussais
eine Umformulierung des mendelgenetischen Repräsentationsraums, seine
Ausweitung und den Anschluss an die evolutionsbiologische Episteme.
fern, und es beständen keine grundsätzliche Bedenken, aus dieser die Makroevolution zu extrapolieren (vgl. ebd.: 169).
109
Kühn 1934: 227
110
Carlson 1974: 31
111
Der Mendelismus und Mutationstheorien der Evolution hatten zwar in der gemeinsamen Distanz zur Selektionstheorie zusammengefunden. Die Genetik war aber ebenso gegenüber den
sprunghaften, formgebenden Mutationen des Botanikers Hugo de Vries distanziert. Variationen
des Organismus stellten sich ihr vielmehr als Modifikationen dar und waren damit der Vererbung gegensätzlich. (Zu Morgan und de Vries, vgl. Carlson 1974: 36-37; Allen 1984: 726; zur
Nähe von Mendelismus und Mutationstheorie, vgl. Carlson 1966: 3-6; MacKenzie & Barnes
1975: 171-72 u. 179; Falk 1995b: 228-31 u. 235; zur Distanz zum Mutationismus, vgl. Carlson
1966: 29-30 u. 73-75; zur mendelschen Interpretation der Variation als statistische Abweichung,
vgl. Churchill 1974: 13-14; Carlson 1966: 20.)
112
Vgl. Carlson 1974: 31. Die materielle Grundlage der Variationen, die in der mendelschen
Genetik zunächst als Neukombination von Genen bei der Chromosomenaufteilung verstanden
worden waren, wurde nun in den Genmutationen, den ‚kleinen’ Mutationen der Fruchtfliege
Drosophila gesehen; denn diese hatten sich in „a sudden shower of mutations“ von 1910 an in
Morgans Labor bis 1920 auf 300 vervielfacht, sodass schon ihre bloße Anzahl ein Umdenken
herausfordern musste (zu „shower“ u. zu ‚kleinen Mutationen’, vgl. Carlson 1974: 37, 88 u. 91;
zu Drosophila als „first true breeder reactor” u. der Schwierigkeit, die Varianten experimentell zu
kontrollieren, vgl. Kohler 1994: 47 u. 73).
113
Muller 1962a: 221 bzw. ähnlich schon 1921 auf einen „symposium on variation“ in Toronto:
Muller 1962c: 177; vgl. auch Carlson 1966: 86-88. Muller begann im späten zweiten Jahrzehnt
des 20. Jh. bereits damit, Mutationsraten bei Drosophila zu bestimmen (unter anderen zusammen mit Edgar Altenburg). Sein Interesse war dabei die Charakterisierung der ‚Natur’ der Gene
(vgl. ebd.: 81-83). 1917 hatte er de Vries’ Mutationen als crossover interpretiert und den Weg
für die Redefinition von „Mutation“ geöffnet (vgl. ebd.: 73). Die Arbeit der Drosophilagruppe
führte von hier aus Anfang der dreißiger Jahre schließlich zur Regeneration der Mechanismen
der Darwinischen Evolution (vgl. Carlson 1966: 89).
95
2.2.3 Der mendelgenetische Begriff von Erbkrankheit und seine subversive
Wirkung: Eugenik und Klassifikation
Es brauchte ungefähr ein Jahrzehnt, bis die Relevanz der Mutationen über die
engeren genetischen Fragen hinaus in – bedrohlicher – Deutlichkeit wahrgenommen wurde. Zunächst waren sie vor allem ein Mittel, um die umstrittene
Frage nach der ‚Natur’ der Gene zu bearbeiten.114 Anfang der zwanziger Jahre
mehrten sich die Überlegungen über die Bedeutung der Mutationen bei der Artbildung.115 Damit ging die Vermutung einher, dass Mutationen nicht wie zumeist
bei Drosophila nur Ausfallerscheinungen bewirkten.116 Eine methodische Frage,
die mit der Fokussierung auf Mutationen einherging, war es, ob Mutationen
künstlich herbeigeführt werden könnten.117 Dies war zugleich die Frage danach,
ob eine „more perfect control of evolution“ möglich war.118
Dieser Anwendungsbezug, der schon Anfang der zwanziger Jahre hergestellt
wurde, zielte darauf, durch die Erzeugung von Mutationen, „neues Auslesematerial für künstliche Züchtung“ in der Landwirtschaft zu erhalten.119 Diese Erwartungen wurden noch gesteigert, als Hermann Muller 1927 in Berlin auf dem Internationalen Kongress für Genetik erstmals überzeugende Daten dafür präsentieren konnte, dass Mutationen durch Röntgenstrahlen künstlich ausgelöst werden konnten.120 Es war nicht auszuschließen, dass Mutationen Gegenstand
einer kontrollierten, technischen Verfügbarkeit werden würden. Wenn sie jetzt
schon „nach Belieben erzeugt“ werden konnten, schwärmte Nachtsheim nach
Mullers Vortrag, war vielleicht auch möglich, ihre Richtung zu bestimmen.121
„Die tiefere Erkenntnis der Mutation muss es jedenfalls erst ermöglichen, die
Züchtung willkürlich zu beeinflussen.“122
Mullers Röntgenversuche lenkten die Aufmerksamkeit aber auch zurück auf
die schädigende Wirkung der Mutationen, und das nicht nur, weil sein experi114
Vgl. Carlson 1966: 81.
In Hinblick auf die „zu erwartenden Diskussionen“ darüber hatte Nachtsheim in seiner Übersetzung von Morgans „Die Stoffliche Grundlage...“ ein eigenes Kapitel mit einer Übersicht über
die Mutationen bei Drosophila angehangen (Nachtsheim in: Morgan 1921: VI u. 235-60; Muller
1962a: 222; Baur in: Nachtsheim 1921a: 846).
116
Muller und Baur nahmen beispielsweise an, dass Mutationen, die nur geringe und geringste
Effekte bewirkten, häufiger als angenommen seien und ein „wichtiges Auslesematerial für die
natürliche Zuchtwahl“ darstellten (Baur nach Nachtsheim 1921a: 846; vgl. Baur 1922: 374-75;
Muller 1962a: 225). – Nachtsheim fasste 1919 die Ergebnisse der Drosophilagruppe zusammen, dass Mutationen richtungslos aufträten, zweckmäßig sein könnten, aber zumeist „Verlustmutationen“, das heißt „rezessiv gegenüber der Stammform“, seien und deshalb in der „freien
Natur“ wieder verschwinden würden (Nachtsheim 1919a: 150-51). Die Frage spitzte sich darauf
hin zu, ob die positiven Varianten eine quantitativ merkliche Rolle spielen konnten. Im Bezug
auf die Evolution von komplexen Formen, musste sich zudem die Frage stellen, ob eine bloße
Akkumulation kleiner Veränderungen solche hervorbringen konnten.
117
Vgl. Nachtsheim 1920b: 32.
118
Muller 1962a (1921): 226
119
Baur 1911: 257; vgl. Baur 1932c: 17. – In Baurs Experimentalkomplex stand die Untersuchung von Mutationen am Löwenmaul, Antirrhinum majus, im Mittelpunkt. „Er hat, und das ist
hier sein größtes Verdienst, mit einer Sorgfalt und Scharfsinnigkeit wie kein Botaniker vor ihm
auf das plötzliche Auftreten neuer erblicher Eigenschaften geachtet, das wir Mutationen nennen, [...]“ (Renner 1935: 354).
120
Vgl. Carlson 1984: 769-70; Muller erregte „lebhaftes Aufsehen“ (Nachtsheim 1927b: 991; vgl.
Muller 1927; Muller 1928).
121
Vgl. Nachtsheim 1927a: 1136.
122
Will 1927b: 687
115
96
mentelles Arrangement auf letale Mutationen zugeschnitten war. Kaum in die
USA zurückgekehrt, wendete sich Muller an Radiologen mit dem Appell, Röntgenstrahlen nur in Ausnahmefällen für Diagnostik und Therapie einzusetzen.123
Die Annahme, dass Mutationen viel häufiger zu erwarten waren, als bislang
beobachtet, dass sie zumeist rezessiv waren, das heißt, ihr Auftreten zunächst
verborgen blieb, und der sich herausschälende schwer durchdringbare Zusammenhang zwischen Mutationen und Umwelteinflüssen wendeten die Bewertung
der Mutationen ins Negative. Muller, der 1919 die ersten Überlegungen über
Mutationsraten angestellt hatte,124 hatte bereits wenig später das Szenario entwickelt, dass über die Akkumulation von „lethals and other undesirable genes“
der „complete and permanent collapse of the evolutionary process“ drohe.125
Anfang der zwanziger Jahre war dies aber eher als eine abstrakte Denkmöglichkeit zu verstehen, die die Wichtigkeit der Selektion in der Evolution verdeutlichte.126 Auch Baur hatte 1922 ähnlich wie Muller in populationsgenetisch aber
ausgearbeiteteren Überlegungen über die genetische Zusammensetzung von
Populationen und ihre Veränderung durch Mutationen angestellt.127 Ihm ging es
dabei ebenfalls noch vor allem um die Darstellung der Wirkung von Ausleseprozessen.128
Mit den Röntgenversuchen Mullers änderte sich das Ausmaß der Bedrohung
und wurde die Tonlage in Deutschland zunehmend alarmistisch. Im genetischen Diskurs trat nun neben der Kombination von guten und schlechten Erbeigenschaften und ihrer Auslese in der Evolution die Gefahr, die mit der Mutation
verbunden wurde. Die Konstellation aus Mutationen und Röntgenstrahlen bildete ein explosives Gemisch, das sich bald nach dem Berliner Kongress zu
einer spezifisch mendelgenetischen Variante negativer Eugenik entwickelte. In
Kapitel 5 wird gezeigt, wie in der Auseinandersetzung zwischen Genetik und
Medizin über die Schädigungswirkung von Röntgenstrahlen die mendelgenetisch begründete Eugenik Fuß fasste. Auch Baurs Tonlage änderte sich.129
Nach dem kulturbedingten Wegfall ‚natürlicher’ Ausleseprozesse (1922) wurden
die genetischen Ursachen der Variationen zum zentralen Thema Baurs Eugenik
(1930).130 Dieser Wandel in Baurs Einstellung, der als irritierend empfunden
123
Vgl. Carlson 1984: 771-72.
Vgl. Carlson 1966: 82-83; Muller & Altenburg 1962.
125
Muller 1962a: 227
126
Vgl. Muller 1962a: 226-27. Eugenik erwähnte Muller nur am Rande (vgl. ebd.: 222).
127
Vgl. Baur 1922: 338ff..
128
Er warnte zwar vor der Auslese der „besten Elemente im Volk“ durch sozialökonomische
Prozesse. Diese „g r o ß e Gefahr“ wäre die erste Aufgabe der Rassenhygiene; doch, den populationsgenetischen Überlegungen folgend, schritte dieser „Verfall“ der Kulturvölker nur „s e h r
langsam vor sich“ (Baur 1922: 90-91). Bezüglich der Ausbreitung schädigender Mutationen
entwarf Baur nur ein kurzes spekulatives Szenario über die Ausbreitung des Diabetes (vgl.
ebd.: 350-51; wortgleich in der Ausgabe Baur 1930b: 375).
129
„Wir schleppen aber in unserer Kulturmenschheit schon einige Hundert mehr oder weniger
unangenehmer pathologischer Erbfaktoren mit herum. [...] Vom eugenischen Standpunkt ist
eine weitere Vermehrung dieser pathologischen Faktoren durchaus unerwünscht“(Baur 1930a:
131).
130
Vgl. Baur 1933a: 7-12. Außer dem Wegfall der „bestveranlagten Volksbestandteile“ (1922)
drohte durch Mutationen jetzt noch die Vermehrung von „minderwertigen Typen“ (1930). Wenn
Baur Anfang der zwanziger Jahre Maßnahmen der ‚negativen’ Eugenik – Verhinderung von
Fortpflanzung und Sterilisierung – nicht als so dringlich angesehen hatte, so bekannte er sich
124
97
und als „politische[s] Kalkül“ interpretiert worden ist,131 erklärt sich meines
Erachtens aus dem Umbruch in der mendelschen Genetik, in der mit dem Ereignis der künstlichen Erzeugung von Mutationen ein neues gegenständliches
Bezugssystem entstand. Indem die Variation der Organismen nun als Ergebnis
von Mutationen verstanden werden konnte, erhielt die eugenische Diskussion
ein mendelgenetische Begründungsmöglichkeit, die sie eindeutig in Richtung
‚negativer’ Eugenik lenkte und – noch vor der politischen Wende 1933 – radikalisierte.132 Auf diese spezifische Wirkung der mendelschen Genetik hat Roth bereits aufmerksam gemacht.133
An dieser Stelle können Nachtsheim und die Kaninchenzüchter in Erinnerung
gebracht werden; denn die Diskussion um das Rexkaninchen endete damit,
dass die Mutation, die das besondere Rexfell bewirkte, als eugenisches Problem begriffen wurde. Oben wurde nachvollzogen, wie die für das Rexkaninchen typische Mutation zur „degenerativen Mutation“ wurde. Diese Pathologisierung konnte spätestens 1928 als Teil jenes durch die Genetik gestärkten und
um die Mutation ergänzten Assoziationsgefüges von Vererbung und Pathologie
gelesen werden. Alarmiert erläuterte Nachtsheim, es sei die Aufgaben der Rassenhygiene, „die Fortpflanzung solcher mit defekten Erbanlagen behafteter
Menschen zu verhindern und auf diese Weise die schädlichen Erbanlagen auszurotten oder doch wenigstens zu vermindern“.134 Den Kaninchenzüchtern riet
er gleiches Vorgehen an, wenn sie nicht „eine Rasse von Krüppeln züchten
wollten“, das heißt, wenn sich nicht endlos Mutationen anhäufen sollten. „Es ist
heute wirklich an der Zeit, davor zu warnen.“135 Für Nachtsheim wurden Mutationen zu einem allgemeinen Bezugspunkt der Tierzucht, insofern es darauf ankam, „schädliche Erbfaktoren aus der Zucht zu eliminieren“.136 Die Rexkaninchen gerierten zugleich zum Musterbeispiel dafür, inwiefern Mutationen als neuer Bezugspunkt der Eugenik verstanden werden mussten. Sie waren ein „gutes
Beispiel, wie durch einen Mutationsschritt, d.h. die mutative Veränderung
eines Erbfaktors, eine Schwächung der Konstitution in den verschiedensten
Richtungen eintreten kann“.137
nun in eindeutiger Weise zu ihrer Notwendigkeit (vgl. Baur 1922: 391 bzw. Baur 1933a: 12-14).
– Die Wende in der Einschätzung ‚negativ’ eugenischer Maßnahmen wird auch dadurch signalisiert, dass Baur in der Ausgabe seiner „Vererbungslehre“ die „taktische“ Bevorzugung ‚positiver’ Maßnahmen heraus ließ. Die letzten drei Abschnitte in Baur 1930b: 431 fehlen im Vergleich
zu Baur 1922: 391.
131
Kröner et al. 1994: 53-55
132
Fritz Lenz stellte parallel zu den Spekulationen in der Landwirtschaft über die Möglichkeit,
Röntgenstrahlen zur gerichteten Auslösung von Mutationen zu benutzen, die Überlegung an, ob
sie auch ein Instrument der – ‚positiven’ – Rassenhygiene wären. Auf Grund der bisherigen Erfahrungen forderte er aber Maßnahmen gegen die Gefahr durch Röntgenstrahlen und mögliche
andere Einwirkungen (Nikotin, Alkohol, Blei und andere Gifte), also ‚negative’ Maßnahmen gegen „krankhafte Erbanlagen“ (Lenz 1932: 8). Als andere Stimme aus der Genetik, vgl.
Timoféeff-Ressovsky 1935a: 118.
133
Vgl. Roth 1986. – Zur veränderten Bedeutung ‚negativer’ Eugenik nach dem ersten Weltkrieg
und ihrer Bevorzugung durch die Rassenhygieniker, vgl. auch Schmuhl 1987: 46.
134
Nachtsheim 1928e: 611. – Dies ist der einzige Bezug Nachtsheims vor 1933 auf die
Rassenhygiene.
135
Nachtsheim 1928e: 611
136
Nachtsheim 1932d: 11
137
Nachtsheim 1934e: 101
98
Wenn hier auch nicht weiter verfolgt werden kann, wie diese mendelgenetische Neuformulierung des eugenischen Problems Eingang in den rassenhygienischen Diskurs Anfang der dreißiger Jahre gefunden hat, so zeigen doch die
Beispiele, dass sie nicht in der Genetik eingeschlossen blieb. Im Gegenteil, diese Stärkung der Verbindung von Genetik und Eugenik hatte eine solche Brisanz, dass die Genetiker sich mit einem neuen gesellschaftlichen Auftrag versehen sahen, wie in Kapitel 5 gezeigt wird. Die Bedeutung der Genetik für die
Rassenhygiene war so zumindest mittelbarer Art und findet ihre Entsprechung
in der Feststellung, dass sich die Rassenhygiene in Deutschland in enger Anlehnung an den wissenschaftlichen Diskurs entwickelte und dass die Genetik
als relevanteste Referenzwissenschaft fungierte.138 Die mit der Neuformulierung
verbundene Verschiebung der Aufmerksamkeit auf repressive Maßnahmen zur
Verhütung der Verbreitung von Mutationen passte sich in eine immanente Tendenz zur Eskalation der Gewalt ein, wie sie von Schmuhl für die strukturelle
Veranlagung des rassenhygienischen Paradigmas ausgemacht worden ist.139
Die Radikalisierungstendenz entfaltete sich insbesondere entlang den Degenerationstheorien, nach denen eine schleichende oder rapide Erosion der genetischen Substanz zu erwarten war.
Die Tendenz zur Ausweitung eugenischer Maßnahmen machte sich de facto
1933 an der Kritik zu den Regelungen des Gesetzes zur Verhütung erbkranken
Nachwuchses fest. Wie oben gezeigt wurde, erhielt die verbreitete degenerationstheoretischen Verbindung zwischen Albinismus und Pathologie eine mendeltheoretische Grundlage. Tatsächlich wurde der Albinismus mit Erlass des
Gesetzes unter „Erbliche Blindheit“ subsumiert und als Sterilisierungsgrund
festgeschrieben.140
In der Weise, wie sich die genetische Position gegenüber dem Sterilisationsgesetz bestimmte,141 bestimmte sich die genetische Kritik an der Ordnung der
Krankheiten in der Medizin. Grundlegend dafür waren wieder die Prämissen der
138
Vgl. Schmuhl 1987: 58-59 u. 70; Weingart et al. 1992: 197.
Vgl. Schmuhl 1987: 65. – Schmuhl führt den Begriff des rassenhygienischen Paradigmas (r.
P.) ein, um vier historische Leitlinien in der Argumentation der Rassenhygieniker zu unterscheiden. In der Geschichte und in der Struktur des Begründungszusammenhangs der rassenhygienischen Positionen zeigt sich insbesondere der enge Austausch zwischen Rassenhygiene und
der biologischen Wissenschaft. Nach Schmuhl gehört zum r. P., erstens, eine Naturlehre der
Gesellschaft, die sich in Bezug auf die darwinistische Evolutions- und Selektionstheorie konstituiert, zweitens, das Primat des Selektionsprinzips, drittens, die dynamisierende Dichotomie aus
Degenerationstheorien und Züchtungsutopien, und, viertens, der Antiindividualismus bzw. organizistische Sozialtheorien (vgl. Schmuhl 1987: 49 (49-70)). Schmuhl versteht seinen Begriff des
Paradigmas im Sinne T. S. Kuhns (vgl. ebd.: 399). Es ist allerdings problematisch, das r. P.
bloß durch seine inhaltlichen Bestandteile zu bestimmen, da Kuhns Paradigma einen Zusammenhang von Theorie und wissenschaftlicher Praxis bezeichnet. Es ist zudem fraglich, ob die
Rassenhygiene in diesem Sinne einem einheitlichen Paradigma folgte, da sie wissenschaftlich
in verschiedenen Praxen gründete. Die genannten „Strukturelemente“ des rassenhygienischen
Denkgebäudes sind dennoch eine treffende Analyse.
140
Vgl. Gütt et al. 1934: 111.
141
Die Indikationsbestimmung für „erblich blind“ blieb zum Beispiel hinter der subversiven Wirkung der Genetik zurück. Es wurden nur Personen berücksichtigt, die erkrankten, nicht solche,
die Träger des Gens waren, aber gesund blieben (vgl. Gütt et al. 1934: 109). Die Orientierung
an der Erscheinung statt am untergründigen Genstatus wurde von Seiten der Genetiker kritisiert
(vgl. Nachtsheim 1934h: 38; ein Beispiel für eine nicht-mendelsche Position: Lange 1934: 382.
Hierzu, siehe auch 6.1.5).
139
99
Genetik: Trennung des Organismus in Geno- und Phänotyp und das Primat der
Vererbung. Sie waren die Grundlage für die Einsicht, dass von der gleichen Erscheinung nicht auf die gleiche Verursachung geschlossen werden konnte. Das
heißt, die Phänomenologie der Krankheiten wurde als Bezugspunkt der Systematik und Klassifikation der Krankheitserscheinungen abgesetzt. Der Genetiker
Timoféeff-Ressovsky und der Mediziner Oskar Vogt, Direktor des Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung, machten zuerst darauf aufmerksam, dass eine
„genaue ätiologische Forschung“ die bisherigen Krankheitseinheiten auflösen
würde.142 In selbstverständlicher Weise setzten sie dabei „ätiologische Forschung“ mit Genetik gleich, erklärten „die pathologische Anatomie für inkompetent“ und disqualifizierten alle anderen Gebiete in der Medizin, die eine Verknüpfung von Ätiologie und Nosologie verfolgten.143
Mit dem Erscheinen von immer komplizierteren Beziehungen zwischen Geno- und Phänotyp in der ‚avancierten’ Genetik oder dem „höheren Mendelismus“, an dessen Spitze neben anderen Timoféeff-Ressovsky stand, bekam die
genetische Ätiologie, so wie sie hier gefordert wurde, erst ihre subversive Kraft.
Die experimentell erforschten verwickelten Erbeigenschaften der Tiere und
Pflanzen wurden Modell für die Erwartung an das Verhalten klinischer Symptome. Die „Farbenunterschiede der Kaninchen“ etwa lehrten, stellte nun auch
Fritz Lenz fest, wie Gene und Serien von Allelen sich in ihrer Wirkung verschränkten.144 Entsprechend könne in der Medizin erwartet werden, dass es
einheitliche Heredodegenerationen nicht gäbe, sondern die Symptomkombinationen von einfachen Krankheiten und Syndromen mal durch die Wirkung eines
Gens, mal durch die Kombination oder die Überschneidung mehrerer Gene zustande kommen könnte. Die „mit Willkür“, das heißt nur nach klinischen Symptomen getroffenen „naturwidrigen“ Gruppeneinteilungen, verdeckten die eigentliche – genetische – Ordnung, denn im „Lichte der genetischen Forschung lösten sich diese Gruppen, so Lenz, in zahlreiche spezifische Biotypen auf“.145
Die entscheidende methodische Konsequenz aus diesen Feststellungen war,
dass nicht mehr von Krankheitsbildern her gedacht werde konnte. Beides, die
Erbanlagen und die Erscheinungen, die bis dahin das Feste oder Selbstevidente der genetischen Analyse waren, konnten nicht der selbstverständliche Ausgangspunkt des experimentellen Zugangs sein. Klassifikation und ätiologische
Analyse mussten ‚in Kommunikation’ treten und sich im Hin- und Herwandern
nähern. In Vogts und Timoféeff-Ressovskys Entwurf wurde die Klinik dabei zur
Hilfswissenschaft der Genetik.146
142
Timoféeff-Ressovsky & Vogt 1926: 1188; vgl. auch Vogt & Vogt 1930: 574. – Zum Verständnis von Ätiologie und Pathologie bei Vogt, vgl. auch Laubichler 1999: 14-15. Zur Verknüpfung
mit der Genetik, vgl. Satzinger 1998: 285 u. 291-95.
143
Timoféeff-Ressovsky & Vogt 1926: 1188. Sie machten aber auch darauf aufmerksam, dass
eine genaue phänotypische Klassifikation von Krankheiten dennoch die Arbeitsgrundlage für die
erfolgreiche Analyse komplexer genetischer Verhältnisse sei (vgl. ebd.: 1189).
144
Lenz 1934a: 251
145
Lenz 1934a: 251
146
Die erbbiologische Untersuchung konnte nicht mehr von großen Krankheitseinheiten ausgehen, sondern musste sich den spezifischen Besonderheiten und ihrer Kombination in neuen
Krankheitsfamilien zuwenden. Die ‚Restsymptomatik’, die bislang bei der Zusammenfassung
verschiedenster klinischer Bilder nach einem Hauptmerkmal als akzidentiell missachtet worden
waren, wurde umgekehrt aufgewertet. „In analoger Weise hat Klinik und pathologische Anato-
100
Für diesen Entwurf waren zweifellos die jüngsten Trends in der Genetik leitend, denn mehr und mehr schien die enge Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Forschungsgebieten wie Genetik, Entwicklungsphysiologie, Biogeographie und Feinsystematik erforderlich zu sein.147 Die Genetik stellte außerdem die Konzepte zur Verfügung, nach denen das Wirkungsverhältnis zwischen
Genen und Symptomen auch dann noch, wenn es sich nicht als einfacher Determinismus darstellte, in genetischen Begriffen verstanden werden konnte. Dadurch erklärte sich die Schwierigkeiten bisheriger Nosologie oder Syndromologie, hinreichende oder notwendige Krankheitszeichen zu bestimmen. Das Konzept der Reaktionsbereitschaft erklärte die Variabilität der Symptomkombination
und zugleich die Intransparenz der genetischen Bedingung.148 Es ist aber entscheidend festzuhalten, dass das dynamisierte Genwirkungskonzept, das jener
Subversion des medizinischen Krankheitsverständnisses zu Grunde lag, in der
Regel das Primat der Vererbung nicht anzweifeln ließ, sondern den Anspruch
der Genetik ausdehnte.149 Die umwälzende Wirkung, die von der Genetik auf
mie in erster Linie [...] möglichst alle klinischen und pathologisch-anatomischen Merkmale des
Einzelfalls aufzudecken und durch Zusammenstellung gleicher Kombinationen die ätiologische
Klassifikation anzubahnen“ (Timoféeff-Ressovsky & Vogt 1926: 1190; vgl. auch Timoféeff-Ressovsky 1935a: 118). Th. H. Morgan hatte schon früher diese voraussetzungsreichen Verhältnisse der Anwendung der Genetik auf die Pathologie thematisiert und wegen der leichten Fehlinterpretationen sich gegen eine verfrühte Anwendung gewandt (vgl. Morgan 1922: 33).
147
Vgl. Kühn 1934: 227.
148
Vgl. Timoféeff-Ressovsky & Vogt 1926: 1189; zur gegenseitigen Voraussetzung von Klassifikation und Genetik der variablen Erscheinungen, vgl. Timoféeff-Ressovsky 1935b: 113-14.
149
„Keine Eigenschaft kann durch Einwirkung äußerer Einflüsse aus einer Persönlichkeit auf
reaktiven Wege herausgeholt werden, die nicht irgendwie in der erbgegebenen Reaktionsnorm
liegt“ (o. D. [ca. 1930-33], Kühn: Hauptaufgaben der Lebensforschung, hands. Mans., in:
AMPG, Abt. III, Rep. 5, Nr. 15).
101
die Medizin ausging,150 war die einer historisch situierten Genetik unter dem Primat der Vererbung.151
150
Dieser ab Ende der zwanziger Jahre in der deutschen Genetik entwickelte Anspruch konnte
wohl nicht unmittelbar in die Medizin übertragen werden. Zum Teil war die Skepsis und die Verankerung alternativer ätiologischer Konzeptionen außerordentlich stark, wie beispielsweise in
der Krebsforschung (vgl. unter anderem 26.9.1934, Kolle [Gutachten zu Forschungsantrag von
K.-H. Bauer]; 19.2.1935, G. Klein an DFG, in: BA B, R 73, 10179). In der Psychiatrie wiederum,
in die vererbungswissenschaftliche Problemstellung besonders verbreitet war, konnte eine solche Programmatik einer „primär genetisch gesehenen klinischen Ordnung“ am ehesten fruchten
(Panse 1939: 108; vgl. Claussen 1939: 22; Roggenbau 1939: 170).
151
Die Stoßrichtung, die die Genetik entfaltete, sobald sie auf die Pathologie angewandt wurde,
setzte sich aber über die Entwicklung der Molekularbiologie und -genetik bis heute fort und erhielt erst mit der Genomforschung eine neue aggressive Gestalt. (vgl. Kitcher 1982: 356; Harris
& Schaffner 1992: 127; Strasser & Fantini 1998: 209-10; zu Genetik als Grundlagenwissenschaft der Medizin, vgl. Vogel 1990; Vogel 1998).
102
3 Genetik und Medizin – Maus, Meerschweinchen und
Kaninchen als „standardisierte Reagenzien” (A. Kühn)
Das Institut für Vererbungsforschung bietet sich an, um eine weitere Fährte auf
der Suche nach Verknüpfungspunkten zwischen Genetik und Medizin in der
Weimarer Republik aufnehmen. Anfang der zwanziger Jahre wurde auf dem
Dahlemer Gelände mit der systematischen Züchtung von Versuchstieren für
medizinische Experimente begonnen. Es blieb aber nicht bei dabei. Vertreter
der Medizin und der Genetik pflegten zum Zweck der Organisation der Versuchstierzucht einen intensiven kooperativen Austausch. Die Zusammenarbeit
in den praktischen Fragen der Einrichtung und Organisation der Versuchstierzuchtanlagen schuf Raum und Anreiz, Genetisches und Pathologisches miteinander zu verbinden. Die These ist, dass die Versuchstierzuchten, die von der
Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft betrieben wurden, unintendiert
die Entwicklung der vergleichenden Erbpathologie förderten. Die Einbindung
genetischer Methoden in die ‚Werkzeugherstellung’ für die experimentelle Medizin – Zucht von Versuchstieren bestimmter Art – schuf umgekehrt die Voraussetzung, in der Medizin genetische Fragestellungen aufzuwerfen. Das Bedingungsgefüge für dieses Auftauchen der „erblichen Konstitution“ soll genauer
beleuchtet werden.
Die Verbindung von Genetik und Medizin im Umfeld der Zucht von Versuchstieren ist in der Literatur, die sich in den letzten Jahren mit der Organisation von
Versuchstierzuchten in den USA beschäftigt hat, am Rande angesprochen worden. Der Säugetiergenetiker Clarence C. Little und seine Mitarbeiter untersuchten die Empfänglichkeit verschiedener Mausstämme gegenüber transplantierten
Tumorgewebe. Die Genetiker konnten allerdings nur begrenztes Interesse der
Mediziner wecken.1 Am Weimarer Beispiel fällt dagegen auf, dass die Initiative
zur Einrichtung spezieller – genetisch geleiteter – Versuchstierzuchten maßgeblich von medizinischer Seite ausging.
Beim Interesse an den Nagetieren der Genetik ging es um mehr als bloß die
organisierte Vermehrung von Versuchstieren. Das medizinische Interesse an
von Genetikern geleiteten Zuchtanlagen muss im Zusammenhang der Experimentalisierung des Lebens in den biomedizinischen Wissenschaften gesehen
1
Vgl. Löwy & Gaudillière 1998: 216. – Das von Little geleitete Jackson Memorial Laboratory
vertrieb seit Mitte der dreißiger Jahren große Mengen an Mäusen; doch wurden diese vor allem
in medizinischen Forschungszusammenhängen benutzt, die keine genetische Fragestellung
verfolgten (vgl. ebd.: 179). Deutlicher indes ist das Bemühen der genetischen Wissenschaftler,
eine Verknüpfung der genetischen und medizinischen Forschung zu erreichen. Der philanthropische Gründungsgedanke sah vor, „man’s knowledge of himself“ durch die experimentelle Erforschung von genetisch kontrollierten Tieren zu erweitern und Forschung zu weit verbreiteten
Krankheiten des Menschen zu unternehmen (Rader 1995: 115 u. 120). In der Motivation muss
allerdings die intendierte planmäßige Zusammenarbeit mit medizinischen Instituten unterschieden werden von bloßer rhetorischer Anknüpfung an die Medizin, um Forschungsressourcen zu
mobilisieren, oder von einer eugenischen Motivation (vgl. ebd.: 115-16 u. 151-56; Gaudillière
1999: 94-98). – Clause untersucht das Wistar Institute for Anatomy and Biology (Pennsylvania),
nicht aber, in wieweit durch den planmäßigen Vertrieb von Ratten eine Verknüpfung von Genetik und Medizin auch im Experiment hergestellt werden konnte (vgl. Clause 1993).
103
werden.2 Als Standardisierung kann die Einpassung des lebenden Bestandteils
des Experiments in den Versuchsaufbau gefasst werden:3 Im Zuge der zunehmend verfeinerten Anwendung der experimentellen Methode auf das Leben geriet das Leben selbst unter die Regeln und Zwänge des (gelungenen) Experiments.4 Ein wachsendes Interesse von Seiten der Medizin an Methoden und
experimentellen Systemen der Biologie zeigt sich exemplarisch, so meine ich,
im Deutschland der zwanziger Jahre in der gesteigerten Nachfrage medizinischer Institute nach „rein gezüchteten Stämmen“ für medizinische Experimente.
Dieses Interesse schloss sich nicht selten an konkrete Probleme im medizinischen Versuchsgeschehen an. Im Zentrum der Aktivitäten um die Organisation
der Versuchstierzucht standen zwei Institute: das Frankfurter Staatsinstitut für
experimentelle Therapie unter dem Serologen Friedrich Kolle und Alfred Kühns
Institut für Zoologie in Göttingen.
Die Geschichte um die Versuchstierzuchten ist für das Verständnis disziplinärer Interaktion von Interesse, da sich über den eigentlichen Zweck der genetisch-medizinischen Zusammenarbeit hinaus eine produktive Vernetzung von
vererbungswissenschaftlicher Methodik, medizinischem Problem und genetischem Lösungsansatz ergab. Zugespitzt könnte man sagen, dass einerseits
über die Verwendung genetischer Inzuchtstämme im Arrangement der medizinischen Versuche eine Genetifizierung der medizinischen Frage- und Problemstellungen unterstützt wurde. Die Zusammenarbeit mit den Medizinern eröffnete
andererseits der Genetik einen neuen Gegenstandsraum: pathologische Eigenschaften und Merkmale. In welcher Weise dies geschah, das ist die zentrale
Frage dieses und des nächsten Kapitels.
3.1
Eine Versuchstierzuchtanlage in Dahlem aus der Not
heraus und Pläne der Notgemeinschaft zur
„Massenaufzucht reiner Stämme im Grossen“
„Gerade in dieser Verbindung von Vererbungsforschung und Versuchstierzucht hatte
die Eigenart der Dahlemer Anlage gelegen, die einerseits der Forschung die Möglichkeit bot, an einem vielseitigen und reichen Tiermaterial vererbungswissenschaftlich zu
arbeiten, andererseits die für die Weiterführung dieser Versuche nicht benötigten
5
Jungtiere den Instituten für experimentelle Forschung zur Verfügung zustellen.”
Als Anfang der zwanziger Jahre die Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft in der Organisation der Versuchstierzucht erste Schritte unternahm, um
die Bedürfnisse medizinischer Institute zu decken, war das Experiment am Tier
auch in der Biologie nichts Neues mehr. Seit Ende des 19. Jahrhunderts wuchs
die experimentelle Zoologie schnell und differenzierte sich in verschiedene Disziplinen. Das Experiment im Labor begann, naturgeschichtliche Untersuchungen oder vergleichende Anatomie zu verdrängen.6 Die verschiedenen Spezies,
2
Die organisierte Versuchstierzucht steht am Anfang der Entwicklung von Forschungstechnologien in den biologischen Wissenschaften (vgl. Gaudillière 2001b : 192).
3
Vgl. Kohler 1994: 14.
4
Vgl. Logan 2002: 330-31.
5
26.1.1924, Schmidt-Ott an PML (GStAP, I. HA, Rep. 87B, 20282: Bl. 66-67)
6
Vgl. Logan 2002: 332.
104
die vom Feld ins Labor transferiert wurden, hatten indes ihre jeweiligen Vorund Nachteile für die Zwecke eines Versuchs.7 So tauchte in der Suche nach
passenden Organismen für seine spezielle experimentelle Fragestellung die berühmte Fruchtfliege Drosophila melanogaster in Thomas Hunt Morgans Labor
auf.8 Auch Säugetiere – Mäuse, Ratten und Kaninchen – waren Objekte der experimentellen Forschungsinteressen und wurden mehr und mehr in eigenen Laborzuchten vermehrt. Das vielleicht früheste Beispiel der Einrichtung einer groß
angelegten Versuchstierzucht ist das 1892 privat gestiftete Wistar Institute for
Anatomy and Biology in Pennsylvania (Philadelphia).9 Ab 1906 wurden von
dem Institut kommerziell Ratten für die wissenschaftliche Verwendung vertrieben. Einrichtungen wie diese entwickelten sich zunehmend zu entscheidenden
Durchgangs- und Katalysationspunkten für die Vermittlung speziell produzierter
Versuchstierstämme und ihre Monopolisierung in der medizinischen Forschungsgemeinschaft, wie Karin Rader es für das Jackson Memorial Laboratory
und die Krebsforschung in den USA beschrieben hat.10
In Deutschland war von Anfang die Organisation der Versuchstierzucht auf
eine gewisse Zentralität hin angelegt. Die vorbildliche Rolle der Entwicklungen
in Amerika wurde durch finanzielle und forschungsplanerische Aspekte umgeformt. Dies wird deutlich, wenn man Baurs und Nachtsheims Aktivitäten zur Einrichtung zentraler Anstalten zur Versuchstierzucht folgt und in die Gremien der
Notgemeinschaft gelangt. Der Blick des Betrachters fällt nun auf einen regsamen Betrieb: Forscher, Wissenschaftsorganisatoren, Administratoren und Gefängnisdirektoren beschäftigen sich in Denkschriften, Sitzungen und Verhandlungen mit Kleintieren, die in medizinischen Versuchen verbraucht werden sollen. Nicht Technik oder kostenaufwendige apparative Neuentwicklungen waren
Gegenstand der eigens eingesetzten Kommission der Notgemeinschaft, sondern Kaninchen, Meerschweinchen, Mäuse und Ratten. Was genau, so möchte
man fragen, machte die Nagetiere, die sich nahezu problemlos in jedem einfachen Stall vermehren lassen, für einen derart aufwendigen Verhandlungs- und
Mobilisierungsapparat interessant?
3.1.1 Versuchstiere in den Laboratorien
Schon bald nach ihrer Gründung 1920, die vor allem auf technische Anwendungen abgezielt hatte, entdeckte die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft die „Volksgesundheit” als ein Thema von besonderer Wichtigkeit für ihre
Forschungsförderung.11 Das Thema wurde gleich umfassend angegangen:
Vitamine, die boomende Serologie, Kinderkrankheiten und „Volksseuchen” –
allen voran Syphilis, Krebs, Tuberkulose –, Gewerbekrankheiten, Kropfkrankheiten, Diabetes, das Herz als der „Motor des Körpers“, pharmakologische Forschung, die sich diversifizierende Physiologie, Gefahren in der Schwanger-
7
Vgl. Kohler 1993: 286.
Vgl. Kohler 1994: 37-46; vgl. Kohler 1993.
9
Vgl. Clause 1993; zum Wistar-Institut, vgl. auch Logan 2001.
10
Vgl. Rader 1995: Kapitel 5. siehe auch Rader 1999.
11
Kirchhoff 1999: 21 u. 78
8
105
schaft einschließlich Alkohol und die soziale Hygiene wurden zu forschungspolitischen Schwerpunkten.12
Vorausgegangen war eine radikale und entscheidende Umstrukturierung in
der Arbeitsweise der Wissenschaftsorganisation. Unter anderem entstanden
Sonderkommissionen zur Koordination von „Gemeinschaftsarbeiten”. Diese
Gremien waren, anders als die bisherigen Fachkommissionen, gemischt besetzt. So tauchten in einer von Medizinern dominierten Sonderkommission zur
Einrichtung von Zuchtanstalten für Kleintiere gegen Ende der zwanziger Jahre
die Vererbungswissenschaftler Alfred Kühn und Erwin Baur auf. Auch andere
Kommissionen, die sich mit – bislang der Medizin zugeschriebenen – Themen
befassten, unterhielten Verbindungen zu Genetikern wie Hans Nachtsheim,
Hans Stubbe und Paula Hertwig.
Die Beschaffung mit Versuchstieren wurde in den späten zwanziger Jahren
zu einem wichtigen Thema in der Wissenschaftsförderung. Als Anfang 1928 in
jener mit Medizinern und Vererbungsforschern besetzten Sonderkommission
der Notgemeinschaft über die Einrichtung von Zuchtanstalten für Kleintiere gesprochen wurde, war die Thematik nichts Neues. Der Verbrauch von Versuchstieren war aber ein spürbarer Posten im Finanzhaushalt der experimentell arbeitenden Institute und Labore geworden. Oft hatte man bislang den Bedarf an
Versuchstieren über eigene kleine Zuchten gedeckt. Doch der Verbrauch von
Versuchstieren den Experimenten wurde immer größer. Die Anforderungen an
Qualität und Quantität der Experimente stiegen. Umfangreicheres Zahlenmaterial wurde benötigt, dessen materielle Grundlage die einzelnen Tiere in langen
Versuchsserien waren.13
Die Zucht von Versuchstieren im Keller oder Schuppen der Laboratorien war
zunächst die einfachste und kostengünstigste Variante. Der steigende Bedarf
erschöpfte aber schnell die Institutskapazitäten. Die Wissenschaftler verließen
deshalb ihre Laboratorien und kauften bei privaten Züchtern Tiere auf, um sie
als Versuchstiere zu verwenden. Es etablierten sich Versorgungsnetze für den
wissenschaftlichen Tierverbrauch, in die Züchter von Kleintieren eingebunden
waren. Diese Kleintierzüchter waren entweder Hobbyisten, die nur wenige Tiere
an die Institute verkauften, sie besaßen eine große Zucht im Rahmen eines
landwirtschaftlichen Betriebs oder einer Pelzfarm oder hatten sich auf den Laborbedarf spezialisiert. „Die Beschaffung von Kleintieren zu Versuchszwecken“,
so erzählt Hans Nachtsheim, „war vor dem Kriege nicht schwierig. Abgesehen
davon, dass man die Tiere direkt vom Züchter beziehen konnte, gab es auch
genug Händler, welche sich die Versorgung der wissenschaftlichen Institute mit
dem notwendigen Tiermaterial zur besonderen Aufgabe gemacht hatten und
Kaninchen, Meerschweinchen, Mäuse und Ratten in jeder gewünschten Zahl
beschafften. Dies ist in der Kriegs- und vor allem Nachkriegszeit anders geworden. Die Zahl der Liebhaber, welche Meerschweinchen, Ratten und Mäuse
züchteten, ging mehr und mehr zurück. Es machte zu viele Schwierigkeiten,
das Futter für die Tiere zu beschaffen, und wenn man im eigenen Haushalt
Abfälle hatte, so zog man es vor, Kaninchen zu züchten, die wenigstens ein
12
13
Anonymus 1928c: 102ff.
Vgl. Allen 1998: 41.
106
verwertbares Fell und Fleisch für die Küche lieferten. [... F]ür die wissenschaftlichen Institute wurde die Beschaffung einer hinreichenden Menge von Versuchstieren zu einem ernsten Problem.“14
Die Institute und Labore sahen sich in eine Ökonomie des Kleintierhandels
eingebunden. Bei steigender Nachfrage konnten die Tierzüchter mit Preisforderungen empfindlich das Budget der Institute treffen. So verwundert es nicht,
dass sich die Wissenschaftler gerade in wirtschaftlichen Krisenzeiten um eine
Absicherung ihrer Betriebe zu bemühen begannen. Wie auch Unabhängigkeit
der nationalen Wirtschaft zum eigenen Wert in den Weimarer Jahren stilisiert
wurde und sich zu einem durchschlagenden politischen Argument auswuchs,
so wurde im Kleinen die Autarkie des wissenschaftlichen Betriebs zu einem
wichtigen Ziel. In unwirschem Ton wendete sich ein betroffener Forscher an
den Präsidenten der Notgemeinschaft: „Es ist aber überhaupt in hohem Masse
erwünscht, dass eine Stelle zur Tierzucht besteht, deren Preise gewissermaßen
behördlich festgesetzt werden und dadurch unmäßigen Preissteigerungen seitens der Tierhändler vorgebeugt wird.”15
Schon Anfang der zwanziger Jahre hatte es deshalb in der Notgemeinschaft
erste Unternehmungen gegeben, die Bedarfsstillung an Versuchstieren auf kalkulierbare Beine zu stellen. Es wurden eigene Kleintierzuchtsanstalten eingerichtet, „um die Institute nach Möglichkeit von Händlern und Züchtern unabhängig zu machen“.16 Kleintierzuchtanlagen für Kaninchen und Meerschweinchen
wurden 1922 am Tierzuchtinstitut der Landwirtschaftlichen Hochschule in Hohenheim und in der Strafanstalt Sonnenburg bei Küstrin/Oder eingerichtet. Die
gezüchteten Tiere wurden zum Selbstkostenpreis an die Forscher abgegeben.
Auch am Baurschen Vererbungsinstitut wurde ein solches Zentrum für Kleintierzucht geschaffen.
3.1.2 Die Zuchtanlage in Dahlem
Die Initiative zur Einrichtung der Zuchtanlage in Dahlem war von Baur selbst
ausgegangen. Später waren es Wissenschaftler aus der Medizin, die sich aus
einer noch genauer zu betrachtenden Motivation über die Notgemeinschaft an
die Vererbungsforscher wandten. Baurs Initiative hatte einen handfesten pragmatischen Hintergrund. In den Augen Baurs litt die Vererbungsforschung in
Deutschland unter chronischer Unterfinanzierung.17 Sein Lehrstuhl und Institut
sei gegenüber Dutzenden in den USA die einzige derartige Einrichtung in
Deutschland.18 Zudem hätte er, klagte Baur, seit seiner Berufung an die Berliner
Landwirtschaftliche Hochschule seine wissenschaftliche Arbeit „mit den denkbar
kümmerlichsten Mitteln“ durchführen müssen.19
Das Institut für Vererbungsforschung hatte seinen Sitz in der Invalidenstraße
in Berlin, seine Forschungseinrichtungen, also die Versuchsfelder und -ställe,
14
Nachtsheim 1928h: 301
29.6.1931, Hahn an Präsidenten der Notgemeinschaft (BA Ko, R 73, 159)
16
Nachtsheim 1928h: 301
17
Vgl. 12.2.1913, Baur, Botanisches Institut der Kgl. LHB, an Staatsminister v. Schorlemer
(GStA, I. HA, Rep. 87B, 20058: Bl. 9-11).
18
Bisher kaum beachtet, gab es aber noch das vererbungswissenschaftliche Institut von Carl
Kronacher an der Tierärztlichen Hochschule, Hannover. Siehe 6.1.1, Seite 260.
19
8.11.1914, Baur an Rector der Kgl. LHB (GStA, I. HA, Rep. 87B, 20058: Bl. 37)
15
107
waren aber in provisorischen Anlagen in Potsdam untergebracht. Das Preußische Landwirtschaftsministerium hatte schließlich in umfangreiche Neubauten
auf der grünen Wiese in Berlin-Dahlem eingewilligt. Es sollten neben Institutsgebäuden auch Kaninchen-, Ratten- und Mäusestallungen entstehen, deren
Kosten auf 5,6 Millionen RM beziffert wurden. Die 1919 aufgenommenen Bauarbeiten kamen aber immer wieder wegen Finanzierungsfragen ins Stocken.
Auf Grund des zögerlichen Umzugs nach Dahlem kamen die wissenschaftlichen Arbeiten im Frühjahr 1922 fast zum Erliegen, worauf Baur Planung und
Durchführung der letzten Arbeiten in eigener Regie durchführte.20 Die Stallbauten wurden zum einen behelfsmäßiger ausgeführt. Zum anderen verfolgten
Baur und sein Abteilungsleiter Nachtsheim seit 1921 einen kreativen Plan zur
finanziellen Konsolidierung des Instituts. Ende des Jahres unterbreitete der
zermürbte Baur dem Landwirtschaftsministerium einen Vorschlag. Ihm erscheine es „angezeigt, die Bedürfnisse des Instituts mit denen der medizinischen
Institute zu verbinden”.21 Die Verbindung der Interessen aus Medizin und landwirtschaftlicher Tierzucht stellte sich Baur in nichts anderem vor als in dem Bau
einer schönen Tierzuchtanlage in seinem Institut. In dieser Anlage sollte kommerziell die Zucht von Versuchstieren betrieben werden und ihr Verkauf an
medizinische Institute die Kosten der Versuche decken, die „für die praktische
Tierzucht von der grössten Wichtigkeit sind”.22 Als Abnehmer dachte Baur an
das Institut für Infektionskrankheiten „Robert Koch”, die tierärztlichen Hochschulen in Hannover und in Berlin und an das Institut für experimentelle Therapie in Frankfurt. Dort bestände allein ein Bedarf an 20.000 Kaninchen jährlich.23
Bei der Notgemeinschaft traf Baurs Akquisitionstätigkeit auf offene Ohren.
Sie erklärte sich bereit, die Kosten für die anzuschaffenden Käfige und Ställe zu
übernehmen, das Risiko für Seuchen und andere Unglücksfälle zu tragen und
verpflichtete sich, die erzeugten Tiere zum Selbstkostenpreis abzunehmen.
Baurs Vorteil lag über den Bau der Anlage hinaus darin, ihren Betrieb durch
eine intelligente Doppelnutzung der Tiere für das Institut fruchtbar machen zu
können: einmal durch ihren Verkauf als Versuchstiere und zum anderen als
Versuchskaninchen für die Forschung am Institut. Die Bauarbeiten der Ställe
wurden nun zügig abgeschlossen. Im September 1922 war das Potsdamer
Gelände endgültig geräumt. Nachdem die Pflanzenzuchten bereits sukzessive
nach Dahlem verlagert worden waren, konnte nun endlich auch der Forschungsbetrieb der zoologischen Abteilung aufgenommen werden. Baur hatte
so dem umworbenen Privatdozenten Nachtsheim aus München eine formidable
Ausgangsbasis für seine Vererbungsexperimente organisiert.
20
Vgl. o.D., Niederschrift über die Besprechung am 18.5.1922 im PML betreffend die Neubauten in Dahlem (GStA, I. HA, Rep. 87B, 20281: Bl. 224-258).
21
14.12.1921, Baur an PML (GStA, I. HA, Rep. 87B, 20281)
22
o.D., Niederschrift über die Besprechung am 18. 5. 1922 im PML (GStA, I. HA, Rep. 87B,
20281: Bl. 223)
23
Vgl. o.D., Niederschrift über die Besprechung am 18. 5. 1922 im PML (GStA, I. HA, Rep. 87B,
20281: Bl. 223). Baur errechnete Einnahmen durch den anvisierten Verkauf von 4.000 Versuchskaninchen, 100 Zuchttieren, 5.000 Ratten, 5.000 Mäusen in Höhe von 255.000 RM,
denen ein Bedarf des Instituts von 217.250 RM gegenüber stand (vgl. 19.5.1922, Baur an PML,
in: ebd.: Bl. 218).
108
Der planmäßige Zuchtbetrieb in Dahlem begann also unter einem guten
Stern; doch eine große Zukunft sollte ihm nicht beschert sein. Die anlaufende
Zucht und Etablierung von Zuchttieren konnte die laufenden Kosten nicht
decken. „Der ganze Zuchtbetrieb lebt heute von der Hand in den Mund.”24 Vom
Landwirtschaftsministerium war nichts zu erwarten, zumal dort auf Grund allgemeiner Finanzknappheit über eine Reduzierung des Institutpersonals nachgedacht wurde, obwohl nicht einmal das Plansoll erreicht worden war.25 Anfang
1924 brach Baur resigniert das Projekt ab. Mit der ihm eigenen Art zur tragischen Inszenierung gab er seinen Entschluss bekannt, alle Versuchstiere zu
verkaufen, allmählich alle Versuche einzustellen und alle Mitarbeiter zu entlassen. Seit 1911 arbeite er unter „den elendsten kümmerlichen Bedingungen”, ein
Provisorium habe das andere abgelöst, und jedes Mal sei ihm die wissenschaftliche Arbeit von Jahren vernichtet worden.26 Baur wäre aber nicht Baur, wenn er
sich von den preußischen Kultusbeamten hätte erledigen lassen. Die Notgemeinschaft übernahm nun die Zuchtanlage als ihre volle Nutznießerin. Nur die
Hilfskräfte blieben in der Bezahlung des Preußischen Ministeriums. Nachtsheim
wurde mit der selbstständigen Leitung der Anlage betraut.27 Zwei Jahre später,
im Frühjahr 1926, konnte der Verkauf von 184 Mäusen, 1.151 Ratten, 198 Kaninchen, 3 Schweinen, 13 Ferkeln, 3 Ziegen, 125 Hühnern – sowie 199 Eiern
und 5 Zierfischen berichtet werden.28 Der doppelgenutzte Zuchtbetrieb schien
somit etabliert: Versuchstierverkauf einerseits und Versuchstierverbrauch in
eigener Sache andererseits. Kaninchen und Schweine wurden in Versuchen
Nachtsheims, Hühner, Mäuse und Ratten von Paula Hertwig verwendet.
3.1.3 Die Initiative Wilhelm Kolles und die Gemeinschaftsarbeiten der
Notgemeinschaft
Die Ergebnisse der Zuchtaktivität in Dahlem waren weit von dem entfernt, was
große Zuchtanstalten in Amerika leisteten. Diese hatte man allerdings vor Augen, als 1928 in der Notgemeinschaft eine initiierende Besprechung zur zentralen Koordination der Versuchstierzuchten stattfand. Aufmerksam war bis dahin
in der Notgemeinschaft das Problem der Versuchstierzuchten verfolgt worden.
Ihr Präsident, Friedrich Schmidt-Ott, hatte sich, als Baur drohte, seine Kleintierzuchtanstalt zu schließen, appellierend an das preußische Landwirtschaftsministerium gewandt, da er die Dahlemer Anlage erst am Anfang ihrer eigentlichen Aufgabe sah, die unter Tiermangel leidenden wissenschaftlichen Institute
Preußens zu entlasten.29 Um dem Ziel der Versorgung der deutschen Wissenschaft mit Versuchstieren näher zu kommen, bedurfte es aber einer effektiven
24
20.12.1923, Baur an das PML (GStA, I. HA, Rep. 87B, 20282: Bl. 64)
18.12.1923, Baur an das PML (GStA, I. HA, Rep. 87B, 20282: Bl. 64)
26
Vgl. 16.1.1924, Baur an das PML (GStA, I. HA, Rep. 87B, 20282: Bl. 70-71).
27
Vgl. 2.2.1924, Baur an das PML (GStA, I. HA, Rep. 87B, 20282: Bl. 72).
28
Vgl. 10.3.1926, Baur an das PML (GStA, I. HA, Rep. 87B, 20282: Bl. 330). – Im Herbst 1923
wurden die ersten Tiere verkauft: 34 Mäuse, 29 Ratten, 11 Meerschweinchen und 57 Kaninchen auf einer Zuchtgrundlage von 390 Mäuse, 160 Ratten, 100 Meerschweinchen, 300 Kaninchen (vgl. 20.12.1923, Baur an das PML, in: GStA, I. HA, Rep. 87B, 20282: Bl. 64).
29
Vgl. 26.1.1924, Schmidt-Ott an PML (GStA, I. HA, Rep. 87B, 20282: Bl. 66-67).
25
109
Struktur der Wissenschaftsplanung und vor allem der Einbindung der Wissenschaftler selbst.30
Die unmittelbare Initiative zur Einrichtung zentraler Versuchstierzuchtanlagen
war von Wilhelm Kolle ausgegangen, Direktor am Staatlichen Institut für experimentelle Therapie in Frankfurt. Begeistert war er von der Besichtigung der privaten Zuchtanstalt Burrogh von Welcome & Co. in Detroit, in der jährlich 30- bis
40.000 Meerschweinchen gezüchtet wurden, zurückgekehrt. So inspiriert schlug
er 2 bis 3 zentrale und gut ausgestattete Institute im Deutschen Reich vor, die
die Zucht von Versuchstieren übernehmen sollten.31 Der Präsident der Notgemeinschaft machte sich in gewohnt autokratischer Weise die Angelegenheit
zum eigenen Anliegen.32 Der schon existierende so genannte Tier-Beschaffungsausschuss, bestehend aus einem Sachbearbeiter der Notgemeinschaft
und zwei beratenden Medizinern, wurde um ein Beratungsgremium für die „Gemeinschaftsarbeit zur Versuchstierzucht“ erweitert – oder, wie es später hieß,
die „Gemeinschaftsarbeit zum Zweck der Züchtung von Versuchstieren mit besonderen konstitutionellen Merkmalen“ –, an dem auch Reichsministerium des
Inneren und Reichsgesundheitsamt beteiligt wurden.33
In einer Reihe von Denkschriften äußerten Mediziner den dringenden Bedarf
nach Anstalten zur Tierreinzucht. Der Berliner Hygieniker Martin Hahn erklärte
vornweg, dass „die gesamte medizinische Forschung an Tierversuchen, die mit
reinen Linien ausgeführt werden, ein außerordentliches Interesse besitzt, [...]”.34
Spezielle Plädoyers erläuterten die Bedeutung solcher genetisch rein gezüchteten Tierstämme für einzelne Forschungsrichtungen: Wilhelm Kolle für die Toxizitätsbestimmung in der Chemotherapie, Fred Neufeld, Bakteriologe und Direktor des Preußischen Instituts für Infektionskrankheiten „Robert Koch“, für die
Tuberkuloseforschung, der Serologe und Immunologe Hans Sachs, Direktor der
wissenschaftlichen Abteilung des Heidelberger Instituts für experimentelle
Krebsforschung und Mitglied des Frankfurter Instituts für experimentelle Therapie, für Serologie und Immunologie und Wilhelm Caspari, Physiologe und
Leiter der Abteilung für Krebsforschung am Kolleschen Institut, schließlich für
die Resistenzfrage bei Geschwulsterkrankungen, für Transplantationsexperi30
Dies ist in Zusammenhang mit der Zentralisierung der Forschung durch die Notgemeinschaft
und dem Programm der Gemeinschaftsarbeiten zu sehen (siehe 4.1.3).
31
Vgl. 12.3.1928, Niederschrift der Sitzung am 12. März 1928 im Staatlichen Institut für experimentelle Therapie, Frankfurt (GStA, I. HA, Rep. 92, C58: Bl. 208-209). – Teilnehmer: Proff.
Kolle, Kühn, Baur, Hetsch, Dr. Wolff (Notgemeinschaft), Prof. Schlossberger, Prof. Caspari, Dr.
Albrecht.
32
Zum Führungsstil Schmidt-Otts, vgl. Hammerstein 1999: 46.
33
3.7.1928, Aktennotiz: Betr. Antrag Geh.Rat Kolle auf Errichtung von Zuchtanstalten für kleine
Tiere nach bestimmten wissenschaftlichen Gesichtspunkten (GStA, I. HA, Rep. 92, C58: Bl.
197) – Zu den Beratungen in Berlin wurden eingeladen: Geh.Rat Prof. Haendel, RGA; Geh.
Med.Rat Prof. Friedrich v. Müller, München, Tier-Beschaffungsausschuss; Prof. Miessner, Hygienisches Institut der tierärztlichen Hochschule, Tier-Beschaffungsausschuss; Geh.Rat Prof.
Nocht, Hamburg, Inst. f. Schiffs u. Tropenkrankheiten; Prof. Martin Mayer, ebd.; Geh.Rat Prof.
Neufeld, Berlin, Inst. f. Infektionskrankheiten „Robert Koch”; Geh.Rat Prof. Hahn, Berlin, Hygienisches Inst. der FWU; Geh.Rat Prof. Uhlenhuth, Freiburg, Hygienisches Inst.; Prof. Sachs, Heidelberg, Inst. f. exp. Krebsforschung; Geh.Rat Prof. Kolle, Frankfurt, Staatl. Inst. f. exp. Therapie; Prof. Caspari, ebd.; Prof. Kühn, Göttingen, Zoologisches Institut; Prof. Baur; Prof. Nachtsheim.
34
Hahn 1928: 143
110
mente in der Tumorforschung sowie die in ihren Anfängen stehende Züchtung
von Tumorzellen in vitro.
Nach kürzester Beratungszeit wurde im März 1928 beschlossen, kleinere
Zuchtanlagen zu errichten, um zunächst mit wenigen Zuchtstämmen die ersten
Erfahrungen zu gewinnen.35 An zwei Standorten, die Kolle vorgeschlagen hatte,
sollten die zentralen Zuchten untergebracht sein: am Göttinger Zoologischen
Institut von Alfred Kühn die Meerschweinchenzucht und am Institut für Vererbungsforschung der Landwirtschaftlichen Hochschule in Berlin Zuchten von
Mäusen und Kaninchen. Die Versuchstiere sollten im Rahmen der Gemeinschaftsarbeiten der Notgemeinschaft allen Forschergruppen zu moderaten
Preisen zur Verfügung stehen. Als spezielle Zuchtziele wurde beschlossen,
Meerschweinchenstämme auf die Festigkeit gegenüber Infektionen, speziell
Tuberkulose, und Stallseuchen zu prüfen bzw. sollte „das störende individuelle
Moment“ bei der Prüfung der Salvarsane als Chemotherapeutikum mit Mäusen
„ausgeschaltet“ und verschiedene Tumorstämme nach „amerikanischen Vorbild“ als ideale Objekte für krebstherapeutische und immunbiologische Versuche gezüchtet werden. Außerdem sollte bei den Kaninchen, die der Syphilisforschung in Frankfurt dienten, auf empfängliche Linien und große Hoden geachtet werden.36
Eine gewisse Spannung bestand nur in der Einschätzung, wie schnell die
Zuchten ausgebaut und damit die Produktion von Zuchttieren gesteigert werden
könnte. Baur plädierte für einen schnellen Ausbau, da nur die „fabrikmäßige“
Produktion von Zuchttieren den Anforderungen der Forschung gerecht werde.37
Kühn wandte ein, dass ein all zu schneller Ausbau möglicherweise unbedachte
Festlegungen treffe. Die eingeschlagenen Methoden müssten sich erst im kleineren Rahmen bewähren.38 Die Zurückhaltung Kühns in dieser Frage begründete sich in der veränderten Rolle, die die neuen Zuchtanlagen in der Forschungsplanung der Notgemeinschaft spielen sollten. Die Einbeziehung der
züchterischen Aktivitäten in den medizinischen Forschungskontext bedeutete
eine einschneidende Umstellung der Zuchtpraxis, wie noch zu sehen sein wird.
Nach der schnellen Initiierung der Gemeinschaftsarbeiten zur Versuchstierzucht stand dem groß angelegten Ausbau der Dahlemer Zuchtanlage finanziell
nichts mehr im Wege. Doch nun machte das Preußische Landwirtschaftsministerium Baur endgültig einen Strich durch die Rechnung. Inzwischen stand
nämlich fest, dass Baur als Direktor eines neu gegründeten Kaiser-WilhelmInstituts für Züchtungsforschung die Landwirtschaftliche Hochschule 1928 verlassen würde. Auf Ziele des Nachfolger Baurs sollte Rücksicht genommen
35
Anfang 1928 hatte Kolle seine Vorschläge in die Notgemeinschaft eingebracht (vgl. AMPG,
Abt. III, Rep. 20A, Nr. 103), die medizinischen Denkschriften folgten unmittelbar und im März
wurden bereits konkrete Vorhaben beschlossen.
36
12.3.1928, Niederschrift der Sitzung am 12.3.1928 im Staatl. Institut für experimentelle Therapie, Frankfurt (GStA, I. HA, Rep. 92, C58: Bl. 208-09) – Die Züchtung von Versuchsratten
wurde zunächst zurückgestellt.
37
5.1.1928, Baur an RMEuL (BA B, Biologische Reichsanstalt, alt, R 168, 175). Baur verfügte
schon über konkrete Erweiterungspläne, um 5.000 Kaninchen und 10.000 Mäuse nach Frankfurt liefern zu können (vgl. 14.4.1928, Baur an Schmidt-Ott, in: AMPG, Abt. III, Rep. 20A, Nr.
103).
111
werden – für Baur eine absurde Vorstellung, da „sämtliche Genetiker, die für
mich überhaupt als Nachfolger in Betracht kommen, [...] ganz selbstverständlich
auch die Arbeiten übernehmen und [...] in dem Bau dieser Einrichtungen eine
sehr wichtige Verbesserung des Institutes erblicken” würden.39 Die Nachfolgeverhandlungen Baurs zogen sich aber hin, sodass sich die Notgemeinschaft
schließlich genötigt sah, die groß angelegte Kaninchen- und Mäusezucht an anderer Stelle zu verwirklichen.40
Der Ort, auf den die Notgemeinschaft auswich, war die neu errichtete Strafanstalt Brandenburg an der Havel. Sie ersetzte verschiedene veraltete Strafanstalten, so auch das Sonnenburger Gefängnis. Per Schiff wurden 1931 die beweglichen Stallanlagen der dortigen Zuchtstation der Notgemeinschaft nach
Brandenburg geschafft und der Zuchtbetrieb mit neuen Zuchttieren aufgenommen. Der Aufwand wurde als berechtigt bewertet, da die neue Anlage „die Massenaufzucht der rein gezüchteten Stämme“ mögliche mache.41 An das Gefängnis in Brandenburg war das staatliche landwirtschaftliche Gut Plauerhof angeschlossen, das mit 2.000 Morgen fast einem mittleren landwirtschaftlichen Betrieb ostelbischer Größenordnung entsprach. Beste Voraussetzungen also für
groß angelegte Zuchtvorhaben. Die Leitung der Zuchten in Plauerhof wurde
Alfred Kühn übertragen, dem damit jetzt die gesamten Versuchstierzuchten der
Notgemeinschaft unterstanden. Schon im Herbst fragte ungeduldig Schmidt-Ott
bei Kühn an, ob „jetzt mit der Massenaufzucht reiner Stämme im Grossen begonnen werden“ könnte,42 worauf Kühn ihn abgeklärt unterrichtete: „Es ist sehr
wohl möglich, dass ich mit der Lieferung von Zuchttieren nach Plauerhof sofort
beginne. Nach und nach werden immer mehr Stämme dort in Zucht genommen
werden können, so daß die Massenaufzucht rasch in Gang kommen wird.“43
1933, nach anderthalb Jahren Betrieb, war der Grundbestand an Meerschweinchen nach seinem Neuaufbau mit Zuchttieren aus Göttingen auf 1.116 Tieren
angewachsen und damit verzehnfacht worden.44
3.2
Einfach nur Tiere vermehren? Experiment, Reinzucht und
Konstitution
„Le lapin est un animal capricieux.“
45
Nachdem die Entstehungsgeschichte der Versuchstierzuchten der Notgemeinschaft skizziert wurde, sollen im Folgenden anhand des Diskurses um die Not38
Vgl. 30.6.1928, Karl Stuchtey, Notgemeinschaft, Apparateausschuss, an Schmidt-Ott (GStA,
I. HA, Rep. 92, C58: Bl. 198).
39
26.2.1929, Baur an PML (GStA, I. HA, Rep. 87B, 20283: Bl. 215)
40
Vgl. 26.3.1929, Notgemeinschaft an das PML (GStA, I. HA, Rep. 87B, 20283: Bl. 223-24). –
Am KWI für Züchtungsforschung wurde aus finanziellen Gründen keine Tierzuchtanstalt eingerichtet. Die Säugetierforschung war, so weit ich sie überblicke, dort auf Untersuchungen an
Schweinen zur Immunität gegenüber Seuchen beschränkt.
41
29.6.1931, Hahn an den Präsidenten der Notgemeinschaft (BA Ko, R 73, 159)
42
13.10.1931, Schmidt-Ott an Kühn (BA Ko, R 73, 159)
43
19.10.1931, Kühn an Schmidt-Ott (BA Ko, R 73, 159)
44
Vgl. 29.12.1933, Kühn an die Notgemeinschaft, Abschrift (BA Ko, R 73, 159). Zur weiteren
Entwicklung, siehe 3.3.1.
45
Französischer Züchter zit. n. Neufeld 1928: 149.
112
wendigkeit von organisierter Versuchstierzucht und dann an Beispielen der
praktischen Kooperation (3.3) die markanten Veränderung in den Erwartungen
und der experimentellen Bedeutung der Versuchstierzucht von Anfang der
zwanziger Jahre bis in die dreißiger Jahre hinein nachvollzogen werden. Waren
die Denkschriften der Mediziner über „Tier-Reinzucht für Versuchszwecke“ bloß
im finanziellen Kalkül und der Notwendigkeit vermehrter Zuchtanstrengungen
begründet? Es wird zu zeigen sein, dass die Einrichtung solcher Anlagen die
Konsequenz der Experimentalisierung der Versuchstiere und die Voraussetzung ihrer ‚Technisierung’ war und dass mit der Einrichtung dieser Anlagen
Umstellungen in der Zuchtpraxis einhergingen.
Bevor die Praxis der Versuchstierzuchten unter Kühns Leitung betrachtet
wird, wird nun die sich verändernde Gestalt der Versuchstierzucht der Notgemeinschaft – beginnend mit den Sonnenburger Gefängniszuchten ab 1922,
über die Zuchten Baurs und Nachtsheims bis zu den Einrichtungen, die der
Kommission zur Versuchstierzucht unterstanden – verfolgt. Es wird sich ein
zentraler Zusammenhang zwischen den Zielen der Mediziner und den Veränderungen in der Zuchtpraxis herausstellen. Die Verschiebungen in der
Zuchtpraxis, wie sie sich bereits anhand des Diskurs um die Zuchtanlagen
zwischen 1922 und 1935 festmachen lassen, werden durch die Schlagworte:
„Rein-Zucht” und Zucht reiner Rassen mit „verschiedenen konstitutionellen
Merkmalen” markiert.
Zunächst beschränkte sich die „Zusammenlegung der Interessen“ (Baur) medizinischer Institute und der Genetik auf die Quantität der experimentellen Ressourcen. Während Inzucht und Versuchstierzucht sich bis dahin entweder ausschlossen oder in einer zufälligen Verbindung standen, wurde ihre Verbindung
mit den Denkschriften der Mediziner als Mittel konzeptualisiert, erbliche Homogenität herzustellen. Versuchstierzucht war nicht mehr anders zu denken als
Reinzucht bzw. als Inzucht. Die Genetik wurde damit das bestimmende Ordnungsprinzip der züchterischen Maßnahmen und der organisatorischen Gestaltung in den Versuchstieranstalten. Der experimentelle Zugang zum Leben fand
in der Reinzucht und der organisierten Versuchstierzucht eine konsequente Ergänzung, mit der das experimentelle Regime der Genetik in die Medizin hineingetragen wurde. Die Biologie dieser Zeit stand unter dem Vorbild der Physik
als der exakten Naturwissenschaft, und die Vererbungslehre schien diesem
Ideal am nächsten zu kommen.46 Der Vorbildcharakter der experimentell-analytischen Methode der Vererbungslehre schien nun auch in der experimentellen
Medizin auf fruchtbaren Boden zu fallen.
Mit dem Konzept der „reinen Linien“ und den genetischen Züchtungsmethoden trat das Erbliche in die biomedizinischen Experimentalsysteme ein. Es gelangte zunächst als ungedachte ‚Natürlichkeit’ des experimentellen Objekts von
der Peripherie des Experiments über die Funktion eines technischen Gegenstands in das Zentrum des Forschungsinteresses. Die Bewegung des Genetischen als möglicher wissenschaftlicher Gegenstand (epistemisches Ding) in
den hybridisierenden medizinisch-genetischen Experimentalsystemen soll hier
zunächst am Diskurs über die Versuchstierzucht nach verfolgt werden. Es kann
46
Vgl. Allen 1998: 41.
113
festgehalten werden, dass die Versuchstierzuchten eine unintendierte vermittelnde Dynamik zwischen Medizin und Genetik entfalteten. Thema der nachfolgenden Abschnitte ist dann, nach dem Wie dieser Vermittlung zu fragen.
3.2.1 Der experimentelle Vorteil experimentalisierter Versuchstiere
Mit der Verlagerung der Versuchstierzucht in die Kontrolle der Forschergemeinschaft war nicht nur ein Bedürfnis der Forschungsinstitute nach kalkulierbarer
Versorgung mit Versuchstieren verbunden. Einher damit gingen unmittelbare
Vorteile für den Laborbetrieb. Mit der Gesundheit der Tiere der Kleinzüchter war
es häufig nicht zum Besten gestellt, sodass sich nicht selten Epidemien in den
Laborställen entwickelten. „Der Abfall an Tieren an interkurrenten Erkrankungen
sowohl vor Inversuchnahme wie auch besonders während der Versuche ist
häufig so groß, dass die Versuche entweder nur schwer oder auch gar nicht
auswertbar sind und damit natürlich unverhältnismäßig kostspielig werden.“47
Unter der Obhut kundiger veterinärmedizinischer Betreuung konnten die für die
Versuchsserien missliche Ausbreitung von Krankheiten reduziert werden.
Das Augenmerk gilt hier aber einer anderen Entwicklung. Nach und nach
schoben sich die technischen Bedürfnisse und Vorteile für den Laborbetrieb in
den Vordergrund. Der finanzielle Vorteil, der in den Verhandlungen um die
Zuchtanstalten zunächst im Vordergrund gestanden hatte, wurde schließlich
sogar in sein Gegenteil verkehrt. Der Zuschnitt der Versuchstiere für die Laborpraxis wurde zur eigentlichen Herausforderung und zum Zweck der aufgewendeten Professionalität in den Zuchtanstalten. Finanziell wurden sie aber dadurch zu einem teuren wenn auch, wie die Forscher den Forschungsbürokaten
deutlich zu machen verstanden, einem Vergnügen, das sich eine zeitgemäße
Forschungspolitik leisten musste.
Zunächst jedoch bewegten sich die unter der Leitung Wilhelm Kolles verfassten Denkschriften in einer Logik forschungspolitischer Ökonomie. Der Hinweis
auf eine damit einhergehende Finanzeinsparung war all zu deutlich. Wilhelm
Caspari blies für die Krebsforschung das gleiche Horn. Er hielt vor Augen, dass
in Amerika bei manchen Versuchen die Zahl der Kontrolltiere mehrere tausend
Stück betrüge. Auf diese Weise sollten die Fehlerquellen minimiert werden, die
daraus resultieren, dass nie mit Sicherheit bestimmt werden konnte, welchen
Ursprungs das vom Händler bezogene Tiermaterial war. Was in Amerika gut
und schön sei, wäre eine Methode, „die natürlich für uns schon wegen der ungeheuren Kosten nicht in Betracht kommt”.48 Eine „wesentliche Verbilligung” der
Versuche versprach er sich von der Züchtung und Verwendung reiner Mäusestämme. Die Einrichtung einer besonderen Zuchtanstalt für Versuchstiere war
also unvermeidlich, wollte man nicht international den Anschluss verlieren.
Durch eine Erhöhung der technischen Kontrolle über das „Versuchsmaterial”
und die gesamte Versuchsorganisation, so die Argumentation der Gutachter,
könne der Nutzen für die Menschheit und die finanzielle Effizienz der Forschung
gesteigert werden. Eine frohe Botschaft an die Forschungsorganisation.
47
48
21.6.1935, Hans Reiter an Forschungsgemeinschaft (BA Ko, R 73, 12475: Seite 1 v. 3)
Caspari 1928: 151; vgl. auch Kolle 1928: 148.
114
Der Wunsch, mit gleichförmigem Versuchsmaterial ausgestattet zu werden,
war für die Wissenschaftler allerdings keine rein finanzielle Frage. Die Unterschiedlichkeit unter den Versuchstieren wurde als ein Hindernis für die experimentelle Praxis dargestellt und ihre Ursache in der unprofessionellen Organisation der privaten Tierzuchten ausgemacht. Versuchstierzucht in den Kleintierzüchtereien oder auch in wissenschaftlichen Instituten war bis dahin meist eine
bloße Vermehrung der Tiere. Es gab keine Genealogien und keine Abstammungsnachweise. Die Physiologie des Kaninchens, die Endokrinologie der
Maus oder die Pathologie des Meerschweinchens wurde untersucht. Es war
gleichgültig, ob die Maus weiß, schwarz oder wildfarben war, ob ihre Ahnen
einmal in Brandenburg, Bayern oder im Elbsandsteingebirge zu Hause gewesen waren oder ob das Schicksal des Mäusestamms schon über Generationen
durch die Hand des Züchters bestimmt wurde. In den Denkschriften wurde nun
gefordert, mit der undurchschauten Konstitution der Tiere Schluss zu machen.
Aufstrebende Forschungsbereiche, die zum Teil erst auf eine jüngste Vergangenheit zurückblickten, meldeten Bedarf an: Physiologie, Bakteriologie, Serologie, Endokrinologie und chemotherapeutische Forschung. Darin manifestierte sich ein neues forscherisches Selbstbewusstsein: Medizinische Wissenschaft
soll und kann als exakte Forschung stattfinden.49 Mit der Physiologie begann
sich im 19. Jahrhundert in der medizinischen Forschung die experimentelle Methode zu etablieren. An die Stelle der „Betrachtung des ganzen Organismus“
trat in der experimentellen Medizin das Interesse an „Stoffwechselvorgängen in
den einzelnen den Körper zusammensetzenden Geweben, ja sogar den einzelnen Zellen“.50 Das Tierexperiment, so erläuterte der Berliner Hygieniker Martin
Hahn, zeichnet sich durch Kontrolle und Nachahmung aus. Durch die Kontrolle
der Umweltwirkungen gelänge es, die akuten Schädigungen an einem Organismus durch chemische, physikalische oder biologische Agenzien nachzuahmen
und isoliert zu betrachten.51
3.2.2 Die Experimentalisierung des Versuchstierkörpers zum
„Reagenzmaterial“ – das ‚Prinzip des erweiterten Laboratoriums’
Das Laboratorium gestattete es zwar, die Bedingungen eines Versuchs gleichförmig zu gestalten. Doch half dies nichts, wenn die Gleichförmigkeit im Versuchsobjekt selbst schon ein Ende fand. So litten Experimente mit „belebten
Reizen, d.h. mit Infektionserregern und makroskopischen Parasiten”, unter ihrer
wechselnden Virulenz.52 Diese Schwierigkeiten hatten ihre Entsprechung im
Organismus, denn die Infizierung hing auch vom Zustand des Körpers des befallenen Tiers ab. Alter, Gewicht, Ernährung und auch durch eine vorausgegangene Krankheit erworbene Eigenschaften, so Hahn, machten den individuellen
Menschen mal mehr oder weniger für eine bestimmte Krankheit anfällig. Die
Disposition variiere von Mensch zu Mensch und verändere sich im Laufe eines
Lebens.53
49
Zu der Rhetorik dieses Anspruchs, vgl. Hagner 2002: 2.
Anonymus 1928c: 107
51
Vgl. Hahn 1928: 140.
52
Hahn 1928: 140
53
Vgl. Hahn 1928: 141-42.
50
115
Die Wandelbarkeit und Unterschiedlichkeit der Menschen in ihrer Krankheitsanfälligkeit, die dem Arzt in seiner täglichen Praxis als geheimnisvolle Erfahrung
entgegentrat, war dem forschenden Arzt ein Hemmnis für seine exakten experimentellen Unternehmungen. Im experimentellen Arrangement eines Labors nivellierte sich der Unterschied zwischen den Instrumenten, Apparaten und Abläufen und dem wissenschaftlichen Objekten – dem Körper oder Präparat.
Während zunächst in der physiologischen Forschung ein Sammelsurium an
Tieren verwendet worden war, setzte sich im neuen Jahrhundert eine Tendenz
zur Standardisierung unter der veränderten Annahme durch, dass sich das Allgemeine in der Gleichförmigkeit verberge.54 Unter den Bedingungen des Experiments musste das Leben der gleichen Standardisierung unterworfen werden,
wie der Apparat oder die Prozedur.
In der experimentellen Befragung wird das, was die Natur repräsentieren soll,
in seine Eigenschaften zerlegt – konzeptuell und auch materiell. Es werden isoliert Vorgänge oder Abschnitte im Organismus betrachtet, das heißt, die übrigen
Teile des Organismus werden ausgeklammert. Mit der Zergliederung wird dieses Übrige des Lebewesen oder Präparats zum experimentellen Umfeld. Es ist
ebenso Umfeld, wie das Labor Umfeld ist. In der funktionellen Einrichtung eines
experimentellen Systems zerfließt die Grenze, die durch die organismische Einheit des Versuchstiers gegenüber den Instrumenten und Vorrichtungen des Labors. Das Umfeld des Experiments endet erst an der Stelle, an der der Gegenstand des Experiments beginnt. Diese Tendenz zur Ausdehnung des experimentellen Umfelds in den Körper hinein – oder aber auch auf weit entfernte
Züchtungsstationen – könnte als ‚Prinzip des erweiterten Laboratoriums’ bezeichnet werden.
Die Mediziner der Gutachten, so ist zu beobachten, lasteten die den Körpern
der Versuchstiere zugeschriebene Variation im Experiment nun der unterschiedlichen Konstitution und Disposition der Tiere an. Der Heidelberger Serologe Sachs erklärte, dass die Fähigkeit von Kaninchen, spezielle Antikörper zu
bilden, konstitutionell bedingt sei, und klagte, dass bislang „bei dem zur Verfügung stehenden gemischten Tiermaterial nur die reine Empirie entscheiden”
lässt, welche Individuen zu einer solchen Immunisierungsreaktion fähig sind.55
Dadurch wäre nicht nur die Forschung, sondern auch die wohltätige Gewinnung
von Antisera für die Medizin von der Zufälligkeit des „Tiermaterials“ abhängig.
Das sollte sagen, dass man, wenn die Virulenz von Erregern untersucht werden
sollte, auch auf das Wirkungsfeld der Erreger selbst achten musste: das Meerschweinchen oder Kaninchen. Deshalb waren die Haltungsbedingungen möglichst gleich zu halten, und deshalb musste die Fütterung einheitlich sein, zur
gleichen Tageszeit erfolgen, die gleiche Kost in gleichen Mengen verabreicht
werden.
54
Vgl. Logan 2002: 358. – Es wäre aber auch zu fragen, ob die Ausdehnung des experimentellen Umfelds in das Versuchsobjekt hinein nicht als konsequente Fortschreibung der Episteme
der experimentellen Medizin und Biologie seit dem 19. Jahrhundert und der „Experimentalisierung des Lebens“ gesehen werden kann.
55
Sachs 1928: 144. Ähnlich äußert sich Prof. Neufeld zur Krankheitsempfänglichkeit von Kaninchen gegenüber Tuberkulose (vgl. Neufeld 1928: 150).
116
Durch eine Koordinierung der Zuchtabläufe an verschiedenen Orten oder
durch die Konzentrierung der Zuchten an einem Ort sollten diese gleichen Bedingungen geschaffen werden. Als Alfred Kühn mit der Betreuung der Versuchstierzuchtanstalt auf dem landwirtschaftlichen Gut Plauerhof beauftragt
wurde, bedang er sich aus, dass der Tierzuchtleiter zuvor nach Göttingen kommen sollte, um die dortige Anlage und Verfahren kennen zu lernen. Protokolle
der „peinlich genauen Zuchtbuchführung nach Göttinger Muster“56, wie die Anstaltsleitung rekapitulierte, sollten ständig nach Göttingen geschickt werden.
Kühn wollte dadurch Sorge tragen, dass von vornherein die gleichen Abläufe,
Techniken und Benennungen, wie sie in siebenjähriger Erfahrung an Kühns
Zoologischen Institut und in der benachbarten Geflügelstation Friedland herausgearbeitet worden waren, auch auf die in Brandenburg heran zu züchtenden
Versuchstiere angewandt würden.57 Gleiche Bedingungen der Aufzucht und
gleiche Zuchttechniken sollten die Angleichung des „Versuchsmaterials” selbst
bewirken.
Das medizinische Labor wurde durch diese Standardisierungsmaßnahmen,
die das wissenschaftliche Objekt mit einbezogen, den chemischen oder physikalischen Laboratorien weiter angeglichen. Die Versuchstiere wurden zum festen Bestandteil der materiellen Infrastruktur des Labors. Viele der Materialien,
Stoffe oder Reagenzmittel galten bereits als gereinigt und zwischen verschiedenen Laboren austauschbar. Analog sollte auch in der medizinischen und biologischen Forschung das „Tiermaterial” standardisiert werden. Die Versuchstiere
der Zuchtstation, die zur Analyse ins Labor geschickt wurden, galten dementsprechend als „standardisierte[s] Reagenzmaterial” (A. Kühn).58 Die organisierte
Versuchstierzucht stärkte die experimentelle Praxis. Sie wurde vielleicht billiger,
aber vor allem wurde sie ausdehnbarer. Die Angleichung des „Tiermaterials“
konnte die Migration experimenteller Protokolle zwischen einzelnen Laboren erleichtern – von „immutable mobiles“ in Latours Worten.59 Dies war ein entscheidender Aspekt der Überlegungen zur Versuchstierzuchtanlage, auf deren zentrale Organisationsform Kühn deshalb bestand. Die Zentralität entsprach zudem
der Form von Forschung in „Gemeinschaftsarbeiten“, wie sie durch die Notgemeinschaft forciert wurden. Und die Angleichung der Tiere ermöglichte in der
Genetik neue Fragestellungen, wie noch zu sehen sein wird. Doch nun der
Reihe nach.
3.2.3 Inzucht vermeiden und analysierte ‚second-hand’ Tiere
Der leitende Gedanke der ersten Zuchtanlagen der Notgemeinschaft war, „das
Material durch Zusammenarbeit mehrerer Institute möglichst vielseitig auszunutzen. Die Kleintierzuchtanstalten wurden an Institute angeschlossen, denen
es auf die Züchtung einer möglichst grossen Zahl gesunder Tiere ankommt, sei
es zu Vererbungs-, zu Fütterungs- oder anderen Versuchen. Die aus den Versuchen frei werdenden Tiere werden dann zu einem möglichst billigen Preise
an medizinische und andere Institute zu serologischen oder Infektionsversu56
12.12.1931, Direktor der Strafanstalt Brandenburg an Notgemeinschaft (BA Ko, R 73, 159)
Vgl. 26.12.1931, Kühn an Notgemeinschaft (BA Ko, R 73, 159).
58
19.10.1931, Kühn an Schmidt-Ott (BA Ko, R 73, 159)
59
Latour 1987: 227
57
117
chen, operativen Eingriffen usw. abgegeben. Auf diese Weise ist in den letzten
Jahren bereits eine beträchtliche Zahl von Versuchstieren herangezogen worden.“60 Mit diesen Worten ist die Ausgangssituation des Engagements der Notgemeinschaft in der Versuchstierzucht beschrieben. Es muss genauer hingesehen werden, um zu erkennen, welcher Begriff von Zucht sich darin verbarg, um
dann die Veränderungen zu sehen, die ab 1928 die Versuchstierzucht prägten.
Die Genetik der Tiere war anfangs kein Thema der Versuchstierzucht – und
konnte es auch nicht sein.
3.2.3.1
Die Kleintierzucht der Notgemeinschaft in der Strafanstalt Sonnenburg
Die erste Tierzuchtanlage, die die Notgemeinschaft einrichtete, wurde 1922 im
Gefängnis Sonnenburg bei Küstrin (Oder) untergebracht. Versorgung, Pflege
und Betreuung unterstanden der Gefängnisverwaltung. Die Sträflinge waren mit
den Arbeiten betraut. Die wissenschaftliche Beratung erfolgte durch den Mediziner Martin Mayer, Abteilungsvorsteher am Hamburger Institut für Schiffs- und
Tropenkrankheiten. Mayer hatte beträchtliche Erfahrung in der Tierhaltung,
denn seit 1904 betreute er das dortige Tierhaus. Entsprechend detailliert waren
seine Ratschläge, die er der Notgemeinschaft und den Gefängnisdirektion zu
Fütterung und Haltung und schließlich auch zur Steuerung der Vermehrung zu
erteilen hatte. Unter anderem sei eine „gute Auswahl“ unter den Zuchttieren zu
treffen.
Was verstand Mayer unter „guten“ Zuchttieren? „Gute harte Tiere können [...]
aus der Aufzucht gewählt werden, und durch Registrieren des Bespringens und
der Geburtenzahl ist eine gute Zuchtwahl zu treffen. Die von den Kaninchenzüchtern bevorzugten Böcke sind meist nicht für Versuchstierzwecke geeignet,
da sie für andere Ziele (Rassenliebhaberei) herausgezüchtet sind. Edle Rassen
sowie Albino sind als Versuchstiere gewöhnlich zu empfindlich. Die braunen,
grauen, silbergrauen und schwarzen Rassen und besonders Kreuzungstiere
dieser sind am härtesten.“61 Im Zentrum der Aufmerksamkeit standen, wie die
konkrete Anweisung zeigt, Eigenschaften, die eine effiziente Produktion garantierten. Die Tiere sollten nach ihrer Robustheit für den Gefängniseinsatz selektiert werden. Der Horizont der Zuchtplanung reichte genau bis zum Gefängnistor. Möglichst viele Tiere sollten dieses verlassen. In welchem medizinischen
Institut und in welchem experimentellen Arrangement sie benutzt werden sollten, brauchte den Zuchtleiter nicht zu interessieren.
Andere Ratschläge Mayers beschäftigten sich mit der Kontrolle der Vermehrung. Bei Meerschweinchen, die in Gruppen bis zu 300 Stück gehalten werden
könnten, müssten Maßnahmen getroffen werden, um Seuchen und Inzucht zu
vermeiden. Und bei den getrennt zu haltenden Kaninchen musste der Wärter
ein „geübter Kaninchenzüchter“ sein, „um das hier für die Aufzucht sehr wichtige Verteilen der Böcke vorzunehmen und Maßnahmen gegen Inzucht zutreffen“.62 Die Vorkehrungen zielten also auf die Vermeidung der Inzucht und damit
auf das Erbliche, aber in einer unspezifischen und rein negativen Weise. In60
Nachtsheim 1928h: 301
o. D., Martin Mayer: Gesichtspunkte für Versuchstierzucht (BA Ko, R 73, 160)
62
o. D., Martin Mayer: Gesichtspunkte für Versuchstierzucht (BA Ko, R 73, 160) Herv. Verf.
61
118
zucht, also die Paarung engst verwandter Tiere, wurde seit Mitte des 19. Jahrhundert immer wieder eine degenerative Wirkung zugeschrieben.63 Insbesondere in Kreisen deutscher Tierzüchter hielt sich diese Auffassung. Die Inzucht
wurde für alle möglichen in der Praxis auftretenden ‚Mängel’ an Haus- und
Nutztieren verantwortlich gemacht: Überbildung der Körperform, verminderte
Lebenskraft, mangelnde Entwicklungsfreudigkeit, verminderte Zeugungsfähigkeit, schlechte Futterausnutzung, Missbildungen, wie Hasenscharte, Kurzbeinigkeit, Achondroplasie, Albinismus, Instinktverlust usw.64 Typisch für die erhitzte Debatte in den Züchterkreisen dürfte die schon bekannte Äußerung eines
Kaninchenzüchter sein, in der er das Erfahrungswissen alter Züchter pries: Der
Züchter weiß, dass „er durch Inzucht und Inzestzucht niemals Glück und Erfolge in der Zucht hatte. [...] ‚Schlage dem armseligen Tierchen mit trockenem
Holz ins Genick und gib ihm kaltes Eisen (das Messer) in die Kehle!’ Es war
dieses Verfahren die beste Medizin für dergleichen Tiere, welche durch Inzucht
meist ein ganzes Arsenal an Krankheiten in sich hatten.“65
Die „graue Theorie“ (der Züchter) kam in Gestalt der mendelschen Erblehre,
die die Behandlung des „Inzuchtproblems“ auf „ein exakt wissenschaftliches
Niveau“ zu bringen trachtete.66 Aus der Sicht der Genetik war der Widerstreit
der Meinungen und die Auseinandersetzungen zwischen führenden Züchtern
und leitenden Zuchtbeamten über ihre Erfahrungen nicht verwunderlich, wie
Carl Kronacher, wohl der beste Kenner des tierzüchterischen Geschehens
seiner Zeit,67 bemerkte, „weil derartige Auseinandersetzungen vielfach immer
noch von falschen Vorstellungen und Voraussetzungen ausgehen und die Begriffe und Ergebnisse der neuzeitlichen Biologie dabei meist ungenügende
Berücksichtigung und irrtümliche Verwendung finden“.68 Reinzucht und Inzucht waren aus Sicht der Genetik wertvolle, wenn auch riskante Methoden, um
„wünschenswerte Eigenschaftsanlagen“ festzulegen und zu vereinheitlichen,
deren Gebrauch Experten vorbehalten sein sollte.69
Die Genetiker, die mit der alten Versuchstierzucht zu tun bekamen, standen
in der Diskreditierung der strikten Haltung der praktischen Züchter und der dort
63
Vgl. Kronacher 1924: 1. Kronacher zufolge wurde seit „den Zeiten des Altertums“ um die
Frage gestritten. Englische Hochzüchter hätten die I. im 19. Jh. erfolgreich angewandt. Erst de
Charpeaurouge hätte die Frage durch Forschungen in der Haustierzucht gründlich angegangen
und wäre damit erfolgreich gegen die einseitige Schulmeinung insbesondere in Deutschland
Sturm gelaufen. – Nach dem finnischen Genetiker H. Federley war Darwin der Erste, der die
Bedeutung der Vererbung für die Inzuchtfrage erkannte; doch erst mit der mendelschen
Erblehre sei ein wissenschaftlicher Zugang zum Problem möglich (vgl. Federley 1928: 2).
64
Vgl. Kronacher 1924: 12.
65
Baumbach 1928: 862
66
Federley 1928: 2
67
Vgl. Comberg & Hrsg. 1984: 116. Zu Kronacher, siehe 6.1.1, Seite 260.
68
Kronacher 1924: 2
69
Kronacher 1924: 48 – In der Bewertung der Inzucht beriefen sich die Verfechter vor allem auf
experimentelle Ergebnisse der Genetikerin Helen D. King, die im Wistar Institute Ratten bis zur
25. Generation in ingezüchtet hatte (vgl. zu King Clause 1993: 345; Rader 1995: 44-46). In
Deutschland wurden am Dahlemer Genetik-Institut Versuche an Baurs wichtigster Experimentalpflanze, dem Löwenmaul, durchgeführt. Vor allem ging es in den von Nachtsheim vorgeschlagenen Versuchen um die in den zwanziger Jahren in der Genetik umstrittene Frage, ob die
tatsächlichen „Degenerationserscheinungen“ nach Inzucht auf die Wirkung rezessiver Allele
oder andere Ursache zurückzuführen seien (Kronacher 1924: 14).
119
praktizierten Zuchtkniffe nicht zurück. Für den Leiter der Göttinger Zuchten war
klar, dass die „beliebte ‚Blutauffrischung’ mit Einzeltieren, der Tausch größerer
Anzahlen von Zuchttieren oder ein häufigerer vollständiger Wechsel in der Fütterungsart bekannte Mittel [sind], um über den eigentlich eingetretenen Mißerfolg solcher Züchtungsmethoden [schlechte Haltungsbedingungen] hinwegzutäuschen“.70 In den genetischen Instituten war die Inzucht eine experimentelle
Methode, die aus dem mendelgenetischen Experimentalsystem nicht wegzudenken war. Wegen der doppelten Nutzungsstruktur waren die Versuchstiere in
Dahlem deshalb automatisch Inzuchttiere. In Sonnenburg hingegen wirkte die
züchterische Barriere gegen die Inzucht als Ausschluss mendelgenetischer
Methoden. Die Zuchttiere konnten nicht als genetisch Gestaltbares in den Blick
kommen, solange der Eingriff in das Erbgeschehen Bedrohliches verkörperte.
Zu diesen praktizierten Zuchtprinzipien verhielten sich die Wünsche der Abnehmer der Versuchstiere komplementär. Die Kunden der Versuchstierzucht
waren zumeist Mediziner.71 An erster Stelle ihrer Wünsche stand die Gesundheit der Tiere. Hin und wieder wurde ein spezielles Gewicht der Tiere oder eine
spezielle geschlechtliche Zusammensetzung der Tiergruppen gewünscht, mal
wurden „silbergraue Tiere bevorzugt“ oder „Kaninchen mit möglichst langen
Ohren“. Alles dies waren Eigenschaften, die sich auf vorhandene Möglichkeiten
der Versuchstiere bezogen. Mit der Zucht als Gestaltungstechnik hatte dies
nichts zu tun.
Die Erblichkeit konnte also im Modell der Sonnenburger Versuchstierzucht
kein Prinzip der Gestaltung sein. Die Gestaltung der Tiere fand im Zufall ihrer
Paarung statt. Die Tiere wurden, so ihre ‚Natur’ dies zuließ, in gemischten Gemeinschaften gehalten. Das schloss jede Ordnung oder Klassifikation von vornherein aus, erlaubte aber eine effiziente Massenzucht. Das „Tiermaterial“ konnte „nicht analysiert“, das heißt nach mendelschen Vererbungseigenschaften
aufgeteilt werden, wie Nachtsheim bemängelnd anführte, war dafür aber „wegen der geringen Produktionskosten besonders billig“.72
70
Kröning 1938: 711
Im Jahr 1925 wurden bspw. 30 verschiedene Abnehmer beliefert, davon waren, so weit ersichtlich, 26 Mediziner oder medizinische Institute: PD Dr. Hesse, Breslau (Pharmakologisches
Inst.); Prof. Ackermann, Würzburg; Prof. Trendelenburg, Physiologisches Inst., Tübingen; Prof.
Grafe, Med. Univ. Poliklinik, Rostock; Dr. Granzow, Breslau (Univ.-Frauenklinik); Oberarzt Dr.
Langer, Dermatologische Abt. d. RVK, Berlin; Dr. Ela Evers, Georg Speyerhaus, Frankfurt; Dr.
Uhlenhuth, Hygienisches Inst. Freiburg; Sachs, Inst. f. exp. Krebsforschung, Heidelberg; Prof.
Binz, Chemisches Inst., LHB; Prof. Jötten, Hygienisches Inst. Münster; Dr. Werner Schultz, II.
innere Abt. des Krebskrankenhauses Westend; Dr. Ehrismann, Pharmakologisches Inst., Berlin;
Pharmakologisches Inst. Halle; Prof. Löhlein, Univ. Augenklinik, Jena; Dr. Domagk, Pathologisches Inst., Münster; Dr. Kurt Meer, Bakteriologische Abt. RVK; Univ.-Hautklinik, HH; Dr.
Bergel, Pharmakologisches Inst., Berlin (immuntherapeutische Versuche bei Syphilis); Prof.
Kuczinski, Dr. Schwarz u. Prof. Lubarsch, Pathologisches Inst., Berlin; Inst. für Infektionskrankheiten „Robert Koch“; Prof. Scholtz, Univ.klinik u. Poliklinik f. Hautkranke, Königsberg; Staatl.
Hygienisches Inst., Beuthen; Tierseucheninst. der Landwirtschaftskammer der Provinz Hannover; Dr. Wolff, Pathologisches Inst., Charité; Dr. Rühl, Berlin; W. Kolle, Frankfurt; Prof. Bongert,
Berlin; Inst. für Nahrungsmittelkunde der Tierärztlichen Hochschule, Berlin; Prof. Zwick, Veterinärhygienisches u. Tierseuchen-Inst., Giessen; Dr. Otto Moritz, Botanisches Inst., Kiel (vgl. BA
Ko, R 73, 160).
72
Nachtsheim 1928h: 302
71
120
3.2.3.2
Der trojanische Stall aus Dahlem
Der Bedarf nach Versuchstieren stieg zwischendurch derart, dass ein Ausbau
der Sonnenburger Tieranlage nötig schien. Den Ausschlag dazu gab der wiederholte Ausbruch von Epidemien bei Überbelegung der Tierställe. War nun die
benachbarte Tuberkulosestation des Gefängnisses oder das feuchte Klima Ursache für das Massenhusten unter den Kaninchen? Nachtsheim kam nach
einer Ortsbesichtigung zum Schluss, dass die Feuchtigkeit Schuld sei und empfahl die Dahlemer „Frei-Luft-Züchtung“. Zudem vertrat er die Ansicht, dass alle
Tiere und Zuchttiere vernichtet und die Stammrasse durch eine andere Rasse
ersetzt werden sollten.73
Auf diese Weise wurde das Haltungskonzept der genetischen Tierzuchten
aus Dahlem in den bislang aus der Sicht der genetischen Wissenschaft unprofessionellen Bereich der Gefängnismauern implantiert. In der Anlage des Instituts für Vererbungsforschung kam es darauf an, dass sich darin Kaninchen aller
Art wohl fühlen konnten. Die Optimierung der Verhältnisse durch einzelne bauliche Maßnahmen hatte sich daran zu orientieren, um „möglichst viel Licht und
Luft“ und den Muttertieren „einige Monate Ruhe“ zu erlauben. Die völlige Trennung von Futtergang und Dunggang war neben anderen eine „wichtige hygienische Maßnahme“, um Ungeziefer „keinen Unterschlupf“ zu gewähren. Darüber hinaus: Alle Buchten nach Süden offen für ein angenehmes Klima; eine
minimale Stallgröße entsprechend jeder Rasse; viel Auslaufmöglichkeiten, denn
dann entwickelt sich das Kaninchen umso besser. Andere Maßnahmen wiederum sollten „die für Kaninchen besonders gefährliche Zugluft“ vermeiden oder
gewährleisten, dass der Urin in den Dunggang abfließen kann, dass das Tier
trocken sitzt – „das Kaninchen ist gegen Feuchtigkeit sehr empfindlich“, oder
sollten eine gründliche Reinigung und Desinfizierung ermöglichen – nicht nur
vier mal im Jahr „wie es in einem Buche heißt, das sich auch mit der Haltung
von Versuchstieren befaßt“.74
Die gesamte Stallanlage in Dahlem war so konzipiert, dass sich die Haltungsverhältnisse auf die Wahl der Kaninchen nicht auswirken mussten. Die
Auswahl der Tiere konnte sich, so entlastet, allein am vererbungswissenschaftlichen Interesse orientieren. Es war egal, ob Albinokaninchen empfindlich waren
oder nicht. Die baulichen Maßnahmen ermöglichten spezielle genetische und
pelzzüchterische Fragestellungen. Sie ermöglichten sogar pathologische Fragen. Insofern auch gebrechliche und kaum lebensfähige Kaninchen gehalten
werden konnten, schuf die Architektonik der Stallanlage die Voraussetzung für
das Auftauchen prekärer Lebenszustände im Versuchstierstall und erbpathologische Fragestellungen.
Die genetische Zuchtanlage war nicht nur auf die Gewährleistung von Effizienz und Gesundheit hin ausgelegt, sondern darauf, Arbeiten in einem vererbungswissenschaftlichen Kontext zu unterstützen. Die Methoden der Genetik
erforderten die reproduktive Trennung der Tiere und ihre genaue Identifikation.
73
Vgl. 21.6.1926, Notgemeinschaft an Preuss. Hauptlandwirtschaftskammer; 20.6.1927, Strafanstaltsdirektor an Notgemeinschaft; 15.12.1927, Notgemeinschaft an Strafanstalt (BA Ko, R
73, 160).
74
Nachtsheim 1928h: 305-06
121
Die baulichen Maßnahmen in der Dahlemer Kaninchenzuchtanlage seien, so
setzte Nachtsheim fort, darauf ausgelegt, eine „geordnete Zuchtbuchführung“
zu erlauben, sich „auch im Stall über die Abstammung und die Nachkommenschaft jedes Kaninchens rasch orientieren zu können“, einen „raschen Überblick
über das alte Zuchtmaterial“ zu ermöglichen, „bei einem Rundgang durch den
Stall sich sofort darüber orientieren zu können, wo tragende Häsinnen oder solche mit Jungen sitzen, welche Tiere krankheitsverdächtig sind usw.“ und um
Verwechslungen zu vermeiden.75
Die Zuchtstruktur, die das architektonische Gerüst der Neubauten in Sonnenburg nach Dahlemer Vorbild ermöglichte, blieb zunächst eine ungenutzte Form.
Sie erwies sich als ‚Trojanisches Pferd’, als Sonnenburg zur Disposition stand.
Alfred Kühn fragte kritisch, ob denn die Einrichtung überhaupt „zweckmäßig und
modern [sei], daß es sich verlohnt, mit ihr den wichtigen Betrieb mit standardisiertem Material anzufangen“?76 Aber ja, die Form der Anlage stellte sich als
„außerordentlich zweckmäßig“ dar,77 nur fehlte eben noch das züchterische
Know-how.
3.2.3.3
Die Versuchstierzucht am Institut für Vererbungsforschung
Baur hatte es zwar eingefädelt, sein Institut in den Versorgungsplan für Versuchstiere aufzunehmen, Pate hatte aber Wilhelm Kolle gestanden, der bereit
war, auch in finanzieller Hinsicht die Versuchstierzucht zu fördern, um den hohen Bedarf an Versuchstieren an seinem Institut zu stillen.78 In der Dahlemer
Tierzucht sollten vor allem Ratten und Mäuse gezüchtet werden, bei Anfrage
wurden aber auch Kaninchen abgegeben, und als besonderer Vorteil galt, dass
die Tiere „analysiert“ seien.79 Was bedeutete es, dass die Tiere in Dahlem „analysiert“ waren?
Von Anfang an waren die Dahlemer Kleintierzuchten ein Hybrid aus genetischer Forschungseinrichtung und Versuchstierzuchtanstalt. Die Interessen der
Genetiker und Mediziner überschnitten sich darin. Baur erläuterte, dass „die
Klärung rein wissenschaftlicher und tierzüchterischer Fragen“ ohne eine solche
Anlage zur Versuchstierzucht nicht im nötigen Umfang durchgeführt werden
könnte.80 Die frisch gebackenen Dahlemer Tiergenetiker Hans Nachtsheim und
Paula Hertwig kamen so überhaupt in die Möglichkeit, mit dem Betrieb der zoologischen Abteilung beginnen zu können.81 Der Vorteil der Mediziner war die
verlässliche Versorgung mit gesunden und preisgünstigen Versuchstieren. Mit
den Bedürfnissen der Mediziner und der Einrichtung ihrer Experimentalsysteme
hatten die Zuchtversuche Nachtsheims und Hertwigs aber wenig zu tun. Paula
75
Nachtsheim 1928h: 307ff. – Eine genaue Beschreibung der Dahlemer Anlage, der Haltungsbedingungen und der Zuchtmethoden findet sich in diesem Aufsatz.
