Tierzucht, Strahlen und Pigmente: Genetik und die
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Tierzucht, Strahlen und Pigmente: Genetik und die
Tierzucht, Strahlen und Pigmente: Genetik und die Herstellung von Tiermodellen für die Humangenetik Aus dem Institut für Medizingeschichte der Freien Universität Berlin Geschäftsführender Direktor: Prof. Dr. Dr. Rolf Winau Tierzucht, Strahlen und Pigmente: Genetik und die Herstellung von Tiermodellen für die Humangenetik Hans Nachtsheim und die vergleichende und experimentelle Erbpathologie in Deutschland, 1920-1945 Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Grades Doctor rerum medicarum des Fachbereichs Humanmedizin der Freien Universität Berlin vorgelegt von: Alexander v. Schwerin aus Bonn Referent: Prof. Dr. Gerhard Baader Korreferent: Prof. Dr. Hans-Jörg Rheinberger Veröffentlicht mit Genehmigung des Fachbereichs Humanmedizin der Freien Universität Berlin Promoviert am: 5. Oktober 2003 Inhalt (Übersicht) Einleitung...........................................................................................................10 1 Wie erobert man ein Terrain? Heilsbringender Mendelismus und Landwirtschaft...........................................................................................30 1.1 Nachtsheim und das Primat der Gene an der Landwirtschaftlichen Hochschule in Berlin......................................................................................... 31 1.2 Mendelisierung der Pelztierzucht ..................................................................... 48 2 Tierzucht und Erbpathologie.....................................................................71 2.1 Vom Pigment zum Pathologischen als epistemischer Gegenstand ................. 72 2.2 Pathologie und Mendelgenetik ......................................................................... 87 3 Genetik und Medizin – Maus, Meerschweinchen und Kaninchen als „standardisierte Reagenzien” (A. Kühn) .................................................102 3.1 Eine Versuchstierzuchtanlage in Dahlem aus der Not heraus und Pläne der Notgemeinschaft zur „Massenaufzucht reiner Stämme im Grossen“....... 103 3.2 Einfach nur Tiere vermehren? Experiment, Reinzucht und Konstitution........ 111 3.3 Von der Methode zur Aufgabe – züchtungstechnisch vermittelte Übergänge (Konjunkturen) zwischen Infektionsmedizin und Säugetiergenetik ............................................................................................ 132 4 Innovative Kooperation: Die Versuchstierzucht als Knotenpunkt biomedizinischer Forschung am Ende der Weimarer Republik oder Versuchstiere zwischen Instrument und Modell .....................................163 4.1 Standard, Technik, Differenz.......................................................................... 163 4.2 Vom Konzept zum Experiment: Genetik und Entwicklungsphysiologie ......... 175 4.3 Varianten generieren: die differenzielle Verwendung der Züchtungsanlage reiner Tierstämme (vom Experimentalsystem zum Konzept) ......................................................................................................... 194 5 Genetik und Medizin – Eine Kontroverse um Tiermodelle......................205 5.1 Gynäkologie und temporäre Sterilisation ....................................................... 207 5.2 Von der Individualmedizin zur Eugenik: Die Intervention der Genetik ........... 215 5.3 Die ‚feindliche Übernahme’ des Problems der Röntgenschäden durch die Genetik ........................................................................................................... 222 5.4 Kompetenzgerangel um die Allgemeingültigkeit der Vererbungsgesetze ...... 242 6 Erbpathologie des Tieres, menschliche Erblehre und Eugenik ..............258 6.1 Von der Tierzucht zur „experimentellen und vergleichenden Erbpathologie“ im technokratischen Bewusstsein.......................................... 259 6.2 Die Genetifizierung der Epilepsie und die vergleichende Erbpathologie in der Praxis ....................................................................................................... 283 6.3 Strukturelemente und die verschleierte Praxis der vergleichenden Erbpathologie ................................................................................................. 296 7 Genetik und Innovation in der menschlichen Erblehre ...........................315 7.1 Krise der menschlichen Erblehre: Phänogenetik und Pigmente .................... 316 7.2 Genetifizierung der menschlichen Erblehre ................................................... 329 7.3 Medikalisierung der menschlichen Erblehre................................................... 339 7.4 Nachtsheims Integration am KWI für Anthropologie ...................................... 351 8 Vom Tierexperiment zum Menschenversuch: Modell des Modells.........374 8.1 Von der Diagnostik zur Pathogenese. Das richtige experimentelle Modell für die Epilepsie.............................................................................................. 375 8.2 Die Leichtigkeit des Menschenversuchs ........................................................ 397 8.3 Abschließende Bewertung: Nachtsheim, Experimente, Eugenik und Nationalsozialismus........................................................................................ 