76
2.7.1931, Kühn an Schmidt-Ott (Ba Ko, R 73, 159)
77
31.10.1931, Schmidt-Ott an den Präsidenten des Strafvollzugsamts (Ba Ko, R 73, 159)
78
Nach Verhandlungen mit Nachtsheim und Baur unterstützte Kolle den Bau der Stallanlagen
mit 200.000 RM (vgl. 19.5.1922, Baur an PML, in: GStA, I. HA, Rep. 87B, 20281: Bl. 218; o.D.,
Niederschrift über die Besprechung am 18.5.1922 im PML, in: ebd.: Bl. 230).
79
In Hohenheim wurden Meerschweinchen gezüchtet, Sonnenburg lieferte Kaninchen (vgl.
30.8.1926, Koßwig, Institut für Vererbungswissenschaft; in: BA Ko, R 73, 160).
80
14.12.1921, Baur an PML (GStA, I. HA, Rep. 87B, 20281)
81
Vgl. Nachtsheim 1959b.
122
Hertwig beschäftigte sich mit Fragen der Entstehung von Mutationen bei Mäusen,82 Nachtsheim mit Fellfarben. Die Dahlemer Tiere waren also nicht mehr
‚unbehauene’ Naturgegenstände; sie waren für und durch die genetischen Versuche geformt. Die Tiere waren zwar genetisch analysiert, zurechtgezüchtet,
standardisiert oder selektiert, aber nicht im Bezug auf ihre Funktionalität im medizinischen Versuch einen anderen. Sie waren ‚second hand’.
Die vererbungswissenschaftliche Praxis war mit der Versuchstierzucht also
nicht verknüpft. Die Einbindung der Tierzucht an das genetische Institut war
noch nicht die richtige Lösung. Der organisatorische Aufbau, den jene Methoden bis in die bauliche Strukturierung der Zuchtanlagen erforderten, erschien
als Ballast für die versuchstierzüchterische Unternehmung. Der zuständige Referent der Notgemeinschaft mutmaßte über die effizienteste Versuchstieranlage, ob nicht „ein anderer als der Dahlemer Typ bei gleicher Zweckmäßigkeit
billiger [ist], da es bei ihnen nicht notwendig sein wird, wie in Dahlem auf den
Zweck der Vererbungsforschung Rücksicht zu nehmen, sondern alles nach rein
massenzüchterischen Gesichtspunkten angelegt werden kann“.83 War es zum
Beispiel möglich, auch für Kaninchen Massenställe statt Einzelboxen zu verwenden? Kaninchen in Massenboxen – das wäre das Ende jeder genetischen
Analyse und genealogischen Überwachung.
Eine grundlegende Änderung im Verständnis der Versuchstiere macht sich
indes an der Forschungskooperation zwischen Baur und Kolle fest. Baur berichtete, dass die geplanten Versuche sowohl im Interesse des Frankfurter als auch
seines Instituts lägen.84 Und dieses gemeinsame Interesse betraf nicht mehr
nur die Ressourcen, sondern die Versuche selbst. Der infektionsmedizinische
Forschungsauftrag des Frankfurter Staatsinstituts und die haustiergenetischen
Interessen mussten sich in den Mäusen und Kaninchen Dahlems materialisieren. Die Züchtung besonders widerstandsfähiger Stämme wäre, so Nachtsheim, für Bakteriologen und Serologen von hervorragender Bedeutung.85 Für
die Haustiergenetik galt entsprechend, dass „die Züchtung seuchenfester oder
doch besonders widerstandsfähiger Stämme unserer Kulturpflanzen und Haustiere“ eine ihrer zukünftigen Hauptaufgaben sei.86
Solche Vorhaben erforderten aber, so fuhr Nachtsheim fort, die Zusammenarbeit mehrerer Institute. In Amerika wären bereits solche auf breitester Basis
angelegte Versuche erfolgreich durchgeführt worden: Genetiker in gemeinsamer Arbeit mit Pflanzenphysiologen zur genetischen Analyse der Rostwiderstandsfähigkeit des Weizens oder „Genetiker in ‚Cooperation’ mit dem Veterinärmediziner und dem Bakteriologen“ zur Züchtung widerstandsfähiger Hühnerstämme gegen die weiße Ruhr. Genau in diese Reihe würden sich auch die
Versuche einreihen, welche „bei der in Aussicht genommenen Erweiterung der
Kleintierzuchtanlage des Institut für Vererbungsforschung“ in „Zusammenarbeit
82
Vgl. Harwood 1993: 201; Nachtsheim 1959b.
o. D., Fragebogen betreffend Tierzuchtanstalten (BA Ko, R 73, 160)
84
Vgl. 14.4.1928, Baur an Schmidt-Ott (AMPG, Abt. III, Rep. 20A, Nr. 103).
85
Vgl. 14.4.1928, Nachtsheim [Gutachten], Anlage zu: 14.4.1928, Baur an Schmidt-Ott (AMPG,
Abt. III, Rep. 20A, Nr. 103).
86
14.4.1928, Nachtsheim [Gutachten] (AMPG, Abt. III, Rep. 20A, Nr. 103)
83
123
zwischen Genetik und Serologie“ mit Frankfurt in Angriff genommen werden
sollten.87
Wie bereits dargelegt, konnte der Ausbau der Dahlemer Anlage und die Kooperation zwischen Frankfurt und Dahlem nicht mehr begonnen werden. An diese Stelle trat eine umso intensivere Zusammenarbeit zwischen Kolle und dem
Zoologischen Institut in Göttingen. Die 1928 projektierten Zusammenarbeiten
markierten einen Einschnitt in der bisherigen Zuchtpraxis für Versuchstiere. Die
spezifischen Eigenschaften der Tiere wurden nun zum Hauptaufgabengebiet
der Versuchstierzüchter. Eine Zuchtpraxis, wie sie bislang in Dahlem entsprechend haustiergenetischer Ziele praktiziert worden war, war mit der Versuchstierzucht nicht mehr vereinbar – es sein denn, die Interessen an der Versuchstiergestaltung überschnitten sich. Um die Tiere musste nun eine Organisation
errichtet werden, die sich mit ihrer Manipulation, Weiterentwicklung und Ausreifung als Werkzeuge für spezifische medizinische Experimente beschäftigte.
3.2.4 Reinzucht als genetische Homogenisierung
Es ist bemerkenswert, dass, wie sich sogleich zeigen wird, die Initiative zur Umgestaltung der Versuchstierzucht von Medizinern ausging – zu einer Zeit, als
schon wieder viele Versuchstiere aus privater Hand angeboten wurden, wie
Nachtsheim Ende der zwanziger Jahre beobachtete, als also der initiierende
Zweck der Versuchstierzuchten der Notgemeinschaft gar nicht mehr so drängend war. „Trotzdem dürfte sich die Einrichtung der Kleintierzuchtanstalten
durch die Notgemeinschaft auch in Zukunft bewähren“, beeilte sich Nachtsheim
sogleich richtig zu stellen. „Aufgabe der einem Institut für Genetik angegliederten Kleintierzuchtanstalt ist die Erstellung solcher besonders widerstandsfähiger
oder immuner Stämme und die genetische Analyse dieser Resistenz, [...] Die
Schaffung und Bereitstellung eines möglichst gleichmäßigen, gesunden und
widerstandsfähigen Versuchsmaterials wird also eine Hauptaufgabe der Kleintierzuchtanstalten sein.“88
Eine solche Aufgabenstellung hatten bereits die medizinischen Gutachter
klar umrissen und sie im Titel ihrer Denkschriften benannt: Tier-Reinzuchten für
Versuchszwecke. Die speziellen Erfahrungen und Schwierigkeiten, die die Mediziner bei ihren Forschungsarbeiten gemacht hatten, führten dazu, die Zucht
homogener Versuchstiere anzumahnen. Eine allgemeine Homogenisierung und
vor allem eine genetische Vereinheitlichung war also das vordringliche Ziel, das
die Mediziner mit ihren Denkschriften anstrebten.
Die Zucht reiner Linien war ein Konzept der mendelschen Genetik. Organismen galten als rein gezüchtet, wenn sie alle die gleiche Variante eines bestimmten Erbfaktors besaßen. Was anfangs für den dänischen Forscher
Johannson als Methode diente, um sich gegen die Vererbungsvorstellungen der
metrischen Schule Francis Galtons zu wenden, entwickelte sich mit der theoretischen Etablierung und Ausdehnung der mendelschen Vererbungswissenschaft zu einer Technik von hohem Nutzwert. Reine Linien wurden zu Werkzeugen für das genetische Arbeiten. In der Landwirtschaft wurden sie das Mittel für
87
88
14.4.1928, Nachtsheim [Gutachten] (AMPG, Abt. III, Rep. 20A, Nr. 103)
Nachtsheim 1928h: 301
124
eine vererbungswissenschaftlich unterstütze Effizienzsteigerung bei der Agrarproduktion.
Wie erreicht man aber, dass ein Organismus in seinen Erbfaktoren rein bzw.
homozygot wird? Durch Paarung verwandter Tiere, im Extremfall: Inzucht. Je
enger der Verwandtschaftsgrad, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass
gleiche Allele eines Gens miteinander kombiniert werden. Das Entscheidende
für die Versuchstierzuchtfrage war, dass die phänotypische Variabilität der Versuchstiere durch die fortgesetzte Inzucht abnahm.89 Was bislang als ‚tödlich’ für
eine bewahrende Versuchstierzucht galt: der Eingriff in das Gemisch der Blutanteile durch die Inzucht, wurde zum methodischen Prinzip wissenschaftlich
fundierter Versuchstiergestaltung.
Unter der Aufsicht des Experimentators war es, wie oben angedeutet, möglich, das Versuchstier von seiner Geburt an dem strengen Reglement des Laborbuchs zu unterwerfen. Haltung, Fütterung und Aufzucht der Versuchstiere
wurde vereinheitlicht, damit die Versuchstiere einen möglichst gleich gestalteten
Körper und eine gleich klingende Physiologie ins Rennen brachten. Doch alle
Maßnahmen, von denen bis jetzt die Rede war, bezogen sich auf das schon
geborene Tier. Trotz aller Anstrengungen blieben unerklärliche Unterschiede
zum Beispiel in der Erkrankungsanfälligkeit. Der Verdacht kam auf, dass eine
variable „erbliche Krankheitsdisposition“ diese Unterschiede bedingte. Das
Bemühen um die lebende Maus war umsonst, wenn nicht schon ihr ‚Vorleben’
in Form der Abstammung mitbedacht wurde. Die Konstitution eines Organismus
formte sich demnach nicht erst beginnend mit dem Tag der Zeugung oder der
Geburt. Martin Hahn wies darauf hin, dass die Einflüsse der Umwelt, so weit sie
chemischer und physikalischer Natur wären, verhältnismäßig leicht im Experiment zu dosieren seien. Schwieriger sei es schon, den Einfluss der Zahl der
Erreger in einem Infektionsexperiment und ihre Eintrittspforte zu kontrollieren.
Aber alles nütze nichts, wenn nicht die Disposition des Individuums „für den
betreffenden Infektionserreger“ mit in Betracht gezogen würde. Die Disposition
schwanke von Individuum zu Individuum, da ihr erworbene oder vererbbare
Eigenschaften zugrunde lagen.90
89
Durch Auslese immer solcher Tiere mit den gewünschten Eigenschaften, sollten die Allele
des Gens, die eine andere und nicht gewünschte Ausprägung des Merkmals oder der Eigenschaft bewirkten, peu à peu bis zur ihrer endgültigen Elimination aus dem Genbestand einer
Zucht herausfallen. – Es kann hier nur angemerkt werden, dass sich das Konzept der Reinzucht
nur theoretisch derart unproblematisch darstellte. Dies festzustellen ist umso wichtiger, als die
Methode gerade in der Säugetiergenetik weit verbreitet war und unhinterfragt verwendet wurde.
Es wurden verschiedentlich Berechnungen angestellt, ab wann Versuchstiere als genetisch homogen gelten konnten. Die Möglichkeit der völligen genetischen Standardisierung wurde allerdings bezweifelt (vgl. Clause 1993: 347-48). Meines Erachtens tut sich hier ein interessantes
Forschungsthema auf. Zum Beispiel fand in den USA auch eine methodische Debatte über die
verfälschenden Auswirkungen der Inzucht statt (zwischen Maud Slye und Clarence Little) (vgl.
Gaudillière 1999: 96-97). – Unter der Annahme, dass zwischen dem äußerlich erkennbaren
Merkmal und dem Erbfaktor eine einfach Zuordnung bestand, musste die Inzucht eine unfehlbare Methode sein. Sobald sich die Verhältnisse zwischen Genotyp und Phänotyp komplizierter
gestalteten, wurde das Konzept der reinen Stämme eine zweifelhafte Angelegenheit, zumal es
kein Prüfsystem gab, den Grad der genetischen Reinheit festzustellen, ohne eine Zirkelschluss
zu begehen.
90
Vgl. Hahn 1928: 141.
125
Im Experiment wirkte sich die erbliche Unterschiedlichkeit der Tiere als ein
diffuses Rauschen aus, das sich zwischen die gesuchten Signale mischte, wie
jeder andere beliebige „Störfaktor“. Die Schwankungsbreite der Reaktionen der
Tiere wurde erhöht, was es erschwerte, die ‚eigentliche’ Reaktion aus dem Kontinuum von Spuren herauszulesen. Die methodische Standardformel einheitlicher Versuchsbedingungen musste also nicht nur auf die Entwicklungsbedingungen der Tiere, sondern auch auf die Transmissionswege ihrer Erscheinung
angewandt werden. Die Experimentalisierung der Körper der Versuchstiere
musste auf ihre Genetik ausgedehnt werden. Hahn fuhr fort: „Im Tierexperiment
hat man, namentlich in Amerika, erst in neuerer Zeit angefangen, dem Einfluss
der Rasse größere Beachtung zu schenken, und nach dem oben Gesagten ist
es einleuchtend, wie wichtig für die Klarstellung des Virulenzbegriffes, des Einflusses, den man dem Infektionsmodus zuschreiben muss, vor allem aber auch
für die richtige Bewertung therapeutischer, insbesondere chemotherapeutischer
Maßnahmen die Feststellung der Disposition verschiedener Rassen ist.“91
Es ist entscheidend festzuhalten, dass der Zweck der genetisch erweiterten
Homogenisierung dabei – zunächst – unverändert blieb: therapeutische Fragen
und „Klarstellung des Virulenzbegriffs“. Das Augenmerk lag auf den Erregern,
ihrer Klassifikation, auf dem Eindringen in den Organismus und die Abhängigkeit der Gefährlichkeit des Erregers von der Gesamterscheinung seines Wirts.
In allen anderen Denkschriften zur Versuchstierzucht von 1928 wurde in ähnlicher Weise der spezifische Nutzen, der von genetisch reinen Versuchstierstämmen für das jeweilige Forschungsgebiet erwartetet wurde, spezifiziert.92
3.2.5 Auslese und Reinzucht: Negation der „erblichen Konstitution“
Neben diesen Aspekt mischten die Mediziner in ihre Denkschriften jedoch einen
weiteren. In der Bewegung der genetischen Homogenisierung steckte schon ein
91
Hahn 1928: 141-42
Der Serologe Hans Sachs klagte, dass „bislang bei dem zur Verfügung stehenden gemischten Tiermaterial nur die reine Empirie entscheiden“ könne, ob ein bestimmtes Tier zur Bildung
von Antikörpern befähigt ist. „Durch die Bereitschaft von geeigneten reinen Tierstämmen und
durch ihre Eignung wäre die praktische Auswirkung dieses Prinzips auf eine rationelle Grundlage gestellt, die das Ergebnis dem Spiel des Zufalls entreißen würde“ (Sachs 1928: 145-46). Er
versprach sich darüber hinaus günstigere Versuchsbedingungen, um körpereigenen chemischen Stoffen auf die Spur zu kommen, die Überempfindlichkeitskrankheiten hervorriefen. Kolle
hob hervor, wie lästig für die Toxizitätsbestimmung die außerordentlich großen Unterschiede
der im Handel erhältlichen Versuchstiere in der Resistenz gegenüber der Giftwirkung chemischer Stoffe seien (vgl. Kolle 1928: 147). Fred Neufeld stellte speziell für die Tuberkuloseforschung heraus, dass durch die Verwendung reiner Linien Versuche zum Einfluss der Ernährung
auf die Resistenz von Meerschweinchen gegen Tuberkulose und die Untersuchung schwächer
virulenter Erregerkulturen erleichtert würde (vgl. Neufeld 1928: 149). Der Krebsforscher Wilhelm
Caspari maß der Züchtung reiner Mäusestämme für alle Zweige der experimentellen Krebsforschung eine ausschlaggebende Bedeutung zu. Die Arbeit mit so genannten Impf- oder Transplantationstumoren würde dadurch stark eingeschränkt, dass man nichts über den Ursprung
des bezogenen Tiermaterials wisse. In der Verwendung von Mischstämmen unterschiedlicher
Empfänglichkeit für Impftumore läge eine besondere Fehlerquelle. Anfangs wären so beispielsweise überimpfte Tumore nur in geringer Zahl (5 %) zum Anwuchs gekommen, heute durch
„fortgesetzte Tierpassagen“ zu 80 bis 90 %. Die erhöhte Anwuchsrate der Tumoren sei durch
die erbliche Disposition bedingt (Man hätte fälschlich geschlossen, dass die Virulenz der Tumoren ähnlich zu Phänomenen in der Bakteriologie durch die immer erneute Übertragung gesteigert worden war). Ohne dass es intendiert gewesen war, wären also bereits Inzuchttierstämme
in der Krebsforschung verwendet worden (vgl. Caspari 1928: 150-51).
92
126
nächster Schritt, der von der bloßen ungerichteten Homogenisierung der Tiere
wieder zu einer Differenzierung führte – aber nicht als ein Zurück zu dem
Durcheinander zusammengewürfelter Versuchstieransammlungen, wie man sie
aus dem Handel bezogen hatte. Die Variation, die jetzt unter den Versuchstieren planmäßig hervorgebracht und gepflegt wurde, bewahrte das Erreichte der
Homogenisierung – homozygote Erbanlagen –, um auf dieser Grundlage verschiedene Inzuchtstämme anzulegen, die sich in nur ganz bestimmten Erbfaktoren unterscheiden sollten.
Von hier aus konnte die „erbliche Konstitution“ zum eigentlichen Forschungsgegenstand reüssieren. Das Erbliche kam allerdings nicht mit einem Schlag zur
Geltung. In welche Richtung das Interesse an der erblichen Konstitution führen
sollte, war zunächst nicht absehbar.
3.2.5.1
Die genetische Analyse als Mittel verbesserter medizinischer
Forschung
Martin Hahn beschrieb in folgender Weise, wie sich nun die Konstitution über
ihre Neutralisierung hinaus für die medizinische Forschung nutzen ließ: Die Disposition unterscheide sich nach Spezies, Rasse und Individuum. Die der Spezies könne man leicht durch die Verwendung nur einer Tierart ausschalten.
„Den Einfluß der Rasse hat man früher nur gelegentlich in tierärztlichen Beobachtungen einigermaßen sicher festgestellt [...] Das Endziel ärztlichen Forschens auf diesem Gebiet wird immer die Aufklärung der individuellen Disposition sein und damit auch eines Teiles des jetzt so viel umstrittenen Konstitutionsbegriffes. Aber vorangehen muß, wie ohne weiteres einleuchtend ist, die
Klarstellung der Rassendisposition.”93 Außer einer allgemein unterschiedlichen
Disposition für Krankheiten zwischen den Tierspezies – zwischen Kaninchen
und Maus zum Beispiel –, war nach Hahn die Disposition der Rasse zu unterscheiden. Die erbliche Disposition, die „Rassendisposition” sollte ein eigener
Forschungsgegenstand werden – als eine Voraussetzung dafür, sich der eigentlichen medizinischen Frage nach der unterschiedlichen individuellen Disposition für Krankheiten zu nähern.
Warum war dies nun ein besonderer Schritt? Einerseits reihte sich dieses
Ansinnen in das bisherige experimentelle Kalkül ein, nach dem auch die unterschiedliche Reaktionsfähigkeit der Tierindividuen auch auf ihrer erbbiologischen Seite bekämpft werden sollte. Und damit war das Erbliche Teil der
Reihe experimentell erfassbarer Störfaktoren, eine stochastische Größe im
Arrangement der medizinischen Experimentalsysteme, eine Fehlerquelle unter
anderen. Die mendelsche Genetik half, die Zufälligkeit dieser Störung zu rationalisieren. Die experimentelle Zufälligkeit erklärte sich dadurch, dass genetische „Mischstämme“ (Caspari) als Versuchstierpopulationen verwendet wurden. Um die Eindeutigkeit der Signale zu erhöhen, waren Tiere schon zuvor
planmäßig nach Gewicht, Alter und Geschlecht geordnet worden. Diese Rationalität gestattete es, die Klarheit der Ergebnisse und die Sensitivität des Expe-
93
Hahn 1928: 142
127
riments zu erhöhen.94 Mit der Vererbungslehre kam ein weiteres Ordnungssystem hinzu.
Dadurch, dass die erbliche Disposition aber transparent gemacht werden
konnte, war sie nicht nur mehr ein Zufallsfaktor, sondern Teil des medizinischen
Gegenstandes, der experimentell untersucht wurde, und ein berechenbarer und
kontrollierbarer Parameter. Die Kontrolle machte es notwendig, die Eigenschaften Parameter herauszuheben, ihn zu differenzieren, das Gegenteil also von
nivellieren. Dennoch, die erblichen Eigenschaften waren nur insofern von Interesse, als sie erlaubten, beispielsweise die individuelle Disposition zur Reaktion
auf einen Infektionserreger zu verstehen. Die genaue Analyse der Versuchstierpopulation und die Entmischung der „Mischstämme“ nach unterschiedlicher Disposition konnte dazu dienen, eine bestimmte erbliche Disposition auszuwählen,
um daraus einen Reinzuchtstamm zu formen, mit dem die schon zuvor gestellten, bloß zurückgestellten Fragen weiter und besser erforscht werden konnten.
So litt beispielsweise die Tuberkuloseforschung unter der individuellen Tuberkuloseempfänglichkeit der Kaninchen: „Le lapin est un animal capricieux“.95 Die
konstitutionelle Unterscheidung von Kaninchenstämmen mit hoher und solchen
mit niedriger Krankheitsempfänglichkeit versprach einen Fortschritt in der Unterscheidung der Tuberkelbazillen.
3.2.5.2
Der genetische Gegenstand im Prozess der Werkzeugherstellung
Die Situation des genetischen Gegenstands im medizinischen Experimentalsystem ähnelte in dieser Situation einem Vexierbild: Zunächst löste er sich heraus
als Ordnungsprinzip des Bildes, um dann wieder zu verschwinden. Das Verschwinden war indes gewollt. In dem Moment, in dem die erbliche Disposition
sich in den Zuchtexperimenten genauer charakterisieren ließ und damit die Voraussetzung gegeben war, die Versuchstiere in eine neue Ordnung zu bringen
und vor dem Hintergrund der genetischen Analyse Reinzuchten anzulegen, verschwand das Interesse an der genetischen Disposition. Die Disposition war erst
Gegenstand des Interesses oder befragtes Unbestimmtes, dann Mittel oder Instrument. Diese Bewegung war dialektisch, da die Herauslösung der Disposition aus ihrer Unbestimmtheit ihre eigene Negation erzeugte.
Auch in den Denkschriften Kolles und der anderen Mediziner nahm die erbliche Disposition keine fixe Rolle als Werkzeug oder als eigentliches Forschungsziel ein. Kolle erklärte einerseits den wissenschaftlichen Wert der Reinzuchten so: „Das wissenschaftliche Interesse [...] liegt in der Ermittlung der Vererbbarkeit dieser Resistenz bzw. Nichtvererbbarkeit.“ Dann aber sprach er von
der „Ermittlung der Heilwirkung chemischer Körper“, zu der reingezüchtete
Mäusestämme unverzichtbar seien, sowie vom „Erfolg der Chemotherapie“, der
mit der „der Reaktionsfähigkeit des infizierten Organismus im Zusammenhang“
stände. Die Klärung der Frage der Erblichkeit sei schließlich „nicht nur wissenschaftlich und theoretisch, sondern auch praktisch für die chemotherapeutische
Forschung von großer Bedeutung“.96
94
Vgl. Logan 2002: 354-55.
Französischer Forscher zit. n. Neufeld 1928: 149.
96
Kolle 1928: 148
95
128
Die Erforschung der Erblichkeit von Resistenzen sollte die Aufgabe der neuen an genetischen Instituten angeschlossenen Zuchtanstalten sein.97 War die
Zucht von Stämmen „mit besonderen konstitutionellen Merkmalen“ deswegen
schon genetische Forschung? Nein, insofern die genetische Analyse darauf
angelegt war, verbesserte Werkzeuge für die medizinische Forschung herzustellen.
In der genetischen Unterscheidung von Geno- und Phänotyp lässt sich das
Verhältnis zwischen Gegenstand und Werkzeug so ausdrücken: Zwar musste in
Zuchtexperimenten versucht werden, die möglichen erblichen Wirkungen voneinander zu trennen, als einzelne Erbfaktoren zu analysieren und dann selektiv
reinzuzüchten. Als Mittel dazu mussten verschiedene Tests zur Verfügung stehen, um den Phänotyp – die unterschiedliche Empfänglichkeit der Individuen
gegenüber einer Infektion – zu bestimmen. Der Phänotyp diente als Detektor für
die genotypischen Verhältnisse. Gelang es schließlich, diese Verhältnisse in
Erbformeln gerinnen zu lassen, wurden aber die Rollen getauscht. Der – geronnene – genetische Gegenstand wurde jetzt seinerseits zum Werkzeug. Die Erbformel erlaubte nun die planmäßige Manipulation des Versuchsobjektes, zum
Beispiel die Zucht eines Versuchstierstamms mit einer bestimmten einheitlichen
Resistenz. Das Wissen um die Erbverhältnisse wurde dann zur Grundlage für
die Formung eines probaten Werkzeugs für Fragen an den Phänotyp. Die „erbreinen Stämme“ als instrumentelle Black Box verdunkelten die Erblichkeit der
Resistenz. Das Wissen um die Erblichkeit ermöglichte somit die eigene Negation.98 Diese Negation ist eine Art Bewegungsphänomenologie der funktionalen
Rollen im Experimentalsystem. Aus ihr geht nicht hervor, was mit dem Werkzeug oder dem Gegenstand passierte.
3.2.6 Auslese, Reinzucht und Organisationsstruktur: Positivität der erblichen
Konstitution
Die Vermischung und wechselseitige Bedingung der „erblichen Disposition“ als
Werkzeug und Gegenstand konnte in einer weiteren Wendung die Erblichkeit
als Forschungsinteresse affirmieren. Der Krebsspezialist Caspari, der in seiner
Denkschrift zunächst Impftumore als Mittel zur Erforschung von physiologischen und anderen Aspekten von Tumoren thematisiert hatte, widmete sich
dann den spontanen Tumoren. Sie seien ein noch bedeutsameres Forschungs97
Vgl. Nachtsheim 1928h: 301.
Diese Negation konnte von praktischer und theoretischer Auswirkung sein: Unter den Bedingungen der völligen genetischen Gleichförmigkeit wurde der Idee der genetisch bedingten
Unterschiedlichkeit der materielle Anhaltspunkt entzogen. Fritz Lenz warnte: „Auf eine naheliegende Gefahr des Irrtums sei besonders hingewiesen. Die gebräuchlichen Versuchstiere Mäuse, Kaninchen, Meerschweinchen stammen meist aus Inzuchtlinien; die Individuen eines Stammes sind daher in viel höherem Maße erbgleich als die Individuen einer menschlichen Bevölkerung. Dieser Umstand macht die genannten Versuchstiere gerade besonders geeignet für das
Studium von Umweltwirkungen wie Infektionen [...] Eben darum aber haben die Bakteriologen
bei ihren Tierversuchen meist keine erblichen Unterschiede der Widerstandsfähigkeit bzw.
Anfälligkeit gefunden” (Lenz 1936: 592). – Genau genommen, ist die Negation erst vollständig,
wenn ein Inzuchtwerkzeug etabliert ist. Solange der Prozess der Fixierung einer bestimmten
erblichen Form noch andauert und das Gelingen im Ungewissen steht, ist dieses Experiment
zugleich Untersuchung des genetischen Gegenstandes wie seine instrumentelle Anwendung
98
129
gebiet als das der Impftumoren. Die Erblichkeit der Disposition für Spontantumoren und für Krebskrankheiten im Allgemeinen, die Gesetze ihrer Vererbung,
die Vererbung des Lebensalters des Auftretens der Krankheit und die der lokalen Organdisposition wären die Fragen, die sich in diesem Forschungsgebiet
stellten.99 Die „erbliche Disposition“ war dann der Gegenstand der Forschung –
reine Positivität.
Zurück von der systematischen zur wirkungsgeschichtlichen Darstellung: Erst
geht es jetzt um den Diskurs und – im nächsten Abschnitt – den Ort, in dem
sich die erbliche Disposition bzw. Konstitution als Gegenstand etablierte.
3.2.6.1
Kühns Initiative: „Reine Vermehrungs-Zuchtanstalten“ und „genetische
Züchtungsanstalten“
Die Vorstellungen der Mediziner scheinen mit Gründung der Gemeinschaftsarbeit zur Reinzucht von Versuchstieren und der Einrichtung der Versuchstierzuchtanstalten 1929 in Göttingen und im Plauerhof nicht prinzipiell gelöst worden zu sein. Einige Jahre später gab es erneut Diskussionen um die Versuchstierzucht. Von den Medizinern war zwar zunächst die Initiative zur Einrichtung
von Tierversuchsanstalten mit reingezüchteten Tierstämmen ausgegangen.
Nun waren es aber nicht mehr ihre Argumente, die im Mittelpunkt standen, sondern die der Genetiker. Zwar war Reinzucht, Vereinheitlichung und Standardisierung weiterhin ein zentrales Thema, doch daneben hatte sich der differenzielle Aspekt der Tierzuchten geschoben. Die erbliche Unterschiedlichkeit
wurde nun als solche beachtet und musste ihren eigenen Platz, räumlich wie
methodisch, in der Arbeit der Zuchtanstalten erhalten.
In die Verhandlungen um die Versuchstieranstalt waren von Beginn an Vererbungswissenschaftler hinzugezogen worden. Neben Erwin Baur und Hans
Nachtsheim war das vor allem Alfred Kühn. Und Kühn hatte bereits 1928 der
Notgemeinschaft ins Gewissen geschrieben, dass den Medizinerkreisen unbedingt noch einmal die genetischen Grundlagen solcher Tierzuchten verständlich gemacht werden müsse.100 An Kühns Institut wurde seit Anfang der
zwanziger Jahre Säugetiergenetik und entsprechende Zuchten betrieben.
Nachdem Kühn ab 1928 seine Göttinger Meerschweinchenzucht zum Zwecke
der Reinzucht ausgebaut und ab 1931 auch die Leitung der Tierzuchtanlage der
Notgemeinschaft in der Strafanstalt Brandenburg übernommen hatte, wurde er
die treibende Kraft in der Diskussion um die Organisation und den Ausbau der
Versuchstieranstalten.
Im September 1934 richtete Kühn eine Denkschrift an die Notgemeinschaft,
in der er die Erweiterung der Tierzuchtanlagen anmahnte. Kurz zuvor hatte die
von Kolle organisierte „Wissenschaftliche Woche zu Frankfurt“ stattgefunden,
zur Herstellung des Werkzeugs. Im Experimentalgeschehen können beide Rollen der „erblichen
Disposition“ im gleichen Arbeitsablauf zusammenfließen.
99
Vgl. Caspari 1928: 152. Dass es sich für die deutsche Krebsforschung dabei um keinen ganz
selbstverständlichen Schritt handelte, ist Casparis Vergleich mit der amerikanischen Forschung
zu entnehmen. Alles, was über die Fragen der Vererbung des Krebses bekannt sei, wisse man
hauptsächlich aus den Versuchen von Leo Loeb und seinen Mitarbeitern Maud Slye, Thyzzer
und Lynch an Mäusen. Hiesige Versuche – seine eigenen am Institut für experimentelle Therapie – litten hingegen trotz aller Sorgfalt am uneinheitlichen Versuchsmaterial (vgl. ebd.: 151).
100
Vgl. 30.6.1928, Karl Stuchtey an Schmidt-Ott (GStA, I. HA, Rep. 92, C58: Bl. 198).
130
ein großes Symposium, das durch seine übergreifenden Themen und die unterschiedlichste fachliche Beteiligung den Geist der Gemeinschaftsarbeiten in die
Wissenschaft tragen sollte. In den Verhandlungen sei dringlich, so berichtete
Kühn, der größere Bedarf nach Versuchstieren aus speziellen Zuchtanstalten
hervorgetreten.101 Auch in anderen Forschungszusammenhängen wurde die
Notwendigkeit des Ausbaus der Zuchteinrichtungen wiederholt betont – so
durch eine Kommission der Notgemeinschaft, die sich seit 1932 mit Erbschädigungen durch Strahlenwirkung befasste.102 Daneben lenkten Initiativen zur forschungspolitischen Koordination der Krebsforschung die Aufmerksamkeit auf
die Versuchstierzucht.103
Kühn drängte bis zu seinem Wechsel an das Berliner Kaiser-Wilhelm-Institut
für Biologie 1937 beständig auf den Ausbau der Anlagen in Plauerhof sowie in
Göttingen. In seiner Denkschrift rekapitulierte Kühn die Leistungen und Aufgaben der wissenschaftlich kontrollierten Versuchstierzucht. „Die neueren genetischen Untersuchungen haben gezeigt, dass die Reaktionsweisen der Tiere in
den verschiedensten Hinsichten außerordentlich stark erblich verschieden sind.
Es müssen daher große Mengen von genetisch reinen Tieren zur Verfügung
stehen.“104 Zahlreiche medizinisch-biologische Untersuchungen verlangten Tiere mit verschiedenen Reaktionsweisen. Deshalb müssten verschieden reagierende Rassen in genügender Reinheit und Stückzahl gezüchtet werden.
Nachdem Kühn die Aufgaben der Tierzuchtanstalten differenziert hatte, entwarf er einen umfassenden Plan für die Organisation der Versuchstierzuchten.
Vorausgesetzt war, dass die Zuchten weiterhin in der Obhut der Wissenschaftsorganisation verbleiben und einer professionellen Leitung unterstehen sollten.
Nach Kühns Plänen sollte die Organisation aber in „genetische Züchtungsanstalten“ und „reine Vermehrungs-Zuchtanstalten“ unterteilt werden. Diese strukturelle Aufteilung ergab sich konsequent aus der Differenzierung der Aufgaben,
die die Zucht der Versuchstiere erfüllen sollte. Die reinen Vermehrungsanstalten sollten spezielle Rassen und Inzuchtstämme „nach einem bestimmten
Zuchtplan, im Wesentlichen in enger Inzucht“ vermehren.105 Hierbei kam es vor
allem darauf an, dafür zu garantieren, dass die Stämme gesund und ihre
Gleichmäßigkeit erhalten blieb. Vermehrung und Erhalt waren also die Aufgabe
der Vermehrungszucht. Die Technik war vor allem Inzucht.
Die Aufgabe der genetischen Zuchtanstalt sollte hingegen die ‚Herstellung’
von geeigneten Zuchttieren sein: Suche nach bestimmten Merkmalen, Auslese
und Kombinationszucht. Der Bedarf nach dieser gesonderten Auslesearbeit
ergab sich aus den Erwartungen an die Versuchstierzucht. Es galt, wie oben
dargestellt, entsprechend „den Bedürfnissen der medizinsch-biologischen
Arbeitsziele“ möglichst geeignete Tiere auszuwählen.106 Dies erforderte eine
101
Vgl. o.D. (im Juni 1935 ergänzte Denkschrift vom 26.9.1934), Kühn, abgezogene Schrift:
„Zoologisches Institut der Universität Göttingen...“ (BA Ko, R 73, 12475: Seite 2 v. 5).
102
Siehe dazu 4.2.1. Die Hälfte der Kommissionsmitglieder dort waren Vererbungswissenschaftler.
103
Siehe dazu 3.3.5.
104
o. D., Kühn: „Zoologisches Institut...“ (BA Ko, R 73, 12475: Seite 2 v. 5) (s. Anm. 101)
105
o. D., Kühn: „Zoologisches Institut...“ (BA Ko, R 73, 12475: Seite 4 v. 5) (s. Anm. 101)
106
o. D., Kühn: „Zoologisches Institut...“ (BA Ko, R 73, 12475: Seite 3 v. 5) (s. Anm. 101) – Eine
ähnliche Differenzierung der Zuchtarbeiten wurde Mitte der fünfziger Jahre am Jackson Memo-
131
besondere Kenntnis und Expertise in vererbungswissenschaftlicher Methode
und Theorie. Jedenfalls erforderte die Verwendung von Versuchstieren in medizinisch-biologischen Versuchen eine vorhergehende Durchforschung der
Tiere hinsichtlich ihrer Erbeigenschaften. In den genetischen Züchtungsanstalten stand also die Beschäftigung mit der erblichen Konstitution der Tiere im Vordergrund. Aus den Gemeinschaftsarbeiten zur „Reinzucht von Versuchstieren“,
wie die Denkschriften 1928 noch überschrieben gewesen waren, wurden die
„Gemeinschaftsarbeiten zum Zweck der Züchtung von Versuchstieren mit
besonderen konstitutionellen Merkmalen“.
3.2.6.2
Erbliche Konstitution: Vom negierter Gegenstand zum epistemischen
Gegenstand
Kühns Aufzählung der Aufgaben der wissenschaftlich geleiteten Versuchstierzucht spitzte den Sinn reiner Rassen mit verschiedenen konstitutionellen Merkmalen ein weiteres Mal zu. Sie seien „vor allem auch nötig, um die Frage zu
lösen, wieweit für verschiedene Erkrankungen oder Krankheitsbereitschaften
die erbliche Veranlagung oder die äußeren Entwicklungsbedingungen, Folgen
anderer Infektionen u.s.w. maßgebend sind“.107 Kühn benannte die Erforschung
der Erblichkeit von Krankheiten und Krankheitsveranlagungen als eigenes Ziel
der Tierzucht und der Forschung. Es sei deshalb wichtig, wie Kühn weiter ausführte, systematisch Versuchstierstämme zu ziehen, in denen sich erbliche
Missbildungen und Erbkrankheiten fänden, welche auch beim Menschen vorkommen. Damit geriet ein eigenes Forschungsgebiet, die medizinische Genetik
oder „menschliche Erbpathologie“ (Kühn), in den Blick. Die Versuchstierstämme
mit speziellen Erbkrankheiten und Missbildungen könnten als „‚Modellversuche’
für Fragen der Entstehung der menschlichen Erbkrankheiten“ dienen.108
Die Aufzählung Kühns stellt sich wie die Systematisierung einer zeitlichen
Abfolge der veränderten Funktion der Zuchtanlagen der Notgemeinschaft dar:
von der Gesunderhaltung der Tiere zur Zucht genetisch reiner Stämme, dann
Zucht genetisch reiner Stämme mit bestimmten Eigenschaften, abgestimmt auf
medizinische Fragestellungen, und schließlich die spezialisierte Suche nach
erbpathologisch interessanten Merkmalen als Gegenstand der Forschung.
Ohne eine strenge Chronologie behaupten zu können, kommt doch in der Gegenüberstellung Kühns Planung von Mitte der dreißiger Jahre und der Sonnenburger Anfänge eine Entwicklung zum Ausdruck. Diese Entwicklung kann als
die Professionalisierung der Zuchtmethodik, die Ausbildung einer integralen
Infrastruktur und die systematische Differenzierung der Ziele einer Versuchstierzuchtanstalt gesehen werden. Damit einher ging die Heraushebung des
genetischen Gegenstands, ein Ergebnis, das keinem intendierten Zweck im
Engagement der Notgemeinschaft entsprach.
Die Herstellung von genetisch reinen Versuchsstämmen als Werkzeuge der
Experimentalmedizin setzte die Beschäftigung mit den erblichen Verhältnissen
der Tiere voraus. In diesen Experimenten war das Erbliche noch das Unerkunrial Laboratory vorgenommen. Anlass dazu war aber die Erfordernis, die Kontrolle über die
Zuchten zu erhöhen (vgl. Gaudillière 2001a: 189).
107
o. D., Kühn: „Zoologisches Institut...“ (BA Ko, R 73, 12475: Seite 2 v. 5) (s. Anm. 101)
108
o. D., Kühn: „Zoologisches Institut...“ (BA Ko, R 73, 12475: Seite 3 v. 5) (s. Anm. 101)
132
dete und noch nicht Geformte. Der epistemische Gegenstand der Experimente
war genetisch. Die Zuchtkniffe wurden selbst zum Experiment. Das Aufgabenspektrum der Versuchstierzuchten hatte sich in der dialektischen Bewegung um
die erbbiologische Forschung erweitert. 1935 dankte Kühn der Forschungsgemeinschaft. Es sei nur durch ihre Förderung möglich gewesen, die Zuchten aufzubauen und auszuwerten, „deren Bedeutung für die Erkenntnis der erblichen
Konstitution und für die medizinische Versuchstierverwertung immer deutlicher
sich ergibt“.109 Der Schritt zur „Erkenntnis der erblichen Konstitution“ als eigenes Anliegen der Zuchten war methodisch und organisatorisch nicht mehr weit.
Aus den verfolgten Zielen der medizinischen Forschung erwuchs ein machtvolles Instrumentarium, die genetischen Bedingungen einer Krankheit zu erforschen.
3.3
Von der Methode zur Aufgabe – züchtungstechnisch
vermittelte Übergänge (Konjunkturen) zwischen
Infektionsmedizin und Säugetiergenetik
„In gemeinsamer Arbeit mit medizinischen, physiologischen und chemischen Instituten
sollen die konstitutionellen Eigenschaften der reinen Stämme (Lebenseignung, Widerstandkraft gegen Außenbedingungen, Infektionen u.a.) und die Erblichkeitsweise dieser
Eigenschaften geprüft werden, damit das Material in möglichst vielseitiger Weise der
110
medizinischen Forschung nutzbar gemacht werden kann.“
Im Diskurs um die Versuchstierzucht spiegelte sich eine Abfolge von funktionalen Rearrangements in den durch die Versuchstierzucht unterstützten Experimentalsystemen wider. Diese Rearrangements machten sich an der veränderten Rolle des Genetischen fest. Wie kamen aber diese Verschiebungen in der
Bedeutung des Genetischen zustande? Man könnte sich zufrieden geben, einfach auf die Bedeutungszunahme erbbiologischer Fragestellungen in der Weimarer Zeit hinzuweisen oder ein unmittelbar theoretisches Interesse zu unterstellen. Man könnte auch die Veränderung im Forschungsinteresse auf die
wachsende allgemeingesellschaftliche Bedeutung eugenischer Denk- und Deutungsmuster zurückführen. Dies ist schon deshalb plausibel, da die Versuchstierzuchten auch in einen eugenischen Kontext eingebunden waren, wie Kapitel
4 zeigen wird.
Dagegen ist die Meinung vertreten worden, dass der Schwenk vieler deutscher Mediziner auf erbbiologische Fragen unabhängig von ihrer Einstellung zur
Eugenik, ja oftmals trotz ihrer Ablehnung erfolgte.111 Entscheidend für diesen
Einstellungswandel gegen Mitte und Ende der zwanziger Jahre sei die Rezeption von Zwillingsuntersuchungen, serologischer Arbeiten und nicht zuletzt der
Tierzucht gewesen. Dies legt nahe, dass die biologische Transformation der
109
10.12.1935, Kühn an DFG (BA Ko, R 73, 12475: Seite 9 v. 9)
4.12.1934, Kühn an Notgemeinschaft (BA Ko, R 73, 12475: Seite 6 v. 9)
111
Vgl. Mendelsohn 2001: 60-61. Ein prominentes Beispiel für den Wechsel zu genetischen
Fragestellungen ist Fred Neufeld (Robert Koch-Institut, Berlin, und einer der Verfasser der
Versuchstierdenkschriften).
110
133
Medizin, das heißt die Übernahme biologischer Konzepte und Methoden, die
Medizin empfänglich für genetische Themen machte.112
Die Zusammenarbeit zwischen dem Göttinger Zoologischen Institut und dem
Institut für experimentelle Therapie ist ein konkretes Beispiel, an dem die Bedeutung der experimentellen Praxis für jenen Einstellungswandel deutlich gemacht werden kann. Zugleich wird plausibel, warum gerade die mendelsche
Genetik im konstitutionellen Denken der Medizin eine Rolle spielen konnte.113
Die methodische Durchdringung der Versuchstiere mit Begriffen und ihre Klassifizierung nach Konzepten der Vererbungswissenschaft schufen alle Voraussetzungen, die um die Versuchstierzucht gruppierten Experimentalsysteme zu
genetisieren. Das Ziel dieses Abschnitts ist es, die Bedingungen für die Verschiebungen in den Zielen der Versuchstierzucht in ihrer eigenen Praxis zu
suchen.
Es geht darum, züchtungstechnisch vermittelte Übergänge zwischen Medizin
und Genetik aufzuzeigen. Genetisches und medizinisches Wissen konnte sich
durch die experimentelle Kooperation und der daraus erwachsenden Konjunktur
der serologischen und genetischen Experimentalsysteme verbinden.114 Als entscheidend erweist sich, dass die Versuchstierzucht als wissenschaftliches und
speziell als mendelgenetisches Problem neu gefasst worden war. Die Verwissenschaftlichung und Professionalisierung integrierte die Göttinger und Frankfurter Experimentalkulturen entsprechend dem Prinzip des ‚erweiterten Labors’.
Am Frankfurter Staatsinstitut wurde einerseits durch die Integration genetischer Inzuchtstämme die Umformulierung der serologischen und immunologischen Versuche in erbbiologische Versuche möglich. Die erbliche Unterschiedlichkeit stellte einen Katalysator dar, der den medizinisch-biologischen Problemraum auf Vererbungsfragen fokussierte. Auf diese Weise wandelte sich die genetische Konstitution von der Experimentalbedingung zum Experimentalgegenstand und tauschte ihren instrumentell gefestigten Charakter gegen das Prekäre eines epistemischen Gegenstands. Die Kreuzung medizinischer und genetischer Wissenschaft spannte andererseits Kühns Göttinger Institut in den Kontext medizinischer Forschungsprobleme ein und führte sie an die Erbpathologie
heran.
3.3.1 Der Plauerhof – Professionalisierung der Versuchstierzucht:
Standardisierung
Der Neuanfang in Plauerhof bedeutete vor allem den Einstieg in die Professionalisierung der Versuchstierzucht. Die einfache Zucht als Haltung und Vermehrung von Tieren, wie sie in Sonnenburg noch betrieben worden war, musste mit
der Einrichtung der so genannten Reinzuchtanstalten durch eine komplizierte
und professionalisierte Organisation ersetzt werden. Die züchterischen Aufga-
112
Vgl. Mendelsohn 2001: 25. – Ganz in diese Richtung geht die Untersuchung von
Amsterdamska 2001: 173. – Im Beispiel des Jackson Laboratory (USA) wurden über genetische kontrollierte Versuchstiere, Medizin und Eugenik verbunden (vgl. Gaudillière 1999: 95).
113
Die Frage wird von Mendelsohn 2001: 64 aufgeworfen.
114
Dagegen ein amerikanische Beispiel, bei dem reine Stämme Labor und Klinik, nicht aber biologisches und klinisches Wissen verbinden konnten (vgl. Löwy & Gaudillière 1998: 240).
134
ben in den Tierzuchtanstalten wurden durch die Einbindung der Vererbungswissenschaft wesentlich erweitert.
Skeptisch hatte sich Kühn über die Voraussetzungen der Strafanstalt Sonnenburg geäußert.115 Noch konnte er den jährlichen Bedarf des Kolleschen
Institut – 2.000 Meerschweinchen für Diphtherieresistenz – durch eigene Zuchten decken; doch über kurz oder lang werde „die Massenaufzucht reiner Stämme im Großen ein Bedürfnis“.116 Die von der Notgemeinschaft bei Küstrin in der
Strafanstalt Sonnenburg eingerichtete Zuchtanstalt wurde 1931 zusammen mit
der Strafanstalt aufgelöst und in die nagelneue Landesstrafanstalt bei der Stadt
Brandenburg verlegt.117 1932 wurde mit der Zucht von Meerschweinchen und
Mäusen begonnen. Ende 1934 war der Bestand an Zuchttieren von Meerschweinchen auf 1.500 Tiere angewachsen. Von knapp tausend gezüchteten
Mäusen wurde die Hälfte abgegeben.118 Der relativ langsame Zuwachs erklärt
sich durch das von Kühn beabsichtigte langsame und explorative Vorgehen
beim Aufbau der Zuchten, da die Etablierung der Zuchtstämme nicht einfach
vom lokalen Kontext zu trennen war und das Arrangement der Zuchttechniken
sorgsam abgestimmt werden sollte.119
Die Auflösung von Sonnenburg wurde genutzt, nun auch diese Versuchstierzucht der Notgemeinschaft an ein wissenschaftliches Institut anzubinden und
umzustellen. Dass dies kein einfaches Unterfangen war, hatten die Zuchtergebnisse der Versuchstieranstalt in Hohenheim gezeigt. Diese Anstalt, die „ja in
Aussicht genommen war für Massenaufzucht, besonders für das Züchten geeigneter Stämme“, so befürwortete Kolle das Brandenburger Projekt, hatte „bisher vollkommen versagt“.120 Der Zuchtbetrieb in Plauerhof musste ganz neu
gestaltet werden. „Im Gegensatz zu den früher in Sonnenburg geführten Tierzuchten hat die Experimentalforschung heute nicht mehr ein so grosses Interesse daran, Versuchstiere überhaupt zu züchten, sondern solche mit bestimmten konstitutionellen Merkmalen“, erklärte Schmidt-Ott der zuständigen Strafvollzugsbehörde.121 Die Zuchten könnten ihren vollen Wert nur gewinnen, wenn
in engster Fühlung mit der Göttinger Zuchtstelle verfahren würde, das heißt,
dass „gerade für diese als standardisiertes Reagenzmaterial gedachten Stäm115
Vgl. 2.7.1931, Kühn an Schmidt-Ott (BA Ko, R 73, 159).
2.7.1931, Kühn an Schmidt-Ott (BA Ko, R 73, 159)
117
Das spätere Schicksal der Versuchstierzuchten im Plauerhof ist nicht ganz klar. Die Strafanstalt Brandenburg/Havel war im Ortsteil Görden untergebracht. Es ist deshalb anzunehmen,
dass sie identisch ist mehr der Strafanstalt, die hier 1939 aufgelöst wurde, dann als chemischtechnische Versuchsanstalt firmierte, und in der im Rahmen der so genannten Euthanasieaktion
planmäßige Ermordungen von Patienten der benachbarten psychiatrischen Anstalt stattfanden
(vgl. Klee 1993: 174). Die Versuchstierzuchten auf dem Staatsgut Plauerhof wurden ab 1937
von F. Kröning geleitet, verschiedenen Hinweisen zur Folge bis mindestens 1943 (vgl. BA Ko, R
73, 12435; UAG, Rek. PA Kröning). Quellen zu den Aktivitäten vor Ort ab 1937 sind mir nicht
bekannt.
118
Vgl. 4.12.1934, Kühn an die Notgemeinschaft (BA Ko, R 73, 12475: Seite 3 v. 9).
119
Vgl. 30.6.1928, Karl Stuchtey, Notgemeinschaft, Apparateausschuss, an Schmidt-Ott (GStA,
I. HA, Rep. 92, C58: Bl. 198).
120
2.7.1931, W. Kolle an Schmidt-Ott (BA Ko, R 73, 159); vgl. auch 26.6.1929, Dr. Wo/Wk.: Besprechungsprotokoll mit Prof. Kühn am 26.6.1929 (BA Ko, R 73, 160). – Die Weiterführung der
Versuchstierzucht in Plauerhof wurde daraufhin auf einer Präsidialsitzung der Notgemeinschaft
am 11.7.1931 beschlossen.
121
5.1.1932, Schmidt-Ott an Präsidenten des Strafvollzugsamtes, Berlin (BA Ko, R 73, 159)
116
135
me die Zuchtverfahren auch standardisiert werden“.122 Paarungs- und Wurfprotokolle sollten ständig nach Göttingen geschickt werden. Die Verteilung der Versuchstiere an interessierte Institute würde dann in Göttingen zentral koordiniert.
Während man sich bislang auf das einfache Gefängnispersonal verlassen
hatte, das die Sträflinge bei der Pflege und Fütterung der Tiere anleitete, so ließ
der neue Anspruch dies nicht zu. Es war notwendig, einen Tierpfleger mit „besonderer Ausbildung“ in Plauerhof zu stationieren.123 Kühn legte großen Wert
auf die vertragliche Vereinbarung, dass die Aufsicht über den Tierpfleger vor
Ort ganz allein ihm unterlag. Die Aufgabe des Tierpflegers war nicht mehr auf
Haltung, Fütterung und Pflege begrenzt, sondern erforderte ein besonderes
Verständnis vererbungswissenschaftlicher Arbeitsmethoden und entsprach somit der Aufgabe eines technisch-wissenschaftlichen Assistenten. Haltungsbedingungen, Fütterung, Markierung der Tiere, ihre Registrierung und Pflegeabläufe wurden unter wissenschaftliche Kontrolle gebracht. Nachdem der Verwalter von Plauerhof, der zunächst die Zuchtaufsicht übernehmen sollte, zur Einweisung nach Göttingen gefahren war, wurde auch dem Gefängnisdirektor
deutlich, dass „für die Vornahme dieser Züchtungsarbeit und der damit verbundenen, besonders peinlich genauen Zuchtbuchführung nach Göttinger Muster
nur eine Person in Frage kommt, die nach längerer Eignungsprüfung und guter
Ausbildung am zoologischen Institut in Göttingen für geeignet angesehen
wird“.124 Die Konsequenz war, dass, nicht wie bislang ein „mittelmäßiger Strafanstaltsaufsichtsbeamter“125 (Kühn) mit der Aufgabe betraut wurde, sondern
Kühn aus Göttingen einen Tierpfleger schickte, der am dortigen Landwirtschaftlichen Institut ein besonderes Examen abgelegt hatte.
Die Zuchttiere zum Aufbau der Massenzucht wurden ebenfalls aus Göttingen
geliefert. Zunächst wollte aber Kühn nur mit wenigen Stämmen die Funktionstüchtigkeit des technisch-personellen Zuchtsystems im fernen Brandenburg testen. Das System musste gewährleisten, dass die Zuchtstämme unverändert
blieben. Dies war keine triviale Aufgaben, da neuere Mutationsversuche gelehrt
hatten, „dass auch in den Inzuchtstämmen nicht selten äußerlich nicht auffallende Erbgutveränderungen auftreten, durch welche ein ursprünglich einheitlicher Stamm unvermerkt in mehrere Linien mit verschiedener Reaktionsweise
zerfallen kann“.126 Die Expertise und die technischen Voraussetzungen mussten also das Erkennen auch solcher schwer erkennbarer oder verborgener
Veränderungen möglich machen, um rechtzeitig entsprechende Tiere aus der
Zucht auszuschließen.
Alle diese Maßnahmen standen unter dem Ziel, standardisierte Zuchtstämme
zu produzieren, die, wann auch immer sie angefordert und wo auch immer sie
in Experimenten verwendet wurden, „dieselben konstitutionellen Eigenschaften“
aufwiesen. Durch die Angleichung der Tiere, Arbeitsweisen und Bedingungen
der Brandenburger Zuchtanstalt an die der Göttinger wurde zudem der Einfluss
des Ortes und der involvierten Personen bei der Zucht zurückgedrängt. So wur122
19.10.1931, Kühn an Schmidt-Ott (BA Ko, R 73, 159)
Vgl. 19.10.1931, Kühn an Schmidt-Ott (BA Ko, R 73, 159).
124
12.12.1931, Der Strafanstaltsdirektor Dr. Schwerdtfeger an Schmidt-Ott (BA Ko, R 73, 159)
125
26.12.1931, Kühn an Schmidt-Ott (BA Ko, R 73, 159)
126
o. D., Kühn: „Zoologisches Institut...“ (BA Ko, R 73, 12475: Seite 4 v. 5. (s. Anm. 101)
123
136
den Tiere aus Göttingen durch solche aus Plauerhof ersetzbar und umgekehrt.
Für einen Experimentator war es gleichgültig, wo er seine Tiere bestellte, da es
sich um „standardisiertes Reagenzmaterial“127 handelte.
1935 berichtete Kühn zufrieden an die Deutsche Forschungsgemeinschaft,
dass sich die Zusammenarbeit mit der Zuchtanstalt Plauerhof bewährt habe.
Die Bereitstellung ganz bestimmter Züchtungsprodukte sei gewährleistet.128
Dass diese Leistung ohne den entsprechenden personellen Aufwand nicht
möglich war rief er immer erneut ins Gedächtnis: „Mit dem Bedarf der verschiedenen Anstalten an genetisch reinem Versuchsmaterial wachsen die Ansprüche
an das Personal. [...] Ohne eine genaue Protokollführung sind alle Versuche
wertlos.“129
Die Neuorganisation der Versuchstierzucht im Plauerhof macht augenfällig,
von welcher Bedeutung die richtige Organisation von Haltung, Fütterung und
Zuchttechnik geworden war. Der Zufall wurde mit aller wissenschaftlichen Expertise angegangen. Die panoptischen und lokalen Praktiken, die in der Göttinger Säugetiergenetik über Jahre hinweg entwickelt worden waren, wurde auf
die Plauerhofer Zucht in die bereit stehende Nachtsheimsche Zweckarchitektur
übertragen. Durch Kontrolle und jederzeitigen Zugriff wurden bestimmte Eigenarten von Zuchttieren wie ein „immutable mobile“130 weit von Göttingen entfernt
als ein Set von Zuchtpraktiken in Bewegung gebracht.131
3.3.2 Vom Sinn einer Züchtungsanstalt – Die Göttinger Säugetierzuchten und
ihre Kooperationen
Kühn erprobte mit dem Plauerhof bereits im Kleinen, was er 1934 mit seiner
Denkschrift bei der Notgemeinschaft anregte. Der Plauerhof entsprach demnach einer „reinen Vermehrungs-Zuchtanstalt“ – während in Göttingen die Idee
einer „genetischen Züchtungs-Anstalt“ realisiert wurde. In Göttingen war mit der
Herauszüchtung von Versuchstieren mit bestimmten konstitutionellen Merkmalen 1929 begonnen worden. Hier zeigte sich am deutlichsten, dass die Zuchtarbeit selbst zu einer wesentlich wissenschaftlichen Arbeit wurde. Gezieltes Herauszüchten bestimmter Merkmale erforderte nicht nur ein erweitertes genetisches Methodenarsenal, sondern die Erweiterung der Expertise.
3.3.2.1
Das Göttinger Zoologische Institut und die Säugetierzuchtanlage
1920 hatte Kühn das „Zoologische und Zootonische Institut“ der Georg AugustUniversität in Göttingen übernommen und schon wenig später mit der Zuchthaltung von verschiedenen Säugetieren begonnen.132 Kühn und seine Schüler ex127
19.10.1931, Kühn an Schmidt-Ott (BA Ko, R 73, 159)
Vgl. 10.12.1935, Kühn an DFG (BA Ko, R 73, 12475: Seite 4 v. 9). Es sei wiederholt, dass es
hier um die Bewertung des Ziels und nicht die Beurteilung geht, in wieweit die Standardisierung
verwirklicht wurde.
129
29.1.1937, Kühn an DFG (BA Ko, R 73, 12475: Seite 3 v. 3)
130
Latour 1987: 236ff.
131
Das Handlungsprinzip war, den Zufall im Zuchtverlauf auszuschalten. Das soll nicht heißen,
dass die experimentelle Praxis lückenlos rational bestimmt war. Der Zufall konnte zum Beispiel
eine Rolle in der Auswahl lokaler Praktiken als Standardpraktiken bei der Zucht spielen.
132
Bis dahin hatte er in Freiburg als Assistent von August Weismann Forschungen an niederen
Organismen wie parthenogenetischen Cladoceren, Hydroiden und Protozoen (Amöben und
128
137
perimentierten in den zwanziger Jahren mit den unterschiedlichsten Spezies.
Die Versuche mit der Mehlmotte Ephestia, die Kühn zusammen mit seinen Mitarbeitern in den dreißiger Jahren zu seinen größten Erfolgen führten, begann er
1924. Die Motten nahmen jedoch keineswegs sofort eine prominente Stellung in
Kühns Institutsarbeit ein, wenn auch mehr als hunderttausend Motten aus „speziell entwickelten Massenkulturen“ bis 1930 gezogen wurden.133
Das Ephestiasystem stellte „nur eine unter mehreren Optionen dar, die parallel dazu verfolgt wurden“.134 Erst allmählich begann Kühn, sich für die Verknüpfung zwischen „kreuzungsanalytischen und entwicklungsphysiologischen Fragestellungen und Tatsachen“ zu interessieren, und setzte sich schließlich das Ziel,
den Boden für eine „strenge entwicklungsphysiologische Theorie“ zu bereiten.135 In den umfassenden, zusammen mit dem Assistenten Karl Henke, veröffentlichten „Genetischen und entwicklungsphysiologischen Untersuchungen
an der Mehlmotte Ephestia...“ ging es zunächst darum, das neue Experimentalobjekt zu etablieren. Das heißt, es wurden die Haltungs- und Züchtungseigenschaften dargestellt.136
Für die Durchführung der Arbeiten mit Säugetieren war Friedrich Kröning verantwortlich. Er hatte bei Kühn 1922 über das Farbensehen promoviert und wurde 1923 als Assistent übernommen. Als einziger Mitarbeiter am Institut beschäftigte er sich mit der Genetik der Säugetiere. Kühn regte ihn dazu an, „außer reinen Mendelfragestellungen unter Zugrundelegung von Mutationen vor allem
(entwicklungs-)physiologischen Problemen nachzugehen“.137 Im Mittelpunkt der
Trypanosomen) durchgeführt. Nun begann er mit vergleichend physiologischen Arbeiten zur
Orientierung im Raum und zum Farbsehen von Tieren.
133
Rheinberger 1999: 88
134
Rheinberger 2001: 544. Bis Mitte der dreißiger Jahre beschäftigte sich nur die Hälfte der
Dissertationen mit Ephestia. Andere Doktoranden nahmen Versuche mit der Feuerwanze
Pyrrhocoris apterus und der Schlupfwespe Habrobracon juglandis auf, um die Frage nach der
Beeinflussbarkeit der Pigmentierung durch äußere Reize wie Wärme zu bearbeiten.
135
Kühn & Henke 1929: 1 – Zunächst hatten auch bei Kühn bei der Beschäftigung mit Zeichnungsmustern und Pigmentierung Fragen der Artumwandlung in Tradition seines Lehrers
Weismann im Vordergrund gestanden. Jedoch hatten die an die Temperaturversuche angeknüpften phylogenetischen Fragestellungen sich nicht als fruchtbar erwiesen, wie Kühn 1926
schrieb. „Immer mehr drängten sich entwicklungsphysiologische Fragen in den Vordergrund,
Fragen nach den äußeren und inneren Bedingungen der Zeichnungsausbildung, also nach der
Zuordnung bestimmter Zeichnungsänderungen zu bestimmten Reizen und inneren Vorgängen,
die von den äußeren Einflüssen betroffen werden“ (Kühn 1926: 123). – Kühn unternahm selbst
Experimente zur Flügelzeichnung an Schmetterlingen, die zum Teil die Fortführung alter Versuche mit Weismann unter neuer Fragestellung waren. In Temperaturversuchen mit verschiedenen Arten von Argynnis stieß Kühn auf das – nicht unbekanntes Phänomen -, dass die Nachkommen von Temperatur-behandelten Faltern ebenfalls gleichsinnige Veränderungen aufwiesen. In der Vergangenheit hatte das zu Spekulationen über die Vererbung erworbener Eigenschaften Anlass gegeben (vgl. ebd.: 129)
136
Kühn und Henke kamen nach intensiver Prüfung zu dem Ergebnis, dass die fortgesetzte Inzucht zu einer Abnahme der Nachkommenschaft führte und zum Teil „Glasflügeligkeit“ bewirkte
(Kühn 1926: 36-40 u. 112). – In weiteren Experimenten sollte geklärt werden, ob der Inzuchtschaden auf verminderter Fruchtbarkeit der Eltern oder erhöhter Sterblichkeit der Nachkommen
und ob er auf einer Kombination von bestimmten Mendelfaktoren beruhte oder nicht.
137
o. D. [ca. 1926/27], Kröning: Lebenslauf, Durchschlag (UAG, Kur. PA Friedrich (Albert, Wilhelm) Kröning) – Kröning beschäftigte sich bis zu seiner Habilitation 1928 vor allem mit der Entwicklung die Genese der Pigmentierung und die Modifikabilität der Fellscheckung (vgl.
15.8.1939, Kröning Lebenslauf m.U., in: UAG, Rek., PA F. Kröning). 1922 bzw. 1923 begann K.
mit Experimenten an Katzen und Meerschweinchen (vgl. Kühn & Kröning 1928). Methodische
138
1923 begonnenen Experimente an Meerschweinchen standen Selektions- und
Reinzuchtversuche. Verschiedene Methoden der Inzucht wurden ausprobiert:
Rückkreuzung, Vetternehe und Bruder-Schwester-Inzucht, von denen Kröning
letztere schließlich als Hauptmethode zur Fixierung von Merkmalen wählte. Die
Reinzuchtstämme waren durch ihre Scheckung, den Grad der Rosettenbildung
der Haarstellung oder durch ihre Pigmentierung charakterisiert. Schnell wurden
über 30 verschiedene Pigmentierungs- und Haarvariantenstämme etabliert.138
Obwohl die Fell- und Pigmentstudien mit Intensität betrieben wurden, erschien außer zwei Untersuchungen zur Scheckung nur eine weitere Publikation
über die Pigmentchemie.139 Der erste Bericht über mendelsche Erbanalysen
erschien erst 1934. Mit diesen Untersuchungen wurde 1928, also parallel zu
den Verhandlungen in der Notgemeinschaft über die Ausweitung der Versuchstierzuchten, begonnen. Auffällig ist vor allem, dass die Meerschweinchen ab
jetzt nicht mehr nur nach Fellfarben und Musterung untersucht wurden, sondern
Aborte und Frühgeburten, die Jugendsterblichkeit sowie alle möglichen anderen
auffälligen Merkmale registriert wurden.140 Kröning stellte zu den Unterschieden
in Wurfgröße und Lebensfähigkeit fest, dass kein Zweifel bestehen könne,
„dass diese Unterschiede, da es sich um Inzuchtstämme handelt und da sämtliche Stämme unter den gleichen Bedingungen aufgezogen sind, genetischer
Natur sind“.141 Die Erforschung von Unterschieden in der Überlebensfähigkeit
oder Vitalität beschäftigte zur gleichen Zeit auch Kühn. Dies war ebenso wenig
ein Zufall, wie Krönings Hinwendung zur Mendelanalyse neuer Merkmale, wie
noch zu sehen sein wird.
Gleich, nachdem in der Notgemeinschaft die Neugestaltung der Versuchstierzucht beschlossen worden war, wurde entsprechend der speziellen Erfordernisse mit dem Bau einer neuen, großzügigen Tierzuchtanlage am Göttinger
Institut begonnen. Die Architektur wurde bis ins Detail auf die Zuchtansprüche
und ihre Praxis hin abgestimmt. Die Anordnung der Ställe und die architektonische Führung der Arbeitsabläufe mussten die Standardisierung der Tiere, die
Rationalisierung der standardisierten Arbeitsprozesse und die genetische Arbeit
durch Kontrolle und Übersicht unterstützen. „Will man planmäßig und in größeren Mengen Säugetiere züchten, die von Versuch zu Versuch ganz gleichwertiges Tiermaterial liefern sollen, so muß erstens für alle Versuchstiere der LeProbleme standen bei den Versuchen zunächst im Vordergrund. So stellte sich die Klassifikation der Scheckungsvarianten zum einen, die Erfassung feiner Pigmentierungsunterschiede
zum anderen als entscheidende Probleme dar. An der Vielgestaltigkeit der Scheckung hatten
sich bislang vor allem amerikanische Genetiker umsonst abgearbeitet. Die Untersuchungen mit
den Katzen führten nach sechsjähriger Arbeit zur Bestimmung eines Gens und der Annahme
eines Modifikationsfaktors. Klar war aber nicht, ob zu einem anderen Genort gehörte oder ein
Allel des analysierten Faktors war. Durch die Genanalyse überführte K. eine kontinuierliche
Reihe von Scheckungsvarianten in eine „Stufenfolge“, der verschiedene Genotypen zugeordnet
wurden. Das quantitative Merkmal stellte sich als qualitatives Merkmal dar. Neben diesen
Züchtungsversuchen versuchte Kröning, die Modifikabilität der Scheckung über so genannte
Doppelmissbildungen zu untersuchen (vgl. Kröning 1924). Bis Ende der zwanziger Jahre
bemühte sich Kröning, die Messtechniken zu verfeinern, um Pigmentierungsintensitäten in
reproduzierbaren Maßen ausdrücken zu können (vgl. Kröning 1930b).
138
Vgl. Kröning 1934b: 25.
139
Vgl. Kröning 1930a.
140
Vgl. Kröning 1934b: 26.
141
Kröning 1934b: 43
139
bensraum und das Milieu möglichst gleichartig sein. [...] Das bedingt, daß die
gesamte Zuchtanlage: die Räume oder der Platz, wo die Tiere gezogen werden, die Käfige, in denen sie gehalten werden, das Futter in seiner Zusammensetzung und Darbietung gleichartig und der jeweiligen Tierart angepaßt sein
muß.“142
Der fast 20 Meter lange Neubau der Zuchtanlage bot sich dementsprechend
als eine gleichmäßige Konstruktion dar, in der die Meerschweinchen in jeder
Stelle gleich belüftet und belichtet waren. Die Ställe waren in über die Länge
des Gebäudes laufende Reihen aufgestellt und nicht in Nischen verschachtelt,
wie es sonst verbreitet war. Dies ermöglichte nicht nur eine Beschleunigung
aller Arbeitsabläufe, sondern sollte auch die bessere Überwachung und den
Vergleich des Zustands der Ställe und der Tiere begünstigen. Eine besonderes
Kanalsystem und Sickerschächte sorgten für den Abfluss aller Jauchereste und
Flüssigkeiten, womit Kondenswasser an Decken und Türen vermieden werden
konnten. Die Fütterung wurde einseitig, dafür sehr gleichartig gehalten: Heu
und Rüben wurden über die Jahre vom gleichen Landwirt bezogen, sowie für
die Grasnutzung die gleichen Wiesenflächen genutzt. Für die Registrierung und
die damit verbundenen Untersuchungen stand ein gesonderter Registrierraum
zur Verfügung.143
3.3.2.2
„Medizinisch-biologische Grenzprobleme“ und die Arbeit an den
Versuchstieren
Schon vor der Einrichtung der Versuchstierzuchten 1929 am Göttinger Institut
waren vereinzelt auffällige Merkmale an den Tieren beobachtet worden. Daraus
war 1923 ein Stamm von Meerschweinchen hervorgegangen, bei denen immer
wieder überzählige Zehen, so genannte Überzehen, an den Hinterbeinen vorkamen, doch erst 1929 wurden sie zum Forschungsinteresse,144 ein Umstand, der
sich aus Krönings neuer Aufgabe als Leiter der Versuchstierzuchten erklärt:
Herstellung von Reinzuchtstämmen mit bestimmten konstitutionellen Merkmalen für die Zwecke der Medizin. Kröning war nun ganz damit beschäftigt, in
„planmäßigen mit großem Arbeitsaufwand durchgeführten Versuchen, die biologischen Unterschiede von Inzuchtstämmen zu prüfen“.145 „Hier tritt seine Neigung besonders zutage,“ so hieß es in einer Beurteilung, „biologische Fragestellungen und Methoden in den Dienst medizinischer Anwendungen zu stellen.
Sein Verständnis für medizinisch-biologische Grenzprobleme und sein hervorragendes technisches Geschick in der Inangriffnahme von biologischen Problemen, die für die medizinische Forschung wichtig sind, haben ihm besondere
Hochschätzung von Seiten medizinischer Fachkollegen eingetragen, die mit
142
Kröning 1938: 711
Alle Angaben, vgl. Kröning 1938: 712ff..
144
Vgl. Kröning & Engelmann 1934: 123. – Kröning versuchte, durch die Züchtung der Unterstämme zu zeigen, dass das Erscheinungsbild durch gezielte Selektion beeinflusst werden
konnten. Die Selektionsversuche zeigten, so K., dass der Einfluss der Umwelt zurückgedrängt
werden konnte, indem die Penetranz und Expressivität der Merkmale erhöht wurde. Im Rahmen
der Vorstellung von der Gen-Umwelt-Beziehung, wie sie K. mit Kühn teilte, wurde damit gezeigt,
dass die Genetik die Weite der Reaktionsweise eines Organismus bestimmt.
145
25.1.1935, Dekan der Math.-Nat. Fak. an RMW (UAG, Rek., PA Kröning)
143
140
ihm zusammenarbeiten (wie Geh.R. Prof. Dr. Kolle, Direktor des Instituts für
experimentelle Therapie in Frankfurt/M.).”146
Der Hauptteil der Versuchstiere wurde, der Absprache in der Notgemeinschaft gemäß, an Kolle versandt. Weitere Abnehmer von Versuchstieren für
„große Reihenversuche“ waren das Reichsgesundheitsamt, das Meerschweinchen für Tuberkuloseresistenzversuche und Mäuse für Pockenversuche erhielt,
Emil Abderhalden in Halle und der Gynäkologe Heinrich Martius.147 Kleinere
Abnehmer waren das Hygienische und das Pharmakologische Institut in Marburg, das Pathologische Institut der I.G.-Farbenindustrie (Erprobung von Krebsheilmitteln) und das Veterinäruntersuchungsamt in Merseburg.148
Die wichtigste Arbeit der Versuchstierzucht sahen Kühn und sein Zuchtleiter
darin, die vorhandenen Meerschweinchenstämme nach allen Seiten genau zu
untersuchen. „Die wesentlichen konstitutionellen Merkmale sprechen sich nicht
in leicht feststellbaren äußerlichen Kennzeichen aus, sondern in physiologischen Eigenschaften, wie Wurfgröße, Jugendsterblichkeit, Wüchsigkeit u.s.w.;
deshalb müssen die Inzuchten dauernd messend kontrolliert werden.“149 Interessante Merkmale mussten dann auf ihre Erblichkeit untersucht werden. Dies
konnten auch Eigenschaften mit einem zuchtpraktischen Interesse sein, wie die
Resistenz gegen verbreitete Stallseuchen.150 Es wurde zum Beispiel versucht,
die Versuchstiere „handzahm“ zu züchten.151 Zudem sollten durch selektive
Inzucht „inzuchtfeste“, das heißt gleich bleibend fruchtbare Meerschweinchenstämme herausgezüchtet werden.152 Die Ansprüche der medizinischen Laborarbeit entfalteten ihre eigene Formungsmacht auf die Versuchsobjekte.
Im Zentrum der Herausforderung standen die Ansprüche einer verfeinerten
medizinischen Experimentalforschung. Die medizinischen Prüfsysteme reagierten beispielsweise, wie sich an den Arbeiten in Kolles Institut zeigen lässt, empfindlich auf eine verminderte Lebensfähigkeit der Versuchstiere. Aufgaben der
Routineprüfung war daher, die Fertilität der Stämme, den Beginn und die Regelmäßigkeit der Ovarialcyclen, die Deckfähigkeit, die durchschnittliche Anzahl der
Jungen pro Wurf und die der Würfe pro Weibchen zu registrieren. Die Jungtiere
sollten ständig gewogen werden, um ihre Vitalität laufend übersehen zu können.153 Die genaue Kenntnis der physiologischen Eigenschaften, aus denen
sich die „Lebenstüchtigkeit“ eines Stammes zusammensetzte, wurde von den
146
25.1.1935, Dekan der Math.-Nat. Fak. an RMW (UAG, Rek., PA Kröning) – Ein Betätigungsfeld Krönings war ab 1929 in Zusammenarbeit mit der Göttinger Universitäts-Frauenklinik unter
dem Gynäkologen Heinrich Martius die mutative Wirkung von Röntgenstrahlen und ihre Wirkung auf Zellvorgänge bei der Carcinombestrahlung. (siehe auch 4.2.2.3; vgl. auch Seulberger
et al. 1929a Seulberger et al. 1929b; Kröning 1934a; Martius & Kröning 1936) Darüber hinaus
beschäftigte sich K. publizistisch mit der Vererbungstheorie des Krebs (vgl. Kröning 1935b;
Kröning 1935a; Kröning 1937; Kröning 1940).
147
Vgl. 4.12.1934, Kühn an die Notgemeinschaft (BA Ko, R 73, 12475: Seite 3 v. 9). – In diesem Bericht heißt es, daß 956 Meerschweinchen (plus 269 aus Plauerhof) und 518 Mäuse
abgegeben worden waren. 1935 waren es 685 (540) Meerschweinchen und 280 Mäuse.
148
Vgl. 18.6.1935, Kühn an DFG (BA Ko, R 73, 12475: Seite 2 v. 6).
149
o. D., Kühn: „Zoologisches Institut ...“ (BA Ko, R 73, 12475: Seite 3 v. 5. (s. Anm. 101)
150
Vgl. o. D., Anonymus: Sitzung am 12.5.1928 im Staatlichen Institut für experimentelle
Therapie (AMPG, Abt. III, Rep. 20 A, Nr. 103).
151
Vgl. 28.2.1936, Kühn an Deutsche Forschungsgemeinschaft (BA Ko, R 73, 12475).
152
Vgl. o. D., Kühn: „Zoologisches Institut ...“ (BA Ko, R 73, 12475: Seite 3 v. 5. (s. Anm. 101).
153
Vgl. 29.1.1937, Kühn an die Deutsche Forschungsgemeinschaft (BA Ko, R 73, 12475).
141
Genetikern als Voraussetzung für die medizinische Arbeit mit Versuchstieren
benannt.154
Das experimentelle Versuchstierzuchtsystem musste die Balance zwischen
entgegengesetzten Anforderungen halten. Zwischen dem Ein- und Feinschliff
eines Werkzeugs gewissermaßen und Exploration. Die Untersuchungen mussten spezifisch genug sein, um die Einpassung geeigneter Eigenschaften und
Merkmale der Tiere in Bezug auf eine Forschungsfrage an die Bedingungen der
Laborwerkstätten zu unterstützen. Sie mussten unspezifisch genug sein, um
schwer fassbare und mit der Möglichkeit ihres ständigen Neuauftretens die
medizinischen Versuche bedrohende Eigenschaften nicht zu übersehen. Um
die Erfassung von Unterschieden auf allen Ebenen zu gewährleisten, war ein
verstärkter personeller Aufwand notwendig und mussten neue Analysemethoden erschlossen werden. Deshalb strebte Kühn die Zusammenarbeit mit physiologischen, klinischen und chemischen Instituten an.155 Eine solche Zusammenarbeit bestand mit dem Institut für Physiologie und physiologische Chemie
in Halle. „Um die Konstitutionsunterschiede mit allen Mitteln zu erfassen, habe
ich eine Gemeinschaftsarbeit mit Prof. Dr. Abderhalden begonnen, die feststellen soll, ob bei Rassen, die sich durch bestimmte Erbfaktoren unterscheiden,
durch die Abwehrferment-Methode Eiweißunterschiedenheiten nachweisbar
sind.“156 Abderhalden prüfte sechs Meerschweinchenstämme. Das „überraschende Hauptresultat“ war, dass sie „streng spezifische Reaktionen ergeben
haben, das heißt nach unserer Auffassung Eiweißstoffe enthalten, die ein
spezifisches Merkmal haben”.157 Kühn zufolge zeigten diese Ergebnisse die
Überlegenheit der Reinzuchtmethode.158
Die Fellfarben, an denen Kröning vergebens entwicklungsphysiologische
Fragestellungen erprobt hatte, ‚verschwanden’ im genetischen Laboratorium
Kühns, wohingegen physiologische Merkmale auftauchten, die sich mendelgenetischen Untersuchungen stellen mussten. Allerdings entzogen sich Merkmale
wie die Vitalität einer mendelschen Faktorenanalyse, was neue Fragestellungen
der Genetiker provozierte. Das ist Thema des Kapitels 4. Das medizinische Experiment jedenfalls profitierte daran, dass die – statistische oder mendelgenetische –-Voraussage des Verhaltens der Meerschweinchen immer weiter in Versuchstierstämmen aufdifferenziert wurde. Kühn resümierte 1935, dass die neu
etablierten Versuchstierstämme „ihre Überlegenheit in den Reaktionen gegenüber dem genetisch unkontrollierten Material gezeigt“ hätten.159
154
4.12.1934, Kühn an Notgemeinschaft (BA Ko, R 73, 12475: Seite 4 v. 9)
Vgl. 4.12.1934, Kühn an Notgemeinschaft (BA Ko, R 73, 12475: Seite 6 v. 9).
156
4.12.1934, Kühn an Notgemeinschaft (BA Ko, R 73, 12475: Seite 4 v. 9) – Die Abderhaldensche Abwehrfermentmethode war zu dieser Zeit eine – wenigstens in Deutschland – unbestrittene Methode, mit der sich unter Ausnutzung der Fähigkeit eines Organismus, körperspezifische Antikörper auszubilden, die physiologische Eigenarten eines Organismus bestimmen ließ.
Der Methode wurde eine so große Potenzialität zugesprochen, dass sie in den unterschiedlichsten Bereichen Anwendung fand (vgl. Deichmann & Müller-Hill 1998).
157
18.6.1935, Kühn an Forschungsgemeinschaft (BA Ko, R 73, 12475: Seite 2 v. 6)
158
Vgl. 18.6.1935, Kühn an Forschungsgemeinschaft (BA Ko, R 73, 12475: Seite 2 v. 6).
159
18.6.1935, Kühn an Forschungsgemeinschaft (BA Ko, R 73, 12475: Seite 2 v. 6)
155
142
3.3.2.3
Die Kooperation der Züchtungsanstalt mit dem Staatlichen Institut für
experimentelle Therapie – Standardisierung von Impfstoffen
Die Meerschweinchenzuchten in Göttingen gerieten durch die Aufgaben der
Versuchstierzucht in einen neuen Forschungskontext. Eine Verbindung nach
Frankfurt scheint aber schon seit Beginn der Meerschweinchenversuche in
Göttingen bestanden zu haben.160 Der Bakteriologe Wilhelm Kolle, Mitglied im
Reichsgesundheitsrat, war der Nachfolger Paul Ehrlichs am Frankfurter Staatlichen Institut für experimentelle Therapie und Direktor des chemotherapeutischen Forschungsinstitut, dem nach seinem Stifter benannten Georg-SpeyerHaus. Das Institut für experimentelle Therapie erfüllte reichsweit die Aufgabe
der amtlichen Überprüfung von Heilsera und Impfstoffen.161 Darüber hinaus
wurden umfangreich eigene Forschungsarbeiten zur Immunitätslehre, zur Serologie, Bakteriologie, Hygiene und zur experimentellen Krebsforschung betrieben. Das Institut war in vier Abteilungen gegliedert, Kolle leitete die experimentell-biologische Abteilung. Ein wichtiger Aspekt seiner Arbeit bis in die dreißiger
Jahre hinein war die Bestimmung der Qualität (Wertbestimmung) von Toxinen
und Antitoxinen.162 Auch in den anderen Abteilungen spielten Standardmaße
160
Vgl. Kröning 1934b: 25. – Es entzieht sich allerdings meiner Kenntnis, wie diese Zusammenarbeit zustande kam und welche Form sie anfangs annahm. Kühn scheint sich seit ca. 1925
bereits mit der Versuchstierzucht befasst zu haben (vgl. 19.10.1931, Kühn an Notgemeinschaft,
in: BA Ko, R 73, 159).
161
Das Institut für experimentelle Therapie war hervorgegangen aus der 1895 in Berlin eingerichteten Kontrollstation für Diphtheriesera (hier und nachfolgend, vgl. Kolle 1926). Dies war auf
Initiative des RGA geschehen, um zu überwachen, dass nur einwandfreie Präparate abgegeben
werden. Nach den Bestimmungen durfte das Diphtherieserum nur durch Apotheken und auf
ärztliches Rezept hin abgegeben werden, musste die Produktion sanitätspolizeilich überwacht
und der Heilwert und die Unschädlichkeit der Präparate staatlich festgestellt werden. Dies waren die Aufgaben der Kontrollstation, angegliedert an das Institut für Infektionskrankheiten. Unter der Leitung Robert Kochs waren H. Kossel und A. Wassermann mit der Prüfung der Sera
betraut. Die Aufgaben der Kontrollstation weiteten sich schnell aus, allein durch die gesteigerte
Produktion des Diphtherieserums. Der preußische Minister für Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten F. Althoff und seine Mitarbeiter F. Schmidt-Ott und M. Kirchner veranlassten die
Gründung einer eigenen Forschungsstätte. Hier sollten auch theoretische Fragen der Serumtherapie bearbeitet werden. Direktor wurde Ehrlich (Mitarbeiter: W. Dönitz und H. Bonhoff). U.a.
wurde die Seitenkettentheorie der Immunitätsreaktion entwickelt. Die Prüfung aller Tetanussera
kam dazu. Da auch eine Prüfung „am Krankenbett“ notwendig war, in Berlin zu der Zeit aber
keine Kooperation mit einem Krankenhaus möglich war, wurde das Institut verlegt. Vorteil
Frankfurts war die Anbindung an die Farbwerke in Höchst, wo fast das gesamte Diphtherieserum hergestellt wurde. Neben der Kontrolle wurden nun schwerpunktmäßig hygienisch-bakteriologische Arbeiten sowie der Ausbau der Immunitätslehre vorangetrieben. Bei der Institutsübernahme durch Kolle 1917 wurden sofort mit Forschungsarbeiten im Auftrag der Heeresverwaltung über die Diagnose, Ätiologie und Serumtherapie des Gasödems aufgenommen. Impfstoffe, die 1929 staatlich durch das Institut geprüft wurden, waren: Diphtherieserum (seit 1895),
Tetanusserum (seit 1896), Kochsches Tuberkulin (seit 1899), Schweinerotlaufserum (seit
1899), Menigokokkenserum (seit 1925), Geflügelcholeraserum (seit 1925). Amtliche Prüfung
ohne staatliche Vorschrift (Wirksamkeit nicht gesichert): Schweineseuchenserum, Dysenterieserum, Antistreptokokkenserum.
162
Aus den Arbeiten ging ein Standardsystem zur Prüfung hervor. Die Frage von einheitlichen
Maßstäben zur Bestimmung der Wirksamkeit der Sera beschäftigte auch das Hygienekomitee
des Völkerbundes, mit dem Kolle in Verbindung stand. Die Beratungen führten zur Einführung
einer Immunitätseinheit, die mit Hilfe eines Standardserums ermittelt wurde und als internationaler Maßstab für die Prüfung bestimmter Sera benutzt werden sollte. – Ähnliche Arbeiten wurden im Auftrag der Heeresverwaltung von H. Sachs und W. Georgi am Institut ausgeführt (Prüfung antitoxischer Ruhrsera) (vgl. Kolle 1926: 13).
143
eine herausragende Rolle. So musste neben der Prüfung der Sera und Tuberkuline ständig die Konservierung und sichere Fortführung der amtlichen Standardmaße gewährleistet sein. „Da auch die geringste Verschiebung der Maßeinheit unbedingt vermieden werden muß, kommt es bei diesen Arbeiten darauf
an, durch immer erneute Versuchsreihen das neue Serum so exakt einzustellen, dass es in seinen Wirkungen im Tierversuch mit dem alten Serum ganz genau übereinstimmt.“163 Andere Untersuchungen Kolles betrafen die Wirkungsweise des Diphtherie- und des Schweinerotlaufserums sowie die Prüfung von
Metallsalvarsanen auf ihre therapeutische Wirkung vor allem bei Syphilis.
Bei den serologischen, immunologischen und chemotherapeutischen Versuchen stand das Tierexperiment insbesondere an Mäusen und Meerschweinchen im Mittelpunkt. Es wurden große Mengen an Versuchstieren benötigt.
1899 war bereits eine eigene Tierzucht in Frankfurt errichtet worden. 1922 wurde sie erweitert und modernisiert („über das Dach führender Abluftkanal aus
glasierten Tonrohren“, „Beheizung mit reduziertem Hochdruckdampf“). Es gibt
keinen Hinweis darauf, dass in Frankfurt Reinzuchtversuche unternommen
wurden.
Die – so genannte – zufällige Variabilität im Experiment wurde mehr und
mehr zum Problem. Dieses Problem stand in enger Beziehung zur Aufgabe des
Instituts, der Standardisierung von Impfstoffen. Die Voraussetzung war dazu die
genaue Bestimmung der Wirksamkeit der Impfstoffe. Die Genauigkeit war aber
von der genauen Kontrolle der Stoffverläufe – von der Quantität und Qualität
der Toxine der Erreger bis zu den Serumeigenschaften der infizierten Tiere –
abhängig. Und die wachsenden Ansprüche an die Genauigkeit bedingten, dass
die Variabilität immer störender ‚in Erscheinung’ trat.164
Spätestens seit 1928 wurde das Kollesche Institut mit Meerschweinchen aus
Göttingen versorgt. Zum einen wurden unspezifisch ingezüchtete Tierstämme
für die Versuche zur Standardisierung und Testung von Diphtheriesera geliefert,
zum anderen Stämme, die in voranschreitender selektiver Zucht auf unterschiedliche Immunität gegenüber Tuberkuloseerregern herausgezüchtet wer-
163
Kolle 1926: 16 – Als Träger der Maßeinheit wurde ein Standardserum verwendet, das bei
der Prüfung verbraucht und deshalb immer nachproduziert werden musste. Es wurde portioniert
in entsprechend der von Ehrlich entwickelte Vakuumkonservierungsmethode in kleine Vakuumröhrchen eingeschmolzen. Mehrere Dutzend Abonnenten bezogen zur Kontrolle ihres eigenen
Prüfungsmaßstabes regelmäßig Lösungen des Standardserums aus Frankfurt.
164
Es musste bspw. die exakte Dosis certe letalis oder certe tolerate eines Heilserums bestimmt werden. Zum statistischen Ausgleich wurde die Anzahl der Versuchstiere in einem Versuch immer weiter erhöht. Als finanzielles Argument hieß es, dass die Versuchsreihen kleiner
werden könnten, wenn die Variabilität im Experiment gesenkt würde. Die Vergrößerung der
Versuchsreihen machte eine komplexere Statistik nötig. Die Sensibilität für diese Schwierigkeiten führte dazu, dass am Institut eigens ein Mathematiker und Statistiker eingestellt wurde, der
die experimentellen Wissenschaftler in der Analyse ihrer Versuche unterstützte (Dr. Wilhelm
Schäfer, Mathematiker und Biologe, in der experimentell-therapeutischen Abt. von R. Prigge).
Schäfers Aufgabe war unter anderem die variationsstatistische Untersuchung über Wertbestimmung der Diphtherieimpfstoffe sowie die statistische Analyse von Vergleichsuntersuchungen mit britischen, deutschen und dänischen Dysenterie-Standard-Sera. – Es bestand eine Zusammenarbeit mit Dr. H. v. Schelling (Berlin-Charlottenburg) und Prof. L. v. d. Waerden (Leipzig). – Statistische Arbeiten des Instituts zum Beispiel: Prigge 1937; Schäfer 1937; Schäfer
1939; v.Schelling 1938; v.Schelling 1939.
144
den sollten. Hieraus entwickelte sich eine langjährige Zusammenarbeit der
Institute.
3.3.3 Genetisch homogene Versuchstiere sensibilisieren ein experimentelles
Prüfsystem: Diphtherieimpfstoffe
In diesem Abschnitt wird anhand der Experimente zur Bestimmung der Wirkung
von Diphtherieimpfstoffen („Diphtheriewertbestimmung“) verfolgt, wie die reingezüchteten Versuchstiere zum zentralen Element des immunologischen Experimentalsystems und die Genetik der Versuchstiere Mittelpunkt der Versuchsplanung wurden. Die Versuchstiere wurden zunächst als Einzelindividuen behandelt, dann als amorphe Kollektive und schließlich als mehr oder weniger genetisch homogenes „Versuchsmaterial“. Diese Verschiebung wurde nicht durch
ein bestimmtes Verständnis von Infektionskrankheit oder eine ideologische
Präferenz vorangetrieben, sondern war ein Ergebnis der Möglichkeiten und
Zwänge der zur Verfügung stehenden Labortechniken und der experimentellen
Ideale von Messbarkeit und Kontrolle. Diese Art der Annäherung an genetische
Fragen war kein Einzelfall in der Infektionsmedizin, wie für die experimentelle
Epidemiologie zu Typhus in England und den USA gezeigt worden ist.165 Die
Kontroll- und Manipulationserfordernisse brachten gegen Ende der zwanziger
Jahre, ermöglicht durch gereifte genetische Techniken, die Genetik in das
medizinischen Labors.
Im Unterschied zu den angelsächsischen Beispielen bildeten in Frankfurt
nicht epidemiologische Forschungsfragen den Rahmen, sondern die Aufgabe,
die Giftigkeit und Wirksamkeit von Impfstoffen oder Heilseren zu kontrollieren.
Die Prüfung und Überwachung erforderte standardisierte Verfahren, die im Tierversuch auf den Menschen übertragbare, vergleichbare und reproduzierbare
Ergebnisse lieferten. Das Diphtherieserum unterstand seit 1895 der amtlichen
Prüfung. Das Frankfurter Staatsinstitut erhielt 1927, als ein neues aktives Immunisierungsverfahren durch das Preußische Ministerium für Volkswohlfahrt
unter staatliche Kontrolle gestellt wurde, den Auftrag, die Unschädlichkeit sowie
die Herstellerangaben über die für die Toxin-Antitoxin-Gemische verwendeten
Giftprodukte und Sera nachzuprüfen.166 Die von der Prüfungsabteilung des Instituts unter Beteiligung von Sachverständigen der Serumindustrie ausgearbeiteten und vom Reichsgesundheitsrat genehmigten Prüfvorschriften erfüllten
zunächst ihren Zweck. Mit der laufenden Veränderung der Impfgemische –
höhere Toxinkonzentration, Beimengung weiterer Toxine – mussten aber die
Prüftests angepasst, sensibilisiert und sicherer gemacht werden. Kolle und seine Mitarbeiter Prigge und Fischer begannen deswegen mit groß angelegten
Tierversuchsreihen mit Meerschweinchen.
3.3.3.1
Das Problem und die Einstellung des Experimentalsystems
Seit Anfang des Jahrhunderts war zur Wertbemessung von Impfstoffen, die aus
Antikörpern bestanden, ein einfaches und bewährtes Grundprinzip verfolgt wor-
165
166
Vgl. Amsterdamska 2001: 138-39 u. 172-73.
Vgl. Hetsch 1931.
145
den.167 Bei den Diphtherieimpfstoffen, die in den zwanziger Jahren zu prüfen
waren, war die Lage komplizierter. Als Impfstoffe wurden nicht Antikörper sondern unwirksame Giftstoffe der Bakterien benutzt. Die Immunisierung war aktiv,
das heißt, der Körper produzierte nun gegen die injizierten, entschärften Toxine
„antitoxische Antikörper“. Bei einer Infektion sollten die von den Diphtheriebakterien gebildeten, gefährlichen Toxine neutralisiert werden.168 Die Voraussetzungen, die die Wirkungsprüfung von Seren aus Antikörpern ermöglicht hatten,
waren bei der Impfung mit entschärften, bakteriellen Giftstoffe nicht mehr gegeben. Bisherige, passive Impfstoffe hatten eine Immunreaktion im geimpften Körper bewirkt, die zu der Impfstoffmenge in einer klaren Beziehung stand. Die Immunisierungswirkung durch ein toxisches Impfserum war nicht mehr einfach
vorhersagbar.
An diese veränderten Verhältnisse in der Immunreaktion musste das experimentelle Prüfsystem angepasst werden. Bei den bisherigen Experimenten wurde eine Anzahl Versuchstiere mit je verschiedenen Mengen des Impfstoffs geimpft. Nach der Immunisierung wurde ihnen das Prüftoxin verabreicht. Tiere, die
zu geringe Mengen des Impfstoffs erhalten hatten, starben. Dasjenige überlebende Tier, das die geringste Impfstoffmenge erhalten hatte, repräsentierte die
Wirksamkeitsschwelle des neuen Impfstoffpräparats. Diese Impfstoffmenge war
äquivalent zu dem Standardimpfstoff. Im Normalfall waren die Ergebnisse so
gut reproduzierbar, dass bislang in dem Reihenversuch für jede Testdosis nur
ein Tier benutzt werden musste. Diese Art aber, wie die immunisierende Wirkung verschiedener Dosen der Impfstoffe gemessen wurde, konnte die neue
Dynamik der Immunisierungsreaktion nicht mehr ‚abbilden’.
Jene – verhältnismäßig – klare Grenze der Impfwirkung gab es beim neuen
Diphtherieserum nicht. Die Spanne zwischen einer absolut schützenden und
der hundertprozentig versagenden Impfstoffdosierung war so weit, dass es
unmöglich war, mit Versuchsreihen, in der die verschiedenen Impfstoffmengen
nur durch einzelne Versuchstiere repräsentiert wurden, eine sichere Grenze zu
ziehen. Eine gewisse Unsicherheitsspanne konnte und musste immer toleriert
werden. Was toleriert werden konnte, hing vom Anspruch an die Genauigkeit
der Wirkungsprüfung ab. Bei der Diphtherie war aber die Spanne zwischen den
eindeutigen Grenzdosen und damit der Fehler zu groß, wie Richard Prigge
feststellte.169
Prigge war Schüler Kolles und seit 1922/23 Assistent am Institut.170 Prigges
Lösung für die Wertigkeitsprüfung der neuen Diphtherieimpfstoffe schien nahe
167
Voraussetzung war zunächst die Festlegung eines „Standard“-Impfstoffes, einer willkürlich
ausgewählten Menge Impfstoff, die in einem Prüfungsamt konstant reproduziert und gehalten
werden konnte. Es wurde dann ermittelt, gegen welche Menge infektiösem Material der Standard-Impfstoff gerade noch Immunität verleihen konnte. Diese Giftdosis wurde als Testdosis zur
Bestimmung der Wirksamkeit anderer Impfstoffe benutzt.
168
Die Diphtheriebakterien, die sich lokal in der Schleimhaut ansiedeln, erzeugen Giftstoffe
(Toxine), die in den Körper geschwemmt werden, die Durchlässigkeit von Gefäß- und Zellwänden steigern bzw. zur möglichen tödlichen Schädigung von Herz, Nervensystem und Nebennieren führen.
169
Vgl. Prigge 1935: 1-2.
170
1929 wurde Prigge wiss. Mitglied in der Nachfolge von Hans Schlossberger. P. war zunächst
an der Syphilisforschung und Entwicklung der Salvarsantherapie beteiligt. Mit der Entwicklung
aktiver Impfstoffe gegen Diphtherie erweiterte sich sein Arbeitsgebiet: Zusammensetzung und
146
zu liegen. Es sei auch unter den neuartigen „Voraussetzungen möglich, reproduzierbare Werte zu erhalten, wenn man ein den Pharmakologen seit langem
geläufiges und auch in der Immunbiologie schon verschiedentlich angewandtes
Verfahren befolgt, nämlich nicht das Verhalten des Einzeltieres, sondern das
Verhalten von Tierkollektiven studiert“.171 Durch die Verwendung von Versuchstierkollektiven sollte herausgefunden werden, welche Impfmenge gerade
bei allen Tieren eine Immunisierung bewirkte.
Es musste allerdings damit gerechnet werden, dass „unkontrollierbare individuelle Faktoren“172 bewirkten, dass die Reaktion der Tiere auf die Immunseren
stark unterschiedlich war. Diese Tücken der Tierkollektive machten sich in der
Tat schnell bemerkbar. Die Durchführung der Experimente zur Überprüfung der
neuen Vorgehensweise wurde auf die Kapazitäten des Frankfurter Institut, des
Statens Seruminstitut in Kopenhagen und dem National Institute for Medical
Reseach in London-Hamstead verteilt. Die Prüftoxine wurden mal vom dem
einen, mal vom anderen Institut zur Verfügung gestellt. Es gelang aber nicht,
ein verlässliches Prüfsystem aufzustellen, da der Prozentsatz der geschützten
Tiere von Versuch zu Versuch variierte. Der Verdacht kam auf, dass die Tiere
nicht nur unterschiedlich auf ein Impfserum reagierten, sondern schon als
ungeimpfte Tiere eine unterschiedliche Resistenz gegen das Diphtherietoxin
besaßen. Wenn die Versuchstiere sich in ihrer „natürlichen Giftresistenz“
(Prigge) unterschieden, dann konnte nicht einfach auf Grund der aktuellen
Immunität im Experiment auf die erwobene Immunität geschlossen werden.173
Prigge versuchte nun, mit einer „einfachen Änderung der Versuchsanordnung“ das Problem zu umgehen, und die Verhältnisse so zu gestalten, als ob
die „natürliche“ Resistenz bei allen Tierindividuen gleich groß wäre. Der experimentelle Trick war theoretisch so simpel wie die Einführung von Versuchskollektiven. Die Dosen der Impfseren und Toxine wurde so weit gesteigert, dass
die Unterschiede, die – theoretisch – bei nicht immunisierten Tieren auf Grund
der „natürlichen Immunität“ erwartet wurden, rechnerisch nicht mehr ins Gewicht fallen konnten.
Nichtsdestotrotz, die Unregelmäßigkeiten im Vergleich zwischen den drei Instituten blieben, ja, die „größten Unterschieden“ traten auf, wenn ein- und derselbe Versuch unter den „gleichen experimentellen Bedingungen vorgenommen“ und zur gleichen Zeit mehrmals wiederholt wurde.174 Unter diesen Bedingungen hatten die Versuchsergebnisse keinerlei „objektive Bedeutung“ (Prigge). Als Grund der Schwierigkeiten veranschlagte Prigge den „Einfluß des Zufalls“.175 Aus dieser Perspektive stellten sich die Ergebnisse als ein rein methodisches Problem dar. Der Zufall war dann ein statistisches Problem. Die Unregelmäßigkeiten beruhten also auf der „Verwendung einer zu geringen Zahl von
Reinigung der Toxine, Beziehung des Diphtherieserums zu seinem Heilwert, Bestimmung des
Antitoxingehalts in Impfseren und kleinster Menge von Antitoxin.
171
Prigge 1935: 2
172
Prigge 1935: 3
173
Strittig war dabei zudem, ob „natürliche“ und erworbene Immunität überhaupt mit einander
verglichen werden konnten, das heißt, ob sie auf gleichen Mechanismen beruhten.
174
Prigge 1935: 10
175
Prigge 1935: 11
147
Versuchstieren“.176 Entsprechend dieser Einsicht wurde gehandelt. Die Anzahl
der Versuchstiere pro Experiment wurde von 25 auf mindestens 100 erhöht, um
die „zufälligen“ Schwankungen hinter Durchschnittswerten verschwinden zu
lassen. Prigge resümierte: „Nur durch die Einführung wesentlich größerer Versuchsreihen wurde es möglich, die auf den individuellen Unterschieden in der Immunisierbarkeit der verschiedenen Tiere beruhenden
Schwankungen im Versuchsausfall zu beherrschen und zu reproduzierbaren
Ergebnissen zu gelangen.“177
Von Außen wurden jedoch die Erwartungen an den Grad der Genauigkeit der
Wirkungsbestimmung erhöht. Die Genauigkeit war zwischen zwei Stellschrauben des experimentellen Arrangements aufgehangen: der Anzahl der untersuchten Tiere und der Höhe der „zufälligen“ Schwankungen in der Immunität
zwischen den Versuchstieren. Je höher die Schwankungen waren, desto mehr
Versuchstiere mussten eingesetzt werden, um einen bestimmten Grad der Genauigkeit zu halten. Auch die unterschiedliche Qualität der untersuchten Präparate und Stoffe, der Antigene, Seren oder Toxine, strapazierte weiterhin das
experimentelle System, das vorläufig durch die große Zahl der Versuchstiere
stabilisiert schien.
3.3.3.2
Im Prüfsystem vom Zufall zum „Wesen“: genetisch reine Versuchstiere
Das experimentelle Prüfsystem erinnert an den Pantograph, ein technisches
Zeichengerät. Der Pantograph ist ein gelenkiges Gestell, mit dem eine Vorlage
in einem anderen Maßstab abgebildet werden kann. Dieses Gestell interessiert
nun aber nicht als etwas, das abbildet, sondern als eine Anordnung beweglicher, aber gegenseitig abhängiger Gelenke, der das Arrangement des Experiments entspräche. Die ‚Gelenke’ des Experiments wären dann die Versuchstieranzahl, die individuelle Immunisierbarkeit der Meerscheinchen, die Wirkunterschiede des Immunserums, die „natürliche Resistenz“ etc.. Im Unterschied
zum viergelenkigen Pantographen besteht allerdings das experimentelle Gestell
aus unzähligen Gelenken, die veränderlich sind oder nicht, dem Experimentator
zugänglich oder verborgen. Wird ein Gelenk gebogen, so verändern sich die
Winkel der anderen Gelenke mit und verziehen zugleich die Konfiguration des
gesamten Gestells. Der Zeichner muss indes die Gelenke in eine bestimmte
Konfiguration bringen, um den Punkt seiner Wahl auf der Zeichenfläche zu
erreichen. Dieser Punkt ist die Genauigkeit der Impfwertbestimmung. Neue
Anforderungen an die Genauigkeit verschoben den Zielpunkt des Prüfsystems;
verschob sich ein Gelenk, entfernte es das Arrangement vom Zielpunkt. Wenn
dieser außerhalb der Gelenkigkeit des Gestells geriet, war es notwendig, ein
Gelenk gefügig zumachen oder zu reduzieren, um ein leichter zu handhabendes experimentelles System zu erhalten.