417 9 Schluss: Tierzucht, Strahlen und Pigmente – verborgene Wirkmächtigkeit des Genetischen zwischen 1920 und 1945..................430 Anhang ............................................................................................................446 A Bibliographie und biographischer Abriss Hans Nachtsheim ...................447 B Nachweise ..............................................................................................468 Inhalt Einleitung...........................................................................................................10 1 Wie erobert man ein Terrain? Heilsbringender Mendelismus und Landwirtschaft...........................................................................................30 1.1 Nachtsheim und das Primat der Gene an der Landwirtschaftlichen Hochschule in Berlin......................................................................................... 31 1.1.1 Vom Organismus zum Korpuskel............................................................................. 32 1.1.2 Der Mendelismus und deutsche Biologie – Primat der Gene .................................. 36 1.1.3 Genetik und Modernisierung: Vom Mandarin zum Experten ................................... 39 1.1.4 Kultur vs. Zivilisation: Spezialisierung und Technik im Vorbild Amerikas ................ 43 1.2 Mendelisierung der Pelztierzucht ..................................................................... 48 1.2.1 Die Schnittstelle von Theorie und Praxis: Technisierung des „Künstlerischen“ ....... 49 1.2.2 Kaninchenzucht, Nationalökonomie und Ordnung des Sichtbaren.......................... 53 1.2.3 Vom Wissenschaftler zum Experten: ‚High Noon’ im Diskurs um den ‚König’ der Kaninchen .......................................................................................................... 58 1.2.4 Vom Experten zum Mediator.................................................................................... 62 1.2.5 Nachspiel: Rexzüchter im Abseits, „Kaninchenzucht wird politisch“ und Wirtschaftszucht durch Nationalsozialismus ............................................................ 67 2 Tierzucht und Erbpathologie.....................................................................71 2.1 Vom Pigment zum Pathologischen als epistemischer Gegenstand ................. 72 2.1.1 Das Experimentalsystem der Pigmente ................................................................... 73 2.1.2 Pigmente, Degeneration und der Vergleich in der Genetik...................................... 76 2.1.3 Geburt des pathologischen Gegenstandes: differenzielle Reproduktion im Diskurs... .................................................................................................................. 79 2.1.4 ... und im Experimentalsystem ................................................................................. 84 2.2 Pathologie und Mendelgenetik ......................................................................... 87 2.2.1 Bruch in der Episteme des Pathologischen: Prinzip von Broussais......................... 88 2.2.2 Das Pathologische zwischen Medizin und Genetik: Variabilität und Mutationen (die mutationsgenetische Episteme) ........................................................................ 91 2.2.3 Der mendelgenetische Begriff von Erbkrankheit und seine subversive Wirkung: Eugenik und Klassifikation ........................................................................ 95 3 Genetik und Medizin – Maus, Meerschweinchen und Kaninchen als „standardisierte Reagenzien” (A. Kühn) .................................................102 3.1 Eine Versuchstierzuchtanlage in Dahlem aus der Not heraus und Pläne der Notgemeinschaft zur „Massenaufzucht reiner Stämme im Grossen“....... 103 3.1.1 Versuchstiere in den Laboratorien ......................................................................... 104 3.1.2 Die Zuchtanlage in Dahlem.................................................................................... 106 3.1.3 Die Initiative Wilhelm Kolles und die Gemeinschaftsarbeiten der Notgemeinschaft .................................................................................................... 108 3.2 Einfach nur Tiere vermehren? Experiment, Reinzucht und Konstitution........ 111 3.2.1 Der experimentelle Vorteil experimentalisierter Versuchstiere .............................. 113 3.2.2 Die Experimentalisierung des Versuchstierkörpers zum „Reagenzmaterial“ – das ‚Prinzip des erweiterten Laboratoriums’ .......................................................... 114 3.2.3 Inzucht vermeiden und analysierte ‚second-hand’ Tiere........................................ 116 3.2.3.1 Die Kleintierzucht der Notgemeinschaft in der Strafanstalt Sonnenburg........ 117 3.2.3.2 Der trojanische Stall aus Dahlem ................................................................... 120 3.2.3.3 Die Versuchstierzucht am Institut für Vererbungsforschung .......................... 121 3.2.4 Reinzucht als genetische Homogenisierung .......................................................... 123 3.2.5 Auslese und Reinzucht: Negation der „erblichen Konstitution“ .............................. 125 3.2.5.1 Die genetische Analyse als Mittel verbesserter medizinischer Forschung..... 