Dies war die Strategie, die Prigge als Nächstes wählte. Die Schwankungsfaktoren waren als ein Gelenk aufgetrennten, da sie der Einfachheit halber als Zufallsfaktor zusammengefasst worden waren. Hinter der statistischen Zusammenfassung verbargen sich aber eine Anzahl weiterer Gelenke, deren Ver176
177
Prigge 1935: 10
Prigge 1935: 11
148
schiebung die Gesamtapparatur immer wieder in Spannung brachte und auf die
sich nun das Interesse richtete. Ihr „Wesen“ (Prigge) hatte nicht interessiert, solange sie methodisch uninteressant waren. Um sie unschädlich machen zu können, mussten sie zunächst als Bestandteile des Labors oder des experimentellen Systems transparent gemacht werden. Die unterschiedliche Immunisierbarkeit der Versuchstiere musste deshalb aufs Neue einer Betrachtung unterzogen
werden.
Der Schwankungsfaktor, der am leichtesten transparent zu machen war, war
der genetische. Gegen die genetische Variabilität waren schon zuvor spezifische Vorsichtsmaßnahmen getroffen worden: Die Tiere wurden gemischt. „Es
sollte unter allen Umständen vermieden werden, daß Tiere, zwischen denen ein
näherer genetischer Zusammenhang bestehen konnte, geschlossen in ein und
dieselbe Versuchsreihe hineingelangten.“178 Durch die Mischung wurde die Variabilität nicht verringert, die Schwankungen aber gleich verteilt. Die „individuelle
Variation in der Immunisierbarkeit“ konnte aber bei erhöhten Anforderungen die
Einstellung des experimentellen Gelenksystems zunehmend behindern. Prigge
hob jetzt hervor, dass bisher Tiermaterial verwandt worden war, „welches in genetischer Hinsicht mehr oder weniger inhomogen war“.179 Ein Fortschritt in der
Messgenauigkeit würde sich erst erzielen lassen, wenn alle Untersuchungen
mit „sogenannten ‚reinen Linien’, also mit Inzuchttieren“, die hinsichtlich ihrer
Immunisierbarkeit „größere Gleichförmigkeit“ aufwiesen, durchgeführt würden.180
Die Einführung von homogenem „Tiermaterial“ (Prigge) versprach, das experimentelle Prüfsystem zur Bestimmung des Wirkgrades von Diphtherieimpfstoffen zu sensibilisieren. Im Bild des Pantographen heißt das, dass bislang unerreichbare Punkte erreichbar wurden. Die Konfiguration der Gelenke wurde flexibler, indem sie von der Spannung der auf sie einwirkenden Gestellanbauten befreit wurde. Die Unterschiede der Impfstoffe verschiedener Anbieter – 1929
wurden die Seren von acht Anbietern geprüft181 – konnten transparenter gemacht werden. Die Schwierigkeiten Prigges konnten nach Kühn auf diese Weise „sofort“ behoben und eine exaktere Einstellung der Sera versucht werden.182
3.3.3.3
Das experimentelle (Prüf-)System: widerständig gegen Genetisches
Welchen Weg hatte die individuelle Immunisierbarkeit der Versuchstiere im Verlauf der Neujustierung des experimentellen Prüfsystems genommen? Wenn das
Wesen eines Dings daran gebunden ist, wie es repräsentiert wird, dann veränderte sich die individuelle Immunisierbarkeit selbst mit der Neujustierung und
der Praxis der Repräsentation. Als was also wurde die „Immunisierbarkeit der
Versuchstiere“ behandelt?
178
Prigge 1935: 33. Am Versuchstag wurden die Tiere nach Gewicht geordnet und im Laufkasten „gemischt“. Durch den ‚zufälligen Griff’ wurden die Gruppen zusammengestellt.
179
Prigge 1935: 32
180
Prigge 1935: 32
181
Vgl. Kolle 1929: 282. I.G. Farbenindustrie, Werk Höchst; Behringwerke, Marburg; Sächs.
Serumwerk AG., Dresden; Serumlaboratorium Ruete-Enoch, Hamburg; Serum-Institut Bram,
Leipzig; Chem. Fabrik Schering-Kahlbaum, Berlin; Chem. Fabrik E. Merck, Darmstadt;
Pharmaz. Institut L.W. Gans, Oberursel.
182
28.2.1936, Kühn an Deutsche Forschungsgemeinschaft (BA Ko, R 73, 12475)
149
1. Die Immunisierbarkeit zeigte sich anfangs im Überleben oder Tod eines Versuchstiers stellvertretend für alle. Sie wurde als Immunität behandelt.
2. Als ein neues Serum eingeführt wurde, änderte sich die Überlebensmöglichkeit des einzelnen Tiers. Es wurden nun Kollektive à 25 Meerschweinchen benutzt. Die individuelle Immunisierbarkeit stellte sich jetzt als Dosisproblem dar.
3. Als Unregelmäßigkeiten zwischen den verschiedenen Laboren auftraten,
wurden statistische Kollektive à 125 Meerschweinchen eingeführt. Die individuelle Immunisierbarkeit stellte sich nun als Zufall in der Verteilung der Tiere dar.
4. Als der Zufall weiterhin nicht zu behebende Unwägbarkeiten erzeugte, wurden die Versuchstiere homogenisiert. Die individuelle Immunisierbarkeit wurde
als genetisches Gemisch behandelt.
Die Benennung des individuellen Unterschieds wurde zu einem Angelpunkt
der verbesserten Messgenauigkeit. Die „genetische Hinsicht“ wurde in dem Moment von Prigge ‚erkannt’, als eine Methode auftauchte, mit der sie behandelt
werden konnte: die Reintierzucht. Diese Methode, von Außen an Prigges experimentelles Prüfsystem herangetragen, bot sich als Mittel der Wahl an. Prigge
rekurrierte aber mit der Benutzung der Göttinger Versuchstiere implizit auf das
Konzept der genetischen Disposition. Man hätte deshalb erwarten können, dass
neben der Immunisierbarkeit nach der „natürlichen Resistenz“ der Tierkörper
gefragt worden wäre. Doch das geschah nicht. In dem Experimentalsystem gab
es eine geradezu ‚natürliche Resistenz’ gegen eine genetische Fragestellung,
das heißt die Behandlung der Versuchstiere mit einer Methode, die auf das
Genetische abzielte, machte das Genetische nicht automatisch zum Gegenstand.
Prigge erwähnte die Bedeutung des Gegenstandes, auf den mit der Inzuchtmethode zugegriffen wurde, stellte aber gleich klar, dass eine Analyse, die nach
dem Wesen der individuellen Unterschiede fragt, nicht zum Ziel führt. „Feststellungen über den immunbiologischen Zustand einzelner Organe, vor allem des
Blutes, bieten von vornherein die Möglichkeiten, Unterschiede zwischen
den einzelnen Individuen zu studieren. Selbstverständlich beanspruchen
derartige Studien über die Verschiedenheit des individuellen Immunitätsgrades
der Tiere größtes biologisches Interesse. Untersuchungen über die Verschiedenheit der Impfstoffe und über deren Wertbemessung verfolgen aber ein prinzipiell anderes Ziel.“183 Die genetische Modellierbarkeit
und Reinheit der Versuchstiere war nur insofern von Interesse, als sie die immunbiologischen Abläufe der Tiere aneinander angleichen konnte. Aus Prigges
Sicht – mit der Aufgabe versehen, die amtliche Prüfung von Sera zu gewährleisten und zu verbessern – konnten die individuellen Unterschiede, nachdem
die Methode zu ihrer Eliminierung eingeführt worden war, sogleich wieder zu
undifferenzierten Gegenständen verschmelzen.184 Klassifizierung heißt Differenzierung, und Differenzierung heißt Heraushebung und Vervielfachung. Aber
nur „ein einziger für die Antigenmessung verwendbarer Wert“ wurde benötigt!
Der genetische Gegenstand trat also in diesem Experimentalsystem, das als
183
184
Prigge 1935: 37
Vgl. Prigge 1935: 37.
150
Prüfsystem fungierte, zwar hervor, wurde aber – zunächst – nicht zum Gegenstand gemacht.185
3.3.4 Erbliche Disposition der Infektionskrankheiten: Die Tuberkuloseresistenz
als Versuchsballon
Etwa zeitgleich zu den Versuchen zur Diphtheriewertbestimmung wurde die
„erbliche Disposition“ einer anderen Infektionskrankheit, der Tuberkulose, zum
eigentlichen experimentellen Gegenstand. Die ersten mendelgenetischen Tierexperimente zur Tuberkulosedisposition, denen eine in ihrer methodischen und
technischen Neuartigkeit exemplarische medizinisch-genetischen Zusammenarbeit zugrunde lag, wurden zwar schon 1921 in den USA veröffentlicht;186 die
Zusammenarbeit zwischen dem Frankfurter und dem Göttinger Institut lässt in
der Stringenz ihrer Programmatik sowie in ihrem Umfang jedoch deutlicher eine
einschneidende Markierung des Beginns der Zusammenarbeit von Genetik und
(Infektions-)medizin erkennen. Bereits Anfang Januar 1928 ließ Kolle eine besondere Affinität gegenüber Fragen der erblichen Disposition erkennen: „Es
wäre von großer Bedeutung, die ganze Frage der Erblichkeit der Disposition
und der Resistenz gegenüber bestimmten Infektionskrankheiten zu klären.“187
Die Frankfurter Mediziner setzten in Absprache mit den Genetikern in Dahlem
und Göttingen die Tuberkulose neben der Syphilis an die erste Stelle der Aufgaben ihrer Zusammenarbeit.188 Im Herbst 1929 beauftragte Kolle Emil Küster und
die Tuberkuloseabteilung des Instituts zusammen mit Friedrich Kröning, groß
angelegte Versuchsreihen durchzuführen. Das System der Reinzucht, das der
Diphtheriewertbestimmung noch vorgeschaltet war, wurde jetzt Teil der eigentlichen Experimente. Dazu wurde es in ein differenzielles Reinzuchtsystem umgewandelt.
Noch 1929 wurden die ersten vier Göttinger Stämme zur Prüfung der Tuberkuloseempfindlichkeit an das Frankfurter Institut verschickt. 1931 berichtete
Kühn: „Stämme mit in sich einheitlichen und von Stamm zu Stamm verschiedenen Merkmalen in der Empfänglichkeit für Tuberkulose heben sich schon heraus.“189 Bis Ende 1934 war die Tuberkuloseempfindlichkeit an 18 verschiedenen Stämmen untersucht worden.190 Die Tiere wurden alle in Göttingen „unter
völlig gleichen Bedingungen, soweit sich solche überhaupt bei Säugetieren ver185
Prigge begann Ende 1937 mit dem Humangenetiker v. Verschuer eine Zusammenarbeit, die
bis April 1943 lief und Versuche zur Erblichkeit der Resistenz gegenüber Diphtherietoxinen
betraf (Es wurden aus methodischen Gründen keine Reinzuchttiere benutzt). „Mit der ursprünglichen Absicht, eine möglichst exakte Methodik der Antigenmessung zu finden, hatte Prigge die
Immunisierbarkeit von verschiedenen Meerschweinchen-Inzuchtstämmen gegen Diphtherietoxin geprüft. [...] Die von Prigge ausgesprochene Erwartung, ‚daß der geistige Austausch zwischen der Immunbiologie und der Erbbiologie für beide Forschungsrichtungen reiche Früchte
tragen wird’, gab die Veranlassung zu der vorliegenden gemeinsamen Forschung.“ (Prigge &
v.Verschuer 1943: 157)
186
Vgl. Mendelsohn 2001: 56-57.
187
28.1.1928, Kolle an Schmidt-Ott (AMPG, Abt. III, Rep. 20 A, Nr. 103)
188
Vgl. o. D., Anonymus: Sitzung am 12. März 1928 im Staatlichen Institut für experimentelle
Therapie (AMPG, Abt. III, Rep. 20 A, Nr. 103).
189
2.7.1931, Kühn an Schmidt-Ott (BA Ko, R 73, 159)
190
4.12.1934, Kühn an Notgemeinschaft (BA Ko, R 73, 12475: Seite 4 v. 9). In 14 Versuchsserien wurden über 2.000 Meerschweinchen mit Tuberkelbazillen infiziert, der Erkrankungsverlauf
beobachtet und die gestorbenen Tiere seziert (vgl. Küster & Kröning 1938: 43 u. 66).
151
wirklichen lassen, gehalten. Umwelteinflüsse waren also durch gleich Unterbringung, Fütterung und Wartung [sic] der Tiere bei der Zucht und während des
Versuches praktisch gleichgestaltet und damit auch ohne wesentliche Bedeutung für den Ausfall der Versuche. Es war also auch der Einfluß auf die Disposition gleichartig.“191 Ein ähnlicher Aufwand wurde beim Infektionsversuch und
bei der anschließenden Haltung der Tiere in Frankfurt bis zu ihrem Tod betrieben.192 Auch der Bazillenstamm sollte gleichartig wie die Versuchstiere sein und
es von Versuch zu Versuch bleiben.193
3.3.4.1
Tuberkulose und Genetik
Die Versuche machten einen „Einfluss“ der „Erbkonstitution“ auf die Krankheitsanfälligkeit der Tiere wahrscheinlich.194 Kröning und Küster sahen die Ergebnisse in Übereinstimmung mit ihren Annahmen über die Pathogenese der Tuberkulose und mit einem allgemeinen Trend hin zur Konstitution. Gerade die praktischen Ärzte hätten schon immer die Vermutung geäußert, dass manche Familien besonders anfällig gegenüber der Tuberkulose seien.195 Infektionstheorie
und die Entdeckung des Tuberkuloseerregers durch Robert Koch 1882 hätten
durch die Verbindung von Klinik und Epidemiologie der bakteriellen Infektion mit
der serologischen und pathologisch-physiologischen Forschung zwar zu einem
Verständnis über die letzten Ursachen und zu wertvollen ‚Konzepten’ geführt;
doch hätte die Forschung im modischen Interesse für die Tuberkuloseerreger
den empfänglichen Körper außer Acht gelassen.196 Erst in jüngster Zeit sei ein
Umdenken eingetreten, da der Kampf gegen die Tuberkulose auf der bakteriologisch-serologischen Plattform nicht befriedigt hätte und mit dem Aufblühen
der Konstitutionsforschung und der Erbbiologie auf den verschiedensten Krankheitsgebieten eine Abkehr von Umwelt-bezogener Forschung eingetreten sei.
Die Tuberkulose stelle sich jetzt als eine Konstitutionskrankheit dar. Bei Menschen und Meerschweinchen gleichermaßen sei „für die Widerstandsfähigkeit
gegenüber einer Tbc-Infektion einerseits Erbfaktoren, andererseits nichterbliche
äußere Faktoren von Bedeutung“.
191
Küster & Kröning 1938: 41
Zu beachten war vor allem die möglichst gleichmäßige und gleichdosierte Infektion mit den
Tuberkelbazillen. Die Infektion erfolgte zum Teil als subkutane Impfung, bei dem größeren Teil,
um einen möglichst naturgemäßen Infektionsweg nachzuahmen, durch eine – aufwendige –
Tröpfcheninfektion. Die Meerschweinchen mussten in Inhalationskäfigen derart fixiert werden,
dass sie kontrolliert dem Inhalationsgemisch ausgesetzt werden konnten – und dabei die
Sicherheit des Experimentators gewährleistet war.
193
Der Bazillenstamm musste sich zudem durch eine Virulenz auszeichnen, die eine bestimmte
mittlere Überlebenszeit der Meerschweinchen erwarten ließ, sodass die unterschiedliche Widerständigkeit der Meerschweinchenstämme gegen die Infektion in der Überlebensrate zutage
gefördert werden konnte (hier und nachfolgend, vgl. Küster & Kröning 1938: 46). Die Bazillen
mussten sich gleichmäßig und umfangreich kultivieren lassen, um regelmäßig gleichdosierte
Infektionspräparate anfertigen zu können. Es wurde der humane Tuberkelbazillenstamm Nr. 16,
der über mehrere Jahrzehnte am Institut in Reinzucht gehalten wurde, ausgewählt.
194
Küster & Kröning 1938: 67. Insbesondere schien die Konstitution die Gewichtsveränderung
während der Krankheit und ihre Lokalisation zu beeinflussen. Als Parameter wurden neben dem
Genotyp Jahreszeit, Gewicht, Alter der Eltern, Wurffolge und -größe, Geschlecht und Sektionsbefunde berücksichtigt.
195
Vgl. Küster & Kröning 1938: 67.
196
Hier und nachfolgend, vgl. Küster & Kröning 1938: 38-40.
192
152
Das Bild, das Kröning und Küster zeichneten, traf auf die Gemengelage zwischen Infektionsmedizin und Konstitutionspathologie in Deutschland zu. In systematischer Weise wurde beginnend mit den zwanziger Jahren versucht, Infektionspathologie mit Erbpathologie zu verbinden.197 Es kann geradezu von einer
Rückkehr der Vererbung in der deutschen (und französischen) Medizin gesprochen werden.198 Die Bestrebungen der Konstitutionsmedizin liefen darauf hinaus, eine ätiologische Wende zu bewirken, zumeist gestützt auf einen multikausalen und konditionalistischen Krankheitsbegriff und vereint in der Gegnerschaft
einer „verabsolutierten Bakteriologie“.199 „Tuberkulose ist keineswegs die Infektion mit Tuberkelbazillen [..., sondern ist] die Reaktion des Körpers auf die Infektion“,200 war der passende Slogan dazu. Klinische Familienuntersuchungen
standen im Vordergrund; doch Mitte der zwanziger Jahre befand Julius Bauer,
führender Konstitutionspathologe auf mendelgenetischer Grundlage, dass über
Tuberkulose und Konstitution viel gesprochen werde, ohne dass neue Erkenntnisse hinzukämen.201 Ab zirka 1930 nahm das Interesse, gemessen an der Zahl
der Forschungsarbeiten, zu.202 In der Regel wurde Tuberkulose als eine Frage
der Konstitution und des Körperbaus behandelt. Unter den Prämissen der Mendelgenetik wurde das Thema vereinzelt Ende der zwanziger Jahre im Rahmen
von Zwillingsstudien behandelt.203 Dem Einfluss der biologischen Wissenschaft
und der Genetik auf die Medizin kam auch hierbei eine entscheidende Rolle zu,
wie die Versuche Krönings und Küsters zeigen, zu denen sich erst in den dreißiger Jahren weitere tierexperimentelle Ansätze in Deutschland gesellten.204
Von besonderer publizistischer Bedeutung waren die Züchtungsexperimente
mit Kaninchen von Karl Diehl und Otmar v. Verschuer, mit denen sich Kröning
und Küster im Einklang sahen. Verschuer war Abteilungsleiter im 1927 neu gegründeten Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschlichen Erblichkeits197
Vgl. Bochalli 1958: 41-52. Dies traf besonders auf Friedrich Martius zu.
Vgl. Mendelsohn 2001: 59.
199
von Engelhardt 1985: 41-42. Hau 2000: 500-01 sieht die antibakteriologisch ausgerichteten
Konstitutionsmediziner als zeittypische – bildungsbürgerliche – Gegner der modernen wissenschaftlichen Medizin. Dem zufolge wäre ihre Haltung gegenüber der Genetik zu untersuchen. –
Warboys stellt hingegen (für England) fest, dass der bakteriologische und der ätiologische Ansatz sich zunächst (bis in die 1890er) nicht gegenseitig ausschließen (vgl. Worboys 2001: 96).
200
von Hansemann 1912: 7
201
Vgl. Bauer 1924a: 477-79. Bauer, Wien, war Schüler von Friedrich Martius. Bauer ist ein Beispiel für den Brückenschlag zwischen Konstitutionsmedizin und Vererbungslehre. Die Disposition zu Infektionskrankheiten hing für ihn u.a. von bestimmten Erbanlagen ab (vgl. Bauer 1920:
93; Bauer 1924a: 479).
202
Nach einem Übersichtsartikel von 1940 wurden zur Frage der Tuberkulosekonstitution zwischen 1890 und 1930 17 Artikel, nach 1930 28 Arbeiten veröffentlicht. (Vgl. Diehl 1940a:
Literaturverzeichnis.)
203
Vgl. Mendelsohn 2001: 63.
204
Nach einer umfassenden britischen Übersicht über tierexperimentelle Arbeiten zur Vererbung von Infektionsresistenzen beschäftigten sich von 19 Arbeitsgruppen nur eine mit der Tuberkulose (Wright und Lewis). Vier von 67 gelisteten Arbeiten datieren vor 1920, 25 Arbeiten
allein erst nach 1929 (vgl. Hill 1934: 25). Nach Diehl 1942: 331 waren die einzigen tierexperimentellen Erbuntersuchungen die Arbeiten von Wright & Lewis 1921/26, die „weit umfangreicheren“ von Küster und Kröning und von Weber 1940. Mit dem mendelschen Erbgang befassten sich (außer Diehl) explizit H. Münter 1930, Ickert & Benze 1933, K. Schubert 1933/35, O.
Geissler 1936 (vgl. Diehl 1940a: Literaturverzeichnis). Bauer erwähnt frühe – nicht-mendelsche
– tierexperimentelle Arbeiten von Hamburger und Kleinschmidt an Meerschweinchen und
Guérin an Rindern (vgl. Bauer 1924a: 477-79).
198
153
lehre und Eugenik. Eugen Fischer, dem Direktor, zufolge, war eine seiner Aufgaben und von „unendlicher Bedeutung“, den Zusammenhang von (erblicher)
Konstitution und der Widerstandsfähigkeit gegenüber Krankheiten wie Tuberkulose und Krebs zu bestimmen.205 Verschuer bezog diese Fragen von Anfang
an in seine groß angelegten Zwillingsstudien mit ein.206 Die Untersuchungen
„über die erbliche Veranlagung für die Erkrankung an Tuberkulose“ ab 1928
wurden durch das Preußische Ministerium für Wohlfahrt unterstützt.207 Verschuer und Diehl gingen bald von einer spezifischen vererbten Disposition, also
einer Organ-bezogenen Krankheitsanfälligkeit gegenüber der Tuberkuloseinfektion, aus.208 Als die Ergebnisse auf einem Tuberkulosekongress 1930 erstmals
vorgestellt wurden sorgten sie für Aufsehen und Widerspruch.209 Der Versuch,
Tuberkulose in eine „Erbkrankheit Tuberkulose“ umzumünzen, prallte unmittelbar auf die Anhänger der Infektionspathologie. Es ging dabei zugleich um den
paradigmatischen Weg in der Gesundheitspolitik. Den hygienischen, infektionsmedizinischen und serotherapeutischen Maßnahmen standen zunehmend eugenische Optionen gegenüber. Die Zwangsasylierung und Sterilisierung Tuberkulöser auf Grund angenommener Erblichkeit der Tuberkulose nahm wenig
später im Nationalsozialismus reale Gestalt an.
Ab zirka Mitte der dreißiger Jahre versuchte Diehl, die Ergebnisse der Zwillings- und Sippenforschung an Kaninchen zu bestätigen.210 Dies wurde nicht
zuletzt dadurch notwendig, da die Ergebnisse aus der Zwillingsforschung in der
Substanz problematisch erschienen.211 Durch die große Rolle der peristatischen
Faktoren bei jeder Infektion seien „Zufallsexperimente“ am Menschen, so oft sie
sich auch durch die große epidemiologische Bedeutung der Tuberkulose ereig205
Fischer 1926: 751-52. Nach Fischer wisse man nicht einmal, ob Blonde oder Brünette zu
Krebs oder Tuberkulose mehr disponieren – englische und deutsche Statistiken würden sich da
widersprechen – oder ob die Rassenkomponenten in Europa sich verschieden verhalten würden.
206
Auch vom Frankfurter Institut aus wurden am Menschen (genealogische) Untersuchungen
zur Frage der erblichen Tuberkulosedisposition seit Ende der zwanziger Jahre angeregt und unterstützt (vgl. Berghaus 1938: 56). Mit Unterstützung von Landesversicherungsanstalten, Heilstätten, Bürgermeisterämtern und Pfarrern nahm Wilhelm Berghaus (Münster, dann Karlsruhe)
Sippenforschungen die Erhebung von 1.200 „tuberkulöser Sippen“ mit Unterstützung des Georg-Speyer-Hauses in Angriff. Er kam zum Ergebnis, dass seine Untersuchungen andere bestätigen, womit „auch die langjährige Kontroverse grundsätzlich entschieden“ sei (hier u. nachfolgend: ebd.: 67). Im Gegensatz zu v. Verschuer relativierte B. zynisch die Bedeutung eugenischer Maßnahmen – obgleich die eugenische Eheberatung über alle Zweifel erhaben sei –, da
die „gütige Mutter Natur“ nach dem Krieg den größten Teil der Belasteten und „Anbrüchigen“
durch Ausmerze hinweggerafft habe. So sei auch der Rückgang der Tuberkulosesterblichkeit zu
erklären.
207
Hier und nachfolgend, vgl. Lösch 1997: 206ff..
208
Vgl. Diehl & von Verschuer 1930; von Verschuer 1931b; Diehl 1932von Verschuer 1932; von
Verschuer & Diehl 1933; von Verschuer & Diehl 1933.
209
Vgl. Lösch 1997: 209. – Die anhaltende Debatte wird u.a. durch eine Rundfrage im Deutschen Tuberkulose-Blatt dokumentiert, die eher auf eine Bereitschaft der Ärzteschaft schließen
lässt, Konstitution und Tuberkulose zusammen zu denken (vgl. Klare 1934).
210
Vgl. Lösch 1997: 365.
211
Das verhältnismäßig kleine Zahlenmaterial und die beschränkte Individuenzahl der Familien
gestatteten es nicht, den Erbgang zu analysieren (hier und nachfolgend, vgl. Diehl 1940b: 94).
Die starke unterschiedliche Virulenz sowie die Abhängigkeit der Infektion von der Menge, Infektionswiederholung und Eingangspforte des Tuberkulosebazillus erhöhte zudem die Umweltschwankungen derart, dass „die Beobachtungen einzelner Familien keinen sicheren Beweis für
oder gegen die These der Erbmitbedingtheit der Tuberkulose bringen konnte“.
154
neten, „gegenüber exakter Forschung geradezu als hoffnungslos zu bezeichnen“.212 Diese klaren Feststellungen zur bisherigen Erbforschung am Menschen
hätten auf die bisherigen Unternehmungen, erbbiologisch den „Kampf gegen
diese verhängnisvollste Volksseuche“ und „verbreitetste Infektionskrankheit des
Menschen“ (Diehl) zu führen und der „Wichtigkeit der Tuberkulose als Volksseuche“ (Fischer) beizukommen, einiges Licht werfen müssen. Die Annahme
der Erblichkeit einer Tuberkulosedisposition gewann in den dreißiger Jahren
jedoch an Boden.
3.3.4.2
Feuerprobe der ätiologischen Wende am Staatsinstitut
Vor dem Hintergrund dieser Skepsis lohnt die Mühe, einige Details der Meerschweinchenversuche Krönings und Küsters zu betrachten. Doch zunächst
stellt sich die Frage, warum sie überhaupt durchgeführt wurden. Bereits 1919
waren solche Experimente, ebenfalls in Zusammenarbeit eines Mediziners,
Paul Lewis, und eines Genetikers, Sewall Wright, in den USA durchgeführt
worden.213 Diese Experimente waren ein Nebenprodukt Wrights landwirtschaftlich gebundener Forschung an der Experimental Station des Bureau of Animal
Industry des U.S. Departement of Agriculture in Washington D.C. – genau genommen, „a by-product of experiments on the effects on inbreeding“.214 Die
Fragestellung der amerikanischen und deutschen Experimente war gleich, und
Kröning und Küster sahen ihre Ergebnisse als Bestätigung der früheren. Die
Experimente unterschieden sich aber im Umfang, in den Vorentscheidungen
über die Wahl der Methode und der Objekte und in der spezifischen Vorbereitung der Instrumente auf das Experiment.215 Wright und Lewis führten die Versuche in der kurzen Zeit von fünf Monaten durch.216 Die wacklige Datengrundlage der amerikanischen Versuche reichte für spezifische und differenzierte
Aussagen über die erbliche Disposition von Infektionskrankheiten nicht aus.
Das Frankfurter Institut verfolgte hingegen ein spezifisch medizinisches Interesse. Die Frage nach der erblichen Konstitution der Tuberkulose war nicht neu;
neu war aber die mit der mendelgenetischen Bearbeitung verbundene Neuaus212
Diehl 1940b: 94 – Ab 1938 leitete Diehl als „Dirigierender Arzt“ des Tbc-Krankenhauses
Waldhaus Charlottenburg in Sommerfeldt bei Beetz (Osthavelland) die „Außenstelle für Tuberkulose-Erbforschung“ des KWI für Anthropologie.
213
Vgl. Wright & Lewis 1921; Wright 1926.
214
Wright & Lewis 1921: 21-22. 1906 war dort mit groß angelegten Reihen zur Untersuchung
der Folgen der Inzucht begonnen worden. Zunächst hielt die Station 23 Meerschweinchenstämme, die auf fünf reduziert wurden, um sie im größeren Umfang zu züchten. 30.000 Tiere
wurden bis 1920 verbraucht. Wright war seit 1915 Mitarbeiter.
215
1919 wurde 2.400 junge Meerschweinchen auf der Experimental Station aufgezogen, aber
nur weniger als 400 wurden für die Tuberkuloseexperimente verwandt. Davon stammten nur
177 aus Reinzucht (vgl. Wright & Lewis 1921: 22ff.). Die Datenbasis der Amerikaner war sehr
dünn und erlaubte letztlich keine statistische Bearbeitung. Auf die Inzuchtstämme kamen ein bis
68 Tiere. Die 11 Versuchsreihen waren nicht vergleichbar. Es wurde nur ein Jahrgang der Tiere
getestet. – Im deutschen Beispiel liefen dagegen die Versuche über einen Zeitraum von fünf
Jahren.
216
Vor der Infektion mit Tuberkulose wurden die Tiere per Schiff von Washington nach Pennsylvania verfrachtet. Die Art der Applikation der Tuberkuloseerreger variierte in den Versuchsreihen. Es wurden keine weiteren Angaben gemacht über die benutzten Tuberkulosestämme,
ihre Eigenschaften oder die Dosierung. Der bakteriologische und serologische Hintergrund des
Staatsinstituts ermöglichte hingegen aufwendige Tests der Erregerstämme auf ihre
GeeEignung ignetheit für die Versuche.
155
richtung der Forschung zur Ätiologie und Pathogenese der Tuberkulose.217 Bis
Ende der dreißiger Jahre herrschten bakteriologischen und chemotherapeutischen Fragestellungen am Staatsinstitut vor.218 Die Forschung orientierte sich
am Ausbau der Kochschen Grundfeststellungen über die Färbbarkeit des Tuberkelbazillus, seine kulturelle Charakterisierbarkeit und seine ätiologische Bedeutung und pathogene Wirkung. Küster zog eine entmutigende Bilanz. Die Immunisierung sei bislang nicht gelungen, von Prophylaxe wäre nichts zu erwarten und auf chemotherapeutischem Gebiet sei bisher nichts erreicht worden.219
Dem entgegen stand die Konstitutionsforschung als neue ätiologische Strategie, die sich an den tierexperimentellen Arbeiten Küsters und den statistischgenealogischen Arbeiten von Berghaus festmachte. Die Tuberkuloseexperimente sollten die Möglichkeiten der neuen Strategie ausloten, das heißt, die
Forschungsstruktur des traditionellen infektionsmedizinischen Instituts wurde
durch sie letztlich zunächst nicht angetastet.220
Die groß angelegten Experimente zur Tuberkuloseresistenz stellten einen
Modellversuch auf dem für die Mendelgenetik schwierigen Terrain der Infektionskrankheiten dar. Die Stoßrichtung der Tuberkuloseexperimente entsprach
den Bestrebungen der Konstitutionsmedizin, den Blick von Außen ins Innere
des Organismus zu verschieben. Einem solchen Versuch wurde Ende der
zwanziger Jahre noch verbreitete Skepsis entgegengebracht.221 In Frankfurt
und Göttingen stand ein genetisch-medizinisches Experimentalsystem zum
Test an und zugleich die genetische Episteme von Krankheit. Entsprechende
Experimente mussten mit besonderer Sorgfalt durchgeführt werden. Das Experimentalsystem war aus der konstitutionsbiologischen Fragestellung und einer
Verklammerung medizinischer und genetischer Labormethoden sowie der Verfeinerungen des sero-bakteriologischen Labors gebildet. Ein besonderes Charakteristikum dieses Experimentalsystems war das ‚Prinzip des erweiterten Laboratoriums’, nach dem die Standardisierung der Methoden, Apparate und Reagenzien im Laborraum selbst in die Körper der Versuchstiere und ihre Lebensgeschichte verlängert wurde.
Dementsprechend und ganz anders als bei Wright und Lewis, die keine wieteren methodischen Überlegungen anstellten, war der methodische Teil in der
Arbeit Küsters und Krönings außerordentlich detailliert und weit gefasst. Es wurde detailliert über Infektionsweg, Kulturmethode der Erreger und Eigenschaften
217
Anfang der zwanziger Jahre bildete die Tuberkuloseforschung am Staatsinstitut zunächst
einen Schwerpunkt (1920-22: von 101 Veröffentlichungen 18 zur Tuberkulose), der aber aufgegeben wurde (1923-29 von 209 insgesamt nur 9) zugunsten der Forschungen zu Krebs (4/ 36)
und Syphilis (13/ 43; zur Salvarsantherapie bei Syphilis 10/ 12) (vgl. Kolle 1926: 58ff.).
218
Eine Ausnahme bildete die Frage, ob der Tuberkelbazillus in seinem Entwicklungszyklus in
kleinsten Formen vorkommt, worauf Filtrierungsexperimente hingewiesen hatten. Französische
Autoren vertraten die Auffassung, dass ein „Virus filtrant“ oder „Ultravirus“ existiert und brachten
dies mit der Vererbung der Tuberkulose in Zusammenhang (vgl. Küster 1931: 95).
219
Vgl. Küster 1931: 111. – Noch 1938 hielten Küster und Kröning an dieser Einschätzung fest!
Nicht einmal in der Tiermedizin hätten die bakteriologisch-serologischen Arbeiten befriedigende
Ergebnisse erzielt (vgl. Küster & Kröning 1938: 39-40).
220
Tatsächlich wurde die erbbiologische Begründung der Infektionsmedizin in Frankfurt nicht
mehr intensiver weitergetrieben, was u.a. am uneindeutigen Ausgang der Experimente lag und
daran, dass W. Kolle Ende 1935 starb. Sein Nachfolger, Richard Otto, war hingegen Schüler R.
Kochs.
156
der Erregerstämme wie über die Bedeutung der Reinzucht berichtet. Die Meerschweinchen stellten in „allen Erbfaktoren homozygotes Material“ dar.222 Alle
Umstände, beginnend mit der Unterbringung über Fütterung und Haltung bis
zur Infektion mit den Erregern, sollten „praktisch gleichgestaltet und damit ohne
wesentliche Bedeutung für den Ausfall der Versuche“ sein.223 Die „Stallanlagen
der Versuchstierzüchtung der Deutschen Forschungsgemeinschaft am Zoologischen Institut“ rückten damit an prominente Stelle direkt neben die Methodik
des eigentlichen Experiments, der Applikation von Tuberkelerregern. Auch dies
zeigt, was mit dem ‚Prinzip des erweiterten Laboratoriums’ gemeint ist.
3.3.4.3
Tuberkulose: ein prekärer genetischer Gegenstand
Auf jenes methodische A&O konnte sich die Interpretation der Ergebnisse stützen, als die Daten keineswegs so eindeutig ausfielen, wie Küster und Kröning
sie zu verkaufen versuchten. Die Frage war, ob die Homogenisierung aller Laborbedingungen einschließlich der beteiligten Organismen eine so komplizierte
kontinuierliche und von unterschiedlichsten Einflüssen mitbedingte physiologische Eigenschaft wie die Anfälligkeit gegenüber einer bakteriellen Infektion ‚detektieren’ – wahr machen – konnte. Nur unter Zusatzannahmen ließ sich ein Zusammenhang zwischen Tuberkuloseinfektion und Konstitution herstellen. Genau jene ‚sozio-technisch-architektonischen’ Mühen zur Gleichgestaltung der
Versuchstiere bildeten den Angelpunkt dafür, die störenden Schwankungen in
den Ergebnissen den Tuberkelbazillen anzulasten.224
Die unerwartete Situation war die, dass sich die statistischen Überlebenszeiten der Meerschweinchen insgesamt und getrennt nach Stämmen mit der Zeit
änderten. Apodiktisch stellten Kröning und Küster entsprechend ihrer methodischen Vorarbeiten fest, dass Umwelteinflüsse „praktisch gleichgestaltet und damit ohne wesentliche Bedeutung für den Ausfall der Versuche“ wären.225 In gleicher Weise schlossen sie erbliche Einflüsse aus.226 Noch beunruhigender war,
dass sich die Unterschiede zwischen den Stämmen in der Summe über die
Jahre nivellierten.227 Statt auf eine Rassendisposition deutete dies eher auf eine
Disposition nach Lebensalter. Kröning benutzte nun aber die unklaren zeitlichen
Schwankungen in der Sterblichkeit innerhalb einzelner Stämme als Manövrierposten, um Unterschiede zwischen den Stämmen heraus zu präparieren. Er erstellte aus der Kombination einzelner Vergleiche von durchschnittlichen Überlebenszeiten der einzelnen Testgruppen in den fünf Jahre ein prekäres Gerüst
auf, nach dem sich die Widerstandsfähigkeit der einzelnen Stämme graduell zu
unterscheiden schien. Die ungeklärten zeitlichen Veränderungen gaben so den
Raum für die Klassifizierung der Versuchstiere nach einem genetischen Krite221
Vgl. Ickert 1929: 1875.
Küster & Kröning 1938: 30. Der Methodenteil umfasst sieben Seiten.
223
Küster & Kröning 1938: 41
224
Vgl. Küster & Kröning 1938: 68.
225
Küster & Kröning 1938: 41
226
Vgl. Küster & Kröning 1938: 68.
227
Ignoriert man die ansteigende Resistenz über die Versuchsserien, so ergeben sich nahezu
für alle Stämme gleiche Überlebenszeiten nach einer Tbc-Erkrankung. Stamm III: 82 Tage,
Stamm X: 79, Stamm XI: 84, Stamm: XVIII: 86, Stamm XXII: 82 usw. (vgl. Küster & Kröning
1938: 59).
222
157
rium her. Die Meerschweinchenstämme wurden in drei Gruppen aufgeteilt: Tiere mit geringer, mittlerer bzw. hoher Resistenz gegen eine Infektion.228 Dies
passte hervorragend zu genealogischen und Zwillingsstudien, die eine „absolute Tuberkulosehinfälligkeit“, „Tuberkuloseempfänglichkeit bei teilweiser Resistenz“ und eine „völlige Tuberkuloseresistenz“ unterschieden und dies auf zwei
mendelsche Erbfaktoren zurückgeführten.229
Wie waren aber die zeitlichen Veränderungen dann zu interpretieren? Kröning verlegte sich, nachdem er auf Grund der methodischen Vorbedingungen
alles andere meinte ausschließen zu können, auf das Infektionsmaterial. „Mit
erheblichen Aenderungen in der Virulenz der Tuberkelbazillen könnte man viele
der Verschiedenheiten von Versuch zu Versuch erklären.“230 Diese Erklärung
bewahrte den Anspruch auf die Leistungsfähigkeit der Göttinger Zuchtanlage.
Kühn, der Krönings Ergebnissen folgte, aber entgegengesetzte Schlüsse zog,
sah gerade darin das Wesentliche der Versuche: Sie zeigten, dass sich bei
Benutzung reiner Versuchstierstämme die „Virulenz eines Tuberkelstamms
‚messen’ läßt“.231 Die Verantwortung lag bei der noch nicht ausgereiften serologischen Theorie über die Virulenzdynamik von (Tuberkel-)bazillen. Doch, wie
das genaue Hinsehen gezeigt hat, ermöglichte gerade dies die Konstruktion der
genetischen Resistenz.
Um der Tuberkulose als genetische Disposition noch näher zu kommen, wurde eine weitere Strategie angewandt. Diese mobilisierte über die Reinzucht hinaus die diskriminativen Kapazitäten der Göttinger Zucht. Die Meerschweinchen
wurden, der Fragestellung entsprechend, gezielt selektiert und gezüchtet. Kröning und Küster gingen davon aus, dass letztlich der erblichen Disposition mendelsche Vererbungsmodi zugrunde liegen mussten. Zugleich war klar, dass es
auf Grund der kontinuierlichen Variabilität der Tuberkuloseresistenz nicht möglich sein würde, diese Modi direkt zum Vorschein zu bringen. Also musste ein
Umweg beschritten werden. Die Frage war, „ob einzelne Gene, die sichtbare
Merkmale determinieren, die Tuberkuloseresistenz mitbeeinflussen“.232
Die Stämme des Göttinger Zoologischen Instituts passten, wie zufällig, haargenau zu dieser Aufgabe. Tatsächlich handelte es sich ja um Stämme, die Kröning zum Zwecke seiner Pigmentstudien seit 1923 etabliert hatte. Es bot sich
also an, nach einem Zusammenhang zwischen der physiologischen Eigenschaft („relative Tuberkuloseresistenz“) und einem der bekannten Merkmale
(zum Beispiel einer bestimmten Pigmentierung) zu suchen. Durch die Korrelation zwischen einem einfachen mendelschen Merkmale und den Überlebenszei228
Vgl. Küster & Kröning 1938: 59. – Kröning war in der gemeinsamen Veröffentlichung mit
Küster für den statistischen Teil verantwortlich.
229
Diehl 1940a: 180. Diehl zitiert O. Geissler: Der Erbgang der Tuberkulosehinfälligkeit in einer
geschlossenen Sippe, Beitr. Klin. Tbk., 91, Heft 1, 1938. Diehl und v. Verschuer hätten ebenfalls graduelle Unterscheidungen in der Tuberkulosedisposition gefunden.
230
Küster & Kröning 1938: 68
231
18.6.1935, Kühn an DFG, in: BA Ko, R 73, 12475: Seite 2 v. 6. Kühn betonte im Gegensatz
zu Kröning die Unterschiede zwischen den „erbgleichen“ Tieren eines Stammes – nicht zwischen den Stämmen – und damit die Umwelteinflüsse der Tbc-Infektion. Die Variabilität, so
Kühn, die bei eineiigen Zwillingen nach einer Tbc-Infektion beobachtet wurde, werde nun verständlicher (vgl. ebd.). Genau diese Skepsis gegenüber der Eindeutigkeit der Ergebnisse der
Tierversuche teilte K. Diehl (vgl. Diehl 1940a: 167).
232
Küster & Kröning 1938: 40. Herf. Verf.
158
ten der Meerschweinchen wäre die ‚Mendelisierungsfähigkeit’ der Tuberkulosewiderständigkeit experimentell nachgewiesen. Die statistischen Kopplungsanalysen blieben jedoch zunächst ein völliger Fehlschlag.233 Erst durch die Aufspaltung des Stamms, bei dem Überzehen häufig auftraten, gelang es, das sensorische Instrument ausreichend zu verfeinern: Eine „deutliche, wenn auch geringe Verschiedenheit in der Widerstandsfähigkeit gegen die Tbc-Infektion“ tauchte nun auf.234
Dieses Ergebnis war von großem Interesse, denn es konnte multipel mit aktuellen Fragestellungen der Genetik verknüpft werden. Kühn hob den Überzehenfaktor als ein besonderes sensorisches Instrument heraus. Das Überzehenmerkmal konnte an ganz anderen Werkbänken eingesetzt werden, als die einfachen Mendelgene der Drosophilisten, da er äußerliche Merkmale mit physiologischen Eigenschaften verband. In dem Zusammenhang zwischen dem physiologischen und dem morphologischen Merkmal, so prekär er auch war, lag innovatives Potenzial für andere Forschungskontexte: bei der Uminterpretation
des Konstitutionsbegriffs in mendelschen Termen, als ein diagnostisches Mittel
bei der Aufspürung von Mutationen und schließlich als Türöffner für genphysiologische Fragestellungen. Auf diese schillernde Eigenschaft wird in Kapitel 4
noch einzugehen sein.235
3.3.5 Nachspiel: Tumorfarm und Ende Kühns „genetischer VersuchstierZuchtanstalt“
Gegen Mitte der dreißiger Jahre kam erneut Bewegung in die Planungen der
Versuchstierzuchten. Kühn forderte vehement ihren Ausbau, da sich die Nachfrage nach „reinem Versuchstiermaterial“ derart gesteigert hätte, dass er dem
Bedarf nicht hinterher käme.236 Bislang hätte er die Tiere noch nicht in Massen
gehalten, jetzt müsse aber die Massenzucht sukzessive angestrebt werden.237
Kolle und Hans Reiter, der Präsident des Reichsgesundheitsamtes, appellierten
233
Vgl. Küster & Kröning 1938: 61. – Auch Wright und Lewis hatten keinerlei Verbindungen
feststellen können. Sie hatten über die einfachen mendelschen Merkmale hinaus quantitative
Eigenschaften mit einbezogen (vgl. Wright & Lewis 1921: 44-49). Während bei der Fruchtfliege
Drosophila mit Erfolg schon seit zwei Jahrzehnten Hunderte von Genen auf Chromosomen
gekoppelt und kartiert wurden, hinkte die Säugetiergenetik weit hinterher.
234
Küster & Kröning 1938: 60. Dieser Stamm war in zwei Linien weitergezüchtet worden. In der
einen wurde die Inzucht, wie gehabt, fortgesetzt, in der anderen wurden immer nur Geschwister
mit den manifestierten Überzehen miteinander gepaart. In diesem zweiten Stamm, bei denen
durch die Selektion die Überzehen häufiger auftraten, war die Lebenserwartung nach einer
Tuberkuloseinfektion geringer. Kröning machte dafür wie auch für die gehäuften Überzehen das
„genotypische Milieu“ verantwortlich (ebd.). – Nach der Beendigung der Zusammenarbeit mit
Küster, setzte Kröning die Versuche selbstständig als Kreuzungsversuche mit dem Ziel fort,
Erbgänge zu ermitteln (vgl. Weber 1942: 355).
235
Siehe 4.2.3.3, Seite 192.
236
29.8.1935, Kühn an Deutsche Forschungsgemeinschaft (BA Ko, R 73, 12475)
237
90.000 RM veranschlagte Kühn für eine leistungsfähigere Versuchstierzuchtanlage. Er selbst
ergriff erste Maßnahmen, um die „Herstellung“ von 2.800 Meerschweinchen (zusammen mit
Plauerhof), 3.500 Mäusen, 2.000 Ratten und 600 Kaninchen im Jahr zu ermöglichen (vgl.
18.6.1935, Kühn an DFG, in: BA Ko, R 73, 12475: Seite 5 v. 6). Die Haltung von Tauben und
Hühnern wurde „zum Zwecke der Steigerung der Arbeiten an den medizinisch wichtigen Versuchstieren” aufgegeben (ebd.: S. 3 v. 6). Nach Abschluss der Katzenversuche wurden die
Zuchträume in Göttingen auf Ratten- und Mäusezucht umgestellt (vgl. 10.12.1934, Kühn an
DFG, in: ebd.: S. 5 v. 9).
159
ebenfalls dringlich an die Notgemeinschaft. Kolle regte eine Zentralzuchtstelle
für Mäuse an.
Die Mäuse dienten vor allem der Krebsforschung. Seit 1913 war, wie Kolle
feststellte, in Amerika eine umfangreiche Literatur entstanden, durch die ein
„recht in die Augen springendes Beispiel“ gewonnen sei, wie die mit „konstitutionellen bezw. erblichen Komponenten zusammenhängende Empfänglichkeit
von Tieren derselben Rasse für Versuche Bedeutung gewinnen kann“.238 Die
Frankfurter Krebsarbeiten mussten im Laufe der zwanziger Jahre aufgrund des
Mangels an Versuchstieren immer weiter eingeschränkt werden.239 1930 wurde
in Göttingen mit der Zucht von Mäusestämme begonnen, 1932 mit der Tumormäusezucht. Die Stämme waren teils aus Amerika beschafft, teils an Kühns
Institut selbst herausgezüchtet worden.240 Die Zuchten von Tumorstämmen in
Göttingen waren, wie Kühn meinte, in dem Umfang einmalig, und Bedarf bestände von allen Seiten. „Bei der ungeheuren Bedeutung, welche der Krebsbekämpfung heute zukommt, ist dieser vielseitige Bedarf verständlich.”241 Die Versorgung aber der gesamten Forschung sei, nachdem die Zucht prinzipiell in
Griff wäre, an äußere Voraussetzungen gebunden. Im Oktober 1936 wurde in
der Notgemeinschaft im Rahmen der Gemeinschaftsarbeiten zur Krebsforschung beschlossen, die Zucht der Krebsmäuse so auszubauen, dass ein jährlicher Bedarf von 20.000 Mäusen gedeckt werden könnte.242 Damit war der
Weg zur Massenzucht geebnet.
Wenig später wurden die Göttinger Tumormäuse an das Krebsbekämpfungsprogramm des Reichsausschuss für Krebsbekämpfung eingebunden. Getrieben
vom Menetekel der Rückständigkeit der deutschen Forschung wurde ein breit
angelegtes Krebsforschungsprogramm entworfen, in dem Vererbungsforschung
238
28.1.1928, Kolle an Schmidt-Ott (AMPG, Abt. III, Rep. 20 A, Nr. 103) – Ursprünglich sollten
entsprechend der Vereinbarungen von 1928 an Baurs Institut Mäusezuchten angelegt werden,
um „Krebsfamilien nach amerikanischen Vorbild“ zu züchten. Sie waren als ideale Objekte für
Untersuchungen zur Krebstherapie und Immunbiologie gedacht. (Vgl. o.D., Niederschrift der
Sitzung am 12.3.1928 im Staatlichen Institut für exp. Therapie, in: GStA, I. HA, Rep. 92, C58:
Bl. 208-09.)
239
Vgl. Kolle 1926: 21. – Der Abt.ltr. für experimentelle Krebsforschung, Wilhelm Caspari, führte
seit 1920 die Arbeiten zur Immunität gegen maligne Tumore fort, die von Ehrlich und dem ersten Leiter der 1902 gegründeten Abt., Apolant, in Transplantationsversuchen mit Tumoren begonnen worden waren. Die Versuche hatten zur Postulierung eines für jeden Tumor spezifischen Wuchsstoffs geführt. Durch den Tod Apolants (1914) und Ehrlichs (1915) wurden die
Versuche unterbrochen, und auf Grund der Einwirkungen des Ersten Weltkriegs konnten von
den gezüchteten Stämmen nur drei erhalten werden. Nach dem Krieg begann Caspari mit Versuchen zur intravenösen Überpflanzung von Impftumoren und ihrer Verimpfung in einzelne
Organe.
240
Vgl. o.D., Kühn: „Zoologisches Institut...“ (BA Ko, R 73, 12475: Seite 5 v. 5) (s. Anm. 101) –
Unter anderem ging es um Mäuse, die vermehrt Brustkrebs entwickelten (vgl. 5.9.1936, Kühn
an DFG, in: ebd.: Seite 1 v. 3). Wahrscheinlich handelte es sich um den verbreiteten brown
dilute-Stamm, der von C. C. Little im Jackson Laboratory groß angelegt gezüchtet wurde.
65.000 Tiere wurden an Labore in den USA und Europa (zwischen 1930-37) verschickt (vgl.
Löwy & Gaudillière 1998: 209).
241
5.9.1936, Kühn an Forschungsgemeinschaft (BA Ko, R 73, 12475: Seite 2 v. 3)
242
Vgl. 28.10.1936, Dr. Greite an Kühn (BA Ko, R 73, 12475). Die Göttinger Anlage wurde
erweitert, doch der Neubau einer Zuchtanlage konnte nicht durchgesetzt werden (vgl. 5.9.1936,
Kühn an DFG, in: ebd.).
160
eine eher untergeordnete Rolle spielte.243 Der Reichsausschuss fungierte als
Koordinationsstelle der Krebsforschungen. Er legte Schwerpunkte bei der Forschungsförderung und begutachtete Forschungsanträge.244 Die Förderung der
Versuchstierzucht gelangte nun unter die Prämissen der Tumorforschung. 1936
wurde der Aufbau einer „Tumorfarm“, wie es abkürzend hieß, beschlossen,
„einer Zentralstelle für die Belieferung der deutschen Krebsforscher mit einheitlichem und einwandfreiem Versuchstiermaterial auf dem Gebiete der experimentell erzeugten (Implantations-) Tumoren“.245 Die Zentrale Zuchtanstalt für Tumortiere wurde an das neu gegründete Institut gegen die Geschwulstkrankheiten im Rudolf Virchow-Krankenhaus angegliedert. Ihr Leiter wurde Friedrich
Holtz, bis dahin in den „Sauerbruchschen Laboratorien“ der Chirurgischen Universitätsklinik in Berlin mit der Erforschung des Höhensonnencarcinoms beschäftigt. 246 Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits zehn Jahre lang Rattenzuchten „stammbuchmäßig“ geführt. Mit einem Startkredit über 29.000 RM wurde
mit der Zucht von Ratten, Mäusen, Kaninchen und Hühnern begonnen. In
Rundschreiben wandte sich Holtz an verschiedenste Institute als mögliche Interessenten und erklärte den Zweck der Tumorfarm entsprechend der seit 1928
entwickelten methodischen Prinzipien: „Die Zentralisation der Tumorzucht soll
den einzelnen Forschern die oft mühsame Beschaffung des Ausgangsmaterials
abnehmen [...]. Ganz besonders soll aber das Impfmaterial gleichmäßig, einheitlich werden, um gut vergleichbare und reproduzierbare Ergebnisse zu erzielen.“247
In Aufgabenteilung wurden nun in Dahlem – die Tumorfarm war in der Garystr. 9 untergebracht – erbreine Tierstämme für die Beimpfung mit Tumoren gezüchtet, während in Göttingen Mäusestämme mit spontanen Tumoren gehalten
243
Das Programm des Reichsausschuss war unterteilt in die Bereiche Tumorgenese (120.000
RM n. Haushalt 1936), Diagnose (50.000), Therapie (30.000) und Allgemeines (KonstitutionsDispositions- und Erblichkeitsfragen, Statistik, 30.000). „Die allgemeine Einteilung der Mittel
dürfte der Bedeutung der einzelnen Gebiete entsprechend abgestuft sein“, kommentierte der
Koordinator der Krebsforschung in der DFG (o. D. (1936?), Dr. Breuer, Durchschlag, in: BA Ko,
R 73, 12388).
244
Vgl. 18.12.1936, Dr.Br./Kr. an Fischer Wasels (BA Ko, R 73, 11025). – 1936 wurde die
Krebsforschungsförderung im Reichsausschuss zentralisiert (hier und nachfolgend, vgl. BA Ko,
R 73, 11025 u. 10415; GStA, I. HA, Rep. 92, C63). Der Etablierung der neuen Strukturen zur
„Krebsbekämpfung“ ging ein Machtkampf um Richtlinienkompetenz in der Forschungsförderung
zwischen DFG und RME vorweg, der mit dem Weggang des DFG-Präsidenten J. Starck ein
Ende fand. Die Planungen zur Krebsbekämpfung wurden nun aufgeteilt: Wissenschaftliche Fragen wurden durch das RME behandelt, das das einheitliche Vorgehen garantieren sollte, der
gesundheitsaufklärerische Teil durch das RMI. Die Begutachtung lag ab jetzt beim Reichsausschuss für Krebsbekämpfung (1931 als eine gemeinsame Gründung des RMI und des Deutschen Zentralkomitee zur Erforschung und Bekämpfung der Krebskrankheiten e.V. entstanden;
den Vorsitz hatte der Pathologe Max Borst), der DFG blieb die praktische Durchführung. (Die
DFG hatte 1936 selbst die Ausarbeitung eines Tumorforschungsprogramms in Angriff genommen zum Zweck der Fokussierung der Forschung.)
245
10.12.1938, Dr. Br/Kr. [zusammenfassende Schrift] (Ba Ko, R 73, 11786)
246
Holtz übernahm die Biologische Abt. dieses Instituts, dessen Direktor Heinrich Cramer war.
Das Institut wurde unter der Beteiligung der Stadt Berlin gegründet. Dabei engagierte sich besonders Stadtmedizinalrat Conti, Leiter des Hauptgesundheitsamtes und späterer Reichsärzteführer.
247
29.12.1937, Holtz an Deutsche Forschungsgemeinschaft (BA Ko, R 73, 11786)
161
und weitergezüchtet werden sollten.248 Im Frühjahr 1937 wechselte Kühn als
Abteilungsleiter an das Kaiser-Wilhelm-Institut für Biologie in Berlin. Friedrich
Kröning erhielt nun die Aufsicht über die Versuchstieranlagen, deren Hauptarbeit nun die Zucht von Tumormäusen war. Kröning gelang, wie es scheint, kein
substanzieller Ausbau des Bestands an Stämmen mit unterschiedlichen konstitutionellen Merkmalen.249
Mit der Einrichtung der Krebsmäusezuchten war zwar erreicht worden, dass
die Tierzuchtanlagen in Göttingen ausgebaut wurden, allerdings geriet Kühns
Konzept zur Aufteilung der Versuchstierzuchtanstalten in Vermehrungsanstalten und Züchtungsanstalten aus den Augen. Die Kontinuität der Gemeinschaftsarbeiten zur Versuchstierzucht, welche in völligem Einverständnis zwischen
Notgemeinschaft, Medizinern und Genetikern ins Leben gerufen und betrieben
worden waren, wich nun den Prioritäten des Reichsausschusses für Krebsforschung bzw. des Reichsministeriums für Wissenschaft und Erziehung. Ein besonderes Verständnis für die Belange „genetischer Versuchstier-Zuchtanstalten“ war in den Gremien der Krebsforscher nicht vorhanden. Die direkte und
einverständige Verbindung zwischen Kühns, Medizinern und der Forschungsorganisation war damit beendet.
In der Zurückhaltung der Mediziner drückte sich ihre Skepsis der Genetik gegenüber aus: „Konstitution, Disposition, Erblichkeit können zunächst auf klinisch-statistischem Wege verfolgt werden. Die erbliche Anlage bei gewissen
Tumoren der Tiere ist vor allem durch die amerikanischen Forschungen weitgehend aufgeklärt worden.“250 Dem hielt Friedrich Kröning, der nun selbst mit
Krebsforschungen begonnen hatte, in einem Bericht über die Grundlagen der
experimentellen Krebsforschung entgegen, dass „der Krebs eine ‚Erbkrankheit’
248
Vgl. 22.11.1937, Kröning an Dr. Breuer (BA Ko, R 73, 12388). – Göttingens Aufgabe war,
einen Tierstamm mit erhöhter Disposition für Lungencarcinome oder Sarkome zu züchten. In
Berlin mussten neben den Stämmen, die mit Tumoren zu beimpfen waren, Tumorstämme gehalten und optimiert werden, aus denen Impfmaterial gewonnen werden konnte; denn die Tiere
wurden bei Bedarf, bald obligatorisch entsprechend einer Anweisung Sauerbruchs zur Vereinheitlichung der Krebsforschung bereits mit Tumoren beimpft ausgeliefert. Im Angebot waren
Ratten mit Jensen-Sa[arkom] und Flexner-Jobling-CA[rcinom], Mäuse mit Ehrlich-Ca und
Collierschem Ascitestumor, Kaninchen mit Brown-Pearce-Tumor und speziell für die Krebsforschung mit Viren das Rous-Sarkom von Hühnern (vgl. 29.12.1937, Holtz an DFG, in: BA Ko, R
73, 11786).
249
1939 wurde Kröning als Nachfolger Holtz’, der aufgrund von Fehlverhalten zurücktreten
musste, als Leiter der biologischen Abt. des Instituts gegen die Geschwulstkrankheiten am
Rudolf Virchow- Krankenhaus nach Berlin geholt. Er verlegte die Göttinger Tierzucht nach
Berlin. 1943 wurde die Tumorfarm nach Posen an das Zentralinstitut für Krebsforschung (oder
auch: „Reichsinstitut“) verlegt (Direktor: der stellv. Reichsärzteführer Blome). Leiter der Tierzuchten wurde Hinsberg, zugleich Leiter der Chemischen Abt. des Pathologischen Instituts am
Charité-Krankenhaus. 1944 meldete sich Holtz wieder zurück, jetzt Abt.ltr. der neu eingerichteten „Zweigstelle Birnbaum“ des Reichsinstitut in Birnbaum/Warthegau (Aufgaben „von höchster
Dringlichkeit“, „unter stärkster Unterstützung des Reichsministers für Rüstung und Kriegsproduktion“, Ausbau und Transport durch die Waffen-SS). – Kröning kehrte nach Göttingen als
Direktor am Institut für Jagdkunde und Naturschutz zurück. Zum Bedauern der dortigen medizinischen Fakultät blieben die verbliebenen Versuchstiere in Berlin bzw. in Posen, wo das gesamte Institut durch einen Bombenangriff vernichtet wurde. 1949 wechselte K. zwangsweise in
den Ruhestand. (Vgl. DFG Förderakten Hinsberg, F. Holtz, F. Kröning; UAG, Rek., PA F.
Kröning; AMPG, Abt. III., Rep. 58, Nr. 7, NL K. Henke.)
250
24.7.1936, Borst an Dr. Breuer (BA Ko, R 73, 12388)
162
ist“.251 Es müsse das vorrangige Ziel sein, „auf erblicher Grundlage krebsgefährdete Menschen zu finden, als solche, bei denen ein (kleiner) Tumor bereits manifest ist“. Der Erbgang von Tumoren verschiedener Lokalisation und
die Wirkung carcinogener Stoffe und Materialien (Kohlenwasserstoffe, Mineralöle, radioaktive Substanzen) seien die zukünftigen Aufgaben der Vererbungsforschung. Die Voraussetzung aber für jede experimentelle Krebsarbeit seien,
so die Botschaft Krönings, genetische Tierzuchten und ein homogenes, erbreines Versuchsmaterial.
Dieser Bericht Krönings macht schlaglichtartig deutlich, dass die Göttinger
Tierzuchten sich vom Instrument zur Unterstützung der medizinischen Forschung zu einem Instrument der medizingenetischen oder erbpathologischen
Forschung gewandelt hatten. Kröning, der schon früh der Mutationstheorie der
Krebsentstehung von Karl Heinrich Bauer anhing und damit die Krebskrankheiten als genetisches Problem verstand,252 stellte die Göttinger Zuchten konsequent in den Dienst einer Vererbungsforschung des Krebses. Damit war die
„erbliche Konstitution“, die zunächst die Gestaltbarkeit des Zuchtmaterials für
die Formung von medizinischen Werkzeugen charakterisiert hatte, zum eigentlichen Forschungsinteresse geworden. Die Göttinger Säugetiergenetik, die 1928
weder in mendelgenetischer noch in entwicklungsphysiologischer Hinsicht vorankam, gelangte über die Aufgaben in den Gemeinschaftsarbeiten mit den Medizinern in ein neues Fahrwasser. Krönings Thema war jetzt die Erbpathologie.
251
Hier und nachfolgend: 22.11.1937, Kröning an Dr. Breuer (BA Ko, R 73, 12388)
Karl Heinrich Bauer, Chirurgische Klinik d. Univ. Breslau. 1928 veröffentlichte er seine Theorie von der Entstehung der Geschwulst durch eine somatische Mutation („Mutationstheorie der
Geschwulst-Entstehung. Übergang von Körperzellen in Geschwulstzellen durch Gen-Änderung“). Er stand mit dieser Position in Opposition zur medizinischen Krebsforschung, die den
Krebs als eine Erkrankung des Gesamtorganismus interpretierte (Kolle). Sprechend für diese
Haltung dürfte folgende Stellungnahme sein: „B. frönt noch immer fantasievoll dem von im zwar
nicht bewiesenen, sondern nur angenommen, inzwischen eindeutig widerlegten Aberglauben,
dass unbekannt und unbeherrschbar irgendeinmal und irgendwie aus der Normalzelle die
Krebszelle durch Metastasen entsteht. Diese aus Überschätzung der theoretischen Erbforschung durch Bauer [erwachsene Ansicht] ist widerlegt [...]. Der Krebs ist eine Allgemeinerkrankung des Körpers [...]“ (19.2.1935, G. Klein an DFG). – Zusammen mit dem Tierzuchtinstitut in
Breslau führte B. ab 1935 Tumorresistenzexperimente an Kaninchen durch (vgl. BA Ko, R 73,
10179).
252
163
4 Innovative Kooperation: Die Versuchstierzucht als
Knotenpunkt biomedizinischer Forschung am Ende der
Weimarer Republik oder Versuchstiere zwischen Instrument
und Modell
„Die Röntgenröhre ist für den Genetiker gleichsam zum Zauberstab geworden, mit Hilfe
1
dessen er sich neue bisher noch nicht beobachtete Lebensformen hervorzaubern kann.“
Nachdem bislang vor allem die Rückwirkung der Versuchstierzucht auf die medizinische Forschung im Blickfeld stand, geht es jetzt um die Rolle der Versuchstierzucht in Bezug auf Kühns Zoologischen Institut. Wie im letzten Abschnitt schon gesehen werden konnte, machte ihre Dienstleistungsfunktion für
die medizinische Forschung ein erbpathologisches Forschungsinteresse an der
Göttinger Säugetiergenetik möglich. Dies traf übrigens auch auf Baurs Institut
zu, an dem – ebenfalls wohl zusammen mit Frankfurt – Zuchtversuche zur Immunität gegen Infektionskrankheiten geplant worden waren.2 Darüber hinaus eignete sich die Gesamtorganisation der Versuchstierzucht in geradezu idealer
Weise dazu, andere genetische Experimentalsysteme zu unterstützen. Es verblüfft auf den ersten Blick, wie die Versuchstierzucht und Kühns Zoologisches
Institut Ende der zwanziger Jahre zusammenpassten. Wie die Struktur der Versuchstierzucht Kühns Forschungsambitionen ergänzte, ist das Thema dieses
Kapitels.
4.1
Standard, Technik, Differenz
Zur kooperativen Organisation der Forschung in den so genannten Gemeinschaftsarbeiten der Notgemeinschaft passte, dass in enger Absprache zwischen Medizinern und Genetikern eine zentrale Koordination der Züchtungsarbeiten gewährleistet werden sollte. Wenn auch weiterhin dezentral geforscht
wurde, so sollten sich die Wissenschaftler jedoch in freier Koordination auf
gleiche Ziele verständigen.3 Diese Verständigung fand in den vereinheitlichten
Versuchstierstämmen geradezu ihren materialisierten Ausdruck. In Kühns Worten: „Ich bin nach wie vor der Ansicht, dass die experimentellen Gemeinschaftsarbeiten am sinnvollsten an verschiedenen Stellen in enger Fühlung zwischen
den Arbeitenden durchgeführt werden, dass aber die genetisch kontrollierte
Züchtung der Versuchstierstämme zweckmäßig einheitlich geschieht.“4 Die
zentrale Koordinierung erlaubte es, die Versuchstierzucht als Zwischenglied
zwischen verschiedenen medizinisch-biologischen Sachkommissionen innerhalb der Notgemeinschaft fungieren zu lassen.
Während für Schmidt-Ott die effektive „Massenaufzucht” von Versuchstieren
vor allem ein Beitrag zur wirkungsmaximierenden und „zweckentsprechenden
1
Hertwig 1933a: 1401
Vgl. 16.8.28, Baur an PML (GStAP, I. HA, Rep. 87B, 20283: Bl. 166). Diese Experimente an
Kaninchen und Mäusen konnten nicht mehr begonnen werden.
3
Zum Programm der Gemeinschaftsarbeiten der Notgemeinschaft, siehe 4.1.3.
4
18.6.1935, Kühn an Deutsche Forschungsgemeinschaft (BA Ko, R 73, 12475: Seite 5 v. 6)
2
164
Zusammenfassung” der Forschung „ohne Rücksicht” auf Fachgrenzen war,5
entfaltete dieses Zwischenglied über seine rein instrumentelle Funktion hinaus
– und neben einer ungeplanten Kostenflut – eine gestaltende Wirkung. Es vermittelte zum Beispiel die Anbindung Kühns Institut an die eugenische Debatte
über die Gefahren, die von Röntgenstrahlen ausgingen. Kühn ging es allerdings
weniger um die eugenische Thematik als um die Produktivität seines Experimentalkomplexes.
Die These in diesem Abschnitt ist, dass die Versuchstierzuchten selber zur
Generierung von Fragestellungen beitrugen. Fragestellung und Experimentalsystem zeigen sich eng miteinander verknüpft. Um dies zu verstehen, muss auf
die Situation der Genetik Anfang der dreißiger Jahre eingegangen werden. Zudem muss verstanden werden, welche zwei konträren, aber dennoch einander
voraussetzenden Funktionen von Experimentalsystemen sich in der Versuchstierzucht widerspiegeln: die Standardisierung von Versuchstieren und die Erzeugung von Differenz. Die Rolle von Versuchstierzuchten für die experimentelle Praxis soll deshalb zunächst aus einer epistemologischen Perspektive beschrieben werden, um diese grundsätzliche Unterscheidung vorzustellen.
4.1.1 Versuchstiere als Instrument
Verschiedene Autoren haben die Standardisierung experimenteller Systeme anhand der systematischen Zucht von Versuchstieren und der Verbreitung ganz
bestimmter Versuchstierstämme in einem Forschungsfeld untersucht. Als ein
besonders gut untersuchtes Beispiel kann das Jackson Memorial Laboratory
(„Jax“) in Bar Harbor gelten.6 Der Genetiker Clarence C. Little gründete 1929
unter industrieller Patronage das Jax. Die reingezüchteten Mäusestämme wurden schon bald in großem Umfang an andere Forschungsinstitutionen verkauft.7 Die Tiere aus dem Jax fanden in den dreißiger Jahren zunehmend Verbreitung in den Laboren und setzten sich in der Krebsforschung als Standardversuchstiere durch, das heißt, jeder, der in die Krebsforschung einsteigen wollte, ‚musste’ mit den speziellen Zuchtstämmen aus dem Jax arbeiten.8
Die Standardisierung der Versuchstiere zeigt sich von wesentlicher Bedeutung bei der Vermittlung lokaler Experimentalpraktiken und der Herstellung robuster experimenteller Traditionen in der Wissenschaft.9 Hierin liegt die epistemologische Bedeutung des Standardisierungsprozesses. Die Standardisierung
von Versuchstieren erhöht die Vergleichsmöglichkeit von Repräsentationen
zwischen verschiedenen Laboren. Kühn achtete peinlich darauf, dass die eingespielten Techniken und Methoden seiner Zuchtanlage im Plauerhof kopiert wurden. Baur hatte das feine Gespür für die Rolle lokaler Techniken, die nicht aus
5
Schmidt-Ott 1928b: 5; 25.6.1931, Schmidt-Ott an Hahn u.a. (BA Ko, R 73, 159)
Umfassend behandelt die Dissertation von Karen A. Rader die Entstehungsgeschichte des
Jackson Memorial Laboratory und seine Entwicklung von einer Forschungsinstitution zu dem
Produktionsort für Mäuse in der Krebsforschung (vgl. Rader 1995).
7
Vgl. Rader 1995: Kap. 3.
8
Vgl. Fujimura 1996a: 14.
9
Vgl. Fujimura 1999: 77. – Zu der Frage, wie Kohärenz oder Einheit in der Wissenschaft
entsteht, wenn die ‚Natur’ als Bezugspunkt wegfällt und Repräsentation an die (lokalen)
Wissenschaftspraxen gebunden verstanden wird, vgl. Lynch & Woolgar 1990; Keating et al.
1992: 313; Fujimura 1992: 168-70; Hacking 1992: 29-31; Star & Griesemer 1999: 506.
6
165
irgendwelchen Lehrbüchern abrufbar waren, sodass Nachtsheim auf sein Geheiß nach Passau fahren musste, um die Verhältnisse der Blindheimer Angorakaninchen-Zuchtanlage genau zu studieren, welche Kolle, der bislang von dort
seine Versuchstiere bezogen hatte, Baur empfohlen hatte.10
Das Programm zur Herstellung von Tierreinzuchten war in die Bewegung der
Experimentalisierung und Verwissenschaftlichung der medizinischen Forschung
eingebunden.11 Geplante Zuchten nach standardisierten Techniken und Arbeitsabläufen hatten ihr Äquivalent in der Standardisierung der Werkzeuge und Protokolle im Labor. Das Versuchsobjekt – das „Tiermaterial” – musste methodisch
durchdrungen sein. Der Kontingenz der lustvollen Vermehrung im Kleinzuchtstall entrissen, wurden die Versuchstiere so zu einem starren Instrument gewandelt und behandelt, wie jedes andere Instrument im Labor. Diese Erstarrung
war nicht das Einfrieren eines Status quo, sondern, wie die Praxis der Gemeinschaftsarbeiten zeigte, eine Gestaltungsarbeit. Als „Material“ wurden das Versuchstier wie jedes andere Material im Labor zu einem plastischen Gegenstand, der den Laboransprüchen und den Forschungsinteressen entsprechend
zu formen war. „These ‚standardized’ animals were used to construct representations that were comparable between laboratories. They were used to reconstruct laboratory work practices and representations were assumed to be homogeneous across laboratories and through time.”12 Die gestaltete Stabilisierung
eines Inzuchtstamms mit bestimmten konstitutionellen Merkmalen erlaubt es
also, Ort und Zeit zu überbrücken.
Die Versuchstiere gerieten, so könnte man sagen, in ein Disziplinierungsregime. Und nicht nur der Versuchstierorganismus musste in einer bestimmten
scientific community zum Zirkulieren gebracht werden, sondern mit ihm zusammenhängend die lokale Experimentalpraxis und die entsprechenden Probleme,
die behandelt werden sollten. „The resulting animals were not simply experimental animals but instead standardized experimental systems.“13 Die Einheit
der Analyse ist somit ein ganzes „experimentelles Modellsystem“.14 Die Verbreitung eines solchen Systems erfordert die wechselseitige Feinabstimmung der
lokalen Experimentalsysteme – und die Glaubwürdigkeit einzelner Akteure innerhalb der Forschergemeinschaft.15 Insofern sind die standardisierten Versuchstiere nicht neutrale Objekte, über die sich im Experiment die Natur offen
legt. Aus dem Umstand des wechselseitigen Abstimmungsprozesses innerhalb
der Wissenschaftsgemeinschaft und dem allmählichen Zusammenfügen der
einzelnen Elemente eines Experimentalsystems zu einer funktionierenden und
akzeptierten „Technologie“, die als wissenschaftliches Werkzeug eingesetzt
werden kann, folgert Fujimura über den epistemologischen Status der Ver10
Vgl. 19.5.1922, Baur an PML (GStA, I. HA, Rep. 87B, 20281: Bl. 218).
Vgl. 3.2.2. Es heißt bspw. in der Notgemeinschaft im Rahmen der Strahlenforschung, dass
den Röntgenärzten das notwendige physikalische Wissen beigebracht werde muss, damit sie
ordentliche Fragen stellen und Untersuchungen durchführen können. – Gaudillière bringt die
instrumentelle Spezialisierung in der Versuchstierzucht ebenfalls mit den neuen Herausforderungen in der biomedizinischen Forschung zusammen (vgl. Gaudillière 2001b : 189).
12
Fujimura 1996b: 12
13
Fujimura 1996b: 12
14
Amann 1994: 263
15
Vgl. Gaudillière 1999: 100; vgl. auch Fujimura 1996b: 14; Rader 1999: 338.
11
166
suchstiere in der Krebsforschung: „They were cyborgs, artifacts created under
artificial conditions according to a formula that combined a commitment to rational scientific principles with a particular conception of cancer as a genetically
caused transmitted diseases.“16
Zu erwarten ist also, dass der Trend zur Standardisierung von Versuchstieren ein allgemeines Phänomen biomedizinischer Forschung ist.17 Es ist deshalb
auch nicht überraschend, dass die Anforderungen an die Intersubjektivität der
situativen Praxis Vergleiche mit der etwa zeitgleich sich vollziehenden Industriestandardisierung nahe legten.18 Der Direktor des Wistar Instituts in Pennsylvania, das durch seine Rattenzüchtungen bekannt wurde, initiierte bereits 1908
den planmäßigen Ausbau der Tierkolonien des Instituts mit der Begründung,
dass die Hinwendung der anatomischen Forschung zu „living anatomical structures” eine erhöhte mathematische Akkuratheit der Experimente und damit
zahlreiche in ihren Eigenschaften bekannte Versuchstiere erfordere.19 Milton J.
Greenman bezog sich in der technischen Umsetzung auf die Standardisierungskonzeption des United States Bureau of Standards, das Standards für die
Industrie und das Eisenbahnsystem entwickelte, um Austauschbarkeit von Bauteilen, Massenproduktion und die Wirtschaftlichkeit zu steigern. 1905 wurden
Standards auch für chemische Analysen – die Reinheit der Reagenzien und die
Analysemethoden – eingeführt. Greenman bezog sich zudem auf Frederick W.
Taylors „Shop Management“, das Gründungsmanifest tayloristischer Industrieproduktion. Zur Neuorganisation des Betriebsablaufes hieß es dort, dass „many
of the elements that are know believed to be outside the field of exact knowledge will soon be standardized, tabulated, accepted and used [...T]he adoption
and maintenance of standard tools, fixtures, and appliances down to the smallest item throughout the works and office, as well as the adoption of standard
methods of doing all operations which are repeated, is a matter of importance
[...]”.20 Wie standardisierte chemische Reagenzien sollten die Versuchstiere
nach Greenmans Vorstellung produziert werden.21
In der Funktion standardisierter Reagenzien waren die Versuchstiere also Instrumente. Das Versuchstier wurde zum Teil des experimentellen Umfelds und
Arrangements, das helfen sollte, auf den Gegenstand des Experiments zu fo16
Fujimura 1996b: 12 – Nach Amann werden im Labor die biologischen Gegenstände, also die
Versuchstiere, im Prozess einer instrumentell-technischen Rekonfigurationen zu „Technofakten“
(vgl. Amann 1994: 270-71).
17
Vgl. Löwy & Gaudillière 1998: 209.
18
Vgl. auch Amann 1994: 267.
19
Clause 1993: 337
20
Taylor zit. in Clause 1993: 342 (341-42)
21
Vgl. Clause 1993: 345-48 (Zum Vergleich mit chemischen Reagenzien, siehe auch Löwy &
Gaudillière 1998: 209). – Im Forschungsbetrieb des Wistar Instituts verschränkte sich – ähnlich
zum Göttinger Beispiel – genetische und medizinische Forschung: Die Zoologin Helen Dean
King begann 1909 mit Experimenten über die Wirkung der Inzucht und nutzte somit die einmaligen Möglichkeiten der Massenzucht (hier und nachfogend, vgl. ebd.Clause 1993: 338-39).
Zugleich produzierte sie damit Tiere, die in den physiologischen Versuchen ihres Kollegen, dem
Neurologen Henry Donaldson, Verwendung fanden. In diesen Versuchen mit Kings AlbinoRattenstamm verknüpfte Donaldson wiederum neurologische Parameter, wie Hirngewicht, und
die Pigmentphysiologie (Albinismus) mit der Frage nach der Erblichkeit solcher Merkmale und
der, ob auf Grund dieses Wissens für die Vermarktung günstigere Stämme durch selektive
Inzucht züchtbar sind.
167
kussieren. Das arrangierte Versuchstier entspricht der Black Box Latours: Es
funktioniert als komplexes Instrument, dessen Ursprung aber mehr und mehr in
Vergessenheit gerät.22 Die Auslagerung und Routinisierung von komplexen
Arbeitsabläufen in der Versuchstierzuchtanstalt einerseits sowie die Produktion
im großen Maßstabe andererseits ähnelt selbst einer industriellen Produktion.
Erwin Baur zog in der Art des Wissenschaftsmanagers einen solchen Vergleich
und sah die ausgedehnten Versuchstierzuchten als Teil einer „fabrikmäßigen”
Forschung.23
4.1.2 Versuchstiere als Modell
Es liegt nun nahe, anzunehmen, dass diese Nähe von Wissenschaft und
Technik Ausdruck davon ist, dass beides eigentlich nicht von einander zu unterscheiden ist, dass nicht nur die Instrumente, sondern auch die Gegenstände
und Objekte der Wissenschaft, aus denen jene Instrumente als Black Boxes oft
hervorgehen, von den technischen Objekten, also ausgemachten Artefakten,
nicht wirklich verschieden sind und dass letztlich wissenschaftliche und technische Produktion im strengen Sinne miteinander identifiziert werden können.24
Eine fabrikmäßige Forschung würde sich durch rationalisierte und standardisierte Arbeitsabläufe in einer eigens dazu aufgebauten Umgebung auszeichnen,
die eine möglichst normierte oder standardisierte Form der Produkte gewährleistete. Doch scheint der Vergleich eine Grenzen zu haben, denn die Gleichförmigkeit von Produkten der industriellen Produktion und von denen des Labors
ist unterschiedlich zu bewerten.
Während in der Industrieproduktion die Gleichförmigkeit das unbedingte Ziel
ist und Anomalien am Produkt aussortiert werden, kommt den Anomalien der
wissenschaftlichen Praxis eine wesentlich andere Rolle zu. Auch in der Wissenschaft ist die Gleichförmigkeit als Reproduktionsfähigkeit eine wesentliche Voraussetzung ihres Funktionierens, und auch dort werden experimentelle Anomalien ‚aussortiert’. In diesem Sinne wurde die Reproduktions- und Zirkulationsfähigkeit bislang herausgehoben. Die Versuchstiere produzierten aber als lebendiges ‚experimentelles System’ selbst – ‚aus sich heraus’ – Veränderungen.25
Dieses Eigenleben der Versuchstiere bringt es mit sich, dass das experimentelle Arrangement unvorhergesehene Wendungen nehmen kann. Versuchstiere
können gar nicht in der Weise festgelegt werden, dass sie eine „Technologie“ in
dem Sinne darstellen, dass sie sich selbstidentisch und geplant verhalten. Das
Instrumentelle des Versuchstiers droht dann jederzeit selbst wieder zum Ge-
22
Vgl. Latour 1987: 81-82 (91-92). Dies ist äquivalent zum „technical object“ bei Rheinberger
1997: 29.
23
Vgl. 5.1.1928, Baur an RMEuL (BA B, alt R 168, 14).
24
Vgl. Latour 1987: 131 u. 253. – Fujimura sieht am Beispiel der Standardisierung von Versuchstieren die Grenze zwischen Wissenschaft und Technologie weggewischt, – in dem Sinne,
dass die ‚Natur’ der Versuchsobjekte ebenso künstlich ist, wie technische Produkte künstlich
sind. Den technischen Charakter der Versuchstiere sieht sie in der Ähnlichkeit der Produktionsform. (Vgl. Fujimura 1996b: 13.)
25
Zu diesen Schwierigkeiten, vgl. auch Clause 1993: 348.
168
genstand und Modell zu werden. Die Black Box kehrt wieder in den Fokus des
Labors zurückkehrt, wird neu befragt und umgemodelt.26
Die Möglichkeit zum Rollenwechsel hatten aber nicht nur die Versuchstiere.
Es handelt sich vielmehr um eine allgemeine Eigenschaft von Dingen in der experimentellen Konfiguration. Die Grenze zwischen dem epistemischen Gegenstand des Experimentalsystems und seinen technischen Bedingungen ist nicht
absolut. Sie kann nie konkret und abgeschlossen im Experiment benannt werden, da der Gegenstand des Experiments zugleich das Befragte ist. Die Trennung von experimentellem Umfeld und Gegenstand erfolgt im Funktionieren
des Experiments oder aus der Sicht des Experimentators ex post in der Auswertung und Interpretation der Daten. Die Art und Weise, wie das Experiment
eingerichtet ist, und wie es in dem Moment des Versuchs funktioniert, bestimmt,
wo die Trennung zwischen dem Umfeld und dem herausgelösten/herauszulösenden Gegenstand des Versuchs liegt. „The difference between experimental
conditions and epistemic things, therefore, is functional rather than structural.”27
Eine ähnliche Rückholbarkeit ist auch in der industriellen Produktion möglich.
Die Anomalie im Produktionsprozess kann der Ausgangspunkt von Innovation
sein, indem die Teile der Produktion, neuen Fragen folgend, neu konfiguriert
werden. In der Versuchstierzucht in Göttingen allerdings, so wird zu sehen sein,
wurde die Rückholbarkeit der Instrumente als Gegenstände der Forschung Teil
ihrer Aufgabe. Die Möglichkeit des Rollentauschs war eingeplant und wurde gefördert. Nimmt man wiederum an, dass die Möglichkeit unerwarteter Ereignisse
und der aus ihnen resultierenden Neukonfigurationen ebenfalls allgemeine
Eigenschaften experimenteller Systeme und zweckhaft mit ihnen verbunden
sind, so stände das der Gleichsetzung von technischer und experimenteller
Produktion entgegen. In diesem Sinne ist Rheinbergers Analyse der experimentellen Praxis zu verstehen, nach der der Experimentator an der Produktion von
Differenzen interessiert ist und nicht an Identität und ein experimentelles System geglückt ist, wenn es unerwartete Ereignisse möglich macht.28 Aus dieser
Perspektive, in der Wissenschaft wesentlich als eine Einrichtung zu verstehen
ist, die durch den Begriff der Differenz zusammengehalten wird, ist die technische Produktion von Produktenidentität grundsätzlich von ihr verschieden.
Der Blick ist damit von der Standardisierung der Versuchstiere und ihrer Faktizität auf einen Bereich gefallen, in dem noch keine Fakten sind. Mit der Standardisierung ist die Vermittlung verschiedener lokal situierter experimenteller
Praktiken angesprochen worden; der Prozess, in dem sich eine spezielle lokale
Praktik herausbildet, wurde dabei vorausgesetzt. Wenn es um die Herstellung
einer Black Box geht, dann unter der Voraussetzung der vorhergehenden differenziellen Ereignisse.29 Bevor ein experimentelles Arrangement mit anderen Laboren ausgetauscht werden kann, müssen seine Bestandteile erst zu einander
26
Amsterdamska hat eindrucksvoll am Beispiel der experimentellen Epidemiologie in den USA
gezeigt, wie die genetische Eigenart der Versuchstiere zugleich Thema war und benutzt wurde,
um die Experimente systematischer zu gestalten (vgl. Amsterdamska 2001: 159). Der Sinn des
Ummodelns kann sein, „experimental noise“ unter Kontrolle zu bekommen (vgl. Geison &
Laubichler 2001: 8).
27
Rheinberger 1997: 30
28
Vgl. Rheinberger 1997: 79 u. 134.
169
passen. Die experimentellen Werkzeuge sind nicht schon fertig, bevor sie in
einem Experiment Verwendung finden. Die Passendheit des Werkzeugs, hier:
eines Versuchstierstamms, wird in der „Ko-Konstruktion“ zwischen den Ansprüchen oder der Aufgabe, den es erfüllen muss, und seinen Möglichkeiten im Verlauf der Entwicklung eines gelungenen experimentellen Arrangements erst
hergestellt.30 Die Versuchstiere werden im Vorfeld eines Versuches schon aktiv
gestaltet. Diese interaktionistische und konstruktivistische Beschreibung betont
zwar mit der Plastizität experimenteller Systeme im Prozess der Standardisierung eine wesentliche Charakteristik der experimentellen Praxis. Konstruktion
und Kreation beinhalten aber die Vorstellung eines planmäßigen, intendierten
oder doch zumindest rational rekonstruierbaren Prozesses, dem ein Zweck
oder die Regelhaftigkeit eines Systems zugrunde liegt. Der Eindruck ist darüber
hinaus, dass die Materialität der Objekte im Experiment keine Rolle spielt. Demgegenüber möchte ich erneut auf die Widerständigkeit des Materials oder hier:
das Eigenleben der Versuchstiere hindeuten.
Während in der Literatur, die sich mit größer angelegten und organisierten
Versuchstierzuchtanlagen in den USA beschäftigt, ihre Funktion innerhalb der
Standardisierung experimenteller Systeme herausgearbeitet wurde, lenkt das
Göttinger Beispiel den Blick auf einen entgegen gesetzten Aspekt. Die Göttinger Versuchstierzucht blieb sicher zu klein, um die Standardisierung eines ganzen Forschungsfelds materiell unterstützen zu können. Umso mehr möchte ich
am Beispiel der Göttinger Versuchstierzucht eine andere wesentliche Funktion
solcher ‚Materialien’ innerhalb experimenteller Systeme ablesen. Die standardisierungswiderständige Eigenschaft der Zuchttiere, sich nicht identisch zu reproduzieren, machte die Versuchstierzucht über die Herstellung von Werkzeugen –
als Bedingung der Möglichkeit bestimmter Experimente – hinaus für Kontexte
interessant, in denen nach Fragen gesucht wurde, um ein Experiment überhaupt erst zu entwerfen. Für Kühn bestand der Wert der Zuchtanlage darin,
Differenz zu produzieren und nicht Gleichförmigkeit.
Standardisierung oder Reproduzierbarkeit und Erzeugung von Differenz sind
beides Ziele innerhalb der wissenschaftlichen Produktion. Instrumentalität und
Modellhaftigkeit changieren mit der Einspannung des Versuchstiers in ein Experimentalsystem. Gleichförmigkeit und Variation können im selben Experimentalsystem miteinander verknüpft sein. Sie bilden ein dialektisches Paar in der
Produktion wissenschaftlichen Wissens.31 Kühn brauchte keine standardisierten
Versuchstiere, sondern Varianten, da er erst am Anfang stand, ein lokales Experimentalsystem für entwicklungsgenetische Fragen zu entwerfen. Es konnte
noch gar nicht darum gehen, durch den Transfer bestimmter Tierstämme ein
lokales System zu ‚internationalisieren’. So waren die organismischen Variationen von entscheidender Bedeutung für die Umgestaltungen des Göttinger
Mehlmotten-Experimentalsystems, das Kühn und seine Mitarbeiter in die gene-
29
Vgl. Rheinberger 1997: 30.
Vgl. Clarke & Fujimura 1992: 7.
31
Vgl. Geison & Laubichler 2001: 25. – Gaudillière stellt für das Jackson Laboratory fest, dass
Produktion und Forschung nie weit von einander entfernt waren und zeigt den Übergang an
einem Beispiel (vgl. Gaudillière 2001b : 190 (190-92)).
30
170
tische Entwicklungsgenetik hineinführte.32 Das so genannte experimentelle
Rauschen, das es in anderen experimentellen Kontexten durch Reinzucht und
Standardisierung zu eliminieren galt, wurde hier das Interessante. Auch die
Göttinger Versuchstierzucht stellte in diesem Sinn einen ‚Variantengenerator’
dar, der versprach, das Unerwartete hervorzubringen und Fragen aufzuwerfen.
Statt mit reinen und stabilen Versuchstierstämmen Identität zu produzieren, reproduzierte sie die Tiere in Differenz. Dies wird genauer nachzuvollziehen sein.
4.1.3 Die „Gemeinschaftsarbeiten“ der Notgemeinschaft (Exkurs)
Die Bemühungen der Notgemeinschaft um die Zucht von Versuchstieren und
die Koordinierung experimenteller Arbeiten hing eng miteinander zusammen
und führen noch einmal zurück zum Thema der Standardisierung. Das Projekt
der Zuchtanstalten war die materielle Entsprechung der Idee der „Gemeinschaftsarbeiten”. Mit den Gemeinschaftsarbeiten hatte die Notgemeinschaft der
Deutschen Wissenschaft Mitte der zwanziger Jahre eine neue zentralisierte
Organisationsform für die Verknüpfung von forschungspolitischen Vorgaben,
der Planung von einzelnen Forschungsprogrammen und den ausführenden
Forschungsstellen etabliert. Austauschbare – standardisierte – Versuchstiere
waren in gewisser Weise die Voraussetzung für die Forschung unter solchen
Bedingungen.33
Zuerst aber zur Umstrukturierung der Forschungsförderung der Notgemeinschaft. Die Anregung dazu war von dem Chemiker und deutschen Nobelpreisträger Fritz Haber ausgegangen, und wurde vom Präsidenten der Notgemeinschaft, Friedrich Schmidt-Ott, sogleich aufgegriffen.34 Modell stand Habers
angewandte Forschung im Weltkrieg. Mit der Schaffung von Sonderforschungs32
Vgl. Geison & Laubichler 2001: 19.
So erinnert der Göttinger Zoologe F. Kröning an Sinn und Zweck das VersuchstierzuchtProjekt von 1929 und führt aus, wie grundlegend für ein gemeinschaftliches Krebsforschungsprogramm tierische Krebsstämme seien. Vorraussetzung für jede experimentelle Arbeit sei ein
„homogenes, erbreines Versuchsmaterial”. Im Rahmen der Versuchstierzüchtung der DFG
waren bereits Mäusestämme mit Mammatumoren und dazugehörige Kontrollstämme gezüchtet
worden. Weitere Aufgabe der normierenden Labortierzucht war es, Stämme mit klar abgegrenzten Krankheitsentitäten zu züchten, die zur Nosologie in der Humanmedizin passten: Mäuse-,
Meerschweinchen und Kaninchenstämme mit spontanen Lungentumoren, Sarkomstämme und
Mäuse mit Tumoren anderer Lokalisation. (Vgl. Kröning: Tierische Krebsstämme als Grundlage
experimenteller Krebsforschung, Anlage in: 22.11.1937, Kröning an Dr. Breuer, DFG, in: BA Ko,
R 73, 12388.)
34
Vgl. Hammerstein 1999: 39-47. – Planungen der Notgemeinschaft für neue Formen der Wissenschaftsförderung waren bereits kurz nach ihrer Gründung ins Gespräch gekommen (hier
und nachfolgend, vgl. Anonymus 1928b: 7; Kirchhoff 1999: 81). Seit 1924 wurden sie „in einer
großen Reihe von Besprechungen mit den namhaftesten Männern aus der Wissenschaft und
Wirtschaft” vorangetrieben. Vom Reichstag wurden im Frühjahr 1926 die ersten drei Mill. RM für
einen Sonderfonds bewilligt, mit dem die Notgemeinschaft zielorientierte Gemeinschaftsarbeiten (im Bereich der „nationalen Wirtschaft, der Volksgesundheit und des Volkswohles“) finanzieren sollte. Koordination durch führende Wissenschaftler, zentrale Planung lokaler Forschungstätigkeiten und strikte Zweckausrichtung waren die Merkmale der Gemeinschaftsarbeiten. Die
Gebiete der Metallforschung, Strömungsforschung, theoretischen und praktischen Medizin,
Eiweißkonstitution und des Eiweißstoffwechsels, der angewandte Entomologie, Ernährungsphysiologie der Pflanzen, der Elektrotechnik und der Strahlenkunde waren die ersten Schwerpunktbereiche. – Im Mai 1925 beantragte Schmidt-Ott weitere fünf Mill. RM, die bewilligt wurden. Diese Reichszuschüsse stiegen jährlich, fielen aber ab 1929 bedingt durch die Weltwirtschaftskrise wieder ab.
33
171
programmen – den „Gemeinschaftsarbeiten“ – bestimmte die Notgemeinschaft
ihre Aufgaben neu, indem sie sich für eine aktive Förderpolitik in der Forschung
entschied.35 Haber, zugleich Vizepräsident der Notgemeinschaft, begründete
diesen Schritt mit der Kritik an der Politik des Kultusministeriums. „Glaubt ernsthaft jemand, dass es für das wirtschaftliche Wohlergehen unseres Volkes mehr
auf die Kirche und die Schule als auf die Wissenschaft ankommt, oder ist das
wirtschaftliche Wohlergehen in diesen unseren Tagen nicht wichtig genug, um
dem, was Quelle und Ursprung ist, nämlich der Wissenschaft, ebenso materielle Fürsorge zuzuführen als Kirche und Schule?”36 Forschung versprach gesellschaftlichen Nutzen, indem sie „der Nationalen Wirtschaft, der Volksgesundheit
und dem Volkswohl” diente.37 Es kam nun darauf an, dies auch der Öffentlichkeit zu vermitteln. So, wie Haber im Verlauf des Ersten Weltkriegs mit Stickstoffdünger – und Kampfgasen – den Krieg nähren half, so sollte die Forschung
auch jetzt im ökonomisch angeschlagenen Deutschland neue Entwicklungsmöglichkeiten gewinnen, „um die für ein erfolgreiches Weiterleben des deutschen Volkes unentbehrliche Volkskraft in höherem Maße als bisher zu befähigen, am Wettbewerb auf dem Weltmarkt teilzunehmen”38.
Ein wesentlicher Aspekt der neuen Bemühungen der Notgemeinschaft war
es, „durch zweckentsprechende Zusammenfassung“ der Mittel eine „möglichst
große Wirkung zu entfalten”.39 Die „besten Forscher” sollten nach einem gemeinsamen Plan wichtige Probleme angehen, welche „nicht durch die bestehenden wissenschaftlichen Einzelanstalten als solche gelöst werden” konnten.
Auf diese Weise sollten gemeinsame Ziele „gegenüber der immer weitergehenden Spezialisierung“ der Forschung betont werden. Wohlgemerkt, sollte die Betonung der übergreifenden Forschungslenkung und die Zusammenfassung spezialisierter Forschungsbereiche die gewohnte Einzelförderung im deutschen
Wissenschaftssystem nicht aushebeln.40 Die Notgemeinschaft werde, so beschwichtigte Schmidt-Ott diesbezügliche Befürchtungen, bei aller Verantwortung gegenüber der Gesellschaft die Freiheit behalten, Forscher und Institute
selbst auszuwählen, um „wissenschaftlich grundlegende Fragen” anzugehen,
35
Vgl. Kirchhoff 1999: 76-77.
Haber 1928: 23
37
Anonymus 1928b
38
Anonymus 1928b: 1-2 – Bei den Abgeordneten des Reichstages und den Reichsbehörden
musste einige Überzeugungsarbeit geleistet werden, um den angestrebten Sonderfonds für das
Projekt zu erhalten (vgl. Hammerstein 1999: 73). War zunächst nur an technische Bereiche gedacht worden, wurde deshalb bald die Bekämpfung von Volksseuchen, die physiologisch-chemische Grundlagenforschung, die Sporthygiene, die Gebiete der Ernährung und Arbeitsleistung
in die Förderpläne der Notgemeinschaft mit einbezogen. – Es ist beachtenswert, dass mit der
programmatischen Wende in der Förderpolitik der Notgemeinschaft (Förderung des Volkswohls
und Nationalwirtschaft) einher sich gegen Ende der zwanziger Jahre der Schwerpunkt der Förderung immer weiter zur Experimentalforschung hin verschob (vgl. Hammerstein 1999: 64). –
Geisteswissenschaften hatten einen Förderanteil von 30 Prozent an der Förderung, Ingenieurwissenschaften zwölf Prozent, Medizin und Naturwissenschaft stellten ganze 50 Prozent.
39
Hier und nachfolgend: Anonymus 1928b: 1
40
Vgl. Hammerstein 1999: 73. – Die zweckgebundene Vereinigung der Forscher einzelner Fächer „ohne Rücksicht” (Schmidt-Ott 1928a) musste bei den deutschen Forscher für Beunruhigung sorgen. So hieß es extra, es solle „niemand gezwungen werden, auf einem ihm fremden
Gebiet zu arbeiten“, die Förderung sollte stattdessen die Weiterführung von schon im Gange
befindlichen Arbeiten unterstützen (Anonymus 1928a: 85).
36
172
die für den erfolgreichen Fortschritt in der Wirtschaft und in der Volksgesundheit
Vorraussetzung sind.41 Zu keiner Zeit – auch nicht später im
Nationalsozialismus – wurden die Forscher zur Zusammenarbeit gezwungen.42
Die Konzeption einer zentral geplanten, dezentral durchgeführten, am Volkswohl orientierten, aber nur den wissenschaftlichen Voraussetzungen dienenden
Forschung bildete die Struktur der Gemeinschaftsarbeiten. Kühn, der an entscheidender Stelle in zwei Kommissionen mitwirkte, stellte 1934 fest, dass sich
genau diese Art der Zusammenarbeit bewährt habe: Koordination der Aufgaben
durch die Kommission einerseits und die dezentrale Durchführung der Experimente andererseits.43 Als Vorbild für diese Art der Organisation von Forschungsaufgaben diente der National Research Council der Vereinigten Staaten.44 Zunächst eingerichtet, um die US-Regierung in Fragen der militärischen
Forschung zu beraten, begann der Council nach dem Krieg mit der Organisation arbeitsteiliger und themenspezifischer Forschungsarbeiten, an denen zahlreiche Forscher unterschiedlicher Institutionen beteiligt sein konnten. Diese „cooperative research programs“ waren das Modell für Schmidt-Ott Gemeinschaftsarbeiten.45 Aber auch deutsche Wissenschaftler erkannten in der amerikanischen Wissenschaftsförderung ein zeitgemäßes Vorbild. Nachtsheim, der
eine umfangreiche Zusammenarbeit mehrerer Institute bei der Züchtung seuchenfester Versuchstierstämme empfahl, machte darauf aufmerksam, dass
„diese ‚Cooperation’ mehrerer Institute“ in Amerika eine erfolgreiche und weit
verbreitete Methode der Biologie sei.46
In Biologie und Medizin in Deutschland wurde diese Form der Zusammenarbeit genau von jener kleinen Gruppe vorangetrieben, die sowohl in der Gemeinschaftsarbeit zur Versuchstierzucht wie in der zur Strahlengefahr tonangebend war. Für die Planungen des Krebsforschungsprogramms der Deutschen Forschungsgemeinschaft wurden eben jene Zusammenkünfte der Strahlengenetiker unter Kühns Leitung in Göttingen wie auch der Einsatz von Wilhelm Kolle vom Frankfurter Institut für experimentelle Therapie als vorbildlich
41
Schmidt-Ott 1928a: 26
Man war sich darüber einig, dass effektive Zusammenarbeiten nicht erzwungen werden können. Im Zuge der Umorganisation der Krebsforschungsförderung, hoffte man zum Beispiel,
dass die Forschung allein ihre Koordination in die Hand nähme und sich zu einer „Art Reichsarbeitsgemeinschaft“ entwickeln würde; denn nur so bliebe es gewährleistet, dass „sich die
einschlägige Forschung möglichst ungehindert von papierenen Organisationsmaßnahmen und
ähnlichen Beschränkungen in aller Freiheit entwickeln“ würde (18.12.1936, Dr.Br./Kr. [DFG] an
Fischer-Wasels, in: BA Ko, R 73, 11025). Die Zentralisierung der Forschungsförderung im Wissenschaftsministerium zur Vereinheitlichung des Vorgehens und Zusammenfassung der verstreuten Forschungsaktivitäten sollte somit nur die Infrastruktur stellen. „Eine zentrale Organisationsstelle wird bei diesen organischen entwickelten Gebilden viel leichter und wirksamer zu
handhaben sein, als bei schematisch und gewaltsam um ein oktroyiertes Thema zusammengeschlossene Gruppen“ (o.D. [ca. Ende 1937], Dr. Br/Kr.: [Schrift ohne Titel über die Förderung
der Krebsforschung]; vgl. auch 28.1.1939, Völkischer Beobachter: Professor Borst-München
über die Krebsbekämpfung in Deutschland, in: BA Ko, R 73, 12388).
43
Vgl. o.D., [Kühn]: „Entwurf Niederschrift über die Sitzung der Notgemeinschafts-Kommission
für Gemeinschaftsarbeiten zur Klärung der Fragen auf dem Gebiet der Erbschädigung durch
Strahlenwirkung, Anlage in: 26.7.1934, Kühn an Notgemeinschaft (BA Ko, R 73, 12475: Seite
10 v. 12).
44
Vgl. Kirchhoff 1999: 80.
45
Kirchhoff 1999: 85
46
Nachtsheim 1928h: 301
42
173
genannt, „wie Gemeinschaftsarbeiten zustande gebracht werden können“.47 Neben Alfred Kühn propagierte Kolle besonders inbrünstig die Zusammenarbeit
über Fachgrenzen hinweg. Um diese Idee voran zu bringen und die deutschen
Forscher an sie zu gewöhnen, veranstaltete er im September 1934 die „Wissenschaftliche Woche zu Frankfurt“, ein achttägiges Symposium mit den Schwerpunktthemen Erbbiologie, Carcinom, Bakteriologie, Immunitätslehre und experimentellen Therapie.48 „Noch nirgends“ war es geschehen, hieß es anschließend, dass Biologen aller Arbeitsrichtungen zusammenfanden und im Austausch der Gelehrten aus 20 Ländern die Grenzen zwischen den verschiedenen
Sichtweisen schwanden; die biologischen Probleme bekamen durch die gemeinsame Behandlung „ganz neue Überschriften“.49
Kolle betonte, dass die Zusammenarbeit von experimenteller Medizin und
Biologie zum Volksnutzen eben nicht ausschließe, dass die Forschung der
„Wahrheit“ diene und „an sich voraussetzungslos“ sei. Ihre Aufgabe sei, „die
Natur der Krankheiten“ aufzuklären.50 Dem entspräche der Wunsch in der Wissenschaft „nach Gemeinschaftsarbeiten“. „Schon seit Jahrzehnten ist es ja den
Vertretern der einzelnen Disziplinen der biologischen Wissenschaften, die sich
zusehend vermehrt haben, klar geworden, daß zur Bearbeitung komplizierter
Probleme das Zusammenwirken von Forschern verschiedener Disziplinen notwendig ist. Denn je mehr in der Biologie die verfeinerte Methode und Technik
der Hilfsmittel zu neuen Erkenntnissen führt, desto schwieriger gestaltet sich die
Klärung und geistige Verknüpfung vieler Phänomene und die Möglichkeit eines
Fortschrittes, sei es für die Theorie oder die praktische Verwertung."51
Für Kolle stand die Auflösung der Disziplingrenzen im Zusammenhang mit
einer Vision der „Erneuerung“ der Naturwissenschaften und der Annäherung an
ein umfassendes Bild vom Organismus. Wenn dabei auch Kritik an einer „rein
materialistisch-mechanistische Auffassung der Naturvorgänge“ anklang, so lief
dies ebenso wenig auf eine idealistisch-vitalistischen Lebensauffassung hinaus
wie die unten vorzustellende genetische „Ganzheitsauffassung des Organismus“ Timoféeff-Ressovskys.52 Im Gegenteil: Hier wie dort ging es um eine Synthese der Teilwissenschaften zu einer naturwissenschaftlich begründeten Einheitswissenschaft des Lebendigen. Die „Gemeinschaftsarbeiten“ waren insofern
ein technischer bzw. operativer Begriff wissenschaftspolitischer Planung. Seine
forschungspraktische Rationalität war ebenso bestechend, wie es unter dem
historischen Stand der Wissenschaft notwendig zu sein schien, „die
Arbeitsgemeinschaft, die wir zwischen Biologen, Chemikern und Physikern
schon haben, auch zwischen Genetikern, Physiologen, Pathologen und Klini47
22.11.1937, Friedrich Kröning an Dr. Breuer, DFG (BA Ko, R 73, 12388)
Die Tagung ist dokumentiert in Kolle 1935b. – Es wurden u.a. Möglichkeiten der Kinematographie und Mikrokinematographie besprochen. – Zu den Beiträgen der Genetik, siehe S. 179.
49
Lehmann 1934: 264
50
Kolle referiert in Lehmann 1934: 266. Kolle machte engagiert eine internationalistische Sichtweise der Wissenschaft stark. Die Konferenz sei zum einen „Symbol“ für das „Gemeinschaftsgefühl der Vertreter der Wissenschaft“, zum anderen für die Bedeutung der Wissenschaft im
„neuen Europa“ für Technik, Heilkunde, Hygiene und die Verhütung von Seuchen und Krankheiten. Die experimentelle Biologie sei nie lebensfremd gewesen, sondern suche den „Kontakt
mit dem Volk, seinen Ansprüchen, Leiden, Krankheiten und Sorgen“. (Vgl. ebd.: 265.)
51
Kolle 1935a: V
48
174
kern durchzuführen. Denn da liegt der Weg, wo wir uns gegenseitig helfen können. Wir sind zu der Überzeugung gekommen, daß es keinen Sinn hat, auf einem Nachbargebiet zu dilettieren, wenn der andere das besser kann, was man
zur Lösung eines bestimmten Problems braucht“.53
Die Kooperation mehrerer Forschungsstandorte, die Loslösung eines Experiments also von seiner lokalen Situiertheit, setzte die Stabilisierung der einzelnen, lokalen Arbeitsergebnisse voraus. Die Gleichförmigkeit betraf zunächst
das einzelne Labor. Die Initiative zur Verbesserung der Versuchstiere hatte genau das Ziel, die Variabilität der Experimente, die – aus der Sicht des Experimentators – durch zufällige Einflüsse bedingt war, zu reduzieren. In Kapitel 3
wurde dieser Aspekt ausgeführt und seine funktionelle Seite hervorgehoben,
der diese Anstrengungen in einer scientific community dienten, nämlich „immutable mobiles“ zu ermöglichen.54 In der kooperativen Forschung erfüllte die Stabilisierung die Aufgabe, die Vergleichbarkeit zwischen Experimenten, die an
verschiedenen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten durchgeführt wurden, zu
steigern. Denn der Vergleich der eigenen mit Ergebnissen eines anderen Labors deckte nicht selten Diskrepanzen auf, die nicht sein ‚durften’. Unterschiede
in Methoden und Technik konnten dafür verantwortlich sein. „Auf diese verschiedenen, quantitativ wechselnden Faktoren sind wohl zum großen Teil die
Differenzen zurückzuführen, die bei der Ermittlung des chemotherapeutischen
Index von verschiedenen Untersuchern an verschiedenen Orten erhalten sind.
Die Schwankungen sind so groß, dass sie weder auf Versuchsfehler noch auf
Unterschiede der zur Infektion benutzten Stämme allein zurückgeführt werden
können.“55 Entsprechend dem ‚Prinzip des erweiterten Labors’ wurden die Objekte des Versuchs, die Versuchstiere, in diese Rationalität mit einbezogen.56
„Diese Ungleichmässigkeiten und Ungleichartigkeit des Tiermaterials gibt sicher
zum Teil die Erklärung dafür ab, warum sehr häufig die Resultate gleichartiger
Versuche in einzelnen Instituten so ausserordentlich verschieden sind und zwar
sowohl bei Prüfung von Giften, wie namentlich bei allen Versuchen, die mit lebenden Infektionserregern arbeiten.”57
Es verwundert nicht, wenn die Versuchstierzuchtkommission in die Koordination der Gemeinschaftsarbeiten eingebunden war. Kühn bemühte sich im Rahmen der Gemeinschaftsarbeit zur Strahlenschädigung, auf die gleich zu kommen sein wird, Versuchstierzucht und Röntgenforschung zusammenzubringen.
Er legte größten Wert darauf, dass die Kommission sich in Göttingen die zentrale Zuchteinrichtung von Meerschweinchen und ihre Arbeitsweise anschaute.
Über die Tiere, die als Standards in den Laboren Verwendung finden sollten,
musste man sich verständigen.58 Wenn im Forschungsverbund zum Beispiel
Brustkrebs studiert werden sollte, mussten sich die Wissenschaftler einigen,
welcher Tierstamm als Modell ihres Forschungsgegenstandes und als ‚Stan52
Lehmann 1934: 265 u. zu Timoféeff-Ressovsky, siehe Seite 181.
Diskussionsbeitrag Kühns zit. in Timoféeff-Ressovsky 1935b: 117-18
54
Siehe Seite 116 u. 136.
55
Kolle 1928: 148
56
Zum ‚Prinzip des erweiterten Labors, vgl. 3.2.2.
57
28.1.1928, Kolle an Schmidt-Ott (GStAP, I. HA, Rep. 92, C58: Bl. 203-07. Hier: 204)
58
Vgl. 29.12.1933, Kühn an Dr. Stuchtey, Notgemeinschaft (BA Ko, R 73, 159).
53
175
dardobjekt’ gelten konnte.59 Die Verständigung über die Zuchttechniken und
Tierstämme war genauso wichtig, wie die Methoden und Techniken zur Bestrahlung der Tiere. Die Zentralisierung der Versuchstierzucht sollte die Spannung, die durch die Variabilität der Versuchstiere bei einer kooperativ geplanten, aber nicht zentral durchgeführten Forschung auftrat, glätten. „Ich bin nach
wie vor der Ansicht, dass die experimentellen Gemeinschaftsarbeiten am sinnvollsten an verschiedenen Stellen in enger Fühlung zwischen den Arbeitenden
durchgeführt werden, dass aber die genetisch kontrollierte Züchtung der Versuchstierstämme zweckmäßig einheitlich geschieht.“60
4.2
Vom Konzept zum Experiment: Genetik und
Entwicklungsphysiologie
Den Kontext, in dem sich die angedeutete differenzielle Funktion der Göttinger
Versuchstierzucht erklärt und entfaltete, bildeten aktuelle vererbungstheoretische Konzepte. Die Versuchstierzuchten wurden darüber hinaus gerade im
richtigen Moment eingerichtet, um den Genetikern in der Auseinandersetzung
mit Röntgenärzten und Gynäkologen über Strahlenschäden Schützenhilfe zu
geben; denn die Massenzucht bei gleichzeitiger Expertenbegleitung eignete
sich hervorragend, auch kleinste und ungewöhnliche mutative Varianten aus
den Zuchten heraus zu fischen. Dass dies keine banale Aufgabe war, wird zu
sehen sein. Die Röntgendebatte überschnitt sich wiederum mit den Problemen
und Fragen der zeitgenössischen Genetik in kongenialer Weise. Die deutsche
Genetik befand sich in einer Umbruchphase. In der Situation einer Überproduktion von Konzepten über Genwirkung, Entwicklungsphysiologie und Mutationsmechanismen und bei einer gleichzeitig erstockten Produktivität der experimentellen Systeme in der Genetik, versprach die Versuchstierzucht, neue Fragen
aufzuwerfen und neue Handlungsoptionen für die experimentelle Praxis zu eröffnen.
4.2.1 Vorgriff auf die Gemeinschaftsarbeit über die Frage der Erbschädigung
durch Röntgenstrahlung
Die Röntgenkommission der Notgemeinschaft, auf die vorgegriffen werden soll,
bildet den besten Einstieg in den konzeptuellen Hintergrund und die Forschungsfragen der zeitgenössischen Vererbungsforschung. Diese Kommission
war damit beauftragt, gemeinsame Arbeiten zu planen und zu koordinieren, die
sich mit der Frage auseinander setzten, ob die Verwendung von Röntgenstrahlen in der Medizin erbliche Schädigungen hervorrufen konnte. Bei der Durchführung der Experimente wurde zum Teil auf die Versuchstiere der Göttinger
Zuchtanstalt und vom Plauerhof zurückgegriffen.61 Die Versuche zur Erzeugung
59
So versuchte Ferdinand Sauerbruch – in autokratischer Weise allerdings – aus diesen Gründen die Forschung an Transplantationstumoren auf Tiere der zentralen Tumorfarm in Berlin zu
begrenzen (vgl. 11.4.1938, Holtz, Tumorfarm: Rundbrief, in: BA Ko, R 73, 11786).
60
18.6.1935, Kühn an Deutsche Forschungsgemeinschaft (BA Ko, R73, 12475)
61
Vgl. 28.5.1932, Kühn an Notgemeinschaft (BA Ko, R 73, 16079).
176
von Mutationen an Säugetieren durch Röntgenstrahlen, so hieß es, waren zugleich für die Vererbungswissenschaft von „größtem theoretischem Interesse“.62
Die Initiierung der Röntgenkommission stand am Ende einer ausgedehnten
und kontroversen Diskussion über jene Frage. Seit Anfang des Jahrhunderts
wurden Röntgenstrahlen in der Gynäkologie therapeutisch genutzt, um Blutungen, Myome und Geschwülste zu behandeln. Als „temporäre Sterilisation“ wurde die Bestrahlung der Ovarien zu therapeutischen Zwecken genannt. Ab Mitte
der zwanziger Jahre geriet diese Behandlungsmethode innerhalb der Medizin
zunehmend in Kritik. Eine Einigung war noch nicht in Sicht, als sich Genetiker
und Eugeniker Ende des Jahrzehnts in die Diskussion einmischten. Es entbrannte eine heftige Auseinandersetzung zwischen Genetikern und Gynäkologen über die Frage der Gefährlichkeit der Röntgenanwendung und die richtigen
Methoden ihrer Lösung. Die Genetiker sahen sich berufen, da gerade erst die
mutative Wirkung von Strahlen nachgewiesen und Ausgangspunkt eines boomenden neuen Arbeitsgebietes geworden war. Die Strahlengenetik versprach
zugleich, für die unterschiedlichsten biologischen Fragestellungen relevant zu
sein.
Die Strahlenwirkung war also das neue Wirkungsfeld vieler Genetiker. Für
die Frage der Erbschädigung waren vor allem zwei strahlengenetische Annahmen von Wichtigkeit: zum einen die Annahme, dass es keine Schwelle gibt, ab
der eine kleine Röntgendosis ungefährlich ist, und zum anderen die, dass die
Wirkung der Röntgenstrahlen vor allem in der Verursachung „kleiner Mutationen“ besteht. Die kleinen Mutationswirkungen unterschieden sich von den bislang in der Genetik beobachteten dadurch, dass sie nicht leicht zu entdecken
waren. Sie machten sich eher in subtilen und oft fließenden Veränderungen
schwer erfassbarer, physiologischer Merkmale bemerkbar. Als ein solches
Merkmal wurde beispielsweise die Lebensfähigkeit oder Vitalität der Tiere und
Pflanzen angesehen. Unterschiede in der Vitalität konnten so fein sein und wurden zudem durch andere Faktoren mit beeinflusst, dass eine einzelne Mutation
durch Strahleneinwirkung schwer nachweisbar war. Daraus ergab sich die methodische Forderung, Experimente an großen Zahlen von Experimentalobjekten
vorzunehmen. Und genau mit dieser Forderung und der Kritik an der kleinen
Datengrundlage der klinischen Erhebungen wandten sich die Genetiker gegen
die Gynäkologen.
Im Herbst 1933 wurde in der Notgemeinschaft eine Kommission „zur Frage
der Erbschäden durch Röntgenstrahlen“ aus Genetikern und ihnen nahe stehenden Gynäkologen und Röntgenologen gebildet, die die Frage klären sollte.
Alfred Kühn war in der Auseinandersetzung zwischen Genetikern und Gynäkologen zunächst nicht hervorgetreten. Nun übernahm er und sein Institut aber
eine führende Rolle in der Koordination der Forschungsarbeiten.63 Bereits zur
62
14.3.1932, Heinrich Martius an Schmidt-Ott, unterz. v. Martius u. Kühn (BA Ko, R 73, 16079)
– Die genetisch-medizinischen Kooperationen genossen allerdings Priorität. Kühn versichert
dies gegenüber Schmidt-Ott (vgl. 28.5.1932, Kühn an Notgemeinschaft, in: BA Ko, R 73,
16079).
63
Röntgenstrahlen waren am Göttinger Institut schon länger im Gebrauch. Zum einen dienten
die Strahlen als Werkzeuge. 1930 berichtete Kühn über Experimente „mit einer neuen Rasse,
die als Mutation unter den F2 von Röntgen-Beeinflußten aufgetreten ist“ (vgl. 9.8.1930, Kühn an
177
initiierenden Kommissionssitzung im September 1933 übernahm er die Planungsinitiative und wurde von dem nach dem Regierungswechsel neu installierten Geschäftsführer der Forschungsgemeinschaft zum „Führer der Kommission“ bestimmt.64 Das hatte nicht zuletzt seinen guten Grund darin, dass Kühn
Leiter der Versuchstierzuchten war. Überhaupt, es ergaben sich personell und
institutionell einige Überschneidungen zwischen der Strahlenkommission und
dem Netzwerk, das die Versuchstierfrage vorantrieb.65 Bis auf Baur war das
Versuchstiernetzwerk bis dahin nicht in die Genetiker-Gynäkologen-Debatte
verwickelt. Als aber eine interdisziplinäre Planungsgruppe zwischen Ärzten und
Genetikern sich nicht auf einen Forschungsplan einigen konnte, verlagerte sich
die Aufgabe in die Strukturen der Notgemeinschaft. Da sich hier bereits das
effizient arbeitende, interdisziplinäre Versuchstiernetzwerk befand und die neue
Kommission auf eine genetische Herangehensweise verpflichtet sein sollte,
konnte personell das Gremium zur Versuchstierzucht im Wesentlichen auf das
Röntgenproblem übertragen werden.66 Damit stellten sich keine Fragen mehr
zur Methodik: Geplant wurden Bestrahlungsexperimente mit Reinzuchttieren,
Mendelanalyse von Mutationsmerkmalen und die modellhafte Übertragung der
Ergebnisse auf die Verhältnisse beim Menschen.
Geleitet durch die praktisch-medizinischen Frage nach der Schädigungsmöglichkeit durch Strahlen und geeint im praktischen Herangehen, konnten auf diese Weise in der Kommission verschiedene experimentelle Systeme, Objekte
und Probleme zusammengehalten werden. Das heißt nicht, dass die je eigenen
Probleme der beteiligten Wissenschaftler unter dem koordinierenden Eingriff
der Kommission ihre Eigenständigkeit verloren. Im Gegenteil, die Kommissionsarbeit belebte die genetische Forschung. Die eigentliche Frage der Röntgenschädigung wurde zwar nicht abschließend geklärt, doch der Raum der Kommission produzierte, gestützt auf die Versuchstierzucht, Knotenpunkte. Neue
Ergebnisse und Konzepte wurden zu einer kritischen Masse verknüpft, sodass
bald die einzelnen Laboratorien wieder in verschiedene Richtungen auseinander streben konnten. Die Versuchstierzuchten und die darum gruppierte Zusammenarbeit zwischen Genetik und Medizin bildeten ein Getriebe, das die Tätigkeit an der Göttinger Versuchstieranstalt, die vererbungswissenschaftlichen
Probleme am Göttinger Institut, das Röntgenproblem und die konzeptuellen
Henke, in: AMPG, Abt. III, Rep. 58, Nr. 7). Zum anderen wurde die Röntgenwirkung im Rahmen
Kühns Studien zur Modifikation untersucht, wobei Kühn sich offenbar auch für das Problem der
Strahlenschädigung interessierte (siehe Herv.): „In der nächsten Woche wollen wir noch neue
Röntgenversuche ansetzen, Reizung mit der alten und parallel mit anderen Wellenlängen. [...]
Vor allem möchte ich auch die Entwicklung der Geschlechtsorgane kennen lernen, schon um
der Röntgenversuche willen” (10.5.1930, Kühn an Henke, hands., in: ebd., Nr. 7).
64
3.7.1934, Kühn an Dr. Wildhagen (BA Ko, R 73, 12475: Seite 1 v. 3) – Grundlage der Forschungskoordination wurde eine Denkschrift von Kühn, die mir allerdings nicht bekannt ist. Die
Verlagerung nach Göttingen wurde sicher durch den Tod E. Baurs im Dezember 1933 befördert.
65
Neben A. Kühn waren aus der Versuchstierarbeitsgemeinschaft in der Röntgenkommission
E. Baur, F. Kröning, W. Kolle, das RGA und das Hygienische Institut der Universität Berlin vertreten.
66
Die Gynäkologen, die auf andere methodische Zugangsweisen beharrten, waren damit ausgebootet worden, nicht so die Röntgenologen, die eher die Position der Genetik vertraten.
178
Bewegungen, die in ‚der Luft’ des genetischen Diskurses lagen, ineinander
übersetzte.
4.2.2 Variable Genmanifestation im Blick – das Interesse deutscher Genetiker
Anfang der dreißiger Jahre
Um nun den avancierten Diskurs in der Genetik rund um die Veränderlichkeit
von Merkmalen zu skizzieren und um dann die Überschneidungen zwischen
dem Röntgenproblem und genetischen Fragestellungen aufzuzeigen, kann von
einer Sitzung jener Kommission, die im Sommer 1934 in Kühns Zoologischen
Institut abgehalten wurde, ausgegangen werden. Kühn hatte die Kommissionsmitglieder eingeladen, da man in Göttingen die Zuchten für Meerschweinchen
und Krebsmäuse besichtigen sowie Präparate und Methoden der dortigen Bestrahlungsversuche vorführen könnte.67 Er wolle auch einen kurzen Bericht über
„das den meisten Herren noch ganz neue Problem der vielseitigen Wirkung mutierter Gene auf die Vitalität und die Fortpflanzungsrate” halten. Einzelne Kommissionsmitglieder gaben zudem einen Überblick über die „neuesten Erkenntnisse“.68 Über Röntgenversuche an Mäusen und Meerschweinchen berichteten
Paula Hertwig und Friedrich Kröning, über Bestrahlungsexperimente an Drosophila Nikolaj Timoféeff-Ressovsky. Kühn selbst berichtete „über Mutationsauslösung und Mutationswirkungen an Insekten als ‚Modellversuchstieren’” (Ephestia).69
Es sei bemerkenswert, so Kühn, dass die bisherigen Untersuchungen im
Rahmen der Gemeinschaftsarbeit an „ganz verschiedenen Objekten“ zu „ganz
gleichartigen neuen Ergebnisse über die Mutationswirkung“ geführt hätten.70 Mit
Blick auf das bisher in den Gemeinschaftsarbeiten Erreichte, stellte er fest, dass
weitere wissenschaftlich wichtige Ergebnissen mit hoher praktischer Bedeutung
zu erwarten seien. Die Bestrahlungsversuche an der Mehlmotte, so berichtete
Kühn dann, hatten zu Mutationen geführt, die sich in mehrfacher Weise auf den
Insektenorganismus auswirkten. An den Motten seien veränderte Gestaltmerkmale beobachtet worden: Pigmentbildung in den Augen, in der Beschuppung
und in den inneren Organen. Außerdem die Mutationen aber auch durchgehend
Auswirkungen auf „Leistungsmerkmale“ gehabt. So unterschieden sich die äußerlich verschiedenen Motten auch in ihrer Entwicklungsgeschwindigkeit oder in
der Fruchtbarkeit.71
Für die Frage der Erbschädigung durch Röntgenstrahlen war dies ein wichtiges Ergebnis, das aus der Strahlengenetik hervorging und das zur Kenntnis
genommen werden musste. Für die Genetik verbarg sich darin aber ein Raum
neuer Probleme, von dem aus „das Spiel des Möglichen“72 entfaltet werden
konnte. Das „neue Problem“, das Kühn in dem Ergebnis erblickte, war letztlich
nicht mit der Lebensschwächung sondern mit der „vielseitigen Wirkung mutier67
Hier und nachfolgend: 29.12.1933, Kühn an Prof. Stuchtey, Notgemeinschaft (BA Ko, R 73,
159)
68
Zu den Kommissionsmitgliedern siehe Seite 229, Fußn.
69
4.12.1934, Kühn an die Notgemeinschaft (BA Ko, R 73, 12475: Seite 5 v. 9)
70
Hier u. nachfolgend, o.D., [Kühn]: „Entwurf [...]“ (BA Ko, R 73, 12475: S. 9 v. 12) (s. Anm. 43)
71
o.D., [Kühn]: „Entwurf [...]“ (BA Ko, R 73, 12475: Seite 2-3 v. 12) (s. Anm. 43)
72
Rheinberger & Hagner 1997: 23
179
ter Gene auf die Vitalität“ verbunden.73 Kühn und andere Genetiker hatten begonnen, danach zu fragen, wie Erbfaktoren die Entwicklung eines Merkmals
beeinflussen. Die vielseitige Wirkung von Erbfaktoren konnte vielleicht einen
ersten Zugang zu diesem – entwicklungsphysiologischen – Problem ermöglichen.74
4.2.2.1 Konstitution und Konzepte der Genwirkung
Das Problem der variablen Genmanifestierung stand im Zentrum des Interesses
der beiden führenden deutschen Zentren in der mendelschen Vererbungslehre,
Göttingen und Berlin. Beide hatten erkannt, dass Umbrüche in der bisherigen
mendelschen Theorie nicht zu vermeiden waren, und die Frage war, wie groß
dabei der Gewinn sein würde. Die genetische, insbesondere die strahlengenetische Forschung hatte Ergebnisse angehäuft, deren genauer theoretischer Gehalt noch nicht geklärt war. Die Frage war, in welche Richtung die Forschung in
den einzelnen Laboren weitergehen sollte, um die experimentell unterdeterminierte konzeptuelle Matrix mit den neuerlichen Befunden zusammen zu bringen
und in das mendelgenetische Gebäude zu integrieren.
Auf der Frankfurter Wissenschaftlichen Woche, die nur wenige Wochen nach
der erwähnten Kommissionssitzung stattfand, berichteten Kühn und TimoféeffRessovsky75 über den Stand der Genetik. Sie traten als Exponenten einer im
Wesentlichen auf den Grundannahmen der mendelschen Genetik operierenden
Vererbungsforschung auf und verfochten einen sehr ähnlichen Standpunkt.76
Beide fokussierten auf das Problem, wie Gene und Merkmale im „Wirkungsgetriebe der Gene“77 miteinander verknüpft sind. Timoféeff verstand die Strahlengenetik als eine Vorstufe zu einer genetischen Entwicklungsphysiologie, da sie
73
29.12.1933, Kühn an Dr. Stuchtey (BA Ko, R 73, 12475: Seite 2 v. 3) (Herv. Verf.)
Dann musste aber zunächst nachgewiesen werden, dass tatsächlich von demselben Gen
verschiedene Wirkungen ausgehen konnten. In Transplantationsversuchen zeigte Kühns Doktorand Ernst Caspari, dass ein einziger Wirkstoff und damit eine Mutation allein verschiedenste
Pigmentierungsveränderungen hervorrufen konnten (vgl. Rheinberger 2001: 547ff.).
75
Der Drosophilagenetiker Timoféeff-Ressovsky hatte in Moskau bei dem Zoologen Sergej Sergeevič Četverikov gearbeitet. Četverikov, Leiter der genetischen Abteilung des 1921 gegründeten Instituts für Experimentalbiologie, bearbeitete Probleme des Zusammenhangs von Evolutionstheorie und Genetik mit variationsstatistischen Methoden. Diese Untersuchungen brachten
die Wechselwirkung von Genen zum Vorschein. Aus diesem Hintergrund kommend kam T.
1925 nach Berlin an das KWI für Hirnforschung. T. arbeitete hier weiter zur variablen Genmanifestierung. (Vgl. Jahn 1990: 466; Satzinger 1998: 248; Satzinger & Vogt 2001: 451.)
76
Auf der breitenwirksamen Frankfurter Tagung waren nicht-mendelsche vererbungswissenschaftliche Forschungsansätze weniger stark vertreten. Auf der einen Seite: Gerhard Heberer
(Die Chromosomentheorie der Vererbung), Alfred Kühn (Vererbung und Entwicklungsphysiologie), Hans Stubbe (Probleme der Mutationsforschung), Timoféeff-Ressovsky (Verknüpfung von
Gen und Außenmerkmal), Rudolf von Sengbusch (Über Erfolge auf dem Gebiete der Züchtung
landwirtschaftlicher Nutzpflanzen), Karl Laubenheimer (Fortschritte in der Blutgruppenlehre ...);
zum anderen: Fritz von Wettstein (Über plasmatische Vererbung und das Zusammenwirken von
Genen und Plasma), Max Hartmann (Allgemeine Theorie der Sexualität). – Allerdings heißt die
hier gemachte Aufteilung nicht, dass sich die Auffassungen über eine vollständige genetische
Theorie nicht überschnitten oder deckten. So befanden sich Kühn und v. Wettstein in enger
Übereinstimmung. (Kühn zitierte Wettstein mit den Worten: „[...] alles wird von mendelnden
Genen beeinflußt“, vgl. Kühn 1935b: 43). Umgekehrt erkannte Kühn ohne weiteres die Rolle
des Plasmas im Vererbungsgeschehen an (vgl. zum Beispiel Kühn 1935a: 50ff.).
77
Vgl. Aussprachebemerkung Kühns in Timoféeff-Ressovsky 1935b: 117.
74
180
ermögliche, die Vielfältigkeit dieser Verknüpfungen aufzuzeigen und zu protokollieren.78
Kühn hatte hingegen bereits diese „Phänomenologie der Genmanifestierung“
(T.-R.) zur Physiologie hin überschritten. In seinem Vortrag umriss er nicht mehr
und nicht weniger als eine integrierte Theorie der Genwirkung. An die Spitze
stellte Kühn die Konstitution – ein Begriff, der im engeren Kontext der mendelschen Genetik ohne Verwendung war und gemieden wurde. Kühn stellte damit
klar, dass es ihm um das ganze Individuum ging. Mit „Konstitution“ dürfe nicht
mehr „das Ererbte schlechthin“ bezeichnet werden, wie das vielfach noch geschehe. Kühns Konstitutionsbegriff war relativ und reaktiv; die Konstitution war
zwischen Erbe, Umwelt und Anpassung geschaltet.79 Kühns Definition der Konstitution war integrativ, da er erbliche und nicht-erbliche Bedingungen zusammenwirken ließ. Und sie war dynamisch, da die Konstitution sich im Verlauf
eines Lebens herausbildete und verändern konnte: „Die Konstitution eines jeden Einzelwesens wird in der individuellen Lebensgeschichte geschaffen durch
die aufeinander folgenden Entwicklungsreaktionen auf die Umwelt nach der
erblich festgelegten Reaktionsnorm.“80 Die Gene bewirkten demnach nicht ein
Merkmal in einer starren und festgelegten Weise, sondern gaben nur die Art
vor, wie die Zellen auf bestimmte Entwicklungsreize reagierten.81 Wenn sich die
Gene auch in der Weitergabe von Generation zu Generation als selbstständige
und substituierbare Einheiten darstellten, die verteilt und neu kombiniert werden
können, so waren sie in der Wirkung auf eine Zelle doch ganz unselbstständig.
Es laufen keine „Reaktionsketten von Einzelgenen zu Einzelmerkmalen“ unabhängig nebeneinander her.82 Diese „harmonische Organisation“ eines Wesens
auf Grund der „Gesamtheit der Genwirkungen und Plasmareaktionen“83 verdeutlichte Kühn programmatisch, indem er neue Begriffe, wie „Getriebe“, „Gefüge“ und „System“, bemühte.84 Bis in die Worte folgte Timoféeff-Ressovsky Kühn
darin, dass nicht einzelne unabhängige Reaktionsketten zu einem Merkmal führen würden, sondern „jedes Gen am gesamten Entwicklungsvorgang beteiligt
ist“.85
Die Verwirklichung eines Merkmals konnte aus dieser Sicht nur als die Wirkung eines Gemischs von Kausalitäten gefasst werden. Es kristallisierte sich
78
Nach Timoféeff-Ressovsky hatte die Phänogenetik zwei Aufgaben. In der „Phänomenologie
der Genmanifestierung“ ging es um das „Herausgliedern und die Klassifikation der allgemeinen
Erscheinungen auf dem ungeheuer mannigfaltigen und variablen Gebiet der Manifestation verschiedenster Erbmerkmale“. Dies sei „die Vorstufe zu einer genetischen Entwicklungsphysiologie“, der „kausal-analytischen, entwicklungsphysiologischen Seite der Phänogenetik“ (vgl.
Timoféeff-Ressovsky 1935b: 92).
79
Hierzu und zur „Reaktionsnorm“, vgl. auch 2.2.2. Kühn verstand die Konstitution nicht nur relativ hinsichtlich der Wirkung des Erblichen in seiner Reaktionsfähigkeit auf die Umwelt, sondern auch ihre Angepasstheit in Abhängigkeit von der Umwelt. „Der biologische Wert [oder die
Anpassung] einer Mutationsrasse, d.h. der Betrag, um den ihre Lebenseignung gegenüber der
Ausgangsrasse verändert ist, hängt von den Außenbedingungen ab“ (Kühn 1935b: 48).
80
Kühn 1935b: 38
81
Vgl. Kühn 1935b: 38.
82
Vgl. Kühn 1935b: 42.
83
Kühn 1935b: 47
84
Zu Getriebe, vgl Kühn 1935b: 47; zu Gefüge, vgl. Kühn 1935b: 42; zu System, vgl. Kühn
1935b: 42.
85
Timoféeff-Ressovsky 1935b: 111
181
also ein konzeptueller Rahmen der Entwicklungsphysiologie heraus, in dem
kaum noch von der Ursache gesprochen werden konnte. Auf der einen Seite
gäbe es zwar „Gene, die sich unter allen praktisch und experimentell vorkommenden Bedingungen gleich und konstant manifestieren; auf der anderen Seite
kommen wir über verschiedene Stufen der variablen Genmanifestation sozusagen an ‚die Grenze der Erblichkeit’“.86 Durch diese multikonditionale Konzeption der Erblichkeit entstand eine Distanz zur Praxis der bisherigen Mendelgenetik, in deren Studien über den Mechanismus der Vererbung meistens nur
die „deutlich und konstant sich manifestierenden Mutationen benutzt“ worden
waren.87
Es bot sich an, die Nähe zu anderen Konzepten zu suchen. Kühn wies darauf hin, dass die entwicklungsphysiologische Betrachtung des Vererbungsproblems eine „enge Beziehung zur Konstitutionslehre“ habe,88 ja, dass das Ziel
der Genetik damit die „Gesamtkonstitution“ sei.89 Die Verzahnung von Umweltwirkung und Genotyp in der Modifikationswirkung mündete in der ‚feindlichen
Übernahme’ des Begriffs der Ganzheit, ein Schlagwort, das oft in Opposition
zum naturwissenschaftlich-experimentellen Verständnis des Organismus im
Gebrauch war.90 „Wir müssen also die Beziehung zwischen einem Gen und
einem Außenmerkmal als Zusammenwirkung einer genbedingten Modifikation
des Entwicklungsvorganges mit einem bestimmten genotypischen, äußeren und
inneren Milieu vorstellen, in einem Entwicklungssystem, dessen alle Elemente
von dem Gesamtgenotypus kontrolliert werden. Wir kommen auf diese Weise
zu einer modernisierten und genetisch fundierten Ganzheitsauffassung des Organismus.“91 ‚Feindlich’ war diese Umschreibung in dem Sinn, als die Ganzheitsauffassung letztlich immer wieder auf eine genzentrierte Sichtweise zurückgewendet wurde.92
86
Timoféeff-Ressovsky 1935b: 102
Timoféeff-Ressovsky 1935b: 101
88
Aussprachebemerkung Kühns zit. in Timoféeff-Ressovsky 1935b: 117 – Tatsächlich war im
Schrifttum der Konstitutionslehre und Konstitutionspathologie ein multifunktionelles Denken verbreitet (vgl. von Engelhardt 1985: 39). Besonders wirksam war die Position des Kochschülers
Ferdinand Hueppe, der Prädisposition, Reiz und äußere Bedingungen im Krankheitsgeschehen
verband (vgl. Baader 1990: 5-8; Stöckel 1996: 18ff. u. 44-48). Der einflussreiche Ansatz von
Friedrich Martius (und seines Schülers Julius Bauer) zeigt aber, dass ein multifaktorieller Beschreibungsansatz nichts über die Wertigkeit der ätiologischen Faktoren aussagte. Martius hielt
die erbliche Anlage für ausschlaggebend. Die meisten Vertreter hielten an einem strikten Ursachenbegriff fest. – Als eine „Gegenbewegung“ (Meinertz 1920: 104) gegen Bakteriologie und
Zellularpathologie gewandt verband sich die Konstitutionslehre und speziell -pathologie ihrerseits häufig mit Erblehre, Rassenbiologie und Erbpathologie.
89
Kühn 1935b: 48 – Diese weit gefasste Konzeptualisierung der Entwicklung mag im Zusammenhang mit Kühns Versuch der Grundlegung einer „generellen Biologie“ (zus. m. dem Göttinger Botaniker Fritz v. Wettstein) gestanden haben (vgl. Rheinberger 2001: 537).
90
Vgl. Hau 2000: 500-01.
91
Timoféeff-Ressovsky 1935b: 112 – Diese multifaktorielle Auffassung von dem Verknüpfungsverhältnis zwischen Gen und Merkmal wurden von Timoféeff-Ressovsky in Zusammenarbeit mit
Oscar Vogt auch auf die menschliche Erbpathologie übertragen. – Der Physiologe Otto Koehler
rekurrierte zum Beispiel auf Kühn und T. und betonte die vorbildliche Exaktheit des Mendelismus als Grundlage für einen „biologische[n] Ganzheitsbegriff“ (Koehler 1935: 1297-98).
92
Timoféeff-Ressovsky entwarf 1934 ein Schema, das die hypothetische Vorstellung über die
Genmanifestierung zusammenfasste. Die Hierarchie der Darstellung, die Unterscheidung eines
„Hauptgens“ und die Abwertung anderer Einflüsse als „Milieu“ ließen die Ganzheit im Licht einer
genzentrierten Interpretation erscheinen (Timoféeff-Ressovsky 1934c: 100) Die Ganzheitskon87
182
4.2.2.2 Variable Phänomene und neue experimentelle Optionen
So weit die Konzepte der ‚Genetik-im-Umbruch’ eine Destruktion der einfachen
und determinierenden Beziehung zwischen Erbfaktoren und Merkmalen in der
Transmissionsgenetik beinhalteten, handelte es sich doch nur um eine hypothetische „Zusammenfassung unserer Erfahrung über die Variabilität der Manifestationsphänomene“.93 Der Hinweis auf die variablen Phänomene lenkt aber nun
unsere Aufmerksamkeit weiter in Richtung der genetischen Experimentalsysteme.
„Variabilität“ meinte alle die Beziehungen zwischen Gen und Merkmal, die
nicht den einfachen mendelschen Erwartungen folgten. Die Liste der Ausnahmeerscheinungen wurde immer länger und forderte konzeptuelle Versuche heraus, sie hypothetisch unter einen Hut zu bekommen. Es war zum Beispiel deutlich geworden, dass es „ein seltener Sonderfall“ (Kühn) war, wenn ein Gen sich
nur in der Ausbildung eines Merkmals auswirkte, wie Kühn in seinen Ephestiaexperimenten nachvollziehen konnte. Bei jedem Organismus, der einigermaßen
gründlich untersucht wurde, tauchten solche „pleiotrope Gene“ auf.94 Das Wildfarbenkleid zahlreicher Säugetiere bildete umgekehrt ein Beispiel dafür, dass
ein Merkmal nie nur durch ein einziges, sondern eine ganze Reihe von Genen
beeinflusst wurde.95 Mit den Konzepten der Pleiotropie und Polygenie gelang
es, die aus der Sicht der mendelschen Erwartungen unregelmäßigen Erscheinungen der Merkmalsmanifestierung als das Zusammenspiel mehrerer mendelscher Erbfaktoren darzustellen. Nach Kühn konnte neben der Wirkung verschiedener nebeneinander stehender „Hauptgene“ die modifizierende und unspezifische Wirkung von vielen Modifikationsgenen unterschieden werden. Diese bildeten das genotypische Milieu.96 Es ergab sich das Bild, dass jedes Merkmal durch zahlreiche Modifikationsgene mit beeinflusst und jedes Gen wahrscheinlich modifizierend an der gesamten Entwicklung beteiligt sein musste.97
Wenn Timoféeff-Ressovsky davon sprach, dass sich diese Unterscheidung
der Manifestationsphänomene „bestätigt und bewährt“ hätte,98 so gab es natürlich einen Bezugspunkt der Bewährung. Dieser war die Integration der variablen, insbesondere quantitativen Merkmale in den Bereich der mendelschen
zeption der Entwicklungsphysiologie beinhaltete genug Interpretationsraum, der zum Teil auch
gezielt eingesetzt worden sein mag, wie in Kühns Beitrag zu Heinz Wolterecks Einführung in
„Erbkunde – Rassenpflege – Bevölkerungspolitik“ von 1935: „In letzter Linie werden alle Abwandlungen vom Erbgut bestimmt [...]“ (Kühn 1935a: 23). F. Krönings Konzeption der Entstehung und Erblichkeit der Krebserkrankung wirkt wie eine direkte Anwendung Kühns allgemeinen Überlegungen. Die Konstitution gerann ihm aber zur „genetischen Konstitution“, die sich
sogar in mendelschen Erbformeln ausdrücken lässt (Kröning 1935b: 153).
93
Timoféeff-Ressovsky 1934c: 101
94
Vgl. Timoféeff-Ressovsky 1935b: 97-98. – Der Begriff der Pleiotropie wurde, T. folgend, von
Ludwig Plate geprägt.
95
Vgl. Kühn 1935b: 41-42.
96
Vgl. Kühn 1935b: 42. – Der Begriff „genotypisches Milieu“ war von Sergej S. Četverikov im
Zusammenhang der Moskauer merkmalsstatistischen Untersuchungen an Drosophila
eingeführt und von Timoféeff-Ressovsky übernommen worden (vgl. Jahn 1990: 406).
97
Vgl. Timoféeff-Ressovsky 1935b: 111. T. argumentierte, dass man sonst zu irrsinnig hohen
Genzahlen kommen würde. – Diesen Unterscheidungen war bereits die von stärker empirisch
abgesicherten Konzepten vorausgegangen (siehe Fußn. 101).
98
Timoféeff-Ressovsky 1934c: 88
183
Genetik.99 Der Gewinn der Integration neuer Merkmalsbereiche in den mendelgenetischen Zuständigkeitsbereich hatte aber auch einen Preis. Die Variabilisierung der Merkmale wirkte auf die mendelschen Konzepte zurück. Die ehemals binäre Unterscheidung in dominant oder rezessiv manifestierende Gene
beispielsweise wurde durch die Beobachtung quantitativer und kontinuierlicher
Manifestationsunterschiede in Frage gestellt und war auch Gegenstand Kühns
Bericht vor der Röntgenkommission.100 Die Beziehung zwischen Dominanz
oder Rezessivität eines Gens und seiner Penetranz und Expressivität war ungeklärt.101 Es schien aber klar, dass „in den allermeisten Fällen irgendein Grad
von unvollkommenen Dominanzverhältnissen vorliegt“.102 Die Voraussetzung
aber, jene Unterscheidungen in der Genmanifestierung zu treffen, so lässt sich
schon andeuten, war, dass experimentell immer feinere Einflüsse auf die Ausprägung eines Merkmals unterscheidbar wurden.
Die deutsche Genetik befand sich also um 1930 in einer theoretisch produktiven Phase. In Deutschland bestand ein stärkerer Druck zu einer Integration von
Vererbungsanalyse und Entwicklungsphysiologie als beispielsweise in den Vereinigten Staaten.103 Durch experimentelle Anomalien herausgefordert, wurden
Begriffe eingeführt und theoretische Modelle versucht, die den Weg in Richtung
einer integrativen Theorie der Genwirkung wiesen. Diese hypothetischen Überlegungen eröffneten einer experimentell offenen Forschung Möglichkeiten.
Kühns Experimentalkomplex war Anfang der dreißiger Jahre wenig festgelegt;
physiologische und entwicklungsbiologische Themen standen neben vererbungswissenschaftlichen.104 Timoféeff-Ressovsky bemerkte, dass die hypothetischen Vorstellungen zur Genmanifestierung „einen gewissen Wert“ hätten,
da gerade jene bei der „erst einsetzenden kausalen entwicklungsphysiologi-
99
Vgl. Satzinger 1998: 292; Balaban 1998: 337. Die „phänomenologischen“ Konzepte machten
die Merkmale, die sich nicht ohne weiteres den Vererbungsregeln unterordneten, der mendelschen Analyse zugänglich. Die eigentliche Analyse blieb aber aufgeschoben, da in originär
mendelschen Termen der Genotyp nicht weiter differenziert werden konnte.
100
Vgl. o.D., [Kühn]: „Entwurf [...]“ (BA Ko, R 73, 12475: Seite 2-3 v. 12) (s. Anm. 43)
101
Timoféeff-Ressovsky hatte 1925 Ergebnisse von Versuchen an der Fruchtfliege Drosophila
funebris veröffentlicht, nach denen die Variation von Merkmalen qualitativ zu unterteilen war:
die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Merkmal überhaupt auftritt (Manifestationswahrscheinlichkeit
oder Penetranz), der Ausprägungsgrad oder Expressivität des Merkmals, seine Spezifität (Lokalisation, Ausdehnung oder Musterung) und die Symmetrie der Ausprägung. (Vgl. TimoféeffRessovsky 1935b: 103-10 u. Timoféeff-Ressovsky 1934c: 88.) Die Unterscheidungen machte T.
nach seinen Angaben (vgl. Timoféeff-Ressovsky 1934c: 54) erstmals in der Veröffentlichung:
Timoféeff-Ressovsky 1925, auch erschienen als Timoféeff-Ressovsky 1927. Allerdings wird hier
noch keiner der späteren Begriffe benutzt, sondern vom „degree of phenotypic manifestation“
und Ähnlichem gesprochen. Die Begriffe wurden erst in Berlin zusammen mit Oscar Vogt
geprägt (vgl. Satzinger & Vogt 2001: 451).
102
Timoféeff-Ressovsky 1935b: 93 – Der Zweifel am Konzept der Dominanz resp. Rezessivität
war verbreitet: „Die Frage, ob Krebs dominant oder rezessiv vererbt wird, hat demgegenüber
wenig Interesse, nachdem erkannt ist, daß Dominanz und Rezessivität Spezialfälle hundertprozentiger Manifestation sind, die Manifestation bei den meisten Genen aber zwischen 0 und 100
% liegt“ (Kröning 1935b: 156; zum anders gearteten anglosächsischen Kontext, vgl. auch Falk
2001). – Die Verflüssigung des Dominanzkonzepts bildete ein Element im Aufbruch in der
Genetik Anfang der dreißiger Jahre und floss auch in einen neuen Ansatz zur Genanalyse in
der menschlichen Erblehre ein (vgl. v.Verschuer 1934: 766; siehe 7, Seite 329.
103
Vgl. Rheinberger 2001: 542.
104
Vgl. Rheinberger 2001: 544.
184
schen Analyse der Genmanifestierung von vornherein in Betracht gezogen werden“ müssten.105
4.2.3 Vitalität und das Experimentalsystem der genetischen
Entwicklungsphysiologie
In einem nächsten Schritt soll nun verdeutlicht werden, welche Auswirkung der
Topos der Variabilität auf das Forschungsinteresse und auf das vererbungswissenschaftliche Experimentalsystem hatte. Was waren die bevorzugten Gegenstände der Variabilitätsforschung, was waren ihre Fragen und was war das geeignete experimentelle System für Phänomene der variablen Genmanifestierung? Die Variabilität wird sich als Transmissionsriemen darstellen, der verschiedene Experimentalsysteme in einander übersetzte und den Forschungsinteressen in verschiedenen biologischen und ‚biomedizinischen’ Forschungskontexten experimentelle Wege eröffnete. Die Aufmerksamkeit spitzte sich dabei
kurzzeitig auf einen Aspekt des ‚variablen Organismus’ zu, der besonders gut
verschiedene Forschungsinteressen, insbesondere die der Strahlenkommission, repräsentieren konnte: den lebensschwachen Organismus. Die Versuchstierzuchten der Notgemeinschaft bildeten einen hervorragenden experimentellen Unterbau für dieses Interesse an der Variabilität, wie die Forschungen
Friedrich Krönings zeigen.
4.2.3.1 „Lebenseignung“ und Konjunkturen in der biologischen Wissenschaft
Die Wirkung von Mutationen sei auf den ersten Blick, so Kühn, morphologisch
nicht besonders vielseitig, was dazu geführt habe, dass immer nur einfache Beziehungen zwischen Genen und auffälligen Merkmalen angenommen worden
waren. Es kämen aber fast immer weitere „Nebenmerkmale“ vor. Dies wären oft
quantitative Veränderungen von Körperproportionen und vor allem physiologische Eigenschaften.106 Kühn und sein Mitarbeiter Karl Henke berichteten,
dass alle Mutationen, die bei der Mehlmotte Ephestia aufgetreten waren, auch
die Lebensfähigkeit der Motten beeinflussten; Timoféeff-Ressovsky sah dies in
Bezug auf Drosophila ganz genauso.107 In Göttingen und Berlin war man sich
einig, dass Mutationen in der Regel in lebenswichtige Entwicklungsvorgänge
hineinwirkten und fast alle Mutationen die Vitalität der Mutanten senkten.108 Vor
dem Hintergrund der Annahmen über das verschachtelte Zusammenwirken
aller Gene in „der harmonischen Organisation“ (Kühn) „hochgradig differenzierter und angepaßter Organismen“ (P. Hertwig) war es plausibel, davon aus-
105
Timoféeff-Ressovsky 1934c: 101-02
Ein typisches Beispiel hierfür war die pleiotrope Wirkung der vestigal-Mutation bei Drosophila. Im Äußeren fielen die Fliegen durch ihre Stümmelflügeligkeit auf. Physiologisch bewirkte die
Mutation, dass die Fliegen eine durchschnittlich verkürzte Lebensdauer hatten (vgl. TimoféeffRessovsky 1935b: 98-99).
107
Vgl. Kühn 1935b: 47; Timoféeff-Ressovsky 1935b: 98 mit Bezug auf Kühn & Henke 1932,
Timoféeff-Ressovsky 1934a u. Timoféeff-Ressovsky 1934d.
108
Vgl. Vogt & Vogt 1930: 572 (V. & V. beziehen sich auf eine eigene Schrift von 1926); Stubbe
1935b: 86; Timoféeff-Ressovsky 1934d: 339; Kühn 1935a: 75.
106
185
zugehen, dass die Mutationswirkung in der Regel in einer Störung der fein abgestimmten Entwicklung und Organisation des Organismus bestand.109
Die Bedeutung mendelscher Erbfaktoren wurde allerdings durch diesen Befund unmittelbar aufgewertet. Bislang war nämlich immer wieder die Auffassung
vertreten worden, dass die mendelschen Erbfaktoren nur äußerliche, unwichtigere Merkmale oder vielleicht noch „Rassenmerkmale“ beeinflussten, die lebenswichtigen Bedingungen eines Lebewesens aber nicht durch einzelne Erbfaktoren bedingt sein konnten.110 Mutationen dieser Erbanlagen konnten folglich
nicht wesentliche Funktionen eines Lebewesens treffen. „Diese Vorstellung, die
sehr leicht bei jedem entsteht, der unsere Bilder sieht und unsere Abhandlungen durchblättert, ist nicht richtig. Die erwähnten Merkmale sind nur die leicht
erkennbaren, und daher für die mendelistische Statistik gut verwertbaren morphologischen Anzeichen von Veränderungen der Gesamtorganisation.“111 Mullers Strahlenexperimente an Drosophila hatten allerdings gezeigt, dass Mutationen vielfach zu letalen Veränderungen führen – ein „zwingende[r] Beweis, daß
die Gene nicht nur untergeordnete Rassenunterschiede, sondern auch grundlegende Eigenschaften der Organisation bestimmen [...]“.112 Die milderen Formen
der letalen Wirkung äußerten sich in jenen Mutationen, deren physiologische
Wirkung nur schwach war und die als messbare Veränderung der „Vitalität“
oder Lebenseignung eines Organismus charakterisiert werden konnten. Es ließ
sich eine „ganze Skala von morphologischen und physiologischen Übergängen
von „großen“ bis ganz „kleinen“ Mutationen“ aufstellen. Die unscheinbaren
Merkmale der „’kleinen’ physiologischen Mutationen“ mussten gesucht, gemessen oder mit neuen Messprozeduren erst ‚erfunden’ werden. Die morphologischen und gut sichtbaren Merkmalsabweichungen waren bislang nur deswegen
hervorgetreten, weil sie „als Mittel der Verteilungs- und Lokalisationsforschung“
gedient hatten.113
Die Unauffälligkeit der „kleinen Mutationen“ ließ erwarten, dass sie mit größerer Häufigkeit auftraten, als bislang angenommen worden war, häufiger vielleicht, als alle anderen Mutationen.114 Die kleinen und physiologischen Mutationen waren die ‚Späher’ der mendelschen Genetik im Reich der Physiologie. In
der „Lebenseignung“ fiel das Neue, mit dem die mendelsche Genetik nun umging, zusammen: variable, multiple, physiologische Wirkungen. Diese neuen
Attribute der mendelschen Faktoren konnten in unterschiedlicher Form in genetische und medizinische Forschungskontexte eingespannt zu werden. Die Lebenseignung als konkreter und exemplifizierender Gegenstand der Variabilität
war ein mehrfach aufgeladenes Sujet mit fließenden Grenzen. Forschungs- und
109
Vgl. Timoféeff-Ressovsky 1935b: 98-99. – Baur allerdings ging 1930 in seiner „Einführung in
die Vererbungslehre“ noch davon aus, dass die kleinen Mutationen wesentlich nicht pathologischer Art sind und wahrscheinlich das Material bereitstellen, „mit dem im Evolutionsprozess die
natürliche Zuchtwahl arbeitet“ (vgl. Baur 1930b: 323-24).
110
Vgl. Nachtsheim 1922f; Vogt & Vogt 1930: 558.
111
Hertwig 1932b: 661
112
Kühn 1935b: 43; vgl. auch Kühn 1935a: 75.
113
Kühn 1934: 218
114
Vgl. Stubbe 1935b: 86; Kühn 1934: 221; Timoféeff-Ressovsky 1934a: 164. Durch die Forschungen an Drosophila wusste man seit Anfang der zwanziger Jahre, dass neben den auffäl-
186
politische Interessen ließen sich über dieses Gelenk ineinander übersetzen. Die
Vitalität trat in diesem Sinne als Teil der ‚neuen’ Breitenwirksamkeit der Mutationen und der Mutationsforschung auf, durch die verschiedenste wissenschaftliche Disziplinen mit einander verbunden wurden.115 Bisher „getrennte Forschungsgebiete, wie Genetik, Entwicklungsphysiologie, Biogeographie und
Feinsystematik“ seien schon in engere Verbindung gebracht worden.116 Zugleich gewinne „die reiner Erkenntnis zustrebende Genetik auch neue, enge
Beziehungen zum praktischen Leben: Züchtungskunde, medizinische Konstitutionsforschung, Vererbungspathologie und Rassenhygiene nehmen an den Fragen der Genwirkung und der Genveränderung gleichermaßen Anteil“.117 Auf
einige dieser Verbindungen und Kontexte soll wegen ihrer Relevanz kurz aufmerksam gemacht werden, bevor die Versuchstierzucht und die Forschung zu
variablen, physiologischen Merkmalen wieder unser Augenmerk erlangt.
Auf dem Zusammentreffen der Röntgenkommission wurden die Mutationswirkung, die Lebenseignung und das eugenische Strahlenproblem verkoppelt.
Die Enthüllung Kühns über die pleiotrope und subtile vitalitätssenkende Wirkung der Strahlenmutationen – als „’Modellversuche’ an Insekten“ verstanden –
ließen aufhorchen, da sie „für die Experimente an Säugetieren wichtige Hinweise” gäben.118 Der Gynäkologe Heinrich Martius, ebenfalls Kommissionsmitglied,
griff den Hinweis Kühns sogleich auf, um die warnende Position vor der Wirkung der Röntgenstrahlen zu stärken; denn seine Vermutung war schon lange,
dass bei der ganzen Frage zu wenig auf eine „mangelhafte Vitalität und eine
etwaige spätere Unfruchtbarkeit der Röntgenkinder“ geachtet wurde.119 Die Befürworter der Anwendung von Röntgenstrahlen hatten aus langen Listen klinischer Beobachtungen sorgfältig eine praktische Evidenz gegen die Möglichkeit
der Erbschädigung aufgemauert. Diese Mauer zerbröselte, da auch mit Erbschädigungen zu rechnen war, „wenn eine grobe Anomalie gar nicht erscheint“.120 Die üblichen klinischen Untersuchungen waren demnach ungeeignet, die feinen physiologischen Veränderungen überhaupt wahrzunehmen.
Die Vitalität und ihre Veränderung in kleinen Abstufungen taugten dazu, die
eugenische Bedeutung der Frage um die erbschädigende Wirkung der Röntgenstrahlen zu dramatisieren. Zugleich bekam die theoretische Grundlegung
der Eugenik neuen Zündstoff, da ein neuer, flexibler Gegner auftauchte: kleine
Mutationen, die sich kaum wahrnehmbar im Volk vermehren und zu einer zunehmenden erblichen Degeneration führen.121 Ganz in diese Richtung warnte
ligen Veränderungen kleine morphologische Merkmalsabweichungen in allen Abstufungen vorkamen, und die „kleinen“ Mutationen schienen häufiger zu sein als die „großen“ (ebd.: 163).
115
Hierzu und zur Bedeutung der Mutationsforschung, siehe 2.2.2.
116
Kühn 1934: 227
117
Kühn 1934: 218
118
o.D., (vermutl. Kühn): „Entwurf [...]“ (BA Ko, R 73, 12475: Seite 9-10 v. 12) (s. Anm. 70)
119
Martius 1931: 52
120
Martius 1934: 789
121
Roth spricht von dieser spezifischen Tendenz der mendelschen Genetik in der Anwendung
auf die Eugenik als „Neo-Eugenik“ (vgl. Roth 1986: 34 u. 39). – Auch außerhalb Deutschlands
wurde die Argumentation auf diese Weise geführt. H. J. Muller hob hervor, dass „the fact of a
genetic effect of radiation and its danger to man” den „medical man“ interessieren sollte. Die
Forschung sollte sich auf die Frequenz der kleinen, ‚unsichtbaren’ Mutationen konzentrieren,
187
Timoféeff-Ressovsky auf der erwähnten Kommissionssitzung, dass vom „rassenhygienischen Standpunkt“ die kleinen, vitalitätssenkenden Mutationen besonders unerwünscht seien, da sie eine erbliche Konstitutionsschwäche hervorriefen, „die zu gering ist, um durch raschen Tod sich selbst von der weiteren
Vermehrung auszuschließen und keine groben und deutlichen pathologischen
Merkmale zeigen, an denen man sie leicht erkennen könnte“.122
Die neuen Vererbungsbegriffe ließen sich auch auf die Grundlagen der
Medizin durchdeklinieren; denn gerade die „krankhaften Merkmale“ des Menschen galten als sehr variabel.123 Die menschliche Erbforschung werde, so
Timoféeff, in Zukunft bei Beachtung der variablen Genmanifestierung viel Aufschluss über den Einfluss der „erblichen Gesamtkonstitution“ auf die Manifestierung einzelner Erbkrankheiten liefern und so zu einer wesentlichen Vertiefung
der Ätiologie der Erbkrankheiten führen. So sei die Suche nach „pleiotroper
Manifestierung krankhafter Erbfaktoren“ von größter Bedeutung für die Suche
nach Frühsymptomen sich spät im individuellen Leben manifestierender Krankheiten und der Suche nach Nebensymptomen, um ähnliche Krankheitsbilder
weiter zur trennen und „ätiologisch richtig“ zu klassifizieren.124 „Die Kenntnis
aller Faktoren, die die Variabilität der Erbkrankheiten beeinflussen, ist auch eine
Vorbedingung für eine zukünftige Therapie dieser Krankheiten, die noch sehr
lange neben rassenhygienischen Maßnahmen, die zur Ausrottung der Erbleiden
allmählich führen sollen, notwendig sein wird.“125
Auch in bezug auf die Evolutionslehre standen die „kleinen“, physiologischen
Mutationen im Rampenlicht. Anfang der dreißiger Jahre stellte sich die Frage,
welcher Form der Variabilität die größere Bedeutung im Evolutionsprozess zukam: der Neukombination schon vorhandener Erbanlagen oder der Mutation.
Mit den „Kleinmutationen“ schien ein Quell für „immer neues Auslesematerial“
aufgetan.126 Timoféeff-Ressovsky knüpfte die „Kleinmutationen“ ohne Umschweife an die Artbildung. Auf der Tagung der Vererbungswissenschaftler
1938 in Würzburg stellte er Makro- und Mikroevolution gegenüber und vertrat
die Auffassung, dass auch die Makroevolution durch kleine Mutationen erklärbar und deshalb mit Mitteln der experimentellen Genetik analysierbar sei.127
Spezielle Versuchsreihen zur Vitalität hätten beispielsweise gezeigt, dass auch
solche Gene, die anscheinend nur neutrale, an sich belanglose Merkmale hervorriefen, der Selektion unterliegen mussten, da sie in pleiotroper Weise auf die
Vitalität des Organismus einwirkten.128 „Somit liegt es also nahe anzunehmen,
daß diese besonders häufigen, ‚kleinen physiologischen Mutationen’ von der
die die „viability“ senken (vgl. 22.4.1934, Muller an Stubbe, BBAdW, Stubbe-Fonds; siehe auch
Seite 95. Muller hielt sich um 1930 für einige Zeit in Deutschland auf.
122
Timoféeff-Ressovsky in o.D., [Kühn]: „Entwurf [...]“ (BA Ko, R 73, 12475: Seite 5 v. 12) (s.
Anm. 43) Oder ähnlicher Lautwort in: Timoféeff-Ressovsky 1934a: 175.
123
Vgl. Timoféeff-Ressovsky 1935b: 113.
124
Timoféeff-Ressovsky 1935b: 113-14. Siehe zum Programm einer genetischen Ätiologie:
2.2.3 u. Seite 276.
125
Timoféeff-Ressovsky 1935b: 114
126
Stubbe 1935b: 86
127
Vgl. Jahn 1990: 467.
128
Vgl. Timoféeff-Ressovsky 1934d: 341.
188
natürlichen Auslese als Material für die Bildung von Ökotypen und Anpassungseigenschaften benutzt werden“.129
4.2.3.2 Experimentelle Entwicklungsphysiologie und „gute Merkmale“
Der kurze Rundblick im Umfeld der Strahlenkommission brachte eine Reihe
Probleme und Fragestellungen zutage, die sich an die variable Genmanifestierung, die physiologischen Mutationen und das variable und statistische Merkmal
der Vitalität knüpften. Der für die Versuchstierzuchten in Göttingen zentrale
Kontext wurde allerdings noch nicht erwähnt. Die Genetik war auf dem Sprung,
die Transmissionsgenetik in Richtung einer „entwicklungsphysiologischen Genetik“ hinter sich zu lassen.130 Die Frage, die sich einer Physiologie der Genexpression vor dem Hintergrund der multiplen Bedingung der Merkmale stellte,
war nicht mehr einfach, wie Gene Merkmale bewirken, sondern, wie „die Erbfaktoren zur Erzeugung der Konstitution des Einzelwesens“ zusammenwirken.131
Als Kühn die Vorgehensweise der entwicklungsphysiologischen Forschung
beschrieb, verschwieg er die entscheidende Neuerung, durch die sich das neue
Experimentalsystem vom alten mendelgenetischen unterschied. „Wie die einzelnen Erbanlagen in die Entwicklungsabläufe eingreifen, läßt sich nur dadurch ermitteln, daß bestimmte Anlagen durch andere ersetzt werden, während
der übrige Anlagenbestand gleich bleibt. Dies geschieht entweder durch Einkreuzung oder durch Abänderung von Erbanlagen. Solche ‚Genmutationen’ treten ohne erkennbare Ursache ‚spontan’ auf und können durch Außeneinflüsse,
vor allem Röntgenstrahlen, in ihrer Häufigkeit sehr gesteigert werden. Dadurch
wird der entwicklungsphysiologischen Erbforschung ein wichtiges Hilfsmittel
geboten.“132 So weit konnte es sich noch um ein konventionelles experimentelles Arrangement handeln. Bei der Analyse der Erblichkeit und der Modi der Vererbung wurden aber klar voneinander abgrenzbare Merkmale bevorzugt. Demzufolge waren in den transmissionsgenetischen Experimenten „gute“ und
„schlechte“ Mutationen unterschieden worden. Diese Einteilung drehte sich nun
unter dem genphysiologischen Interesse um. „In der experimentellen Genetik
werden für Versuche über Erbgang, Lokalisation der Gene und andere Studien
über den Mechanismus der Vererbung meistens nur die sogenannten ‚guten’,
also deutlich und konstant sich manifestierenden Mutationen benutzt. Diejenigen dagegen, die schwer faßbare, variable Merkmale erzeugen und sich
‚schlecht’ manifestieren, werden sehr oft nicht weitergeführt und in der Arbeit
129
Timoféeff-Ressovsky 1934a: 176 – Timoféeff-Ressovsky vertrat die Auffassung, dass der
Selektionswert der subtilen Unterschiede in der Lebenseignung relativ ist. Der Wert einer ‚Vitalitäts-Mutation’ hing vom genotypischen Milieu ab. T. zeigte, dass dieselbe Mutation abhängig
von der Umgebungstemperatur ganz verschiedene Überlebensvorteile bedingte (vgl. Stubbe
1935b: 89). – Kühn betonte in gleicher Weise die Bedeutung der Vitalitätsmutationen und der
experimentellen Genetik. Durch die geeignete Kombination physiologischer Mutationen könnten
„Kombinationsrassen“ entstehen, deren Lebenseignung größer ist, als die der Ausgangsrassen.
Experimentell-genetische Modellversuche zur Art- und Rassenprägung wären möglich (vgl.
3.9.1940, Kühn an DFG, in: BA Ko, R 73, 11227).
130
Kühn formulierte die „genetische Entwicklungsphysiologie“ als Forschungsprogramm (vgl.
Rheinberger 2001: 542-44; Harwood 1993: 49ff. u. 229ff.).
131
Kühn 1935b: 39
132
Kühn 1936: 617
189
nicht berücksichtigt. [...] Die ‚schlechten’, variabel sich manifestierenden Mutationen sind für die Studie über den Mechanismus des Erbganges unbequem, für
phänogenetische Zwecke bilden sie aber das interessanteste Material.“133
„Kleine oder schwach und variabel sich manifestierende Mutationen“ (Timoféeff-Ressovsky) und die entwicklungsphysiologische Fragestellung verknüpften
sich im Neuarrangieren des genetischen Experimentalsystems. Ein klares Determinationsverhältnis zwischen Erbanlage und Merkmal ist uninteressant,
wenn man herausfinden will, was passiert, wenn sich eine Erbanlage in einem
Merkmal manifestiert. „Um die Gesetze der Genverteilung und der Genlokalisation festzustellen, wählte man natürliche Fälle aus, in denen in ‚klassischer Weise’ ein bestimmtes, leicht feststellbares Merkmal möglichst für sich allein durch
ein einziges Gen bestimmt wird. Heute sind uns die verwickelteren Fälle viel
wichtiger, weil sie in die Frage des Wirkungsgetriebes der Gene hineinführen.“134 Die fugenlosen Beziehung zwischen der idealen mendelschen Erbanlage und dem von ihr determinierten Merkmal fehlte jeder Hinweis auf ein ‚Dazwischen’. Die variablen und undeterminierten Beziehungen zwischen Gen und
Merkmal und die Kenntnis ihrer „Phänomenologie“ (Timoféeff) sollten hingegen
einen Spalt öffnen. Sie waren die Bedingung für die Öffnung des entwicklungsphysiologischen Repräsentationsraums.
Der erste wichtige Schritt war also, die mannigfaltigen, variablen Beziehungen zu extrahieren, zu notieren und zu klassifizieren, um sie kontrollieren und
schließlich als Instrumente einzusetzen zu können. Die Unregelmäßigkeiten
und Lücken im mendelschen Erbgeschehen sagten dem mendelschen Genetiker, dass es einiger Anstrengung bedürfen würde, den Phänotyp in mehrere
Erbgänge aufzulösen. Anders der Entwicklungsbiologe: Die Unregelmäßigkeiten lenkten seine Aufmerksamkeit auf den Punkt, an dem die sonst so hermetisch und notwendig wirkende Reaktionskette vom Gen zum Merkmal aufgebrochen wurde: ‚Vielleicht gelingt es, experimentell die Ursache der Unregelmäßigkeit zu simulieren!’ Kühn versicherte, dass Einzelvorgänge der Entwicklung nur aufgespürt werden könnten, wenn der Experimentator in der Lage sei,
durch manipulierende Einflüsse die die opake Verfugung herstellenden determinierenden oder determinierten Vorgänge auszuschalten oder zu ersetzen.135
Der experimentelle Eingriff ist der Beginn, den Entwicklungsvorgang einzukreisen und festzulegen, das heißt, ihn in ein eigenes experimentelles Korsett zu
bringen.
An Kühns Institut wurde in verschiedener Weise an der Entwicklung solcher
Eingriffe gearbeitet. Kühn und seine Mitarbeiter kombinierten die Analyse der
genetischen Variation mit der Charakterisierung physiologischer Prozesse und
untersuchten die Variabilität der Pigmentierung bei verschiedenen Objekten.136
Entweder schuf der Experimentator die Bedingungen für eine abweichende
133
Timoféeff-Ressovsky 1935b: 101-02 – Die variablen Verhältnisse waren zum Beispiel ‚unbequem’, weil in ihnen Erbe und Umweltwirkung verschwammen: „Aufgabe des Züchters ist es,
die für ihn brauchbaren Mutationen zu erfassen [...] Die Kleinmutationen sind auch deshalb so
schwer zu erfassen, weil die Veränderungen sehr oft im Rahmen der milieubedingten Modifikationen liegen“ (Nachtsheim 1936d: 21).
134
Diskussionsbeitrag Kühns zit. in Timoféeff-Ressovsky 1935b: 117-18.
135
Vgl. Kühn 1935b: 46.
190
Entwicklung oder ihm kamen Mutationen ‚zur Hand’.137 Der kleine physiologische Eingriff der Mutation, die die Embryonalentwicklung an einem bestimmten
Zeitpunkt störte, führte zu einer Irregularität in dem sonst durch seine Regelmäßigkeit opaken Ablauf. Das irreguläre Sterben war ein Signal aus einer –
ehemaligen – Black Box, aus dem Inneren des Organismus. Die Irregularität
war Differenz. Kühn war deshalb die Entdeckung von außerordentlicher Wichtigkeit, dass seine Mehlmottenmutanten, die zunächst nur als „rotäugig“ aufgefallen waren, auch eine veränderte Vitalität hatten. „By means of such statistically significant, but fairley unspecific pleiotropic effects, he hoped to get an
experimental grasp on some features of the developmental physiology of the
mutant, in the hope that this knowledge would be instrumental in his efforts to
‘integrate’ transmission genetic analysis and developmental physiology.”138
Jede Mutation, die die Überlebenserwartung der Fliegen senkte, repräsentierte ein physiologisches Geheimnis: ein Riss im undifferenzierten ‚Dazwischen’. „Eine genaue Untersuchung der Entwicklung des Baues und der Leistungen der auf bestimmten Entwicklungsstufen absterbenden Embryonen mit
Letalgenen und auch der Träger von Genen, welche die Vitalität herabsetzen,
verspricht Aufschlüsse über die Vorgänge, welche die betreffenden Gene in der
Entwicklung bewirken.“139 Mutationen erzeugten auf einer fließenden Skala der
Beeinflussung der Vitalität ‚natürliche’ Irregularitäten in der Entwicklung, indem
sie auf die Natur der Entwicklung verwiesen; sie waren „Naturexperimente“ –
wie es auch hieß.
4.2.3.3 Experimentelle Bestimmung der Vitalität und Vitalitätsforschung an
Kühns Göttinger Institut
Das Interesse an den verborgenen Mutationswirkungen hatte seinen Preis, da
es neue und mühsamere Wege der Untersuchung erforderlich machte.140 „Welche Einzelvorgänge und Zustände die Gesamtkonstitution eines Lebewesens
im Einzelvorgang von der Keimzelle an herstellen und seine Erhaltungs- und
Leistungsfähigkeit in einer bestimmten Umwelt sichern, kann nur das Zusammenwirken genetischer und entwicklungsphysiologischer, leistungsphysiologischer und medizinischer Forschung ermitteln.“141 Der Preis dieser mühsamen
Untersuchungen konnte aber auch ‚ko-finanziert’ werden: durch die Verschrän136
Vgl. Rheinberger 2001: 549, nach Harwood 1984 (zum Beispiel Kühn 1927, Henke 1924).
Zum einen wurden systematisch Individuen mit veränderten Flügelmustern selektiert und die
Varianten anschließend genetisch im Züchtungsversuch charakterisiert. Zum anderen wurde
versucht, die genetisch determinierte Expression einfacher mendelscher Merkmale durch eine
systematische Variation der experimentellen Wachstumsbedingungen (zum Beispiel Temperatur und Nahrung) zu beeinflussen (vgl. Rheinberger 2001: 544). Durch Hitzeeinwirkung auf entwickelnde Mehlmotten wurde die Musterbildung auf den Flügeln beeinflusst. Die Art der Beeinflussbarkeit, die Bestimmung von unterschiedlichen sensiblen Perioden für bestimmte Muster
und Bildungsorte auf dem Flügel führte zur Annahme, dass die Ausbreitung des Flügelmusters
durch die Diffusion eines Stoffes bedingt sein könnte. Kreuzungsversuche wiederum deuteten
darauf hin, dass verschiedene Gene die einzelnen Modi dieser Ausbreitung beeinflussten (vgl.
Kühn 1935b: 46). Die Temperaturmodifikation erwies sich also als eine Lücke in der Opazität,
die Annahmen über die ‚Natur’ des Dazwischen erlaubte.
138
Rheinberger 2001: 545
139
Kühn 1935b: 48
140
Vgl. Hertwig 1932b: 662.
141
Kühn 1935b: 48
137
191
kung der Versuchstierzucht mit dem Experimentalsystem entwicklungsphysiologischer Frageansätze.
Um die Lebenseignung zu untersuchen, musste sie erkannt und gemessen
werden können. Die Vitalität bestimmte Kühn als Ausdruck für den biologischen
Wert einer Mutation. Insofern konnte sie nur relativ zu einer bestimmten Umwelt
und den Lebensaussichten gegenüber der Ausgangsrasse bestimmt werden.
Die Lebensaussichten eines Individuums indes wurde durch zahlreiche Einzelleistungen bedingt: harmonische Entwicklung der Teile, Entwicklungsgeschwindigkeit, Widerstandsfähigkeit gegen Außeneinflüsse, Anpassungsfähigkeit an
wechselnde Bedingungen, Fähigkeit, Nahrungsstoffe auszunutzen, und so weiter.142 Die Einzelleistungen ließen sich umwandeln in Kriterien und Prozeduren,
um die Lebenseignung messbar und vergleichbar zu machen.143 Die operationale Bestimmung der Vitalität bedingte sogleich weitere Bestimmungen des
Experimentalsystems. Zweckmäßig waren konstante Versuchsbedingungen
und Versuchstiere von geringer Größe.144 Zweckmäßig war insbesondere, um
auch feinste Unterschiede in den Überlebensraten zu erfassen, der Einsatz von
großen Mengen an Versuchstieren – 200.000 Fruchtfliegen in einem Versuch –
und ein homogenes „genotypisches Milieu“.145
Kühns Mitarbeiter und Leiter der Versuchstierzucht, Friedrich Kröning, berichtete auf jener Sitzung der Strahlenkommission in Göttingen über Strahlenexperimente an Meerschweinchen und die Vorversuche dazu, die gemeinsam
mit der Göttinger Frauenklinik durchgeführt wurden.146 Der Gynäkologe Heinrich
Martius war einer der engagiertesten – eugenischen – Kritiker der Verwendung
von Röntgenstrahlen in der Gynäkologie. Bereits 1932 kam es zur Verabredung
einer Zusammenarbeit.147 Martius und Kröning untersuchten die Nachkommen
142
Vgl. Kühn 1935a: 73.
Kühn prüfte die Vitalität der rotäugigen Mottenvariante, indem er sie sich mit der Ausgangsrasse in einer Mischzucht entwickeln ließ und verglich, wie viel Prozent der Individuen der beiden Rassen fortpflanzungsfähig geworden waren (vgl. Kühn 1935b: 47).
144
Die operationalen Bestimmungen erfassten nicht nur die Wirkungen der interessanten Mutation. Schon die Zusammensetzung des Futters konnte die Konstitution verändern und damit
die Vergleichbarkeit oder Wiederholbarkeit eines Experimentes zunichte machen (vgl. Kühn
1935a: 13). Deshalb mussten die Versuchstiere unter den gleichen konstanten Bedingungen
gezüchtet werden, was nur in verhältnismäßig kleinen Räumen zu schaffen sei, weshalb sich
kleine Versuchstiere anbieten (vgl. Kühn 1935a: 10).
145
Timoféeff-Ressovsky 1934a: 166. Der Veröffentlichung liegt der Vortrag zu Grunde, den T.
auf der Kommissionssitzung in Göttingen hielt (vgl. auch die Wiedergabe des Vortrags durch
Kühn in: o.D., [Kühn]: „Entwurf [...]“ (BA Ko, R 73, 12475: Seite 3-4 v. 12; s. Anm. 43). Timoféeff
hatte Bestrahlungsexperimente an Drosophila und anschließende Kreuzungen so angelegt,
dass Vitalitätsmutationen einem bestimmten Chromosom, dem X-Chromosom, zugeordnet werden konnten! Das setzte die Ausschaltung störender Einflüsse durch andere Gene voraus. Dies
gelang, indem T. das spezielle Marker-Chromosom in einen „ingezüchteten, reinen, normalen
Stamm“ hineinkreuzte. Zudem wurden einzelne Außenbedingungen verschärft. Die Fliegen wurden so bspw. in „stark übervölkerten“ Futtergläsern aufgezogen, damit „die evtl. auftretenden
Vitalitätsunterschiede sich noch krasser zeigen“ (ebd.).
146
Der Vortragstitel lautete: „Biologische Konstanten bei den Göttinger Inzuchtmeerschweinchenstämmen und über Vorversuche über die Wirkung der Röntgenbestrahlung der Ovarien
des Meerscheinchens auf den Brunfcyclus und auf die Nachkommenschaft“ (o.D., [Kühn]: „Entwurf [...]“, in: BA Ko, R 73, 12475: Seite 7-8 v. 12; s. Anm. 43). Ebenso vorgetragen vor der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaft und in den Nachrichten der Gesellschaft veröffentlicht (vgl.
Kröning 1934a).
147
Vgl. 14.3.1932, Prof. Martius an Schmidt-Ott, unterz. Martius u. Kühn (BA Ko, R 73, 16079).
143
192
bestrahlter Meerschweinchen auf äußerliche Defekte und stellten ihre „Vitalität“
fest, indem sie die Überlebensraten und Fruchtbarkeit maßen.148 Besondere
Aufmerksamkeit galt dem Auftreten überzähliger Zehen bei den Meerschweinchen. Die Überzehen galten zum einen als pathologisch, was sie für die Röntgenfrage relevant machte. Zum anderen schienen sie mit anderen – physiologischen – Mutationswirkungen zusammenzuhängen. Nicht zuletzt waren sie phänotypisch so auffällig, dass sie sich als „Marker“ für die verborgenen Vorgänge
anboten.149
Das Forschungsinteresse am Zoologischen Institut und die Fragen der Röntgendebatte überschnitten sich, da das Vorkommen variabler Mutationswirkungen und schlecht feststellbarer Vitalitätsmutationen hochrelevant für die Frage
der Röntgenschädigungen war.150 Neben dem Versuch, die Überzehenmutation
als Teil eines multifaktoriell bedingten, variablen Merkmalskomplexes zu begreifen, untersuchte Kröning bereits seit 1928/29 die Vitalität der Meerschweinchenstämme. Stamm XXII, der Inzuchtstamm mit dem Überzehenmerkmal, gehörte zu den zwei Stämmen, deren Nachwuchs die geringste Überlebenswahrscheinlichkeit hatte.151 Auch die Resistenz gegenüber Tuberkulose schien bei
den Meerschweinchen des „Überzehen-Stamms“ besonders gering und von der
Manifestation der Überzehen abzuhängen.152 Die Überzehen standen damit
zwischen allen Milieus der Forschung. Sie waren gut zu detektieren und Marker
der Lebenskraft der Meerschweinchen. Kröning schwärmte, dass solche Erbfaktoren „größeres Interesse beanspruchen“ müssten, weil sie „sichtbare körperliche Merkmale determinieren, deren Wirkung außerdem aber an physiologischen zu erkennen sind“.153
Diese abrissartigen Hervorhebungen zeigen den permanenten Bezug auf
Kriterien der Vitalität der Versuchstiere und die Fokussierung auf variable und
physiologische Merkmale. Die Zielrichtung aber – die Interpretations- und Einbettungsmöglichkeit der Experimente – war multipler angelegt. Die multiple Aufhängung der Experimente, so meine These, erwuchs aus den spezifischen Bedingungen der Göttinger Institutssituation – mithin aus den Möglichkeiten, die
aus der Einrichtung und den Erfordernissen der Versuchstierzucht entstanden.
Leicht kann wegen der Involvierung des Instituts in die Röntgenkommission seit
1932 der Eindruck entstehen, dass sich alles um die Entstehung von Mutationen gruppierte. Tatsächlich aber waren die Untersuchungen zu variablen Merkmalen bereits Ende der zwanziger Jahre am Göttinger Institut begonnen worden. Friedrich Kolle hatte mit den 1929 initiierten Tuberkuloseprojekt den wesentlichen Anstoß dazu gegeben, die variablen Merkmale der Meerschwein148
1936 waren 129 Weibchen bestrahlt und 1.500 Nachkommen untersucht worden. Es seien
auffällig mehr neue Merkmale aufgetreten. Eine abschließende Aussage über das Auftreten von
Mutationen war aber nicht möglich. Die Versuche sollten fortgesetzt werden, doch es erschien
keine weitere Veröffentlichung. (Vgl. Martius & Kröning 1936; Kröning 1936.)
149
Vgl. Martius & Kröning 1936: 1054; 4.12.1934, Kühn an Notgemeinschaft (BA Ko, R 73,
12475: Seite 4 v. 9).
150
Kröning hatte bereits 1929 damit begonnen, das Überzehenmerkmal zu beforschen – drei
Jahre vor dem Beginn der Zusammenarbeit mit Martius (vgl. Kröning & Engelmann 1934: 112122).
151
Vgl. Kröning 1934b: 46.
152
Vgl. Küster & Kröning 1938: 59-60.
193
chen ins Zentrum der Säugetierversuche zu stellen: „Art und Rasse, Milieu (=
Lebensführung), Alter, Geschlecht, Alter der Eltern, Geburtenfolge“ wurden auf
ihren Einfluss auf die Resistenz untersucht.154 Die Tuberkuloseresistenz bewegte sich im Reich der schlecht zu fassenden – physiologischen und variablen –
Merkmale und war eine Eigenschaft, die die Lebenseignung eines Lebewesens
beeinflusste. Die Unterscheidung zwischen bloß äußerlichen und kontingenten
Merkmalen und den inneren und lebensbegründenden war überholt. Die pathologischen Merkmale und die vitalen Abweichungen bildeten einen Raum der
Differenz, der durch Koppelung an äußere Merkmale experimentell ohne großen Detektionsaufwand zugänglich wurde.
Die Ressourcen der Versuchstierzucht, um die es sogleich gehen wird, waren die ideale materielle Voraussetzung zur Realisierung dieses Raumes. Es
sei aber zuvor angemerkt, dass der Ausbau des experimentellen Systems aus
Versuchstierzuchtanlage, mendelscher Zuchtmethoden und Merkmalsscreening
nicht half, die Phänomenologie der Genmanifestierung zu überschreiten. Mit
den ‚phänomenologischen’ Differenzierungen konnte keine Differenzierung experimentell ins Innere des Körpers der Versuchsobjekte getragen werden. Was
Rheinberger über Kühns Experimente an Insekten schreibt, trifft auch auf die
Situation der Säugetierabteilung zu: „The wing experiments of the preceding
years had ‚disappointed’ Kühn, at least‚ ‚in some respects,’ especially because
the underlying physiology remained a black box. [...] Neither did the observed
correlation between eye pigment reduction, viability and the length of the breeding cycle lend itself as an experimental tool to expose the secrets of the connection between gene action, development and physiology.”155 Kühn verließ
schließlich nicht nur Göttingen, sondern ließ auch den experimentellen Ansatz,
über variable Merkmale in die Physiologie der Entwicklung einzudringen, hinter
sich.156 Der vitalitätssenkende Nebeneffekt mancher Mutationen bei der Mehlmotte Ephestia trat hinter der Pigmentierung von Augen und inneren Organen,
einfachen mendelschen Merkmal, zurück. Es gelang Kühn und einigen seiner
Doktoranden, die Pigmentausprägung als ein enzymatisches Wirksystem darzustellen – der Beginn der biochemischen Genetik.157
153
Küster & Kröning 1938: 61
Küster & Kröning 1938: 38
155
Rheinberger 2001: 545
156
Bis dahin stand für Kühn und seine Mitarbeiter der pleiotrope Effekt der rotäugigen Ephestiamutante auf die Entwicklungsdauer der Mutanten im Vordergrund. Es wurde zum Beispiel die
kombinatorische Wirkung der Augenfarbenmutation mit einer anderen sich äußerlich manifestierenden und die Widerstandsfähigkeit senkenden Mutation (Schwarzschuppigkeit) untersucht
(vgl. Kühn & Henke 1930). Dass der pleiotrope Effekt auch die Pigmentierung von inneren
Organen betraf, eröffnete die Möglichkeit von Transplantationsexperimenten (Siehe Fußn. 157).
157
Vgl. Rheinberger 2001: 562. – Der entscheidende Schritt war die Überschreitung des experimentellen Systems aus mendelscher In- und Kreuzungszucht sowie differenzieller und quantitativer Merkmalsanalyse durch die Einbindung einer entwicklungsbiologischen Methode. Die
Einführung von Transplantationsexperimenten leistete eine Binnendifferenzierung im sich entwickelnden Organismus, die den Schluss erlaubte, dass ein Gen über das Sezernieren eines humoralen Stoffs in einer Reaktionskette auch über weite Distanzen auf die Ausprägung des phänotypischen Merkmals einwirkt. Die ‚Vitalitätsstoffe’ jedoch und die Stoffe, die das Milieu der
Merkmalsausprägung darstellten und seine Variabilität bedingten, blieben im physiologischen
„Wirkgetriebe“ (Kühn) verborgen. (Vgl. Rheinberger 2001: 549.) Die Aufklärung der biochemischen Abläufe durch die Arbeiten am Kühnschen Institut – dann KWI für Biologie – in Zusam154
194
4.3
Varianten generieren: die differenzielle Verwendung der
Züchtungsanlage reiner Tierstämme (vom
Experimentalsystem zum Konzept)
158
„’Nature’ is harsh, answering the questions put and only those [...].“
Nachdem systematisch von den Ansätzen einer integrierten Gentheorie, beginnend mit den Konzepten und ‚hinunter’ zu den Experimentalsystemen am Rande der Tierversuchsanstalt erzählt wurde, soll nun – gerade entgegengesetzt –
das Einwirken der Versuchstierzuchten auf die Konzeptbildungen thematisiert
werden. Die Versuchstierzucht im Auftrag der Notgemeinschaft verband sich
fast auf ‚natürliche’ Weise mit dem Forschungsinteresse am Göttinger Institut.
Die Versuchstierzuchten erweiterten den Möglichkeitsraum der Experimente am
Institut genau in dem Moment, als am Göttinger Zoologischen Institut nach experimentellen Ansätzen für eine genetische Entwicklungsphysiologie gesucht
wurden.159 Der Versuchstierzucht fiel in diesem Moment eine Rolle zu, für die
sie gar nicht vorgesehen war. Die massenhafte Aufzucht von Versuchstieren
und ihre professionelle Erfassung produzierte – trotz des entgegengesetzten
Auftrag oder gerade – beständig Inhomogenität.160 Die Zuchtanstalt erwies sich
als eine Einrichtung zur Generation von Mutanten, Merkmalsvarianten, Abweichungen, Differenzen. Ihr Angebot an die Göttinger Säugetiergenetik war, den
Merkmalsraum der kleinen, physiologischen und variablen Varianten zu öffnen.
4.3.1 Der Mangel an „schlechten“ Merkmalen und seine Behebung in den
Versuchstierzuchtanstalten
Die Handhabung der unter der Maßgabe entwicklungsphysiologischer Fragestellungen interessanten Merkmale war problematisch. Je gefügiger ein solcher
flüchtiger Beobachtungsgegenstand, wie Flügelmuster oder Entwicklungsgeschwindigkeit, dem Milieu gegenüber war, desto geringer war der Aussagewert
eines einzelnen Falls. Deshalb waren große Versuchsserien erforderlich.161 Die
Flüchtigkeit machte auch die Beobachtung schwer. Kühn empfahl deshalb, den
pleiotropen Effekt der Mutationen zur Detektion auszunutzen. „Zahlreiche Erbfaktoren haben also offenbar Einfluß auf die Entwicklungsgeschwindigkeit. Ihre
Wirkung ist aber nur dann im Erbgang zu erfassen, wenn sie auch ein phänotypisch am Einzelindividuum erkennbares Merkmal, wie Geschlecht, Schwarzmenarbeit mit dem Biochemiker Adolf Butenandt wurden nach Deutschlands Kriegsbeginn international nicht mehr wahrgenommen. In den USA bauten hingegen Beadle und Tatum an einem
neuen Versuchsobjekt, dem Schimmelpilz Neurospora, die Analyse des Gen-Enzym-Zusammenhangs aus. Von dort konnte sich die molekulare Genetik weiterentwickeln. (Vgl. zum Beispiel Morange 1998: chapter 2.)
158
Der englische experimentelle Epidemiologe Greenwood Amsterdamska 2001: 167.
159
Zur Lage der Entwicklungsphysiologie, vgl. Rheinberger 2001: 544.
160
Dieser Effekt, der in Göttingen auf Grund der noch beschränkten Tieranzahl effektiv nicht
zum Tragen kam, stellte sich aber ab den fünfziger Jahre am Jackson Memorial Laboratory ein,
das im Jahr bis zu einer Million Mäuse verkaufte (vgl. Gaudillière 2001a: 190-91).
161
Um den Einfluss der Temperatur auf die Expression des Flügelmusters zu untersuchen, zog
Kühn 100.000 Mehlmotten in speziellen Massenkulturen auf (vgl. Rheinberger 2001: 542).
195
schuppigkeit oder Rotäugigkeit, gleichzeitig bedingen.“162 Und schließlich waren
variable Merkmale noch nicht ‚domestiziert’. Auf „schlechte“ Mutationen wurde
nicht nur nicht geachtet, sie wurden auch nicht „mitgeführt“ (Timoféeff-Ressovsky).
In der Säugetiergenetik waren mutative Varianten Mangelware. Nachtsheim
pflegte, um diesen Mangel auszugleichen, seine Beziehungen zur landwirtschaftlichen Tierzucht, ähnlich wie amerikanische Genetiker, in deren Augen
die Myriaden von Tierställen und -verschlägen ein unendliches Reservoir an
Varianten darstellte.163 Diesen Schatz zu heben, war aber nur bedingt von Nutzen, da die Tierzüchter, zumal gerade die Hobby- und Sportzüchter allerlei modische Lebensformen ansammelten und das für die Forschung Interessante eliminierten.164
Die Züchter konnten die versteckten und nicht besonders auffälligen Varianten, die die Genetiker jetzt zu interessieren begannen, gar nicht erfassen. Ihnen
fehlte für genauere Untersuchungen die nötige Kompetenz. Sie verfügten weder
über die Instrumente noch über eine Ausbildung, um standardmäßige und feine
Messungen durchzuführen, und: ihnen fehlte auch das Wissen, „gute“ Formen
von „schlechten“ zu unterscheiden. Kühn fasste die Erfahrungen, die die Wissenschaft mit den privaten Züchtern gemacht hatte, und die Misere der experimentellen Genetik zusammen: „Die bisher in den Versuchstierzuchten der
Kleintierzüchter aufgetretenen erblichen Missbildungen sind bis jetzt fast immer
verloren gegangen, teils weil sie von dem nicht sachkundigen Züchtern nicht
erkannt wurden, teils weil sie beseitigt wurden, da sie als krankhaft und die
Zucht verschlechternd höchst unerwünscht erschienen. Da sie aber für die Erbpathologie besonders wertvoll sind, ist anzustreben, dass alle solche gelegentlich auftretenden Tiere der wissenschaftlichen Züchtungsanstalt zugehen. Diese
ist in der Lage zu beurteilen, ob sich die Fortzucht einer Erbabweichung lohnt
oder nicht.”165 Es sei ein besseres Verfahren, so riet Kühn, dem „Material”, das
die Natur dem indolenten und inkompetenten Züchter bescherte, die wissenschaftliche Expertise angedeihen zu lassen. Der Ort dafür war die sachkundig
geführte Versuchstierzuchtanstalt.
Die Bewahrung der ‚richtigen’ Merkmale setzte auch eine darauf ausgelegte
Laborkultur voraus. Die Sammlung von Hunderten Mutationen von Drosophila
war nicht dem Eifer vieler Drosophilagenetiker geschuldet, die in Feld, Flur und
Küche Fallen aufgestellt und allabendlich ihre Funde ins Labor getragen hatten.
Drosophila war zu einem Labortier geworden, und erst das Labor machte die
Varianten möglich. Der Inaugurator der Drosophilagenetik, Thomas H. Morgan,
162
Kühn & Henke 1930: 211
Vgl. Rader 1998: 339. 1925 waren nur 19 verschiedene Mausmutanten bekannt (und in
wissenschaftlichen Zuchten ‚konserviert’).
164
Vgl. Nachtsheim 1937e: 463. – Der Medizin wiederum war zu verdanken, dass der Mensch
„neben vielen Nachteilen, als Objekt, auch einen großen Vorteil“ habe: „kein einziger anderer
Organismus ist morphophysiologisch, bis in die feinsten Details, so gründlich durchforscht, wie
der Mensch“. Die menschliche Erbpathologie könne deshalb „bei richtiger Fragestellung und
Arbeitsmethodik“ noch sehr viel Wichtiges für die genetische Entwicklungsphysiologie leisten.
(Vgl. Timoféeff-Ressovsky 1935b: 114.)
165
o.D., Kühn: „Zoologisches Institut der Universität Göttingen“ [Über den Ausbau der Einrichtungen für die Zucht reiner Versuchstierstämme] (BA Ko, R 73, 12475: Seite 4 v. 5)
163
196
schilderte die Beziehung zwischen den Fruchtfliegen und dem Labor folgendermaßen: „The great majority of mutant types of Drosophila that appeared could
never establish themselves outside the laboratory under present conditions. [...]
It is only under the favourable conditions of confinement, and the absence even
there of competition, that these mutants can perpetuate themselves.“166 Was
nicht im technischen Kosmos der Laborkultur bewahrt wurde, existierte nicht, so
kann die Episteme der Mutationsmerkmale zugespitzt werden.
Drei Aspekte spielten zusammen, dass auch die Brandenburger und Göttinger Versuchstierzuchten zu einem geeigneten Mittel wurde, erbliche Varianten
zur Existenz zu bringen und sie in das experimentelle Arrangement der Genetik
einzubringen. Zum einen war dies, wie bereits angeklungen, die Sachkundigkeit
des Personals, des Weiteren die Massenzucht und schließlich die Anbindung
und Einbettung der Tierzucht in einen speziellen Forschungszusammenhang.
Professionalisierung – Schon die Zuchten in den Laboren unterschieden sich
von den landwirtschaftlichen oder Hobbyzuchten dadurch, dass auf spezielle
Merkmale geachtet werden konnte. Für die Versuchstierzuchtanlagen war aber
eine Infrastruktur angestrebt, die die Möglichkeiten der Detektion von Merkmalsvarianten erheblich steigerte. Während für die „reine Vermehrungsanstalt“
(Kühn) Plauerhof lediglich ein Zuchtleiter abgestellt war, wurden die Zuchtarbeiten in der „genetischen Versuchstier-Zuchtanstalt“ in Göttingen von einem ganzen Team begleitet.167
Kühn machte unmissverständlich deutlich, dass nur die speziellen genetischen Züchtungsanstalten diese Arbeit bewältigen konnten. Die wesentlichen
konstitutionellen Merkmale könnten nur erfasst werden, wenn die Inzuchtstämme dauernd messend kontrolliert würden. Die Kontrolle mancher Eigenschaften
erfordere die Durchführung medizinisch-physiologischer Experimente. „Hierfür
ist die Zusammenarbeit der Züchtungsanstalt mit physiologischen, klinischen
und anderen medizinischen Instituten notwendig. Auch besondere Fragen, wie
etwa der Erblichkeit einer bestimmten Disposition für eine Erkrankung werden
in Gemeinschaft mit bestimmten medizinischen Anstalten in Angriff genommen.“168 Die Tiervarianten sollten je von den entsprechenden Experten des
Gebiets, in das eine Abweichung fallen konnte, selektiert werden. Entsprechend
dieser Forderung unterhielt Göttingen verschiedene Verbindungen zu medizinischen Institutionen.169 Anschließend konnten die aufgefunden Abweichungen
166
Morgan 1924: 396; zu Drosophila als „first true breeder reactor” und der Schwierigkeit, die
Varianten experimentell zu kontrollieren, siehe auch Kohler 1994: 47 (46-48) u. 73. Siehe auch
Seite 94, Fußn. 112.
167
Mit Friedrich Kröning war ein Genetiker mit der Leitung der Zuchten betraut. Ihm assistierten
zwei voll ausgebildete technische Assistentinnen, eine nicht voll ausgebildete technische Ass.,
ein Tierpfleger und verschiedene Hilfskräfte. Es ist darauf hingewiesen worden, dass der Rolle
der Angestellten ‚im Hintergrund’ in der Historiographie der Wissenschaften zu wenig Beachtung geschenkt worden ist. So war es eine Mitarbeiterin Kühns, die in den Mehlmottenzuchten
eine Mutante fand, ein „Ausnahmetier“ (Kühn), das bald im Zentrum Kühns Experimentalsystems stand (vgl. Kühn & Henke 1930: 204). – Kühn wusste um die Kompetenzen seiner Mitarbeiter für die Auffindung neuer Mutationen und setzte Prämien für die Auffindung von Ephestiamutanten aus (vgl. Rheinberger 2001: 545).
168
o.D., Kühn: „Zoologisches Institut...“ (BA Ko, R 73, 12475: Seite 3 v. 5) (s. Anm. 165)
169
Kooperationen bestanden mit dem Inst. für experimentelle Therapie in Frankfurt (serologische und immunologische Untersuchungen aller Art), mit der Göttinger Frauenklinik (klinische,
197
und Varianten in der Tierzuchtanstalt auf die Eignung für die „medizinisch-biologischen Arbeitsziele” geprüft und für die Massenzucht vorbereitet, das heißt,
durch die genetischen Reinzucht-Experten aus einer einzelnen schwachen Abweichung ein Stamm geformt werden.170
Das Detektions-, Selektions- und Zuchtsystem konnte zwar nicht in der Weise ausgebaut und örtlich konzentriert werden, wie es Kühn vor Augen geschwebt hatte; doch das Prinzip einer integrierten Struktur zur Versuchstierzucht war entwickelt. Es bestand in einer gleichzeitigen Ausdehnung und Einbeziehung von Kompetenzen. Arbeitsschritte, die zuvor unabhängig voneinander stattfanden, wurden miteinander verschaltet und in einem Ort konzentriert.
Hinzugefügte, aber ausgelagerte Kompetenzen blieben in einer geplanten Abfolge von Arbeitsschritten integriert. Ein solches System arbeitsteiliger Kompetenz, als das es in Kühns Modell der „Zuchtanstalt” gedacht und teilweise verwirklicht war, hatte die Potenz, auch die zartesten Abweichungen als „genetische Varianten“ aufzufinden, zu klassifizieren und der Forschung verfügbar zu
machen.
Massenzucht – Die leichte Züchtbarkeit der Fruchtfliege Drosophila machte sie
zu dem richtigen Werkzeug für bestimmte genetische Fragestellungen.171 Die
Fähigkeit, ohne Probleme in Massen gezüchtet werden zu können, machte Drosophila und ähnliche Spezies auch interessant für die Gemeinschaftsarbeiten
über die erbschädigende Wirkung von Röntgenstrahlen. Die Fragen spitzten
sich darauf zu, ob auch noch kleinste Strahlendosen Mutationen bewirken
konnten. Kühn gab als Vorteil der Mehlmotte in seinen Untersuchungen „Über
Mutationsauslösung und Mutationswirkungen an Insekten als ‚Modellversuchstieren’” an, dass sie in großer Zahl in rasch aufeinander folgenden Generationen zu züchten waren.172 Die große Zahl machte es möglich, die statistische
Beweisführung über den Zusammenhang zur Bestrahlung und das heißt das
Detektionsniveau für Mutationen zu steigern.
Dieser Logik folgten die Strahlenexperimente, die mit Säugetieren durchgeführt werden sollten. Das Berliner Institut für Vererbungsforschung und die Versuchstieranstalt in Göttingen wurden bestimmt, mit solchen Experimente an
kleinen Versuchstieren zu beginnen.173 Paula Hertwig war damit beschäftigt, die
histologische und zytologische Untersuchungen), zu dem Physiologischen Inst. von Emil
Abderhalden (biochemische Physiologe, neueste Methoden der Protein- und Kolloidchemie,
insbesondere die Abwehrfermentmethode).
170
Auch diese Zuchtarbeit setzte spezielles Fachwissen voraus (siehe auch 3.3.1). Zum Beispiel musste, wenn sich die Abweichung zu schwach und variabel manifestierte, ein genetisches Milieu gefunden werden, dass sie gegenüber ihrer Umgebung und für die Detektionsmethoden diskreter und konturierter werden ließ. Dann musste die Abweichung aber auch in möglich homogenes Milieu eingebettet werden, um die Gleichförmigkeit des Merkmals maximal zu
erhöhen. – Ein mikrohistoriographischer Blick auf die konkrete und situierte Arbeit, um eine
bestimmte, diffuse Abweichung als ein forschungstaugliches Merkmal verwirklichen, könnte die
Betrachtung der ‚Generierung’ von Merkmalsvarianten noch zuspitzen, inwieweit die Gegenstände der Forschung – die Merkmale, Mutationen, reingezüchteten Symptome – durch die
differenzielle Arbeit in den und mit den experimentellen Systemen hervorgebracht wurden in
dem Sinn, dass sie keine einfache Repräsentation eines natürlichen Gegenstandes darstellen.
171
Vgl. Kohler 1994: 46-48.
172
Vgl. 4.12.1934, Kühn an die Notgemeinschaft (BA Ko, R 73, 12475: Seite 5 v. 9).
173
Vgl. Martius 1934: 790.
198
Wirkung von niederen Strahlendosen zu erforschen. Sie arbeitete einen Versuchsplan aus, der so konzipiert war, dass sie unter der Annahme einer bestimmten Mutationsrate 99 Prozent der Mutationen erfassen müsste. Das
Ergebnis war, dass das Experiment zwischen 50.000 und 80.000 Mäuse umfassen musste.174 Auch Nachtsheim rechnete mit großen Zahlen, um Mutationen aufzuspüren. Er selbst könne nur 1.200 bis 1.500 Kaninchen im Jahr
züchten, in ganz Deutschland würden aber jährlich mindestens 60 Millionen
Kaninchen geboren. Nachtsheim setzte weiter auf das gut organisierte Vereinswesen der deutschen Kaninchenzüchter und startete Aufrufe in den Verbandsblättern.175 Das Kalkül ging auf, denn in drei Jahren hatte er 20 „mutativ
entstandene und herausspaltende Erbleiden“ nachweisen können.176
Ein solches Massenscreening, das Nachtsheim privat organisierte, war der
Vorteil, den auch die Versuchstierzuchtanstalten boten. Die Sensitivität der
Massenzucht für seltene Mutationen, die als Indikator für die Wirkmächtigkeit
der Röntgenstrahlen benutzt wurde, konnte ebenso dazu dienen, das Variantenspektrum der Versuchstiere zu erweitern.177 Was bislang für die Säugetiergenetik als Ausnahme, Anomalie oder nur anekdotenhafter Bericht einer singulären Beobachtung ohne Zeugen existierte, konnte nun zu Präsenz gelangen.
Einbindung in den Kontext von Forschung – Die Anbindung der Versuchstierzucht an die medizinischen Forschungsbedürfnisse kam in ihrem Titel zum Ausdruck: „Vererbungsversuche und Gemeinschaftsarbeiten zum Zweck der Züchtung von Versuchstieren mit besonderen konstitutionellen Merkmalen und ihre
Anwendung auf verschiedene Forschungsgebiete einschließlich der Krebsforschung und Erbschädigung durch Röntgenstrahlen“.178 Als Beispiel für die planhafte Indienstnahme der Zuchten ist die Zusammenarbeit mit dem Institut für
experimentelle Therapie besprochen worden (3.3). Die Einbindung der Meerschweinchenzuchten in die Tuberkuloseforschung entsprach auf wunderbare
Weise dem Interesse an physiologischen, feinen und variablen Abweichungen,
welches sich unter der entwicklungsphysiologischen Fragestellung herauskristallisierte. Die Aufgabe Göttingens war nicht zu homogenisieren, sondern zu
differenzieren, feine physiologische Unterschiede, die einer Disposition zur
Tuberkuloseerkrankung entsprechen konnten, und ihre Verknüpfung mit anderen Merkmalen zu detektieren.
Die Gemeinschaftsarbeiten zur Röntgenfrage steuerten ebenfalls Anregungen bei. Die Genetiker argumentierten gegenüber den Medizinern, dass klini174
Vgl. 5.1.1932, Hertwig an Stubbe (BBAdW, Stubbe-Fonds, 83); Hertwig 1932b: 676; Hertwig
1933a: 1402 (erster Bericht über die Ergebnisse: Hertwig 1935).
175
Vgl. Nachtsheim 1935b: 188.
176
Nachtsheim 1937e: 463
177
Die Gemeinschaftsarbeiten zur Röntgenfrage förderte die Variantensuche auch durch den
Ausbau der Tierzucht. Gleich nach Kühns Eintritt in die Gemeinschaftsarbeit wurde eine Erweiterung der Brandenburger Anlage in die Wege geleitet (vgl. 29.12.1933, Notgemeinschaft an
Kühn; 29.12.1933, Kühn an Notgemeinschaft, in: BA Ko, R 73, 159). Die Tierställe waren als
bewegliche Einzelkästen konzipiert, sodass die Innenausstattung jederzeit an eine andere Stelle überführt werden konnte, „wenn sich später eine große Zuchtanstalt auf eigenem Gelände
ermöglichen läßt“. Die Erweiterungen ermöglichten eine Verdreifachung der gehaltenen Zuchttiere auf 1.220 Mäuse, 146 Ratten, 238 Kaninchen. (Vgl. 5.9.1936, Kühn an DFG, in: BA Ko, R
73, 12475: Seite 1 v. 3.)
178
10.12.1935, Kühn an Forschungsgemeinschaft (BA Ko, R 73, 12475: Seite 1 v. 9)
199
sche Untersuchungen völlig unzureichend seien. Die Mutationsforschung habe
gezeigt, dass die meisten Mutationen rezessiv sind und somit Veränderungen
frühestens in der Enkelgeneration der bestrahlten Mütter zu erwarten waren
und dass die meisten Mutationen nur feine Abweichungen bewirkten oder sich
vor allem in physiologischen Änderungen äußerten. Kühn schlug deshalb der
Strahlenkommission vor, die pleiotrope Eigenschaft und die Vernetzung der
Genwirkungen im „Genwirkgetriebe“ auszunutzen und die äußerlichen Merkmale als Detektoren für die physiologischen Eigenschaften zu benutzen. So
wurden die erwähnten Überzehen der Meerschweinchen als Röntgendetektor –
und Instrument der Entwicklungsphysiologie genutzt. „Das Merkmal der Überzehigkeit ist besonders bedeutsam“, so Kühn, weil es „sehr fein auf die Wirkung
anderer ‚modifizierender’ Erbanlagen und auf Außeneinflüsse anspricht, die von
der Mutter ausgehen. Es ist zu erwarten, dass die von uns gezüchtete Überzehenstämme empfindliche Indikatoren für künstlich erzeugte Änderungen von
Erbanlagen sein werden. Sie sollen daher in größerem Maße in die Versuche
über Mutationsauslösung durch Röntgenstrahlen eingesetzt werden.“179
4.3.2 Varianten generieren
Die Charakteristik der Versuchstierzuchtanstalt bündelte sich zu einer Detektionsmaschine, die sich besonders eignete, seltene, physiologische und schwer
zu erkennende Merkmale und damit vitalitätsverändernde Mutationen zu ‚detektieren’. Waren die neuen Mutationen und phänotypischen Varianten tatsächlich
natürliche Gegenstände, die nur ‚entdeckt’ werden brauchten?
Viele jener Merkmale waren mit dem Leben ‚in der Natur’ oder den einfachen
Haltungsbedingungen konventioneller Zuchteinrichtungen unvereinbar. Nur im
ausgeklügelten Tierhaus der Zuchtanstalt konnten die Bedingungen so eingestellt werden, dass auch die gebrechlichsten Tiergeburten am Leben blieben.