126 3.2.5.2 Der genetische Gegenstand im Prozess der Werkzeugherstellung ............... 127 3.2.6 Auslese, Reinzucht und Organisationsstruktur: Positivität der erblichen Konstitution ............................................................................................................ 128 3.2.6.1 Kühns Initiative: „Reine Vermehrungs-Zuchtanstalten“ und „genetische Züchtungsanstalten“ ....................................................................................... 129 3.2.6.2 Erbliche Konstitution: Vom negierter Gegenstand zum epistemischen Gegenstand .................................................................................................... 131 3.3 Von der Methode zur Aufgabe – züchtungstechnisch vermittelte Übergänge (Konjunkturen) zwischen Infektionsmedizin und Säugetiergenetik ............................................................................................ 132 3.3.1 Der Plauerhof – Professionalisierung der Versuchstierzucht: Standardisierung.... 133 3.3.2 Vom Sinn einer Züchtungsanstalt – Die Göttinger Säugetierzuchten und ihre Kooperationen........................................................................................................ 136 3.3.2.1 Das Göttinger Zoologische Institut und die Säugetierzuchtanlage................. 136 3.3.2.2 „Medizinisch-biologische Grenzprobleme“ und die Arbeit an den Versuchstieren................................................................................................ 139 3.3.2.3 Die Kooperation der Züchtungsanstalt mit dem Staatlichen Institut für experimentelle Therapie – Standardisierung von Impfstoffen ........................ 142 3.3.3 Genetisch homogene Versuchstiere sensibilisieren ein experimentelles Prüfsystem: Diphtherieimpfstoffe ........................................................................... 144 3.3.3.1 Das Problem und die Einstellung des Experimentalsystems ......................... 144 3.3.3.2 Im Prüfsystem vom Zufall zum „Wesen“: genetisch reine Versuchstiere ....... 147 3.3.3.3 Das experimentelle (Prüf-)System: widerständig gegen Genetisches ........... 148 3.3.4 Erbliche Disposition der Infektionskrankheiten: Die Tuberkuloseresistenz als Versuchsballon....................................................................................................... 150 3.3.4.1 Tuberkulose und Genetik ............................................................................... 151 3.3.4.2 Feuerprobe der ätiologischen Wende am Staatsinstitut................................. 154 3.3.4.3 Tuberkulose: ein prekärer genetischer Gegenstand ...................................... 156 3.3.5 Nachspiel: Tumorfarm und Ende Kühns „genetischer VersuchstierZuchtanstalt“ .......................................................................................................... 158 4 Innovative Kooperation: Die Versuchstierzucht als Knotenpunkt biomedizinischer Forschung am Ende der Weimarer Republik oder Versuchstiere zwischen Instrument und Modell .....................................163 4.1 Standard, Technik, Differenz.......................................................................... 163 4.1.1 Versuchstiere als Instrument.................................................................................. 164 4.1.2 Versuchstiere als Modell ........................................................................................ 167 4.1.3 Die „Gemeinschaftsarbeiten“ der Notgemeinschaft (Exkurs)................................. 170 4.2 Vom Konzept zum Experiment: Genetik und Entwicklungsphysiologie ......... 175 4.2.1 Vorgriff auf die Gemeinschaftsarbeit über die Frage der Erbschädigung durch Röntgenstrahlung................................................................................................... 175 4.2.2 Variable Genmanifestation im Blick – das Interesse deutscher Genetiker Anfang der dreißiger Jahre .................................................................................... 178 4.2.2.1 Konstitution und Konzepte der Genwirkung ................................................... 179 4.2.2.2 Variable Phänomene und neue experimentelle Optionen .............................. 182 4.2.3 Vitalität und das Experimentalsystem der genetischen Entwicklungsphysiologie ........................................................................................ 184 4.2.3.1 „Lebenseignung“ und Konjunkturen in der biologischen Wissenschaft .......... 184 4.2.3.2 Experimentelle Entwicklungsphysiologie und „gute Merkmale“...................... 188 4.2.3.3 Experimentelle Bestimmung der Vitalität und Vitalitätsforschung an Kühns Göttinger Institut .................................................................................. 190 4.3 Varianten generieren: die differenzielle Verwendung der Züchtungsanlage reiner Tierstämme (vom Experimentalsystem zum Konzept) ......................................................................................................... 194 4.3.1 Der Mangel an „schlechten“ Merkmalen und seine Behebung in den Versuchstierzuchtanstalten .................................................................................... 194 4.3.2 Varianten generieren.............................................................................................. 199 4.3.3 Das Zusammenspiel von hervorgebrachten Varianten und Forschungsfragen ..... 201 5 Genetik und Medizin – Eine Kontroverse um Tiermodelle......................205 5.1 Gynäkologie und temporäre Sterilisation ....................................................... 207 5.1.1 Die Frage nach der Keimschädigung..................................................................... 208 5.1.2 Die Zeichen der „Vollwertigkeit“ einer Eizelle und der verschobene Blick in das Innere der Eizelle ................................................................................................... 210 5.1.3 Genotypische Keimschädigungen und die Rezeption der Strahlengenetik ........... 212 5.2 Von der Individualmedizin zur Eugenik: Die Intervention der Genetik ........... 215 5.2.1 Von der Keimschädigung zur Schädigung der Keimbahn...................................... 216 5.2.2 Die eugenische Dynamik der Röntgenmutation..................................................... 219 5.3 Die ‚feindliche Übernahme’ des Problems der Röntgenschäden durch die Genetik ........................................................................................................... 222 5.3.1 Die Gynäkologie in die Enge gedrängt. Die Entschließung der Vererbungswissenschaftler .................................................................................... 222 5.3.2 Gemeinschaftsarbeiten zur Frage der Erbschädigung durch Röntgenstrahlen ..... 228 5.3.3 Paula Hertwig, Mutationsraten bei Mäusen und die vergleichende Erbpathologie ......................................................................................................... 232 5.3.4 Der eigentliche Erfolg der strahlengenetischen Experimente ................................ 238 5.4 Kompetenzgerangel um die Allgemeingültigkeit der Vererbungsgesetze ...... 242 5.4.1 Die Rhetorik der Genetik, und die Gynäkologen im „tribunal of reason“................ 243 5.4.2 Die diskursive ‚Härte’ der Allgemeingültigkeit und das Ideologische der Analogie ................................................................................................................. 247 5.4.3 Fragen der Kompetenz und Modelle (Fazit: Genetik und Eugenik) ....................... 252 6 Erbpathologie des Tieres, menschliche Erblehre und Eugenik ..............258 6.1 Von der Tierzucht zur „experimentellen und vergleichenden Erbpathologie“ im technokratischen Bewusstsein.......................................... 259 6.1.1 Nachtsheims Situation an der Landwirtschaftlichen Hochschule........................... 260 6.1.2 Von der Haustiergenetik der Pigmente zur Erbpathologie der Pigmentierung....... 263 6.1.3 Die Kaninchengesellschaft als Abbild des neuen erbhygienischen Staats ............ 266 6.1.4 Indienststellung der Genetik für die „Erbpflege“: Verwissenschaftlichung als Szientokratie .......................................................................................................... 269 6.1.5 Eugenisches Ikon, genetisches Krankheitskonzept und kühle Radikalisierung..... 273 6.1.6 Technokratisches Bewusstsein und rassenhygienisches Paradigma.................... 279 6.2 Die Genetifizierung der Epilepsie und die vergleichende Erbpathologie in der Praxis ....................................................................................................... 283 6.2.1 Genetifizierung der („)Epilepsie(“) .......................................................................... 284 6.2.2 Diagnose der „erblichen Fallsucht“ ........................................................................ 288 6.2.3 Nachtsheims Förderpolitik: zwischen Landwirtschaft und Erbpathologie .............. 291 6.2.4 Kaninchengenetik und Experimentalkomplex im Test: Cardiazolexperimente ...... 294 6.3 Strukturelemente und die verschleierte Praxis der vergleichenden Erbpathologie ................................................................................................. 296 6.3.1 Vergleichende Erbpathologie in Dahlem – eine Frage des Stils/der Kultur ........... 297 6.3.2 Die Rationalität und Strukturelemente der vergleichenden Erbpathologie – revisited.................................................................................................................. 300 6.3.3 Synthetische Modelle: Homologie – Domestikation – Art- und Rassebildung ....... 302 6.3.4 Tiermodelle als Modellsysteme und Supplement................................................... 308 7 Genetik und Innovation in der menschlichen Erblehre ...........................315 7.1 Krise der menschlichen Erblehre: Phänogenetik und Pigmente .................... 316 7.1.1 Eugen Fischer zwischen Erbpathologie und Phänogenetik ................................... 316 7.1.2 Genetik als Leitwissenschaft, entwicklungsphysiologische Phänogenetik und Pigmente ................................................................................................................ 321 7.1.3 Phänogenetik als Instrument der Genanalyse ....................................................... 326 7.2 Genetifizierung der menschlichen Erblehre ................................................... 329 7.2.1 Institutsstruktur und Funktion – „Reine Forschung“ und Ideologie......................... 