Die Fortzucht dieser Formen war oftmals nur in einer solchen Zuchtanlage möglich, „weil die geringe Vitalität der erbgeschädigten Tiere eine besondere Pflege
erfordert”.180 Die klimatischen Verhältnisse in den Zuchträumen, spezielle Nahrungszusammensetzung, Medikamente oder der fütternde Pfleger machten es
möglich, bestimmte Tiere und Lebenszustände – buchstäblich – an das Licht
der Welt zu bringen und zu erhalten.181 In der Natur oder in den Verschlägen
der Sport- oder Nutzzüchter hätten sie nie existieren können. Sie bildeten dort
179
4.12.1934, Kühn an Notgemeinschaft (BA Ko, R 73, 12475: Seite 4 v. 9) – Oscar Vogt betonte die eugenische und nosologische Bedeutung solcher „Indikatoren“: „Die sozial wichtigste und
deshalb auch von einem verarmten Volk nach Kräften zu unterstützende Aufgabe [...] ist die
Aufdeckung der in den einzelnen Individuen vorhanden sozial wertvollen und schädlichen Dispositionen. Ist doch diese Kenntnis die Voraussetzung einer richtigen Ausnutzung und Förderung des Wertvollen und einer Hemmung des Schädlichen! [...] Noch wesentlich erleichtert würde aber die Klassifikation der Konstitutionen, wenn es sich herausstellen sollte, dass wenigstens eine grosse Zahl von Konstitutionen auf correlativer Basis äusserer Stigmata hätte, [...]“
(12.2.1930, Vogt, Denkschrift, in: BA Ko, R 73, 169). So wurde der Gedanke der Konstitutionstypen auf mendelgenetischer Grundlage reformuliert (siehe 2.2.3, Seite 378).
180
o.D., Kühn: „Zoologisches Institut...“ (BA Ko, R 73, 12475: Seite 4 v. 5) (s. Anm. 165)
181
Zur besonderen Einrichtung der Zuchtanlagen, vgl. 3.3.2.1 und 3.2.3.2.
200
keine ‚natürlichen Gegenstände’, und als bloßes Vermögen blieben sie ungedacht.182
Paula Hertwig sah die Bedeutung der Röntgenstrahlen für die Vererbungswissenschaft in ihrer Eigenschaft, Mutationen bei der Fruchtfliege Drosophila
und möglicherweise auch in anderen Organismen hervorzurufen. „Die Röntgenröhre ist für den Genetiker gleichsam zum Zauberstab geworden, mit Hilfe dessen er sich neue bisher noch nicht beobachtete Lebensformen hervorzaubern
kann.“183 Man könnte daran anschließen und formulieren, dass auch die Versuchstierzuchtanstalten ein Instrument waren, neue Formen für die Genetik
„hervorzuzaubern“. Ein „Zauber“stab allerdings war die Röntgenröhre natürlich
nicht. Die Röntgenröhre ist ein technisches Gerät, das Röntgenstrahlen hervorbringt. Als solche ist die Röntgenröhre zwar ein zentrales Element, aber auch
nur Teil einer größeren Apparatur: des Röntgengenerators. Der Röntgengenerator eignet sich sehr viel eher, die Versuchstierzuchtanlage zu charakterisieren. Als Röntgengenerator wird „die Gesamtheit aller elektrischen und elektronischen Einrichtungen, um eine Röntgenröhre betreiben u. Röntgenstrahlung
erzeugen zu können“, bezeichnet.184 Die Gesamtheit der technischen und infrastrukturellen Einrichtungen sowie ihre Verkopplung mit medizinischen Einrichtungen erlaubte es, einen Detektionsapparat betreiben und erbliche Varianten erzeugen zu können. Analog zu einem Röntgengenerator war die Versuchstierzuchtanstalt ein Variantengenerator.
Etwas „generieren“ heißt, etwas hervorbringen. Ein „Generator“ erzeugt
Strom. Die Bedeutungen der lateinischen Wortableitung „generare“ changieren
zwischen Erzeugen und Hervorbringen; doch ist es etwas anderes, etwas „hervorzubringen“, das im Verborgenen auf seine Entdeckung gewartet hat, oder,
etwas zu erzeugen, das zuvor nicht existierte. Brachte die Versuchstierzucht
Varianten zum Vorschein, die schon vorhanden, aber aus verschiedenen Gründen bislang nicht entdeckt worden waren? Das Kalkül der großen Zahl spricht
für diese Interpretation. Oder erzeugte der Komplex der Versuchstierzuchtanstalt, der Teil verschiedener experimenteller Systeme war und selbst experimentell arbeitete, die erblichen Varianten in dem Sinn, dass etwas zur Welt
182
Für den Genetiker war hingegen klar, dass sie immer schon vorhanden waren! Die technischen Tricks brachten nur zum Vorschein, was schon in der Natur war, und sei es nur dem
Vermögen nach. Die Vorstellung, es gäbe das Vermögen, bestimmte Formen ausbilden zu
können, ist allerdings voraussetzungsreich. Annahmen über die Natur der Formenvielfalt und
das Verhältnis von Sichtbaren zu Unsichtbarem in der Natur werden vorausgesetzt. So musste
angenommen werden, dass in den Erbanlagen alle möglichen Formen des Lebens versteckt
waren, sie nur richtig „kombiniert“ werden oder „mutieren“ mussten. Oder es konnte angenommen werden, dass die Natur einem kontinuierlichen Pantheon der Formen entspricht. Die Lücken im realen Kontinuum erklärten sich dann durch die eingeschränkte Lebensfähigkeit einiger
Formen.
183
Hertwig 1933a: 1401. Dass dieser Weg „lohnend ist und zu wichtigen Fragestellungen führen“ konnte, verdeutlichte Hertwig an den Bestrahlungsexperimenten E. Steins, die nach der
Bestrahlung von Pflanzenembryonen vage Farb- und Formdefekte an den Pflanzen feststellte
sowie Gewebewucherungen, die sie als Phytocarcinome bezeichnete (vgl. Hertwig 1932b: 662).
Es wurde auch diskutiert, ob die Mutationsfähigkeit eines Organismus als solche mutativ gesteigert werden könne. Alle Versuche, durch Röntgenstrahlen oder anders bei Säugetieren systematisch die Formvielfalt zu erhöhen, schlugen fehl (vgl. Nachtsheim 1937e: 463).
184
Wörterbuchredaktion d. Verl. unter der Ltg. von Christoph Zink, Bearb.: Pschyrembel.
Klinisches Wörterbuch, 256. Auflage, Berlin: de Gruyter 1990: 1459
201
kam? Für diese Interpretation spricht zum einen der Umstand, dass erst die
speziellen Einrichtungen der Versuchstieranstalt das Leben bestimmter Lebensformen ermöglichten; zum anderen, dass die Züchtungstechniken nicht nur
neue Lebensformen detektierten, sondern diese auch formten und in die ‚richtige’ Form brachten. Die planerische, die explorative und die glückliche Trennung
und Kombination von „Hauptgenen“, „Nebengenen“ und „Milieu“ brachten eine
Abweichung erst als das eindeutige und typische Merkmal eines Tierstamms
hervor. Das heißt, erst mit der Einrichtung und Organisation der Zuchtanstalten
kamen die neue Formen ‚in die Natur’.
4.3.3 Das Zusammenspiel von hervorgebrachten Varianten und
Forschungsfragen
Die Versuchstierzucht hat sich in den Händen genetischer Experten als eine
Verbindung erwiesen, deren Wert nicht nur in der Versorgung der experimentellen Forschung mit standardisierten Versuchstieren bestand. Eine als „Massenzucht“ geplante Produktion von Versuchstieren konnte nicht die statistischen
Vorzüge erreichen, wie sie in der Pflanzen-, Drosophilagenetik oder auch in
Kühns Mehlmottenexperimenten üblich waren. Der Vorteil der „wissenschaftlich
überwachten reinen Vermehrungsanstalten und genetischen Züchtungsanstalten” bestand nach Kühn in der Möglichkeit, auf seltene, kleine und physiologische Abweichungen zu stoßen,185 also Variationen vom Homogenen abzusetzen. Ein Beispiel dafür, wie das Auftauchen erblicher Abweichungen den Forschungsfortgang beeinflusst, ist die Beschreibung der white-eye Mutante bei
Drosophila 1910 durch Morgan. Von dem entwicklungsbiologischen Problem,
an dem er bis dahin gearbeitet hatte, wandte sich Morgen ab, um nun an der
Farbmutante die Transmissionsverhältnisse von Merkmalen genauer zu untersuchen.186
Für Kühn war die Generierung von Varianten zu einem zentralen Inhalt der
Versuchstierzuchtanstalten geworden. Die funktionelle Auftrennung der Versuchstierzucht in eine „reine Vermehrungsanstalten“ und die „genetische
Zuchtanstalten“ folgte genau diesem Interesse und den daraus erwachsenen
Ansprüchen an die Expertise und methodische Differenzierung. Diese Aufsplitterung versinnbildlicht die Verschiebung der Aufgaben der Versuchstierzucht
innerhalb weniger Jahre. Nach anfänglicher Ablehnung genetischer Zuchtmethoden wurde die In- und Reinzucht zur zentralen Zuchttechnik, um die Homogenität der Versuchstiere zu erhöhen. Die Kooperation des Frankfurter Instituts
für experimentelle Therapie mit der Göttinger Zuchtzentrale machte es aber erforderlich, wieder die Unterschiedlichkeit der Zuchttiere zu beachten und zu
spezifizieren. Das spezielle Interesse an erblich-konstitutionellen Merkmalen
trieb die Verfeinerung der angesetzten Werkzeuge, Detektionsmittel und -techniken an und eröffnete in der Versuchstierzucht einen neuen Raum: ein Raum
der leichten, nur statistisch erfassbaren Unterschiede in der Gesamtkonstitution
eines Versuchstieres.
185
186
o.D., Kühn: „Zoologisches Institut ...“ (BA Ko, R 73, 12475: Seite 4 v. 5) (s. Anm. 165)
Vgl. Allen 1984: 726; Kohler 1994: 44.
202
Welche Rolle spielte also die Versuchstierzucht im Zusammenspiel von neuen genetischen Konzepten und entwicklungsphysiologischen Fragestellungen?
Im Rückblick erscheint es schnell, als seien die neuen Merkmale in Gefolge der
neuen Konzepte aufgetaucht. Die Betrachtung der praktischen Zusammenhänge hat nun aber die subtile ungerichtete Beteiligung der Versuchstierzucht an
der Karriere neuer Gegenstandsformen der deutschen Genetik gezeigt. Das
Nutzungskonzept für die Göttinger Versuchstierzucht entstammte den Planungen von 1927. Die vitalitätsverändernde Wirkung von Mutationen wurde in Göttingen erstmals 1930 bei der Mehlmotte bemerkt.187 Von da aus wurden sie untrennbarer Teil der Versuchstierzucht und diese ebenso untrennbarer Teil der
konzeptuellen Zuspitzung bis 1934. Der Zeitpunkt der Einrichtung der Versuchstierzuchtanstalt in Göttingen, die Anbindung an medizinische Fragestellungen und die strukturellen, experimentellen und methodischen Eigenschaften
einer solchen ausdifferenzierten Versuchstierzuchtanlage schufen in idealer
Weise die experimentellen Möglichkeiten, das seltene, schwache und verborgene Ereignis hervorzubringen. Dies war die Voraussetzung, solche diffuse
Eigenschaften als Erbveränderungen zu verstehen. Die ‚Mendelisierung’ der
Physiologie wurde dadurch durchführbarer und unhinterfragbarer. In ähnlicher
Weise wurde durch schwache Röntgenbestrahlung die Existenz der vitalitätssenkenden Mutationen stabilisiert. Jene Merkmale wurden für die konzeptuelle
Überlegungen dadurch zu immer ernsthafteren ‚Partnern’.
Die Vitalitätsmutationen waren zugleich Chance und Gefahr. Eine Gefahr
waren sie, da sie die Effektivität der auf Massenzucht ausgelegten Zuchtanstalt
senkten oder als experimentelles Rauschen das statistische Signal in Versuchen irritierten. „Die neuen Mutationsversuche haben gelehrt, dass auch in den
Inzuchtstämmen nicht selten äußerlich nicht auffallende Erbgutveränderungen
auftreten, durch welche ein ursprünglich einheitlicher Stamm unvermerkt in
mehrere Linien mit verschiedener Reaktionsweise zerfallen kann.“188 Die gleichen Erbgutveränderungen waren aber auch eine Chance: für die medizinische
Forschung, da „die konstitutionellen Eigenschaften der reinen Stämme (Lebenseignung, Widerstandskraft gegen Außenbedingungen, Infektionen u.a.) und die
Erblichkeitsweise dieser Eigenschaften“ geprüft werden und in möglichst vielseitiger Weise der medizinischen Forschung nutzbar gemacht werden sollte.189
Und für die Genetik, da die vitalen Mutationen in die integrative Konzeption der
Konstitution und in die Frage eingebunden waren, wie erbliche Anlagen und
andere Einflüsse in der Herstellung der Konstitution zusammenwirken.190
In der Praxis war die Suche nach den konstitutionellen Eigenschaften nicht
als medizinisches oder genetisches Ziel klar unterschieden. Die genaue Kenntnis der physiologischen Eigenschaften der Lebenstüchtigkeit sei „sowohl allgemeinbiologisch als auch als Voraussetzung für die medizinische Arbeit mit den
187
Vgl. Kühn & Henke 1930: 206.
o.D., Kühn: „Zoologisches Institut...“ (BA Ko, R 73, 12475: Seite 4 v. 5) (s. Anm. 165)
189
4.12.1934, Kühn an die Notgemeinschaft (BA Ko, R 73, 12475: Seite 6 v. 9)
190
Kühns Dank an die Notgemeinschaft galt ausdrücklich der Unterstützung für den „Aufbau der
Gemeinschaftsarbeiten über die Wirkung der Erbanlagen auf die Konstitution“ (vgl. 4.12.1934,
Kühn an Notgemeinschaft, in: BA Ko, R 73, 12475: Seite 9 v. 9).
188
203
Versuchstieren“ wichtig.191 Der eigentliche Nutzen einer aufgespürten Auffälligkeit erwies sich erst im Nachhinein. Deshalb changierte das Interesse Krönings
an der Wurfgröße und Überlebensfähigkeit seiner Meerschweinchenstämme
zwischen Screening für die Mediziner und der genetischen Untersuchung der
Konstitution.192
Wie die entwicklungsphysiologischen Fragen durch die Infrastruktur und
Screeningeigenschaften der Versuchstierzucht vorangetrieben wurden, illustriert auch die Zusammenarbeit Kühns mit Emil Abderhalden. „Um die Konstitutionsunterschiede mit allen Mitteln zu erfassen, habe ich eine Gemeinschaftsarbeit mit Prof. Abderhalden begonnen.“193 Das „überraschende Hauptresultat“
der Prüfung der Meerschweinchen mit der Abwehrfermentmethode war, dass
„alle übersendeten Meerschweinchengruppen streng spezifische Reaktionen
ergeben haben“, das heißt die Unterschiede im Bluteiweiß schienen „erblicher
Natur“ zu sein.194 Die weiteren Versuche wurden darauf hin unter eine genetische Fragestellung gestellt, die Mendelgenetik und Physiologie miteinander verknüpfte. Es sollten planmäßige Kreuzungen zwischen den Stämmen vorgenommen werden, da es „ein sehr wichtiges, ganz neu auftauchendes Problem [ist],
ob diese Eiweißverschiedenheiten reiner Stämme durch mendelsche Erbanlagen bestimmt sind“.195
Die Versuchstierzucht bildete einen institutionalisierten Ort von Konjunkturen
verschiedener biomedizinischer Forschungszusammenhänge. Die „reiner Erkenntnis zustrebende Genetik“, Züchtungskunde, medizinische Konstitutionsforschung, Vererbungspathologie und Rassenhygiene trafen sich in den „Fragen
der Genwirkung und der Genveränderung gleichermaßen“.196 Die Versuchstierzucht erwies sich als ein ‚Durchlauferhitzer’ für Forschungsprobleme und ermöglichte das gemeinsame Forschungsfeld der physiologischen und variablen
Mutationen. Kleine physiologische Mutationen – mal Werkzeug, mal Gegenstand – tauchten an zentraler Stelle der Fragestellungen und experimentellen
Arrangements der Strahlenbiologie, Mutationsforschung und Phänogenetik auf.
Es ist jetzt verständlich, was einen avancierten Vererbungswissenschaftler
wie Alfred Kühn zu einem aufwendigen Engagement in den Angelegenheiten
der Versuchstierzucht motivierte. Aus den vorhandenen Inzuchtstämmen des
Göttinger Instituts eingerichtet, spannte sich die Versuchstierzuchtanlage sofort
in Kühns und Krönings experimentelles Arrangement der Säugetiergenetik ein.
Im Gegensatz aber zu Nachtsheims Versuchstieren, die Medizin und Genetik
durch ihre einfache Existenz zusammenbrachten, resultierte die Vielseitigkeit
der Göttinger Versuchstiere aus der Überschneidung der züchtungstechnischen
Anforderungen medizinischer und strahlengenetischer Probleme mit denen der
Göttinger Entwicklungsphysiologie. Die „Mutabilität“ der Versuchstiere war
zugleich im Interesse der Frankfurter experimentellen Immunologie, Gegen191
4.12.1934, Kühn an Notgemeinschaft (BA Ko, R 73, 12475: Seite 4 v. 9)
Vgl. o.D., Kühn: „Zoologisches Institut...“ (BA Ko, R 73, 12475: Seite 3 v. 5) (s. Anm. 165);
Kröning 1934b.
193
4.12.1934, Kühn an Notgemeinschaft (BA Ko, R 73, 12475: Seite 4 v. 9)
194
18.6.1935, Kühn an Forschungsgemeinschaft (BA Ko, R 73, 12475: Seite 2 v. 6)
195
10.12.1935, Kühn an Forschungsgemeinschaft (BA Ko, R 73, 12475: Seite 5 v. 9)
196
Kühn 1934: 218
192
204
stand der Forschungsplanung der Strahlenkommission, evolutionstheoretischer
Fragenstellungen und Instrument für die Zwecke Kühns Institut. Die „Fülle der
Mutationen“ boten ihm „das Material für die Erforschung der Genwirkung“.197
Für Alfred Kühn und die Genetiker, die auf eine „genetische Entwicklungsphysiologie“ aus-, aber ohne ein funktionierendes experimentelles System waren,
wies die Versuchstierzuchtanlage einen Weg zur Umgestaltung des konzeptuellen Gebäudes der Genetik. Die Bemühungen um eine genetische Entwicklungsphysiologie fanden in der Dienstleistung der Versuchstierzucht („genetische Homogenisierung und Suche nach medizinisch relevante Varianten“) einen Weg,
experimentelle Differenz und konzeptuelle Innovation zu erreichen. Die institutionelle und strukturelle Einbettung und die Bedingungen ihres experimentellen
Betriebs machten das Versuchstiermanagement zu einem unverhofften Raum,
der Neues in der Genetik ermöglichte.
197
Kühn 1934: 218
205
5 Genetik und Medizin – Eine Kontroverse um Tiermodelle
„Ich betone vom Standpunkt der Eugenik aus, daß es sich nicht um Schädigungen der
Frau und ihres Kindes handelt, sondern um die künstliche Erzeugung krankhafter
1
Erbanlagen in einem ganzen Volk.“
„Es handelt sich bei diesem Widerstreit der Meinungen nicht darum, daß etwa von
Gynäkologenseite die prinzipielle Bedeutung des experimentellen Versuchsausfalls am
Objekt Drosophila geleugnet werden sollte, sondern darum, daß die Gynäkologen in
Zweifel ziehen, daß die grundlegenden Voraussetzungen bei der Drosophila und den
2
Säugern die gleichen seien.“
In Kapitel 3 wurde die Vermittlung von medizinischen und vererbungswissenschaftlichen Konzepten bzw. immunbiologischem und mendelgenetischem Experimentalsystem als eine dynamische Verbindung und Überschneidung von
materiellen und methodischen Interessen vorgestellt. Die Verbindung, um die
es im Folgenden geht, ähnelt darin, dass die Verteilung von Kompetenzen
strukturbildend wirkte – nun aber nicht in kooperativer Weise als Auflösung disziplinärer Grenzen, sondern in der konfligären Stärkung disziplinärer Diversifikation.
Der Konflikt zwischen Genetikern und Medizinern drehte sich um die Anwendung von Röntgenstrahlen in der Gynäkologie. In den zwanziger Jahren wurden
Röntgenstrahlen immer häufiger für therapeutische und diagnostische Zwecke
in der Frauenheilkunde eingesetzt. Über die möglichen schädigenden Nebenwirkungen der Strahlen entwickelte sich dort ein schwelender Disput. Gegenstand der Auseinandersetzung zwischen Röntgenologen und Gynäkologen war
die temporäre Sterilisation, also die therapeutische und befristete Ausschaltung
der weiblichen Regelblutungen durch Bestrahlung der Keimdrüsen. Als die medizinische Diskussion in eine Sackgasse geraten zu sein schien, mischten sich
Genetiker und Eugeniker in den medizinischen Diskurs ein. 1931 verabschiedete die Deutsche Gesellschaft für Vererbungswissenschaft eine Entschließung, in der die „deutsche Ärzteschaft“ eindringlich auf die Gefahr hingewiesen
wurde, die der „Nachkommenschaft durch Röntgenbestrahlung der Keimdrüsen, insbesondere bei der sogenannten temporären Sterilisation“ drohe. Die
Vererbungswissenschaftler gingen davon aus, dass dieser Umstand durch eine
große Zahl exakter Experimente belegt sei und warnten, dass die Schädigungen „unter Umständen erst nach Generationen in die Erscheinung treten“ würden.3 Die kurz gefasste Entschließung der deutschen Vererbungswissenschaftler löste unter Gynäkologen und Röntgenärzten Verärgerung über die Behauptung der Genetiker aus, Gynäkologie, Strahlenheilkunde und klinischen Medizin
verfügten nicht über die notwendige Kompetenz. Sie unterstellten ihrerseits den
Genetikern einer bloß „gefühlsmäßigen Antipathie gegen die temporäre Sterilisierung Ausdruck gegeben“ zu haben.4
Auf den verschiedensten Ebenen des wissenschaftlichen Dispositivs – Fachzeitschriften, Vortragsveranstaltungen, Kongresse, Fachgesellschaften und For1
Fischer 1930c
Dyroff 1932: 711
3
Muckermann 1932: 107
4
Nürnberger 1932: 710
2
206
schungsförderung – bemühten sich die Genetiker, eine neue Sicht auf das
Strahlenproblem durchzusetzen. Das genetische Wissen trat als eine ‚imperiale
Wissensform’ auf. Die Genetiker erreichten, dass die temporäre Sterilisation als
therapeutische Methode in der Gynäkologie weitgehend aufgegeben wurde.
Dies war aber nicht das Resultat der Klärung ‚rein’ wissenschaftlicher Fragen.5
In welcher Weise die schleichende Genetisierung des medizinischen Diskurses
erfolgte, soll entlang der Diskussion um die temporäre Sterilisation nachgezeichnet werden. Der Konflikt spielte sich auf zwei Ebenen ab. Zum einen waren die Methoden für den richtigen Zugang zum Problem umstritten. Zum anderen ging es um den richtigen Maßstab medizinischen Handelns: Wann hat der
medizinische Erfolg am Einzelindividuum zugunsten des „Intaktbleiben des
Keimgutes eines Volkes“ zurückzutreten? Die sukzessive Verschiebung des
wissenschaftlichen Problems im gynäkologischen-röntgenologischen Diskurs
schuf die Vorraussetzung für eine eugenische Umdeutung des Handlungsmaßstabs.
Es ist deshalb erforderlich, den Konflikt entlang des wissenschaftlichen
Streitgegenstands zu verfolgen und zu zeigen, wie der klinische Blick auf den
Körper der schwangeren Frau und ihre Frucht bzw. das Kind verschoben wurde. Die Transformation zum mendelgenetischen Blick beinhaltet eine doppelte
Bewegung: 1. von der Morphologie und Histologie des Köpers ‚hinab’ zur Phänomenologie der Erbsubstanz und, 2., von der individuellen Integrität der Patientin und ihres Kindes zum ‚Körper’ einer Population bzw. des „Volkes, dessen
Integrität der ‚Genpool’ oder der „Bestand an gesunden Erblinien“ (Fischer) darstellt. Von dieser Warte aus stellt sich für die genetische Problematisierung der
Röntgentherapie als die zentrale Voraussetzung der Anspruch der Genetiker
heraus, dass die an Fruchtfliegen, Mäusen und Meerschweinchen gewonnenen
strahlengenetischen Erfahrungen auf den Menschen übertragbar waren. Die
Genetiker sahen in den Röntgenexperimenten an Tieren Modellversuche, die
durch die Allgemeingültigkeit der „Vererbungsgesetze“ legitimiert waren. Die
Mediziner setzten die Spezifität der menschlichen Physiologie, Morphologie und
Entwicklungsbiologie dem entgegen.
Meine These ist, dass die Argumentation der Genetiker und Eugeniker auf
einem Komplex ideologisierter Vorannahmen beruhte. Das Selbstverständnis
der Genetik als ‚exakte Naturwissenschaft’, der evolutionstheoretische Diskurs
in den Biowissenschaften sowie seine Verankerung als Alltagswissen in maßgeblichen Teilen der Weimarer Gesellschaft bildeten die Basis für diesen Komplex, der sich an ein biologisierendes Gesellschaftsbild anknüpfen ließ. Er verlieh der Verwendung von Tieren als Modelle für die Medizin die Aura einer
Selbstverständlichkeit, die die Mediziner vergeblich in Frage zu stellen versuchten.
5
In den fünfziger Jahren wurden die Fragen nach der Strahlengefahr wieder aufgegriffen (vgl.
Kröner 1997).
207
5.1
Gynäkologie und temporäre Sterilisation
Zunächst wird auf die Methode der temporären Sterilisierung, ihre Anwendung
und Entwicklung eingegangen, um dann auf die medizinische Diskussion um
die Methode und schließlich die Intervention der Genetiker einzugehen. Die
Röntgentherapie begann mit Beginn des Jahrhunderts in der Gynäkologie Fuß
zu fassen. Nach ersten Versuchen zur Kastration 1903 erhielt die Röntgenkastration schnell einen festen Platz in der Behandlung von Myomen und Dauerblutungen.6 Im Wesentlichen wurden Röntgenstrahlen aber zunächst nur bei
Krebsleiden eingesetzt, die nicht operabel waren. In den zwanziger Jahren wurde die Strahlenbehandlung in der Gynäkologie auf viele gutartige Erkrankungen
ausgedehnt: Blutungen und entzündlichen Unterleibserkrankungen, insbesondere Entzündungen bei Gonorrhoe7, bei Genitaltuberkulose oder auch Osteomalzie8. Bis Anfang der zwanziger Jahre war die gynäkologische Strahlentherapie meist mit der Zerstörung der endokrinen und reproduktiven Funktion verbunden – entweder als Ziel oder als unvermeidliche Nebenwirkung therapeutisch hoher Strahlendosen.9
Der Ausfall der endokrinen Funktionen war insbesondere bei niedrigeren
Strahlendosen nicht immer endgültig. Die Regelblutungen setzten dann nach
einiger Zeit, nach Monaten oder auch Jahren, wieder ein. Carl Gauß und Manfred Fraenkel beschrieben 1911 erstmals unabhängig von einander die zeitweilige Amenorrhoe.10 Gauß begann sogleich damit, die temporäre Sterilisation als
therapeutisches Mittel zu propagieren. Ihr Vorteil war natürlich, dass der endgültige Verlust der Fruchtbarkeit und allerlei nachfolgende Beschwerden vermieden wurden. Dies wiederum schien es vertretbar zu machen, die gynäkologische Strahlenbehandlung auf Krankheiten auszuweiten, die nicht originär „gynäkologisch“ war, deren Verlauf aber möglicherweise durch die Röntgenbestrahlung der Ovarien beeinflusst werden konnte.11 Dennoch wurde der temporären Sterilisierung zunächst keine besondere Beachtung geschenkt. Erst als
die Universitäts-Frauenkliniken in Freiburg unter Ludwig Seitz und Erlangen unter Hermann Wintz niedrigere Strahlendosen empfahlen (1917/18), wurde die
temporäre Sterilisation vermehrt in der klinischen Praxis eingesetzt12 und gegen
Mitte der zwanziger Jahre fast von allen Seiten „aufs Wärmste empfohlen“.13
Die Frage, welche Strahlendosis angesetzt werden musste, um tatsächlich
eine temporäre Sterilisation zu erreichen und nicht den unwiederbringlichen
Verlust der Menstruation – auch euphemistisch als „verfrühter Eintritt der Menopause“ oder „Röntgenklimakterium“ umschrieben – zu riskieren, blieb umstrit6
Hier und nachfolgend, vgl. Flaskamp 1930: 216.
Gonorrhoe = sog. Tripper.
8
Osteomalzie = Erhöhte Weichheit und Verbiegungstendenz der Knochen durch mangelhaften
Einbau von Mineralstoffen.
9
Vgl. Martius 1922. – Nach und nach wurde aber ab dann auch die „reizende und stimulierende
Wirkung“ von niedrig dosierten Röntgenstrahlen entdeckt, mit denen Sterilität, „Infantilismus“
oder „Hypersexualität“ behandelt wurden (vgl. Seisser 1930: 682-83).
10
Vgl. Wintz 1930: 407.
11
Gauß und Fraenkel bestrahlten Frauen mit Lungentuberkulose in der Annahme, dass die
Menstruation den Krankheitsverlauf dieser Infektionskrankheit negativ beeinflusste.
12
Vgl. Behrendt 1925: 2488-89.
13
Driessen 1924: 656
7
208
ten. Die Wirkung der Strahlendosen auf das Befinden, die Physiologie und
Fruchtbarkeit der Frauen war von Fall zu Fall unterschiedlich.14 Eine Erklärung
war, dass die unterschiedliche Empfindlichkeit des ovariellen und innersekretorischen Gewebes, mithin die „nervöse und somatische Konstitution“ der Frau
dafür verantwortlich sei.15 Auf diese Weise wurde mit der Variabilität der Strahlenwirkung auf den weiblichen Körper die Strahlenempfindlichkeit des „Follikelapparates“ als Forschungsfeld entdeckt. Die ovariellen Veränderungen nach
Röntgenbestrahlung wurden zu einem Hauptinteresse der klinischen Forschung
und der experimentellen Röntgenologie in der Gynäkologie.16
5.1.1 Die Frage nach der Keimschädigung
Was war die biologische Wirkung der Strahlen im Ovar, und was hieß es, wenn
die reproduktiven Funktionen nach einer Zeit sich wieder regenerierten: Blieben
wirklich keine Schäden? Die unterschiedliche Wirkung der Bestrahlung wurde
mit der unterschiedlichen zerstörenden Wirkung der Strahlen auf Zellen und
Gewebe des Ovars erklärt. Die Mehrheit der Gynäkologen vertrat die Ansicht,
dass geringe Strahlendosen selektiv nur die ausgereiften Follikel zerstörten,
während die Primordialfollikel erhalten blieben. Dies erklärte, dass nach einiger
Zeit mit den nachreifenden Eiern die Menstruation wieder einsetzte. Bei einer
sukzessiven Erhöhung der Strahlendosis wurden hingegen auch unausgereiftere Follikel, dann alle Eier des Ovars und schließlich auch das besonders
strahlenresistente innersekretorische Gewebe zerstört.17 Die Frage blieb, ob
das alles war. Schon kurz nach der „Entdeckung“ (Flaskamp) der temporären
Sterilisation wurden erste Überlegungen angestellt, ob unzerstört gebliebene
Zellen oder solches Gewebe verborgene Schäden davon tragen konnten. Die
Befürchtung war, dass nach wiedererlangter Fruchtbarkeit ein Kind noch durch
die lang zurückliegende Strahlenwirkung geschädigt werden könnte.18 Die Frage schien im Lichte von an Hodengewebe gemachten Erfahrungen allerdings
zunächst nicht dringlich.19
14
Die Variabilität der Strahlenwirkung war zuallererst ein Problem der exakten biologischen
Dosimetrie, also der technischen Frage, wie unabhängig von den körperlichen Besonderheiten
ein bestimmtes, tiefer gelegenes und nicht genau lokalisierbares Gewebe mit einer berechenbaren Strahlenmenge erreicht werden konnte. Als Gründe wurden aber auch die Art des behandelten Leidens, das Alter der Frauen und die „konstitutionelle Minderwertigkeit des Organismus“
genannt (v. Schubert nach Kauffmann 1932: 999).
15
Vgl. Flaskamp 1930: 223.
16
Histologische und zelluläre Veränderungen der Ovarien nach Röntgenbestrahlung waren
erstmals 1907 – nach vorhergehenden tierexperimentellen Untersuchungen – beschrieben
worden (vgl. Flaskamp 1930: 216-21).
17
Vgl. Flaskamp 1930: 222.
18
Vgl. Martius 1931: 47.
19
Die Strahlenwirkung auf die Generationsorgane war – bevor die temporäre Sterilisation bei
Frauen beschrieben worden war – bereits 1903 tierexperimentell untersucht worden (an Kaninchen und Meerschweinchen durch Albers-Schönberg, dann an Ratten durch Bergonié und
Tribondeau). Die festgestellten Veränderungen an den Hoden der Tiere waren zugleich die
ersten bekannt gewordenen biologischen Strahlenwirkungen auf tiefer liegendes Gewebe (vgl.
Flaskamp 1930: 200). Eine mögliche Schädigung der Kinder, die in kurzem zeitlichem Abstand
nach einer Bestrahlung gezeugt wurden, wurde ausgeschlossen. Die Vorstellung war, dass die
Bestrahlung zu einer Zerstörung von Samenzellen führt und damit auch zu einer kurzzeitigen
Sterilität des Mannes. Mit der Zeit würde sich aber das Hodengewebe morphologisch und
funktionell vollständig regenerieren. Eine Gefahr für die Nachkommen konnte somit ausge-
209
Den Überlegungen zur Schädigung unbefruchteter Eizellen war gemeinsam,
dass sie als völlig äquivalentes Problem zur Strahlenschädigung von befruchteten Eizellen betrachtet wurde. Diese Annahme strukturierte den Diskurs über
die Strahlenwirkung entscheidend, wie gleich noch zu sehen ist. Aus der Sicht
der Pathologie war es kein wesentlicher Unterschied, ob die Schädigung einer
Frucht aus der vorhergehenden Schädigung der Keimzellen oder der direkten
Schädigung des Embryos und Fötus resultierte; denn beide Male beruhte sie
auf zellularpathologischen Mechanismen. Diese Interpretation entsprach allgemeinen Überlegungen zu Strahlenschäden, die Anfang der zwanziger Jahre zu
einem wichtigen Thema in der Röntgenologie wurden. Nach einer euphorischen
Aufschwungphase der Röntgentherapie zwischen 1910 und 1920 war nämlich
die Ernüchterung im „Rausch der ersten Erfolge“ erfolgt; in der Öffentlichkeit
wurde die Röntgentherapie nachhaltig diskreditiert, als sich die schädliche Wirkung der Bestrahlung herumsprach.20 Das Misstrauen wurde dadurch verstärkt,
dass die Ärzte „gewissermaßen nur hinter verschlossen Türen diskutierten“.21
Die Diskussion um die „Nachkommenschaftsschädigung“ erfuhr aber eine
Wende mit dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie 1925 in
Wien, auf dem in zwei Diskussionsbeiträgen über strahlengeschädigte Kinder
berichtet wurde.22 Die vehemente Kritik darauf wiegelte die Funde als Zufallsfunde ab.23 Der Bonner Gynäkologe Heinrich Martius schloss sich aber der Auffassung über die Keimschädigungsgefahr an,24 und der verdiente Gynäkologe
Hugo Sellheim bezeichnete nun die Bestrahlung zur temporären Sterilisation als
ein verwerfliches Experimentieren mit menschlichen Nachkommen.25 Die Unsicherheit in der Frage der Fruchtschädigung durch die temporäre Sterilisation
war zu einem legitimen Problem im gynäkologisch-röntgenologischen Diskurs
geworden.
schlossen werden, da die nachreifenden Samenzellen ungeschädigt waren bzw. sich von der
Bestrahlung erholt hatten. (Den Patienten wurde „verboten“, bis zur vollständigen Regeneration
des Hodens sich sexuell zu betätigen.) Die histologischen und zellularpathologischen Untersuchungen im Tierexperiment bestätigten diese Annahmen. Statistische Untersuchungen an Familien von Röntgenologen und Röntgenarbeiter, die eine Phase der Sterilität durchgemacht
hatten, ergaben darüber hinaus, dass – nach Angaben der Väter – die Kinder geistig und körperlich gesund und normal waren. Erwähnenswert ist, dass solche systematischen Erhebungen
zunächst nur bei Ärzten und dem Personal von Bestrahlungseinrichtungen angestellt wurden,
nicht bei den bestrahlten Patienten. Bis Mitte der zwanziger Jahre blieb die These, dass eine
„Schädigung der Deszendenz infolge Bestrahlung der väterlichen Keimdrüsen nicht möglich ist“,
unerschüttert (Flaskamp 1930: 209).
20
Flaskamp 1930: 1-2
21
Flaskamp 1930: 2. Das Schweigen der Sachverständigen, so der Röntgenologe Flaskamp
entschuldigend, sei von dem Wunsch diktiert gewesen, „zunächst einmal restlos die Ursachen
der Schädigungsmöglichkeiten zu klären und Mittel und Wege ihrer Verhütung zu finden“ (vgl.
ebd.: 1-2). Flaskamps Habilitationsschrift von 1929 war die erste Monographie zum Thema der
Strahlen- und Röntgenschäden.
22
An Kindern röntgenologisch tätiger Männer seien „mongoloide Anzeichen“ beobachtet worden, bzw. sie waren „imbezill“. Zudem sei ein röntgengeschädigtes Kind („ausgesprochener
Mongolismus“) geboren worden, dessen Mutter eine temporäre Sterilisation erlitten hatte (vgl.
Gummert nach v.Mikulicz-Radecki 1925: 1708 bzw. Seynsche 1926).
23
Vgl. Martius 1927a: 102; Flaskamp 1930: 244.
24
Vgl. Martius nach v.Mikulicz-Radecki 1925: 1708.
25
Vgl. Flaskamp 1930: 211.
210
Die aufbrechenden konträren Auffassungen brachten schnell die umkämpften Gegenstände zum Vorschein. Diese waren das Ei und die Regenerationsfähigkeit der reproduktiven weiblichen Funktionen. Was hieß es, wenn nach
einiger Zeit das Ovar funktionell und morphologisch „vollständig wieder hergestellt“ war? Bedeutete die funktionelle Regeneration zugleich, dass die nachgereifte Generation befruchtungsfähiger Eier bzw. Eifollikel völlig unbeschädigt
und „biologisch vollwertig“ war?26 Es war denkbar, dass die Bestrahlung eine
Veränderung der Zellbiologie bewirkte, „die bei dem Ei zu einer makroskopisch
und mikroskopisch gar nicht in Erscheinung tretenden Schädigung zu führen
braucht, die die Konzeptionsfähigkeit nicht stört und sich gegebenenfalls im
späteren Leben in irgendeiner Abnormität, in einer krankhaften Anlage oder
einer konstitutionellen Minderwertigkeit äußert, also Individuen entstehen läßt
die sich ihren nicht strahlengeschädigten Altersgenossen gegenüber als minderwertig erweisen“.27 Zugleich wurden die bisherigen histologischen und zellulären Untersuchungen in Frage gestellt. Der Maßstab für die Vollwertigkeit der
Eier konnte nicht mehr die Befruchtungsfähigkeit sein, da die Strahlenwirkung
nun von ihr entkoppelt war, sondern die Fähigkeit, gesunde Früchte hervorzubringen. Über die Frage aber, ob befruchtungsfähige Eier geschädigt sein
konnten, kam es nun in der deutschen Gynäkologie zu einer Lagerbildung.28
5.1.2 Die Zeichen der „Vollwertigkeit“ einer Eizelle und der verschobene Blick
in das Innere der Eizelle
Mitte der zwanziger Jahre fand der Hallenser Gynäkologe Ludwig Nürnberger,
ein Befürworter der Strahlenpraxis, in Bestrahlungsversuchen mit Mäusen zwar
keine Anzeichen dafür, dass die Mäusenachkommen geschädigt worden waren,
wohl musste er einräumen, dass schwache Bestrahlung reife Eizellen schädigen konnte, ohne sie zu zerstören und ihre Befruchtungsfähigkeit zu beeinträchtigen.29 Dies bestätigte die Infragestellung der Gleichsetzung von Befruchtungsfähigkeit und Unversehrtheit der Eizellen. Nürnberger führte darauf eine
Unterscheidung ein, die die Annahme der Unbedenklichkeit der temporären
Sterilisation weiterhin ermöglichte.30 Mit „Frühbefruchtung“ bezeichnete er die
Konzeption kurz nach einer Bestrahlung und vor dem Versiegen der Regelblutung, bei der die reifsten und empfindlicheren Eizellen zur Befruchtung kämen.
Die ungefährliche „Spätbefruchtung“ meinte dann die Konzeption nach Ablauf
der temporären Sterilität. Die Unterscheidung stützte sich im Prinzip weiterhin
26
Flaskamp 1930: 222 u. vgl. 226.
Schönholz 1925
28
Die Kliniken von Carl Gauß in Würzburg, Hermann Wintz in Erlangen, Georg Winter in Königsberg, Ludwig Seitz in Frankfurt und Albert Döderlein in München wie auch die Gynäkologen
Hermann Stieve und Hans Naujoks vertraten weitestgehend die Auffassung, dass eine Schädigung von Nachkommen durch bestimmte Strahlendosen nicht zu erwarten war. Zeitweise
empfahlen sie aus Gründen der Vorsicht vorerst eine mäßigende Verwendung der Methode. Sie
waren aber vor allem von dem ungeheuren therapeutischen Nutzen überzeugt, der sich durch
die temporäre Sterilisation in der Gynäkologie und über sie hinaus eröffnen würde („Der temporären Sterilisation gehört die Zukunft.“; Winter zit. n. Behrendt 1925: 2505). Dies wurde
wiederum von anderer Seite bestritten. Einen deutlich kritischen Standpunkt gegenüber der
Anwendung der temporären Sterilisation vertrat unter anderen Hugo Sellheim in Leipzig.
29
Vgl. Nürnberger 1926.
30
Vgl. Nürnberger nach Geppert 1926: 1093.
27
211
auf die Vorstellung von der unterschiedlichen Angreifbarkeit der Eizellen je nach
ihrem Reifegrad, nur war sie nun an die neuen Unterscheidungserfordernisse
angepasst.
Die Unterscheidung von Früh- und Spätbefruchtung erlaubte es, das Konzept
der „vollwertigen“ Eizellen zu retten. Zwar war nicht jede überlebende Eizelle
nach einer Bestrahlung vollwertig, aber die jüngsten Entwicklungsstadien, genau die, die nach der Phase der Sterilität ausreiften, konnten nach Nürnberger
als vollwertig gelten. Die Parallelität von Befruchtung und Gesundheit blieb gewahrt. Und die makroskopischen und mikroskopischen Gewebebefunde und die
endokrine Physiologie galten weiterhin als Zeichen für die zellulären Zustände
der Eizellen; nur hatte sich ihre Repräsentationsmöglichkeit auf die Zeit nach
Eintritt der Phase der Sterilität verschoben. Diese Unterscheidung wurde zu
einer der am härtesten umkämpften Markierung in der Diskussion um die Keimschädigung durch Röntgenstrahlen. Sie war vom Konzept der abgestuften
Strahlenwirkung hervorgebracht worden, und jetzt hing dieses an ihr.
Nichtsdestotrotz stellten Nürnbergers Untersuchungen einen Einschnitt dar,
da nun nicht mehr bestritten werden konnte, dass die Bestrahlung der Ovarien
prinzipiell Schädigungen der Nachkommen herbeiführen konnte.31 Frauen wurden nach Bestrahlung mit schwachen und mittleren Strahlendosen nun empfohlen, eine Konzeption unter allen Umständen zu vermeiden.32 Ein Teil der Ärzte
machte aber weiterhin geltend, dass noch nie ein Kind nachweislich mit Schäden geboren worden war, die auf eine Bestrahlung vor der Befruchtung zurückgeführt werden konnten. Geschädigte Keime aus geschädigten Eizellen würden, so argumentierten sie, in frühen Entwicklungsstadien noch vor der Einnistung in der Uterusschleimhaut oder kurz danach zugrunde gehen.33 Mit dieser
Argumentation wurde das Interesse von den Eizellen auf die Keime und Früchte
verlagert.
Die Unterscheidungen verschoben unmerklich das Problem der Debatte. Die
Argumentation implizierte zuletzt, dass Schädigungen effektiv keine Rolle spielten, solange die bestrahlten Frauen gesunde Kinder zur Welt brachten. Ließ
man sich darauf ein, verschwanden die Furchungen des Keims, die embryonalen Verwicklungen und die fötale Entwicklung als Bezugpunkte eigenen Rechts
im praktischen Diskurs und der wissenschaftlichen Befragungen; die normative
Kraft ging nun von der fertigen Erscheinung des Kindes aus. Diese Verschiebung des Blicks war ähnlich und passend zu der, die später die Genetiker bewirkten. In der Strahlengenetik der Fruchtfliege interessierte auch nur die geschlüpfte Larve als Indikator für unsichtbare Erbfaktoren. Alles dazwischen, die
gesamte generative Physiologie, zelluläre und embryonale Entwicklung, konnte
ausgeklammert werden.
Entgegengesetzt, aber ebenso auf die Intervention der Genetik vorbereitend,
verschob die „Spätbefruchtung“ den gynäkologischen Diskurs. Mit der Spätbefruchtung richtete sich das Interesse auf den Zeitpunkt nach der von einer Frau
erlittenen Amenorrhoe. Denn Nürnberger hatte die Befürchtung nicht widerle31
Vgl. Martius & Franken 1926: 25.
Von einzelnen Ärzten wurde gefordert, eine Schwangerschaft nach einer solchen Bestrahlung
als Indikation zur Schwangerschaftsunterbrechung zuzulassen.
33
Vgl. Nürnberger nach v.Mikulicz-Radecki 1925: 1713.
32
212
gen können, dass auch die jüngsten und unempfindlichsten Eizellstadien unmerklich durch die Bestrahlung geschädigt würden. Die Befürworter der Strahlentherapie und temporären Sterilisation argumentierten nach bekanntem Muster dagegen, indem sie anhand histologischer Untersuchungen immer weiter
spezielle Zellen, bestimmte Zellstadien und Gewebe nach der Strahlenwirkung
differenzierten, immer weitere Binnendifferenzierungen des materiellen Substrats vornahmen, die immer neue unempfindliche Bereiche in den Keimdrüsen
schufen oder anzweifeln ließen, dass mutierte Eizellen zur Befruchtung gelangen konnten.34 Durch diese Differenzierungen wurde umgekehrt das Augenmerk der Skeptiker immer weiter auf frühere Stadien der Eizellengenealogie,
tiefer liegende Orte der weiblichen Keimbahn und unzugänglichere Mechanismen der reproduktiven Physiologie gerichtet.
Sollte der gesamte keimfähige Körper – also auch frühe Eifollikel, unreife Eizellen und Primordialzellen – so strahlenempfindlich sein, dass mit Schäden zu
rechnen war, dann konnte von einer vollständigen Restitution der generativen
Organe nach einer temporären Sterilisation nicht mehr die Rede sein. Das medizinische Dilemma, bei einer zerstörenden therapeutischen Methode zwischen
Nutzen und Schaden abwägen zu müssen, würde sich zuspitzen. Ab Mitte der
zwanziger Jahre waren diese Fragen im gynäkologischen Diskurs explizit. Die
organische und zelluläre Vertiefung der Frage nach der Schädigung von Keim,
Frucht und Kind verschärfte das Problem und öffnete vererbungswissenschaftlichen Fragestellungen, die sich auf ähnliche Tiefendimensionen bezogen,
einen Raum.
5.1.3 Genotypische Keimschädigungen und die Rezeption der Strahlengenetik
Die Frage, ob Strahlen Schäden in der Erbsubstanz bewirken könnten, spielte
in der gynäkologischen Diskussion lange keine besondere Rolle. Erstmals wurden auf der Versammlung Deutscher Naturforscher 1926 in Düsseldorf explizit
die genetischen Schädigungsmöglichkeiten von anderen unterschieden. Der
Gynäkologe Heinrich Martius belehrte seine Kollegen: „Wir müssen uns daran
gewöhnen, die jetzt geltenden klaren Begriffe der Vererbungslehre zu übernehmen, da wir sonst Gefahr laufen, an einander vorbeizureden.“35 Erstmals wurde
die vererbungswissenschaftliche Unterscheidung von Phänotyp und Genotyp
eingeführt, die eine unberücksichtigte Gefahr artikulierbar machte. Ist es möglich, dass die „phänotypisch gesunden bzw. gesund erscheinenden Nachkommen genotypisch krank sind“?36
34
Der Berliner Gynäkologe Manfred Fraenkel war der Auffassung, dass jedes Eistadium gefährdet sei, dass die Schädigungen aber so gering sind, dass die Früchte ungeschädigt bleiben
(vgl. Fraenkel 1924). Seitz (Frankfurt): Die geschädigten Primärfollikel würden sich restlos
erholen, ähnlich wie nach Infektionen oder Intoxikationen (vgl. Seitz nach v.Mikulicz-Radecki
1925: 1713).
35
Martius Ausspracheprotokoll zit. n. Ottow 1926. – Martius grenzte parakinetische – nichterbliche – Keimschäden von echten Erbschädigungen durch Mutationen ab und unterschied
dem entsprechend „Phänohygiene“ von der „Genohygiene“, musste aber eingestehen, dass
sich die genetischen Zusammenhänge noch lange einer Beurteilung entziehen würden (vgl.
Martius 1927a: 121-23). Martius bezog sich bei der Annahme, dass Röntgenstrahlen
Mutationen auslösen können, auf Vermutungen von Fritz Lenz im Baur-Fischer-Lenz.
36
Martius 1927a: 105
213
Im Begriff der Keimschädigung war bislang die Schädigung des Follikels und
der reifenden Eizelle von der der Frucht getrennt worden, ohne besondere Qualitäten der Schädigung zu unterschieden. Die Experimente hatten dazu geschwiegen.37 Dies änderte sich mit den „aufsehenerregenden“ strahlengenetischen Experimenten der amerikanischen Genetiker Clarence Little und Halsey
J. Bagg am Jackson Memorial Laboratory, die das „Vorkommen von Schädigungen in späteren Generationen in den Bereich des Möglichen“ rückten.38 Sie
berichteten von diversen Missbildungen in der Urenkelgeneration von bestrahlten Mäusen. Tierexperimente hatten bislang in der deutschen Diskussion kaum
eine Rolle gespielt. Die vereinzelten ‚Gelegenheitsexperimente’ wurden nun
aber einer verschärften Kritik unterzogen, wie auch die Verlässlichkeit und
Übertragbarkeit der Versuchsergebnisse Little und Baggs sogleich angezweifelt
wurden.39 Heinrich Martius begann in von Franqués Bonner Klinik als erster
(deutscher) Gynäkologe mit systematischen Tierexperimente zur Röntgenfrage.40 Er wurde zugleich einer der vehementesten Warner vor möglichen Gefahren der Strahlentherapie in der Gynäkologie. Als Sohn des Konstitutionspathologen Friedrich Martius war er mit der Vererbungsproblematik vertraut, ebenso
mit der modernen Erblichkeitslehre. Martius stellte sich hinter die Versuche
Little und Baggs und versuchte zunächst dem Einwand entgegen zu treten,
dass die Missbildungen Wirkungen der Inzucht seien.41
Die Welle von Untersuchungen, die Mitte der zwanziger Jahre durch vereinzelte Verdachtsberichte über geschädigte Kinder und durch die Säugetierversuche angeschoben wurden, führten zu keinem abschließenden Ergebnis. Die
Diskussion befand sich auf einem „toten Punkt“, da sich die Ansichten „schroff
und unvermittelt“ gegenüber standen.42 Unübersehbar war allerdings, dass sich
jetzt die erbbiologische Schädigungsmöglichkeit als gesonderte Frage absetz37
Vgl. Martius 1927a: 118.
Dyroff 1927: 305 (Bezug auf: Little u. Bagg: The occurrence of the heritable types of
abnormality among the descendants of x-rayed mice, Americ. journ. of rontg. a. rad. therapy,
10, 1923) – Die amerikanischen Arbeiten wurden in Deutschland erst 1926 diskutiert (vgl.
Flaskamp 1930: 234).
39
Vgl. zum Beispiel Nürnberger 1927: 143ff.. – Die aufgetretenen Auffälligkeiten oder Missbildungen am Nachwuchs könnten durch nicht kontrollierte Milieueinflüsse verursacht worden sein
(vgl. Dyroff 1927). Rudolf Dyroff, Assistent an Wintz’ Erlanger Frauenklinik, bestrahlte Meerschweinchenweibchen und konnte bis in die 6. Generation „keinerlei Schädigungen der Nachkommen“ beobachten (vgl. Flaskamp 1930: 236). Nürnberger begann eigene Strahlenexperimente und kritisierte zugleich die Amerikaner (vgl. Nürnberger 1930: 448). – Little und Bagg
selbst konnten, als sie unter Ausschluss des Inzuchtfaktors ihre Experimente wiederholten, unter mehreren Tausend Mäusenachkommen keine Schäden finden – zur Genugtuung der Mediziner in Deutschland (vgl. Martius 1927b: 2603).
40
1922 hatte der Amerikaner Mavor Versuche an der Obstfliege Drosophila publiziert, bei denen an den geschlüpften Fliegen morphologische Veränderungen auftraten, die er als genetisch
bedingte Keimschädigungen interpretierte. Martius, der zu dieser Zeit noch bestritt, dass nach
einer temporären Sterilisation Missbildungen auftreten könnten (vgl. Martius 1922), begann darauf mit eigenen Strahlungsversuchen an Mäusen.
41
Vgl. Martius & Franken 1926: 27.
42
Nürnberger 1927: 125 – Die Schwierigkeiten lagen unter anderem in der Vergleichbarkeit unterschiedlicher experimenteller Vorgehensweisen (vgl. Flaskamp 1930: 236-37). Flaskamp kritisiert an dieser Stelle, dass meist eine exakte Formulierung der Fragestellung fehlte. Die Ergebnisse würden so oft entsprechend einem „Gefühlsmoment“ gedeutet. Die zu lösende Aufgabe
enthielte zahllose Unbekannte, da die Kenntnis der Natur der Röntgenstrahlen und ihrer
biologischen Wirkung lückenhaft sei.
38
214
te.43 Mit zunehmender Bedeutung tierexperimenteller Arbeiten baute sich zudem ein Gegensatz zwischen tierexperimentell arbeitenden Medizinern und
solchen auf, die als Röntgenologen oder Gynäkologen die Röntgentherapie als
probates therapeutisches Mittel in der Klinik einsetzten. Der Gegensatz in den
Auffassungen wurde zunehmend als Gegensatz unterschiedlicher wissenschaftlicher Provenienz abgebildet: „Erbforscher“ und Gynäkologen standen
sich gegenüber, auch wenn die ‚echten’ Erbforscher noch gar nicht aufgetreten
waren.44 Die Unterscheidung von Erbforschern und Gynäkologen verdeutlichte,
wie weit die Strahlengefährdung mittlerweile als genetisches Problem verstanden wurde: „Die Mehrzahl der röntgentherapeutisch erfahrenen Gynäkologen
sind unter dem Eindruck von Hunderten von Beobachtungen an der Frau mehr
und mehr zur Einigung im Sinne der Ablehnung der Gefahr der Nachkommenschaftsschädigung gekommen. Bei den Erbforschern ist die Übereinstimmung
nicht derartig groß.“45
Wenn die vererbungswissenschaftlich arbeitenden Mediziner sich noch uneins waren, so traf das auf die Vererbungswissenschaftler außerhalb der Medizin nicht zu. Unter dem Eindruck des 1927 in Berlin abgehaltenen Internationalen Kongress für Genetik waren sie sich einig in der Einschätzung der Gefahr, die von den Röntgenstrahlen ausging. Der amerikanische Genetiker Hermann Muller hatte in einem bahnbrechenden Vortrag über seine Strahlenexperimente mit der Fruchtfliege Drosophila die Mutationswirkung von Röntgenstrahlen nachgewiesen. Dieses Ergebnis erfasste auch die Debatte in der Gynäkologie. „Die Verquickung des Problems der Strahlenschädigung des Eierstocks mit
Fragen der Nachkommenschaftsschädigung durch röntgenogene Störungen
der Erbmasse ist eins der brennendsten Probleme der Gynäkologie geworden
und hat zu einem lebhaften Gedankenaustausch geführt.“46 Erstmals wurde
1929 auf der Jahrestagung der Gynäkologen die Frage nach der Keimschädigungsgefahr im Lichte der Mullerschen Versuche diskutiert. Die Redner und
Diskutanten waren sich einig, dass, wenn auch die prinzipielle mutative Wirkung
von Röntgenstrahlen nicht zu bestreiten war, die Übertragung der Drosophilaexperimente auf die medizinische Strahlenanwendung nicht ohne weiteres möglich war. Unterschiede machten sich in der Bewertung der Ergebnisse für die
medizinische Praxis fest. Insbesondere die süddeutschen Gynäkologen vertraten mehrheitlich die Auffassung, dass die theoretische Gefahr, die aus den
Mullerschen Experimenten folgte, einen Verzicht auf die therapeutische Verwendung der temporären Sterilisation nicht rechtfertigte.47
43
Die Kenntnis der mendelschen Genetik war aber oft so unklar, dass der Unterschied der
Schädigungswege nicht immer verstanden wurde. So wurde bspw. die Erbschädigung in
Begriffen der „Vererbung erworbener Eigenschaften” gefasst (vgl. Dyroff 1927: 306).
44
Heim nach Vogt 1927: 1078-79
45
Flaskamp 1930: 230
46
Flaskamp 1930: 229
47
1930 gestaltete sich die Tagung der Bayerischen Gesellschaft für Geburtshilfe und Frauenheilkunde in München als eine konzertierte Mobilmachung gegen die Welle von tierexperimentellen Röntgenversuchen und Mutationstheorien. Der engere Kreis, zumeist Schüler des Münchener Gynäkologen Albert Döderlein, bildete sich aus den Kliniken in Würzburg (C. J. Gauß),
Erlangen (H. Wintz) und München, sowie Halle (L. Nürnberger u. H. Stieve) und Marburg (H.
Naujoks u. E. Kehrer) (vgl. Festband: Strahlentherapie, 37, 1930 u. Tagungsbericht nach Dyroff
1930).
215
Gegen die genetischen Experimente wurde eingewendet, dass den Versuchen an der Fruchtfliege alle Voraussetzungen fehlten, das spezifische
gynäkologische Problem der Spätbefruchtung zu klären. Bei Schmetterlingen
könne zwischen reiferen und unreiferen Eizellen nicht differenziert werden, da
sich die Eier in mehreren Eischläuchen gleichzeitig in verschiedenen Stadien
der Reife befänden.48 Das Fazit der Gynäkologen: „Wir vermissen aber die
Beziehung zu unserer Kardinalfrage, [...].“49 Zahlreiche klinische Kasuistiken
wurden angeführt, nach denen Frauen, die nach einer temporären Sterilisation
schwanger geworden waren, normale und gesunde Kinder zur Welt gebracht
hatten.50 Die Entgegensetzung der Meinungen lief demnach auf eine methodische Frontstellung von klinischer und tierexperimenteller Medizin bzw. Genetik hinaus.
5.2
Von der Individualmedizin zur Eugenik: Die Intervention
der Genetik
51
„Man muß entweder die Keimdrüse ganz zerstören oder sie vor Strahlen schützen.“
Als sich die Genetiker in den Diskurs um die „Nachkommenschädigung“ einschalteten, befand sich die gynäkologische Diskussion noch in jener Pattsituation, in der das Festhalten an den jeweiligen Standpunkt „zu einer Glaubensfrage geworden“ war.52 Schon kurz nach dem internationalen Genetikerkongress meldeten sich Genetiker und Humangenetiker zu Wort – allen voran
der Mediziner und Direktor des Münchener Instituts für Rassenhygiene, Fritz
Lenz. Mullers Vortrag sei der „wissenschaftliche Höhepunkt der Tagung“ gewesen.53 Seine eigenen Vorhersagen, die er in der „Menschlichen Erblichkeitslehre“ über die Bedeutung der Strahlen für die „Entartungsfrage gemacht“ hatte,
seien bestätigt worden. Unzulänglichkeiten in der Methodik und biologischen
Fragestellung hätten bis jetzt aber die Einsicht verhindert, dass Röntgenbestrahlung ziellos ungerichtete Mutationen auslösen.
An die röntgentherapeutisch arbeitenden Ärzte richtete Lenz deutliche Warnungen.54 Ihm folgte Eugen Fischer, der sich über die Berliner Gesellschaft für
Rassenhygiene (Eugenik) an ein breiteres akademisches Publikum sowie an
Eugeniker und Ärzte wandte. Fischer initiierte zugleich epidemiologische Erhebungen an seinem Institut, dem Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie,
48
Vgl. Flaskamp 1930: 230. – Andere Argumente waren, dass die Befruchtung der Drosophilaweibchen bald nach der Bestrahlung erfolgt war, was bei einer Analogisierung der Versuche
einer Frühbefruchtung beim Menschen entsprach. Und: Von temporärer Sterilisation könne bei
den meisten genetischen Versuchsobjekten nicht gesprochen werden, da eine Röntgenamenorhoe – Ausfall der Regelblutungen – bei Fliegen unmöglich sei.
49
Flaskamp 1930: 231
50
Ende der zwanziger Jahre wurden bereits mehr als 300 solcher Beobachtungen aufgelistet.
51
Diskussionsanmerkung E. Fischers nach Schultze 1930: 2038
52
Aussprachebemerkung von Nürnberger nach Ottow 1929: 1920
53
Hier und nachfolgend: Lenz 1927a: 1731. Gemeint ist das einflussreiche humangenetische
Lehrbuch von Erwin Baur, Eugen Fischer und Lenz (1. Auflage 1921), in dem Lenz die Teile
„Krankhafte Erbanlagen“ und „Menschliche Auslese und Rassenhygiene“ verfasste (vgl. Lenz
1923: 313-15).
54
Vgl. Lenz 1927b: 2136.
216
menschliche Erblehre und Eugenik. Polemisch wandte er sich gegen den Münchener Gynäkologen Albert Döderlein und bemerkte, dass das Prinzip „primum
non nocere“ nicht nur für die individuelle Behandlung, sondern „auch für die
Erblinie“ gelten müsse.55 Fischers eugenische Position fand aktive und vehemente Unterstützung durch die Vererbungswissenschaft. Den Berliner
Eugenikern und Genetikern gelang es, gegen die mächtige Opposition im
süddeutschen Raum eine große Zahl von Gynäkologen und Röntgenologen für
ihre Sache einzunehmen. Sie mobilisierten von Berlin aus – in den Worten von
Latour – ein „center of calculation“56, ein durchsetzungsfähiges Konglomerat
aus experimenteller Unterstützung, konzeptueller Verknüpfung, Loyalität und
Geltungsansprüchen. In einem Netz von begrifflichen Gleichungen
(„calculations“) wandelte sich die klinische Strahlengefahr für Leib und Leben
ungeborener Kinder in die eugenische von ‚ungeborenen’ Mutationen
rezessiver Gene.
5.2.1 Von der Keimschädigung zur Schädigung der Keimbahn
Den Auftakt zur offenen Konfrontation zwischen Genetik und Gynäkologie gab
die Tagung der Deutschen Röntgenologischen Gesellschaft in Berlin im April
1930. Die Verhandlungen unter dem Themenschwerpunkt „Erbschädigung
durch Bestrahlung“, resümierte der Referent, „nahmen in der Aussprache einen
geradezu sensationellen Verlauf“.57 Von verschiedenen Seiten wäre festgestellt
worden, dass – bei Übertragung der tierexperimentellen Ergebnisse auf den
Menschen – konsequenterweise „jede Anwendung von Röntgenstrahlen zum
mindesten zunächst bis zur Klärung dieser Frage unterbunden werden müßte“.
Zum Thema referierten keine Röntgenologen, sondern eingeladene Genetiker.
Hans Stubbe, Assistent am Kaiser-Wilhelm-Institut für Züchtungsforschung,
berichtete über Radium- und Röntgenstrahlen als mutationsauslösende Faktoren anhand eigener Versuche am Löwenmäulchen und Emmy Stein über ihre
Experimente, die sie seit Anfang der zwanziger Jahre am Institut für Vererbungsforschung der Landwirtschaftliche Hochschule über die Wirkung der
Strahlen auf das Pflanzengewebe ausführte. Stubbe stellte die Wirkung von
Strahlenmutationen dar. Sie würden fast immer zu pathologisch veränderten
Formen führen, deren Lebensfähigkeit stark herabgesetzt ist. Die bestrahlten
Pflanzen seien mit normalen Pflanzen deshalb nicht mehr konkurrenzfähig. Für
den Mediziner wären diese Ergebnisse von Interesse, hob Stubbe mit ausdrücklichem Hinweis auf die temporäre Sterilisation hervor, da „mit Sicherheit“
anzunehmen sei, dass „diese Ergebnisse auch für den Menschen Geltung
haben“.58
Von entscheidender Bedeutung in der Argumentation war die Methodik. Die
Überprüfung der Pflanzen in der Enkelgeneration hatte ergeben, dass geschädigte und fortentwicklungsfähige Zellen zunächst zwar zu ganz gesunden Individuen führen, dass sich die krankhaften – rezessiven – Erbfaktoren dann aber
in den nächsten Generationen manifestierten. Auch nach Stein war dieser
55
Fischer 1930a: 373 – Zu Döderlein, vgl. Fußn. 47.
Latour 1987: 239
57
Hier und nachfolgend: Schultze 1930: 2036
58
Stubbe nach Schultze 1930: 2036-37
56
217
Schritt, die F2- und Urenkelgenerationen in die Betrachtung einzubeziehen, entscheidend. „Die Kreuzung kranker Pflanzen mit gesunden ergibt in der ersten
Generation Pflanzen, die zum größten Teil äußerlich nur schwer von gesunden
zu unterschieden sind [...] Die zweite Generation enthält wieder die ganz kranken und ganz gesunden Großelterntypen.“59
Wirklich Neues zu den bereits unter den Röntgenologen und Gynäkologen
bekannten Drosophilaversuchen und zum Problem der temporären Sterilisation
konnten Stubbe und Stein nicht berichten, doch mit diesen Referaten waren die
Orientierungspflöcke der Genetik für der Anwendung von Röntgenstrahlen eingeschlagen. Erwin Baur, unter dessen Leitung die Pflanzenversuche Stubbes
und Steins standen, konnte nun in einer Art Koreferat die Eckpunkte der botanischen Bestrahlungs- und Vererbungsversuche zu einem Orientierungsrahmen
für die Frage der medizinischen Anwendung der Röntgenstrahlen verbinden.
Die rezessiven Mutationen seien die eigentliche Bedrohung. Die Kulturmenschheit schleppe „schon einige hundert mehr oder weniger unangenehmer pathologischer Erbfaktoren mit herum“.60 Diese Anlagen würden sich ungehemmt verbreiten und durch Strahlen und andere Keimgifte – eventuell auch Arzneimittel
– ständig vermehrt. Über eine untere schädliche Dosis der Bestrahlung sei bislang nichts bekannt.
Die strahlengenetische Sichtweise der Röntgenanwendung lenkte die Aufmerksamkeit auf eine einfache, aber zwingende Kaskade von Aussagen: Strahlen erzeugen Mutationen. Mutationen führen zu (rezessiven) pathologischen
Erbfaktoren. Pathologische Faktoren sind unauslöschlich und bewirken irgendwann mit Sicherheit Schädigungen am Menschen. Die temporäre Sterilisation
und der Einsatz von Röntgenstrahlen überhaupt wurden damit in Frage gestellt.
Das Problem war allerdings zunächst, den Medizinern zu verdeutlichen, dass
die genetischen Strahlenschäden in den klinischen Untersuchungen auf Grund
der geringen Fallzahlen unentdeckt bleiben mussten.61 Deswegen die Betonung
der Methode. Am einfachen botanischen Objekt ließ sich den Medizinern auf
dem Berliner Kongress vorführen, dass solche Mutationen unvermeidlich und in
einem bedrohlichen Ausmaß stattfanden, dass sie alle Zellen eines Organismus
betrafen und dass sie sich unsichtbar und unkontrollierbar ständig vermehrten,
um von Generation zu Generation immer zerstörerischer zu Tage zu treten.
59
Stein zit. n. Schultze 1930: 2037. Stein besprach in ihrem Vortrag die Entstehung von pflanzlichen Carcinomen durch somatische Mutationen. Sie behauptete, dass durch die Bestrahlung
von embryonalem Gewebe mit Radium oder Röntgen Störungen in der Erbsubstanz und in der
Folge Entartungen der wachsenden Gewebe ausgelöst werden könnten. Die Entartungen wären erblich und „unauslöschlich“, wenn die Störungen die Keimzellen betrafen. Die „Erbbiologie
ist [...] imstande, erbliche Entartung gesunder Stämme auszulösen“ (ebd.: 2038). Siehe zur
Mutationstheorie der Krebserkrankungen: Seite 162.
60
Baur zit. in Schultze 1930: 2038-39
61
Vgl. Lenz 1923: 314. – Das gleiche statistische Argument wurde auf die Tierexperimente der
Gynäkologen angewandt: „Die paar Kaninchenversuche, auf Grund derer gewisse Autoren auf
Unschädlichkeit der Ovarienbehandlung schließen zu können meinten, sind genetisch durchaus
unzulänglich, um derart verantwortungsvolle Eingriffe verantworten zu können“ (Lenz 1927b:
2136-37). – Ein Problem der klinischen Untersuchungen war oft, dass sie sehr oberflächlich
erfolgten. In einzelnen Fällen allerdings führten sie zur völligen Ablehnung der temporären Sterilisation, so zum Beispiel in der Klinik von Naujoks (Königsberg, dann Marburg), nachdem bei
Kindern von Mitarbeiterinnen Auffälligkeiten aufgetreten waren (vgl. Naujoks 1930).
218
„[W]as wir befürchten, ist die Durchsetzung der Population mit krankhaft rezessiven Erbfaktoren.“62
Die anwesenden Mediziner in Berlin waren gefangen in dieser erbbiologischen Logik und gaben den Eugenikern weitere Steilvorlagen.63 Wenn Strahlen
immer gefährlich seien, könnte dann nicht auch die äußerst niedrig dosierte
„Reizbestrahlung oder länger dauernde Durchleuchtung gefährliche Dosen“ verabreichen (v. Schubert) und werde nicht „bei jeder Bestrahlung und Durchleuchtung eine indirekte Keimbestrahlung mit kleinsten Dosen ausgeführt“ (Flaskamp)?64 Zunächst hatten die Gynäkologen die Mullerschen Fliegenergebnisse
durch das erdrückende klinische Material, das für die Ungefährlichkeit der Röntgenbestrahlung sprach, abfangen können. Spätere Generationen wurden nur
vereinzelt einbezogen.65 Die Logik der Strahlengenetik aber erzwang die Berücksichtigung der generationsüberschreitenden Wirkung von Mutationen in der
Keimbahn als sine qua non der Klärung des Strahlenproblems. Mit der Untersuchung der Kinder bestrahlter Frauen war nichts zu beweisen. „Ja, eine sichtbare Schädigung an den Kindern solcher Frauen ist theoretisch ganz außerordentlich unwahrscheinlich. Frühestens Enkel, mit größerer Wahrscheinlichkeit
Ur- und Ururenkel können die Schädigung aufweisen.“66 Mutation und Rezessivität – Strahlenversuch und genetisches Konzept – ließen theoretisch keinen
anderen Blickwinkel zu. Was für die Mediziner, Gynäkologen und Röntgenologen bislang eine Frage nach der Strahlenschädigung des Keims gewesen
war, wurde in den Augen der Genetiker eine Frage nach der Abänderung
mendelnder Erbanlagen. Unter Einsatz von Histologie und gewebs- und zellpathologischen Betrachtungen hatten die Röntgenärzte und Gynäkologen die
Auffassung von der abgestuften Empfindlichkeit der Eizellen gegenüber Bestrahlung begründet. Die Erfahrungen auf Grund dieser Methodenwahl legitimierten die Unterscheidung in Früh- und Spätbefruchtung. Die Anwendung der
Röntgenstrahlen war für die Vererbungswissenschaftler nicht ein Problem der
Entwicklungsbiologie und Embryologie, sondern ein rein strahlengenetisches
Problem innerhalb der Mutationsbiologie. Mikroskopische Untersuchungen zur
Reproduktionsphysiologie, der Entwicklung und Reifung der Eier im Ovar oder
der Entwicklungsmechanik des befruchteten Eis und der Leibesfrucht waren in
dieser Herangehensweise von vornherein ausgeblendet.67 Die Botschaft der
Genetiker war, dass die Methoden zur Erforschung des Keims und seiner Entwicklung die falschen Methoden waren, um die Strahlenschädigung zu erforschen, weil nicht der Keim sondern die Keimbahn das Problem war.
Dieses radikal andere Verständnis des Röntgenproblems war selbst für die
Kritiker der Strahlentherapie in der Gynäkologie nicht selbstverständlich. Mar62
Hertwig 1932b: 677; vgl. auch Martius 1934: 788.
Es wurde lediglich allgemein problematisiert, dass es in der Medizin kaum gänzlich unschädliche Methoden gäbe und immer Gefahren und Nutzen im richtigen Maßstab gegeneinander
abgewogen werden müssten (vgl. Holzknecht zit. in Schultze 1930: 2038).
64
Schultze 1930: 2038
65
Vgl. Flaskamp 1930: 246.
66
Fischer 1930d: 14
67
Der Rückgriff die Genetiker auf klinische Befunde oder die phänotypische Untersuchung der
geborenen Versuchstiere hatte einen anderen Stellenwert. Er war ein Instrument, um an die
Erbanlagen heranzukommen.
63
219
tius sah noch 1927 in der Entstehung von pathologischen rezessiven Anlagen
durch Röntgenstrahlen keine Gefahr.68 Martius ging es um die direkte Wirkung
der Röntgenstrahlen auf den Nachwuchs, weshalb er in seinen Versuchen bloß
die F1-Generation der bestrahlten Mäuse untersucht hatte. Damit mussten ihm
die rezessiven, pathologisch mutierten Erbanlagen entkommen. 1931 schrieb er
aber mit dem neuen Weitblick der Genetik seinen Kollegen ins Gewissen: Der
„Röntgenarzt sollte sich hüten, den Bestand der schon vorhandenen heterozygoten und damit zunächst noch latenten pathologischen Erbmerkmale im Keimgut des Menschen zu vergrößern.“69
5.2.2 Die eugenische Dynamik der Röntgenmutation
Mit Anwendung der strahlengenetisch gewendeten Mendelgenetik auf das Problem der Röntgentherapie, so kann festgehalten werden, wurde das Problem in
die opake körperliche Tiefe verlegt und an den Genotyp gebunden. Der Genotyp wurde aber nur in der Erscheinung der Generationen transparent. Der neue
Weitblick unterschied sich vom bisherigen Nahblick der Gynäkologen und Röntgenärzte nicht nur methodisch, sondern auch grundsätzlich in seiner Richtung.
Mit der methodischen Einführung der Generation als Untersuchungseinheit wurde zugleich ein eugenisches Erkenntnisinteresse eingeführt, das einen Handlungsmaßstab transportierte, der dem medizinischen diametral entgegengesetzt
war.
Der Zusammenhang von Methode und Handlungsbezug wird bei Eugen Fischer überdeutlich. Im Mai 1930 veranstaltete die Berliner Gesellschaft für Eugenik einen Vortragsabend über das Thema „Erbschädigung beim Menschen“
mit Fischer als Hauptredner.70 Gleich einleitend machte Fischer deutlich, dass
das Gebiet der Neuentstehung mendelnder Erbfaktoren durch Röntgenstrahlen
nicht nur von ärztlichem Interesse, sondern für die Eugenik von grundlegender
Bedeutung sei. Sein Vortrag sei als ernste an die Allgemeinheit gerichtete Warnung zu verstehen.71 Fischer griff die alte gynäkologische Diskussion um die
Wertigkeit der Eizellen auf. Die „schicksalsschwere Frage“ sei: „Können diese
Röntgenstrahlen nur Eier töten und andere am Leben lassen, oder können
sie auch zwischen Tod und völligem Gesundbleiben die Mitte halten?“72 Die
Gynäkologen Nürnberger, Wintz und Döderlein könnten den ersten Standpunkt
nur vertreten, weil sie die „tausendfältigen Erfahrungen der Mendelvererbung“
in ihrem klinischen Horizont ausblendeten.73 In der Erzeugung von „krankhaften
Erbanlagen“ aber hielten die Röntgenstrahlen die „Mitte“. Und bedrohlich waren
sie, weil sich diese einmal entstandenen Erbanlagen, entgegen einiger Annahmen und anders als die reproduktive Funktion der Ovarien, nicht irgendwann regenerieren würden. „Von Veränderung, ‚Erschöpfung’ ist keine Rede!“; die Erb68
Vgl. Martius 1927b: 2603.
Martius 1931: 51
70
Über den Vortrag, der auf die Ablehnung der temporären Sterilisation hinauslief, wurde in der
Medizinischen Welt berichtet, veröffentlicht in Das kommende Geschlecht („Zeitschrift für Eugenik. Ergebnisse der Forschung“, sozusagen die Hausschrift des KWI für Anthropologie. Herausgeber waren Fischer, Herman Muckermann und Otmar Frhr. v. Verschuer).
71
Vgl. Fischer 1930d: 2.
72
Fischer 1930d: 11.
73
Hier und nachfolgend: Fischer 1930d: 15
69
220
anlagen vererbten sich weiter; „sie sind vorhanden, sie erlöschen nicht
mehr wieder!“74
Die eugenische Umdeutung des Problems der Keimschädigung vermittelte
sich über die Methode. Die medizinische Methode war auf die Frage ausgelegt,
ob ein Kind mit einer Schädigung zur Welt kam. Die Wirkung der Strahlen auf
die Eizellen, Follikel, Keime und Früchte lag in der medizinische Debatte nahe,
insofern die daraus resultierenden Schädigungen in einer Schädigung des geborenen Kindes kumulierten. Für die Transmissionsgenetik stellte der Organismus eine Black Box dar, da in der idealen mendelgenetischen Verschaltung von
Phänotyp und Erbfaktor eine determinierende Beziehung zwischen beiden bestand. Die genetische Konzeptualisierung der Mutationen und die genetische
Methode der Erbanalyse bedingten den genealogischen Weitblick. Weil die
Vererbung bloß als ein Problem der Weitergabe von Erbfaktoren und ihrer verschiedenen Ausführungsversionen dargestellt wurde, war es ihr unmittelbarster
Zugang, die Strahlenanwendung als ein Problem der Erzeugung von Mutationen und nicht der Entwicklung und Ausprägung eines physiologischen oder
organischen Schadens zu sehen.75 Aus der genealogischen Darstellung der
Mutationen erklärt sich auch, dass die Genetiker nicht zwischen verschiedenen
Strahlenanwendungen unterschieden. Die temporäre Sterilisation war aus der
Sicht der Genetik kein prinzipiell anderes Problem als alle anderen Strahlenanwendungen, solange die Keimdrüse in den Fokus der Bestrahlung geriet und es
nicht zum Eintritt einer bleibenden Sterilität kam. Sterilisierte Frauen waren nur
„von rein ärztlichem Interesse“, weil von der „Entstehung krankhafter Erbanlagen nicht die Rede“ sein konnte.76
Die Argumentation der Genetiker ging also nicht umsonst immer von einer
methodischen Kritik aus. Mit der methodischen Umorientierung wurde das individualmedizinische Problem der Gynäkologen implizit zu einem illegitimen
Problem – implizit, da die Genetiker nicht auf die Frage der unmittelbaren
Wirkung der Strahlen auf den Keim und Embryo eingingen und diese Wirkung
durch die genetische Methode gar nicht einzuholen war.77 Der genetischen
Formulierung des Röntgenproblems entsprachen einerseits biologische Fragestellungen; denn mit den Röntgenversuchen eröffnete sich der Genetik ein
Zugang zum Problem der Mutation.78 Im Diskurs mit den Medizinern transportierten die Mutationen andererseits die praktische Wendung der strahlengenetischen Fragestellung in ein eugenisches Problem. Die methodisch angeleitete
Ausdehnung des Interesses auf die zukünftigen Generationen repräsentierte
ein originär eugenisches Anliegen: Wie kann der „Bestand der gesunden Erblinien als solcher in einem Volk“ gepflegt und geschützt werden?79
74
Fischer 1930d: 15
Wie im Kapitel 4 dargestellt, war die Transmissionsgenetik in Deutschland entwicklungsphysiologischen Fragestellung gegenüber offen. Diese Verbindung eignete sich aber nicht schon
für die normative Anwendung auf einen fachfremden Kontext.
76
Fischer 1930d: 10
77
Versuche, die Strahlenschädigung der Keimzellen oder Frucht wieder zu einem legitimen Gegenstand des Diskurses um Röntgenstrahlen in der Gynäkologie zu machen, blieben erfolglos
(vgl. Nürnberger 1932: 709).
78
Zur Verbindung von Strahlengenetik und genetischer Konzeptbildung, siehe 4.2.1.
79
Fischer 1930d: 19
75
221
Die implizite Delegitimierung der medizinischen Fragestellung durch die genetische Methode und eugenische Wendung erklärt, warum die medizinischen
Einwände gegenüber den Genetikern nicht mehr funktionierten. So wurde eingewendet, dass die mögliche Gefahr einer Strahlenschädigung gegen die heilende Wirkung der Strahlen im einzelnen Fall abgewogen werden müsse. Der
Freiburger Gynäkologe Pankow dagegen wendete im Sinne der Eugeniker ein,
dass dies eine falsche Fragestellung sei. Man müsse jedes Risiko ausschließen, „da wir am wertvollen Menschenmaterial arbeiten“.80 Nicht das Individuum
war wertvoll, sondern sein Erbbestand, der Maßstab medizinischen Handelns
sein sollte. Fischer, der den einsichtigen „erfahrenen Geburtshelfer und Frauenarzt“ lobte,81 brachte es auf den Punkt: Die ethische Verantwortung, die ein Arzt
dem kranken Menschen gegenüber habe, müsse erst recht sein Handeln gegenüber dem Erbgut der gesamten Bevölkerung beeinflussen. Da es um die
Erbanlagen „als solche“ ginge, blieben nur zwei Alternativen übrig: Sterilisation
und Therapie oder der Verzicht auf beides. „Von diesem Standpunkt aus kann
ich eigentlich nur das Entweder-Oder vertreten, entweder eine derartige Bestrahlung, daß jede künftige Eireifung ausgeschlossen ist, oder überhaupt
keine.“82 Eine Abwägung der Risiken war damit obsolet. In der Akzeptanz des
eugenischen Maßstabs bestand der eigentliche „sensationelle Verlauf“83 der
Berliner Tagung.
Die eugenische Seite der Strahlenwirkung war in der Gynäkologie bisher nur
vereinzelt und vor dem Hintergrund sehr uneinheitlicher und diffuser Vorstellungen über die Veränderung der Keimbahn thematisiert worden.84 Im diskursiven
Sog der Genetik und menschlichen Vererbungsforschung gefangen, musste
sich Heinrich Martius, der zwar als Erster genetische Fragestellungen aufgegriffen hatte, aber zunächst keine generell eugenische Sicht entwickelt hatte,85
schließlich fragen, „ob wir nicht die therapeutischen Erfolge am Einzelindividuum durch Schädigungen im Bestand des Erbgutes der Menschheit erkaufen,
Schädigungen, die erst nach Generationen bemerkbar werden können“.86 Da er
die temporäre Sterilisation und die Schwachbestrahlung der Eierstöcke für nicht
so erfolgreich hielt, kam er schließlich zur Entscheidung, dass „wir doch der
Rücksicht auf das Keimgut der uns anvertrauten Menschen das Übergewicht
zuerkennen“87 müssen – oder, weiter zugespitzt: „hat der Erfolg am Einzelindividuum zurückzutreten hinter der Achtung vor dem Intaktbleiben des Keimgutes“88.
80
Pankow nach Ottow 1929: 1915-17. Herv. Verf.
Fischer 1930d: 18
82
Fischer 1930c. Siehe auch das Eingangszitat Seite 205.
83
Schultze 1930: 2038. Siehe auch das Eingangszitat Seite 215.
84
Max Hirsch hatte 1914 vor dem Einsatz der temporären Sterilisation gewarnt, da Röntgenstrahlen genauso ein Keimgift seien wie bspw. Blei, Quecksilber, das Virus syphilitcum, Bakterientoxine, Alkohol und Nikotin (vgl. Hirsch 1914). Arnold Hirsch, der Neffe, forderte 1925, dass
„endlich mit diesen gefährlichen Experimenten sowohl aus medizinischen als aus eugenetischen Gründen Schluß gemacht“ werde (Hirsch 1925: 394).
85
Martius hatte zunächst nur generell den Einsatz der Röntgenkastration aus eugenischen und
sozialen Gründen abgelehnt (vgl. Martius 1922: 1539).
86
Martius 1930: 169
87
Martius 1930: 176
88
Martius 1931: 66
81
222
5.3
Die ‚feindliche Übernahme’ des Problems der Röntgenschäden durch die Genetik
Mit der provokativen Argumentation, dass die bisherigen Anstrengungen in der
Gynäkologie in die falsche Richtung gelaufen wären, drohte die Vererbungswissenschaft, das methodische Gefüge des röntgenologischen und gynäkologischen Diskurses umzuwerfen, und war mit diesem Paukenschlag in die medizinische Diskussion um die temporäre Sterilisation eingetreten. Die methodische
Umdeutung des Problems der Röntgenbestrahlung in der Gynäkologie wurde
von den Gynäkologen aber nicht ohne weiteres akzeptiert. Um gegenüber den
Medizinern ihren Kompetenzanspruch durchzusetzen und die Entscheidung
über die Anwendung von Röntgenstrahlen an erbbiologische Experimente zu
binden, mussten die Genetiker den Druck auf die widerständigen Gynäkologen
erhöhen. 1932 kam es schließlich zu einer Vereinbarung zwischen Genetikern
und Gynäkologen, welche das Ende der temporären Sterilisation einleitete. In
den Händen der Genetik verwandelte sich die Frage nach der Gefahr der Nachkommenschaftsschädigung bei der temporären Sterilisation zugleich in die nach
Erbschädigungen durch Röntgenstrahlen ganz allgemein.
Die weiteren Vorgänge spielten sich auf zwei Ebenen ab. Zum einen wurden
die jeweiligen Fachgesellschaften mobilisiert, um den je eigenen prinzipiellen
Kompetenzansprüchen Nachdruck zu verleihen. Zum anderen wurden quer zu
den Fachgrenzen Forschungsarbeiten ins Rollen gebracht. Es wurden Strukturen – zum Teil kooperativ zwischen Gynäkologen und Genetikern – zur Koordinierung von Forschungsarbeiten gebildet. Der Übersicht halber sollen beide
Entwicklungsstränge getrennt verfolgt werden.
5.3.1 Die Gynäkologie in die Enge gedrängt. Die Entschließung der
Vererbungswissenschaftler
Das Jahr 1931 führte die Konfrontation der Fachgesellschaften auf ihren Höhepunkt. Auf der Röntgenologentagung nahm der Gynäkologe Carl Gauß Stellung
für die temporäre Sterilisation. Sie leiste zu wertvolle Dienste, als dass man auf
sie verzichten sollte. Gauß gab bekannt, dass unter Billigung der Deutschen
Röntgengesellschaft eine Zentralstelle eingerichtet werden sollte, die dauerhaft
weitgehend alle Kinder und Kindeskinder von temporär strahlensterilisierten
Frauen erfassen sollte, um festzustellen, „ob und inwieweit die theoretisch gefürchtete Keimschädigung praktisch vorkommt oder nicht“.89 Gauß begrüßte
zwar die Initiative zu Tierexperimenten an Erwin Baurs Kaiser-Wilhelm-Institut
für Züchtungsforschung, doch nur unter der Voraussetzung einer mit „anderen
Mitteln arbeitenden Förderung dieser so wichtigen Frage“.90 Die medizinische
Sicht des Problems sollte durch das klinische Register gestärkt werden. Konsequenterweise schwebte Gauß die Einrichtung der Zentralstelle an seiner eige-
89
90
Gauß zit. in Philipp 1931: 2386
Gauß zit. in Philipp 1931: 2386
223
nen Klinik vor.91 Das klinische Register repräsentierte somit die ablehnende
Haltung der Gynäkologen gegenüber der Übertragung der tierexperimentellen
Ergebnisse auf die Verhältnisse der Klinik.92 Auf der kurze Zeit später stattfindenden Tagung der Gynäkologen blieb eine Diskussion über die temporäre
Sterilisation aus und eugenische Ansinnen, Sterilisation und Konzeptionsverhütung für die Verhinderung der Zunahme der „Minderwertigen“ einzusetzen, wurden zurückgewiesen.93
Im September 1931 tagte die Deutsche Gesellschaft für Vererbungswissenschaft in München. Paula Hertwig, Assistentin am Institut für Vererbungsforschung der Landwirtschaftlichen Hochschule in Berlin, erstattete Bericht über
„Die künstliche Erzeugung von Mutationen und ihre theoretischen und praktischen Auswirkungen”. Die theoretischen Ausführungen mündeten im frontalen
Angriff auf die Erlanger Schule um Wintz, die auf der Bedeutung der Unterscheidung von Früh- und Spätbefruchtung beharrte. Vom „Standpunkt der
Eugenetik“, kritisierte Hertwig, sei Wintz’ Artikel in der neuesten Ausgabe des
Handbuches der gesamten Strahlenheilkunde von Lazarus bedenklich, da er
dort weiterhin die Ungefährlichkeit der temporären Sterilisation behaupte.94
Nach dieser stimmungsvollen Vorbereitung wurde eine vom Vorstand der
Gesellschaft eingebrachte Entschließung über die temporäre Sterilisation bei
einer Gegenstimme angenommen, in der eindringlich vor den Gefahren gewarnt
wurde, die der „Nachkommenschaft durch Röntgenbestrahlung der Keimdrüsen, insbesondere bei der sogenannten temporären Sterilisation“ drohten. Die
Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene (Eugenik) schloss sich sofort an.95
Die Entschließung war an die gesamte „deutsche Ärzteschaft“ adressiert. Damit
wurde die Ebene der Konfrontation der beiden Disziplinen verlassen und der
Druck auf die Gynäkologen erhöht. Nicht nur die temporäre Sterilisation wurde
91
An Gauß’ Klinik in Würzburg wurden bereits seit längerem Daten erhoben. Dieses Projekt
stand also in Konkurrenz zu dem Register am KWI Anthropologie. Lothar Loeffler kündigte unabhängig von Gauß auf der Tagung die Fortsetzung der Erhebung am KWI für Anthropologie
(vgl. Fußn. 92) auf möglichst breiter Basis an.
92
Vgl. Maurer 1932: 698. – Von der genetischen Seite (E. Fischer) wurde dagegen ein eigenes
Register angestrengt, mit dem bereits 1927 begonnen worden war. Lothar Loeffler, Mediziner
und Ass. am KWI Anthropologie, veröffentlichte 1929 eine Erhebung unter Röntgenärzten und
Röntgentechnikern über mögliche Schädigungen bei ihren Kindern (vgl. Loeffler 1929). Solche
Erhebungen waren von gynäkologischer und röntgenärztlicher Seite mehrfach durchgeführt
worden, aber noch nie unter einem spezifischen genetischen Interesse. Hans Naujoks, Gynäkologe und Röntgenologe in Marburg, hatte 1930 in Bezug auf die Untersuchungen von Loeffler
die Einrichtung eines Registers am KWI für Anthropologie vorgeschlagen (vgl. Naujoks 1930:
580). Mit der Einrichtung eines umfassenden Erbregisters am KWI für Anthropologie zur
rassenbiologischen und erbpathologischer Erfassung bestimmter „Erblinien“ im deutschen Volk
war 1929 begonnen worden. Die Arbeiten wurden von der Notgemeinschaft unterstützt und im
dortigen Fachausschuss für Gemeinschaftsarbeiten zur Anthropologie und Rassenbiologie
koordiniert (vgl. Lösch 1997: 199ff.; GStAP, Rep. 92, C 42).
93
Der Humangenetiker Loeffler u. der Gynäkologe Stoeckel nach Ottow 1931: 2902-03. – Der
Eindruck entsteht, dass die Gynäkologen allgemein der Eugenik distanziert gegenüberstanden.
1933 allerdings wurde das gerade verabschiedete GVeN begrüßt, wenn auch zumeist nicht
überschwänglich (vgl. Stoeckel, Martin 1933).
94
Hertwig 1932a: 33
95
Abgedruckt unter anderem im Zentralblatt für Gynäkologie, 55, 1931: 3171, da nach Stoeckel
die „folgende ‚Entschließung’ [sic: Anführungszeichen] so wichtig“ sei.
224
als eine Gefahr benannt, sondern es ging um die „Frage der Erbschädigung
durch Röntgenstrahlen“ im Allgemeinen.
Im Februar des folgenden Jahres antworteten die Bayerischen Gynäkologen
und Röntgenologen auf die Entschließung der Genetiker. Den „billigen Schlagworten“96 der Genetiker begegneten sie mit einer dreifachen Strategie. Zum
einen wurde der unverzichtbare Nutzen der gynäkologischen Strahlenanwendung bekräftigt und die Nebenwirkungen relativiert; es wurde bestritten, dass
die Strahlendosierung nicht genau kontrollierbar wäre; vor allem wurde aber
vehement die Übertragbarkeit der Ergebnisse aus den Tierexperimenten auf die
Verhältnisse in der Gynäkologie bezweifelt.97 Wintz warf den Genetikern vor,
die Seelenruhe tausender Frauen, die bestrahlt worden waren, zu gefährden,
ihre Kinder als erbgeschädigt zu stigmatisieren und willkürlich die temporäre
Sterilisation in Misskredit zu bringen, ohne die Tragweite für die medizinische
Diagnostik und Therapie überhaupt überblicken zu können.98 Der Tenor, dass
die Genetiker aus rein theoretischen Erwägungen eine unverantwortliche Entscheidung getroffen hätten, die Patientinnen beunruhigte und die Ärzteschaft
therapeutisch beschnitt, weil mit Schadensersatzklagen zu rechnen war, prägte
die Beiträge der Mediziner. Nürnberger verzichtete fast ganz, auf inhaltliche
Fragen einzugehen, um die „weittragenden und folgenschweren“ juristischen
Konsequenzen der „einschneidenden“ Entschließung der Genetiker und Eugeniker und die „allgemeinen menschlichen Auswirkungen“ für Mütter und Eltern
drastisch auszuführen.99 Carl Gauß empörte sich zudem über die „unnötige
Beunruhigung des Publikums“, die durch unverständliche Stellungnahmen von
Kollegen und sensationelle Berichte in Tageszeitungen verstärkt worden wäre,
und forderte, mit der Indikation fortzufahren wie bisher.100
Paula Hertwig und Hans Luxenburger waren von Wintz zu der Tagung als
Redner für die Genetik und menschliche Erbbiologie eingeladen worden.101
Hertwig entgegnete, dass die allgemeine Beunruhigung in der Natur der Sache
läge, da die Größe der Gefahr eben noch unbekannt sei, weswegen gerade
jetzt die Tätigkeit der Genetiker gefragt sei.102 Luxenburger103 versuchte in
einem rhetorischen Kraftakt, weit auf die Gynäkologen zuzugehen. Als Erbforscher könne er nicht über den Nutzen und Notwendigkeit der „temporären
Strahlenamenorrhöe“104 befinden; doch aus Sicht der Eugenik rechtfertige ihre
96
Gauß nach Dyroff 1933: 826
Vgl. den Bericht über die Wortbeiträge in Dyroff 1933 und den Abdruck der Vorträge in der
Strahlentherapie, 45, 1932: 653ff..
98
Vgl. Wintz 1932: 655-56.
99
Nürnberger 1932
100
Gauß nach Dyroff 1933: 826
101
Vgl. 21.1.1933, Stubbe an Lachmann (BBAW, Stubbe-Fonds, 119).
102
Vgl. Hertwig 1932b: 677.
103
Hans Luxenburger war Erbstatistiker an Ernst Rüdins Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München und Mitglied in der Gesellschaft für Rassenhygiene. Schon auf der Tagung
der Bayerischen Gynäkologen 1930 hatte er die Gelegenheit, den Gynäkologen Erbbiologie und
Eugenik nahe zu bringen (vgl. Luxenburger 1930).
104
Der Begriff der „temporären Amenorrhöe“ im Gegensatz zu „temporärer Sterilisation“ war
1930 von Albert Döderlein eingeführt worden und wurde allgemein von den Befürwortern der
Methode benutzt, um den therapeutischen Charakter der Maßnahme zu unterstreichen (vgl.
Döderlein in: Dyroff 1930: 2855).
97
225
Anwendung nur die Rettung „unmittelbar bedrohten wertvollen Lebens“.105 Natürlich gäbe es schwarze Schafe unter den Erbbiologen, die vor „einem vorzeitigen Analogieschluß auf den Menschen“ nicht zurückschreckten. Die Verantwortung unterläge „selbstverständlich“ in der Praxis ganz allein dem Gewissen
des „verantwortungsbewußten und röntgenologisch wie eugenisch sachkundigen Arztes“ – allerdings sollte es „heute keinen Arzt mehr geben, der nicht auch
Eugeniker ist“. Die wirklich sachkundigen Röntgentherapeuten, wie Wintz!,
seien sich der Gefahr ja bewusst, sodass sich eine Brücke über die „betrübliche“ Kluft zwischen Erbforschern und Röntgenologen schlagen ließe; schließlich nähmen die Erbforscher an dem Bau von Brücken „großen inneren Anteil“;
„glauben wir einander“!, und so weiter. Bei „einigermaßen gutem Willen“ werde
man sich einigen. Die Voraussetzung sei jedoch, dass „Sie unsere Entschließung vom September 1931 so nehmen, wie sie gedacht ist: als eine aus bester
Absicht und tiefster Überzeugung heraus ausgesprochene Mahnung“.106
Die erbbiologischen Beknieungen konnten nicht verhindern, dass die bayerischen Gynäkologen gemeinsam mit der Bayerischen Gesellschaft für Röntgenologie und Radiologie in einer eigenen Entschließung den Appell der Genetiker zurückwiesen. Der klinische Erfolg würde die Anwendung der Röntgenstrahlen im Bereiche des männlichen und weiblichen Unterleibs legitimieren.107 Während sich in München und Süddeutschland der Widerstand gegen die Zudringlichkeiten der Eugeniker und Erbforscher versteifte, waren im Berliner lokalen
medizinischen Diskurs, wie dargestellt, Gynäkologen und Röntgenologen in das
Netz des eugenischen centre of calculation verstrickt und konnten an dem moralisch-wissenschaftlichen Hybrid „Erbschädigung durch temporäre Sterilisation“
nicht mehr vorbei.108
Ende 1931 wurde die Konfrontation der Fachvertreter auf Einladung der Berliner Gesellschaft für Geburtshilfe und Gynäkologie unter Beteiligung der Ärztlichen Gesellschaft für Strahlenkunde und der Berliner Röntgengesellschaft „lebhaft und lehrreich“, wie Luxenburger den bayerischen Gynäkologen vorhielt,109
fortgesetzt. Eugen Fischer und sein Institutskollege v. Verschuer vertraten die
Vererbungslehre und erhielten Unterstützung von Max Hirsch, ebenfalls Mitglied
in der Berliner Gesellschaft für Eugenik, und dem Berliner Gynäkologen Erich
von Schubert. Die Resolution der Genetiker und die sich daraus ergebenden
Konsequenzen hatten die Mediziner mit „Erschütterung“ zur Kenntnis genommen.110 Wenn auch die Berliner Gynäkologen und Röntgenologen den Genetikern folgten, blieb doch der Zweifel, wie weit die Tierexperimente auf menschliche Verhältnisse zutrafen.
Das Problem spitzte sich auf die Frage zu, welche Mutationsraten menschliche Zellen haben und ob es eine Schwellendosis bei der Mutationsgefährlichkeit von Strahlen gibt. Das hieß aber zugleich, dass es nicht nur mehr um die
temporäre Sterilisation ging, sondern auch um die Verwendung kleinerer Strah105
Hier und nachfolgend: Luxenburger 1932b: 689-90
Luxenburger 1932b: 690
107
Vgl. Nachtsheim 1957a: 1285. Die Entschließung war von Albert Döderlein verfasst.
108
Zum „epistemisch-moralischen Hybrid“, vgl. Potthast 2001: 93-94.
109
Luxenburger 1932b: 687
110
Wagner zit. in Kauffmann 1932: 1007-08
106
226
lendosen und die diagnostische Strahlenanwendung im Bereich des weiblichen
Beckens. Die schädigende Wirkung der Strahlen war in der temporären Sterilisation sinnfällig; doch der „grauenhafte Vorgang, daß künstlich neue schwere
krankhafte Erbanlagen entstehen“ war nicht an diese Sinnfälligkeit gebunden.111
„Nun weiß ich aber, daß die Vererbungsforscher noch viel weiter gehen, daß sie
auch die ganz kleinen Strahlendosen für gefährlich halten“.112 Der Berliner Gynäkologe traf den Punkt. Die temporäre Sterilisation war als eine beabsichtigte
Bestrahlung der Keimdrüsen mit erheblichem Dosen nur das nahe liegendste
Problem. Die Humangenetiker und Genetiker zielten auf das gesamte Gebiet
der (gynäkologischen) Röntgenanwendung. Von den Gynäkologen wurden sie
nun aufgefordert, „unverzüglich an die Arbeit zu gehen und uns zu beweisen,
daß sie berechtigt waren, aus ihren Versuchen an der Essigfliege ihre schwerwiegenden Schlüsse zu ziehen“.113
Ganz in diesem Sinne plädierte der einflussreiche Münchener Botaniker und
Genetiker Fritz von Wettstein in Reaktion auf die Bayerische Entschließung,
jetzt zum „ruhigen wissenschaftlichen Arbeiten“ überzugehen.114 Der neue Vorsitzende der Gesellschaft für Vererbungswissenschaft, Richard Goldschmidt,
der einerseits ein zweites München auf dem baldigen Röntgenologenkongress
in Dresden durch eine sofortige neue Resolution der Genetik zu verhindern
suchte,115 bemühte sich zugleich um ein Entgegenkommen und schlug den
Gynäkologen die gemeinsame Klärung der Frage vor.116 Bald darauf kam es zu
einer Einigung zwischen dem Vorstand der Bayerischen Gynäkologen, Albert
Döderlein, und Goldschmidt.117 Auf der Dresdener Tagung der Deutschen
Röntgengesellschaft im April 1932 wurde nun ebenfalls einer gemeinsamen
Kommission zugestimmt, die einen Arbeitsplan für die zu klärenden und noch
offenen Fragen entwerfen sollte. Die Kommission trat im März 1933 (sic)
zusammen.118 Die Zusammensetzung garantierte eine Beschlussfassung im
Sinne der Genetiker: Eine Gefahr durch Radium- und Röntgenstrahlen ist nicht
zu leugnen und ist in ihrer Größe für das „Volksganze“ nicht abzuschätzen.
Deshalb seien Säugetierexperimente dringlich erforderlich, ebenso wie die
Einhaltung der strengsten medizinischen Indikation bei jeder Art von Bestrahlung des Unterleibs.119
111
Fischer 1930d: 17
Wagner zit. in Kauffmann 1932: 1007
113
Wagner zit. in Kauffmann 1932: 1008
114
29.3.1932, v. Wettstein an Baur (BBAW, NL Hans Stubbe, 1)
115
Vgl. 4.4.1932, Goldschmidt an Baur, Just, Kronacher, Lehmann, Lenz, Oehler, Ossent,
Plate, Renner, Schwemmle, Stubbe, v. Wettstein, Winkler (BBAW, NL Hans Stubbe, 1).
116
Vgl. Nachtsheim 1957a: 1285.
117
Vgl. 13.5.1932, Eugen Fischer an H. Stubbe (BBAW, Stubbe-Fonds, 49).
118
Vgl. Martius 1934: 787. Anwesend waren für die Gesellschaft für Vererbungswissenschaft E.
Fischer, P. Hertwig, H. Luxenburger, H. Stubbe, für die Deutsche Röntgengesellschaft Hans
Holfelder, Hermann Holthusen, H. Martius u. C. Gauß. Nicht anwesend waren die Genetiker
Victor Jollos (Berlin) u. Fritz Lenz (München) sowie die Röntgenologen Dr. Kaestle u. Prof. Voltz
(beide München).
119
Vgl. Martius 1934: 787. – In den Röntgenologen hatten die Genetiker einen wichtigen Verbündeten gefunden, der dafür garantieren (vgl. 3.4.1933, Stubbe an E. Lachmann, in: BBAW,
Stubbe-Fonds, 119). – Es ist möglich, dass aus der Sicht der Röntgenologen das Zusammengehen mit den Genetikern ihre Forderung nach Absicherung der röntgenologischen Methode
stützen sollte. 1924 war bereits der Facharzt für Röntgen- und Lichtheilkunde eingeführt wor112
227
Vor dem Hintergrund dieser Erklärung wurde auf der nächsten Hauptversammlung der Vererbungswissenschaftler im September 1933 in Göttingen
eine weitere vom Vorstand bis dahin geheim gehaltene Resolution beschlossen, die die Position der Genetiker nicht nur bekräftigen sollte, sondern sämtliche Röntgenanwendungen zu diagnostischen und therapeutischen Zwecken
unter Verdacht stellte.120 Noch im September 1933 wurde die Planung von experimentellen Arbeiten im Rahmen der Forschungsförderung der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft unter Beteiligung von Röntgenologen aufgenommen. Damit hatten die Vererbungswissenschaftler die wissenschaftliche
Klärung der Gefährlichkeit der Röntgenstrahlen in eigene Regie genommen.121
1934 wurde schließlich von der Deutschen Gesellschaft für Vererbungswissenschaft ein Bericht zur Frage der Erbschädigung durch Röntgenstrahlen vorgelegt. Auf Initiative von Martius gaben die Gynäkologen die temporäre Sterilisation und die Röntgenreizbestrahlung der Ovarien (zur Beseitigung von Sterilität)
auf.122 Die temporäre Sterilisation hatte sich als das diskursive Einfallstor für die
eugenische Fragestellung in die medizinische Bestrahlungspraxis bewährt.123
Der aufgekommene Generalverdacht auf die Röntgenstrahlen und die Beunruhigung über das unbekannte Ausmaß der Gefahr waren das genetische
Faustpfand und wurden durch erste Ergebnisse der veranlassten genetischen
Forschungsvorhaben weiter genährt.124
den. Gegen Entwicklungen in der Anwendung der Röntgentherapie, die die Tendenz hatten,
den Röntgenfacharzt und damit die Strahlenheilkunde als geschlossenes Spezialfach aufzulösen und an die jeweiligen Disziplinen anzubinden, wurden vermehrt Stimmen aus den Reihen
der Röntgenologen laut, die – im Gegenteil – eine Stärkung der röntgenologischen Spezialausbildung forderten (vgl. Schneider 1932).