330 7.2.2 Kaninchengenetik als Innovationsraum zwischen experimenteller Genetik und menschlicher Erblehre ........................................................................................... 335 7.3 Medikalisierung der menschlichen Erblehre................................................... 339 7.3.1 Erbarzt und Humangenetik: Institutionelles Konzept der medizinischen Genetik begründet in der naturwissenschaftlichen Methode ................................. 340 7.3.2 Medizinische Genetik auf dem Weg zur disziplinären Eigenständigkeit ................ 343 7.3.3 Zwischen Ideologie und Struktur: Humangenetik und Rassenkunde..................... 345 7.3.4 Verschuer, Phänogenetik und vergleichende Genetik am KWI für Anthropologie ......................................................................................................... 348 7.4 Nachtsheims Integration am KWI für Anthropologie ...................................... 351 7.4.1 Chondrodystrophie als Paradigma der Genanalyse medizinischer Syndrome ...... 352 7.4.2 Blut als Gegenstand in der Expansionslogik der genetischen Eugenik ................. 357 7.4.3 Ein uninnovatives boundary object und der innere Zwang des Tiermodells nach „Menschenmaterial“. Nachtsheim und Auschwitz ......................................... 360 7.4.4 Konjunktur des Bluts – Innovation vs. Primat der Vererbung................................. 366 7.4.5 Forschungsintegration und Integration des Forschers........................................... 369 8 Vom Tierexperiment zum Menschenversuch: Modell des Modells.........374 8.1 Von der Diagnostik zur Pathogenese. Das richtige experimentelle Modell für die Epilepsie.............................................................................................. 375 8.1.1 Die Modellkonzeption muss sich als centre of calculation entfalten ...................... 376 8.1.2 Epilepsiemodelle zwischen Phänogenetik, Altern und Erbkreis............................. 378 8.1.3 Das multiple Netzwerk Höhenmedizin und Epilepsie............................................. 382 8.1.4 Der Weg des Kaninchenexperimentalsystems zur Unterdruckkammer................. 389 8.1.5 Unterdruckversuche mit Kaninchen und der Versuch am Menschen .................... 394 8.2 Die Leichtigkeit des Menschenversuchs ........................................................ 397 8.2.1 Die Vernetzung von Wissenschaft und Vernichtung .............................................. 398 8.2.2 Die Unterdruckversuche mit Kindern ..................................................................... 403 8.2.3 Die Sauerstoffversuche als Ergebnis eines soziotechnischen Prozesses ............. 406 8.2.4 Außerhalb der rationalen Rekonstruktion: Der gefährliche Menschenversuch als Option ............................................................................................................... 408 8.2.5 Abschließende Bemerkungen zu Menschenversuchen in der Wissenschaft......... 413 8.3 Abschließende Bewertung: Nachtsheim, Experimente, Eugenik und Nationalsozialismus........................................................................................ 417 9 Schluss: Tierzucht, Strahlen und Pigmente – verborgene Wirkmächtigkeit des Genetischen zwischen 1920 und 1945..................430 Anhang ............................................................................................................446 A Bibliographie und biographischer Abriss Hans Nachtsheim ...................447 A.1 Biographischer Abriss..................................................................................... 447 Vita.................................................................................................................... 447 Herausgabe von Zeitschriften ........................................................................... 448 Mitgliedschaften, Ämter und Tätigkeiten........................................................... 449 Nachtsheims Doktoranden................................................................................ 450 A.2 Personalbibliographie Nachtsheim ................................................................. 451 B Nachweise ..............................................................................................468 B.1 B.2 B.3 B.3 Abkürzungen .................................................................................................. 468 Archivarische Quellen..................................................................................... 470 Fachzeitschriften ............................................................................................ 474 Literatur .......................................................................................................... 476 10 Einleitung „[W]enn man jetzt durch rassenhygienische Maßnahmen die Zukunft des Volkes zu sichern sucht, so bedeutet das die Anwendung jener allgemeinen züchterischen Grundsätze auf 1 den Menschen, von denen hier die Rede sein wird.“ Auf der Homepage des Max-Planck-Instituts für molekulare Genetik in BerlinDahlem konnte man im Jahr 2000 folgenden Eintrag zur Geschichte des Instituts lesen: „In 1941, twenty years before the foundation of MPIMG, the first foundation stone for genetic research in Berlin was set with the formation of the new department ‚Experimentelle Erbpathologie’ at the ‚Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik.’