120
Vgl. Blümel 1933: 1364. Es sollten umgehend weitere experimentelle Untersuchungen initiiert werden, um den Röntgenologen für ihre Arbeit begründete Richtlinien in die Hand zu geben.
121
Keinen Monat später, im Oktober 1933, lenkten die Gynäkologen endgültig ein. Auf der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie in Berlin (Vorsitz: Walter Stoeckel) wurden
gemeinsame Beratungen mit den Vererbungswissenschaftlern angekündigt, die Wintz, Nürnberger und Martius führen sollten (vgl. Stoeckel 1933b: LVII). Dies entsprach, dass sie gelobt
hatten, „an der Gesundung und an der Gesunderhaltung des deutschen Volkes ist aller Kraft
mitarbeiten“ zu wollen und zuvor „in begeisterter Verehrung“ unter „langanhaltendem lebhaften“
Beifall dem Mann, „der Deutschland gerettet, neugestaltet und zusammengeschmiedet“ hatte,
gehuldigt hatten (vgl. Stoeckel 1933a: XLVII).
122
Vgl. Nachtsheim 1957a: 1285. Deutschland war nach Nachtsheim Vorreiter in dieser Frage,
da in Japan und in den USA nach wie vor die temporäre Sterilisation angewandt würden.
123
Stubbe erläuterte, dass die Genetiker sich über die weitreichenden Konsequenzen ihrer Intervention im Klaren waren, aber zunächst „aus Rücksicht auf die Mediziner“ die weiterführenden Fragen zurückgestellt hätten (vgl. 21.3.1933, Stubbe an Lachmann, in: BBAW, StubbeFonds, 119). Auf der Münchener Tagung machte Luxenburger den Medizinern klar, dass die
temporäre Sterilisation (t. S.) nicht das eigentliche Problem sei, sondern die Röntgendiagnostik
(vgl. Luxenburger 1932b: 688). – Nicht verworfen, aber in Diskussion blieb die Anwendung der
Röntgenstrahlen in der Diagnostik, die nach der Intervention der Genetik prinzipiell unter Verdacht bleiben musste. Insofern hatte die Eugenik aber nur einen Teilsieg errungen, zumal die t.
S. bereits Anfang der zwanziger Jahre auf Grund ihrer schwierigen technischen Handhabung,
der geringen klinischen Erfolgssicherheit u. der Nebenwirkungen letztlich nur von eingeschränkter Bedeutung in der gynäkologischen Praxis war (vgl. 2.12.1931, Martius an Stubbe, in: BBAW,
Stubbe-Fonds, 132).
124
Siehe auch Seite 178.
228
5.3.2 Gemeinschaftsarbeiten zur Frage der Erbschädigung durch
Röntgenstrahlen
Die Gynäkologen hatten nicht zuletzt den Vererbungswissenschaftlern das Feld
überlassen müssen, weil die Durchführung von Bestrahlungsexperimenten an
Tieren so voraussetzungsreich war, wie schon Paula Hertwig den Bayerischen
Gynäkologen vermittelt hatte, dass sie nur in den Händen der Genetiker erfolgreich durchgeführt werden konnten.125 Bereits auf der Berliner Tagung der
Röntgenologen 1930 hatten Eugen Fischer und Erwin Baur umfangreiche Versuche über die Wirkung der Röntgenstrahlen an Tieren gefordert und für die
Unterstützung eines Versuchsplans geworben, den sie mit dem Berliner Physiker und Röntgenologen Walter Friedrich, Direktor des 1929 eingerichteten
Institut für Strahlenforschung, ausgearbeitet hatten.126 Baur plante umfangreiche Versuche an Schweinen, die jedoch an der Finanzierung scheiterten.127 Im
Ausgleich für diese Versuche, die im „größtem Umfange“ geplant waren, sollten
Experimente am Zoologischen Institut Alfred Kühns in Göttingen in Kooperation
mit Heinrich Martius, mittlerweile Chef der Göttinger Frauenklinik, durchgeführt
werden.128 Es sei durch die Kooperation gewährleistet, so der Röntgenologe
Hermann Holthusen, dass „die geplanten Arbeiten vom Standpunkte der Genetiker methodisch einwandfrei durchgeführt werden“.129 Göttingen entwickelte
sich schnell zum Knotenpunkt der Koordinierung der Röntgenstrahlenforschung, wie schon in 4.2.1 gesehen werden konnte.
Martius und Kühn waren sich darin einig, die Behandlung der Frage der
Röntgenmutationen nicht auf die temporäre Sterilisation zu begrenzen. Die Versuche „werden von uns deshalb für besonders wichtig erachtet, da die Frage
der Mutationserzeugung“ von erheblicher Bedeutung für die Anwendung von
Röntgenstrahlen in der Gynäkologie „als therapeutisches Mittel an den Eierstöcken der Frau und in der Röntgendiagnostik“ sei.130 Kurz nach dem Kongress der Vererbungswissenschaftler und nun auf Veranlassung der Deutschen
Forschungsgemeinschaft und Schmidt-Otts wurde im September 1932 die Arbeitsgemeinschaft zur Frage der Erbschädigung durch Röntgenstrahlen ins
Leben gerufen.131 Die Gynäkologie stand Außen vor. Im Gremium saß nur ein –
125
Vgl. Hertwig 1932b: 674-77.
Vgl. Schultze 1930: 2039. Der Vorschlag wurde allgemein begrüßt.
127
Vgl. Martius 1931: 63, Fußn.; vgl. auch Baur zit. n. Grashey 1930: 131; Wagner zit. n.
Kauffmann 1932: 1008. 80.000 RM waren notwendig. Das Projekt blieb im „Aktenstadium“.
128
Mit den Versuchen wurde 1931 begonnen. Auch dazu, siehe 4.2.
129
23.3.1932, Notgemeinschaft, Apparate-Ausschuss, an den Fachausschuss für Strahlenkunde (Vors. W. Friedrich, Berlin): Stellungnahme durch Holthusen, Hamburg (BA Ko, R 73,
16079).
130
Vgl. 14.3.1932, Martius an Schmidt-Ott, unterz. Martius u. Kühn (BA Ko, R 73, 16079). – Die
Versuchsreihen an Meerschweinchen würden sich über Jahre erstrecken, wobei die Bestrahlung mit der Röntgenapparatur der Frauenklinik durchgeführt und das Tiermaterial vom Zoologischen Institut über das Zuchthaus Brandenburg gestellt werden sollten.
131
Schon in den ersten Planungen in der Notgemeinschaft zur medizinischen Forschungsförderung (4.1.3) hatte 1926 die Kommission für praktische und theoretische Medizin innerhalb eines
Memorandum unter „G. Biologische Strahlenforschung” die Wichtigkeit der heilenden Eigenschaften der Strahlen inklusive Sonnenstrahlen betont und gefordert, dass das physikalische
Verständnis der Ärzte für eine exaktere Herangehensweise an das Problem unbedingt zu steigern sei (vgl. Anonymus 1928a: 92). Eine Denkschrift beschäftigte sich ein Jahr später eigens
mit der Strahlenkunde. Dies war sicher zurückzuführen auf die rasch wachsenden Bedeutung
126
229
genetisch eingestellter – Gynäkologe.132 Die nachfolgenden Beratungen in Göttingen wurden fachlich wesentlich breiter angelegt – ohne Gynäkologen. Zudem
wurden das Reichsministerium des Innern und das Reichsgesundheitsamt in
die Beratungen mit einbezogen.133
Die Forschungspläne waren bereits im September unter Genetikern und
Röntgenologen festgeklopft worden.134 Danach sollten zunächst wichtige Vorfragen der Mutationsentstehung allgemeinerer Natur geklärt werden. Kühns
Institut sollte zu diesem Zweck die Experimente mit der Mehlmotte Ephestia
und Timoféeff-Ressovsky seine mit Drosophila fortsetzen. Um die medizinische
Seite, „also die Beweisführung für die Übertragbarkeit der Tierversuche auf den
Menschen“ und die quantitativen Probleme an Säugetieren weiter zu untersuchen, sollten schon laufende Versuche von Kühn und Martius an Meerschweinchen in die Gemeinschaftsarbeiten einbezogen, sowie Paula Hertwigs Plan zum
Aufbau umfangreicher Mäuseversuche umgesetzt werden.135
Die Genetiker hatten gegenüber den Gynäkologen behauptet, dass die Gefahr vor allem von Mutationen ausging, die rezessiv vererbt wurden und die sich
nur von geringer Wirkung auf den Organismus waren. Ihre vergleichsweise
Harmlosigkeit machte sie gerade zum Gegenstand des eugenischen Alarmis-
der Strahlenkunde innerhalb der therapeutischen Medizin, deren Nutzen u. mögliche schädlichen Wirkungen zum Streitpunkt geworden waren (hier u. nachfolgend, vgl. ebd.: 109-10). Die
Denkschrift untergliederte diese Bedenken in Fragen des Strahlenschutzes für medizinisches
Personal und Patienten, Ursachen der „Strahlenempfindlichkeit”, womit alle möglichen Schäden
durch Strahlen auf körperliches Gewebe und Zellen gemeint waren, nach der körperlichen Allgemeinwirkung der Strahlen (zum Beispiel „Röntgenkater“) und nach „der Möglichkeit einer
Schädigung der Nachkommenschaft als Folge therapeutischer Röntgenbestrahlung”. Die Kommission stellte fest, dass eine Entscheidung letztlich nur durch die am Menschen gemachten
Erfahrungen getroffen werden könnten, aber „durch umfassende Tierversuche weitere Gesichtspunkte für die Beurteilung des ganzen Fragenkomplexes” anzustreben seien. – Die Frage
nach möglichen Schädigungen der Nachkommenschaft scheint aber in der Forschungsförderung erst mit Einrichtung der Notgemeinschaftskommission 1932 aufgenommen worden zu
sein.
132
Vgl. Martius 1934: 789-90. – Teilnehmer waren die Genetiker E. Baur, P. Hertwig, A. Kühn,
Timoféeff-Ressovsky, E. Fischer, der Gynäkologe H. Martius, die Röntgenologen W. Friedrich
u. H. Holthusen, sowie MinRat Dr. Donnervert [Max, RMI], Frick (Berlin), Schwoerer [Victor Fr.,
Geh. O.Reg.Rat, ehem. stellv. Präs. der Notgemeinschaft], Stuchtey (Notgemeinschaft), Dr.
Fischer.
133
Die Kommissionsmitglieder waren für die Gynäkologie: Heinrich Martius und zwei seiner Mitarbeiter, für die Röntgenologie Hermann Holthusen, für die Genetik Nikolaj Timoféeff-Ressovsky, Alfred Kühn, Friedrich Kröning, Lothar Loeffler u. Paula Hertwig; darüber hinaus: der Serummediziner Wilhelm Kolle (Institut für experimentelle Therapie, Frankfurt), der Prof. Frick (Berlin),
der Hygieniker Erismann (Berlin), der Prof. Glocker (Stuttgart [Richard, Röntgentechniker]), Vertreter des RGA (Geh.Rat Prof. Haendel, Drr. Buchmann und Hagen), des RMI (Dr. Hinden [sic!,
gemeint ist wohl Dr. Linden]) und der Notgemeinschaft (Dr. Wildhagen, Prof. Stuchtey). (Vgl.
o.D., [Kühn]: „Entwurf Niederschrift über die Sitzung der Notgemeinschafts-Kommission für Gemeinschaftsarbeiten zur Klärung der Fragen auf dem Gebiet der Erbschädigung durch Strahlenwirkung”; Anlage zu: 26.7.1934, Kühn an Notgemeinschaft, in: BA Ko, R 73, 12475: Seite 1 v.
12.)
134
Vgl. 29.12.1933, Kühn an Dr. Stuchtey, Notgemeinschaft (BA Ko, R 73, 159: Seite 2 v. 3)
135
Martius 1934: 790 – Paula Hertwig hatte Anfang 1932 einen Forschungsplan über Mutationsauslösung an Mäusen ausgearbeitet, den sie vor den Bayerischen Gynäkologen vorstellte
(vgl. 5.1.1932, Hertwig an Stubbe, in: BBAW, Stubbe-Fonds, 83; vgl. auch Hertwig 1932b: 675)
und der in einer erste koordinierenden Besprechung der Genetiker wenig später einhellige
Unterstützung fand (vgl. o.D., Stubbe an E. Fischer, in: BBAW, Stubbe-Fonds, 49).
230
mus, weil ihre Träger mit ihnen leben und sich vermehren konnten.136 Das Problem war, dass die „kleinen“ Mutationen schwer festzustellen waren, zumal
dann, wenn sie sich auf die Physiologie und nicht auf das Äußere auswirkten
oder „phänotypisch unterschwellig“ waren.137 Die Probleme der Genetiker vervielfachten sich noch dadurch, dass sie davon überzeugt waren, dass schon die
geringste Strahlendosis ausreichte, eine Mutation zu erzeugen. Die Mutationsrate verhielt sich zur Strahlendosis direkt proportional, meinten sie. Die Gynäkologen dagegen gingen von Schwellen aus, unter denen die Strahlen zumindest für bestimmte Zellen des Organismus ungefährlich waren. Die Aufgabe,
mit der sich die Genetiker konfrontiert sahen, war, kleinste und seltenste Veränderungen als Indikatoren von Röntgenmutationen herauszufiltern und von den
‚natürlichen’ Unterschieden der Tiere abzugrenzen.138
Das Problem der schwellenlosen Proportionalität von Strahlendosis und Mutationsrate wurde zu einer harten Bewährungsprobe des Feinschliffs der strahlengenetischen experimentellen Arrangements. Stubbe stöhnte schon bei seinen Experimenten mit experimentierfreundlicheren Bohnen und Löwenmäulern,
dass die „genetisch bedingte Variabilität“ zu großen Fehlern führte.139 In den
bisherigen Studien der Gynäkologen und Röntgenologen war hingegen diese
Objektbedingung nicht beachtet worden, was den Genetikern wieder nur bewies, dass es ein methodisches Problem war, weshalb bislang nicht die zu erwartende Mutationswirkung bei Säugetieren nachgewiesen werden konnten.140
Die Versuchstierzuchten, die die Notgemeinschaft in Göttingen und in Brandenburg betrieb, kamen den Erfordernissen der Röntgenversuche genau entgegen.141
Es war deshalb kein Zufall, dass in Göttingen schon lange vor Gründung der
Arbeitsgemeinschaft der Notgemeinschaft ein Forschungszusammenschluss
entstand. Zufällig war zwar, dass sich 1927 mit Martius als Chef der Göttinger
Frauenklinik der engagierteste Strahlenskeptiker in Göttingen einfand.142 Die
Kooperation der Klinik mit Kühns Institut war aber nicht zufällig, da das Institut
über die Erfahrungen und die Ressourcen zu größeren Zuchtvorhaben verfügte.
136
Vgl. Loeffler nach Ottow 1931: 2902-03.
Hertwig 1932b: 662 u. 677; vgl. auch Martius 1934: 788.
138
Schon den Drosophilagenetikern war es äußerst schwer gefallen, eine mutative Wirkung der
Strahlen nachzuweisen. Erst Muller war dies durch den Einsatz großer Mengen von Drosophilafliegen gelungen. Allerdings handelte es sich um letale Mutationen, die er nachwies.
139
Lachmann & Stubbe 1932: 497
140
Vgl. Lachmann & Stubbe 1932: 499; Timoféeff-Ressovsky 1937: 12.
141
Zur Bedeutung der Versuchstierzucht, die Variabilität zu reduzieren und kleinste phänotypische Veränderungen zu detektieren, siehe 3.3.3 u. 4.2.3.3.
142
Martius stand der Vererbungslehre nahe, was seinen Grund darin haben mag, dass sein
Vater, Friedrich, Pathologe in Rostock, seit Anfang des Jahrhunderts einer der führenden Programmatiker der Konstitutionspathologie war, also eines pathogenetischen Konzepts, das entgegen der Bakteriologie und Zellularpathologie die unterschiedlichen Anfälligkeiten (Dispositionen) der Organismen gegenüber Krankheiten herausstellte, die nicht zuletzt auf erblichen Eigenarten beruhen sollten. Während allerdings der Vater nur noch „spekulative Pathologie“ betrieb und die mendelschen Erbgesetze – nach Fritz Lenz – nicht richtig verstanden hatte (vgl.
Krügel 1984: 34 u. 79), war Heinrich auf der Höhe der Zeit, rezipierte die neuere genetische
Literatur und war bemüht, sich am Methodenkanon der experimentellen Genetik zu orientieren.
Martius beschäftigte sich darüber hinaus mit therapeutischen Strahlenbehandlungen zum
Beispiel beim Gebärmutterkarzinom und der Entwicklung direkterer Bestrahlungsmethoden
(intravaginale Röntgenbestrahlungsröhre).
137
231
Die experimentellen Bedingungen mussten zunächst so gefasst werden, dass
die physiologische Wirkung der Strahlen dem entsprach, was die Kliniker in der
Gynäkologie unter temporärer Sterilisation verstanden.143 Es gelang dennoch
nicht, – nach 120 Bestrahlungen und 1.000 Meerschweinchen – Röntgenmutationen zu identifizieren. Das „Tiermaterial“ sollte deshalb, der Logik des seltenen und kleinen Ereignis folgend, noch „sehr erheblich vergrößert“ werden.144
Zum Zeitpunkt der Kooperation von Kühn und Martius war deutlich geworden, dass die ‚klinischen Gynäkologen’ in der Frage der temporären Sterilisation nicht einlenken würden, bevor nicht an Säugetieren Strahlenversuche zu
überzeugenden Ergebnissen geführt hätten. Die Genetiker sahen die Experimente an Säugetieren deshalb als ein taktisches Entgegenkommen.145 Andererseits passten sie sich ideal in die genetische Forschung ein. Auf Kühns Institut traf das in besonderer Weise zu.146 Im vierten Kapitel wurde gezeigt, dass
die Einrichtung der Versuchstierzucht in der Lage war, verschiedene experimentelle Kontexte miteinander zu verbinden und Fragestellungen und Konzeptbildung zu katalysieren. Diese Katalysatorwirkung wirft nun auf den Diskurs um
die Röntgenstrahlen ein differenziertes Licht. Als Kühn die Arbeitsgemeinschaft
mit Martius einging, war er in keiner Weise in die Auseinandersetzung zwischen
Genetikern und Gynäkologen involviert, sein Interesse galt vielmehr der Entwicklung eines experimentellen Systems, um Fragen der Entwicklungsphysiologie zu bearbeiten. Die Versuchstierzuchtanlage war ein Mittel unter anderen, in
dieser Frage voran zu kommen. Als er den gesamten Apparat der Versuchstierzucht für die Röntgenfrage zur Verfügung stellte, konnte Kühn erwarten, dass
die forschungspolitische Bedeutung der Versuchstierzucht aufgewertet und die
ersehnte Erweiterung möglich gemacht würde. Dies geschah tatsächlich, was
den Wert der Versuchstierzucht als Variantengenerator steigerte. Gleiches war
von der Kooperation mit Martius zu erhoffen, da die notwendige Feinjustierung
der Experimentalordnung einen Repräsentationsraum für Röntgenmutationen
und Varianten der Säugetiere öffnen sollte.
Der Vorteil lag also ganz auf der Seite der Genetik, die hoffen konnte, allerlei
genetische aber auch allgemeinbiologische Fragen voranzubringen. Die Erweiterung des Mutationsbegriffs auf „kleine“, physiologische Mutationen machte die
Mutationsforschung Anfang der dreißiger Jahre zu dem innovativsten Bereich
innerhalb der Genetik.147 Unter diesen Umständen mussten alle – experimentellen oder institutionellen – Anordnungen, die zu einer Vermehrung jener kleinen
Mutationen führten, mögliche Schlüssel der Mutationsforschung darstellen. Die
143
Vgl. Martius & Kröning 1936: 1049-50. – Die Vorarbeiten wurden veröffentlicht als: Vgl.
Kröning 1934a Da die Versuche schon in den Vorarbeiten äußerst anspruchsvoll waren,
projektierte Kühn die Einbindung seines „Inzuchtmaterials“ auf mindestens drei Jahre (vgl.
28.5.1932, Kühn an Notgemeinschaft, auszugsweise Abschrift, in: BA Ko, R 73, 16079).
144
Martius & Kröning 1936: 1054
145
Vgl. Hertwig 1932a: 33.
146
Zur Verbindung der Röntgenexperimente und genetischer Fragestellungen, siehe 4.2.2.
147
Siehe 4.2.2.1. Die experimentelle Mutationsforschung war „mit fast allen Hauptfragen der
Genetik verbunden und eröffnet neue Forschungsmöglichkeiten auf verschiedensten genetischen Arbeitsgebieten“ (Timoféeff-Ressovsky 1937: 147). Darüber hinaus entstand eine Verbindung zwischen Genetik und dem Evolutionsproblem (vgl. Hertwig 1932a: 27).
232
Versuche waren eben vom „größtem theoretischen Interesse“.148 Dieses Interesse fand mit den Gemeinschaftsarbeiten zur Röntgenfrage zugleich die notwendige fachliche Erweiterung, da sie das ersehnte „Zusammenwirken genetischer und entwicklungsphysiologischer, leistungsphysiologischer und medizinischer Forschung“ gleich mitlieferte.149 Es zeigt sich einmal mehr, dass die Versuchstierzucht Einzelforschungsinteressen und -mittel zu einer Konstellation
verband, die ständig darauf drängte, ihre eigentlichen Aufgaben zu überschreiten.
Auch Baurs Müncheberger Institut beteiligte sich weiterhin mit Forschung
zum Mutationsproblem.150 So verdeutlichen auch die Forschungspläne Hans
Stubbes, der mit Ernst Lachmann, Mitarbeiter in G. Buckys Röntgenabteilung
des Berliner Rudolf Virchow-Krankenhauses, zusammenarbeitete,151 auf welche
Weise das Röntgenthema als Vehikel dienen konnte, eigene – genetische –
Forschungsambitionen auszudehnen oder auf neue, prestigeträchtige Objekte
umzustellen. Stubbe und Lachmann überlegten, ihre Versuche auf Drosophila
auszuweiten.152 Es war aber Eile angezeigt, „weil das Problem in den nächsten
Jahren wahrscheinlich schon bedeutend an Interesse“ verlieren würde.153 Zum
anderen war Timoféeff-Ressovsky drauf und dran, sich ähnlicher Probleme anzunehmen, und da er lange schon mit Drosophila arbeitete, schien es heikel, in
sein Refugium einzudringen.154 Im Eingeständnis Stubbes, dass bei der Röntgendiagnostik die Strahlendosen in Wahrheit so niedrig seien, dass eine Wahrscheinlichkeit der Keimensschädigung äußerst gering sei,155 kommt zum Ausdruck, dass die Röntgendebatte finanzielle und strukturelle Ambitionen der Genetik transportierte. Die Genetik war an ihrer Belebung und Aufrechterhaltung
interessiert, da sich neben dem eugenisch-normativen Geltungsanspruch in ihr
eine instrumentelle Funktion verwirklichte.
5.3.3 Paula Hertwig, Mutationsraten bei Mäusen und die vergleichende
Erbpathologie
Auch das Forschungsengagement Paula Hertwigs156 führte diese geradewegs
von der Strahlengenetik auf ein anderes Forschungsfeld – das der vergleichen148
14.3.1932, Martius an Schmidt-Ott, unterz. Martius u. Kühn (BA Ko, R 73, 16079)
Kühn 1935b: 48
150
Schon kurz nach Mullers Veröffentlichungen hatte Baur mit weitgefächerten Versuchen zur
Mutationsauslösung an seinem Institut begonnen, Chemikalien und physikalische Reize wurden
in einer vielfältigen Skala ausprobiert (vgl. zum Beispiel Baur 1932b; Baur 1932a; Stubbe
1930a; Stubbe 1930b; Stubbe 1932; Stubbe 1933; Stubbe 1935a). Im Vordergrund standen
Experimente mit Pflanzen, Baurs Versuchsobjekt, dem Löwenmäulchen Antirrhinum majus,
sowie mit der Bohne Vicia faba.
151
Vgl. Lachmann & Stubbe 1932; Lachmann & Stubbe 1933.
152
Vgl. 18.12.1931, Lachmann an Stubbe (BBAW, Stubbe-Fonds, 119).
153
4.12.1931, Stubbe an Lachmann (BBAW, Stubbe-Fonds, 119)
154
Vgl. 23.12.1931, Stubbe an Lachmann (BBAW, Stubbe-Fonds, 119). – Stubbe konnte die
Strahlenarbeiten nicht in der geplanten Intensität durchführen – nicht zuletzt, da er 1936 das
KWI verlassen musste. Er verfolgte das Thema dennoch intensiv (vgl. Stubbe 1935a; Stubbe
1937b; Stubbe 1938).
155
Vgl. 8.1.1932, Stubbe an P. Hertwig (BBAW, Stubbe-Fonds, 119).
156
Paula Hertwig, geb. 1889 in Berlin, gest. 1983 in Villingen-Schwenningen. Studium der Zoologie, Botanik u. Chemie in Berlin. 1916, Dr. med.. 1919, Volontär-Ass. am Anat.-Biol. Inst.,
1919, PD für Zoologie an der Phil. Fak.. 1921, Ass. am Inst. für Vererbungsforschung (Oberass.
149
233
den Erbpathologie. Hertwigs Beteiligung an der Debatte um die Strahlenschäden war von Anfang an die Frage gebunden, inwieweit die genetischen Versuche für die Medizin modellhaft waren. Sie stellte ihre Forschung auf dieses Problemfeld um und bewahrte, nachdem das Interesse daran abgenommen hatte,
die medizinische Verknüpfung ihrer Experimente. Die Auseinandersetzung zwischen Genetikern und Gynäkologen wirkte über das medizinisch-praktische
Problem der Strahlenanwendung auf die Strukturierung der Forschung in der
Genetik zurück. Wenn die strahlengenetischen Versuche Hertwigs auch für die
medizinisch-praktischen Fragen keine Lösung erbrachten, produzierten die
Strahlenversuche doch Differenzen unter den Tieren, an denen unter der Annahme der Modellhaftigkeit der entstandenen Fehl- und Missbildungen vergleichende Erbpathologie betrieben werden konnte.
Nach Nachtsheim war es Hertwigs Verdienst, die Öffentlichkeit auf die Gefahren der Röntgenanwendung aufmerksam gemacht zu haben.157 Paula Hertwig, Schriftführerin der Deutschen Gesellschaft für Vererbungswissenschaft,
legte, wie bereits berichtet, auf der Versammlung der Gesellschaft im Herbst
1931 mit ihrem Vortrag die Grundlage für die Resolution der Genetiker. Sie
nutzte das Forum der Vererbungswissenschaftler, um gesundheitspolitische
Forderungen zu formulieren und die Genetiker auf diese zu verpflichten.158 Wie
ist dieses plötzliche und vehemente Auftreten Hertwigs zu verstehen?
In vielerlei Hinsicht war Hertwig die richtige Frau zum richtigen Zeitpunkt.
Schon während des Studiums der Naturwissenschaften nahm sie zwischen
1910 bis zu ihrem Wechsel an Baurs Institut (ca. 1921) an der Forschung ihres
Vaters, des Anatom und Entwicklungsbiologen Oscar Hertwig, und ihres Bruders Günther am Berliner biologisch-anatomischen Institut teil. Erforscht wurde
die Wirkung von Radium auf die Keimzellen von Amphibien. Zusammen mit
Günther unternahm sie eigene Versuche zu der Beeinflussung männlicher
Keimzellen durch chemische Stoffe.159 Die Radiumversuche fanden zu einer
Zeit statt, als die Radiumtherapie in der medizinischen Literatur eine so große
Rolle spielte, dass „auch politische Zeitungen sich häufig mit ihr beschäftigen
und sie zu einer Tagesfrage“ machten.160 Oscar Hertwig sah sich deshalb
aufgerufen, auf die Möglichkeiten der Gefährdung bei der Strahlentherapie hinzuweisen.161
1941). 1927, a.o. Prof., dann Prof. an der Med. Fak. der FWU. 2/1933, Abgeordnete der Demokratischen Staatspartei im Preuß. Landtag. 1946, Prof. für Biologie. 1948, o. Prof. und Dir. des
Inst. für Biologie der Med. Fak. in Halle. Für ihre erbpathologischen Studien erhielt sie 1944 den
Theobald-Christ-Preis der Senkenbergischen Stiftung. (Vgl. UHUB, Landw. Fak., PA P. Hertwig;
BA B, BDC (keine Akte vorhanden); Jahn 1998: 853.)
157
Vgl. Nachtsheim 1957a: 1284.
158
In ihrer Geschichte seit 1921 war dies die erste politische Positionierung innerhalb der Genetikergesellschaft (vgl. die Berichte der Sitzungen in der ZIAV).
159
Oscar Hertwig führte seit 1908 Radiumversuche an Seeigeleiern, Frosch- und Axolotl-Eiern
und Rana-Arten durch (vgl. O. Hertwig 1910).
160
O. Hertwig 1914: 894
161
Vgl. O. Hertwig 1914: 902-03. Hertwig nahm Bezug auf Warnungen, die bereits in der Berliner Medizinischen Gesellschaft durch den Gynäkologen Ernst Bumm geäußert geworden waren. Dieser hatte auf Beobachtung hingewiesen, nach denen durch Radium- oder Röntgenbestrahlung Tumore induziert werden konnten.
234
In den Versuchen Hertwigs und seiner Kinder ging es allerdings nicht um die
Erzeugung von erblichen Veränderungen in den Keimzellen.162 Ihr Interesse
galt der Einwirkung der Strahlen auf die Entwicklung der Keimzellen und der
Embryonen, also ihrer „physiologischen Wirkung“ in der embryonalen Entwicklung.163 Dass die Frage der Keimschädigung von Oscar Hertwig nicht in eugenischen Dimensionen gesehen wurde, erklärt sich zum einen aus seinen konzeptuellen Überzeugungen und der Ablehnung des Darwinismus.164 Wie die organizistische Sozialtheorie Oscar Hertwigs eine Nähe zum Sozialliberalismus und
auch christlichen Nationalismus eines Friedrich Naumanns hatte, so verortete
sich die Tochter in der Weimarer Republik in liberalen, mäßig nationalen Strömungen und war seit 1918 in der „Staatspartei“ aktiv.165 Dass sie neben ihrer
162
O. Hertwig nahm den Gedanken der gynäkologischen Diskussion – in der man sich zum Teil
auf seine Ergebnisse berief – vorweg, dass unterschiedliche Körperzellen mit verschiedener
Empfindlichkeit auf die Bestrahlung reagierten. Die Bestrahlung der Keimzellen führe zur Schädigung der Kernsubstanzen und früher oder später zum Zerfall der Embryonalzellen. Sein Forschungsinteresse betraf das Entstehen und Überleben von Geschwulstzellen (und nicht das
Entstehen von Mutationen) (vgl. O. Hertwig 1914: 896). H. warf 1912 ebenfalls kritisch die Frage nach der Wirkung von chemischen Substanzen in der Chemotherapie auf (vgl. P. Hertwig
1918: 79).
163
P. Hertwig 1917: 254; vgl. O. Hertwig 1913. – Die Experimente passten sich insofern gut in
die Tradition der experimentellen Embryologie ein, in der Oscar Hertwigs Institut stand.(vgl.
Weindling 1991: 109ff.). Es ging auch um das Verhältnis von Kernsubstanz zum Protoplasma,
die „Umwelt der Erbsubstanz“. Später wurden die Experimente im Licht der Frage nach der
Vererbung erworbener Eigenschaften gesehen (vgl. P. Hertwig 1918: 79). Unter der Annahme,
dass die Beeinflussung der Keimzellen zwar noch die Erzeugung eines neuen Organismus
erlaube, dieser „jedoch in seiner Entwicklung die Schädigung des väterlichen oder mütterlichen
Idioplasma deutlich erkennen“ ließe, waren diese Versuche von vererbungstheoretischer
Bedeutung.
164
O. Hertwig stand der Keimplasmatheorie von August Weismann ablehnend gegenüber und
vertrat eher Nägelis Konzept des Idioplasmas, nach dem sich die Keimsubstanz über den ganzen Organismus verteilte und seinen Kräften ausgesetzt war (vgl. Weindling 1991: 138ff.). – In
den Radium und Röntgenversuchen Hertwigs wurde auch der Nachweis der Idioplasmanatur
der Erbsubstanz versucht (vgl. Hertwig 1927: 16). Diese vererbungstheoretische Auffassung
war darüber hinaus in eine eigene theoretische Vorstellung über biologisches und gesellschaftliches Leben eingebunden. O.s eugenische Zurückhaltung resultierte auch aus seiner feindlichen Haltung gegenüber der rassenhygienischen Bewegung. Im Gegensatz zu seinem Bruder
Richard (vgl. 1.1) und vielen seiner Kollegen war O. nicht Mitglied der 1905 gegründeten Gesellschaft für Rassenhygiene. O. wendete sich schon kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs in mehreren allgemein verständlichen Schriften der Verknüpfung von Biologie und
Staatswesen zu und formulierte eine demokratische und liberale Gesellschafts- und Staatsauffassung auf der Grundlage organischer Analogien und Metaphern, von einer naturalistisch begründeten Ethik getragen (vgl. Weindling 1991: 265ff.). Damit einhergehend wendete er sich
zugleich vehement gegen alle Formen des Sozialdarwinismus. O. stand an der Seite einer
Allianz gegen die durch die im Krieg aufgekommene Diskussion um den Abfall der Geburtenrate erstarkte eugenische Bewegung (zus. m. dem Rektor der Berliner Univ., Ernst Bumm, u.
Friedrich Naumann) (vgl. Weindling 1991: 277). Es ging O. um die Widerlegung „Darwins Zufallstheorie“, also der Auffassung, dass die natürliche Selektion das entscheidende Prinzip in
der Gesellschaft, wie im Organismus sei (vgl. ebd.: 270-71). O. warnte vor der Anwendung der
„unhaltbaren biologischen Lehre auf das ethische, soziale und politische Gebiet“ und vor den
„kulturfeindlichen Folgerungen“ (Hertwig 1921: III-IV).
165
Vgl. UHUB, Landw. Fak. vor 1945, PA Paula Hertwig. Nach den Angaben im Lebenslauf war
sie bis 1932 in der Staatspartei aktiv und in der Deutschen Volkspartei (DVP) vom 5.3.27.6.1933. Es unwahrscheinlich, dass sie in der DVP tätig war, da sie nachweisbar seit Februar
1933 für die Staatspartei Mitglied im Preußischen Landtag war (vgl. 26.1.1953, Stubbe: Frau
Prof. Dr. Paula Hertwig [Empfehlung für die Wahl in die Akademie der Wissenschaften], in:
BBAW, NL H. Stubbe, 44; Bracher, Matthias, Morsey 1980: 765). Die Deutsche Staatspartei
wurde im Juli 1930 gegründet als ein Produkt der Auflösung der Deutschen Demokratischen
235
Forschungstätigkeit noch parteipolitisch aktiv war, zeigt ein ausgeprägtes gesellschaftliches Verantwortungsbewusstsein. Damit war sie auch richtig in
Baurs Institut für Vererbungsforschung gelandet, in dem der praktische Bezug
der Wissenschaft immer zu vorderst stand. Zugleich repräsentierte Erwin Baur
als wichtigster Vertreter der Rassenhygiene in der Genetik das unbedingte Interesse an der Anwendung des biologischen Wissens auf sozialpolitische Angelegenheiten. Im Baurschen Institut war der Blick immer auf „die Grenzgebiete
zwischen biologischer und medizinischer Forschung“ gerichtet, ganz nach
Baurs Motto: „Das eigentliche Studium der Menschheit ist der Mensch“.166
Seine Schüler und Schülerinnen waren somit mit der Dringlichkeit eugenischmedizinischer Probleme vertraut, und sein Beispiel zeigte, wie Forschung, mit
Nachdruck öffentlich vertreten, ihre praktische Relevanz entfalten und ihre Förderung auf diese Weise gesichert werden konnte.167
Als Hertwig 1927 einen Handbuchbeitrag zur Keimschädigung durch Strahlen schrieb, brannte ihr das Thema der Erbschädigung immer noch nicht auf der
Feder. Im Gegenteil, sie unterstützte sogar Nürnberger in seiner Skepsis gegenüber den Säugetierexperimenten von Little und Bagg. Die vorläufigen Versuchsergebnisse von Hermann Muller platzen förmlich in die Drucklegung des
Artikels und wurden noch in letzter Minute angehängt.168 Mit Mullers Experimenten „sprangen verschlossene Türen“ auf in der Frage der „Vererbung“, die
schon Oscar Hertwig aufgeworfen hatte.169 Doch der Raum, in den die Türen
führten, war nicht der ihres Vaters, sondern der der Mendelgenetik. Die Diskussion erhielt mit einem Schlag eine neue Dimension, da nun Mutationen den
Raum der Schädigungswirkungen besetzten.170 Es kam Hertwig darauf an,
dass auch dieser neue Wissensraum, wie zuvor der des Vaters, auf die Medizin
angewandt wurde. Ganz mit dem Engagement einer Gesundheitspolitikerin
sprach Hertwig von einer „Kampagne“ gegenüber den Gynäkologen.171
Im Institut für Vererbungsforschung beschäftigte sich Paula Hertwig zunächst
mit der Vererbungsanalyse landwirtschaftlich interessanter Eigenschaften bei
Hühnern. Zuvor hatte sie sich 1919 mit einer experimentell-zytologischen Untersuchung über Parthogenese habilitiert – die erste Habilitation in Vererbungswissenschaft an einer Medizinischen Fakultät. Das Thema teilte sie mit Nachtsheim. Über seinen Lehrer und ihren Onkel, Richard, kamen sie in Kontakt, und
der gleichaltrige Nachtsheim, der die Leitung der zoologischen Abteilung an
Baurs Institut angenommen hatte, bot ihr die Mitarbeit an. Dies eröffnete ihr
nach der Emeritierung ihres Vaters die Möglichkeit zu weiteren genetischen
Arbeiten – mit der Auflage aber, einen landwirtschaftlichen Bezug zu wahren.172
Das Verhältnis von Nachtsheim und Hertwig war gleichberechtigt, jeder bearPartei (DDP) und in der Intention, dem Abwandern des liberalen Klientels zu den Nationalsozialisten entgegen zu steuern. Am 28.6.1933 löste sich die Staatspartei selbst auf. (Vgl.
Albertin 1980: LI u. 765, Fußn. 4.)
166
Nachtsheim 1959b
167
Vgl. Harwood 1993: 214ff. u. 227ff.; 1.1.4.
168
Vgl. Hertwig 1927: 43-44.
169
Hertwig 1932a: 2
170
Zur Bedeutung Mullers Nachweis von Genmutationen für die Genetik, siehe Seite 95f.
171
5.1.1932, Hertwig an Stubbe (BBAW, Stubbe-Fonds, 83)
172
Vgl. Nachtsheim 1959b.
236
beitete sein eigenes Gebiet, und zusammen organisierten sie die Versuchstierzucht für die Notgemeinschaft.173
Mit Mullers Berliner Vortrag kam die Strahlengenetik auch nach Dahlem. Als
Baur ganz an sein Müncheberger Institut gewechselt war, blieb die langjährige
Assistentin und ältere Biologin Emmy Stein in Dahlem und setzte ihre Bestrahlungsexperimente an Pflanzen über die Induktion von Gewebsentartungen fort.
Nun wurden aber auch in der zoologischen Abteilung, deren Aufgabe bislang
ausschließlich die landwirtschaftliche Nutzzucht gewesen war, die Fragen der
Mutationsgenetik aufgegriffen. Der junge Mediziner Hans Grüneberg174, der
nach seinem Physikum 1928 in Bonn mit dem Interesse an menschlicher Erblehre an das Berliner Institut gekommen war, unternahm Strahlenversuchen an
Drosophila.175 Grüneberg konnte sich in Dahlem auf Nachtsheims frische Erfahrungen mit der Fruchtfliege an Morgans Labor stützen und auf Hertwigs Überblick in der strahlengenetischen Forschung.176 Grüneberg bewegte sich in den
richtigen Kreisen, um die brisante Bedeutung seiner strahlengenetischen Experimente und der Mutationsforschung zu chemischen Reagenzien am Institut
präzise einzuschätzen. In der Zeitschrift des Deutschen Bundes für Volksaufartung wies er auf die möglichen Gefahren von Strahlen und möglicherweise
von Rausch- und Genussmitteln und Medikamenten hin, die „in ihren Folgen
nicht nur eine Generation treffen, sondern ganze Volksteile mit krankhaften
Erbanlagen dauernd verseuchen“ könnten.177
173
Neben dem praktischen Interesse sah Hertwig ihre Hühnerversuche im Zusammenhang der
Domestikationserscheinungen, von Rassen- u. Artbildung und von evolutionstheoretischen Fragestellungen (Hühner waren ein beliebtes Forschungsobjekt der amerikanischen Genetiker)
(vgl. Hertwig 1923: 184). In der Verbindung von mendelscher Faktorenanalyse und Haustierwerdung interessierte sich H. für eine Annäherung von Evolutionsbiologie und Genetik. H.
vertrat 1923 die Ansicht, dass Genkombination und -mutation die Rassenbildung bestimmen
(vgl. Hertwig 1923: 243). Den Selektionsbegriff gebrauchte sie erst später (vgl. Hertwig 1933a:
1403). Zunächst war sie aber damit beschäftigt, als Grundlage die bisher „noch rätselhaften und
unbestimmten ‚Erbfaktoren’ genauer“ zu analysieren (vgl. Hertwig 1923: 246).
174
Hans Grüneberg, geb. 1907, gest. 1982 in London. Studium der Medizin in Bonn. Ass. in
Freiburg, 1933 entlassen u. Emigration nach London. 1933-46, Ass. am University College.
1956-74, Prof. für Genetics. (Vgl. Deichmann 1995: 411.)
175
Zuvor hatte er Kontakt mit Berliner Humangenetikern u. Anthropologen aufgenommen und
sich mit der Statistik der Zwillingsmethode u. verschiedensten anderen Themen der menschlichen Erblehre auseinander gesetzt (vgl. Grüneberg 1930, Vortrag auf der Versammlung der
Deutschen Naturforscher und Ärzte, Vererbungswissenschaftliche Sektion, in Hamburg). – Grüneberg veröffentlichte in dichter Folge kleinere Aufsätze, Berichte und Besprechung in Volksaufartung, Erbkunde, Eheberatung: unter anderen Grüneberg 1928b; Grüneberg 1929a. G. war
Doktorand Nachtsheims, von dem das Thema der Arbeit stammte. Grüneberg konnte als einer
der Ersten Mullers Ergebnisse bestätigen. Es traten zahlreiche neue Varianten unter seinen
Fruchtfliegen auf, die er nach den Methoden der Morgan-Schule kartierte (vgl. Grüneberg
1929c; Diss. an der Philos. Fak., Univ. Berlin, in: StaBi Po: Ah 7856 (1930, Bd. 7)).
176
Nachtsheim selbst setzte seine Versuche an Drosophila (vgl. 1.1.4) in Deutschland nicht fort.
– Nachtsheim riet Grüneberg erst ab, sein Medizinstudium zu unterbrechen und für eine naturwissenschaftliche Doktorarbeit nur zwei Semester einzuplanen. G. war aber bereits 1929 mit
seinen Experimenten fertig und zurück in Bonn und arbeitete weiter experimentell-genetisch
unter der Betreuung der Dahlemer (vgl. WIHM, PP/Gru, box 12). Bereits zwei Jahre später legte
er eine medizinische Dissertation nach, in der es um die für die Mutationsratenbestimmung
„prinzipiell wichtige Frage“ (Timoféeff-Ressovsky) ging, ob Strahlen auf direkten oder indirekten
Weg Mutationen auslösen. Die Arbeit fand allgemein Anerkennung (vgl. Grüneberg 1931;
zugleich: Diss. an der Hohen Med. Fak. der Rhein. Friedrich-Wilhelms-Univ., Bonn (Hautklinik
von E. Hoffmann), in: StaBi Po: Ja 4125 (1934, Bd. 3, G)).
177
Grüneberg 1928a; vgl. Grüneberg 1929b
237
Hertwig übernahm Grünebergs Drosophilazuchten und züchtete sie über 60
Generationen weiter. In Hitzeexperimenten erhielt sie Ergebnisse, die sie als
neue Beweise dafür ansah, dass auch unreife Eizellen mutationsfähig waren.178
Die Frage nach der Mutationsfähigkeit unreifer Eizellen war eines der grundlegenden Probleme in der Diskussion um die temporäre Sterilisation. Von dieser
Frage aus hatte die Transformation des gynäkologischen Problems in eine allgemeine strahlengenetische Kernfrage, wie gesehen, ihren Anfang genommen.
Die Frage nach der Mutabilität von Zellen, also der allgemeinen Fähigkeit zur
Mutation und ihrer Modi, und ihre vergleichenden Unterschiede waren für die
Genetik von größerem Interesse als die auf die gynäkologische Praxis beengte
Frage. Interessanter war, wie sich die Dosis der Bestrahlung und die Strahlenwirkung in lebenden Zellen zu einander verhielt. Schon 1928 war eine direkte
Proportionalität der Mutationsrate zur Bestrahlungsdosis von dem Pflanzengenetiker Stadler postuliert worden.179 Die Frage fächerte sich schnell in zahlreiche Folgeprobleme auf. Gilt die Linearität der Wirkung für alle Strahlenarten
und -wellenlängen? Können auch kleinste Dosen eine Mutation bewirken? Treten bestimmte Mutationen unter bestimmten Bedingungen häufiger auf? Und so
weiter.
In diesen Raum der dynamischen Beziehung zwischen Strahlen und ihrer
Wirkung ließen sich die Strahlenexperimente zur Bedeutung der medizinischen
Strahlenanwendung einordnen. Die Bestimmung der Mutationsrate unter unterschiedlichsten Bedingungen war zugleich die entscheidende Frage im genetischen Diskurs um die Strahlenanwendung. „Bei der Überlegung möglicher Gefahren der Erbschädigung darf dabei nicht die oft benutzte Berechnung der
Wahrscheinlichkeit des Herausspaltens induzierter Mutationen in der unmittelbaren Nachkommenschaft der der Strahlung ausgesetzten Personen erwogen
werden. Es muß dagegen einfach die mögliche Erhöhung der Mutationsrate,
und dadurch die Erhöhung des schon vorhandenen ‚Vorrats’ krankhafter Erbanlagen in der menschlichen Population in Betracht gezogen werden.“180
Paula Hertwig hatte schon früh die Vermutung geäußert, dass es keine ungefährlichen Strahlendosen gäbe. Sie mobilisierte vor den Gynäkologen die suggestive Kraft der Extrapolation mathematischer Ausdrücke. Das Argument der
linearen Proportionalität setzte über die temporäre Sterilisation hinaus die gesamte Strahlentherapie und -diagnostik unter Generalverdacht. Durch die
Verlagerung der experimentellen Fragestellung wurde die temporäre Sterilisation zu einem sekundären Problem. Die „richtige Beantwortung“ der Frage der
Proportionalität und Mutationsrate war die Frage „von großer praktischer Tragweite“.181 So setzte Hans Stubbe, Hertwigs ehemaliger Institutskollege, den
Baur Ende der zwanziger Jahre mit an das Kaiser-Wilhelm-Institut für Züchtungsforschung genommen hatte, seine Mutationsexperimente als Experimente
über Mutationsraten fort.182 Die Mutationsratenbestimmung beschäftigte die
178
Vgl. Hertwig 1932b: 671-72.
Vgl. Kappert 1978: 106.
180
Timoféeff-Ressovsky 1937: 149
181
Hertwig 1937: 176
182
Stubbe bestätigte an Antirrhinum, dass durch Strahlen die Mutationsrate bedeutend steigt
(vgl. Stubbe 1932).
179
238
Genetiker intensiv und lange.183 Wie sich theoretische Folgefragen stellten,
ergaben sich auch in Bezug auf die Röntgenfrage neue Probleme, da sich die
Mutationsraten zwischen Arten, zwischen einzelnen Allelen und offenbar – und
das erinnerte fatal an das seit Jahren von den Medizinern heruntergebetete
Argument – auch zwischen verschiedenen Zellstadien und -arten eines Organismus unterschieden.184 Die Aufgabe war damit auch innerhalb der Röntgendebatte, zu prüfen, wie weit aus den Zahlen über die Mutationsrate bei Drosophila Rückschlüsse auf Säugetiere und den Menschen erlaubt waren.185
5.3.4 Der eigentliche Erfolg der strahlengenetischen Experimente
Paula Hertwig errechnete, dass, um Mutationsraten bei Säugetieren mit einer
99-prozentigen Sicherheit zu bestimmen, mindestens 20.000 Mäuse erforderlich waren. Sie plante viereinhalb Jahre für die Durchführung der Versuche ein.
Im Rahmen der Gemeinschaftsarbeiten war vorgesehen, dass Hertwig die Versuchsstämme vorbereiten und eine geeignete Auswahl treffen sollte; TimoféeffRessovsky sollte dann „bei den großen Strahlenversuche“ dazustoßen.186 Mit
den Bestrahlungen wurde im Frühjahr 1934 begonnen. Sie wurden am Berliner
Institut für Strahlenforschung von Walter Friedrich, das auch anderen Berlinern
Genetikern bei Strahlenversuchen assistierte, durchgeführt wurden.187
183
Stubbe vermutete nach Bestrahlungsexperimenten an Pollen des Löwenmauls, dass es
auch bei der Bestrahlung der genitalen Zonen des Menschen keine ungefährlichen Dosen gäbe, im Gegenteil, dass bestimmte Strahlenintensitäten besonders stark mutationserzeugend
sein könnten und gerade solche rezessive Mutationen auslösen, die bereits in einer Population
vorhanden sind (vgl. Lachmann & Stubbe 1933: 85). Dem widersprach Timoféeff-Ressovsky.
Bei Drosophila sei die direkte und lineare Proportionalität unabhängig von Dauer und Härte der
Bestrahlung, die Qualität der Mutationen verändere sich nicht (vgl. Timoféeff-Ressovsky 1934b:
473 u. 477; vgl. auch Timoféeff-Ressovsky & Delbrück 1936). In einem Handbuchartikel von
1938 erwähnte St. zwar die widersprechenden Ergebnisse, stufte sie aber als „eher zufällig“ ein
(vgl. Stubbe 1935a: 301). T. wiederum beschränkte sich auf ein Diagramm, das drei Versuchsserien widerspiegelte, ohne St.s abweichende Ergebnisse zu erwähnen. Die „Dosisproportionalität“ sei bei allen geprüften Pflanzen und Tieren direkt proportional (vgl. Timoféeff-Ressovsky
1940: 216). (Nach Ludwik Fleck ist das Handbuchwissen diejenige Form, bei der im Prozess
der Wissensverallgemeinerung alle Zweifel und möglichen Unregelmäßigkeiten als zufällige
Anomalien außer Kraft gesetzt sind (vgl. Fleck 1994: 158f.).)
184
Vgl. Timoféeff-Ressovsky 1937: 91.
185
Vgl. Hertwig 1932b: 664-65 u. 674.
186
Vgl. 30.10.1932 [sic? 1933!], Timoféeff-Ressovsky an Notgemeinschaft (BA Ko, R 73,
15215); Stubbe 1935a: 247ff.. – Zur konkreten Beteiligung T.s ist es meines Erachtens nie gekommen. – Die Arbeiten Hertwigs erfuhren auch durch den Nachfolger Baurs am Dahlemer
Institut, den gleichaltrigen Hans Kappert, der als eingefleischter Pflanzengenetiker kein besonderes Interesse an erbpathologischen Experimenten haben konnte, beste Unterstützung (vgl.
Hertwig 1955: 194). – Dennoch reichte der Institutsetat für einen Versuchsumfang von verplanten 50.000 Mäusen und Ratten. Alle in die Röntgenfrage involvierten Fachgesellschaften befürworteten die Versuche dringend. Die Notgemeinschaft sagte Ende 1934 ihre Unterstützung zu,
auch die medizinische Fakultät der Universität beteiligte sich, unklar ist, ob die Preußische Akademie der Wissenschaften Unterstützung zusagte. Ende der dreißiger Jahre wurden Hertwigs
Forschungen von einer Stiftung der Münchener medizinischen Wochenschrift regelmäßig gefördert. (Vgl. UHUB, Landw. Fak. vor 1945, PA Paula Hertwig: Bl. 105 u. Hefter III (med. Fak., Dekanat), Bl. 9; 6.3.1935, Hans Kappert an Verwaltungsdirektor der FWU, in: BA B, R 4901,
1526.)
187
Hertwigs Experimente wurden bis in die vierziger Jahre hinein von der DFG u. einer Stiftung
der Münchener Medizinischen Wochenschrift unterstützt (vgl. 27.05.1945, Hertwig an Kurator
der FWU, in: UHUB, Rektorat nach 1945, 312). Zu bisherigen genetischen Strahlenexperimenten an Säugern – Little und Bagg – unterschieden sich diese Versuche dadurch, dass nur „In-
239
Zunächst wurden weibliche Mäuse bestrahlt.188 Hertwig folgte damit dem
Versuchsplan, wie sie ihn den Bayerischen Gynäkologen vorgestellt hatte, um
die Mutationsfähigkeit reifer und unreifer Keimzellen zu unterscheiden.189 Zu
diesen ersten Versuchen erfolgte aber keine Veröffentlichung; stattdessen ging
Hertwig dazu über, Mäusehoden zu bestrahlen. Sie verließ damit den unmittelbaren Kontext, in dem die Versuche initiiert worden waren. Dies korrespondierte
mit der Ansicht der Genetiker über die allgemeine Gefahr, die von der Strahlentherapie und -diagnostik ausging, und der letztlich geringen Rolle, die die temporäre Sterilisation in der medizinischen Praxis spielte.190 Zum anderen hatte
der Wechsel im experimentellen Arrangement praktische Gründe. Der Nachweis von Mutationen bei Säugetieren war am weiblichen Organismus ungleich
schwieriger als bei Männchen.191 Hertwig musste feststellen, dass sich die Angleichung des Mutationsversuchs am Säugetier an die Bedingungen bei der
Bestrahlung am Menschen und der temporären Sterilisation nicht realisieren
ließ. Stattdessen wolle sie zunächst die Strahlenmenge bestimmen, die tatsächlich die Keimzellen treffen.192 Die temporäre Sterilisation erwies sich so
auch experimentell als ein zu spezielles Problem, solange nicht schon grundlegendere Fragen beantwortet waren.
Die bisherige Erfolglosigkeit der Mutationsforschung bei Säugetieren, so
Hertwig, lag daran, dass die Zahl von ausschlaggebender Bedeutung war. Sie
war das umso mehr, da anders als in den Mullerschen Versuchen nicht einfache Mutationsmerkmale festgestellt werden sollten. Es kam nicht darauf an,
zu zeigen, dass Strahlen überhaupt Mutationen bewirken konnten, sondern
dass sie kleinste physiologische Veränderungen bewirkten, die zumeist nur
rezessiv auftraten.193 Die Versuche konnten deshalb nicht umfangreich genug
angelegt werden.194 Die ursprünglich geplante ‚Materialschlacht’, die auch das
seltene Mutationsereignis ‚zu Tage fördern’ sollte, fand allerdings nie statt. Vier
Jahre nach Einsetzung der Kommission zur Frage der Erbschädigung durch
Röntgenstrahlen musste Hertwig feststellen, dass die Experimente – auch
zuchtstämme“ benutzt und weitere Generationen mit einbezogen wurden (Hertwig 1937: 181).
International waren dies die einzigen derartigen Versuche an Säugetieren neben denen von
George Snell (Jackson Memorial Institute), 1935 veröffentlicht. – Zahlreiche Versuche lagen
zwar darüber hinaus vor, die aber Hertwig für „genetisch wertlos“ hielt, da sie nicht unter
biologischen und erbkundlichen Voraussetzungen gemacht worden waren (Hertwig 1940: 254).
– Der verwendete Inzuchtstamm war wahrscheinlich der delute-Stamm von Clarence Little
(Jackson Memorial Institute) (vgl. Hertwig 1938: 274).
188
Vgl. o.D., (vermutl. Kühn): „Entwurf [...]” (BA Ko, R 73, 12475: Seite 9 v. 12, siehe Fußn.
133).
189
Vgl. Hertwig 1932b: 671-73.
190
Vgl. 2.12.1931, Martius an Stubbe (BBAW, Stubbe-Fonds, 132).
191
Von bestrahlten Weibchen war es zu aufwendig, genügend Nachkommen zu züchten. – Die
ersten Versuchsserien bestätigten dann auch eher die Position der Mediziner und Gynäkologen, dass bestimmte Keimzellstadien strahlenunempfindlicher sind. Andererseits zeigte sich in
histologischen Untersuchungen Hertwigs Schülerin Hildegard Brenneke, dass auch bei geringer
Strahlendosis die Keimzellen geschädigt werden konnten, dass aber in diesem Fall die Zygoten
zerfielen (vgl. Hertwig 1935: 522).
192
Vgl. Hertwig 1933b: 11.
193
Siehe Seite 94 u. 185.
194
1938 waren von 197 bestrahlten männlichen Mäusen 2.683 Nachkommen und ebenso viele
Kontrollen gezogen worden (vgl. Hertwig 1938: 288).
240
international gesehen – letztlich nicht besonders umfangreich waren.195 Über
die Mutationsraten anderer „Objekte“ als den Fruchtfliegen „wissen wir so gut
wie gar nichts“.196 Sie kam zum Schluss, dass es fast aussichtslos sei, die untere Grenze der mutationsauslösenden Strahlendosis an Säugetieren zu erforschen.197 Die für die Keimschädigungsgefahr der medizinischen Strahlenanwendung entscheidende Frage fiel außerhalb der experimentellen Erfassbarkeit. Hertwig gab die weiteren Bemühungen um die Mutationsrate auf, wenn sie
auch weiter von der großen „Bedeutung der Mutationsforschung für unser praktisches, rassenhygienisches Handeln“ ausging.198 Nichtsdestotrotz gilt Hertwig
als Pionieren der Strahlengenetik an Säugetieren, die die experimentelle Mutationsforschung an Säugern mit Erfolg eingeführt habe und galt damit manchem
als „eine der wenigen Frauen, die in der Wissenschaft wirklich Hervorragendes
leisten“ (v. Verschuer).199 Die speziellen Mutationsraten – nicht nur – bei Säugetieren blieben ein ungeklärtes Problem.200 Die Säugetiergenetik verlor das Interesse; erst in den fünfziger Jahren wurde sie erneut „zur Kardinalfrage“.201
Nachdem der gynäkologische Kontext der Strahlenversuche sehr bald in den
Hintergrund getreten war, wandelte sich der Charakter Hertwigs Versuche gegen Ende der dreißiger Jahre erneut. Fließend verlagerte sich ihre Forschung
auf die mendelsche Genanalyse und entwicklungsphysiologische Fragen. Den
Ausgangspunkt bildete der lang ersehnte Nachweis einzelner rezessiver Mutationen. So, wie Kühn als Nebeneffekt von der Versuchstierzucht Varianten erwartete, so machten die Versuche zur Mutationsratenbestimmung schließlich
das Seltene möglich und bescherten phänotypisch abweichende Mäuse. Die
Ähnlichkeit der Mausmutanten mit klinischen Bildern der Humanmedizin weckte
Hertwigs Interesse. Die eine Maus hatte eine Extremitätenfehlbildung (Oligodaktylie), die andere erschien anämisch und „kümmerwüchsig“.202 Fragen nach
Vererbungsmodi, Kopplung von Genen und „das entwicklungsphysiologische
Verhalten der neuen Mutation“ traten jetzt schnell an die Stelle der Mutations-
195
Vgl. Hertwig 1937: 178. – Die Gültigkeit der Ergebnisse zur Dosisproportionalität der
Mutationsrate bei Drosophila melanogaster war für Drosophila funebris durch Keller und H.
Lüers (Mitarbeiter Timoféeff-Ressovskys in Buch), für den Mais durch Stadler und für Antirrhinum majus durch Stubbe gezeigt worden (vgl. Timoféeff-Ressovsky 1940: 216). In TimoféeffRessovsky 1940: 209-10 findet sich ein Liste der Tier- und Pflanzenarten, die bis dahin als
Objekt in strahlengenetischen Versuchen benutzt worden waren, darunter Maus, Meerschweinchen, Hase und Schaf als einzige Säugetiere von 61 Arten bzw. Rassen insgesamt.
196
Hertwig 1937: 180
197
Vgl. Hertwig 1940: 245. – Andere berichteten von ähnlichen Schwierigkeiten. Weil viele
Mutationen phänotypisch nicht zu detektieren waren, sei es nahezu unmöglich die Gesamtmutationsrate einzelner Gene zu bestimmen (vgl. Timoféeff-Ressovsky 1937: 86).
198
In ihrem Handbuchartikel von 1940 ist von eigenen Experimenten zur Mutationsratenbestimmung nicht mehr die Rede (vgl. Hertwig 1940): 245). – Bestrahlungen wurden aber – mindestens – bis 1940 weitergeführt, unter Umständen, um gezielt Mutanten zu erzeugen (vgl. Hertwig
1955: 194).
199
29.2.1944, v. Verschuer an de Rudder (UAM, NL v. Verschuer, 8); vgl. Nachtsheim 1957a:
1286; Vogel 1992: 127.
200
Vgl. Hertwig 1932b: 675; Hertwig 1940: 32.
201
Nachtsheim 1957a: 1286
202
Hertwig 1939
241
rate, und Hertwig übertrug ihre Befunde auf die humangenetische Forschung
über Extremitätenfehlbildungen.203
Hertwig betrat mit ihrer Mitteilung über die Entdeckung der rezessiven Mutationen in der humangenetischen Zeitschrift Der Erbarzt das Gebiet der vergleichenden Erbpathologie, das sie von nun an sukzessive ausbaute.204 Zu den
ersten Mutationen kamen weitere Zuchtstämme mit Fehlbildungen und Erkrankungen hinzu, die in enger Beziehung zur Humanmedizin standen. Ihr Dahlemer Kollege und Humangenetiker v. Verschuer war voll des Lobes über ihren
Forschungsweg und die Bedeutung ihrer Arbeit für den „Humangenetiker“,
insbesondere, da sie sich dem „neuesten Gebiet der Verbindung der Genetik
und Entwicklungsgeschichte (Phänogenetik)” zugewandt hatte.205 Die Beschäftigung mit medizinischen und entwicklungsphysiologischen Fragen musste
Hertwig allerdings auch deshalb leicht fallen, da sie bereits auf einschlägige
Erfahrungen zurückgreifen konnte.206 Nicht zuletzt arbeiteten ihre Institutskollegen Nachtsheim und Stein bereits seit Jahren zu erbpathologischen Fragestellungen.
Hertwigs Wechsel zur vergleichenden Erbpathologie und Entwicklungsphysiologie war nicht zwangsläufig. Eine Reihe von Voraussetzungen erwies sich
als Ermöglichungsbedingungen für eine reibungslose Umstellung. Als entscheidend kann allerdings gelten, dass Hertwig schon früh von der Bedeutung der
Genetik überzeugt war, die sie gegenüber der Medizin einnehmen müsse. Anfang der dreißiger Jahre befasste sie sich im Organ des Deutschen Bundes für
Volksaufartung und Erbkunde e.V. mit der Vererbung der Rotgrün-Blindheit, ein
Thema, das ihren eigentlichen experimentellen Arbeiten zu dieser Zeit völlig
fern lag. Ihr Ziel war es, an diesem klassischen Beispiel deutlich zu machen,
dass ohne das Experiment und ohne Analogieschlüsse aus dem „tierischen und
pflanzlichen Material“ bindende Schlüsse über menschliche Vererbungsfragen
problematisch seien – so verständlich auch die eigenen Unternehmungen der
203
Hertwig 1939: 42 – Der Nachweis der neuen Merkmale und ihre Bearbeitung gelang deshalb
so unproblematisch, da durch die Strahlenversuche bereits eine Voraussetzung der neuen
experimentellen Arbeitsweise gegeben war. Die Mausstämme waren genetisch rein gezüchtet
und genetisch analysiert, um mit Markierungsgenen möglichst einfach nach verborgenen Merkmalen fahnden zu können (vgl. ebd.; Hertwig 1940: 255 u. 266-68).
204
Vgl. Hertwig 1942. – Ähnlich wie die norwegische Genetikerin Kristine Bonnevie untersuchte
Hertwig in den vierziger Jahren mit Hilfe von Serienschnittuntersuchungen an Embryonen ihrer
Röntgenmutanten, welche Störungen das mutierte Gen in der Entwicklung hervorruft (vgl.
Hertwig 1944; 29.2.1944, v. Verschuer an de Rudder, in: UAM, NL v. Verschuer, 8).
205
29.2.1944, v. Verschuer an de Rudder (UAM, NL v. Verschuer, 8). In diesem Brief unterstützte er „wärmstens“ R.s Ansinnen, Hertwig für den Theobald-Christ-Preis der Senckenbergsche Stiftung vorzuschlagen.
206
Es ist zwar richtig, dass Hertwigs Hauptinteresse zunächst nicht den neueren Entwicklungen
in der Genetik galt (vgl. Harwood 1993: 201). Dennoch war sie gut darauf vorbereitet, ihre Mäusemutanten als Objekte der genetischen Entwicklungsphysiologie zu betrachten (Über ihren
Bruder, Anatom an der Charité, blieb sie in entwicklungsphysiologische Fragestellungen eingebunden. Sie verfasste zwei Handbuchartikel über die neuesten Entwicklungen in der entwicklungsphysiologischen Forschung (vgl. Hertwig & Hertwig 1930 u. Hertwig 1937)). In ihren Arbeiten zur Vererbung bei Hühnern, die neben den Mäuseversuchen im Institut für Vererbungsforschung weitergeführt wurden, stellte sie die Verbindung zu Entwicklungsfragen schon 1934 her.
Das Interesse an medizinischen Fragen der Genetik hatte sie ebenfalls in den erbanalytischen
Versuchen mit Hühnern bereits entwickelt und „anormale und pathologische Merkmale“ in den
Mittelpunkt der Experimente gestellt (vgl. Hertwig 1934).
242
„Menschen-Genetiker“ seien.207 Hertwig war bereits Anfang der dreißiger Jahre
klar, dass die vergleichende Genetik eine wichtige Hilfe für die Humangenetik
sein würde. Die entscheidende Frage war dann natürlich erneut, ob die Experimente am Tier Gültigkeit für die Verhältnisse beim Menschen haben. Davon
waren Paula Hertwig und ausnahmslos alle Genetiker überzeugt. Doch in diesem Punkt stießen sie auf den hartnäckigsten Widerspruch bei den Gynäkologen.
5.4
Kompetenzgerangel um die Allgemeingültigkeit der
Vererbungsgesetze
„Für Mediziner muß es außerordentlich schwierig sein, die Grundlagen der Genetik zu
208
verstehen.“
Es ist bis hierhin gezeigt worden, wie sich die Strahlenproblematik in der Gynäkologie zu einem genetischen Problem gewandelt hat und damit zu einem Regulationsgegenstand der Eugenik wurde. Jetzt soll die entscheidende Konfliktlinie aufgezeigt werden, an der entlang diese Verschiebung stattfand. In der
Diskussion zwischen Gynäkologen und Genetikern ging es um Definitionsmacht, denn von ihr hing ab, als was das eigentliche Problem zu verstehen war.
Die Zulässigkeit genetischer Analogieschlüsse aus tierexperimentellen Modellversuchen war der diskursive Kern in der Auseinandersetzung um die Definitionsmacht über das Problem, welches die Genetik sich erfolgreich aneignete.
Der Diskurs um die temporäre Sterilisation war ein Kampf darum, wessen Wort
Priorität hatte und damit die Situation angemessen beschrieb – das Problem
folgte erst hinterher. Die Konfliktlinien traten sofort nach Auftritt der Eugeniker
und Genetiker offen zutage. Das Problem war die Gefahr, die von der Strahlenanwendung ausging; der Konflikt wurde aber über die Aussagekraft vererbungswissenschaftlicher Aussagen geführt. Es ging letztlich nicht um die Richtigkeit
von Befunden und experimentellen Ergebnissen der einen oder anderen Seite,
sondern darum, ob die Genetik beanspruchen konnte, die Ergebnisse ihrer Forschung auf die medizinische Problemsituation übertragen zu können. Zur Debatte stand die Frage, ob Experimente der Genetik ein gutes Modell für die
Strahlentherapie in der Gynäkologie waren.
Die Diskussion um diese Frage wurde auf zwei Ebenen geführt – auf einer
theoretisch-allgemeinen und einer konkret-experimentellen. Die Genetik musste
sich zunächst auf eine konkrete Debatte um die Bedingungen ihrer Experimente
einlassen, obwohl ihr Anspruch von sehr viel allgemeinerer Art war. Doch dieser
Teilerfolg des ‚klinischen Lagers’ in der Gynäkologie – der experimentelle Nachweis der Erbschädigung an Säugetieren konnte nicht erbracht werden – konnte
nicht verhindern, dass die Zahl derjenigen stieg, die den prinzipiellen Anspruch
der Genetik akzeptierten. Der Geltungsanspruch der genetischen Rede war so
207
Hertwig 1930a – Ganz genauso versuchte sie den „Humangenetikern“ ihre schwierige Lage
anhand ihrer erbpathologischen Experimente an Hühnern darzulegen (vgl. Hertwig 1934: 41).
Zu den Schwierigkeiten der Humangenetik, siehe Kapitel 7.
208
4.12.1931, Stubbe an Lachmann (BBAW, Stubbe-Fonds, 119)
243
stark, dass er die Gynäkologen nach und nach zum Einlenken zwang.209 Dieser
Geltungsanspruch fußte im besonderen Selbstverständnis der Genetik.
5.4.1 Die Rhetorik der Genetik, und die Gynäkologen im „tribunal of reason“
In den ausgetauschten Resolutionen der Fachgesellschaften kam der eigentliche Grundkonflikt bereits ans Licht. Während die Genetiker auf Grund ihrer
„exakten“ Experimente die Schädigung der Erbmasse durch Röntgenstrahlen
als unbestreitbar ansahen, lehnten die Gynäkologen die Entschließung der Genetiker ab, da sie sich „ausschließlich auf experimentelle Untersuchungen an
Insekten und Pflanzen“ stützten und die Versuchsbedingungen bei diesen Experimenten nicht mit den Bestrahlungsbedingungen am Menschen qualitativ
und quantitativ verglichen werden dürften.210 Die Reaktion der Gynäkologen erklärten die Genetiker mit der fehlenden genetischen Kompetenz der Mediziner.
Sie sahen sich in der Rolle der Aufklärer, die in geschickter Weise die zur Skepsis neigenden Schüler an die Wahrheit heranführen mussten. Richard Goldschmidt, der amtierende Vorsitzende der Gesellschaft für Vererbungswissenschaft, antwortete den Gynäkologen: „Wir können auch nicht verhehlen, daß die
uns vorliegende Entschließung wenig geeignet ist, [unseren] Standpunkt zu erschüttern. Basiert doch die Entschließung in der Hauptsache auf dem Argument, daß Versuche an Pflanzen und Insekten nicht für den Menschen gültig
seien, ein Argument, das heutzutage jedem, der mit der Vererbungslehre vertraut ist, nicht mehr verständlich ist.“211 Hans Stubbe bestätigte klagend das
Unverständnis der Mediziner und war schließlich „sehr böse“, dass sie „die einfachsten Dinge nicht verstehen wollen“.212
Die Diagnose über das defizitäre genetische Wissen in der Medizin provozierte bildungspolitische Ansprüche. Es wäre unmöglich, dass „über Versuche,
die an Klarheit der Beweisführung nichts zu wünschen übrig lassen und deren
Methodik sich mit der Exaktheit chemisch-physikalischer Versuche messen
kann, auf diese Weise geurteilt würde, wenn der Vererbungslehre endlich im
biologischen und medizinischen Unterricht die Stelle eingeräumt würde, die ihr
zukommt!“213 Die Auseinandersetzung der Genetiker mit den Gynäkologen fiel
mit dem Streben der Vererbungswissenschaft nach disziplinärer Eigenständigkeit innerhalb der Biologie und als Lehrfach in der Medizin zusammen. Das Gewicht, das die Genetiker dabei auf ‚ihre’ „Vererbungsgesetze“ legten, ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich. Zum einen wurde dadurch ein besonders
starkes Argument mobilisiert, wie noch zu sehen ist; zum anderen drückte sich
in der Auffassung der Genetiker, die von ihnen festgestellten empirischen Regelmäßigkeiten hätten gesetzesähnlichen Charakter, so etwas wie eine „spontane Philosophie“ des Genetikers aus.214 Diese Begrifflichkeit war Ausdruck des
209
Dieser Geltungsanspruch und Autorität der Eugenik und des rassenhygienischen Denkens
als ‚Leitrationalität’ gewann nicht zuletzt nach 1933 an Gewicht.
210
Dyroff 1933: 826
211
Richard Goldschmidt zit. in Nachtsheim 1957a: 1285
212
Vgl. 13.2.1933 bzw. 4.12.1931, Stubbe an Lachmann (BBAW, Stubbe-Fonds, 119); vgl. auch
das Eingangszitat: Seite 242.
213
Hertwig 1932a: 33
214
Zum Begriff der „spontanen Philosophie des Wissenschaftlers“ (SPW): Althusser 1985: 102:
„Die SPW bezieht sich allein auf die (‚bewussten’ und ‚unbewussten’) Vorstellungen, die sich
244
Anspruchs, in der biomedizinischen Episteme die Vorreiterrolle als exakte Wissenschaft inne zu haben. Die Genetiker sahen sich und ihre experimentelle
Arbeit als biologisches Pendant zur experimentellen Genauigkeit und Mathematisierbarkeit von Physik und Chemie.215 Die Anbindung an diese Vorbilder begründete auch den Anspruch der Genetik auf die Zuständigkeit in der Frage der
Röntgenschädigung. Die experimentelle Exaktheit stand für die Kompetenz und
die Legitimität, die Mediziner belehren zu können. Die Mediziner konnten hingegen auf keine vergleichbare Argumentation rekurrieren.
Die Resolution der Genetiker lässt sich von daher auch als der aggressive
Geltungsanspruch einer noch randständigen akademischen Disziplin lesen, die
ihren Gegenstand von grundlegender Bedeutung für Biologie, menschliche Erblehre und Pathologie ansah. Dieser Anspruch bestand schon vor der politischen
Wende und der Installierung der Erblehre als Leitwissenschaft für die biomedizinischen Wissenschaften im Nationalsozialismus. Ausdruck dieses Etablierungsbestrebens waren wiederholte Resolutionen der Gesellschaft für Vererbungswissenschaft, in der die Ausdehnung der allgemeinen Kenntnisse über Erbkunde und die Schaffung eigener Institute und Professuren für Genetik und
„menschliche Genetik“ (Lenz) an jeder Universität gefordert wurden.216 Die Erkenntnisse der Genetik müssten, so die Lehre aus der Zurückhaltung der Gynäkologen, Allgemeingut der Ärzteschaft werden.217
Paula Hertwig sah die Einladung, vor den bayerischen Gynäkologen zu sprechen, ganz in diesem Sinne als eine rhetorische Aufgabe. Sie wolle sich „ziemlich sorgfältig auf die Kampagne vorbereiten“.218 Ihr Vortrag wurde eine Art Einführungsvorlesung in die Grundlagen der (Strahlen-)Genetik. Für Hertwig stand
es apodiktisch fest, dass „Mutationen in allen Zellen des tierischen und
pflanzlichen Organismus“ durch Strahlen ausgelöst werden und dass die
Erfahrungen an niederen Tieren und Pflanzen auch für Säuger Gültigkeit hatten.219 Der Schluss auf den Menschen musste jedoch den Medizinern noch erleichtert werden. „Für uns Genetiker erwächst aber die Pflicht, es nicht genug
sein zu lassen mit der eigenen Überzeugung, sondern unsere Erkenntnis Allgemeingut der Ärzteschaft werden zu lassen. Es gilt, die an niedern Tieren
gewonnenen Resultate weiter auszubauen und für den Nichtgenetiker durch
Versuche an Säugetieren überzeugender zu gestalten.“220
Die Genetiker traten den Gynäkologen mit der Verve von strahlenden Vertretern einer neuen Wissenschaftlichkeit in der biomedizinischen Forschung gedie Wissenschaftler von der wissenschaftlichen Praxis der Wissenschaft und von ‚der’ Wissenschaft schlechthin macht.“
215
Die Chemie und ihr synthetische Potenz, die sich auf die Strenge von Formeln und Gleichungen gründete, wurden insbesondre gern als Vorbild genannt (vgl. Seite 41-42 u. 112).
216
Lenz 1927a: 1732; vgl. Blümel 1933: 1364. – Es muss allerdings hinzugefügt werden, dass
unter den neuen politischen Verhältnissen die Forderungen der Genetiker nach dem disziplinären Ausbau der Genetik durch einen Aspekt ergänzt wurde. Es ging zunehmend auch darum,
die ‚richtige’ Vererbungswissenschaft gestärkt zu sehen. Es wurde die Sorge geäußert, dass
unter dem neuen Boom des erbbiologischen Diskurses „mystische“ Strömungen der Erbbiologie
Oberhand gewinnen könnten (Nachtsheim 1934a: Seite 3; vgl. v.Verschuer 1934: 765).
217
Vgl. Hertwig 1932a: 32-33.
218
5.1.1932, Hertwig an Stubbe (BBAW, Stubbe-Fonds, 83)
219
Hertwig 1932a: 32 bzw. vgl. Hertwig 1932b: 673.
220
Hertwig 1932a: 33.
245
genüber, die sie in der Exaktheit der experimentellen und statistischen Arbeitsweise sahen. Die Gynäkologen ihrerseits bezweifelten zunächst vor allem die
Bedeutung dieser Exaktheit für die medizinische Forschung. Ebenso generell,
wie die Genetiker die Übertragung der Tierexperimente auf die Situation in der
Gynäkologie für gerechtfertigt hielten, wiesen die Gynäkologen dies zurück. Am
vehementesten vertrat der führende Münchener Gynäkologe Albert Döderlein
diese Position: „Man darf nicht Tierexperimente an Fliegen, Schmetterlingen
und anderen niederen extrakorporeal sich entwickelnden Tieren gegen eine so
ungeheuer bedeutungsvolle Therapiefrage beim Menschen immer wieder als
Gespenst vorführen.“221 Schnell aber begannen die Gynäkologen, die Verteidigung ihres Standpunktes von der allgemein-theoretischen Ebene auf die konkrete Ebene der einzelnen Experimente und Versuchsobjekte zu verlagern.
Statt auf die beanspruchte Allgemeingültigkeit der genetischen Konzepte einzugehen, konfrontierten die Mediziner die Genetiker mit Zweifeln an der Exaktheit der Planung und Durchführung der konkreten Modellversuche – nicht ohne
generelle Schlüsse über die Wissenschaftlichkeit der Genetiker zu versäumen.
„Gerade ein erfahrener Forscher wie Lenz weist darauf hin, daß die Deutung
manches biologischen Experimentes den Stempel des Gefühlsmäßigen trägt.
Besonders häufig – möchten wir hinzufügen – nach unserer Auffassung in der
Vererbungswissenschaft, da hier die exakte experimentelle Klärung gewisser
Phänomene schlechterdings unmöglich ist. Wir können uns des Eindrucks nicht
erwehren, daß gelegentlich die ‚vorgefaßte Meinung’ die Auswertung der Experimente [...] beeinflußte.“222 Die Gegenargumentation der Gynäkologen, die zum
Teil auf eigenen Experimenten beruhte, zielte im Wesentlichen darauf ab, zu
bezweifeln, dass die genetischen Experimente gute Modelle für die Situation
der temporären Sterilisation abgaben. Wintz gab auf der Münchener Gynäkologentagung die Marschrichtung vor: „Wir behaupten nicht, daß die Versuchsergebnisse an der Bananenfliege zweifelhaft sind, wir bestreiten auch nicht, daß
man an Fliegen und Pflanzen gewonnene Gesetze der Vererbung auf den Menschen übertragen könne: wir lehnen es aber ab, in den bisher vorliegenden Untersuchungen gleichwertige Maßnahmen zu sehen, wie wir sie bei der temporären Sterilisation an der Frau vornehmen.“223
Entsprechend dieser Leitlinie konfrontierten die Gynäkologen die Genetiker
mit einer Reihe experimenteller Ergebnisse und Argumente, die die Vergleichbarkeit in Frage stellte.224 Von genetischer Seite wurde sogleich auch einge221
Döderlein zit. in Dyroff 1930: 2856
Flaskamp 1930: 237
223
Wintz 1932: 655
224
Es wurde eingewendet, dass die Häufigkeit, mit der Mutationen nach Bestrahlung in verschiedenen Organismen und Geweben auftreten enorm sei, bei Drosophila besonders hoch –
und das zu erklären, sei die eigentliche Frage –, dass hingegen das Keimplasma des Menschen „von Hause aus“ stabiler sei (vgl. Borak 1932: 758), dass beim Menschen sicher eine
Reizschwelle bestände (vgl. Caffier nach Unterberger 1932: 3036). Es wurde bestritten, dass
bei „der schnelllebigen Bananenfliege eine temporäre Sterilisation wie beim menschlichen
Weibe überhaupt möglich ist“ (vgl. Wintz 1932: 655) und eingewendet, dass die Genetik sich
bisher immer nur mit männlichen Fortpflanzungszellen beschäftigt hätte (vgl. Dyroff 1932: 733),
dass ruhende und insbesondere unausgereifte Keimzellen besonders strahlenresistent seien,
wie Strahlenexperimente an Pflanzensamen zeigten (vgl. Dyroff 1932: 731), dass Fälle von
aufgetretenen Mutationen bei Säugetieren der Frühbefruchtung beim Menschen entsprächen,
222
246
standen, dass sich die Begriffe aus der menschlichen Gynäkologie nicht ohne
Zwang auf die Verhältnisse bei Drosophila anwenden ließen und deshalb die
experimentellen Bedingungen eine vergleichbare physiologische Wirkung, wie
bei der temporären Sterilisation, gewährleisten müssten.225 Das Fazit dieser
Versuche war fast ein Jahrzehnt später offen nüchtern. Die grundsätzliche
Gleichartigkeit der Lebensprozesse könne nicht darüber hinweg täuschen, dass
die Säugetierversuche nur wenig zur Erweiterung der grundlegenden Ansichten
hatten beitragen können; deshalb müssten die Säugetierversuche noch „näher
an die Verhältnisse beim Menschen“ herangeführt werden.226 Von einem Königsweg der Erforschung der Mutabilität beim Menschen war nicht mehr die
Rede.
Durch die gynäkologische Kritik verzweigte sich die konkret-experimentelle
Diskussion zunehmend und das Forschungsproblem wurde aufgefächert.
Gleichzeitig wurde aber dadurch der erwähnte Raum für weiterführende strahlengenetische Fragestellungen geschaffen. Fragen, die sich schon gleich nach
den Mullerschen Versuchen in der Genetik über die spezifische Qualität und
Quantität der Strahlenwirkung in verschiedenen Organismen und Zellen gestellt
hatten, erhielten mit der Diskussion um die Strahlengefährdung eine Plattform.
Insbesondere die Vorarbeiten zur Einrichtung von Modellsystemen führten die
Genetik in allgemeine strahlengenetische Fragen zur Bestimmung der Mutationsrate und der Strahlenwirkung hinein.227 Die Experimente zur Feststellung
der Strahlengefahr boten der Genetik, wie oben erläutert, die Möglichkeit, die
strahlengenetische Forschung auszubauen. Der Diskurs um die konkrete Modellhaftigkeit der genetischen Forschung, der zunächst die temporäre Sterilisation im Visier hatte, führte die Genetiker – und das ist das Entscheidende in
diesem Zusammenhang – zurück auf eine generelle Ebene. Mit anderen Worten, die Allgemeingültigkeit der Gesetze der Vererbung, dem sich die Kliniker
ihnen also die Phase der Sterilität fehlte (vgl. v.Krehninger-Guggenberger 1932: 747), dass das
Sexualleben des Menschen völlig verschieden sei (vgl. Maurer 1932: 691), dass die anatomische Analogie zwischen dem Eiträger bei Drosophila zum Säugerovar nicht hergestellt werden
könne (vgl. Dyroff 1932: 721), dass sich beim Säugetier die mutationsauslösende Wirkung der
Röntgenstrahlen nach der Bestrahlung der Ovarien auf Grund der Eigenarten der Eireifung in
der Frucht überhaupt nicht geltend machen (vgl. Borak 1931: 340) oder dass eine verminderte
Zahl der Nachkommen oder ihr geringeres Gewicht nicht als mutative Keimschädigung interpretiert werden könne (vgl. Nürnberger 1930: 450).
225
Vgl. Hertwig 1932b: 673 bzw. Martius & Kröning 1936: 1049-50. In der Zusammenarbeit
zwischen Kühns Institut und Heinrich Martius ging es zunächst genau darum, durch die Einstellung des experimentellen Arrangements und der Objekte die Modelltauglichkeit der Experimente überhaupt erst herzustellen. (vgl. ebd.) – Stubbe zählte acht Bedingungen auf, um die
Experimente eindeutig, reproduzierbar und vergleichbar zu machen (Objekt muss erhältlich
sein, empfindlich gegenüber kleinen Dosen, hohe Reaktionsschärfe haben, homogen sein,
große und schnelle Reproduktivität, klein, mittlere Empfindlichkeit konstant, Empfindlichkeit von
äußeren Faktoren unabhängig) (vgl. Lachmann & Stubbe 1932: 497-98). Die Umweltbedingungen mussten unbedingt gleich gehalten werden (vgl. Timoféeff-Ressovsky & Zimmer 1938:
276). Man darf nur mit „genetisch reinem Material“ arbeiten, braucht eine Kontrollzucht, müsse
bei Säugetierversuche mit einem Ammensystem arbeiten (vgl. Hertwig 1933b: 10-11).
226
Hertwig 1940: 245-46
227
Gerade die medizinischen Einwände, die die Genetik zur Konkretisierung ihres Modellsystems zwangen, führten weg von der thematischen Fixierung auf die temporäre Sterilisation zu
allgemeinen Erscheinungen der Mutabilität. Paula Hertwigs – gescheiterter – Versuch, ihre Experimente als überzeugendes Modellsystem einzurichten, sind dafür ein Beispiel (Siehe S.
239).
247
durch die Einführung des konkret-experimentellen Diskurses entzogen, wurden
gerade durch diesen wieder eingeholt.
Die Gynäkologen waren mit der Argumentation innerhalb der experimentellen
Konkretisierung also durchaus erfolgreich gewesen; dennoch konnten sie sich
diskursiv nicht durchsetzen. Mit Latour könnte von einem „tribunal of reason“228
gesprochen werden: Die Genetiker verstanden es, ihre Argumente stärker zu
machen, als es die der Gynäkologen waren. Die Strategie der Genetiker, die
Gynäkologen mit einer allgemeinen modelltheoretischen Ebene zu konfrontieren, erwies sich als ein Hindernis, das die Gynäkologen weder ignorieren noch
überwinden konnten, für das sie aber auch keine Umgehung fanden. Der Gynäkologe Paul Caffier erfasste nicht nur ganz richtig, was auf dem Spiel stand,
sondern auch, woran alles hing: „Es geht bei der ganzen Frage um viel wichtigeres [als nur die temporäre Sterilisation], nämlich um die Anwendung des
Röntgenverfahrens in jeder Richtung, sowohl in therapeutischer wie in diagnostischer. Es unterliegt keinem Zweifel, daß, wenn die Erbforscher alle so konsequent dächten wie Herr Timoféeff z.B., sie uns damit das ganze Röntgenverfahren diskreditieren, vorausgesetzt, daß wir geneigt sind, die Parallele Drosophila – Mensch anzuerkennen.“229
5.4.2 Die diskursive ‚Härte’ der Allgemeingültigkeit und das Ideologische der
Analogie
Die Parallele Drosophila – Mensch war ‚hart’ in dem Sinne, dass sie sich gegen
die Gegenannahme durchsetzte. Die ‚Härte’ resultierte daraus, dass sie sich auf
die allgemeinen „Vererbungsgesetze“ stützte. Diese bildeten die Grundlage für
die Parallelisierung von Drosophila und Mensch. Die Mehrzahl der Gynäkologen räumte bald ein, dass die Vererbungsgesetze selbstverständlich auch für
den Menschen gälten. Bevor noch die Berechtigung der Analogisierung im Einzelnen thematisiert wurde, war ihre Möglichkeit bereits vorausgesetzt. Die Prämissen der Analogisierung wurden nicht thematisiert oder gar diskutiert, sondern blieben voraussetzungsreiches Hintergrundwissen. Da, wo sie anklangen,
wurden sie von Genetikern eingestreut, um ihre Kompetenz in der Frage der
Strahlenschäden zu stärken. Die Wirksamkeit dieses Vorgehens deutet auf die
Autorität oder intellegible Unzugänglichkeit der entsprechend mobilisierten
Wissensformation.
Die angesprochenen hintergründigen Diskurselemente sollen nun transparent gemacht werden. Ihre Untransparenz und implizite Wirkmächtigkeit einerseits, ihre tiefe Verankerung im Denkgebäude der modernen Biologie andererseits machten sie zu einer ideologischen Komponente im Diskurs um die
Röntgenanwendung in der Medizin.230 Zugleich waren sie in die Konstruktion
228
Latour 1987: 179ff.
Caffier zit. in Unterberger 1932: 3035-36. Herv. Verf. – Ähnlich warnend und eindringlich
äußerte sich Wintz 1932: 656.
230
Mit den „ideologischen Komponenten“ ist ein vortheoretischer, das Bewusstsein strukturierender Inhalt gemeint. Dieser Inhalt stammt, wie unten zu sehen ist, selbst aus bestimmten Formen des biowissenschaftlichen Diskurses und seiner gesellschaftlichen hegemonialen Adaptation. Ideologische Elemente greifen im Bereich der Wissenschaft bei der Verteilung von Kompetenzen ein (vgl. Haug 1993: 70). Diese Funktion trifft genau die kontroverse Situation zwischen
Genetik und Gynäkologie. Dies besagt, dass die Kontroverse auch durch ein außerwissen229
248
der Strahlenmodelle als ihre Voraussetzung verwoben. Wie wurden also die
genetischen Tierexperimente ‚gehärtet’? Was waren die Bedingungen ihrer
Überzeugungsmächtigkeit? Sechs Argumente können idealtypisch von einander unterschieden werden, mit denen die Analogien im Vorfeld konkreter experimenteller Kognition legitimiert wurden.
1. Das logische Argument: Wer A sagt, muss auch B sagen.
Das logische Argument ist das schwächste, zumal es auch von den Gynäkologen gebraucht werden konnte. Mit diesem Argument wurde versucht, die genetischen Experimente unter die Verwendung von Tierexperimenten in der Medizin im allgemeinen zu subsumieren. Luxenburger präsentierte das Argument
auf dem Bayerischen Gynäkologentag in aggressiver Form, indem er den Ärzten ihre eigene Praxis vorhielt. „Daß aber gerade Ärzte, die sehr leicht geneigt
sind, aus den Ergebnissen gelegentlich viel weniger exakt angeordneter pharmakologischer und physiologischer Tierexperimente – und zwar durchaus nicht
nur beim Säugetier! – ihre Folgerungen für die menschliche Physiologie, Pathologie und Therapie abzuleiten, nun der Anerkennung genetischer Tierversuche
äußerste Skepsis entgegensetzen, bedeutet eine Differenzierung der analogistischen Schlußbereitschaft, die psychologisch begreifbar, vom Standpunkt eines
vorurteilsfreien naturwissenschaftlichen Denkens aus aber doch wohl nur
schwer zu billigen ist.“231
2. Das Analogie-analytische Argument
Auch dieses Argument wurde von beiden Seiten benutzt. So erschien die Analogisierung einmal als eine „zwingende Deduktion“, auf Grund derer mit Keimschädigungen auch beim Menschen unbedingt zu rechnen war.232 Die Gynäkologen aber warnten vor der Verallgemeinerung biologischer Befunde, denn „mit
schaftliches Alltagsbewusstsein strukturiert wurde. – Der hier verwendete Ideologiebegriff ist
kein kritischer Begriff, insofern er auf ein „falsches Bewusstsein“ hinaus will und damit hier
implizit auf eine wissenschaftliche ‚wahre’ Position drängte. Er meint eine „historisch gewachsene, auf gesellschaftlichen Praxen gewachsene Erkenntnisform, in denen die Menschen ihre
Erfahrungen verarbeiten und die ihre Lebensbewältigung zu orientieren vermögen“ (Elfferding &
Volker 1986: 63-64). Damit kommt den ideologischen Feldern, auf denen das Selbstverständnis
einer Gesellschaft geprägt wird, eine eigene Realität und Wirksamkeit zu, das heißt, sie sind
nicht nur der passive Überbau ökonomischer Verhältnisse (vgl. ebd.: 66). Mit Althussers Anknüpfung an Gramsci wird die Tradition aufgebrochen, Ideologie als eine eindeutige Formation
in einer Gesellschaft zu verstehen, die sich unmittelbar aus ihrer Funktion der Stabilisierung
herrschender Verhältnisse ergibt. Stattdessen werden verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen eigene ‚regionale’ Formungen der sie reproduzierenden Ideologie eingeräumt (vgl.
Bosch & Rehmann 1986: 110-12). Ideologie wird im Weiteren nicht als losgelöste Weltanschauung o.Ä. verstanden, sondern ist von den sie (re-)produzierenden Praxisformen untrennbar (vgl.
Turchetto 1994: 52). Das Ideologische ist dann eher das das Bewusstsein Konstituierende als
der schon zum Begriff gebrachte Bewusstseinsinhalt. Durch die Einbeziehung von Praxisformen
wird die wissenssoziologische Bestimmungen von Weltanschauung (oder Denkstil) als Bewusstseinsinhalte erweitert. Der praktisch gewendete Begriff des Stils bei Fleck 1994: 126 wiederum hat dagegen den Nachteil, dass gesellschaftliche Machtverhältnisse ungedacht bleiben.
231
Luxenburger 1932b: 682; vgl. auch das Gegenargument: Borak 1932: 754. – Das Problem
des Arguments war, dass Tierexperimente jeder Art ihrer Aussagekraft nach gleichgesetzt wurden. Es machte nur Sinn, wenn weitere Prämissen impliziert wurden („an Pflanzen gewonnene
Gesetze“ (Luxenburger)) und damit eine der nächsten Argumenttypen mobilisiert wurde.
232
Luxenburger 1932b: 686 – Diese Bestimmung der Analogie, die auch eine Bewertung der
Strenge ihrer Aussage implizierte, indem sie dem „induktiven Beweis“ gegenüber gestellt
wurde, war streng genommen unvollständig, solange nicht die Prämissen und das Kalkül des
deduktiven Schlusses offenbart wurden.
249
Recht kann eingewendet werden, daß so verbreitet und unvermeidlich das Denken per analogiam auch sei, die Resultate dieses Verfahrens doch zu keinen
Erkenntnissen, sondern nur zu Annahmen führen, die nicht immer richtig sein
müssen“.233 Diese Feststellung reduzierte die Analogie auf eine heuristische
Funktion und rechtfertigte die Erwartung konkreter experimenteller Ergebnisse
von Seite der Genetik.
3. Das empirisch-psychologische Argument
Die Analogisierung von Drosophila, Pflanzen und höheren Säugetieren sollte
sich natürlich auch durch die experimentelle Arbeit gestützt sehen.234 Über den
unmittelbaren empirischen Gehalt der Argumentation und seine mögliche statistisch-induktive Verallgemeinerung hinaus konnte dann der strikten Rationalität induktiver Schlüsse noch eine ‚psychologische’ Komponente zur Seite stehen. Diese drückte sich als die appellative Überzeugung aus, die Ergebnisse
seien schon verallgemeinerbar. Beispiel: Die „glänzende Bestätigung“ der Gültigkeit der mendelschen Gesetze in der menschlichen Erbforschung, so Luxenburger, müsse „indirekt auch der Lehre von den Erbschädigungen zugute“ kommen; und schließlich sprächen keine Ergebnisse dafür, dass dem Menschen
genetisch eine „Sonderstellung“ eingeräumt werden müsse.235
4. Das Argument der Gleichartigkeit
Die nächsten drei Argumente sind solche, die bestimmte Vorstellungen oder
Theorien über das Leben mobilisieren. Sie bilden im engeren Sinne jene ideologisch aufgeladenen diskursiven Elemente. Das erste Argument in dieser Reihe behauptet eine gemeinsame Struktur o.Ä., die unabhängig von der je speziellen Art der Organismen vorausgesetzt wurde. „Da es sich bei der Mutationsauslösung um zelluläre Vorgänge handelt, für die die Grundbedingungen bei
Pflanzen, niedren Tieren und Säugern gleichartig sind, dürfte es auch für jeden,
der erbbiologisch geschult ist, klar sein, daß ein qualitativer Rückschluß auf
höhere Tiere und natürlich auch auf den Menschen erlaubt ist.“236 Im eigentlichen Sinne geht es nun nicht mehr um Analogien, da „die Gleichartigkeit der
grundlegenden Lebens- und Vererbungserscheinungen für alle Organismen
anzunehmen“ ist.237 Es geht darum, das richtige Gegenstandsfeld zu identifizieren. Je grundlegender die Fragen und je ähnlicher die umrahmenden Grundvorgänge (zelluläre Vorgänge) waren, desto eher könnten Rückschlüsse auf
233
Borak 1932: 755
Vgl. Baur zit. in Grashey, R. 1930: 132.
235
Luxenburger 1932b: 682
236
Hertwig 1933b: 1 – Diese Argumentation ist keineswegs singulär und lässt sich auf einen
rationalen Kern reduzieren, der dem gesamten Projekt der vergleichenden Genetik und insbesondere dem Nachtsheims zugrunde liegt (siehe Kapitel 6). Im Zusammenhang der Besprechung der Tierexperimente zur Strahlenschädigung heißt es an anderer Stelle: „Es handelt sich
aber auch gar nicht um den differenten Bau dieses oder jenes Organs oder die ungleiche Art
der Entwicklung oder vielleicht eine abweichende Zahl von Chromosomen oder sonstige
biologische Verschiedenheiten [...] Es handelt sich vielmehr um Reaktionen der Zelle selbst, für
die die Grundbedingungen im ganzen Reich der Lebewesen grundsätzlich gleichartig sind. Die
Parallelität der zellulären Vorgänge bei Pflanze, Tier und Mensch gibt uns ein Recht, die qualitativen Ergebnisse der genannten Forschungen auch auf den Menschen zu übertragen“
(Schubert & Pickhan 1938: 122).
237
Hertwig 1940: 245. Herv. Verf.
234
250
den Menschen gezogen werden (eher vom Säugerovar als von der Fliege und
eher auf qualitative als quantitative Vorgänge).238
5. Das Argument der Gesetzhaftigkeit...
... geht über die spezielle Formung des Organismus hinaus und rekurriert auf
den allgemeinen Stellenwert der Aussagen der Genetik. Es wird angenommen,
dass in der Genetik „Gesetze“ oder doch zumindest „Gesetzmäßigkeiten“ aufgetan werden.239 Gesetze haben eine universale Geltung. Die Regeln und Gesetzmäßigkeiten der Vererbung gelten „für das gesamte Organismenreich, mit Sicherheit also auch für den Menschen“.240 Alles, was über
die Vererbung beim Menschen bekannt sei, so Fischer, füge sich restlos denselben Gesetzen. „Es ist überall ein und dasselbe Gesetz. Kein wirklicher
Kenner der Vererbungserscheinungen wird den leisesten Zweifel haben, [...]
daß [...] dieselben Wirkungen auf die anderen Tierformen und damit auf den
Menschen zu erwarten sind, [...].“241 Da also die Genetik offenbar einen privilegierten Zugang zu den Regelmäßigkeiten des Lebens für sich in Anspruch
nehmen konnte, mussten die Einwände der Mediziner als zufällige Ausnahmen
der notwendigen Regelmäßigkeit erscheinen.
6. Das evolutionstheoretische Argument
Die meisten der bislang aufgeführten Argumentationstypen überzeugten im ersten Moment, stützten sich im Kern aber auf weitere – nicht ausgesprochene –
Annahmen. Der Rekurs auf die Evolutionstheorie ist eine solche verborgene
Prämisse. Nur an wenigen Stellen wird explizit im Diskurs um die Übertragbarkeit der experimentell-genetischen Ergebnisse auf diese starke theoretische
Rückversicherung eingegangen. Hans Luxenburger benutzte gegenüber den
Gynäkologen gerade dieses Argument, um zu verdeutlichen, warum die Kluft
zwischen Fliege, Säugetier und Mensch überbrückbar sei. In der Frage, ob der
Genetiker berechtigt sei, die Ergebnisse an Tieren, die phylogenetisch weit
hinter dem Menschen ständen, auf unsere Gattung zu übertragen, gab er schon
die argumentative Richtung vor: „Die Anerkennung der Phylogenese und der
Kontinuität der Keimbahn verleiht im die dazu notwendige Sicherheit.“242 Der
Erbbiologe werde den Sprung über das Säugetier hinweg ohne all zu große
grundsätzliche Bedenken wagen können.
Mit der Evolutionstheorie war ein diskursives Element mobilisiert, dass die
Fliege-Mensch-Analogie tief im vorherrschenden naturwissenschaftlichen Konzeptgebäude verankern konnte. Die Evolutionstheorie war längst der Bezugspunkt vieler biologischer Teildisziplinen geworden. Und die Evolutionstheorie
war in den grundsätzlichen Annahmen bereits Teil eines allgemeinen Wissens,
also von Aussagen, die zu den ‚normalen’ oder selbstverständlichen Sichtweisen des Diskurses über Leben gehörten. Diese Sichtweisen galten nicht nur in
der wissenschaftlichen Auseinandersetzung als gut abgesichert und gehörten in
der Diskurspraxis der biologischen Wissenschaft zum Fundus akkumulierter
Wahrheiten, dessen Gültigkeit nicht mehr ständig legitimiert werden musste,
238
Vgl. Hertwig 1932b: 673.
Siehe auch 6.3.2.
240
Stubbe 1937a: 152
241
Fischer 1930d: 11-12
242
Luxenburger 1932b: 682
239
251
sondern hatten auch im Alltagsbewusstsein Einzug gehalten.243 Die Stellung
des Konzepts der phylogenetischen Verwandtschaft aller Arten als kultureller
Allgemeinplatz machte das evolutionstheoretische Argument zu einem starken
Argument.
Im analogisierenden Denken dürfte demnach der evolutionstheoretischen
Argumentation eine Schlüsselfunktion bei der ‚spontanen’ Rechtfertigung und
Plausibilität der Übertragungsoperation zugefallen sein. Festzuhalten ist aber
darüber hinaus, erstens, dass die anderen Diskurselemente logisch nicht auf
diese Rückendeckung angewiesen waren. So war das Argument der Gleichartigkeit, das Paula Hertwig favorisierte, unabhängig vom Grad der phylogenetischen Verwandtschaft der verglichenen Körperorgane. Ihr Argument stützte
sich allein auf den konkreten empirischen Vergleich der Reproduktionsorgane
der Maus und des Menschen, der Zellstrukturen und der hormonellen Physiologie. Nichtsdestotrotz konnte ihr Argument vom phylogenetischen Argument,
das schon vorweg die Gleichartigkeit der Organe (Homologie) behauptete, profitieren. Zweitens ist zu bemerken, dass die Wirksamkeit der phylogenetischen
Annahmen keine stringente Argumentationskette voraussetzte. Es zeigt sich
vielmehr, dass im Diskurs der bloße Hinweis ausreichte. Die provisorische Verwendung dieser Denkstruktur kann als Ausdruck ihrer Dominanz und ihrer
spontanen ‚Evidenz’ gedeutet werden.
In ihrer provisorischen Form trugen die starken diskursiven Elemente ideologische Züge. Das Gesetzes- und das Phylogeneseargument als die härtesten
Elemente im „tribunal of reason“ betteten die Tier-Mensch-Analogie in den Anspruch der aufstrebenden biologischen Wissenschaften ein. Mit der Evolutionstheorie war das Projekt verbunden, die unterschiedlichen methodischen und
konzeptuellen Strömungen innerhalb der Biologie unter ein gemeinsames
theoretisches Dach zu bringen. Zugleich waren Biologie und Gesellschaft über
die Evolutionstheorie in ein enges Austauschverhältnis getreten. Der undifferenzierte strahlengenetische Rekurs bewegte sich ungewollt oder gewollt innerhalb
eines machtvollen Diskurses, in dem Gesellschaft in evolutionstheoretischen
Begriffen aufgefasst und biologisch legitimierte Politik entworfen wurde.244 Die
phylogenetische Absicherung der Tier-Mensch- bzw. Natur-Gesellschafts-Analogie war eine der Grundlagen dieses Diskurses. Der verallgemeinerte Anspruch auf die Gültigkeit der Analogisierung, von dem die strahlengenetische
Position aktiv partizipierte, war automatisch Bestandteil jener ideologischen Formation, in der das Wissen vom Leben Steuerung und Regulierung von Gesellschaft absicherte.245
243
Gemeint ist die Form des Wissens, die in der Wissenssoziologie zum Beispiel als lebensweltliches Wissen von dem wissenschaftlichen Wissen unterschieden wird (vgl. Böhme 1980:
30f.; Meja & Stehr 1982: 13).
244
Vgl. Schmuhl 1987: 29-105; Weindling 1989: 320ff.; Weingart et al. 1992: Teil 3+4; Bowler,
Falk u. Weingart in Maasen, Mendelsohn, Weingart 1995.