“2 Die Geschichte der Genetik in Berlin war demnach an den Auftritt Hans Nachtsheims, der Leiter der neuen Abteilung wurde, gebunden, einen Zoologen und Genetiker, dessen wissenschaftliche Leistungen und moralische Integrität über jeden Zweifel erhaben waren. Diese Darstellung verkürzte die Geschichte des Instituts, da alle Verbindungen zu Rassenhygiene und Eugenik sowie die Kollaboration mit dem NSRegime sorgsam entlang einer unsichtbaren Trennlinie verschwanden. Diese Trennlinie heißt ‚gute Wissenschaft’. Die Genetik in Nachfolge Nachtsheims und die medizinische Genetik gehörten demnach zu dieser guten Wissenschaft. Sie gehörten also zu den ‚echten’ oder auch ‚harten’ Wissenschaften, deren Wissenschaftlichkeit sie vor Verführungen durch die nationalsozialistische Ideologie und in der Folge weiteren Verfehlungen bewahrte. Diese Erzählung ist symptomatisch für das geschichtliche Bewusstsein nach 1945, in dem Genetik und Humangenetik den Kern ihrer Wissenschaft von der ‚Verwicklung’ in den Nationalsozialismus zu trennen suchten.3 Methodisch korrektes wissenschaftliches Arbeiten wird dabei mit moralischer Integrität identifiziert – entweder als ein historischer Befund oder als implizit wissenschaftstheoretische Annahme von der Autonomie der Wissenschaft, das heißt ihrer „Reinheit“.4 Die These der autonomen Wissenschaft ist indes historisch stark in Frage gestellt worden.5 Den gegensätzlichen Auffassungen liegt eine grundsätzlich unterschiedliche Beurteilung des Zusammenhangs von Gesellschaft und Wissenschaft zu Grunde. Wenn der Geschichte der Genetik und Humangenetik nachgegangen werden soll, dann muss die Frage nach diesem Zusammenhang im Blick behalten wer1 Nachtsheim 1936d: VII-VIII http://www.mpimg-berlin-dahlem.mpg.de/institute/structure.html (am: 17.3.2000). Auf der inzwischen neu gestalteten Homepage wird die Geschichte des MPIMG nun salomonisch 1964 eingesetzt, dem Datum der Umbenennung und Umstrukturierung des MPI für vergleichende Erbbiologie und Erbpathologie, das Nachtsheim seit 1953 bis 1960 als Nachfolgerin seiner experimentellen Abteilung am KWI für Anthropologie geführt hatte. Die inhaltliche Neuausrichtung des Instituts (von Säugetiergenetik hin zu Bakteriengenetik und Biochemie) wurde aber bereits 1960 mit der Neubesetzung eingeleitet. 3 Vgl. Massin 1999; vgl. auch Weindling 1993: 643. Als konkrete Beispiele, vgl. Nachtsheim 1952b: 23-24; Propping & Heuer 1991. 4 Zum argumentativen Zusammenhang von methodisch korrekter Wissenschaft und moralischer Integrität, vgl. Baader 2002: 223; zur Argumentation der „Reinheit“, vgl. Mehrtens 1990; Gausemeier 2002. Diese Reinheit steht dann entweder für den ‚gesellschaftsfreien’ Abbildungscharakter von Erkenntnis oder die wissenschaftssoziologische Bedingung der Möglichkeit von „freier Wissenschaft“. Für letztere Position ist die frühe Beschreibung der Wissenschaft im Nationalsozialismus von Merton 1968 (1938) ein Beispiel (ebenfalls abgedruckt in: Merton 1996a: 277ff.). 2 11 den. Jene Trennung von ‚echter’ und Pseudowissenschaft findet sich dann auch in solchen Historiographien wieder, in denen die Entwicklung der Humangenetik eng an die eugenische und rassenhygienische Bewegung, die Rassenanthropologie oder nationalsozialistische Ideologie gebunden wird6 – mit dem Effekt, dass nun die Wissenschaftlichkeit der unter Verdacht stehenden Bereiche der Humangenetik in Frage gestellt und diese auf diese Weise von der ‚eigentlichen’ Humangenetik abgesondert werden können. Wenn aber umgekehrt festgestellt wird, dass für die deutsche Entwicklung der Rassenhygiene von Beginn an die Bindung an die Wissenschaft ein entscheidendes Moment war und für die Humangenetik insbesondere die Anthropologie von Einfluss war,7 dann ist jenes Spannungsverhältnis – Humangenetik zwischen Ideologie und Wissenschaft – wieder hergestellt. Schmuhl (1987) hat erstmals dieser Spannung eine neue Richtung zur Auflösung gewiesen, indem er das „rassenhygienische Paradigma“ in Anschluss an T. S. Kuhns historisierende Paradigmen einführte.8 Die Auflösung besteht dann darin, die Produkte der Wissenschaft selbst als historische Produkte zu begreifen und sie – hier: Lehren der Rassenhygiene und Humangenetik – nicht einem zeit- und ortsunabhängigen Maßstab der ‚Wahrheit’ zu unterwerfen. Dieser Ansatz soll in dieser Arbeit die Behandlung des Problems der Integrität der Wissenschaft leiten. Die Anfänge der Humangenetik gehen auf den Beginn des letzten Jahrhunderts zurück. Als ein Teilfach der Medizin etablierte sich die medizinische Genetik – in Deutschland – disziplinär aber erst endgültig in den fünfziger und sechziger Jahren.9 Die Darstellbarkeit der menschlichen Chromosomen einerseits und die Entwicklung biochemischer Tests für Stoffwechselerkrankungen war die Grundlage für die Identifizierung von Veranlagungen zu möglichen erblichen Krankheiten und damit für den Aufbau einer genetischen Beratung und pränatalen Diagnostik.10 Die Humangenetik erfüllte keine medizinisch-kurative Aufgabe, sondern bewegte sich in der Tradition des Gedankens der Eugenik.11 Es wäre aber dennoch falsch, die Geschichte der Humangenetik in eine der Eugenik und Rassenhygiene oder der Anthropologie zu erschöpfen. Die Humangenetik war über viele Jahrzehnte, wie die Eugenik auch,12 kein geschlossenes Wissensfeld.13 Die Vererbung beim Menschen beschäftigte unterschiedliche professionelle Gruppen: die Rassenhygieniker waren oft zum Beispiel Medizi5 Vgl. Mehrtens 1994a: 17; Gausemeier 2002: 180. Als Beispiele, vgl. Friedlander 1995: 135 u. 216ff.; Kater 2000; Müller-Hill 2000: 212-13 u. 223. 