245
Es lässt sich fragen, ob das Wissen vom Leben bloß ideologisch war in dem Sinne, dass bestimmte Herrschaftsinteresses verdeckt wurde, oder ob es über die Funktion der Legitimierung
hinaus gesellschaftliche Prozesse selbst strukturierte. Dies entspräche eher der „Bio-Macht“
Foucaults (vgl. Foucault 1999a: 280ff.).
252
5.4.3 Fragen der Kompetenz und Modelle (Fazit: Genetik und Eugenik)
„Wer erbbiologisch geschult ist“ – oder sich schulen lässt – und die grundsätzlichen Prinzipien der Genetik verstanden hat, wird automatisch dazu kommen,
den genetischen Standpunkt zu teilen. Das war die Vorstellung der Genetiker
von der Allgemeingültigkeit der Vererbungsregeln und der exakten Durchdringung ihres Gegenstandes.246 Den Medizinern hingegen blieb immer nur der
Verweis auf konkrete und wenig verallgemeinerbare Umstände. Dies machte
sie in der Debatte schwach. Trotz der experimentellen Schwäche der Genetiker
und der Lückenhaftigkeit ihrer Schlussfolgerungen war ihre Argumentation von
hoher diskursiver Verbindlichkeit. Die Kraft oder Härte ihrer Argumente beruhte
auf der erfolgreichen Mobilisierung von fremden Wissensbeständen für ihre
Zwecke. Diese Wissensbestände stellten nicht nur in den Spezialdiskursen der
biologischen Wissenschaft ‚evidentes’ Wissen dar, sondern gehörten zur selbstverständlichen Vorstellungswelt wichtiger gesellschaftlicher Gruppen der Weimarer Republik.
Den Genetikern gelang es, im „tribunal of reason“, um die machtökonomische Betrachtungsweise Latours wieder aufzugreifen, ihre Behauptungen durch
den wiederholte Rekurs auf andere Wissensfelder – „cycles of accumulation“ –
mit diesen zu verknüpfen, das heißt, Assoziationen herzustellen.247 Die genetische Betrachtungsweise auf die Anwendung von Röntgenstrahlen in der Gynäkologie und Medizin und die der Genetik entsprechende experimentelle Bearbeitung des Problems wurde zu der zentralen und nicht umgehbaren Rationalität der Strahlentherapie. Das ist gemeint, wenn es der Genetik gelang, ihre
Fakten zu ‚härten’. Durch die unterschiedlichen Assoziationen der genetischen
Fakten wurden sie, ihre konzeptuelle Interpretation und die dazugehörige experimentelle Methodik zum zentralen methodisch-konzeptuellen Komplex, nach
dem das Problem der Strahlengefahr zu kalkulieren war, kurz: zum „center of
calculation“248.
Als eine jener Assoziationen ist die ideologische Verankerung der Gültigkeit
der genetischen Modelle und der Verallgemeinerbarkeit des genetischen Wissens angesprochen worden. Dabei wurde auf internalisierte und geteilte Überzeugungsmuster zurückgegriffen. Diese selbstverständliche Vorstellungswelt
war aber nicht ohne weiteres identisch mit eugenischen Denkmustern, sondern
war grundlegender an die Voraussetzungen der neueren Biologie gebunden.
Der diskursive Erfolg der Genetik gegenüber der Gynäkologie lag also nicht
zuerst in der Akzeptanz eugenischer Prämissen, denn in dieser Klarheit kann
nicht behauptet werden, dass Eugenik ein „accepted part of medical science“
war.249 Die Gynäkologen wurden über die Allgemeingültigkeit der Vererbungsgesetze zur Aufgabe der temporären Sterilisation gezwungen. Es ist in ähnlicher Weise schon angeklungen, und Mendelsohn hat in einem anderen Zusammenhang darauf hingewiesen, dass die Medizin die genetische Sicht der Dinge
246
Vgl. Hertwig 1933b: 1.
Latour 1987: 208-09 u. 220.
248
Latour 1987: 239
249
Weindling 1985: 309
247
253
nicht einfach wegen eugenischer Ambitionen annahm, oftmals sogar diesen
entgegen, sondern im Sog der neuen Naturwissenschaftlichkeit der Biologie.250
Die Mediziner verstanden unter Strahlenschäden zu allererst organische
Schädigungen der Frucht und des nach einer Bestrahlung gezeugten Kindes.
Die Genetiker sahen von Beginn an die Schädigung in der Anhäufung von Mutationen. Die genetische Perspektive verbündete sich automatisch mit einem
eugenischen Interesse. Dabei mag es eine Rolle gespielt haben, dass sich in
der Biologie eine Entwicklung abzeichnete, in deren Verlauf sich die Tradition
des Experiments und die der Naturgeschichte miteinander verbanden – der
evolutionstheoretische Begriff vom historischen Zusammenhang der Lebewesen und der reduktionistische Begriff vom hierarchischen Aufbau der Organismen in der mendelschen Genetik. Wenn auch die genetische Logik nicht notwendig eine eugenische Perspektive zum Vorschein bringt, ebenso wenig, wie
sie automatisch reduktionistisch veranlagt sein muss,251 so teilten Genetik und
Eugenik aber ein Interesse und einen bestimmten Blick. Sie interessierten sich
für die Zusammensetzung des Erbguts und blickten auf die künftigen Generationen. Die Genetik fragte nach der Ausbreitung von rezessiven Mutationen in
den Folgegenerationen. Der Eugenik ging es nicht um die Individuen, sondern
um die „Schädigung“ des Bestands „gesunder Gene“ einer Population, das
heißt des Volks. Über die rezessiven Mutationen konnte sich Anfang der dreißiger Jahre eine eigene Verbindung von Eugenik und Genetik herausbilden.252
Diese Bindung war vor allem historisch.
Die eugenisch gewendete Diskussion um die Gefahr der Strahlenanwendung
wurde neben führenden Eugenikern und Humangenetikern von jüngeren und
ausgezeichneten Genetikern und Genetikerinnen geführt, die bislang kein solches Forschungsinteresse hatten erkennen lassen. Die meisten dieser Genetiker waren vom Pflanzengenetiker und Mediziner Erwin Baur beeinflusst, der
zur eugenischen ‚Avantgarde’ der Weimarer Republik gehörte. Dass mit ihnen
die Mehrheit der Vererbungswissenschaftler der Weimarer Republik die eugenischen Befürchtungen teilten, zeigt die Rolle der Gesellschaft für Vererbungswissenschaft im Konflikt mit den Gynäkologen. An ihrer Spitze stand zu dieser
Zeit Richard Goldschmidt, ebenfalls Genetiker ohne eigenes eugenisches Forschungsinteresse.253 Wohl aber – und das stützt die hier vertretene Auffassung
von der historischen Bindung von mendelscher Genetik und Eugenik – warnte
auch Goldschmidt vor den rezessiven Mutationen und ihrer eugenischen
Bedeutung.254 Die Genetik müsse zur Vorbereitung auf „eugenische Maßnahmen“ sorgfältig „die erbarmungslos arbeitende Vererbung“ von dem „heilbaren
sozialen Übel“ unterscheiden lernen.255
Die mendelsche Genetik war auch für Goldschmidt der Garant der Wissenschaftlichkeit. Wissenschaftlichkeit und Eugenik fanden historisch zusammen
250
Vgl. Mendelsohn 2001: 61. Siehe auch Kapitel 3 u. Seite 132.
Vgl. Lemke 2000: 234.
252
Vgl. Roth 1986: 26 u. 38-39
253
In Goldschmidts Lehrbuch „Einführung in die Vererbungswissenschaft“, das auf seinen Vorlesungen beruhte, fehlt ein Abschnitt zur Eugenik, das hingegen in Erwin Baurs Vorlesungen
obligatorisch war (vgl. Goldschmidt 1923; Goldschmidt 1928 bzw. Baur 1922; Baur 1930b).
254
Vgl. Goldschmidt 1920a: 75.
251
254
im Anerkennungsanspruch der Genetik. Um Anerkennung zu finden – und praktische Fragen, wie die der Eugenik sind dazu bestens geeignet –, war es zunächst notwendig, im Diskurs die eigene Definitionsmacht und die exklusive Zuständigkeit der eigenen Wissenschaft unabweisbar zu machen. Goldschmidt:
„Die Mendelschen Gesetze haben sich uns als Lichtträger für alle Vererbungsfragen bei Tier- und Pflanzenarten erwiesen. So müssen sie uns auch den Weg
weisen bei allen Problemen, die sich auf die Kreuzung der menschlichen Rassen beziehen.“256 Mendelsche Vererbungslehre und die sozialtechnischen Bestrebungen zur Regelung des Bestandes an gesunden, das heißt gesellschaftlich nutzfähigen Körpern und Geistesvermögen, zeigten sich im Diskurs um
Vererbung eng miteinander verbunden. Dies spezifiziert nun aber Weindlings
These, dass die Weimarer Genetik „indistinguishable from scientific eugenics”
war und die Institutionalisierung der Eugenik nicht ohne die „professional expectations of geneticists“ zu verstehen ist.257 Nicht nur direkte Ambitionen der Genetiker, biologisches Wissen als Wissen von der Gesellschaft zu implementieren, brachte diese Verbindung hervor. In der Kontroverse zwischen Genetikern
und Gynäkologen zeigt sich, dass Eugenik und Genetik als eine historische und
diskursive Einheit auftraten.258
Die Kontroverse verdeutlicht noch ein Weiteres. Die Rivalitäten um Methoden, Kompetenz und Wahrheit spannten sich indirekt in den außerwissenschaftlichen Ausbau der Macht über Bevölkerung und Körper ein. Der Einsatz der Genetik in der Röntgenkontroverse bedeutete zugleich einen Eingriff in die medizinische Ordnung der Krankheit.259 In der Sicht der Genetik wurde die Strahlenschädigung vom lebenden Individuum entkoppelt und in die Allgemeintheit der
Population bzw. des Volkes und in die „krankhaften“ Gene verlegt.260 Diese Verlegung entspricht den Beobachtungen Foucaults über neu aufgekommene
Machtformen, die die Bevölkerung zum Ziel haben. In der „Bio-Politik“ wird nach
Foucault der Fokus von dem Körper als Organismus verschoben auf den Körper, insofern er Teil des „multiplen Körpers“ der Bevölkerung ist, welche durch
biologische Gesamtprozesse (zum Beispiel Geburtenrate) charakterisiert werden kann. Damit einhergehend entwickeln sich neue Machttechnologien, die die
Regulation der Lebensphänomene zum Ziel haben. Da sie es mit Masseneffekten und Zufallsereignissen zu tun haben, geht es darum, das Gleichgewicht des
Ganzen aufrecht zu erhalten, indem (empirische) Normen auf die Masse ange255
Goldschmidt 1920a: 76
Goldschmidt 1920a: 76 (In diesem speziellen Zusammenhang wendet Goldschmidt sich
gegen die Auffassung von der Rassenverschlechterung durch Rassenmischung).
257
Weindling 1985: 306-07. Herv. Verf.
258
Als eine solche Einheit wurde Genetik und Eugenik im Diskurs der menschlichen Vererbungslehre wahrgenommen (vgl. zum Beispiel Luxenburger 1932a: 44).
259
Zur Rückwirkungen der Genetik auf den Krankheitsbegriff und die Nosologie, siehe auch
2.2.3.
260
Die Verlegung nach „Unten“ in den Körper folgt einer typische Bewegung der Verkörperlichung von Krankheit.(vgl. Magiros 1995: 54). – Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend,
dass die Gynäkologen mehrfach die Auswirkung der ‚Mendelisierung“ der Strahlenschäden auf
die betroffenen Frauen und Kinder kritisch thematisierten. Sie würden der gesellschaftlichen
Stigmatisierung ausgesetzt (vgl. zum Beispiel Nürnberger 1932: 706-08). Die Genetiker
ignorierten die Eingebundenheit der Person und des individuellen Körpers in einen sozialen
Kontext konsequent.
256
255
wendet werden.261 Genau solchen regulativen Machttechnologien kam die Neuordnung der medizinischen Röntgenanwendungen nach genetischen Zufallsvarianten (rezessive Mutationen), die erst auf der Ebene von Populationen oder
der Bevölkerung beschreibbar wurden, entgegen.
Die Normen sind Teil eines Vergesellschaftungs-, Disziplinierungs- und Regulationsinstrumentariums. Als solche erstrecken sie sich aber vom Organischen bis zur Bevölkerung. Die „Normalisierungsgesellschaft“ erfordert auch die
Disziplinierung des einzelnen Körpers.262 Dementsprechend – und nun gar nicht
mehr indirekt – stellten sich die Genetiker die Intervention, die die Gefährdung
des gesellschaftlichen Körpers durch die Akkumulation einzelner Mutationen in
den biologischen Körpern abwehren sollte, als eine konkrete medizinische Praxis vor: Die Intervention bestand in einer Ökonomie der Röntgenanwendung,
die primär nicht an der therapeutischen Wirkung orientiert war. Bei Fischer
drückte sich diese Ökonomie in der extremen Forderung aus, dass das Röntgengerät nur um den Preis der endgültigen Unfruchtbarkeit den Frauen zugute
kommen durfte.263
Auch, wenn man nicht dem Machtbegriff Foucaults folgt, so geht doch die
aufgezeigte Verbindung zwischen Genetik und Eugenik über einen wissenssoziologischen Ideologiebegriff hinaus. Es scheint nicht angebracht, vorrangig Sozialisations- und Ausbildungserfahrungen als diskriminatives Instrument in Anschlag zu bringen, um die Affinität der Genetiker zur eugenischen Interpretation
ihrer Probleme zu erklären.264 Die Verbindung erklärt sich eher durch die Eigenarten der mendelschen Genetik, die historisch zur deutschen medizinisch und
negativ ausgerichteten Eugenik passte.265 An dieser Stelle greift auch nicht die
Unterscheidung von Harwood. Harwood bringt Ausbildungsfaktoren, Forschungsrichtungen und das gesellschaftliche Selbstverständnis der Wissenschaftler in einen Zusammenhang und unterteilt die deutsche Genetik entlang
ihrer Denkstile in strikt mendelgenetisch orientierte Vererbungswissenschaftler,
die zugleich zur Politisierung und Anwendungsorientiertheit neigten, und solche,
die einer ganzheitlichen Sichtweise auf die wissenschaftliche Arbeit und der
Trennung von Wissenschaft und Politik verpflichtet waren.266 Diese Unterscheidung steht im Widerspruch zum Verhalten Alfred Kühns in der Röntgendebatte.
Zwar sah er die Gemeinschaftsarbeiten vor allem zum Nutzen der Genetik. All
die Aktivitäten um Versuchstierzucht und Gemeinschaftsarbeiten zeigten ihn
aber als einen klugen Taktiker, der es verstand, seine wissenschaftliche Autorität einzusetzen, um die Forschungspolitik für die Anliegen der Genetik einzunehmen, der darüber hinaus ein hohes Bewusstsein davon hatte, von welcher
Relevanz die Genetik für die Gesundheitspolitik war, und der schließlich sich
261
Vgl. Foucault 1999b: 288-96.
Foucault 1993: 40; vgl. Foucault 1999b: 292-93; Link 1999: 132ff..
263
Vgl. Zitat Seite 221, Fußn. 82.
264
So zum Beispiel in der Analyse der Kontroverse zwischen biometrisch und mendelisch orientierten Vererbungswissenschaftlern in MacKenzie & Barnes 1975.
265
Dies stimmt mit der Tatsache überein, dass sowohl die engagierten Genetiker, wie die verbündeten Mediziner (insbesondere H. Martius) in klarer Weise Vertreter der mendelschen
Genetik waren. – Zur medizinischen Ausrichtung der deutschen Eugenik, vgl. Weindling 1989:
317-19 u. 576-79.
266
Vgl. Harwood 1993: Kap.7. Siehe auch 1.1.
262
256
nicht scheute, eine anwendungsbezogene Forschung mit eugenischen Hintergrund an seinem Institut zu installieren. Kühn zeigte sich, wenn auch sein Vorgehen bei der Etablierung der Versuchstierzuchten mit einbezogen wird, durchaus als Modernisierer der wissenschaftlichen Arbeitsweise und ihrer gesellschaftlichen Funktion.267
Kühn wusste um die Förderung, die der genetischen Forschung durch die
Einbindung in die Röntgenkontroverse zuteil wurde. Die Gemeinschaftsarbeiten
zur Frage erblicher Röntgenschädigungen brachten zum einen finanzielle Unterstützung und den Ausbau der Göttinger Versuchstierzuchtanstalt mit sich.
Zum anderen förderten sie die Strahlengenetik der Säugetiere. Der besondere
Vorteil kam dadurch zustande, wie Kühn erkannte, dass unterschiedliche strahlengenetische Experimentalsysteme über unterschiedliche Forschungsobjekte,
die in der Gemeinschaftsarbeit zusammengebracht wurden, zu einer Kaskade
von Modellbeziehungen verschaltet werden konnten. Kühns und Timoféeff-Ressovskys „’Modellversuche’ an Insekten“ ergänzten sich gegenseitig und gaben
wiederum „für die Experimente an Säugetieren wichtige Hinweise”.268 Die Aufdeckung von subtilen Änderungen in der Vitalität der Fliegen ließ zunächst auch
bei den Säugetieren ein experimentelles Arrangement erforderlich erscheinen,
das eine höhere Detektionssensitivität ermöglichte. Die vitalitätssenkenden Mutationen waren aber in genetische Probleme eingebunden, die mit der Anwendung von Röntgenstrahlen in der Gynäkologie nichts zu tun hatten.269 So führten die Untersuchungen an „ganz verschiedenen Objekten“ zu „ganz gleichartigen neuen Ergebnisse[n] über die Mutationswirkung“.270 Kühns „Modellversuche“ – in Anführungszeichen – waren nicht zuerst fertige Modellverhältnisse von
Fliege und Maus und Maus und Mensch für die Röntgenfrage, sondern Arbeit
an Modellen für die Genetik. Die Gemeinschaftsarbeiten waren für die Genetik
die Möglichkeit, experimentelle und theoretische Modelle zu entwickeln.
Die Entfernung von der eigentlichen Frage und dem Zweck der Gemeinschaftsarbeiten führte, wie das Beispiel Paula Hertwigs zeigte, auf der anderen
Seite zur Ausweitung des in der Röntgenfrage umstrittenen Analogieverfahrens
auf allgemeine Fragen der Erbpathologie. Die Konzeption von Mäusen und Fliegen als Modelle für die Medizin und speziell für die Humangenetik stand im Zusammenhang mit dem Programm einer vergleichenden Erbpathologie, in der es
weniger um theoretische Modelle als die Modellierung menschlicher Verhältnis267
Zur Entgegensetzung von Mandarinen und Modernisierern, vgl. Harwood 1993: 269-73 u.
305. – Allerdings, und das spricht für eine Signifikanz Harwoods Analyse, blieb das ‚politische
Geschäft’ den pragmatischen Mendelianern um Baur überlassen.
268
o.D., [Kühn]: „Entwurf [...]” (BA Ko, R 73, 12475: Seite 9 v. 12, siehe Fußn. 133)
269
Zu dieser Verbindung, siehe 4.2.3; zur innovativen Funktion der Gemeinschaftsarbeit für die
Genetik, siehe Seite 178.
270
o.D., [Kühn]: „Entwurf [...]” (BA Ko, R 73, 12475: Seite 9 v. 12, siehe Fußn. 133) Herv. Verf.
257
se im Tierversuch ging. Hertwigs Arbeiten müssen deshalb im Zusammenhang
mit den Veränderungen im Institut für Vererbungsforschung gesehen werden,
an dem zeitgleich Hans Nachtsheim am systematischen Ausbau der vergleichenden Erbpathologie arbeitete. Diese Entwicklung am Dahlemer Institut ist
das Thema des nächsten Kapitels.
258
6 Erbpathologie des Tieres, menschliche Erblehre und
Eugenik
„Es gehört zur Frömmigkeit nordischer Artung, sich in das Wissen eines solchen Buches
[Nachtsheims „Vom Wildtier zum Haustier“] gern zu vertiefen und der Naturgesetzlichkeit
Schritt für Schritt zu folgen, ohne für seine Menschenwürde zu fürchten, wenn man das
1
nun mal am Beispiel des Kaninchen besorgt, ... .“
„Bezahlt wird die Identität von allem mit allem damit, daß nichts zugleich mit sich selber
2
identisch sein darf.“
Die letzten ‚Gefechte’ um die Erbschädigungsgefahr durch Röntgenstrahlen
müssen im Zusammenhang mit einer zu dieser Zeit schon in der Entwicklung
begriffenen humangenetischen Forschungsstrategie in der Genetik gelesen
werden. Die ersten gesundheitspolitischen Signale des Nationalsozialismus
verstärkten sofort die Annäherungen von Genetik und Medizin. In der Genetik
befanden sich Themen, die Genetik und Pathologie verbanden, im Aufschwung.
Im Forschungsprogramm einer vergleichenden und experimentellen Erbpathologie sollten an Tiermodellen Probleme der medizinischen Genetik bearbeitet
werden. Die vergleichende Erbpathologie verstand sich als Ersatz für methodisch kaum lösbare Probleme bei der genetischen Erforschung des Menschen.
Nach dem Erlass der so genannten Erbgesundheitsgesetze war im Prinzip die
ganze Medizin mit ähnlichen methodischen Schwierigkeiten konfrontiert. Hans
Nachtsheim ist ein Beispiel und der Ausgangspunkt, um den Zusammenhang
zwischen vergleichender Genetik, medizinischer Forschung und Gesundheitspolitik zu thematisieren.
In diesem dritten Anlauf zur Verhältnisbestimmung von Genetik und Medizin
ist deshalb zunächst die Frage, wie sich der erbpathologische Gegenstand in
Nachtsheims Experimentalsystem durchsetzte. Die Frage, die sich anschließt,
betrifft die Weise, in der er ohne Scheu Genetik auf gesellschaftliche Verhältnisse übertrug. Die Untersuchung wird zur Beschreibung eines technokratischen
Verhältnisses führen, das Genetiker bzw. Mediziner in der Reduzierung von Gesellschaft auf Biologie und Genetik gegenüber Gesellschaft einnahmen. Die
These ist, dass ein technokratisches von einem ideologischen Verhältnis unterschieden werden muss.
Diese Unterscheidung ist die Voraussetzung dafür, in der Performanz des
Objektivitätsdiskurses der Wissenschaft die (diskursive) Bedingung von Macht
zu erkennen. Die Genetik half auf diese Weise den Prioritätsanspruch einer genetisch fundierten menschlichen Erblehre in der Erbbiologie des Menschen sowie den der Erbpathologie gegenüber der Medizin zu begründen. Am Beispiel
von Epilepsie und Zwangssterilisation lassen sich die Abgrenzung von Struktur
und Intention und darüber hinaus die Praxis der vergleichenden Genetik verdeutlichen. Deutlich wird, dass mit der nationalsozialistischen Herrschaft kein
Bruch in den Konzepten der genetischen (und medizinischen) Wissenschaft
erfolgte.
1
2
Stengel-v.Rutkowski 1937
Horkheimer & Adorno 1988: 18
259
Nachdem im letzten Kapitel die eugenische wie epistemologische Wurzel der
vergleichenden Erbpathologie in der Weimarer Republik untersucht worden ist,
wird hier ihrer Entwicklung und ihrer Einsatz umrissen, um abschließend erneut
den zu Grunde liegenden Modellbegriff zu untersuchen. Es wird zu sehen seien, inwiefern die Modelle der vergleichenden Erbpathologie produziert sind und,
was es heißt, die Epistemologie der Modellsysteme als eine Zeichenrelation zu
fassen.
6.1 Von der Tierzucht zur „experimentellen und
vergleichenden Erbpathologie“ im technokratischen
Bewusstsein
„Der Vorsitzende der Gesellschaft... sprach den hübschen Gedanken aus, die kleine
Schar der älteren Genetiker käme sich vor wie die Anhänger einer bisher nur kleinen
3
Sekte, deren Bekenntnis plötzlich zur Staatsreligion geworden sei.“
Der Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft war in weiten Bereichen der
Wissenschaften mit einer Aufbruchsstimmung verbunden. Sie signalisierte Hoffnung und Bereitschaft, eigene Interessen in der politischen Programmatik der
Nationalsozialisten gewahrt zu sehen. Insbesondere Erbbiologie und Humangenetik konnten größere Aufmerksamkeit durch die neuen Machthaber erwarten.4
Gleich in den ersten Jahren entfaltete sich eine reichhaltige Aktivität um die Einflussnahme auf die neue Forschungs- und Gesundheitspolitik. Die Frage stellt
sich, inwiefern Wissenschaft, hier: die Genetik, sich nicht nur ideologisch anpasste oder von Seiten des NS-Apparats indienstgenommen wurde, sondern
ko-laborierte, ohne ihre eigenen Konturen zu verlieren.5
Hans Nachtsheim stellt ein akzentuiertes Beispiel für die Einstellung der Wissenschaft auf die neuen Verhältnisse und ihre Bemühungen dar, eigene Interessen einzubringen und neue Möglichkeiten zu nutzen. Das Jahr 1934 markiert
den Beginn Nachtsheims Engagement für die Eugenik und die Umstellung seines Experimentalsystems auf die Forschungsprogrammatik der vergleichenden
Erbpathologie. Die Teilhabe der wissenschaftlichen Genetik an der NS-Gesundheitspolitik wird sich als eine besondere Form der Verwissenschaftlichung gesellschaftlicher Verhältnisse erweisen.
Mit der Entwicklung Nachtsheims zum engagierten Eugeniker wird zugleich
die Frage aufgeworfen, welche Bedeutung das Jahr 1933 hatte, in welchem
Verhältnis also Bruch und Kontinuität in Nachtsheims Handeln zu einander stehen. In der Literatur ist sein Engagement als die Entfaltung von Ambitionen dargestellt worden, die er schon lange vor 1933 hegte.6 Dieser Lesart steht die
Auffassung gegenüber, nach der eine Opposition von Anthropologie, Rassenbiologie und Erbgesundheitspolitik des Nationalsozialismus auf der einen und
3
O. Renner zit. in Just 1935: 138
Nach neuerer Forschung muss davon ausgegangen werden, dass im Nationalsozialismus
eine grundsätzlich wissenschaftsfreundlich ausgerichtete Politik dominierte (vgl. Macrakis 1993;
Lundgreen 1994: 123; Mehrtens 1994b: 249-50; Grüttner 2000: 576).
5
Vgl. Mehrtens 1980: 53-55.
6
Vgl. Deichmann 1995: 307; Paul & Falk 1999: 272.
4
260
einer ‚sauberen’, durch ‚reine’ Wissenschaftlichkeit geprägte Tradition in Verbindung aus Genetik, medizinischer Genetik (Erbpathologie) und ‚humaner’ eugenischer Gesundheitspolitik auf der anderen Seite konstruiert wird.7 Das Beispiel
Nachtsheims macht es notwendig, die Betrachtung ideengeschichtlicher und
ideologischer Aspekte durch die der Forschungspraxis zu ergänzen. Es ergibt
sich dann eine verwickeltere Beziehung zwischen Forschung und ihrem gesellschaftlichem Kontext. Nachtsheims Entscheidung, seine genetische Forschung
in den Dienst der Eugenik zu stellen, brach mit den Inhalten seines bisherigen
Engagements als Forscher und Experte und war nicht das zwangsläufige Resultat seiner eugenischen Überzeugungen. Sie gründete zunächst in den Gelegenheiten, die die neue Regierung eröffnete. Nachtsheim handelte jedoch
nicht opportunistisch, da die Entscheidung in der formalen Kontinuität seines
technokratischen Wissenschaftsverständnisses stand und durch die experimentelle Praxis bereits präfiguriert war.
6.1.1 Nachtsheims Situation an der Landwirtschaftlichen Hochschule
Der tiefgreifende Wandel in Nachtsheims Forschungszielen war eine Option,
die ihren Anlass in seiner verschlechterten beruflichen Situation an der Landwirtschaftlichen Hochschule hatte. Ende der zwanziger Jahre geriet Nachtsheim
mit Erwin Baur in einen Konflikt, aus dem Nachtsheim persönlich schwer beschädigt hervorging. Obwohl er als Abteilungsvorsteher von Baur für das Institut
geworben worden war und als solcher im Institut die zoologische Abteilung leitete, wurde diese Stelle formal nie realisiert.8 Umso mehr konzentrierten sich
Nachtsheims Hoffnungen darauf, Nachfolger von Baur als Institutschef zu werden, als dieser 1928 Direktor des KWI für Züchtungsforschung in Münchenberg
wurde. So glatt die Karriere Nachtsheims bislang verlaufen war – 1923 war er
zum außerordentlichen Professor ernannt worden, 1928 zum Oberassistenten –
und so großes Ansehen er als viel versprechender junger Forscher in der Vererbungswissenschaft genoss, so schwierig war sein Stand in der Landwirtschaft
und die Interessensituation an der Landwirtschaftlichen Hochschule.
1930 wurde Carl Kronacher9, der als größte Kapazität auf dem Gebiet der
Tierzucht galt,10 für die Landwirtschaftliche Hochschule als Leiter des Instituts
7
Vgl. Paul & Falk 1999: 272.
Vgl. 21.5.1928, Nachtsheim an Rektor der Landw. Fakultät, Abschrift (UHUB, Landw. Fak. v.
1945, PA Nachtsheim, Akte 3: Bl. 49+50). – Die Abteilungsleiterstelle war Baur von ministerieller Seite 1920 zugesagt worden, wurde aber letztlich nicht realisiert. Baur stellte seine Interessen vor diejenigen von Nachtsheim und ließ ihn im Unklaren. Nachtsheim sah sich von Baur auf
übelste Weise betrogen.
9
Carl Kronacher, geb. 8.3.1871 in Landshut – gest. 11.4.1938 in München. Studium der Veterinärmedizin, 1894 Approbation. Tätigkeit als Bezirkstierarzt und Tierzuchtinspektor. 1907 Leiter
der Tierzuchtabteilung an der Königlich Bayerischen Akademie für Landw., Weihenstephan,
und Prof. für Tierzucht. Freiwilliger Kriegsdienst 1914. 1916 o. Prof. für Tierzucht und Vererbungslehre und Direktor des Instituts für Tierzucht und Vererbungsforschung der Tierärztlichen
Hochschule Hannover. 1924 Gründung der Zeitschrift für Tierzüchtung und Züchtungsbiologie.
1929 Berufung zum o. Prof. an die LHB. 1936 Emeritierung. 1936 Gründer der Deutschen Gesellschaft für Tierpsychologie und Vorsitz (Begründer der Z. f. Tierpsychologie mit K. Lorenz
und O. Koehler). NSDAP-Mitglied 1.5.1933. Zweifach Dr. h.c. der Landwirtschaft. (Vgl. Kronacher 1929; BA B, BDC-Akte Carl Kronacher; Nachrufe in Z. f. Tierpsychologie, 2, 1938: I-IV; Dt.
Tierärztliche Wschrf., 1.12.1968: 596ff..)
8
261
für Tierzüchtung gewonnen. Das Institut erhielt auf seinen Wunsch den Zusatz
„Haustiergenetik“, was mit Nachtsheims Anspruch kollidierte, ein Vorrecht in
Forschung und Lehre für Haustiergenetik zu haben.11 Kronacher war Vorkämpfer einer landwirtschaftlichen Genetik und stellte in der Weise, wie er sich dafür
einsetzte, einen ähnlichen Wissenschaftlertyp, wie Baur und Nachtsheim, dar.12
Nun zweifelte er jedoch mit der Macht des honorierten Hochschulprofessors die
Leistungen des jüngeren Kollegen und seine Kompetenz an – Nachtsheim sei
Genetiker und kein Tierzüchter.13 Der Freund Baur unterstützte Kronachers
Bestrebungen, seine Forschungsstätte in Berlin als Gegenstück zu Baurs Müncheberger Institut für Pflanzenforschung in großem Stil auszubauen.14 Kronachers neues Institut trat also in Konkurrenz zu Nachtsheims Zoologischer Abteilung. 1931 wurde zugunsten Kronachers die Vorlesung über „Tierzüchterische
Konsequenzen aus der Vererbungslehre“, die Nachtsheim seit 1925 hielt, gestrichen, da Kronachers Ordinariat mit dem Auftrag versehen war, die „moderne
Tierzuchtlehre“ auf „neuzeitliche biologische und vor allem vererbungsbiologische Grundlage“ zu stellen.15 Der Erfolg war aber – nicht zuletzt durch Baurs
Einsatz –, dass die Genetik nun mit zwei Instituten an der Landwirtschaftlichen
Hochschule vertreten war. Die genetische Zuständigkeit für Landwirtschaftswissenschaft war mit Kronachers Forschung an großem Nutzvieh komplettiert
10
Vgl. 11.12.1930, Min.Dir. Arnoldi an Rönneburg (GStA, I. HA, Rep. 87 B, Nr. 20284, Bl. 29192).
11
Vgl. 28.1.1929, Nachtsheim: Auszug aus meinen Verhandlungen mit Professor Baur (UHUB,
Landw. Fak. v. 1945, PA Nachtsheim, Akte 3: Bl. 55). Nicht zuletzt reklamierte Nachtsheim, als
Erster die Bezeichnung „Haustiergenetik“ geprägt zu haben.
12
Kronacher hatte nach Baur das zweite vererbungsbiologische Institut im Deutschen Reich gegründet. Noch im Verlauf des ersten Weltkrieg hatte er sich vehement für eine wissenschaftlich
effektivierte Landwirtschaft zur ökonomischen Kräftigung des Deutschen Reichs eingesetzt und
den Ausbau der Vererbungswissenschaft zu diesem Zweck gefordert (vgl. Kronacher 1916a:
30-31; Kronacher 1916b: 149). K. war Gründungsmitglied der Deutschen Gesellschaft für
Vererbungswissenschaft (vgl. ZIAV, 27, 1922: 277). Er setzte sich gegenüber den Tierzüchtern
für die konsequente Beachtung der „modernen Naturwissenschaften“ u. speziell der mendelschen Vererbungslehre ein. Bspw. propagierte er die Inzucht als Zuchtmethode – freilich nur in
Betrieben mit kenntnisreicher Leitung (vgl. Kronacher 1924: 48). Es war konsequent, dass K.
den Artikel in Baurs und Max Hartmanns Handbuch der Vererbungswissenschaft über „Genetik
und Tierzüchtung“ übernahm, in dem er entsprechend dem Credo der genetischen Erneuerung
der Tierzucht die kontrollierte und geplante Leistungssteigerung durch die Genetik beschwor
(vgl. Kronacher 1934: 185-86). – K.s Antrittsvorlesung im Mai 1929 trug den Titel: „Selbstversorgung Deutschlands mit animalischen Nahrungsmitteln, Tierzucht und Tierzuchtforschung“.
13
Vgl. 12.3.1931, Dr. Dr. h.c. C. Kronacher an PML (UHUB, Landw. Fak. v. 1945, PA Nachtsheim, Akte 3: Bl. 125-26). – Während an Baurs Institut vor allem kleine Nutztiere beforscht wurden, beschäftigte sich Kronacher mit Rindern, seiner Meinung nach wirtschaftlich wirklich relevanten Nutztieren (vgl. Kronacher 1932; Kronacher 1934: 103-04). In der Anwendung experimenteller vererbungswissenschaftlicher Methoden war er dadurch beschränkt, weshalb er
versuchte, die Zwillingsmethode anzuwenden.
14
Vgl. o.D., [ca. Mitte 1930, Denkschrift Baurs zum Institut für Züchtungsforschung], Anlage in:
9.7.1930, Hans Schlange [MdR] an MdR Rönneburg (GStA, I. HA, Rep. 87 B, 20270: Bl. 27476); Nachruf in Zeitschrift für Tierpsychologie, 2, 1938: II.
15
29.1.1931, ?, Aktennotiz zu Brief von Kronacher (UHUB, Landw. Fak. v. 1945, PA Nachtsheim, Akte 3: Bl. 133); vgl. 6.5.1931, Kronacher an Rektor (ebd.: Bl. 227). – Nachtsheim blieben
Übungen in allgemeiner Vererbungslehre und Vorlesungen über die spezielle Pelztierzucht und
zum Domestikationsproblem.
262
worden, während das Institut für Vererbungsforschung durch Kleintierzucht und
vor allem pflanzengenetisch profiliert war.16
Die Berufung eines neuen Direktors an das Institut für Vererbungsforschung
verzögerte sich um drei Jahre.17 In dieser Zeit sah sich Nachtsheim ohne Unterlass zu Konflikten um Lehrveranstaltungen, seinen Aufstieg, die Genehmigung
von Notstandsbeihilfen oder Kuraufenthalten für seine junge Familie genötigt.
Ende 1930, als Nachtsheims Ambitionen auf den Direktorentitel des Instituts
verflogen waren, sah er keinen Ausweg mehr. „Haben Sie noch ein Weihnachtsgeschenk in der Gestalt einiger Kugeln? Nicht für den Tannenbaum, sondern ein kleineres Kaliber.“18 Nachtsheim ließ an der Landwirtschaftlichen
Hochschule eine von ihm verfasste „Anklageschrift“ gegen Baur kursieren und
unterstellte dem „unmoralischsten Senat, der je an einer deutschen Hochschule
existiert habe“, ihn „kalt machen“ zu wollen, woraufhin der Konflikt eskalierte.19
Von Nachtsheims Angriffen war auch der Pflanzengenetiker Hans Kappert20
betroffen, ein gleichaltriger Vererbungswissenschaftler, der Anfang 1931 als
neuer Chef des Instituts für Vererbungsforschung eingesetzt wurde.21
16
Es existierte ein vielfältiges Lehrangebot zu Genetik an der Hochschule. Im Vorlesungsverzeichnis vom WS 1932/33 werden z.B. 13 Unterrichtsangebote im Bereich der Genetik aufgeführt: Kappert: Allg. Vererbungs- und Züchtungslehre; Diskussion über vererbungswiss. und
züchterische Fragen; Schiemann: Samenkunde und Übungen; Spezielle Genetik der landwirtschaftlichen Kulturpflanzen; Kronacher: Allgemeine Tierzucht; Vererbungslehre und Tierzucht;
Seminar für Tierzucht und Haustiergenetik; Übungen für Fortgeschrittene; Freiherr Dr. v. Patow:
Einführung in die Biometrik; Genetische Betrachtungen der Milchviehzucht und ihre praktische
Auswertung; Nachtsheim: Das Domestikationsproblem; Erbkundliche Übungen; Leitung zoologisch-genetischer Arbeiten von Fortgeschrittenen. (Vgl. Vorlesungsverzeichnis in: UHUB.)
17
Alle relevanten Entscheidungen wurden mit Rücksicht auf den Nachfolger zurückgestellt, was
zur Schließung der Versuchstierzuchtstation der Notgemeinschaft führte (vgl. 3.1.2).
18
Vgl. 14.12.1930, Nachtsheim, privat, an Min.Dir. Arnoldi (GStA, I. HA, Rep. 87 B, 20284: Bl.
35).
19
24.1.1931, Nachtsheim an Rektor, Abschrift (UHUB, Landw. Fak. v. 1945, PA Kronacher: Bl.
22). Siehe zu weiteren Hintergründen Fußn. 8. Baur strengte eine Beleidigungsklage an (vgl.
13.1.1931, Baur an PML, Abschrift, in: ebd., PA Nachtsheim, Akte 3: Bl. 112). Die Klage führte
zu einer Verurteilung Nachtsheims (vgl. 4.11.1931, Baur an Rektor, in: ebd.: Bl. 277). Nachtsheim wurde indes mit schweren Depressionen in einem Privatsanatorium bei Dresden behandelt, wo er mehrere Suizidversuche unternahm (vgl. 4.2.1931, Dr. Keinburg, leitender Arzt vom
Sanatorium Goldberg, an Rektor, in: ebd.: Bl. 143). Die behandelnden Ärzte stuften Nachtsheim
als unzurechnungsfähig ein, was ihn letztlich nach geläuterten Entschuldigungen vor disziplinarischen und strafrechtlichen Maßnahmen bewahrte (vgl. 20.2.1931. Der preuß. Min., i.A. Dr.
Arnoldi, an Rektor der LHB, in: ebd.: Bl. 114; 14.4.1931, Nachtsheim: Erklärung vor Min.Rat
Rohde und O.Reg.Rat Dr. Staab, Abschrift, ebd.: Bl. 187; 30.4.1931, Rektor Mangold an
Nachtsheim, in: ebd. Bl. 194-97).
20
Hans Kappert, geb. 24.8.1890 in Münster, gest. 15.2.1976 in Münster. Studium der Naturwissenschaften in Münster und Graz. Promoviert 1914. 1914-20, Ass. bei Correns am KWI für Biologie. 1921 Habil. an der LHB. Abt.leiter am Forschungsinstitut des Verbandes Deutscher Leinen-Industrieller, Sorau. 1924-30, Saatzuchtleiter in der Saatzuchtfirma Gebr. Dippe A.G.,
Quedlinburg, u. wiss. Arbeiter. 1.1.1931 Nachfolger auf dem Lehrstuhl E. Baurs bis zur Emeritierung (1951 kam das Inst. an die TU Berlin, 1974 als „Angewandte Genetik“ an die FU Berlin).
Keine Mitgliedschaft in der NSDAP. (Vgl. Kappert 1978; BA B, BDC-Akte; UHUB, Math.-Nat.
Fak. v. 1945, PA Kappert.)
21
Der Gang der Berufungsverhandlungen ist nicht genau nachzuvollziehen. Nach den ersten
Konflikten mit Baur 1929 und von Seiten der Universitätsleitung scheint Nachtsheim nicht mehr
in Frage gekommen zu sein. Es wurde zudem hoch gepokert und versucht, Richard Goldschmidt, Max Hartmann oder Fritz v. Wettstein zu gewinnen. Vor allem die Universität wollte
das Institut als genetisches Forschungsinstitut profilieren, war aber gegen Nachtsheim eingestellt. Der 28-jährige Drosophilagenetiker Curt Stern wiederum war zu jung. Von Seiten des
263
Nachtsheim hatte als Zoologe das Nachsehen, zumal die Vertretung der Genetik an der Landwirtschaftlichen Hochschule wegen finanzieller Engpässe nicht
ausgebaut werden sollte.22 Alle der genetischen Forschung im engeren Sinne
verpflichteten Wissenschaftler hatten den Ruf an die Landwirtschaftliche Hochschule abgesagt.23 Baur hatte Nachtsheim schon 1920 gewarnt, dass die angewandte Genetik eine Sackgasse sein könnte.24 Nachtsheims Fähigkeiten als experimenteller Genetiker wurden zwar hoch eingeschätzt,25 doch die strikte und
konventionelle Festlegung auf die Anwendung konnte in der deutschen biologischen Wissenschaft, die eine solche Festlegung nicht kannte,26 keine Türe öffnen. Diese Situation bildete den Hintergrund für den Umbau Nachtsheims experimentellen Regimes.
6.1.2 Von der Haustiergenetik der Pigmente zur Erbpathologie der
Pigmentierung
Nachtsheim konnte sich im Umbau seines experimentellen Regimes zum einen
an seiner Kollegin Paula Hertwig orientieren, die 1932 mit Mutationsversuchen
an Mäusen begonnen hatte. Zum anderen hatte Nachtsheims Kaninchengenetik bereits enge Berührungen mit pathologischen Themen gemacht. In Kapitel 2
wurde gezeigt, wie die Beschäftigung mit dem Gebrauchswert des Rexkaninchenfells es erforderlich machte, den Status des Krankhaften in der Vererbung
zu klären, wodurch das experimentellen Arrangement zur Analyse der Pigmentund Pelzeigenschaften der Kaninchen unmerklich pathologisiert wurde.
Bereits 1929 hatte Nachtsheim Kontakt zu Pathologen aufgenommen. Über
Rudolf Jaffé, Direktor des Pathologischen Instituts des Städtischen Rudolf Virchow-Krankenhauses, hatte er Kontakt zu Berthold Ostertag27, Neuropathologe
an der Heil- und Pflegeanstalt Berlin-Buch, erhalten.28 Unter den Nachkommen
des französischen Rexrammlers 744 traten immer wieder LähmungserscheiKultusministerium, das Nachtsheim unterstützte, wurde darauf gedrängt, einen Pflanzengenetiker zu favorisieren (vgl. 18.2.1929, Rohde: Vermerk über Besprechung im Kultusministerium
zur Angelegenheit Baur, in: GStA, I. HA, Rep. 87 B, 20267: Bl. 208-11; 3.4.1930, Rohde: Vermerk für den Preuss. Minister für Landw., in: ebd.: Bl. 289-90; 22.10.30, Minister: Vermerk, in:
ebd.: Bl. 319-20; 15.12.1930, Arnoldi an Nachtsheim, in: ebd., 20284: Bl. 36; 22.12.1930,
Arnoldi an Rektor Aerobe, in: ebd.: Bl. 38)
22
Vgl. 5.4.27, Baur an PML (GStA, I. HA, Rep. 87 B, 20283: Bl. 39).
23
Vgl. 9.11.1930, Dr. Ludwig Brühl an Nachtsheim, Abschrift (UHUB, Landw. Fak. v. 1945, PA
Nachtsheim, Akte 3: Bl. 49+50).
24
Vgl. 29.1.1920, Baur an Nachtsheim, in: Nachtsheim: Auszug aus meinen Verhandlungen mit
Professor Baur (UHUB, Landw. Fak. v. 1945, PA Nachtsheim, Akte 2: Bl. 54).
25
Vgl. 8.4.1927, Richard Hertwig an Baur, hands.; 12.4.1927, Correns an Baur (GStA, I. HA,
Rep. 87 B, 20283: Bl. 41-43).
26
Vgl. Harwood 1993: 161.
27
Berthold Ostertag, geb. 28.2.1895 in Berlin. 1.8.1935 NSDAP-Mitglied, SA-Mitglied. Von 1925
bis 1933 Leiter des Pathologischen Instituts der Städt. Heil- und Pflegeanstalt Berlin-Buch, betrieb dann seinen Wechsel an das Krankenhaus Moabit (bis dahin Rudolf Jaffé), wurde aber
schließlich Leiter der Pathologie im Virchow-Krankenhaus (und der größten Prosektur Berlins).
11.5.1940 apl. Professor. Ostertag erforschte erbbiologische Fragen unter sozialen Gesichtspunkt und suchte nach intra-uterinen Schädigungen als Ursachen von Missbildungen (!). (Vgl.
BA B, BDC-Akte Ostertag; Nowak 1980: 87; Peiffer 1997.) Siehe auch Seote 405, Fußn.
28
Vgl. 1.8.1947, Nachtsheim an Ostertag, Durchschlag (AMPG, Abt. III, Rep. 20A, Nr. 52) bzw.
der Originalbrief in Privatarchiv Peiffer/Schröpfer, NL B. Ostertag. – Diese Verbindung war nicht
zufällig, da Rudolf Jaffé und Ostertag befreundet waren und umfassend zur Pathologie der Laboratoriumstiere arbeiteten (vgl. Ostertag 1931).
264
nungen der Extremitäten auf. Ostertag stellte verschiedenartige Störungen im
Rückenmark der Tiere fest.29 Auf dem Pathologentag 1930 bezeichnete er bereits das Syndrom in Analogie zur menschlichen Pathologie als Syringomyelie
und stützte damit frühere Behauptungen, nach denen die Syringomyelie ein
familiäres Leiden sei.30 Dies war das erste Mal, dass Nachtsheims Kaninchen
als Modell für eine medizinische Fragestellung fungierten. Das Kaninchenmodell der Syringomyelie sollte in der weiteren Zusammenarbeit helfen, spezifische Fragen der Ätiologie zu klären.31 Während Ostertag die Kaninchen als Modelltiere pathologisch bearbeitete und sie als Ergänzung in seine neuropathologische Forschung integrierte,32 waren für Nachtsheim die Lähmungserscheinungen zunächst ein Problem der Wertigkeit des Rexkaninchenfells.33 Nachtsheims Vermutung war, dass die Felleigenschaften und die diversen pathologischen Erscheinungen der Rexkaninchen – Rachitis, verminderte Vitalität und
Lähmungserscheinungen – die Wirkungen desselben Erbfaktors waren. Diese
Vermutung schloss an die verbreitete Annahme an, dass bestimmte äußerliche
Merkmale Anzeichen von Degeneration seien.34
Als sich aber schließlich herausstellte, dass der Zusammenhang zwischen
Rexkaninchenfell und Lähmungserscheinungen nur zufällig war, dass die Syringomyelie also ihre Ursache nicht im Rexfaktor hatte, nahm die Verbindung zu
Ostertag einen anderen Charakter an. Pathologische Eigenschaften waren bis
dahin in Nachtsheims Experimentalsystem Eigenschaften der Rasse „Rexkaninchen“ gewesen. Das Rexkaninchen galt als „pathologische Mutationsrasse“.
Seine Pathologie ging aus der künstlichen landwirtschaftlichen Ordnung der
Sorten und Rassen unter den Lebewesen, der Nachtsheims Forschung folgte,
hervor. Mit der Abkopplung der Lähmungen der Kaninchen von der Rexkaninchenrasse blieb ein Krankheitsbild zurück, das quer zur Rasse flottierte und von
der landwirtschaftlichen Ökonomie des Rexkaninchens entbunden war. Die
Lähmungserscheinungen fielen nun einer rein medizinischen Ordnung der pathologischen Erscheinungen zu. Es ging nicht mehr darum, die Genetik des
Rexkaninchens weiter aufzudifferenzieren. Die Kaninchen stellten in Dahlem
jetzt den genetisch-züchterischen Teil einer Zusammenarbeit dar, deren Gegenstand die Erblichkeit einer spezifischen erblichen Nervenkrankheit war.35
1930 war so bereits aus dem Experimentalsystem zur Erforschung der Rexkaninchen die Möglichkeit eines neuen Forschungsansatzes erwachsen.
29
Vgl. Nachtsheim 1933d: 770.
Vgl. Ostertag 1930a: 173-74.
31
Die Ätiologie bearbeiten, hieß, zu klären, ob neben einem einfach mendelnden Erbfaktor
noch andere Gene an der Ausprägung der Syringomyelie beteiligt waren bzw. ob bestimmte
Gene eine pleiotrope Wirkungen hatten (vgl. Ostertag 1930a: 174).
32
Vgl. Ostertag 1930b; Ostertag 1934.
33
Vgl. Nachtsheim 1931c: 76. Siehe auch 2.1.3 u. 2.1.4.
34
Vgl. Nachtsheim 1932e: 261; Nachtsheim 1933c: 107.
35
Vgl. Nachtsheim 1931f: 255. Das Experimentalsystem des Rexkaninchenfells hatte diesen
Gegenstand insofern hervorgebracht, als die Ökonomie der Edelpelztierzucht die intensive Vermehrung und pflegeaufwendige Haltung der Rexkaninchen in Gang gebracht, das Interesse an
Lähmungserscheinungen geweckt und die Lebensform weitgehend gelähmter Kaninchen möglich gemacht hatte. Das Überleben der gelähmten Rexkaninchen erforderte besondere Haltungsbedingungen und ihre Vermehrung die geschickte Assistenz des Tierpflegepersonals.
Dazu, vgl. 2.1.4; zur Frage der Hervorbringung, siehe 4.3.2.
30
265
Die Syringomyelie blieb zwar zunächst der einzige erbpathologische Gegenstand in Nachtsheims Forschung; doch nach den Ereignissen an der Hochschule und seiner Rückkehr in den Hochschulbetrieb im Sommer 1931 schien sich
für Nachtsheim der Zusammenhang seiner Arbeiten leicht verschoben zu haben. Im September hielt er einen Vortrag vor der Gesellschaft für Hundeforschung über den Zusammenhang von Pigmentmangel und nachlassender Konstitutionshärte sowie geringer körperlicher Leistungsfähigkeit.36 Er benutzte seine Pigmentstudien nun, um die erbpathologische Seite der Pigmente aufzugreifen. In dem gewohnten aufklärerischen Gestus belehrte er die Hundezüchter,
dass es einen generellen Zusammenhang zwischen Konstitution und Pigmentierung nicht gäbe.37 Das schloss einzelne Fälle aber nicht aus. Ein bestimmter
Scheckungstyp bei Kaninchen und Hunden sei in verschiedener Hinsicht „abnorm“. Die Tiere waren oft taub und schienen weniger widerstandsfähig zu sein.
Mit Nachdruck forderte Nachtsheim, „derartige schädliche Erbfaktoren aus der
Zucht zu eliminieren“.38 In seinem Bericht über den Internationalen Kongress für
Genetik, der im Herbst 1932 in Ithaca (USA) stattfand und auf dem Nachtsheim
seine Pigmentierungsstudien vorstellte, ging er nur am Rande auf die allgemeine Genetik ein. Stattdessen konzentrierte er sich auf die erblichen Pathologie
der Haustiere – Inzucht, Infektionsdisposition, Vitalitätsunterschiede und Widerstandsfähigkeit – und vor allem auf die ausgedehnten Untersuchungen von
Charles Rupert Stockard an der medizinischen Fakultät der Cornell-Universität
in New York über Wachstumsanomalien und „interessante Vergleiche zwischen
seinen Beobachtungen an Hunden und den Verhältnissen beim Menschen“.39
Diese Untersuchungen verknüpfte Nachtsheim mit der Syringomyelieforschung
und den Pigmentstudien, um ihre Übertragbarkeit auf „Schwärzlinge, Neger mit
blauen Augen und Individuen mit tiefdunklen Augen“ herauszustellen. Erstmals
stellte er die Bedeutung seiner Forschung für den Vergleich mit menschlichen
Verhältnissen heraus. Die Verknüpfung von Pigmenten und Pathologie war allerdings zu schwach: Sie eignete sich weder als erbhygienisches Thema für die
Tierzucht,40 noch ließ sie sich zum Gegenstand einer mendelschen Erbanalyse
machen. Die pathologischen Merkmale, die mit auffälliger Pigmentierung assoziiert wurden, waren entweder zu variabel oder zu unspezifisch.41 Die Syringomyelie eröffnete Nachtsheim den Weg zum Menschen.42
36
Das Thema entsprach einer von mehreren Fragen, die die Gesellschaft als dringend zu klärende Fragen vorgelegt hatte (vgl. Nachtsheim 1932d: 3).
37
Schon 1905 hatte der Wiener Haustierforscher Leopold Adametz den stufenweisen Pigmentverlust bei Haustieren in Verbindung mit einer sukzessiven Schwächung der Tiere gebracht.
Seit 1924 ging Nachtsheim der Adametz’schen These zum Pigmentierungsverlust und zeigte,
dass bspw. Scheckung und der Pigmentverlust bei Weißen Wiener Kaninchen bzw. der Albinismus nichts mit einander zu tun hatten (vgl. Nachtsheim 1932d: 10-11). – Nachtsheim ließ
sich in diesem Forschungszusammenhang über pleiotrope Genwirkung von Pigmentierungsfaktoren die Gelegenheit nicht entgehen, eine Studie aus Baurs KWI über den Zusammenhang
von Wildfarbigkeit bei Hausschweinen und ihrer Seuchenresistenz als bloße „vorgefasste
Meinung“ zu bezeichnen (vgl. Nachtsheim 1933f: 202; Nachtsheim 1933g).
38
Nachtsheim 1932d: 11
39
Hier und nachfolgend: Nachtsheim 1933f: 205
40
Vgl. Nachtsheim 1934j bzw. Nachtsheim 1935a: 210.
41
In den nächsten Jahren blieb die Assoziation von Pigmenten und Krankheitserscheinungen
bzw. -anfälligkeiten weiterhin im Gespräch (Siehe die Übersicht in Nachtsheim 1938d: 95-97).
42
Vgl. Nachtsheim 1933d: 770.
266
Die Entwicklung, in der im experimentellen System der Pelzkaninchenzucht
neue Fragen und der pathologische Gegenstand auftauchten, folgte, wie ich gezeigt habe, einem ökonomischen Forschungsinteresse und der Mendelisierung
der Pelzwirtschaft. Als das pelzzüchterische Interesse aber mit der Loslösung
der Lähmungen vom Fellcharakter der Rexkaninchen abflaute, bedurfte es
eines neuen Interesses, damit die Lähmungen oder der pathologische Gegenstand nun dauerhaft ins Zentrum Nachtsheims Experimentalkomplexes rücken
konnten. Dieses neue Forschungsinteresse war die Eugenik. Dies macht deutlich, dass der erbpathologische Gegenstand der Eugenik vorausging. Er bildete
eine Kontinuität in Nachtsheims Forschung vor und nach 1933. Die Pigmente
und das Kaninchenfell der Rexkaninchen waren die unbeachteten ‚Akteure’, die
ihn hervorgebracht und damit die Möglichkeit zum Bruch in Nachtsheims Erkenntnisinteresse eröffnet hatten. Mit der eugenischen Neuausrichtung des Experimentalsystems brach Nachtsheim mit dem erkenntnisleitenden Interesse
der Pelztierzucht. Ermöglicht wurde dies durch die innovative Konstellation des
Experimentalsystems, dessen erbpathologische Hervorbringungen sich anboten, als vergleichendes Experimentalsystem fortgeführt zu werden.
6.1.3 Die Kaninchengesellschaft als Abbild des neuen erbhygienischen Staats
Das Interesse an der Erbpathologie, das die Diskussion mit den Kaninchenzüchtern freigesetzt hatte, wurde nun auch durch die prekäre Situation Nachtsheims an der Landwirtschaftlichen Hochschule gefördert. Seine Verwirklichung
ermöglichte der neue Institutschef, der seinen gleichaltrigen Kollegen darin
nachhaltig unterstützte. Alles war vorbereitet; es fehlte nur noch die Entscheidung, alle experimentellen Ressourcen auf das neue Ziel umzustellen und sich
dem Diskurs und der Sozietät einer neuen Forschungsgemeinschaft anzuschließen. Zwei Ereignisse bewirkten, dass Nachtsheim die Möglichkeit ergriff,
die vergleichende Erbpathologie 1934 zu seinem Forschungsprogramm zu
machen.
Zum einen wurde Nachtsheim aus seinem bisherigen Engagement in der
Pelztierzucht gedrängt. Im Zuge der Gleichschaltung der Tierzuchtverbände
wurde er im Mai 1933 als Vorsitzender des Reichsbundes deutscher Kaninchenzüchter (RDK) abgesetzt. Dem gingen erneute Streitigkeiten mit dem nun
sich nationalsozialistisch gerierenden Bund deutscher Kaninchenzüchter (BDK)
voraus.43 Obwohl der industrienahe RDK sich zur Gleichschaltung bereit zeigte,
geriet er, da der NSDAP fernstehend, ins Hintertreffen.44 Zum anderen wurde
43
Vgl. Jokisch 1933: 4.
Die Auseinandersetzung machte vor Denunziation nicht Halt. Nachtsheim wurde eine „‚jüdische Abstammung’ angedichtet“, dem BDK-Vorsitzenden umgekehrt eine Klassenkampfmentalität. N.s RDK bekannte sich zur Vernichtung von Klassenkampf, Liberalismus und Demokratie zugunsten der alleinigen Herrschaft der Volksgemeinschaft (vgl. Jokisch 1933: 2 u. 4; siehe
auch 1.2.5). Nachtsheim geriet aber in Konflikt mit dem Reichsfachbearbeiter für Geflügelzucht
und Kleintierzucht, Karl Vetter (siehe Seite 69). Dieser drohte N. „einen Erholungsurlaub im
Konzentrationslager“ an und setzte sich selbst als neuer Präsident aller deutschen Kaninchenzüchter ein (vgl. 20.3.1946, N.: Stellungnahme für die Amerikanische Besatzungsbehörde,
Intelligence Service, in: AMPG, Abt. III, Rep. 20B, Nr. 2). Es erscheint glaubwürdig, dass es zu
dem Streit mit Vetter kam. Angesichts der Erklärung des RDK hatte der Streit aber wohl nicht
die Widersetzung gegen die Gleichschaltung aus politischen Gründen, wie es N. 1946 darstellte, zum Inhalt, sondern eher konkretere Fragen der Organisation und Inhalte der Pelz44
267
im Juli 1933 das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GVeN), das
die Zwangssterilisierung von Menschen mit bestimmten Krankheiten und Anomalien regelte, beschlossen.45 Die NS-Regierung zeigte damit, dass sie Eugenik und Erbbiologie zu einem wichtigen Betätigungsfeld ihrer Politik machte.
Dies ließ einen erhöhten Forschungsbedarf erwarten.46 Hans Kappert argumentierte, um die wackelige Stelle seines inzwischen überalterten Oberassistenten
zu verlängern, dass Nachtsheims Forschungen „im Hinblick auf die Bestrebungen zur Bekämpfung der menschlichen Erbkrankheiten gerade jetzt von besonderer Bedeutung“ seien, da bei den Kaninchen experimentell der Erbgang von
Erbkrankheiten effektiver aufgeklärt werden könnte als jemals beim Menschen.47
In aller Deutlichkeit markierte Nachtsheim Ende 1934 in einer Reihe inhaltlich
nahezu identischer Artikel die Wende in seiner Forschung und ihren neuen Bezugspunkt. „Es gehört zu den Großtaten unserer nationalen Regierung, daß sie
in der klaren Erkenntnis der Bedeutung einer zielbewußten Rassenpflege für
Volk und Staat Maßnahmen [das heißt, das GVeN] getroffen hat, die Ausbreitung krankhafter Erbanlagen zu verhindern oder doch wenigstens möglichst einzudämmen.”48 Nachtsheim wendete sich in dem Artikel an ein breites wissenschaftlich vorgebildetes Publikum sowie an Tierzüchter und an Mediziner. Anhand seiner Kooperation mit Ostertag, die inzwischen auf ein weiteres Nervenleiden ausgedehnt worden war, und von Ausbreitungsszenarien von Erbleiden
zeigte er die Notwendigkeit eugenischer Maßnahmen auf. Die Population der
Kaninchen und ihre idealisierte Beschreibung im Schema der mendelschen
Vererbung diente als Matrix für den Rahmentext, in dem ein Szenario der „Ausschüttung“ krankhafter Erbanlagen und die „Verseuchung des kostbaren Erbgutes des Volkes“ skizziert wurde. Die Fragen, die daraus folgten, waren: „Wie
erkennt man diese Krankheiten, wie werden sie vererbt, und was haben wir zu
tun, um die Erbkrankheiten restlos auszumerzen?“49 Diese Fragen waren als
Auftrag an die Forschung zu verstehen, Entstehung und Verlauf sowie Art und
Weise der Vererbung von Krankheitsbildern beim Menschen zu studieren.50
Nachtsheim formulierte in diesen Artikel das Programm einer experimentellen
und vergleichenden Genetik. Dadurch, dass er in eindringlicher Weise die Beschränktheit der menschlichen Erbforschung schilderte, musste der methodi-
tierzucht. So sprach sich N. an anderer Stelle durchaus für Gleichschaltungsmaßnahmen aus
(vgl. Nachtsheim: Jahrbuch für wissenschaftliche und praktische Tierzucht [...] (Besprechung),
Landw. Pelztierzucht, 5, 1934: 30-31).
45
Am 14.7.1933 wurde das GVeN erlassen, am 1.1.1934 trat es in Kraft.
46
Nachtsheim: „Seit dem Jahre 1934 habe ich, angeregt durch das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, ein neues Forschungsgebiet zu begründen versucht, die vergleichende
und experimentelle Erbpathologie“ (7.12.1940, Nachtsheim an Dekan der Math.-Nat. Fak., in:
BA D, RME, ZB II 1869, Akte 2: Bl. 14). Ganz ähnlich äußerte sich N. gegenüber E. Fischer
nach 1945 (vgl. 12.4.1948, Nachtsheim an Fischer, in: AMPG, Abt. III, Rep. 20A, Nr. 25).
47
Vgl. 6.3.1935, Kappert an Verwaltungsdirektor der FWU (BA B, R 4901, 1526: Bl. 3) Ähnlich:
20.1.1937, Kappert an Dekan (UHUB, Univ.kurator, Nr. 1067: Bl. 143). Diesem Urteil schloss
sich die Führung der Dozentenschaft an. (vgl. 10.2.1937, Die Dozentenschaft der FWU an Rektor, in: ebd.: Bl. 124)
48
Nachtsheim 1934k: 525.
49
Hier und nachfolgend: Nachtsheim 1934k: 525
50
Vgl. Nachtsheim 1934l: 823.
268
schen Rückgriff auf die vergleichende Genetik und experimentelle Analyse als
unausweichlich erscheinen.
Notwendigkeit, Voraussetzung und Leistungsfähigkeit dieses Forschungsprojekts explizierte Nachtsheim am Kaninchen, ebenso wie er an ihm die „Ausschüttung“ der Erbkrankheiten veranschaulichte. In der Beilage Der Erbarzt des
Deutschen Ärzteblatts, die von Otmar Freiherr von Verschuer, Abteilungsleiter
am Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik, herausgegeben wurde, wendete sich Nachtsheim an Ärzte und Gesundheitspolitiker.51 Anfang des Jahres hätte er von einem Kaninchenzüchter den
Rammler „Fritz“ erhalten, an dem Ostertag Symptome der Schüttellähmung
oder Parkinsonschen Krankheit erkannt hatte. Nachtsheims Erbanalyse ergab
ein einfach mendelndes rezessives Leiden. Da der Rammler ein prämiertes
Zuchttier für Deutsche Widderkaninchen war, überlief es Nachtsheim „heiß und
kalt“: Es bestand die Gefahr, dass „unsere beste Wirtschaftsrasse“ durch eine
„durchaus krankhafte Erbanlage weitgehend verseucht wird“.52 In einem mendelschen Kreuzungsschema, das die Verbreitung der Erbanlage bis in die dritte
Generation zeigte, verdeutlichte er die „Verseuchung“. Mit Mühe, aber letztlich
mit den rationalen Argumenten der Wissenschaft war es Nachtsheim gelungen,
den Züchter von der Notwendigkeit zu überzeugen, „Fritz“ für die Allgemeinheit
zu opfern. Darauf wurden auch die Mutter „Erika“ und der Bruder „Ludwig“ von
der Fortpflanzung ausgeschlossen; denn es galt, alle erbkranken Tiere „auszumerzen“, um die „erbkranke Erbanlage in kürzester Zeit restlos zu vernichten“.53
Auf der Ebene der Erbanlagen unterschied diese martialische Ausdrucksweise schon nicht mehr zwischen Mensch und Tier. Der gezielte erbhygienische
Eingriff in das Fortpflanzungsverhältnis der Kaninchenfamilien setzte indes die
genaue Kenntnis der Erbverhältnisse der Schüttellähmung voraus. Diese Voraussetzung stellte aber für das erbhygienische Szenario beim Menschen wegen
der „Unmöglichkeit experimenteller Prüfung“ ein schweres Problem dar, sodass
es bei schwierigeren Fällen als „ein fast hoffnungsloses Unterfangen“ gelten
musste.54 Die experimentelle Genetik versprach, das Manko zu beheben.
Die Welt der Kaninchen und die Ordnung der Tierzucht war für Nachtsheim
in selbstverständlicher Weise Vorbild für die menschlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse. „[W]enn man jetzt durch rassenhygienische Maßnahmen die
Zukunft des Volkes zu sichern sucht, so bedeutet das die Anwendung jener allgemeinen züchterischen Grundsätze auf den Menschen, von denen hier die
Rede sein wird.“55 Genau genommen, traten aber Medizin und Tierzucht in ein
wechselseitiges Ergänzungsverhältnis. Je nach Perspektive war die vergleichende Methode für die Tierzucht oder die Medizin gedeihlich. Der Mensch und
die menschliche Pathologie konnten als „durchforscht“ gelten, die Haustierpathologie jedoch lag im Dunkeln. Die all zu scharfe Zuchtauswahl der Züchter
machte die Haustierpathologie vom Formenreichtum der Medizin abhängig,
während das Tier klinisch und pathologisch „durchforscht“ werden konnte, um
51
Vgl. Nachtsheim 1934h. Der Artikel erschien im Nov./Dez.-Heft 1934 von Der Erbarzt.
Nachtsheim 1934h: 37 u. vgl. Nachtsheim 1934k: 526.
53
Nachtsheim 1934h: 38
54
Nachtsheim 1934h: 38 bzw. Nachtsheim 1934e: 102
55
Nachtsheim 1936d: VIII
52
269
die Ätiologie pathologischer menschlicher Erscheinungsformen genetisch zu
fundieren.56 In dieser Weise konnte Nachtsheim auch im Kaninchenzüchter die
Bedeutung einer wissenschaftlich fundierten Erbpflege für die Welt des Kaninchens anhand des GVeN erklären. Beides stand für einander: Die Welt des Kaninchens und des Menschen bildeten je ein Supplement für die andere. Nachtsheim rechtfertigte dies mit der bisherigen „Erfahrung“, dass die Gesetzmäßigkeiten für Mensch und Tier in ganz der gleichen Weise gelten und insbesondere
„in der Zusammensetzung der Erbmasse und dem Zusammenwirken der Erbfaktoren bei Mensch und Tier, zum mindesten dem Säugetier, weitgehende Parallelen bestehen“.57 So mobilisierte Nachtsheim die Kaninchenzüchter zum
Dienst an der Allgemeinheit, indem sie ihre strenge Zuchtwahl zur Selektion von
Tieren für die Wissenschaft nutzen sollten.58 Kaninchenzucht und Eugenik als
Forschungs- und Staatsaufgabe erschienen nun untrennbar.
6.1.4 Indienststellung der Genetik für die „Erbpflege“: Verwissenschaftlichung
als Szientokratie
In der konsequenten Parallelisierung von Tierzucht und Gesundheitspolitik
knüpfte Nachtsheim an der von ihm bis dahin in der Landwirtschaft ausgeübten
Funktion des Experten an. So, wie die Tierzucht in den zwanziger Jahren zu
mendelisieren war, so war auch der Diskurs über Gesundheit noch in die Begriffe der Mendelgenetik zu bringen und der genetische Spezialdiskurs der
Öffentlichkeit zu vermitteln. Die lebensweltliche Verankerung erst würde die Anwendung des genetischen Wissens selbstverständlich werden lassen und zusammen mit seiner technischen Implementierung die Genetik festigen. „Dank
der Maßnahmen unserer nationalen Regierung steht die Vererbungslehre, die
vorher mehr oder weniger im Verborgenen geblüht hat, im Mittelpunkt des Interesses. Man hat die Bedeutung dieses jungen Zweiges der Lehre vom Leben für
Volk und Staat erkannt, und es soll heute nach dem Willen der Staatsführung
kein junger Deutscher mehr die Schule verlassen ohne mit den Grundtatsachen
der Erblehre, Rassenkunde und Rassenpflege vertraut worden zu sein.“59
Nachtsheim stellte sich ohne Umschweife hinter die „nationale Regierung“. Für
ihn bedeutete sie die Chance, dass der Genetik endlich die gebührende Stellung als leitende Zuchttechnologie in der Landwirtschaft und als Sozialtechnologie an der Schnittstelle von Gesundheits- und Bevölkerungspolitik eingeräumt
würde – die Genetik als wissenschaftliches und disziplinäres centre of calculations des Vererbungsdiskurses. Dies zu erreichen, erforderte die Karthasis der
experimentellen Rationalität. Das Medizinalwesens und überhaupt die ganze
neue Erziehung mussten sie auf sich nehmen, so, wie sie die Tier- und Kaninchenzüchter schon auf sich genommen hatten: „Die Vererbungslehre ist nun
aber, darüber müssen wir uns klar sein, keine leichte Wissenschaft, und ihre Ergebnisse weichen vielfach von den alten Vorstellungen über Vererbung ab, [...].
56
Nachtsheim 1934h: 36; vgl. Nachtsheim 1939d: 1; Nachtsheim 1937c.
Nachtsheim 1934h: 36; vgl. Nachtsheim 1934d: 814.
58
Vgl. Nachtsheim 1934l: 823.
59
Nachtsheim 1934i: 265
57
270
Es darf nur wirklich neuzeitliche Erkenntnis sein, die dem Volke vermittelt wird,
[...].“60
Nachtsheim führte genau das fort, was er bislang in der Landwirtschaft getan
hatte: die Stellung der experimentellen Vererbungslehre gegenüber ‚unwissenschaftlichen’ Positionen – „Aberglauben“ – auszubauen. Damit wurde sogleich
gegenüber den neuen Machthabern der Anspruch erhoben, alleiniger Sachverwalter in Fragen der Vererbung zu sein. Nachtsheim – und die Vererbungswissenschaftler insgesamt – versuchten in aggressiver Weise, die Gunst der Stunde zur Festigung ihrer Definitionshoheit zu nutzen, indem sie ihre Methode, ihr
Vererbungskonzept und ihr Bild vom Leben des Organismus bzw. von der Dynamik einer Gesamtheit von Individuen als verbindlich durchzusetzen suchten.
Dies bedeutete keineswegs eine Zügelung der nationalsozialistischen „Erbgesundheitspflege“.
Nachtsheim wandte sich mit diesem Impetus an das spezifische Fachpublikum und die interessierte Öffentlichkeit. Den Tierzüchtern und wissenschaftlich
Interessierten vermittelte er in aller Ausführlichkeit Sinn und Zweck des GVeN,
setzte seine Kampagne „Alte züchterische Vorstellungen in neuzeitlicher Beleuchtung“ fort und übertrug die Inhalte geradewegs auf die Humangenetik.61
Über Tageszeitungen wandte er sich an ein breiteres Publikum. Immer wieder
wurde deutlich, dass die Erbpathologie der Tier- und Humanmedizin – entsprechend dem wechselseitigen Verweisungsverhältnis – ausgebaut werden musste.62
Nachtsheim war nicht der einzige Genetiker, dem die nationalsozialistischen
Bekenntnisse zur Erbgesundheitspflege entgegenkamen. Indem die Genetiker
ihre Wissenschaft aktiv in die gesellschaftliche Diskussion hineintrugen, übernahmen sie bewusst Verantwortung. Im Interdiskurs der Genetik waren Erbbiologie und Eugenik untrennbar verbunden, wie das Beispiel der Röntgendiskussion gezeigt hatte. Mit verstärktem Engagement ging es nun daran, andere
Spezialdiskurse und den Alltagsdiskurs in der Einheit aus Erbbiologie und Erbhygiene umzuschreiben. Die Deutsche Heilpädagogische Gesellschaft veranstaltete 1933 für das Gesundheits- und Erziehungswesen eine „Erbbiologische
Vortragsreihe“. In 17 Vorträgen wurde von der germanischen Urgeschichte bis
zur „Wirtschaftsgesundung“ und künstlerischen Erziehung die Bedeutung der
Erbbiologie und Eugenik besprochen. Leben, Geschichte, Gesellschaft, Alltag,
Erziehung, Gesundheit – alles wurde unter dem rassenhygienischen Paradigma
und dem Primat der Vererbung neu geordnet. Neben den Vertretern des KWI
für Anthropologie, Otmar v. Verschuer, Hans Weinert und Heinrich Kranz, sprachen die Genetiker Max Hartmann vom KWI für Biologie, Hans Stubbe vom
60
Nachtsheim 1934i: 265
Vgl. Nachtsheim 1934k: 525. Die Beispiele kamen geradewegs aus der Kaninchenzucht. So
zeigte Nachtsheim anhand der „Kreuzung eines Negers mit einer Weißen“, dass – wie beim
Englischen Scheckenkaninchen – konstante Bastarde nach der mendelschen Vererbungslehre
nicht möglich sind (vgl. Nachtsheim 1934a: S. 3; Nachtsheim 1934j). Vgl. auch Nachtsheim
1934d; Nachtsheim 1935c; Nachtsheim 1935d; Nachtsheim 1935e; Nachtsheim 1936e.
62
Vgl. Nachtsheim 1937b; Nachtsheim 1937c; Nachtsheim 1937a; Nachtsheim 1938e;
Nachtsheim 1938f; Nachtsheim 1938b; Nachtsheim 1939c; Nachtsheim 1939h; Nachtsheim
1939i; Nachtsheim 1939f; Nachtsheim 1940c.
61
271
KWI für Züchtungsforschung sowie Paula Hertwig.63 Nachtsheim hatte sein
Debüt als Eugeniker und stellte klar, dass das ganze Volk mit Kenntnissen der
„neuzeitlichen“ Vererbungsforschung „gesättigt werden“ müsse, zumal sie
immer wieder durch die „mystischen Vorstellungen der vormendelistischen Zeit“
gefährdet würden.64
Die Genetiker und Genetikerinnen, die wie Nachtsheim, Hertwig und Stubbe
angewandt im landwirtschaftlichen Kontext forschten, waren nicht zufällig bereit,
ihren Spezialdiskurs zu verlassen. Diejenigen, die sich, wie Max Hartmann oder
Alfred Kühn, im engeren Rahmen der scientific community bewegten, sahen
ihre Aufgabe nicht in der Propagierung der Anwendung ihrer Ergebnisse. Sie
zeigten aber auch keine Berührungsängste und keinen Widerspruch. Kühn beispielsweise sorgte sich darum, dass die rassenhygienische Bedeutung der
unscheinbaren vitalitätssenkenden Mutationen genug beachtet wurde.65 Ein
anderes Beispiel ist der Königsberger Sinnesphysiologe Otto Koehler, gleichaltrig mit Nachtsheim und ebenfalls Schüler von Richard Hertwig, der auf die
neue Verantwortung der Erbforscher aufmerksam machte. Philosophen und
Staatsmänner hätten bislang den Rat des Genetikers verschmäht.66 Die Genetik sei aber Grundlage für das „volkspolitische Handeln unseres Staates“. Der
Erbforscher wolle die Verantwortung unter der Bedingung tragen, dass „man
auf uns hört und zu verstehen trachtet“.
Die unter dem Dach der genetischen Leitidentifikation vereinten Rassenhygieniker, Humangenetiker und Genetiker gaben ein Bild der Einheit ab. Dieses
Bild vermittelte zum Beispiel die Tagung der Deutschen Gesellschaft für Vererbungswissenschaft 1935 in Jena. Wie schon 1931 in München befassten sich
die Redner besonders mit den humangenetischen und landwirtschaftlichen Anwendungsbezügen. Vererbungswissenschaftler verschiedener Provenienz vereinten sich unter dem disziplinären Dach der Genetik und sahen sich im Aufwind:67 die botanischen und zoologischen Genetiker gegen Morphologen und
Paläontologen, die Züchtungsgenetik gegen die etablierte Zucht, die genetische
Ätiologie gegen Anatomie und Infektions- und Zellularpathologie. Der Botaniker
und Vorsitzende Otto Renner „sprach den hübschen Gedanken aus, die kleine
Schar der älteren Genetiker käme sich vor wie die Anhänger einer bisher nur
kleinen Sekte, deren Bekenntnis plötzlich zur Staatsreligion geworden sei. ‚Unser Glaube’, so etwa sagte er, ‚daß ein Volk außer dem, was es an Ewigkeitswerten bereits geschaffen hat, nichts Kostbareres besitzt als die lebendigen
Blutströme, aus denen ihm auch in der Zukunft die Kraft erwächst, weitere
Ewigkeitswerte zu schaffen, dieser Glaube ist zum Glauben des ganzen Volkes
und seiner Führer geworden.’”68 Auch auf der Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte im September unter der Devise „Im Dienste am Volk für
deutsche Wissenschaft in der Welt!“ stand die Vererbung im Mittelpunkt, und
63
Vgl. Elternberatungsstunde – Ärztlich-Pädagogischer Ratgeber für die deutsche Familie, 2,
1933. Im wiss. Beirat der Zeitschrift saßen u.a. O. v. Verschuer, P. Hertwig und H. Stubbe.
64
Nachtsheim 1933a; Nachtsheim 1934a: Seite 3
65
Vgl. Nachtsheim 1934b: 1170; vgl. auch Kühn 1935a: 73-78.
66
Hier und nachfolgend: Koehler 1935: 1260
67
Vgl. Roth 1986: 31.
68
O. Renner nach Just 1935: 138.
272
zentral war immer wieder ihre Anwendung in Medizin bzw. Landwirtschaft.69 Die
andienende Performanz dieses Kongresses zeigt, dass es keineswegs notwendig war, am politischen Diskurs teilzunehmen, um die kooperative Bereitstellung
der Wissenschaft für den „völkischen Staat“ zu versichern. Es reichte, nüchtern
die praktische Relevanz der Forschung anzudeuten und zum Rest zu schweigen. Die Genetiker nahmen dadurch eine durchaus politische Positionierung vor
und stellten sich selbst in den Dienst des neuen Staates.70
Die meisten Genetiker kehrten, nachdem sie ihre Ansprüche laut vorgebracht
hatten, ins Verborgene der Forschung und Wissenschaftsorganisation zurück.
Nachtsheim führte seine Kampagne weiter und behielt die Rhetorik „der großen
Tat“, um die konzertierte Aktion aus Wissenschaft und Politik zu beschwören,
bis in die vierziger Jahre aufrecht.71 Die Indienststellung der Wissenschaft gründete sich in Kontinuität. Seit den zwanziger Jahren war die gesellschaftliche Implementierung von naturwissenschaftlichem Wissen als Monopolwissen das Anliegen von Nachtsheim. Für Nachtsheim und die Genetik öffnete der „nationale
Staat“ die Möglichkeit, dieses Ziel umzusetzen. Die Ratschläge der Experten
und die Bereitstellung des genetischen Wissens für eine biologisierte Politik
drängten darauf, die Ausübung von politischer Macht durch Wissenschaft zu
lenken: Herrschaft als der direkte Ausfluss von Wissenschaftswissen. Der
Wahrheitsanspruch der Wissenschaft begründete unmittelbar politische Handlungsimperative. Dieser Wahrheitsanspruch war ‚szientokratisch’, da jede praktische Vermittlung zwischen wissenschaftlicher Wissensproduktion und gesellschaftlichen Handeln ausgespart wurde. Die Verwissenschaftlichung gesellschaftlicher Praxen und Lebenszusammenhänge, welche von den Genetikern
angestrebt wurde, gründete sich insofern in einer spezifischen und spontanen
Ideologie der Wissenschaft.72 Die Praxis der Wahrheit (naturwissenschaftliche
69
Vgl. Nachtsheim 1934b: 1170. Fragen der Genetik waren Thema in acht Vorträgen in der
Hauptversammlung und in weiteren in einzelnen Fachsitzungen.
70
Diese Bereitschaft wurde in der Ministerialbürokratie sehr wohl registriert – und sie wurde gebraucht. Der im RMI mit der Gesundheitspolitik führend beauftragte Min.Rat Arthur Gütt betonte
die Bedeutung der Erforschung der Erbkrankheiten und bat gezielt um die Mitarbeit der Humangenetiker bei der Erbgesundheitspolitik (vgl. 5.7.1933, Sitzung des Kuratoriums des KWI für Anthropologie, Sitzungsprotokoll, in: AMPG, Abt. I, Rep. 1A, Nr. 2404: Bl. 11). – Als Beispiel einer
expliziten Indienststellung kann das KWI gelten, dessen Direktor Eugen Fischer mitteilte: „Die
sämtlichen Mitarbeiter des Betriebes stellen sich selbstverständlich [...] zahlreichen allgemeinen
Aufgaben restlos zur Verfügung, die der neue Staat für seine biologische Bevölkerungspolitik
erforderlich hält“ (o.D., Fischer: Tätigkeitsbericht, 1.4.1935-31.3.1936, in: ebd., Nr. 3999).
71
In den vierziger Jahren behandelte Nachtsheim eher indirekt aktuelle Fragen zur Vererbungsbiologie. Auch in den Übersichtsartikeln für Spezialzeitschriften trat der Bezug auf das GVeN
und Gesundheitspolitik zugunsten nüchterneren Darstellungen seines Forschungsprogramms
zurück (vgl. Nachtsheim 1941a; Nachtsheim 1942a; Nachtsheim 1942d; Nachtsheim 1943a;
Nachtsheim 1944a bzw. Nachtsheim 1941b; Nachtsheim 1942b; Nachtsheim 1943c;
Nachtsheim 1944c; Nachtsheim 1944b).
72
Der praktische Diskurs wurde dadurch delegitimiert, dass seine Aussagen als ‚unwahr’ galten. Diese Begründung ist (unbewusst/spontan) ideologisch, da sie verschleiert, dass die Ableitung von Handlungsmaximen (Sollen) aus „Wahrheit“ (Sein) a priori eine praktische Entscheidung (Richtigkeit) voraussetzt. Die eugenische Sterilisation setzte nicht voraus, dass die Konsequenzen der Verhinderung „erbkranke“ Menschen als wahr, sondern als gut und richtig galten.
Der wissenschaftliche Diskurs bleibt also unvermeidlich an den gesellschaftlichen rückgekoppelt.
273
Methode) ließ alle praktischen Diskurse (Politik, Ethik, Moral, Sitte) ins Leere
laufen.73
6.1.5 Eugenisches Ikon, genetisches Krankheitskonzept und kühle
Radikalisierung
Wenn die Genetik den Anspruch formulierte, allein legitimiert zu sein, in Vererbungsfragen zu sprechen, so stellt sich die Frage, wie sie sich zur staatlichen
praktischen Umsetzung der Vererbungsbiologie stellte. Der Prüfstein war die
erste erbhygienische Maßnahme der neuen Regierung, das GVeN. Moralische
Bedenken seitens der Genetiker waren nicht wahrzunehmen, obwohl das Gesetz von 1934 durch die Möglichkeit von Zwangsmaßnahmen einschneidender
ausfiel, als das unter Beteiligung von Vererbungsforschern im Preußischen Landesgesundheitsrat entworfene Sterilisationsgesetz von 1932.74 Hingegen ließ
sich am GVeN eine spezifisch genetische Kritik formulieren, die sich konsequent aus der (populations-)genetischen Rationalisierung von Gesellschaft ergab: Aus den genetischen Grundlagen leitete sich eine mendelistisch gefasste
Degenerationslehre und Maßnahmen ab, an denen sich die „Gesundheitspolitik“ messen lassen musste.75 Die Maßnahmen mussten die Ausmerzung von
Erbkrankheiten oder wenigstens die „Eindämmung der Verseuchung des kostbaren Erbgutes des Volkes“ gewährleisten.76 Die genetische Spezifität bestand
in der Forderung, dass auch die „Träger krankhafter Erbanlagen“ an der Fortpflanzung gehindert werden sollten.77 Diese Schlussfolgerung, die den Kurzschluss von Wissenschaft und Politik exemplifiziert, verweist auf ein geschlossenes biologisches Weltbild, in dem sich die Konzipierung von Vererbung und
Bevölkerung zu bewegen vermochte.78 Die genetische Rationalisierung gesellschaftlicher Praxis brachte im Übrigen eigene Problemfelder hervor, die das
Wissen um medizinisch definierte Normalität und Abweichung strukturierten.79
Beides bestimmte die Haltung der Genetiker und Nachtsheims gegenüber eugenischen Fragen, wie sie jetzt genauer charakterisiert werden soll.
Die mendelsche Genetik trug Anfang der dreißiger Jahre zu einer Verschärfung der eugenischen Bedrohungsszenarien bei. Die richtige Metapher für den
Vorgang der Ausbreitung von Erbkrankheiten war deshalb die der „Verseuchung“, die im Unterschied zur „Epidemie“ die Unsichtbarkeit des Vorgangs
ausdrückte.80 Die Konzepte der mendelschen Genetik, ihre evolutionstheoreti73
Vgl. Weingart et al. 1992: 534 sprechen von „Entmoralisierung durch Professionalisierung“.
Das Mitglied, der Genetiker R. Goldschmidt, lobte später noch die Beratungen im Gesundheitsrat (vgl. Goldschmidt 1960: 230-31; zum Gesetzentwurf: Schleiermacher 1986: 80-82;
Weindling 1989: 454ff.; BA B, R 1501, 26243). – Fritz Lenz nahm für sich in Anspruch, sich
gegen die Zwangssterilisation gewendet zu haben. Er tat dies allerdings ausschließlich aus taktischen Gründen in der Annahme, die Bevölkerung sei so nicht für die Eugenik zu gewinnen
(vgl. Lenz 1934b; vgl. auch Bock 1986: 111-12).
75
Die erste Prämisse einer solchen Gesundheitspolitik war die ständige Ausbreitung „krankhafter“ Erbanlagen unter den Bedingungen der antiselektionistischen Zivilisation (Nachtsheim
1934k: 525). Die zweite Voraussetzung war, dass Erbkrankheiten „nicht heilbar“ waren (ebd.).
76
Nachtsheim 1934k: 525
77
Nachtsheim 1934k: 525. Herv. Verf.
78
Vgl. Roth 1986: 55.
79
Vgl. Kaufmann 1998: 363.
80
Nachtsheim 1934k: 526. In diese Richtung argumentiert auch Loeffler 1933: 200.
74
274
sche Interpretation und ihre Anwendung auf die Ebene der Population ermöglichten, die degenerative Bedrohung im geschlossenen Raum des Mendelismus
herzuleiten und zugleich ihre Steigerung. Die präzisierte Aufgabe der Rassenhygiene war es, „den Volkskörper nach Möglichkeit von den vitalitätssenkenden
Genen frei zu halten oder doch deren Vermehrung und Ausbreitung einzudämmen".81 Die neue zentrale Rolle der Mutation für die Genetik und ihre Verbindung zu variablen, vitalitätssenkenden und zumeist rezessiven Merkmalen bildete den Knotenpunkt des mendelgenetischen Bedrohungsszenarios.82 Die
Trias aus Mutation, Vitalität und Entlarvung trügerischer Gesundheit war der
Motor seiner Formierung.
Die ‚trügerische Gesundheit’ war eine Gesundheit, die in der Rezessivität,
also der momentanen Unwirksamkeit der bedrohlichen Mutationen gründete.
Die Verborgenheit der Mutationen war der Angelpunkt der Kritik am GVeN. Die
Verborgenheit des Erblichen ist aber auch als konstitutive Leistung des Mendelismus zu verstehen da sie auf der Trennung von Genotyp und Phänotyp beruhte. Das rezessive Gen – die Erbanlage ohne äußere Entsprechung – wurde
zum Symbol einer mendelisch gewendeten Eugenik.83 Roth hat am Beispiel des
Genetikers Timoféeff-Ressovsky diesen Zusammenhang aufgezeigt. Die genetische Reformulierung des degenerativen Katastrophenszenarios bezeichnete
er mit Blick auf die Internationalität dieser Entwicklung als „Neo-Eugenik“.84
Die Wirkung der Verborgenheitsrhetorik zeigte sich zum Beispiel in der Diskussion zwischen Genetikern und Medizinern um die Gefahr durch Röntgenstrahlen. Die Entlarvung der heimtückisch verschleierten Mutationen verwandelte eine begrenzte Bedrohung in das scheinbar zwingende theoretische Szenario einer an sich selbst gescheiterten Zivilisation. Die konzeptualisierte Unsichtbarkeit wurde zum Ausgangspunkt für Ansprüche an die Politik. Aus ihr folgte
Forschungsbedarf und Kritik an den rassenhygienischen Maßnahmen. In der
amerikanischen Genetik hieß es schon 1930, dass es eine der größten Entdeckungen der Biologie wäre, wenn die Träger rezessiver Gene erkannte werden könnten.85 Auf diesem Gemisch aus wissenschaftlicher Generierung eines
Problems und praktisch-politischem Diskurs basierte Nachtsheims Position als
Experte: „Wenn wir die menschlichen Erbleiden mit Erfolg bekämpfen wollen,
so müssen wir sie vor allem genau kennen.“86 Das – als Edelpelz untaugliche
– Rexkaninchen gerann Nachtsheim nun zum Musterbeispiel gegenüber Medizinern für die Bedrohung durch die Undurchsichtigkeit des Erbgeschehens und
die Verschleierung subtiler Konstitutionsschwächen.87 Das Erkenntnisinteresse
des „Kennen“ hieß deshalb ‚Erkennen’: Mittel und Wege zu finden, „die Anlage-
81
Kühn nach Nachtsheim 1934b: 1170
Vgl. Schubert & Pickhan 1938: 115-16 u. 136. Vgl. auch 2.2.
83
Die Bedeutung des Nicht-Sichtbaren wurde zudem durch die Beschreibung von Mutationen,
die unauffällige, physiologische Merkmale beeinflussen, sowie durch Konzepte ungeheuer gesteigert, die den Umfang der verborgenen Erbbeeinflussung erhöhten (Haupt-, Nebengene und
Genmilieu).
84
Roth 1986: 23-27 (bzw. Roth 1999: 351 u. 384)
85
Vgl. Kevles 1995: 197-98.
86
Nachtsheim 1941b: 261
87
Vgl. Nachtsheim 1934e: 102.
82
275
träger von den Erbgesunden auch phänotypisch zu unterscheiden“.88 Die Benutzung der vergleichenden Erbpathologie als diagnostisches Instrument zur
Identifikation von heterozygoten Erbträgern beruhte auf den feinen Differenzen,
die das mutationsgenetische Dispositiv möglich machte.
Die Unsichtbarkeit der Vererbung war eng mit dem Begriff von Krankheit und
der Klassifikation von Krankheit in der Medizin und schließlich auch der (lebensweltlichen) Wahrnehmung des Körpers verbunden. Beides manifestiert sich in
der Darstellung des Deutschen Widder-Rammler „Fritz“, der „mit 94 und 95
Punkten bewertet, aber Träger der krankhaften Erbanlage für Schüttellähmung“
war (vgl. Abb. 1). Der Kaninchenzüchter musste unter dem Objektivitätsregime
der Genetik lernen, seinen Blick über die körperliche Erscheinung des Kaninchens hinaus auf die unsichtbare materielle Resonanz seiner Genealogie zu
lenken.89
Abb. 1: Foto des phänotypisch gesunden Kaninchen „Fritz“, das nach Nachtsheim im
Genotyp rezessiv eine „krankhafte Erbanlage“ trägt. Der prämierte Rammler wurde auf der
Kaninchenschau, so die eugenische Logik, falsch bewertet, weil dieser Umstand nicht
beachtet worden ist.
Quelle: Zallen 1993b: 526.
Die „krankhafte Erbanlage“ war der Angelpunkt, über den die mendelgenetische
Transformation des rassenhygienischen Paradigmas lief. Wie in der Infektionsmedizin der Erreger vom Körper zu einem unabhängigen Dasein kam, so konnte die Erbanlage der „neuzeitlichen Erblehre“ (Nachtsheim) als Keim von Krankheit vom Körper getrennt werden. In den Wegen der Übertragung der Erbanlagen erschien der Körper als bloßer Träger und Übermittler des Keims. Die Erbanlage wurde zum ‚Pathogen’, da sie ein krankmachendes Potenzial in sich
barg. Doch im Gegensatz zum Infektionskeim waren die Erbanlage und ihr pathogenes Potenzial fest an den Körper gebunden. „[S]ie erlöschen nicht mehr
88
Nachtsheim 1934h: 38
276
wieder!“90 Der Körper musste also auch, wenn er nur potenziell der Ausdruck
der krankmachenden Erbanlage war, zum Ziel der Hygiene werden.
Diese Pathologisierung des Körpers blieb logisch vom Subjekt getrennt, woraus ein inhärenter Drang der Neo-Eugenik auf ein Neuarrangement des Gesundheitsbegriffs folgte. Ein mendelgenetischer verstandener Krankheitsbegriff
kam ohne alle phänomenologischen, klinischen oder Patienten-gebundenen
Kriterien aus. Nachtsheim etwa unterschied genotypische von phänotypischer
Gesundheit. Der komplexe medizinische Gesundheitsbegriff wurde zur „phänotypischen Gesundheit“ relativiert und bezeichnete nun nur noch die Abwesenheit von Leiden. Ein „äußerlich gesundes“ Individuum konnte hingegen „erbkrank“ sein oder umgekehrt.91 Die Begrifflichkeit der Gesundheit wurde zweigeteilt, allerdings nicht symmetrisch, da die ‚Erbgesundheit’ die phänotypische
Gesundheit affiziieren konnte und nicht umgekehrt.
Diese Hierarchisierung ging einerseits mit dem Gesamtprojekt einer genetisierten Ätiologie einher und andererseits mit einem neuen ‚medizinischen’
Handlungsbegriff konform. Gesundheitsbegriff und Ätiologie (und Nosologie)
konvergierten in der „krankhaften Erbanlage“. Dies führte Nachtsheim wiederum
am Rexkaninchen vor, an dem er zeigte, wie verschiedene Symptome über
eine Mutation im Zusammenhang stehen können oder, anders herum, sich äußerlich ähnliche Krankheitsbilder als genetisch unterschiedlich erweisen. Außerdem sei das äußerlich erkennbare Merkmal oft nicht das eigentliche, durch den
Erbfaktor hervorgerufene Merkmal.92 Gleiches gälte, so Nachtsheim, für die Medizin.93 Die Konsequenz, die sich aus der Rückführung von Krankheit auf Genwirkung ergab, war die Neubewertung von Symptomen und die Umwälzung der
Ordnung von Krankheiten.94
Der Umstand, dass „wir in Zukunft selbst Gesunde nicht ohne weiteres
mehr für erbgesund halten dürfen“, hatte, wie der Physiologie Otto Koehler erkannte, eine „äußerst folgenschwere praktische Bedeutung“.95 Der mendelgenetische Gesundheitsbegriff kristallisierte sich in der Kritik am GVeN. Er
wurde zu einem ‚gesundheits’politischen Begriff, dem zufolge die Erbanlage das
eigentliche Subjekt im Gesundheitsdiskurs war. Nachtsheim kritisierte im
Erbarzt die Begriffsbestimmung im GVeN, nach der nur an einer Erbkrankheit
leidende Menschen als „erbkrank“ galten.96 Die Stoßrichtung war klar: Ein Erbgesundheitsgesetz, das sich darauf beschränkt, nur erkrankte Individuen zu ste89
Genau diese Lehre machten die Gynäkologen, als nicht mehr die Unversehrtheit der geborenen Kinder oder die Histologie des Ovars, sondern die nur über die Kreuzungsanalyse erweisbare Materialität der Erbfaktoren das Zentrum des bestrahlten Körpers bildete (siehe Kapitel 5).
90
Vgl. Fischer 1930d: 15.
91
Vgl. Nachtsheim 1934k: 527; Nachtsheim 1934h: 38; Nachtsheim 1938c: 2.
92
Vgl. Nachtsheim 1934a: Seite 1.
93
Vgl. Nachtsheim 1934e: 97.
94
Zur Genetifizierung der Ätiologie und Nosologie: siehe 2.2.3. – Ein entsprechendes Problembewusstsein scheint sich in den dreißiger Jahren entwickelt zu haben (vgl. Timoféeff-Ressovsky
1935b: 113). Lenz erklärte die klinische Klassifikation für überflüssig und naturwidrig (vgl. Lenz
1934a: 251). Nachtsheim führte die Schwierigkeit seiner Epilepsieforschung auf die medizinischen Klassifikation zurück (vgl. Nachtsheim 1942e: 59). Um eine „primär genetisch gesehenen
klinischen Ordnung“ ging es Panse 1939: 108.
95
Koehler 1935: 1297
96
Vgl. Nachtsheim 1934h: 38; Gütt et al. 1936: 109 bzw. Kaiser et al. 1992:126.
277
rilisieren, wird keinen Erfolg haben. Nachtsheims eugenische Mission war eine
unmittelbar aus der Reformulierung der Eugenik in Termini der Mendelgenetik
abgeleitete politische Programmatik. Das Ikon des rezessiven Gens – in der
Silhouette des Widder-Rammlers „Fritz“ und seiner Nachkommen eingebrannt
(vgl. Abb. 2) – wurde zum Kristallisationspunkt Nachtsheims Gesundheitsforschung und Popularisierungen. Der durch die Deutsche Gesellschaft für wissenschaftliche Filme m.b.H. (Degewi-Filme) 1934 produzierte Film „Erbkranke
Kaninchen“, der mehrmals neuaufgelegt wurde, war ein effektiver Multiplikator
dieses Ikons.97 Die Kernaussage des Films war, dass auch die äußerlich gesunden Träger einer „krankhaften Erbanlage“ – in der Tierzucht – von der Fortpflanzung ausgeschlossen werden müssten. Der Verweis auf das GVeN fehlte
nicht.98
Fehler! Keine gültige Verknüpfung.
Abb. 2: Ikon der mendelgenetischen Eugenik. Zwei schematische Darstellungen eines rezessiven Erbganges und des Unterschieds zwischen gesunden einerseits und äußerlich gesunden, aber erbkranken Tieren andererseits. Letztere sind Träger einer „krankhaften“ – rezessiven –Erbanlage (Allel). Das heißt, einzeln manifestiert sie sich nicht im Phänotyp, erst
beim Zusammentreffen mit einem zweiten „krankhaften“ Allel (links). Das Schema der Kaninchensilhouette, in deren Zentrum sich das heterozygote Allelenpaar befindet, versinnbildlicht
den Kern des Degenerationsszenarios der mendelgenetisch gewendeten Eugenik (rechts):
die Konstruktion von „erbkranken, aber äusserlich gesunden“ Individuen.
Quelle: Weindling 1987: 37 bzw. 38.
Die Anwendung genetischer Konzepte auf die Eugenik beschränkte sich nicht
auf den engeren genetischen Diskurs, sondern beschäftigte seit Anfang der
dreißiger Jahre maßgebliche Kreise der Humangenetik und Rassenhygiene. Sie
interessierten sich für die mendelsche Sicht auf Manifestationsschwankungen
erblicher Krankheiten und ihre Bedeutung für die „Aufdeckung der in den einzelnen Individuen vorhandenen sozial wertvollen und schädlichen Dispositionen“.99
Den Rassenhygienikern war damit das ‚Problem’ der Träger rezessiver Gene
völlig bewusst. Der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene,
97
Vgl. 16.9.1935, Schw/Pr., Aktennotiz, Fernmdl. Nachtsheim (BA B, R 169, 15: Bl. 90-91).
1935 geriet die Gesell. unter Verdacht, sich unter der Vortäuschung eines Hochschulinstituts
(Medizinisch-Kinomatographisches Institut, in Räumen der Charité untergebracht) die freientgeltliche Mitarbeit von Univ.-mitarbeitern und staatliche Unterstützung erschlichen, die Filme
aber kommerziell vertrieben zu haben. Daraus wurde die Affäre um die „bösartige Geschicklichkeit des Juden Liebermann“. 1936 wird die Gesell. in die Reichsstelle für den Unterrichtsfilm
umgewandelt. (Vgl. BA B, R 169, 15.)
98
Nachtsheim 1938c: Seite 1-2 v. 4 (in: IGMH, SDNL Nachtsheim, Kasten Hered. N). Eine
Kopie des Films im AMPG (Abt. VII, F 116) ist „nicht mehr auffindbar“, eine weitere ist im
Bundesfilmarchiv vorhanden. In einem eigens entwickelten Trickfilmteil, durch den der Film als
Lehrfilm tauglich wurde, erschien das Ikon „Fritz“ mit seiner fürchterlichen Brut (vgl. 17.5.1934,
Nachtsheim an PML, in: GStA, I. HA, Rep. 87B, 20283: Bl. 383; zur Lehrfilmeignung: 25.8.1934,
Nachtsheim an PML, ebd.: Bl. 385).
99
Luxenburger 1932a: 44: „Die menschliche Erbforschung, auf deren Ergebnisse die Eugenik
aufbaut, kann nur bestehen in enger Verbindung mit der experimentellen Genetik“. Vgl. auch
12.2.1930, O. Vogt, Denks., Abzug (BA Ko, R 73, 169); Just 1934b (zu multipler Allelie); Just
1934a: 81; Lenz 1934b: 295; Luxenburger 1936: 36 (zu Manifestationsschwankungen);
Satzinger & Vogt 2001: 458. Siehe auch 7.1.2 u. 7.3.1.
278
der „Kampftruppe für die Förderung der Rassenhygiene“,100 Ernst Rüdin, betonte die Bedeutung der Forschung zur Verbesserung der Diagnose von Erbkrankheiten, da der Kampf nicht der „einzelnen Krankheit, sondern dem, was hinter
der Krankheit steckt, der krankhaften Anlage“, gelte.101 Ganz in diesem Sinne
äußerte sich v. Verschuer mit kritischem Blick auf das GVeN.102 In Abstimmung
mit staatlichen Stellen gehörte die Erkennung der „latenten Träger von krankhaften Erbanlagen“ und der „Teilerbträger einer polymer erblichen Krankheit“ zu
den Forschungsaufgaben des KWI für Anthropologie.103
Die Ausweitungs- und Radikalisierungstendenz in der genetischen Konzeptualisierung der „Degeneration“ ist unübersehbar. Nachtsheims eugenisches
Szenario, bei dem die gesamte Verwandtschaft eines erbkranken Kaninchens,
unangesehen seiner erblichen Konstitution, von der Fortpflanzung ausgemerzt
wurde, war ein Weg, „den wir freilich beim Menschen nicht gehen können“.104
Um auch latente Erbträger erbhygienisch erfassen zu können, musste zunächst
der Weg der Forschung eingeschlagen werden. „Gelingt uns mit der Zeit auch
bei rezessiven Erbleiden die phänotypische Unterscheidung der verschiedenen
Genotypen, so lassen sich die rassenhygienischen Maßnahmen weit erfolgreicher gestalten.”105 Von diesem Forschungsinteresse geleitet, gelang es Nachtsheim in den vierziger Jahren, eine Blutauffälligkeit zum effektiven Instrument zu
entwickeln, um rezessive Träger aufzuspüren, zu pathologisieren und der verstümmelnden Körperdisziplin auszuliefern.106
Es wäre verfehlt, diese durch die Genetik begründete Radikalisierung als
ideologisch motivierte Pseudolegitimation des eugenischen Programms abzutun, der nur „pseudowissenschaftliche“ Erkenntnisse zu Grunde lägen. Das
Gegenteil ist der Fall; denn die Radikalisierung war nicht der Kern der NeoEugenik. Mit dem gleichen Gestus des empirisch-analytischen ‚Rasiermessers’
und der gleichen Rhetorik einer Subjekt-losen, rein rationalen Objektivität
konnte die Kritik deshalb auch einen milden Anschein annehmen, wenn aus
jener Rationalität die Begrenzung der Sterilisierung folgte und Nachtsheim
beispielsweise im Fall der „erblichen Blindheit“ vor voreiligen Sterilisierungen
warnte.107 In der szientistischen Logik ging es aber nicht um Milde oder Härte
100
22.6.1934, H. Linden (RMI) an Rüdin (BA B, R 1501, 26245: Bl. 177-78)
Rüdin 1934: 230-31
102
Vgl. von Verschuer 1941: 201. – Der Statistiker Siegfried Koller empfahl ergänzende Maßnahmen zum Ausschluss der „gesunde Überträger“ und betonte die Bedeutung der Forschung
zum Erkennen von Heterozygoten (Koller 1935: 320-23). Zur weiteren Kritik am GVeN: siehe
Fußn. 128.