7 Vgl. Schmuhl 1987: 70ff.; Weingart et al. 1992: 66ff. bzw. Massin 1993; Massin 1996: 135-36. 8 Vgl. Schmuhl 1987: 399 bzw. Kuhn 1967: 28-29. Allerdings, so muss kritisch angemerkt werden, bleibt die Explikation des „rassenhygienischen Paradigmas“ meiner Meinung nach mit der Beschränkung auf seine ideengeschichtliche Strukturierung hinter der epistemologischen Tiefe des Kuhnschen Begriffs zurück. Zur näheren Erläuterung des Begriffs, siehe 2.2.3, Fußn. 139. 9 Im Nationalsozialismus waren allerdings an den medizinischen Fakultäten zahlreiche Institute für Rassenhygiene, Erblehre und/oder Rassenbiologie eingerichtet worden, die nach 1945 nicht mehr fortgesetzt wurden (vgl. Weingart et al. 1992: 438-39; Kater 2000: 193ff.). Es wäre im einzelnen zu prüfen, in wieweit Humangenetik als medizinische Genetik betrieben wurde, um die Frage nach ihrer disziplinären Genese zu klären. 10 Vgl. Weingart et al. 1992: 635 u. 659-62; Waldschmidt 1996. 11 Vgl. Gaudillière 2001a: 184. Zu einer kurzen Darstellung der Eugenik: Kaufmann 1998; Schleiermacher 1998: 184-02. 12 Vgl. Kaufmann 1998: 348. 13 Vgl. Massin 1996: 134. 6 12 ner, Psychiater, Anthropologen oder Paläontologen. ‚Humangenetik’ fand in der Regel im Zusammenhang anderer Forschungskontexte statt: als Stammbaumforschung in der Klinik, als Konstitutionspathologie in oder am Rand der Sozialhygiene oder als Splitter in der Infektionsmedizin, als Konstitutionslehre, als Biometrie zwischen Statistik und Demographie oder als menschliche Erblehre in der Anthropologie. Welche Rolle aber spielte die Vererbungslehre, ein experimentelles Fach der Biologie? Die Frage, wie die Erforschung des Menschen zur Genetik kam und umgekehrt, wird in dieser Arbeit gestellt. Da aber angesichts jener Polyzentrik nicht von einer Disziplin der Humangenetik, sondern nur von einem humangenetischen Interesse gesprochen werden kann, lautet die Frage besser: Wie wurde der Mensch zu einem vererbungswissenschaftlichen Thema?14 Der zeitliche Schwerpunkt der Arbeit liegt in den zwanziger und dreißiger Jahren, einem Zeitraum, in dem einerseits die Vererbungswissenschaft und vor allem die mendelsche Genetik deutlich an Bedeutung für den Vererbungsdiskurs gewonnen hatte – Anfang der zwanziger Jahre wurde die Deutschen Gesellschaft für Vererbungswissenschaft gegründet –, in dem andererseits der humangenetische Gegenstand zwischen den Disziplinen frei flottierte. Zu Recht ist auf die Verbindung von ideologischen Diskursen jener Zeit und ihrer Legitimierung im Wissen um die Vererbung hingewiesen worden. Andere Zusammenhänge sind damit aber aus dem Blick geraten, die nicht nur von akzidentiellem Einfluss waren, sondern vielmehr von theoretischer Bedeutung für den Zusammenhang von Wissenschaft und Gesellschaft allgemein sind. Beispielsweise ist es mehr als ein arbiträres Zusammentreffen, das die rassistische Gesetzgebung in den USA, die auf einer Trennung weißer und schwarzer Bürger abzielte, im direkten Zusammenhang mit Infektionsmedizin und öffentlicher Gesundheitspolitik standen. Die speziellen Maßnahmen zur Segregation lassen sich nämlich auf die Entwicklung der Bakteriologie und die epidemiologische Bekämpfung der Tuberkulose zurückführen und veränderten dann – als Nebenprodukt gewissermaßen – die rassistische Ideologie.15 Wenn nach dem humangenetischen Interesse als einem Interesse gefragt wird, das Genetik und Mensch zusammenbrachte, darf nicht vom Ergebnis aus – der Etablierung einer medizinischen Genetik – nach dieser Verbindung gesucht werden. Nichtsdestotrotz spielte der medizinische Kontext eine besondere Rolle in der Bewahrung humangenetischer Themen. Hans Grüneberg stellte gegen Ende der vierziger Jahre, als sich die Verbindung von Genetik und Medizin bereits in Forschungsstrukturen niedergeschlagen hatte, fest: „The study of inherited diseases in animals is a new branch of medical science.“16 Medizin war einer der Motoren des Prozesses, aber, wie hier gezeigt werden soll, nicht in der Form, dass der Verbindung aus Genetik und Medizin ein vorformuliertes Bedürfnis vorausging. Es ist noch einen Schritt weiter zu gehen und zeitlich wie epistemologisch vor der Anwesenheit eines Interesses am Humangenetischen einzusetzen. 14 In einem eigenen Ansatz verfolgt Früh 1997 diese Frage. Vgl. Brown 2001: 121. 