103
1935, Fischer: Tätigkeitsbericht Juli 1933-1.4.1935 (AMPG, Abt. I, Rep. 1A, Nr. 2404: Bl.
49c). Vgl. auch von Verschuer 1941: 201. – „Das gemeinsame Ziel aller dieser Arbeiten [Promotionen zu Erbkrankheiten wie Diabetes, Säuglings-Dystrophie, Rachitis] geht auf die Klärung
der Umwelteinflüsse und die Möglichkeit, auch verdeckte Krankheitsanlagen zu erkennen“
(22.6.1936, Fischer: Tätigkeitsbericht, 1.4.35-31.3.36, in: ebd., Nr. 3999: Bl. 75).
104
Nachtsheim 1934h: 37
105
Nachtsheim 1934h: 38
106
Siehe hierzu 7.4.2, Seite 358.
107
Nachtsheim berief sich auf Beobachtungen beim Tier, die zeigen würden, dass dieselben
klinischen Bilder auch durch Umweltwirkungen bewirkt sein konnten (vgl. Nachtsheim 1939e;
Nachtsheim 1939f). Der Hintergrund dieser Kritik war die Kontextualisierung der Gene in den
Konzepten der avancierten Genetik (Genmilieu und das Verständnis von Merkmalen als Produkte einer mehrschichtigen Phänogenese), die einfache Vererbungsverhältnisse desavou101
279
einer Ideologie, sondern um die praktischen Konsequenzen, die aus der atomistisch-mechanistischen Zerlegung des Menschen in Genbausteine zu folgern
waren. Den Radikalisierungsforderungen haftete deshalb eine gewisse Kühle
an – die Kühle technokratischer Schlussfolgerungen.
6.1.6 Technokratisches Bewusstsein und rassenhygienisches Paradigma
Die Problematik der gesunden Träger „krankhafter Erbanlagen“ war in den kurz
angesetzten Beratungen zum GVeN sehr wohl mitbedacht worden. Die radikalen Schlussfolgerungen der Wissenschaft mussten allerdings – 1934 zunächst
noch – durch die Politik gezügelt werden. Die Anlageträger blieben aus politisch-taktischen Gründen ausgeklammert, da die Sterilisierung äußerlich gesunder Menschen der Bevölkerung nicht vermittelbar schien.108 Das Gesetz gehorchte darüber hinaus einer eigenen Logik sozialtechnischer Regulierungsziele
der Gesetzgeber. Die Kommentierung des Gesetzes und die Gesetzespraxis
zeigen, dass sozial unterprivilegierte und ‚kostenintensive’ Bevölkerungsgruppen das vorrangige Ziel der Sterilisationen waren.109 Das durch die Wissenschaft zur Verfügung gestellte Wissen floss also nicht ungefiltert in die Politik
oder andere gesellschaftliche Bereiche. Im Prozess seiner Implementierung
unterlag das Expertenwissen Modifikationen, Anpassungen und Deformationen.
Die Spannung zwischen wissenschaftlicher Legitimierung und sozialpolitischer
Pragmatik löste sich aber darüber hinaus, wie die Gesetzeskommentatoren
feststellten, in der Festigung des „Primat und [der] Autorität des Staates, die er
sich auf dem Gebiet des Lebens, der Ehe und der Familie endgültig gesichert
hat“, auf.110 Das Gesetz erweiterte insofern das staatliche biopolitische Regulierungs- und Disziplinierungsregime, dessen Legitimierung grundsätzlich an das
wissenschaftlich inaugurierte rassenhygienische Paradigma gebunden war.111
Medizin und Biologie stellten Konzepte von Gesundheit – wie im Beispiel des
„Erbkranken“ – und damit ein Normalisierungswissen bereit, das in den Diskurs
um die sozialtechnische Regulierung der Bevölkerung einfloss.112 Die Macht der
Regierung und der Verwaltung unter den Bedingungen der „Biomacht“ stützt
sich nach Foucault auf den legitimen und monopolisierten Anspruch der Wisierten. Auf dem „festen Boden der Genetik“ ließen sich letztlich keine „einzelnen an sich
wertvollen oder schädlichen Erbfaktoren“ bestimmen (vgl. Hagedoorn 1935: 512; siehe auch
4.2.2.1).
108
Vgl. Gütt et al. 1934: 60 u. 109; Bock 1986: 93. – Im Gegensatz dazu ermöglichte die
Regelung im Gesetzentwurf des Preuss. Landesgesundheitsrates von 1932 ausdrücklich die
Sterilisierung von „Anlageträgern“ (Abschrift in: Nachtsheim 1952b: 61). – 1933 wurden – der
genetischen Erkenntnis über die Gefahr durch subtile Mutationen folgend – gerade die
leichteren Fälle als sterilisierungsbedürftig eingestuft (vgl. Gütt et al. 1934: 117). – Die Zwangssterilisation stieß in der Bevölkerung (außerhalb der Anstalten) auf Widerspruch (vgl. Rothmaler
1991: 166 u. 177ff.; Anm. 138). Besonders heikel war die Sterilisierung bei
Körperbehinderungen, wenn Therapiemöglichkeiten bestanden (vgl. Thomann 1994: 213). „Das
Volk“ verstehe nicht die genetische Logik hinter solchen Maßnahmen (2.7.1941, Fischer an v.
Verschuer, in: UAM, NL v. Verschuer, Nr. 9).
109
Vgl. Schmuhl 1987: 157; Rothmaler 1991: 130.
110
Vgl. Gütt et al. 1934: 5.
111
Vgl. Schmuhl 1987: 46 u. 70-71; zu Nationalsozialismus und Biopolitik, vgl. Foucault 1999a:
300-01.
280
senschaften auf Wahrheit.113 Die „Biomacht“ stützt sich auf wissenschaftlich legitimierte Normen.114 Auf die Wissenschaft gewendet, bedeutet das, dass die
Produktion von (techno-sozialen) Normen und ihr Transfer zu einer wesentlichen Tätigkeit des Wissenschaftsbetriebs werden.
Der – bruchlose – Transfer des wissenschaftlichen Wissens und der aus ihm
entwickelten Techniken in andere gesellschaftliche Bereiche ist auch als Technokratie gefasst worden.115 Technokratie meinte insbesondere die Ausrichtung
politischen Handelns an den Zwängen der Logik des wissenschaftlich-technischen Fortschritts.116 Sozialdarwinismus und Rassenhygiene sind in diesem
Sinne als die Anwendung der instrumentell-objektivierenden Vernunft auf soziale Bereiche, sprich als Sozialtechnik, gedeutet worden.117 Das heißt, an die
Stelle des intersubjektiven Bezugs auf Normen und Werte tritt der ‚objektive’
Sachzwang des Fortschritts der technischen Verfügungsgewalt. An die Stelle
von Richtigkeit tritt ‚Wahrheit’ bzw. Objektivität. Der neuen Legitimationsform
von Machtpraktiken entspricht ein „technokratisches Bewusstsein“, dessen Kern
die Eliminierung des Unterschieds von Praxis und Technik ist.118
Ohne über die Manifestierung einer technisch-operativen verwaltenden Herrschaftsform in der Bildung und Ausführung des GVeN hier befinden zu wollen,
lässt sich doch zumindest die Performanz der wissenschaftlichen Rede als
„technokratisches Bewusstsein“ genauer charakterisieren. Weiter oben ist darauf hingewiesen worden, dass sich in den Forderungen der Genetiker die gesellschaftliche Praxis als direkter Ausfluss wissenschaftlichen Wissens darstellte und die Elimination des praktischen Diskurses widerspiegelte. Moralische
Fragen stellten sich nicht. Die widerspruchslose und selbstverständliche Akzeptanz des GVeN in der scientific community der Genetik – auch über Deutschland hinaus – steht damit in Einklang.119 Widerspruch wurde innerhalb der
Dichotomie von wissenschaftlicher Rationalität und Pseudowissenschaft als
112
Zur Charakterisierung der medizinischen und biologischen Leitdiskurse, vgl. Link 1999: 80,
227 u. 277ff.; zum Zusammenhang von Normalisierung u. Gesundheit, vgl. Hess 1997; Sohn,
Mehrtens 1999; Hess 1999; zu „Medizin als Macht-Wissen“, vgl. Lemke 1997: 138 u. 234ff..
113
Foucault 1992: 122 u. 42; vgl. Lemke 1997: 328-31. – Mit „Biomacht“ bezeichnet Foucault
die Form der Machtausübung, die auf die Kontrolle von „Bevölkerung“ abzielt (vgl. ebd.: 134).
114
Wissenschaftliches Wissen ermöglicht Machttechnologien zur Disziplinierung des Körpers
und Regulierung der Bevölkerung, welche die Machtausübung durch das Gesetz tendenziell
durch die Regierung der Norm ersetzen. Disziplin und Regulation sind durch die Norm verknüpft
(vgl. Foucault 1999a: 289 u. 292-93). Der Weg für diesen technologischen Szientismus wurde
durch die Trennung von Normalität und Normativität im 19. Jahrhundert frei gemacht (vgl.
Schuller 1999: 124).
115
Der Begriff steht in einer Traditionslinie soziologischer und gesellschaftstheoretischer Entwürfe, welche die wachsende strukturierende und konstitutive Rolle wissenschaftlicher Rationalität für die gesellschaftliche Praxis, Ordnung und Herrschaftsform in modernen Gesellschaften thematisieren. Gemeinsam ist ihnen die Beobachtung, dass seit Ende des 19. Jahrhundert
die wissenschaftlich-technische Zweckrationalität, angefangen mit der Verwissenschaftlichung
der Technik, alle gesellschaftlichen Bereiche erfasst (vgl. Habermas 1968: 79-80; vgl. auch
Marcuse 1970: 169-70; Stehr 1994: 420ff.).
116
Vgl. Schelsky 1965: 453.
117
Vgl. Weingart et al. 1992: 161ff..
118
Habermas 1968: 88 u. 91.
119
Der Wiener Vererbungswissenschaftler Julius Bauer ist meinem Wissen nach die einzige
kategorisch ablehnende Stimme. Er berief sich auf interne wissenschaftliche Gründe und kritisierte die deutsche Wissenschaft im Ganzen (vgl. Bauer 1934; Bauer 1935).
281
irrational abklassifiziert. Irritationen traten nur an den Stellen auf, wo die politische Umsetzung nicht aus der wissenschaftlichen Erkenntnis herleitbar erschien. Diese technokratische Struktur offenbarte sich in Aussagen, wie der,
dass „alle politischen, weltanschaulichen und religiösen Dogmen, welche [den]
von Pflanze und Tier abgeleiteten Grundsätzen der Natur widersprechen, falsch
und schädlich sind".120 Das Beispiel Nachtsheim zeigt, dass zur Rolle des Experten ein unpolitisches Selbstverständnis gehörte.121 An die Stelle der Politik
trat im technokratischen Bewusstsein Verwissenschaftlichung. In diesem typischen Selbstverständnis von der ‚Wertfreiheit’ der eigenen Tätigkeit gründete
die Selbstverständlichkeit im Anspruch auf unmittelbar politischen Zugang.122
Hinter dem technokratischen Selbstverständnis und der Performanz des Wissenschaftlers als bloß unpolitischer Treuhänder ‚wahren Wissens’ kann sich die
Verschleierung der Funktion von Wissen in modernen Gesellschaften vollziehen.123 Auf diese Weise erschienen die sozialtechnischen Handlungsimperative
der Eugeniker als interessenloser und wertneutraler Ausfluss wissenschaftlicher
Erkenntnis. Die opake Verknüpfung von Rechtfertigung und Wahrheit (resp. Objektivität) ereignete sich mit der Benennung des epistemologischen Status der
mendelschen Erbregeln. Alle Maßnahmen für die „Erbgesundheit und Rassereinheit“ basierten nach Fischer auf der absoluten Sicherheit der Erkenntnisse
der naturwissenschaftlich-medizinischen Forschung; ihre Gültigkeit sei so groß,
dass „wir (im biologischen Sinne des Wortes) von Gesetzen sprechen müssen“.124
Dennoch hatte die Rede Otto Renners vom „Glauben“125 der Genetik ihre Berechtigung. Gemeinsam ist der Unterscheidung einer technokratischen und
einer ideologischen Teilhabe an der gesellschaftlichen Praxis, dass sie mit der
Annahme vereinbar sind, bei der Wissenschaft handele es sich tatsächlich um
eine eigene gesellschaftliche Sphäre objektiven Wissens. Diese Arbeit teilt die
Auffassung, dass der „Schein des Objektivismus“126 nicht nur auf die Interessen- und Wertfreiheit von Theorie zutrifft, sondern umfassender auf die wissenschaftliche Praxis angewendet werden muss. Die empirische Geltung von Aussagen wird beispielsweise innerhalb eines sozialen Raums wissenschaftlicher
Aktion und Kommunikation hergestellt.127 Die deutschen Spezialwissenschaften
120
Rüdin nach Nachtsheim 1934b: 1173
Vgl. 1.1. Dies widerspricht in gewissem Sinne der Harwoodschen Unterscheidung zweier
Denkstile in der deutschen Genetik, nach der sich die Gruppe pragmatischer Genetiker durch
die Bereitschaft zur Politisierung auszeichnete (vgl. Harwood 1993: 189, 269-70 u. 306). Die
Politiknähe scheint unter der Kategorie des technokratischen Bewusstseins nur von beschränktem diskriminatorischen Wert. Vielmehr ähnelten sich Pragmatiker und Mandarine in dem Verständnis, dass die Anwendung der Wissenschaft auf Gesellschaft fundamental unpolitisch war.
Dies zeigte auch das Beispiel der ‚anwendungsfernen’ Forschung Kühns, der durchaus eine
Instrumentalität inhärent war, auch wenn Kühn nicht so sehr zur Rolle des Experten neigte (vgl.
4.2.1).
122
Vgl. Mehrtens 1990: 41, 47 u. 53; Szöllösi-Janze 2000: 49.
123
Insofern in der Fetischisierung der Wissenschaft ein allgemeines, emanzipatives Interesse
verschleiert wird, kann das technokratische Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft auch
als ideologisch begriffen werden (vgl. Habermas 1968: 88-89).
124
Fischer 1940: 247-48
125
Vgl. Zitat auf Seite 271, Fußn. 68.
126
Habermas 1968: 149
127
Vgl. zum Beispiel Fleck 1994: 54.
121
282
entschieden demnach kollektiv gemäß ihrem Denkstil über die Erblichkeit bestimmter Krankheiten und die Wissenschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit des
GVeN.128
Nachtsheim repräsentiert den Prototyp eines „technokratischen Bewusstseins“ und des unpolitischen Forschers, dessen Verpflichtung und einziger
Glaube die Wissenschaft war. Neben dieser technokratischen Form der Verwissenschaftlichung koexistierte die ‚traditionelle’ Verankerung des rassenhygienischen Paradigmas. Der Humangenetiker v. Verschuer zum Beispiel verwechselte nicht den kategorialen Unterschied zwischen eugenischer Sozialtechnologie129 und Legitimität von Handlung. Er begründete seine eugenische
Sicht nicht allein im nomologischen Selbstverständnis der empirisch-analytischen Wissenschaft, sondern in letzter Instanz ethisch und ideologisch.130 Während Nachtsheim 1952 bereits wieder eugenische Sterilisationen forderte und
ungebrochen auf das Problem der rezessiven Erbträger hinwies, verfiel v. Verschuer in Sinnfragen.131
128
Kritik zur praktischen Nutzlosigkeit der eugenischen Sterilisierung stellte keinen innerwissenschaftlichen Widerspruch dar. Die Eigenschaft einer solchen immanenten Kritik war es eher,
dass sie schnell in ihr Gegenteil umschlug. Bspw. Kritisierte der amerikanische Genetiker Reginald C. Punnet die eugenische Sterilisation wegen ihrer geringen Wirksamkeit. Populationsgenetischen Berechnungen nach brauchte es Hunderte von Generationen, bis Krankheitsinzidenzen deutlich gesenkt wären (vgl. Punnet 1917; Weingart et al. 1992: 340; Kevles 1995: 165).
Die Rechnung wurde aber ‚erfolgreicher’, wenn die „verdeckten Erbanlageträger“ rechnerisch in
die Sterilisation mit einbezogen wurden. Nach Kroll erwies sich gerade darin die Schwierigkeit
der Kritiken an der Rassenhygiene, dass sie dieselben szientistischen Überzeugungen teilten
(vgl. Weingart et al. 1992: 315 u. 535). – Den deutschen Genetikern war bewusst, dass das
GVeN unzureichend war. Ihre Zustimmung war ein ‚wissenschaftlicher’ Kompromiss mit den
staatlichen sozialtechnischen Interessen. Aus der Kritik, das GVeN sei „ein Schlag ins Wasser“,
ergab sich für Luxenburger zum Beispiel bloß weiterer Forschungsbedarf zur Erfassung der
rezessiven Erbträger (vgl. Luxenburger 1936: 33 u. 36; vgl. auch Koller 1935: 320-23).
129
Vgl. Weingart et al. 1992: 143.
130
Als praktizierender Christ war v. Verschuer von anderen Sinnhorizonten berührt und in moralische Diskurse eingebunden. Ärztliches Handeln betrachtete V. unter der Perspektive der Individualethik. In der ärztlichen Heilkunst solle der Gegensatz von Individuum und Allgemeinem
vereinigt werden. Diese Nivellierung ergab sich daraus, dass die Eugenik für mehr individuelle
Menschen die Verantwortung übernehme und ihr damit die Priorität zufalle. Folglich konnte das
Wohl des lebenden Menschen“ unter das „kommende[r] Geschlechter“ gestellt werden (von
Verschuer 1931a: 935). V. fand nach 1933 den Anschluss an ein organizistisches Staatsverständnis und die nationalsozialistische Ideologie, nach der der Gegensatz vom Einzelnen und
Allgemeinen in der kompromisslosen Unterwerfung des Einzelnen als Glied übergeordneter
Ganzheiten – „Familie, Rasse und Volk“ – aufgelöst wurde (von Verschuer 1934). Im theologischen Diskurs wurde Erbkrankheit als Ausdruck des Bösen oder einer gestörten Naturordnung
konnotiert (vgl. Schleiermacher 1986: 79; Schleiermacher 1998: 235, 265 u. 281).
131
Vgl. Nachtsheim 1950c bzw. Nachtsheim 1952b: 51. Nachtsheim betonte, dass das GVeN
frei von jeder Ideologie sei und entrüstete sich über Bundestagsabgeordnete, die seiner
Meinung nach nicht sachlich urteilen konnten, weil sie (partei-)politisch oder konfessionell
dachten (vgl. Nachtsheim 1963b: 115-16). – Verschuer besann sich nach 1945 zunächst auf
den Glauben. Bemerkenswert ist, wie zielsicher V. den Widerspruch zwischen Individual- und
Ethik der „Ganzheiten“ benannte und seine Ursache in der technokratischen Rationalität eines
rein naturwissenschaftlichen Menschenbildes erkannte. (v. Verschuer: „Aber wir müssen Ernst
machen der rationalen Betrachtung des Lebens. [...] Als Darwinist würde man sofort die Erklärung bei der Hand haben; [...] Was dann für die verstandesmäßige Betrachtung übrig bleibt, ist
eben ein Haufen von kränklichen, mißgestalteten, körperlich und geistig defekten Menschen,
[...] Wie ganz anders ist demgegenüber die Betrachtung des Menschen, wie sie uns Christus
gelehrt hat. [...] So hat sie aus dem „Sauhaufen“ eine Gemeinde von seligen und gläubigen
Menschen gebildet, die über alle Mängel des Lebens hinwegsehen und auch in der tiefsten Not
283
Abschließend kann festgestellt werden, dass Nachtsheim – und die Genetiker insgesamt – sich am biopolitischen Interdiskurs rege beteiligten und die
Möglichkeiten der Forschungspolitik nach 1933 ohne Zögern wahrnahmen. Ihre
Zustimmung zur Erbgesundheitspolitik manifestierte sich nicht zuletzt im selbstzufriedenen Schweigen über die Anerkennung der Relevanz des genetischen
Wissens. Die restriktive Selbstdefinition der Disziplin und die szientistische Haltung vieler ihrer Protagonisten bedingte eine Interessenpolitik, die politische und
moralische Erwägungen ausblendete. Die avancierte Genetik hatte es geschafft, den rassenhygienischen Diskurs zu dominieren.132 Die Folge davon
war, dass sie zu seiner Radikalisierung beitrug.
6.2
Die Genetifizierung der Epilepsie und die vergleichende
Erbpathologie in der Praxis
„Niemals zuvor in der deutschen Geschichte waren wissenschaftliche Funktionseliten
133
dem Zentrum der Macht so nahe...“
Nachdem die Selbst-Indienststellung der Genetik dargestellt worden ist, soll es
darum gehen, wie dem durch die „Erbgesundheitsgesetze“ geweckten Bedarf
an vererbungsbiologischer Expertise entsprochen werden konnte. Nachtsheim,
dessen Experimentalkomplex von nun an zwischen allgemeiner Erbpathologie
und erbbiologischer Anwendungstechnik oszillierte, orientierte sich bei der
Auswahl seiner Forschungsgegenstände am Indikationskatalog des GVeN.134
Insbesondere wurde die Epilepsie zum geeigneten Testfall der vergleichenden
Kaninchengenetik. Es zeigt sich aber, dass Nachtsheims Experimentalkomplex
erst Ende der dreißiger Jahre auf die Probleme der „vergleichenden Erbpathologie“ festgezurrt wurde.
Wissenschaft und Medizin hatten eine entscheidende Rolle in der inhaltlichen
Ausgestaltung des GVeN gespielt. Die Gesetzespraxis war nun auf die Möglichkeit angewiesen, „Erbkrankheiten“ zu diagnostizieren. Eine verlässliche Diagnostik setzt prinzipiell die richtige Klassifikation von Krankheitszeichen und
Befunden voraus. Es muss also ein Reglement entwickelt werden, wie Zeichen
gesammelt und Testergebnisse erstellt und bewertet werden, um einen „Fall“
einer spezifischen Krankheit zuordnen zu können. Die medizinische Wissenschaft nahm den unausgesprochenen Auftrag des Gesetzes an. Am Beispiel
der Diskussion um die Epilepsie lässt sich dies exemplarisch zeigen. Bei genauerem Hinsehen enthüllt sich darüber hinaus, dass sich die Klassifikation der
Epilepsie in einem diffusen, noch flüssigen Zustand befand, nicht geeignet, den
formalen Anforderungen eines solchen Gesetzes gerecht zu werden.
und im größten Leid glücklich sind [...].“) Verschuer ermunterte de Rudder zu grundsätzlichen
Gedanken über „Besinnung auf Grenzen des Rationalen“, da „die Grundmauern unseres Lebens insgesamt erschüttert sind“. Trotz „Bankerott der Eugenik“ sei ihr aber noch ein bescheidener Platz in der Medizin gesichert. (4.12.1945, v. Verschuer an de Rudder, in: UAM, NL
Otmar v. Verschuer, Nr. 8: S. 2-3 v. 4 )
132
Vgl. Weingart et al. 1992: 556.
133
Schmuhl 2001b: 188
134
Vgl. Nachtsheim 1939c: 413; Nachtsheim 1941b: 261.
284
Jenseits der Praxis des GVeN und der Interessenidentität zwischen Psychiatern und Gesundheitspolitik entwickelte der psychiatrische Diskurs eine eigene
Dynamik. Zwischen staatlichen Erwartungen, Forschungsstand, eigenen Forschungsinteressen, ärztlichem Ethos und den Anforderungen des wissenschaftlichen Betriebs konstituierten sich die Handlungsmöglichkeiten. Die epistemologische Frage, wie die „erbliche Fallsucht“ überhaupt hergestellt wurde, ist nicht
eindeutig vom moralisch-politischen Diskurs zu trennen.
6.2.1 Genetifizierung der („)Epilepsie(“)
Für Menschen, die an Epilepsie litten, bedeutete das GVeN, dass ihre Krankheit
sie in die Gefahr brachte, zwangsweise operativ sterilisiert zu werden. „Erbliche
Fallsucht“ war nach §1(2) eine der acht Bestimmungen, nach denen eine Person „nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft“ (§1(1)) als „erbkrank“
einzustufen war. Eine Besonderheit der Gesetzeskonstruktion war, dass Ärzte
Richter, Ankläger und Sachverständige in einem waren. Als Wissenschaftlern
stellte sich ihnen umso mehr die praktische Frage, wie erbliche und nichterbliche Formen einer Krankheit „einwandfrei“ unterschieden werden konnten. Ein
aussagekräftiges Diagnoseverfahren musste zwischen Ansprüchen des akademischen Reglements und der praktischen Durchführbarkeit vermitteln.
Die psychiatrische Wissenschaft war Vorreiterin in der Anwendung von Vererbungskonzepten in der Medizin. Anfang der dreißiger Jahre war zum Beispiel
die Auffassung weitgehend Konsens, dass die Schizophrenie eine erbliche
Krankheit sei.135 Die Diskussionen über die ökonomische wie degenerative Bedrohung durch Geisteskranke, Epileptiker oder Schwachsinnige, war einer der
Katalysatoren in der Weimarer Republik, die die Hegemonie rassenhygienischer Interpretationsmuster im politischen und kulturellen Diskurs und die Ausbreitung sozialtechnischer Handlungskonzepte beförderten.136
Das Bild, das die Fachdiskussion um die „erbliche Fallsucht“ indes bot, steht
im krassen Gegensatz zu der Feststellung der Gesetzeskommentatoren: „Der
erbwissenschaftlichen Erforschung der Krankheit gelang es, aus der großen
Anzahl von Krankheiten, bei denen der epileptische Anfall als Gelegenheitsereignis betrachtet wird, ein geschlossenes Krankheitsbild [der erblichen Epilepsie] herauszuheben [...] Diese Form der Epilepsie, gleichgültig, ob sie als genuine, essenzielle usw. Epilepsie bezeichnet werden mag, zeichnet sich dadurch
aus, daß sie erblich ist. Sie soll durch das Gesetz erfasst werden.“137 Dieser
optimistischen Ansicht widerspricht die Feststellung, dass die Diagnosestellung
oftmals spekulativ war oder anderen Interessen folgte.138 Tatsächlich war noch
135
Vgl. Roelcke 2002: im Erscheinen. Die Psychiatrie war es auch, die insgesamt unter der
Belastung von Verbrechen an Geisteskranken steht (vgl. Baader 2002: 218-19).
136
Vgl. Siemen 1991: 196-99.
137
Gütt et al. 1936: 140
138
Auf die Durchführungspraxis des Gesetzes kann nicht näher eingegangen werden. Wichtige
Aspekte seien aber kurz aufgezählt: Rothmaler (1991) zeigt am Beispiel der Erbgesundheitsrechtssprechung in Hamburg, dass der größte Teil der Indikationen „Schwachsinn“ aufführte.
„Erbliche Epilepsie“ dagegen spielte wie andere Diagnosen auch eine deutlich untergeordnete
Rolle (12 % der Beschlüsse der Erbgesundheitsgerichte (EEG)). Die Untersuchung der Begründungen der Diagnosen und der sozialen Merkmale der verurteilten Personen zeigt die spekulative Basis der Diagnosen. Zum Beispiel beurteilten verschiedene EEGs denselben „Fall“ völlig
285
nicht einmal das Krankheitsbild der Epilepsie gegenüber anderen psychiatrischen oder neurologischen Erkrankungen klar abgrenzbar. Psychiater und Kliniker sprachen von den „Anfallsleiden“ und „Krampfleiden“, die alle Krankheitsbilder umfassten, denen als besonderes Symptom der „Krampfanfall“ zukam.
Krampfanfälle waren aber nicht im Geringsten ein einheitliches Gebilde.139 Bei
der Diagnose kam es auf subtile Feinheiten an; doch die zur Verfügung stehenden Methoden waren alles andere, als was von ihnen erwartet werden musste:
„[...] mit größter Genauigkeit [zu] funktionieren, da der Arzt bei ihrer Anwendung
und Auslegung in vielen Fällen vor der heiklen Situation steht, einen sich bisher
vielleicht vollkommen gesund fühlenden Menschen zum Epileptiker [...] zu
stempeln, in anderen Fällen vielleicht einen sich krank Fühlenden aber als gesund erklären zu müssen.“140 Ein sicherer Test, der die Diagnose Epilepsie bei
einer ambulanten Untersuchung gestattete, war deshalb schon länger gesucht.
Er sei für die neurologische Gutachterpraxis und auch „in Bezug auf Ersparnis
an öffentlichen Mitteln [...] von größter Bedeutung“.
Das Gleiche galt für die Unterscheidung von „erblicher“ und nichterblicher
Epilepsie, die mit Verabschiedung des GVeN zur vorrangigen Aufgabe der Forschung wurde. Die Unterscheidung und ihre Geschichte spiegelt sich in dem
Begriffspaar „genuine“ und „symptomatische“ Epilepsie wider. Die Geschichte
der Bedeutung und diskursiven Verwendung dieser Begriffe ist wechselvoll. Sie
kann hier nur so weit skizziert werden, um ein Schlaglicht auf den gewandelten
Stellenwert der Vererbung in der Epilepsieforschung zu werfen.
Die Unterscheidung in symptomatische und genuine Epilepsie wurde von
dem Anatom Nothnagel in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts eingeführt. „Genuin“ bezeichnete demnach noch Anfang der zwanziger Jahre solche
Fälle, denen keine äußere Ursache zuzuordnen war. Die Auffassungen gingen
dahin, dass die Epilepsie durch äußere Irritationen oder Traumen ausgelöst
werde und es für alle epileptischen Krampfanfälle auch eine anatomische Ursache gäbe. Die Kategorie „genuine Epilepsie“ war insofern ein temporäres Aufunterschiedlich (vgl. ebd.: 127). Die EEGs bemühten nur zu einem Drittel medizinisch-naturwissenschaftliche Argumente. Die Mehrzahl der Beschlüsse stützte sich auf Mischbegründungen,
in die über die engeren Kriterien hinaus soziale, rassistische, strafrechtliche, moralische und diffuse Sippenkriterien einflossen (vgl. ebd.: 134-37). Das GVeN stellt sich als sozialtechnisches
Werkzeug das. Die EEGs bestätigten bei Personen aus der „Unterschicht“ zu 95,1 % die Anträge auf Sterilisation, bei solchen aus der „unteren Mittelschicht“ nur zu 84 % (vgl. ebd.: 130). Der
weitaus größte Teil der Sterilisationsanträge betraf Personen, die sich im unmittelbaren Zugriffsbereich der Sterilisationsmaschine befanden: in Anstalten, Fürsorgeeinrichtungen etc. Aber
auch der tüchtige ‚Volksgenosse‘ von Nebenan wurde zum Ziel der gerichtlichen Untersuchungen. Dass ihm ein Klinikaufenthalt zur Diagnosefindung zugemutet werden musste, der sich im
Nachhinein wohl möglich als ungerechtfertigt herausstellte, war ein ökonomisches (Krankenkassen sollte zahlen) und politisches Problem, da nicht zuletzt solche Maßnahmen in der Bevölkerung Unruhe hervorriefen. Diese Problematik betraf besonders die „erbliche Epilepsie“.
139
Krampfanfälle unterschieden sich im Ablauf, Umfang, in der Stärke und den begleitenden
Zeichen. Sie konnten durch Traumen oder platzfordernde Prozesse im Gehirn, wie Tumorwachstum, verursacht sein oder traten im Zusammenhang mit einer anderen psychiatrischen
Erkrankung auf. Die klinische Diagnose wurde dadurch erschwert, dass ein Krampfanfall oftmals lange zurücklag und über ihn nur aus zweiter oder dritter Hand berichtet wurde. ‚Patienten’
wurden deshalb vielfältige Untersuchungen und zweifelhafte Klinikaufenthalte zugemutet, um
einen erneuten Anfall abzuwarten; doch nicht selten blieben sie die einmalige Ausnahme im
ganzen Leben.
140
Hier und nachfolgend : Hoyer 1937: 541
286
fangbecken für Epilepsiediagnosen, die noch nicht als „symptomatisch“ spezifiziert werden konnten; denn die mangelnde Sensitivität und das geringe Auflösungsvermögen der Methoden und Techniken, so hieß es, verhinderten, dass
auch die kleinsten anatomischen Veränderungen aufgespürt werden konnten.141 Im Laufe der zwanziger Jahre unterlag der Begriff „genuine Epilepsie“
einer schleichenden Veränderung. Die Diskussion um die Epilepsie geriet unter
den Einfluss des Erbparadigmas.142 Die „genuine Epilepsie“ verlor ihre Vorläufigkeit im Bezug auf die pathoanatomische Lokalisation und stand nun für den
starken Anspruch einer erblichen Ätiologie.
Um überhaupt die Vererbung der Epilepsie nach mendelgenetischem Muster
vertreten zu können, mussten mehrere beteiligte Gene angenommen werden.143 Vor allem aber dominierten statistische und genealogische Untersuchungen die Erblichkeitsforschung. Die Unmöglichkeit, eine einfache mendelsche Vererbungsanalyse durchzuführen, wurde immer wieder mit der Verwirrung in der klinischen Klassifikation der Krampfleiden in Zusammenhang gebracht. Es ist bemerkenswert, wie trotz oder gerade durch das Eingeständnis
des „Noch-nicht-Wissens“ und den Verweis auf weiteren Forschungsbedarf die
Annahme eigenständiger biologischer und erblicher Entitäten sich zum unbestrittenen Axiom verfestigte – ein wiederkehrendes Muster in der psychiatrischen Forschung gegen Ende der zwanziger Jahre.144
Als Einschnitt in der Debatte erwies sich 1935 ein Vortrag über Zwillingsuntersuchungen von Klaus Conrad aus dem Rüdinschen Institut auf der Jahrestagung der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater.145 Seine Zwillingsstudien schienen alle Zweifel an der Erblichkeit der Epilepsie auszuräumen.146 Die Theorie der pathoanatomischen Lokalisation geriet zusätzlich unter
Druck, da nun vermehrt angezweifelt wurde, dass die hirnanatomischen Befunde die Ursache der Krampfanfälle und nicht vielmehr ihre Wirkung widerspiegelten.147 Nach 1935 wurde in der deutschen Psychiatrie nicht mehr bestritten,
dass es erbliche Epilepsien gibt. Doch welche Formen der Epilepsie darunter zu
141
Diese Theorie der pathoanatomischen Lokalisation erfuhr durch die zahllosen Kopf- und
Hirnverletzten des ersten Weltkriegs Auftrieb. (Zur Wechselwirkung von Krieg und Psychiatrie,
vgl. Kaufmann 1999: 132.)
142
Vgl. Koch 1955: 2-3. Binswanger hatte schon 1913 vom wesentlichen Einfluss einer „neuropathischen Konstitution“ bei der Epilepsie gesprochen. Erst spätere Arbeiten gaben den Impuls
zu neuer Orientierung. Reichardt wies 1923 vom klinischen Standpunkt auf „dispositionelle Faktoren“ beim Krampfgeschehen hin. Foerster stellte vier kooperierende Faktoren zusammen: irritative Noxen (Krampfreize, darunter heredodegenerative Faktoren), erhöhte Krampfbereitschaft,
akzidentelle Faktoren, durch den Anfall selbst geschaffene (iktogene) Faktoren (in: „Pathogenese des epileptischen Anfalls“, Z. Neur., 94, 1926: 15-53). Auch die Konstitutionsforschung der
Kretschmerschen Schule deutete die Epilepsie als Erbkrankheit (Friedrich Mauz 1927 u. 1930).
143
Ernst Rüdins Auffassung wendete sich 1924 gegen Ansichten, dass die Epilepsie ein einfaches rezessives Erbleiden sei (Davenport) (vgl. Rüdin 1924: 369). Er forderte, Art und Grad
der erblichen Bedingtheit der Epilepsie auf statistischem Wege festzustellen.
144
Vgl. Kaufmann 1998: 354-55.
145
Vgl. Conrad 1936. Weitere Berichte erschienen in Z. Neur., 153, 1935, 155 u. 1936, 159,
1937. Auf diese Arbeit stützte sich maßgeblich der Kommentar des GVeN in der 2. Auflage (vgl.
Gütt et al. 1936: 140).
146
Vgl. z.B. Ewald 1936: 1131.
147
Braunmühl aus Eglfing-Haar meinte z.B., dass alles, was am Gehirn gefunden werden
könne, „nichts, aber auch weiter nichts, als eine Anatomie von Krampfschäden“ sei
(v.Braunmühl 1938: 308).
287
zählen waren, blieb die große Frage. Einerseits wurde angenommen, dass die
erbliche Form streng von allen anderen Krampfkrankheiten zu unterscheiden
war.148 Andererseits wurde der innere Zusammenhang zwischen den „Spielarten“ der Epilepsie so weit gefasst, dass kein Unterschied mehr zwischen erblicher und nicht-erblicher Epilepsie gemacht wurde.149 Diese Auffassung wurde
durch einen neuen Begriff vermittelt, der das antiessenzialistische Broussaissche Prinzip auf die Epilepsie anwandte. Demnach lagen der Epilepsie eine
allgemeine Krampffähigkeit und eine spezifische Krampfbereitschaft des Organismus zu Grunde. Die Epilepsie konnte dann als ein Kontinuum verstanden
werden – von einer anfänglich nicht existierenden Krampfbereitschaft bis zu
einer sehr starkem am Ende. „Die Konstitution am Ende aber, die von sich aus,
ohne besondere von außen kommende Reize, gesetzmäßig epileptische Zustände erzeugt, nennen wir genuine Epilepsie.“150 Das Konzept der Krampfbereitschaft weichte den essenziellen Unterschied zwischen „gesund“ und „krank“
sowie symptomatischer und genuiner Epilepsie auf. Aus einer Melange von
Konzepten und Empirie ging die Vorstellung hervor, dass jede Art von epileptischer Erkrankung einen erblichen Anteil besaß.151
Die Entwicklung ging so weit, dass nun „symptomatische Epilepsie“ zum
Chiffre der Vorläufigkeit wurde. Die verschiedenen klinischen „Phänotypen“ der
Epilepsie wurden über die erbliche Ätiologie mit einander verbunden, indem die
klinischen Abweichungen als akzidentielle Unterschiede in der Manifestation
oder im Grad der Ausprägung auf hinzukommende erbliche Faktoren zurückgeführt wurden. Hinter einer „symptomatischen Epilepsie“ lauerte bereits der
„erbliche Anteil“. „Epilepsie“ wandelte sich von der Bezeichnung für ein Symptom zu einer vermeintlich eng gefassten Krankheitsentität: „Erbliche Fallsucht“.
Mit dieser Annahme nahm die Auffassung zu, dass die Epilepsie ein „eugenisches Problem“ sei.152
148
Vgl. Pohlisch 1940: 9-10. Der Bonner Psychiater Kurt Pohlisch benutzte die Bezeichnung
„Epilepsie“ nur noch für erbliche Anfallsleiden (vgl. Pohlisch 1938: 271). – Einige Autoren
gingen von verschiedenen „Spielarten“ der erblichen Epilepsie aus. Klaus Conrad beschrieb die
Epilepsie unter dem Begriff des „Erbkreises“ (Conrad 1939a: 1009-11). – Luxenburger fasste
den „Erbkreis“ als „familienpathologischen“ Begriff. Da die Mitglieder einer „Sippe“ sich im
Genotypus mehr oder weniger von einander unterschieden und die Gene in Wechselwirkung
mit einander standen, mussten sich auch die Bilder der Krankheit in der Familie von einander
unterscheiden; trotzdem hingen sie genotypisch mit einander zusammen, bildeten sozusagen
einen genotypischen Kreis (vgl. Luxenburger 1939: 850).
149
Das Verhältnis von erblichen und nichterblichen Formen der Epilepsie stellte sich Rüdin als
ein Kontinuum vor, auf dessen einem „Pole die stark erblich bedingten, am anderen die
schwach oder nicht erblich bedingten Epilepsien sich befinden, mit allen Gradabstufungen auf
der zwischen den Polen befindlichen Verbindungslinie“ (Rüdin 1924: 377).
150
Oswald Bumke (Univ.-Nervenklinik, München) 1936 zit. in Geyer 1937: 79. – Dem entgegen
standen Auffassungen, wie sie Friedrich Mauz (Univ.-Nervenklinik, Königsberg) vertrat, die von
einer festen „iktaffinen Konstitution“ der Epilepsie ausgingen. – Siehe auch 8.1.2.
151
Vgl. Stauder 1938b: 341: „Die Pathogeneseforschung kann immer nur Teilaufgaben aus der
Problematik der Krampfkrankheiten lösen. Immer bedarf sie der Annahme weiterer, konstitutioneller Faktoren, m.a.W. einer genischen Unterbauung. Das wird von vielen, vor allem ausländischen Autoren übersehen, die nur die symptomatische Einmaligkeit des Einzelfalles gelten las“
sen wollen. [...].
152
Stauder 1938a: 332. Demgegenüber hätte im Ausland die Frage nach der Erblichkeit der
Epilepsie keine vergleichbare Bedeutung erlangt. Ausländische Forscher sähen nur die symptomatische Epilepsie und hätten das eugenische Problem aus den Augen verloren.
288
6.2.2 Diagnose der „erblichen Fallsucht“
Im Diskurs um die Epilepsie waren bis 1934 differenzielle Symptomatologien im
Hinblick auf diagnostische Tests wenig beachtet worden. Kaum war das GVeN
in Kraft getreten, fielen aber erste bedenkliche Bemerkungen bezüglich der Diagnose der „genuinen Epilepsie“. Auf einer Königsberger Psychiatertagung 1934
berichtete einer der Vortragenden, dass er mehrfach Patienten, die schon „jahrelang als genuine Epileptiker gingen“, eine symptomatische Epilepsie hatte bescheinigen müssen. Im „Hinblick auf das Sterilisierungsgesetz“ sei es deshalb
angebracht, Röntgenstrahlen einzusetzen, um besser neurologische Ursachen
enthüllen zu können.153 Was für diesen Neurologen die Röntgenstrahlen waren,
war für andere das Elektrokardiogramm, die Encephalographie oder verschiedenste, oftmals anderen diagnostischen oder therapeutischen Zusammenhängen entlehnte physiologische Tests. Die Herausforderung bestand aber nun darin, dass es nicht reichte, Auffälligkeiten aufzufinden und Erblichkeit nur auszuschließen. Das Gesetz bedingte, dass das Instrumentarium eine Differenzialdiagnose der Erblichkeit ermöglichen musste. Dies setzte notwendige oder spezifische Zeichen voraus.
Auf der Tagung der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater 1935
in Dresden, auf der Conrad den erwähnten Vortrag hielt, standen erbpathologische Themen im Vordergrund. Der Epilepsie galt das Hauptaugenmerk. Immer
wieder wurde die differenzialdiagnostische Absicherung der Diagnose „erbliche
Epilepsie“ problematisiert. Der Zusammenhang zwischen GVeN und dem
Druck, einwandfreie Diagnosen gewährleisten zu können, war unüberhörbar.154
Eine gewisse Beunruhigung machte sich in Anbetracht der angelaufenen Praxis
des Gesetzes bemerkbar. Zwei Jahre später, im September 1937, stand in
München die 3. Jahresversammlung der Gesellschaft Deutscher Neurologen
und Psychiater abermals im Zeichen des „Epilepsieproblems“. Der Reichsinnenminister, vertreten durch den Ministerialrat Dr. Linden, betonte die Wichtigkeit der behandelten Themen für sein Ministerium.155 Und in der Tat setzten die
zweitägigen intensiven Verhandlungen über differenzialdiagnostische Methoden
„einen Markstein auf dem Weg der Epilepsieforschung“.156
Dennoch bestanden die Bedenken gegenüber der Aussagekraft der Diagnose „erbliche Fallsucht“ fort.157 Kurt Pohlisch, der bald schon zentral an der „Euthanasie“ mitwirkte, kritisierte in München die „chaotische Klassifikation und Nomenklatur“.158 Einer seiner Mitarbeiter präsentierte die Auswertung der Akten
eines rheinischen „Erbgesundheitsobergerichtsbezirkes“, um zu zeigen, dass,
auch wenn „an der Existenz einer Gruppe erblicher Krampfkranker, die das
Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses erfassen will, [...] ein Zweifel
nicht möglich“ wäre, die Probleme in der Praxis doch groß seien.159 Der Mün153
Vgl. Moser 1935. – Eine „positive Epilepsiediagnose“ gab es nicht, nur eine „per exclusionem“ (Enge 1936: 923; vgl. von der Heydt 1937: 384).
154
Vgl. Nitsche 1936: 18-22, 83 u. 92,
155
Vgl. Nitsche 1938: 316.
156
Ziegelroth 1937: 584. Die Verhandlungsergebnisse wurden unmittelbar in neue Empfehlungen des RMI zur Handhabe der Diagnose der „erblichen Epilepsie” umgemünzt (Linden 1938).
157
Vgl. Weeren 1937: 759; Linden 1938: 885-86.
158
Vgl. Pohlisch 1938: 335.
159
Laubenthal 1938: 196
289
chener Bevölkerungsstatistiker und Vererbungsforscher Hans Luxenburger,
Abteilungsleiter in der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie und früher
Vertreter der Rassenhygiene, charakterisierte die Lage der Forschung in Bezug
auf die „erbliche Epilepsie“ mit einem Vergleich. Die Erbbiologie befände sich
gegenüber der Epilepsie in der Rolle der Polizei, die einen Verbrecher in einem
Haus sucht. Die ungünstige Situation der Polizei sei, dass sie nicht wisse, in
welchem Zimmer der Verbrecher sich versteckt halte.160 Der eigentliche ‚Ort’,
der Sitz der Epilepsie im Gehirn also, war für Neurologie und Psychiatrie ein
Rätsel. Aber nicht das Gehirn allein verbarg sich in der Metapher des „Hauses“.
Denn das Problem war die Jagd des Verbrechers, die Erkennung derjenigen mit
einer erblichen Veranlagung zur Epilepsie.
Luxenburger, der „verborgene Anlagen zur Epilepsie unter den verschiedenartigsten Anomalien“ vermutete, gestand ein, dass die „eugenische Situation“
unbefriedigend war, weil die Indikation zur Sterilisation sehr weit gefasst sei und
– wieder in seinem Bild – die Polizei deshalb gezwungen sei, das ganze Haus
zu zerstören.161 Die Priorität des eugenischen Programms zwang dazu, neben
den Menschen, die vermeintlich Träger der Anlagen zu „erblicher Epilepsie“
waren – die „Verbrecher“ im Bild -, auch ‚Unschuldige’ zu treffen. Dies geschah
im Bewusstsein, dass die genuine Epilepsie wissenschaftlich noch nicht eng
eingrenzbar war. Daraus ergab sich dringender Forschungsbedarf. Die Botschaft war klar: Die Sterilisierung ist nicht die „Kulthandlung einer Weltanschauung“, sondern dient der „Erbgesundheit des Volkes“.162 „Die Ausführungen des
bekannten Erbforschers [Luxenburger] wurden von der Versammlung mit größtem Beifall aufgenommen.“163 Das allgemeine Wissen und Unbehagen darüber,
wie prekär die zwangsweise Sterilisation auf Grundlage des „Stand der Wissenschaft“ – so der Gesetzestext – war, drückte sich in dieser Beifallsszene aus.
Luxenburgers maximale ‚Polizeistrategie‘ entsprach den klaren Verfahrensvorstellungen des Gesetzgebers.164 Auch im Fall des Zweifels, wenn eine Ausschlussdiagnose „erbliche Epilepsie“ nicht gestellt werden konnte, sollte sterilisiert werden: „In dubio pro populo“.165 Damit wurde entsprechend der nationalsozialistischen Ideologie die Tradition des ärztlichen „nil nocere“ und des juristischen „in dubio pro reo“ auf den Kopf gestellt.166 Die deutschen Neurologen
und Psychiater waren entschlossen, diese gesundheitspolitischen Vorgaben mit
zu tragen,167 – eine Entscheidung, die nicht die Wissenschaftlichkeit ihrer Arbeit
tangierte, sondern ihr Selbstverständnis als Ärzte. Die Konstruktion der Epilep160
Vgl. Luxenburger 1938: 367.
Luxenburger 1938: 367-68
162
Luxenburger 1938: 368
163
Ziegelroth 1937: 584
164
„Der Zweck des Gesetzes schreibt hier [bei diagnostisch zweifelhaften Fälle] folgende Stellungnahme vor: Alle ins Symptombild der Epilepsie fallenden Zustände, bei denen eine äußere
Ursache nicht nachgewiesen werden kann, haben wir der erblichen Fallsucht zuzuzählen“ (Gütt
et al. 1936: 143; vgl. auch ebd.: 133 u. 141). Diese Regelung zeigt dramatisch – neben aller
Kaltblütigkeit –, welche Konsequenzen die völlige Umkehrung der Bedeutung „genuine Epilepsie“ und die Erwartung, im Grunde habe jede Epilepsie einen erblichen Anteil, zeitigten.
165
Zum Beispiel der Hamburger Psychiater Lienau 1937.
166
Vgl. auch Bock 1986: 195ff.; Rothmaler 1991: 174f..
167
„[D]ie Mehrzahl der Autoren [Ewald, Demme, Villinger, Conrad ...] hält eine erwiesene Erblichkeit nicht für erforderlich“ (Langelüddeke 1940: 18).
161
290
sie als erbliche Krankheit unterschied sich in der Form und Stabilität nicht von
dem, was für wissenschaftliche Konzepte üblich war. Entscheidend ist insofern
nicht, dass die Diagnose „erbliche Epilepsie“ prekär war, sondern, dass die
Ärzte kein Problem hatten, sie im Sinne des GVeN zu nutzen. Der sachlich
geprägte Diskurs um die Differenzialdiagnostik der Epilepsie bewegte sich im
Rahmen des rassenhygienischen Paradigmas. Das Prekäre war für die Ärzte
bloß eine Sachfrage und Aufgabe der Forschung.168
Wie erklärt sich aber die Vehemenz der Diskussion um die Diagnostik?
Spricht sie nicht doch für ein Bewusstsein von ärztlicher Grenzüberschreitung?
Festzuhalten ist, dass die Diskussion in verschiedenen Kontexten Sinn machte.
Zunächst erfüllte sie die Erwartungen der staatlichen ‚Gesundheits’politik. Sie
bediente darüber hinaus die Standes- und Wissenschaftspolitik der Psychiatrie
gegen „die Untergrabung des Ansehens unseres Standes“.169 Dieser Aspekt,
dass die psychiatrische Wissenschaft ihre Integrität bewahren musste, kann
auch nach Innen gewendet werden. Der Umstand, dass die wissenschaftlich
prekäre Diagnostik der Epilepsie innerhalb der Psychiatrie angesprochen wurde, war dann gewissermaßen eine Zwangsläufigkeit des psychiatrischen Diskurses. Ohne den epistemologischen Implikationen einer Wissenschaftsbetrachtung in der Nachfolge Mertons anzuknüpfen, die Wissenschaft als einen
sozialen Raum eigener unverrückbarer Normativität auffasst,170 so ist es unbestreitbar, dass es Regeln des wissenschaftlichen Handelns gibt, die zumindest
rhetorisch erfüllt werden und die historisch sowie an einen technischen und
sozialen Kontext gebunden sind.171 Über das zu reden, was offensichtlich der
Fall war, folgte dann einer solchen Regel. Die Integrität des Wissenschaftlers
als strategische Position stand in dem Moment auf dem Spiel, als der Widerspruch zwischen dem Stand der Wissenschaft und dem Anspruch medizinischer Praxis sichtbar wurde. Insofern diese ‚Regeln’ in die Praxis der Klassifikation und der pathogenetischen Konzeptualisierung der Krampfphänomene
eingebunden waren, waren sie Teil der Episteme der „erblichen Fallsucht“. Die
moralische Frage indes, ob die Diagnostik der „erblichen Epilepsie“ im Rahmen
168
Normativ begründete Kritik war die Ausnahme (zum Beispiel Stoltenhoff (Dresden): „Schließlich sind von der Richtigkeit der psychiatrischen Diagnose auch noch eine Reihe anderer, mit
der Individualgesundheit nur in loserem Zusammenhang stehende sehr einschneidende das
bürgerliche Leben des Pat. und seine bürgerliche Existenz betreffende Maßnahmen abhängig“
(zit. in Nitsche 1936: 83).) – Kritik an der Sterilisation äußerte auch der Wiener Psychiater Felix
Frisch, die er mit den Schwierigkeiten der Klassifikation begründete. Das heißt, unter anderen
Umständen gab es auch für ihn keine Bedenken (vgl. Frisch 1937: 137-38). Frischs Buch wurde
im Deutschen Reich 1938 aus dem Verkehr gezogen (vgl. Koch 1993: 83). – Es kann hier nicht
diskutiert werden, wie weit Zensur und Ähnliches Kritik behinderten. Albrecht Langelüddecke
(Landesheilanstalt Marburg) wandte sich kritisch (unter Berufung auf Karl Bonhoeffer) bspw.
gegen die „in dubio“-Regelung und riet, „das Durchschlüpfenlassen eines erblich Fallsüchtigen“
in Kauf zu nehmen. War seine Begründung („jeden Erbgesunden dem Volke zu erhalten“;
Geburten erhöhen (Langelüddeke 1940: 11 u. 19)) authentisch oder vorgeschoben? Vgl. auch
Fußn. 128.
169
Rüdin 1940: 166-167 – Luxenburger kritisierte eine Buchveröffentlichung scharf, weil sie
„Lehrern und Erziehern eugenische Versprechungen mache“ („dominante Erbleiden in einer
Generation ausgemerzt“!), welche das Ansehen und Erbforschung schadeten (vgl. Luxenburger
1935).
170
Vgl. Merton 1996b: 267-68; vgl. auch Merton 1968 (1937): 597 (hier mit Bezug auf
Wissenschaft im Nationalsozialismus); dazu, vgl. auch Sapp 1990: 8ff..
171
Vgl. Sapp 1990: 23; Fuller 1992: 391.
291
des GVeN ärztlicherseits vertretbar war, verschwand in dem Gemisch aus wissenschaftlicher Praxis und normativ-politischem Diskurs über die Diagnostik.
6.2.3 Nachtsheims Förderpolitik: zwischen Landwirtschaft und Erbpathologie
Das Problem der Differenzialdiagnostik eignete sich, die Nützlichkeit der vergleichenden Genetik unter Beweis zu stellen. Speziell das damit verbundene
Problem der Diagnostik verborgener „Erbträger“ schien nach den neuesten Erkenntnissen der Genetik lösbar. Dies hing damit zusammen, dass die strenge
Unterscheidung in rezessive und dominante Gene zur Disposition stand.172 Die
entwicklungsphysiologische Genetik hatte den Blick der Genetiker weg von
deutlich abgrenzbaren Merkmalen auf feine Unterschiede und subtile Genwirkungen verschoben. Die konzeptuelle Dichotomie von Dominanz und Rezessivität wurde zum Idealfall oder besser: zur Ausnahme, da auch rezessiven Genen eine – schwache – Wirkung nachgewiesen werden konnte. Damit eröffnete
sich ein Weg, den homozygoten und heterozygoten Genotyp am Phänotyp, das
heißt klinisch, von einander zu unterscheiden.173
Die Voraussetzung war ein Tiermodell, an dem ein diagnostisches Verfahren
entwickelt und auf die Klinik übertragen werden konnte.174 Nachtsheim begann
1936 mit gezielten Experimenten zum Problem der Differenzialdiagnostik der
Epilepsie. Zwar hatte er schon 1925 unter seinen Kaninchen welche beobachtet, die unter „Krampfanfällen litten“, doch erst jetzt startete er systematische
Züchtungsversuche über die „erbliche Epilepsie“ beim Weißen Wiener Kaninchen. 1937 begann er mit einer vierjährigen Experimentalserie über die Wirkung
von Cardiazol. Cardiazol, eine zentral wirkende Substanz, mit der künstlich
Krampfanfälle provoziert werden konnten, wurde in der Psychiatrie als mögliches Mittel für einen differenzialdiagnostischen Test gehandelt. Kaum hatte
Nachtsheim seinen ersten Bericht über die Cardiazolmethode an die Deutsche
Medizinische Wochenschrift losgeschickt,175 beantragte er beim Reichsforschungsrat Fördermittel. Am Rande erwähnte er bedeutungsvoll, dass die „Arbeiten über die Kaninchen-Epilepsie und die für die Rassenhygiene wichtige
Frage der Bedeutung des Cardiazolkrampfes für die Diagnose der erblichen
Epilepsie [...] im Druck [sind ...]“.176 Die Bemerkung verfehlte nicht seine Wirkung. Gezielt nahm sich nun die Fachgliederung Bevölkerungspolitik, Erb- und
Rassenpflege der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) seiner an.177 In
den folgenden Anträgen wies Nachtsheim gezielt auf Untersuchungen zu erblichen Nervenkrankheiten und „vor allem die über erbliche Augenleiden (Blindheit)“ hin oder sprach schon bald von seinen „staatswichtigen“ Augenuntersuchungen.178
172
Vgl. zum Beispiel Baur 1930b: 73-74.
Vgl. Nachtsheim 1934h: 38.
174
Vgl. Fischer 1939: 57.
175
Vgl. Nachtsheim 1939a, Ausgabe vom 3.2.1939. Ein weiterer Bericht erschien als Nachtsheim 1939g, eingegangen am 30.11.1938.
176
28.11.1938, Nachtsheim an RFR (BA Ko, R 73, 13328)
177
Vgl. 29.4.1940, DFG an Nachtsheim (BA Ko, R 73, 13328).
178
Vgl. 2.2.1940, Nachtsheim an DFG (BA Ko, R 73, 13328) bzw. 25.5.1940, Nachtsheim an
Dr. Breuer (ebd.). – „Erbliche Blindheit“ war eine der ‚Indikationen‘ des GVeN.
173
292
Die Abfolge von Förderanträgen an die DFG scheint die zielstrebige Umsetzung Nachtsheims Forschungsprogramm widerzuspiegeln. Doch bei genauer
Betrachtung ist das ein Eindruck, den das Ergebnis der Entwicklung fälschlich
nahe legt. Die Umstellung Nachtsheims Fragestellung und Forschungsgegenstandes war ein Prozess, der 1929 seinen Anfang genommen hatte und der die
längste Zeit nicht zielgerichtet und zu keinem Zeitpunkt unumkehrbar war. Auch
nach den programmatischen Äußerungen 1934, so ist nun zu präzisieren, war
dieser Transformationsprozess von der Landwirtschaft zur Medizin nicht abgeschlossen. Noch 1938 wurde Nachtsheim von der DFG-Fachgliederung „Landbauwissenschaft und allg. Biologie“ betreut. Er konnte sich zu diesem Zeitpunkt
auch noch nicht sicher sein, ob sein Experimentalkomplex einem Programm der
vergleichenden Erbpathologie genügen würde.179 Die Förderanträge Nachtsheims können als Ausdruck der allmählichen Festlegung seines Experimentalkomplexes gelesen werden. Der Forscher lässt in ihnen zunächst eine vorsichtige Anpassungsbereitschaft erkennen. Er ist elastisch, und es gibt einen Spielraum der Rückholbarkeit in der Interpretation dessen, was er macht.180 Lange
changierte Nachtsheim so zwischen medizinischen und landwirtschaftlichen
Problemstellungen. Nach Außen galt es, das Laboratorium unentbehrlich zu
machen, das heißt, die „vergleichende Erbpathologie“ als einen obligatory
passage point der Erbgesundheitspolitik erscheinen zu lassen.
1935 stellte Nachtsheim seinen ersten Förderantrag bei der DFG. Bislang
hatte er sich auf die Unterstützung durch das Preußische Ministerium für Ernährung und Landwirtschaft verlassen. Entsprechend der neuen Schwerpunktsetzungen, die eine verstärkte Förderung für die Genetik verhießen,181 stellt er
heraus, dass seine „neuesten Arbeiten vor allem dem Studium der Erbkrankheiten“ dienten.182 Er eröffnete den Geldgebern einen interessanten Ausblick,
denn die Kaninchenforschung erschien als die natürlichste Weise, sich den
menschlichen Erbkrankheiten zu nähern. Sie hatte aber eine Preis: „Auf breitester Grundlage“ musste das Unternehmen durchgeführt werden, wenn es erfolgreich sein sollte. Nachtsheim wies in die Zukunft eines langfristigen, weit über
den Antrag hinausgehenden Forschungsprogramms. Er bot eine gemeinschaftliche Arbeit an, die Verbindlichkeiten und die Eröffnung gegenseitiger Perspektiven voraussetzte. Das Angebot orientierte sich aber nach wie vor an dem übergreifenden Ziel der bisherigen und noch im Gang befindlichen Forschung: der
genetischen Analyse des Kaninchens. Nach den Rassenmerkmalen des Kaninchens waren jetzt die pathologischen Erbmerkmale an der Reihe. Die Landwirtschaft war aber an potenten „Leistungsmerkmalen“ und an der Verbesserung
179
Zum Beispiel waren die Untersuchungen zur Syringomyelie und Schüttellähmung, die
Nachtsheim Anfang der dreißiger Jahre mit Ostertag begonnen hatte, am Ende des Jahrzehnts
noch nicht abgeschlossen – und wurden nie abgeschlossen bzw. erwiesen sich als trügerisches
Modell.
180
Forschungspolitische Problemvorgaben und die Kenntnisse und Ziele des Wissenschaftlers
stellen in dieser explorativen Phase einen wechselseitigen Anpassungsprozess dar (vgl. van
den Daele et al. 1979: 34 u. 42). Das eigene Forschungsziel kann in einem gewissen Maße
unbeschadet der politischen Rahmenbedingungen angepasst werden; Alternativen können
gewahrt bleiben, um auf geänderte Förderkonstellationen reagieren zu können.
181
Vgl. Otto Renner zit. in Just 1935: 138.
182
Hier und nachfolgend: 8.6.1935, Nachtsheim an DFG (BA Ko, R 73, 13328)
293
der Haustierrassen interessiert – und die Medizin nicht an Merkmalen des
Hauskaninchens. Das Angebot Nachtsheims wurde abgelehnt.
Im nächsten Antrag zwei Jahre später blickte Nachtsheim bereits auf drei
Jahre „erbpathologische Untersuchungen am Kaninchen“ zurück.183 Er bot jetzt
nicht nur eine Idee an, sondern präsentierte ein Forschungsprogramm, das auf
ein eigenes Forschungsgebiet verwies. Er hätte damit „ein neues, auch für die
menschliche Rassenhygiene wichtiges Gebiet, das der vergleichenden Erbpathologie, bereits erfolgreich – wie ich glaube sagen zu dürfen – in Angriff genommen“. Der nicht weiter erklärte Rückgriff auf die Bezeichnung „vergleichende Erbpathologie“ war selbst schon Referenz für ein etabliertes Forschungsgebiet. Andererseits verblieb mit dem Wörtchen „auch“ Raum zur Interpretation.
Der Nutzen („Rassenhygiene“) war nicht endgültig festgelegt. Nachtsheim
sprach von „meinen Arbeiten auf dem Gebiete der Erbpathologie und Rassenforschung“.184 Erst ab 1940 war nur noch von „vergleichender Erbpathologie“
die Rede.185
Von Seiten der Förderinstitutionen gestaltete sich die gegenseitige Annäherung folgendermaßen. Nachtsheims Forschung wurde der biologisch-landwirtschaftlichen Forschung zugeordnet. Angesichts von Geldknappheit musste die
Unterstützung in den dreißiger Jahren zurückgeschraubt werden. Selbst als
Kühn die Fortsetzung aller Arbeiten als „hocherwünscht“ empfahl, da sie „in der
von mir wiederholt gezeichneten Richtung: Herauszüchtung von Versuchstieren
mit bestimmten konstitutionellen Merkmalen“ lagen, wurden die – 1923 von der
DFG eingerichteten – Kaninchenställe, bei denen inzwischen „der Urin aus den
oberen Etagen der Ställe in die unteren tropfte“, nicht renoviert.186 Kühns Stoßrichtung war keine geeignete Grundlage für ein Arrangement mit der herrschenden Forschungspolitik. Die Situation änderte sich 1937/38. Auf die geänderte
Strategie („vergleichende Erbpathologie“) sprang die Fachgliederung Medizin
trotz weiterhin angespannter Haushaltslage an.187 Nachtsheims Förderung lief
jetzt über den Reichsforschungsrat, der zur Zusammenfassung der wissenschaftlichen Kräfte für kriegs- und reichswichtige Aufgaben installiert worden
war, unter dem Kennwort „Na 1/04/2 erbanalytische Versuche“.188 Damit war
Nachtsheims Einbindung in den Prioritätsrahmen der nationalsozialistischen
Forschungspolitik vollzogen.189
Die Fördergeldbeschaffung kann, so will es scheinen, besser als „Akquisition“ beschrieben werden.190 Nachtsheim hatte ein Produkt anzubieten: „Forschung“. Seine Werbetaktik balancierte zwischen dem Nutzungsinteresse des
183
Hier und nachfolgend: 14.5.1937, Nachtsheim an DFG (BA Ko, R 73, 13328) Herv. Verf.
28.2.1938, Nachtsheim an DFG (BA Ko, R 73, 13328) Herv. Verf.
185
2.2.1940, Nachtsheim an DFG (BA Ko, R 73, 13328)
186
8.6.1935, Nachtsheim an DFG; o.D., Kühn: Gutachten; 30.8.1935, Notgemeinschaft an
Nachtsheim (BA Ko, R 73, 13328)
187
Vgl. 25.8.1937, Sauerbruch an Nachtsheim (BA Ko, R 73, 13328).
188
30.8.1937, Mentzel an Nachtsheim (BA Ko, R 73, 13328)
189
Während 1938 die Fachgliederung „Landbauwissenschaft und allg. Biologie“ noch 2/3 der
Unterstützungen (2.000 RM) Nachtsheims Forschung trug, investierte 1939 die Fachsparte
Medizin 23.000 RM in die Zuchtanlage in Dahlem (vgl. 28.7.1939, Sauerbruch an Nachtsheim,
in: BA Ko, R 73, 13328). Nach Kriegsbeginn beschlossen, RFR und die „Reichsgesundheitsführung“, die Arbeiten weiter zu unterstützen (vgl. 2.2.1940, Nachtsheim an DFG, in: ebd.).
190
... bzw. als die Realisierung von Assoziationen (vgl. Latour 1987: 175 u. 202).
184
294
Kunden und den Möglichkeiten und Strategien des Produktmanagements. Mitte
der dreißiger Jahre umfasste die Produktpalette 20 nach einer bestimmten „erblichen Anomalie“ getrennte Kaninchenstämme. Die Unwägbarkeiten der Eigenschaften dieser ‚Produkte’ im Experiment ließ die Zuordnung des Gesamtsortiments zur vergleichenden Genetik gegenüber der landwirtschaftlicher Genetik
ambivalent. Die doppelte Zuordnungsmöglichkeit stärkte aber den Kern der Experimentalkultur Nachtsheims (mendelsche Haustiergenetik). Im Rahmen der
wissenschaftspolitischen Konjunktur der Erbbiologie konnte der Wissenschaftler
diesen Kern festigen, indem er ihn als Forschungsprogramm einer „vergleichenden und experimentellen Erbpathologie“ mit der Forschungsförderung strukturell verband. Der Raum möglicher Schritte des Wissenschaftlers war durch soziale ebenso wie technische Bedingungen gleichermaßen strukturiert. Die forschungspolitische Etablierung („im Reichsinteresse“) schränkte dann aber die
Bewegungsmöglichkeiten zunehmend ein, da die Dahlemer Zuchtanlage auf
eine systematisierte vergleichende Erbpathologie verpflichtet wurde. Ende 1940
erschien es Hans Kappert deshalb, als ob Nachtsheims Experimentalkomplex
immer schon auf die Erbpathologie zugestrebt wäre.191
6.2.4 Kaninchengenetik und Experimentalkomplex im Test:
Cardiazolexperimente
Zur medizinisch-psychiatrischen Forschung über Krampfphänomene gehörte
das physiologische Experiment an Tieren. An so genannten „Rindentieren“ und
„Kleinhirntieren“ – Tieren mit ausgeschnittenen Hirnteilen – wurde die Wirksamkeit krampfauslösender Substanzen untersucht. Der Einsatz genetischer Modelltiere hingegen war neu. Die Kaninchenzüchter hatten immer wieder von
krampfartigen Erscheinungen berichtet; doch erst Nachtsheim verband die vereinzelten Beschreibungen zu einem Phänomen, das er umstandslos als „Epilepsie“ bezeichnete.192 Auffällig war, dass die „eleptiformen Anfälle“ ausschließlich bei Weißen Wiener Kaninchen auftraten. Nachtsheim hatte diese Kaninchen, deren Besonderheit blaue (leuzistische) Augen waren, benutzt, um den
Zusammenhang von Augen- und Fellpigmentierung zu studieren.
Das Ziel der Kreuzungsversuche zur Epilepsie war es zunächst, die Beziehung zwischen dem „Epilepsiefaktor“ und den für das Wiener Kaninchen typischen Pigmentgenen zu eruieren. Und tatsächlich schienen Leuzismus und
Epilepsie durch das gleiche Gen bedingt zu sein. „Die Epilepsie ist beim Kaninchen streng rassegebunden“, folgerte Nachtsheim, als er 1938 vor Psychiatern
und Nervenärzten auf einem „Internationalen Fortbildungskursus“ über die laufenden Versuche berichtete.193 Anders aber als die blauen Augen trat die Epilepsie nicht immer auf: Sie war zwar „rassegebunden“, wurde aber, so vermutete er, durch eine bestimmte Variante (Allel) des Erbfaktors bedingt.194 Nachts191
Vgl. 16.12.1940, Kappert an Dekan der Landw. Fak. (BA D, RME, ZB II 1869, Akte 2: Bl. 14).
Vgl. Ordel 1920: 25 bzw. Nachtsheim 1938a.
193
Vgl. Nachtsheim 1939b: 130. – Die Veranstaltung war hochkarätig besetzt. Vortragende waren: Walter Betzendahl, Karl Bonhoeffer, Aug. Bostroem, E. Fünfgeld, V.E. Frhr. v. Gebsattel,
Karl Kleist, H. Luxenburger, Hans K. Müller, Paul Nitsche, Fr. Panse, Kurt Pohlisch, Chr. Roggenbau, Max Rosenfeld, F. Sauerbruch, Fritz Hartmann, H. Scheller, Hugo Spatz, Klaus Vogel.
194
Nachtsheim postulierte eine Allelenserie, das heißt der Epilepsiefaktor entspräche einem
Allel von einer ganzen Reihe von Allelen eines Pigmentgens (multiple Allelie). Möglich war aber
192
295
heim erkannte sofort das eugenische Potenzial in diesem Ergebnis, nämlich die
Möglichkeit, die Epilepsie aus den Kaninchenzuchten herauszuzüchten.195
Wichtiger an dem Ergebnis war aber, dass die erbliche Veranlagung zur Epilepsie nun kontrollierbar und damit die Voraussetzung gegeben war, das Weiße
Wiener Kaninchen zum Modellsystem der Epilepsie weiter zu entwickeln.196
Obwohl Nachtsheim sich zunächst in zahlreichen Fragestellungen über Genotypen und ihre Manifestation verlor, dürfte den lauschenden Nervenärzten
gegen Ende des Vortrags der praktische Zusammenhang der genetischen
Überlegungen deutlich geworden sein. Sie spitzten sich auf die Frage zu: „Gibt
es Provokationsmittel, die es gestatten, den Epilepsie-Genotypus vermittels induzierter Anfälle zu erkennen?“197 Die Daten, die er zu präsentieren hatte, kamen „frisch“ aus dem Labor. Im Herbst 1937 hatte er rund 250 Kaninchen Cardiazol198 injiziert. Die Frage war, ob die Reaktion auf Cardiazol vom Genotyp
der Kaninchen abhing, sodass auf diese Weise rezessive Anlageträger herausgefiltert werden könnten. Die Versuche wurden bis 1940 fortgesetzt und umfassten am Ende über 600 Kaninchen.
In der Psychiatrie war seit 1933 der Cardiazolschock als therapeutisches
Verfahren bei Schizophrenie im Gespräch; nach ersten Tierversuchen wurde
1936 die Frage der differenzialdiagnostischen Bedeutung des Cardiazols bei
Epilepsie aufgeworfen. Schnell folgten erste klinische Versuchsdaten.199 Eine
Welle von Cardiazolexperimenten an Tieren und Menschen – wohlgemerkt,
handelte es sich nicht um therapeutische Experimente – und eine lebhafte Debatte entwickelte sich.200 Dazu passte, dass Nachtsheim 1937 systematische
Versuche mit Cardiazol aufnahm.201 Ende des Jahres allerdings kristallisierte
sich auf der Jahresversammlung der Neurologen und Psychiater ein Konsens
heraus, nach dem die diagnostische Krampfprovokation mit Cardiazol nicht spezifisch genug und deshalb abzulehnen war.202
Die sich abzeichnende Lösung der Frage nach der Tauglichkeit des Cardiazols hielt Nachtsheim nicht davon ab, sein experimentelles Modellsystem weiter
auch eine enge Kombination zweier verschiedener Gene auf einem Chromosom (vgl. Nachtsheim 1939b: 130; Nachtsheim 1939g: 807).
195
Vgl. Nachtsheim 1938a.
196
Vgl. Nachtsheim 1938a: 592. – Der genetische Zusammenhang mit Pigmenterscheinungen
stellte zudem eine Anbindung an die Lehre der Degenerationszeichen her, nach der bestimmte
äußere Merkmale Anzeichen von Krankheiten oder Konstitutionsschwächen waren. Der Berliner
Pathologe Friedrich Curtius befand, dass „Schielen, abnorme Behaarungsverhältnisse, Henkelohren, Anomalien der Irispigmentierung“ und so weiter bei Epilepsie auffällig häufig vorkämen
(F. Curtius zit. in Nachtsheim 1939g: 802).
197
Hier und nachfolgend: Nachtsheim 1939g: 791-92
198
Cardiazol: Pentamethylentetrazol, dem Campher in der pharmakologischen Wirkung ähnlich.
In den USA unter dem Präparatnamen Metrazol (siehe auch Seite 291).
199
Vgl. von Meduna 1937: 333 bzw. Schönmehl 1936; Hoyer 1937.
200
Vgl. zum Beispiel Stern 1937Stern 1936; Stern 1937; Schilling 1937; Grubel 1937; Janz
1937; Stender 1937; Horn 1938; Langelüddeke 1938b; Langelüddeke 1938a; Langelüddeke
1938c; von Steinau-Steinrück 1938; Anonymus 1938; Langelüddeke 1940. Zur Frage der
Menschenversuche, vgl. 8.2.5.
201
Vgl. Nachtsheim 1937d: 28.
202
Vgl. Anonymus 1938; Nachtsheim 1942e: 66. – Nachtsheim blieb es überlassen, am Tiermodell die Gründe zu konkretisieren, warum Cardiazol nicht als differenzialdiagnostisches Mittel
taugte. Die Reaktionen auf Cardiazol überschnitten sich so, dass nur statistische, aber keine
spezifischen diagnostischen Aussagen möglich waren (vgl. Nachtsheim 1941d: 12 u. 17).
296
zu verfolgen. Zur entscheidenden Frage wurde nun die nach der Tauglichkeit
des Modellsystems. Die Cardiazoltests am Kaninchen setzten eine Kaskade
von Vergleichbarkeitsbeziehungen voraus, die deutlich machten, wie voraussetzungsreich es war, die experimentellen Ergebnisse am Kaninchen mit den
menschlichen Verhältnissen zu analogisieren. War beispielsweise das Erscheinungsbild des Cardiazolkrampfes des Kaninchens wirklich vergleichbar mit dem
epileptischen Anfall? Zeitlupenaufnahmen enthüllten unterhalb der Ebene klinischer Ähnlichkeit zwischen Tier und Mensch subtile Unterschiede in der Phänomenologie des Krampfgeschehens.203 Zwar wurde das Kaninchenmodell von
Seite der Psychiater nicht in Frage gestellt;204 doch war es weit davon entfernt,
ein obligatory passage point in der medizinischen Forschung zur Epilepsie zu
sein.205 Das Programm der vergleichenden Erbpathologie hatte jedoch den ersten Testlauf in Konfrontation mit der Medizin bestanden, da Nachtsheims Förderung durch den Reichsforschungsrat gesichert war und das experimentelle
Arrangement sich als robust, zirkulationsfähig und weiterführend erwiesen
hatte.
6.3
Strukturelemente und die verschleierte Praxis der
vergleichenden Erbpathologie
„Der Lebenslauf der Einzelwesen, Rassen und Arten der niedersten einzelligen
Lebewesen, der Pflanzen, der Tiere und des Menschen wird beherrscht von denselben
206
Naturgesetzen. Nur der Mensch, der sie erkennt, vermag sie zu nützen.“
Nachdem die Vorraussetzungen der Herausbildung des Programms der vergleichenden und experimentellen Erbpathologie und die Einbindung in den soziopolitischen Kontext untersucht worden sind und nachdem die Praxis und das
Anwendungsfeld der vergleichenden Erbpathologie am Beispiel der Epilepsie
vorgestellt wurde, kann unter Einbeziehung der Ergebnisse aus Kapitel 5 die
Konzeption der vergleichenden Erbpathologie systematisch präzisiert und die
Epistemologie der Modelltiere ergänzt werden. Jene offene Konfrontation zwischen Genetikern und Gynäkologen (Kapitel 5) fand in den feinen Mechanismen der science in action, wie sie sich in der Entwicklung der vergleichenden
Erbpathologie präsentiert, ihre Fortsetzung. Es wird deutlich, dass die vergleichende Erbpathologie ein Projekt der Genetiker war. Sie war eng an den Repräsentationsraum, die Forschungspraxis und die Konzepte der Genetik und
Biologie in den dreißiger Jahren gebunden. Sie war insbesondere an die Herausbildung einer bestimmten Experimentalkultur in der (Säugetier-)Genetik und
203
Vgl. Biehler 1940: 325. – Verschiedene – widersprüchliche – Ebenen der phänomenologischen Genauigkeit standen nebeneinander, deren Aussagewert unklar war. Die Frage der Analogisierbarkeit war dadurch mit dem Problem der Klassifikation der klinischen Zeichen der
Krampferscheinungen verknüpft.
204
Vgl. Biehler 1940: 325 (die „genuine Epilepsie des Kaninchens“); Pohlisch 1940: 8
(„weitgehende Analogie zum Menschen“); vgl. auch Geyer 1939: 264. Zu den Diskrepanzen
zwischen der Vererbungsforschung zur Epilepsie des Menschen gegenüber dem Ein-GenModell des Kaninchens, vgl. Conrad 1939a: 965ff. u. 978ff..
205
Zum Fortgang der Epilepsieexperimente u. zu Nachtsheims Bemühungen, ihre Modellhaftigkeit überzeugend zu gestalten, siehe 8.1.
206
Kühn 1935a: 92
297
an komplementäre Stile wissenschaftlichen Denkens gebunden.207 Es wird aber
darauf zu achten sein, ob sich Konzeption und Verwendung von Modelltieren in
der vergleichenden Erbpathologie dennoch von der in der vergleichenden Genetik unterschieden.
Die Überzeugungskraft des Stils, nach dem Tiermodelle beurteilt und mit
ihnen experimentell kalkuliert wurde, profitierte vom Zusammenwachsen der
Genetik und Evolutionstheorie in dieser Zeit. Die Stabilisierung dieses Stils
erfolgte – dem Modell der Akkumulation208 folgend – als eine Vernetzung der
Experimentalkultur mit dem biowissenschaftlichen Leitdiskurs. Nachtsheims
prinzipielleren Bemerkungen zur theoretischen und methodischen Grundlage
der vergleichenden Erbpathologie bieten sich an, an ihnen die Rationalität der
Experimentalkultur des Tiermodells für menschliche Erbkrankheiten zu untersuchen. Die Legitimation der Modellkonstruktionen zielte darauf ab, die Tiermodelle als centre of calculations in einem biomedizinischen Diskurs zu stabilisieren.
Die – tendenziell zirkuläre – Rationalität der Tiermodelle legitimierte so auch
das gesundheitspolitische Engagement der vergleichenden Genetik.
6.3.1 Vergleichende Erbpathologie in Dahlem – eine Frage des Stils/der Kultur
Paula Hertwigs Röntgenexperimente an Mäusen, die als Modellversuche für die
Strahlengenetik des Menschen konzipiert wurden, markieren den Beginn der
Experimentalkultur einer vergleichenden Erbpathologie in Berlin-Dahlem. Jene
Experimente unterschieden sich von anderen Modellversuchen dadurch, dass
das experimentelle Modellsystem als Surrogat konstruiert wurde, um Fragen
der Humanmedizin zu lösen. Ihr Vorbild hatten diese Experimente in den noch
andauernden Alkoholversuchen von Agnes Bluhm, der ‚grande dame’ der vergleichenden Erbpathologie.209 Die Situation Anfang der dreißiger Jahre zeichnete sich aber dadurch aus, dass an verschiedenen Stellen zugleich solche vergleichenden Experimentalsysteme entwickelt wurden, sodass sie eine experimentelle Kultur herausbilden konnte. Experimentelle vergleichende Erbpathologie hatte Konjunktur.210
Das Institut für Vererbungsforschung wirkte wie ein produktiver Kern, in dem
sich Anfang der dreißiger Jahre pathologische Fragestellungen zu einer kritischen Masse verdichteten. Der entstehende Pool an Modelltieren erschien wie
„die Anfangsgründe einer neuen wissenschaftlichen Disziplin, [der] vergleichenden Erbpathologie“.211 Etwa zeitgleich zu Hertwig begann Nachtsheim mit seinen vergleichenden Untersuchungen. Anders als diese systematisierte er sie zu
207
Zu „Experimentalkultur“, vgl. Rheinberger 1997: 137-38; zu „style of scientific reasoning“, vgl.
Hacking 1992 50; vgl. auch Fleck 1994: 111 u. 122.
208
Vgl. Latour 1987: 220.
209
Vgl. die Widmung in Nachtsheim 1942e: 79. – Die Medizinerin Agnes Bluhm (1862-1943),
befreundet mit Alfred Ploetz und aktive Rassenhygienikerin, züchtete, unterstützt durch die
Notgemeinschaft und Carl Correns, am KWI für Biologie in Berlin-Dahlem seit dem 1. Weltkrieg
100.000 Mäuse für Experimente mit Alkohol und anderen „Keimgiften“ (z.B. Bluhm 1922; Bluhm
1932; Bluhm 1935). Ihre Versuchstierzuchten waren die Grundlage von verschiedenen anderen
Versuchstierzuchten in Berliner Laboratorien (siehe unten).
210
Diese Konjunktur war auch in der forschungspolitischen Schwerpunktsetzung durch die NSRegierung bedingt und hatte eine Voraussetzung in der experimentell-konzeptuellen Situation
der Genetik, wie Kapitel 4 und 7 zeigen.
211
Thums 1937: 397
298
einem Forschungsprogramm, das mit der sukzessiven Umstellung seines Experimentalkomplexes und der Propagierung der Genetik verbunden war. Die
Pflanzengenetik des neuen Institutschefs, Kappert, schien an den Rand gedrängt. Hertwig, Emmy Stein212 und Nachtsheim behandelten jeweils eigenständig Fragen der vergleichenden Erbpathologie. Hans Grüneberg, der mit dem Institut bis zu seiner Emigration 1933 in enger Verbindung stand, entwickelte
ähnlich systematisch wie Nachtsheim die vergleichende Mausgenetik am University College in London.213
Pathologische Themen und der Bezug auf die Humanmedizin waren seit Anfang der dreißiger Jahre in der Genetik nichts Ungewöhnliches mehr.214 Die
Verbindung von Medizin und Vererbungsforschung auf der Plattform der Gesellschaft für Vererbungswissenschaft und der Konzeption und Experimentalkultur
der mendelschen Genetik fand schließlich ihren Niederschlag im ersten humangenetischen Kompendium in deutscher Sprache, dem Handbuch der Erbbiologie des Menschen, das die gesamte Breite der experimentellen Genetik abgedeckte und die vergleichende Erbpathologie ausgedehnt berücksichtigte.215 Der
Herausgeber des Handbuchs, Günther Just,216 war Biologe, gleichaltrig mit
Hertwig und Nachtsheim und wie dieser Assistent bei Richard Goldschmidt gewesen. Im 1933 neu gegründeten Greifswalder Institut für menschliche Erblehre
und Eugenik bildete die vergleichende Forschung neben Drosophilagenetik und
Humangenetik einen Schwerpunkt, den Just ab 1937 zusätzlich im Dahlemer
Reichsgesundheitsamt verfolgte. Die Themen waren „Entwicklungs- und Erbpathologie des Säugetiers als Modell menschlicher Erbpathologie“ und von Dro-
212
Emmy Stein war ebenfalls ehem. Ass. Baurs, übernahm 1931 die Stelle Elisabeth Schiemanns, die Baur nach Müncheberg folgte. S. arbeitete zu Fragen der Mutationserzeugung und
Erbpathologie. Zu dem Kreis könnte noch Hans Stubbe gerechnet werden, der als Ass. von
Baur in Müncheberg eine Zeit lang ebenfalls vergleichende Themen der Erbpathologie behandelte.
213
Hans Grüneberg (1907-82) war entwicklungsgenetisch und embryologisch orientiert. In diesem Zusammenhang entwickelte er entwicklungsgenetische Fließdiagramme für die Pathogenese mannigfaltiger Syndrome und problematisierte das Konzept der Pleiotropie. Er unterschied
„echte“ und „falsche“ Pleiotropie (vgl. Nachtsheim 1940d: 49-50 u. 83). Er verfasste während
des Kriegs ein Standardwerk zur Mausgenetik (Grüneberg 1943).
214
Auf der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Vererbungswissenschaft von 1931 war, den
Themen der Vorträge folgend, die Zusammenarbeit von menschlicher Erbforschung und experimenteller Genetik erstmals ein Schwerpunkt (vgl. ZIAV, 62, 1932). Das Interesse der Genetiker
an Erbpathologie und menschlicher Erblehre zeigte sich auch in ihrer Mitarbeit in Der Erbarzt
(Von ihren Ergebnissen berichteten: Nachtsheim, P. Hertwig, H. Stubbe, E. Stein, K. Zimmermann, N. W. Timoféeff-Ressovsky, B. Patzig, E. Knapp).
215
Autoren zu allgemeiner Genetik waren Gerhard Heberer, Kristine Bonnevie, N. TimoféeffRessovsky, Paula Hertwig, Ernst Hanhart, Günther Just, H. Zwicky, Nachtsheim. Die vergleichende Genetik bzw. Erbpathologie behandelten Nachtsheim (Nachtsheim 1939d; Nachtsheim
1940d, Nachtsheim 1940b), F. Steiniger 1940, F. Kröning 1940, mit Einschränkungen: K.-H.
Bauer 1940, Patzig 1939).
216
Günther Just, geb. 3.1.1892 in Cottbus, gest. 30.7.1950 in Heidelberg, ev.. Studium der
Naturwiss. in Berlin, Prom. 1919. 1921, Ass. bei R. Goldschmidt. 1923, Doz. in Greifswald am
Inst. für Zoologie, Abt. Vererbungswiss. 1928, a.o. Prof.. 1.5.1933 NSDAP-Mitglied. 1933, Dir.
des Inst. für menschliche Erblehre u. Eugenik (ab 1936: Inst. für Vererbungswiss.). 1937,
zusätzlich Ltr. des Erbwiss. Forschungsinst. als U.Abt. IV in der Abt. L „Erb- und Rassenpflege“
des RGA. 1.12.1942, Direktor des Rassenbiolog. Inst., Univ. Würzburg. (Vgl. Weingart et al.
1992: 557f.; Deichmann 1995: 122-24; {Felbor 1995}; BA Ko, R 73, 11998 u. 16602; BA B,
BDC-Akte Just; BA B, R018, 3308.)
299
sophila und Fischen als Modell „für analoge Vorgänge beim Menschen“.217
Justs Mitarbeiter Fritz Steiniger und Archibald Kaven gehörten zum hoffnungsvollen Nachwuchs der vergleichenden Erbpathologie.218 Ganz in der Nähe des
Reichsgesundheitsamtes befand sich die „Tumorfarm“ Friedrich Krönings.219
Am KWI für Hirnforschung in Berlin-Buch benutzten Klaus Zimmermann und
Bernhard Patzig Mäuse, um neuroanatomische und neurologische Probleme
genetisch zu bearbeiten.220 Zwischen Buch und Dahlem bestand ein reger
Austausch.
Die Besonderheit der Berliner Situation darf nicht nur darin gesehen werden,
dass Gelegenheit bestand, gemeinsame Forschungsprobleme und -kooperationen zu entwickeln. Über den engsten Kreis der vergleichenden Erbpathologen
in Dahlem hinaus bildete sich ein informelles Netz, in dem Versuchs- und
Zuchttiere hin- und her verschoben wurden.221 Die Vernetzung der Laborressourcen hatte unterschiedlichen Charakter. Während die einen ein geeignetes
Versuchstier für einen physiologischen Test benötigten, suchten die anderen
ein Tier mit bestimmten Merkmalen aus einer ganz speziellen Zucht für eine
bestimmte erbpathologische Fragestellung. Die Findung, Zucht, der Erhalt und
der Austausch von solchen Versuchstieren mit bestimmten Eigenschaften (erblichen Anomalien und Krankheiten) bildete die Voraussetzung für die experimentelle Erbpathologie als einer eigenen Forschungsrichtung. Wie problembehaftet es beispielsweise war, solche Tiere zu entdecken und zu einem Modell217
o.D. [ca. 1939], Anonymus: Arbeitsgebiete des Reichsgesundheitsamts (BA B, R018, 3308)
Fritz Hermann Steiniger, geb. 23.2.1908, Aschbuden, Kr. Elbing (Ostpreußen), ev.. Studium
der Naturwiss., 7/1932, Prom. bei Just; 1932-37, Ass. ebd.. 1.8.1935 NSDAP-Mitglied, 1933-36
SA. 1936, Aufnahme ins Rassenpolitische Amt der NSDAP (Sachbearbeiter f. Nürnberger Gesetze und GVeN). 12/1937, Habil.; 1938-41, wiss. Angestellter, 1940 Reg.Rat im RGA. 1941,
Einberufung zur Wehrmacht ins Zentralarchiv für Wehrmedizin, Berlin. Seit 1942 Ref. für
Schädlingsbekämpfung u. Ref. für Rassenpolitik beim Reichskommissar für das Ostland in
Riga, Ltg. des von ihm eingerichteten Inst. für med. Zoologie in Riga-Kleistenhof, sowie Ltg. des
Anthropologischen Laboratoriums der Abt. Politik des Reichskommissariats (u.a. Überprüfung
der Maßnahmen bei der Fleckfieberbekämpfung). 1943, zusätzlich Doz. für Vererbungswiss. in
Greifswald. – Forschungen zu Erb- und Rassenbiologie (Steiniger 1938; Steiniger 1940) und
zur praktischen Entomologie. (Vgl. BA B, BDC-Akte Steiniger; {Aly, Heim 1993}, S. 427)
Archibald Kaven, geb. 14.11.1908, Berlin, verunfallt 21.2.1945, ev.. Studium der Naturwiss..
15.5.1937, SS-Mitglied. Prom. am Inst. f. Vererbungsforschung, Dahlem (bei P. Hertwig). Ca.
1939, wiss. Mitarbeiter im RGA. 1940, Einwandererzentralstelle, Litzmannstadt; 1941, Eignungsprüfer in Stabsabt. des SS-Führungshauptamtes (Ltg. von Außenstellen im „Protektorat“).
1944, SS-Junkerschule, Tölz. – Forschung: Bestrahlungsexp. mit Mäusen u. Skelettanomalien
(Mäusestamm von Agnes Bluhm) (Kaven 1938b; Kaven 1938a; Kaven 1943). (Vgl. BA B, BDCAkte Kaven.)
219
Zu F. Kröning und seiner vergleichende Erbpathologie, siehe 3.3.
220
Vgl. Zimmermann 1933; Zimmermann 1935; Patzig 1935; Patzig 1936.
221
Zum Beispiel: Nachtsheim bekam von Kröning für seinen Doktoranden eine Meerschweinchenmutante; Hertwig baute ihre Zuchten mit den Alkoholmäusen von Bluhm auf; diese wanderten mit Hertwigs Schüler Kaven ins RGA; im KWI für Biochemie benutzte Hans FriedrichFreska Mäuse von Bluhm, Hertwig und Kaven; der Luftfahrtmediziner Hubertus Strugholdt und
die Militärärztliche Akademie erhielten Mäuse von Hertwig; am KWI für Hirnforschung züchtete
Klaus Zimmermann Mäuse mit Chondrodystrophie, die er mit Nachtsheims Kaninchen austauschte; Alois Kornmüller fragte wegen „epileptischen Kaninchen“ bei Nachtsheim an; dieser
gab auch Kaninchen an Gerhard Schramm am KWI für Biochemie, zwergwüchsige Kaninchen
an Rolf Danneel im KWI für Biologie und solche mit Spinalparalyse an die BRA; und so weiter.
Allein 1940 gab Nachtsheim 1.000 Kaninchen „an die Wissenschaft“ ab. (Vgl. 2.2.1940, Nachtsheim an DFG, in: BA Ko, R 73, 13328.)
218
300
stamm zu züchten, verdeutlicht der Weg, in dem sich Nachtsheim zu helfen
wusste. Es scheint viel, wenn Nachtsheim in kurzer Zeit 20 Kaninchenstämme
mit verschiedenen Erbkrankheiten etablierte; doch bedurfte es dazu der Mobilisierung das Reservoirs von 60 Millionen jährlich im Deutschen Reich aufgezogener Kaninchen über Aufrufe in der „Fachpresse“.222
Die Modelle für Erbkrankheiten, so kann festgehalten werden, wurden in den
Zuchten und Laboratorien der Genetiker ‚entwickelt’, und die vergleichende Erbpathologie war ihr Projekt.223 Als Teil von Experimentalsystemen bzw. einer Experimentalkultur konnten die Versuchstiere verschiedene Forschungskontexte
mit einander verbinden und die Experimentalkultur ihrerseits proliferieren.224
Das informelle, lokale Netzwerk von Wissenschaftlern ermöglichte die Herausbildung der neuen Forschungsrichtung.225 Solche Netze können gerade in der
Etablierungsphase einer Forschungsrichtung diese Vermittlungsrolle einnehmen.226 Die integrativen Funktion der lokalen Kommunikations- und Austauchrelationen einerseits und die Zirkulation von Versuchstieren und Techniken andererseits gibt einen Erklärungsansatz dafür, wie die situativen und kontingenten Details der Laborpraxis zu einer gemeinsamen Praxis und Gegenstandsauffassung vermittelt wurden.
6.3.2 Die Rationalität und Strukturelemente der vergleichenden Erbpathologie
– revisited
Das Programm der vergleichenden Genetik war einerseits an die kollektive Ausbildung einer Experimentalkultur des vergleichenden Experiments und einen Stil
des wissenschaftlichen Überlegens und Kalkulierens gebunden. Darüber hinaus
folgte diese Forschungsrichtung mehr oder weniger explizit konzeptuellen Annahmen, mit denen diskursiv ihr wissenschaftlicher und biologischer Anspruch
verankert wurde. In 5.4 ist der Diskurs über die Übertragbarkeit der Ergebnisse
der experimentellen Genetik auf medizinische Zusammenhänge darauf untersucht worden, welche explizite und implizite Rationalität in der Argumentation
der Genetiker wirksam war. Die extrahierten Diskurselemente können, insofern
222
Vgl. Nachtsheim 1937e: 463. – Es ist auch am Beispiel Kühns Versuchstierzuchtprojekt
deutlich geworden, dass nicht nur die Zucht und der dauerhafte Erhalt eines Versuchstierstamms, sondern schon die ‚Entdeckung’ und Einordnung eines krankhaften Zustands ein
hohes Maß an Spezialwissen erforderte (vgl. 3.3).
223
Zwischen Problemen der Genetik und solchen der Medizin pendelnd, verstanden die Genetiker, nach was zu suchen war und was sich für eine experimentelle Bearbeitung eignete.
224
Die Versuchstiere waren einerseits als Instrumente selbst eine Black Box, andererseits wurde mit ihnen das technische Wissen darüber mittransportiert, wie die Tiere in einem experimentellen Arrangement einzuspannen waren, damit ein Experiment funktionierte. Dieses Know-how,
das sich in keinem Fachartikel wieder findet, ist aber Teil der transdisziplinären Ermöglichung
einer Forschungsgemeinschaft (vgl. Rheinberger 1997: 138; vgl. auch Fujimura 1999: 73-74).
225
Die kleine Gemeinschaft vergleichender Erbpathologen verständigte sich nicht nur literarisch
und bei Kongressen auf Probleme, Fragestellungen und Methoden. Die Nachbarschaft der Labore, der Versuchstiertransfer, das Auftauchen neuer Mutanten in einem Labor, der verbindliche Hinweis in einem gemeinsamen Colloquium, die Beratung über Zuchtergebnisse (zum Beispiel das klinische Bild eines Modelltiers) – diese ‚graue Literatur der Praxis’ formte die Forschungspraxis und bildete einen Stil heraus in der Konstruktion von Modellsystemen, ihrer
Standardisierung und ihrer Bewertung.
226
Ein noch engeres und intensiveres Austauschsystem ist für die Anfänge der amerikanischen
und englischen Säugetiergenetik beschrieben worden. (vgl. zu Mausgenetik: Rader 1995:
316ff.; Löwy & Gaudillière 1998: 222; vgl. auch zu Drosophila: Kohler 1994: 168-69)
301
sie im biologischen Repräsentationsraum einer repräsentativen Ordnung folgten, als Strukturelemente der vergleichenden Erbpathologie bezeichnet werden.
Die drei Hauptargumente, die die Praxis des Vergleichs in Voraussetzungen
und Konzepten der biologischen Wissenschaft fundierten, waren das Argument
der Gleichartigkeit, das auf die Ähnlichkeit der Grundstrukturen des Lebens rekurrierte, das Argument der Gesetzhaftigkeit, welches die Allgemeingültigkeit
mendelgenetischer Aussagen begründete, und das evolutionstheoretische Argument, das die Gleichartigkeit und Vergleichbarkeit bestimmter Spezies erklärte. Im Laufe der dreißiger Jahre nun wurden diese Diskurselemente Modifikationen unterzogen, die ihre Mobilisierung zur Bekräftigung des autoritativen Geltungsanspruchs der genetischen Forschung effektivierte. Bevor hierauf gleich
zurückzukommen ist, werden im Folgenden die allgemeinen Schwierigkeiten
des Anspruchs der vergleichenden Erbpathologie, mit denen sie zu tun bekam,
im Abriss verdeutlicht.
Mit den Konzepten des „höheren Mendelismus“ (Just), die zwar den Geltungsbereich der mendelschen Genetik erweiterten, verkomplizierte sich die Lage der vergleichenden Genetik. Diese Konzepte zwangen dazu, grundsätzlich
ein flexibilisiertes Verhältnis zwischen Genen und Erscheinungsbild anzunehmen. An die Stelle der 1:1-Beziehung traten heterogene Beziehungen: Der gleiche Genotyp konnte mit verschiedenen Erscheinungen zusammengebracht
werden (phänotypische Variabilität) oder, umgekehrt, konnte dem gleichen Phänotyp unterschiedliche Entstehungsbedingungen zu Grunde liegen (‚genetische
Heterogenität’). Die grundsätzliche Schwierigkeit, die daraus erwuchs, lag auf
der Hand: Die Gleichheit der Erscheinungen bedeutete „noch nicht die Abhängigkeit von ein und demselben Erbfaktor, wissen wir doch, daß auch innerhalb
der Spezies das gleiche Merkmal, ja ein ganzer Erscheinungskomplex durch
verschiedene Gene in derselben Weise hervorgerufen werden kann“.227 Und
nicht nur genetisch, auch durch äußere Faktoren konnten Erscheinungen entstehen, die dem Phänotypus einer Mutation glichen. Richard Goldschmidt bezeichnete die ‚Abbilder’ der Mutationen 1935 als Phänokopien.228 Für die vergleichende Genetik war es nun komplizierter zu begründen, warum die Ähnlichkeit von Krankheitsbildern zwischen Tier und Mensch als Grund für die
Annahme reichte, dass das Tier als pathogenetisches Modell für die Humanmedizin dienen konnte.
Diese Frage fand sich umgewandelt in der Frage nach dem ‚gewöhnlichen’
Charakter einer Krankheit wieder. Der Ausdruck Phänokopie suggerierte bereits
eine Ordnung von Original und Imitat. So tendierten die Genetiker dahin, die genetische Ätiologie als die ‚normale’ Ursache einer Krankheit anzunehmen. Der
darin verborgene Anspruch auf die allgemeine Erklärungspotenz der Genetik
resultierte zum einen aus der sukzessiven Ausweitung des genetischen Geltungsbereichs auf physiologische und Krankheitsmerkmale.229 Zum anderen
227
Nachtsheim 1936b: 742
Vgl. Goldschmidt 1935: 127. Die zu Grunde liegenden Modifikationsexperimente waren zum
Teil schon 1929 veröffentlicht worden.
229
Zur Ausweitung des mendelgenetischen Merkmalraums, vgl. 2.2.2 u. 4.2.2.2. Zudem ist zu
beachten, dass auch die Wandlung im Krankheitsverständnis die Zuständigkeit der Genetik diskursiv stützte. Das Prinzip von Broussais, das Biologie und Pathologie miteinander verknüpfte,
228
302
gründete er im Argument der Gesetzhaftigkeit genetischer Konzepte. Otto
Koehler präzisierte, was unter dieser Gesetzmäßigkeit zu verstehen war. Erstmals sei es mit der mendelschen Genetik möglich geworden „mathematische
Gesetzmäßigkeit“ auf Leben erfolgreich anzuwenden; erfolgreich, denn die
mathematische Logik erlaube die Voraussagbarkeit, ähnlich wie in der Astronomie.230 Etwas vorsichtiger drückte sich Eugen Fischer aus. Die genetischen
Regeln entsprächen einer Gesetzmäßigkeit im „biologischen Sinne“.231 Diese
Eingrenzung hinderte aber nicht daran, das Primat der Erblichkeit als ein kausaltheoretisches und ätiologisches Primat aufrecht zu erhalten.
Neben der Mathematisierbarkeit begründete die Gesetzmäßigkeit der mendelschen Erbregeln ihre Nützlichkeit für die vergleichende Erbpathologie. Ihnen
war, so könnte man auch sagen, der Anwendungscharakter und die instrumentelle Vernünftigkeit der empirisch-analytischen Methode der Naturwissenschaft
schon eingeschrieben. Die Allgemeingültigkeit der Erbregeln begründete diskursiv den Raum für eine Experimentalkultur der vergleichenden Erbpathologie.
Alfred Kühn, auf den sich Koehler maßgeblich bezog, drückte dies in der griffigen Baconischen Gleichung über den Zusammenhang von Wissen und Nutzen
resp. Macht aus: „Der Lebenslauf der Einzelwesen, Rassen und Arten der niedersten einzelligen Lebewesen, der Pflanzen, der Tiere und des Menschen wird
beherrscht von denselben Naturgesetzen. Nur der Mensch, der sie erkennt, vermag sie zu nützen.“232
6.3.3 Synthetische Modelle: Homologie – Domestikation – Art- und
Rassebildung
Die diskursive Rationalität der vergleichenden Genetik wurde durch die neuen
Konzepte der mendelschen Genetik nicht nur verkompliziert. Diese und die Entleistete der Grundauffassung Vorschub, dass nicht nur äußerliche und unwichtige Merkmale,
sondern auch Krankheitsveranlagungen den mendelschen Erbgesetzen gehorchten (vgl. 2.2.1).
230
Koehler 1935: 1260 – Es ist wissenschaftstheoretisch umstritten, ob in der Biologie vergleichbar zu Physik oder Chemie von Gesetzen gesprochen werden kann (vgl. Schaffner 1993:
67-73 u. 119-23). Im zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskurs wurde der Gesetzesbegriff
meines Erachtens nicht problematisiert.
231
Fischer 1940: 247. Herv. Verf. Die Verlässlichkeit der Erbregeln zum Beispiel in der Diagnostik sei so groß, dass „wir (im biologischen Sinne des Wortes) von G e s e t z e n sprechen müssen“ (ebd.) – Erbliche Bedingtheit sei deshalb „nicht physikalischer Gesetzlichkeit gleichzusetzen“, sekundierte v. Verschuer: „Erbbedingtheit ist Reaktionsmöglichkeit. Welche der gegebenen Möglichkeiten verwirklicht wird, bestimmt die Umwelt“ (v.Verschuer 1936: 18; v.Verschuer 1944b: 24). In Verschuers Aussage reflektierte sich die Annäherung zwischen Entwicklungsphysiologie und Genetik (vgl. 4.2.2) Mit der Reaktionsnorm war ein neues Leitkonzept im
naturwissenschaftlichen Verständnis des Organismus angesprochen. Eine Position, die mit den
atomistischen Genen einen strengen (physikalisch-reduktionistischen) Determinismus begründen suchte, war damit nicht mehr möglich. Das hinderte Verschuer nicht daran, gegen „mythische Vorstellungen und naturphilosophische Hypothesen“ von Vererbung argumentierend, die
„naturgesetzlichen Vorgänge“ des „Grundgesetzes der Vererbung“ zu bemühen (vgl. v.Verschuer 1934: 765). – Auch der Schüler v. Verschuers und Mediziner F. Claussen begründete
die Analogisierbarkeit zwischen Mensch, Tier und Pflanze mit der Rückführung organischer
Störungen im Tierexperiment auf fundamentale Lebensprozesse (vgl. Claussen 1939: 42).
232
Kühn 1935a: 92 bzw. zit. in Koehler 1935: 1299 – Zu Francis Bacons (1560-1626, Theoretiker der wissenschaftlichen und experimentellen Methode) Identifizierung von Wahrheit und
Fortschritt (vgl. Hacking 1996: 407; Poser 2001: 136). Diese frühe Identifizierung von mathematisierter Wissenschaft, Technik und Macht ist der motivische Ausgangspunkt der Gesellschaftskritik von Horkheimer & Adorno 1988: 9ff..
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wicklung der synthetischen, populationsgenetischen Theorie schufen auch die
Vorausset