16 Grüneberg 1947: 256 15 13 Die Aufgabe dieser Arbeit kann jetzt also dahin gehend präzisiert werden, Verbindungspunkten von Medizin und Genetik nachzugehen, die nicht institutionell oder durch ein vorhergehendes Interesse etabliert wurden, sondern sich entgegen disziplinären Grenzziehungen und ungeachtet theoretischer oder ideologischer Determinanten diskursiv oder auf der Ebene der wissenschaftlichen Praxis herstellten. Der humangenetische oder erbpathologische Gegenstand, um den es hier geht, ist ein Gegenstand der Forschung, der nicht schon Gegenstand eines institutionalisierten oder formulierten humangenetischen Interesses war. Genau genommen, handelt es sich dabei um verschiedene Gegenstände der experimentellen Befragung, in denen sich Genetisches und Medizinisches vermischten, überschnitten und gemeinsam artikuliert wurden und die allmählich den Repräsentationsraum der Humangenetik bildeten.17 Diesen Gegenständen zu folgen, heißt, im mikroskopischen Blick Wege der Verbindung („Konjunktur“) und Trennung aufzuzeigen und damit Dynamiken transparent zu machen, die quer zu der Geschichte von Konzepten, Themen, Problemen, Techniken und Institutionen liegen.18 Dieser methodische Weg heißt nicht, makroskopische Perspektiven und Kategorien außer Acht zu lassen. Wo aber lagen die Anfänge der Verbindung von Medizin und Genetik? Was machte sie möglich, und was stärkte sie? So gefragt, wecken scheinbar nebensächliche Gegenstände und Zusammenhänge die Aufmerksamkeit, wie sie als „Tierzucht, Strahlen und Pigmente“ thematisch im Titel anklingen. Forschungsstand Bevor konkretisiert wird, was damit gemeint ist, soll ein thematischer Überblick auf den Forschungsstand gegeben werden. Es ist darauf hingewiesen worden, dass die Vererbungswissenschaft als Referenzwissenschaft für die Rassenhygiene und für sozialdarwinistische Theorien in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts an Bedeutung gewann,19 dass umgekehrt die (deutschen) zeitgenössischen Vererbungswissenschaftler keine Berührungsängste mit der Rassenhygiene oder Eugenik hatten und auch dort, wo sie heute Pseudowissenschaft zu sein scheint, als Wissenschaft firmierte.20 Die Weimarer Eugenik – auch ihr rassenhygienisch und sozialdarwinistischer Teil – repräsentierte einen „modern type of science“.21 Die Geschichte der Genetik in Deutschland ist unter Gesichtspunkten dieser Entwicklung von Eugenik, Rassenhygiene und Rassenanthropologie in zahlreichen Arbeiten angeschnitten worden. Die „interne“ Ge17 Diese Begriffswahl lehnt sich an Rheinbergers Bestimmung von „epistemic things“ an als die noch im Wagen liegenden materiellen Entitäten und Prozesse, um die herum experimentelle Systeme organisiert sind (vgl. Rheinberger 1997: 21, 23 u. 28-29). Epistemische Dinge sind nur historisch bestimmbar (vgl. ebd.: 33 u. 76). Die hiesige Verwendung weicht von dieser Definition ab, insofern der Begriff zur Bezeichnung einer Klasse von Dingen benutzt wird. 18 Vgl. Rheinberger 1997: 34; zum Begriff der Konjunktur, vgl. ebd.: 133-35; Rheinberger & Hagner 1997: 23. 19 Vgl. Weindling 1989: 235; Weingart et al. 1992: 355 bzw. Schmuhl 1987: 58. 20 Vgl. Weingart et al. 1992: 355. Zu Einzelheiten, vgl. zum Beispiel Weindling 1989: 329 u. 340f.; Weber 1993; Kröner et al. 1994; Deichmann 1995: passim; Lösch 1997. Für eine Bibliographie weiter gefasster Arbeiten über das Verhältnis von wissenschaftlicher Vererbungs- und Rasseforschung und Rassepolitik im Nationalsozialismus verweise ich auf Sachse & Massin 2000: 9-10. 21 Weindling 1985: 309 14 schichte der Genetik wird dabei zumeist ausgespart, sodass über den Beitrag deutscher Genetiker zu diesen Gebieten weitgehend eine Wissenslücke besteht.22 Die Genetik in Deutschland ist in umfassender Weise bislang lediglich von Harwood für den Zeitraum von 1900-1933 dargestellt worden.23 Das Verhältnis von Gesellschaft und Rassenhygiene und ihren Referenzwissenschaften, das durch das „rassenhygienische Paradigma“ charakterisiert worden ist, soll neu hinterfragt werden.24 Die konkrete strukturelle Vermittlung wissenschaftlicher Theorieproduktion und sozioökonomischer, politischer bzw. kultureller Kontexte umreißt Schmuhl wissenssoziologisch als schichtenspezifische Wahrnehmung und somit „Reflex realhistorischer Transformationsprozesse“ seit dem späten 19. Jahrhundert.25 Weindling spezifiziert dies und sieht Eugenik vor allem als ein Produkt des Bildungsbürgertums und der Überschneidung von Biologie und Medizin,26 sodass dann gilt, dass „the new directions in Weimar biology were determined by the political and economic conditions“.27 Im Sinne einer solchen sozialhistorischen oder sozioökonomischen Perspektive stellen sich das rassenhygienische und das vererbungswissenschaftliche Wissen und die mit ihnen verbundenen Institutionen als Ausdruck von Wandlungsprozessen moderner Gesellschaften dar. Zu diesen Wandlungsprozessen zählen Szientismus als die Identifizierung empirisch-quantitativer Verfahren mit wissenschaftlichem Vorgehen überhaupt und Verwissenschaftlichung als die zunehmende Durchdringung aller Lebens- und Handlungsbereiche durch wissenschaftliche Rationalität. Unter diesem gesellschaftstheoretischen Blickwinkel subsumieren Weingart et al. Eugenik als Produkt der – biologischen – Wissenschaft.28 Die Verwissenschaftlichung stellt sich bei ihnen im konkreten als Biologisierung des Sozialen dar.29 Der „technokratische“ Gesellschaftsbezug von Wissenschaft, den sie dabei entdecken,30 lässt aber fragen, ob jener Rationalisierungsprozess damit einem technokratischen Gesellschaftswandel entspricht.31 Wird Wissenschaft im Nationalsozialismus unter diesem Aspekt untersucht, so lassen die vielgestaltigen Machtverhältnisse zwischen politischen und wissenschaftlichen Institutionen ein vorsichtigeres Bild zeichnen, das keine klare Struktur aufweist, sondern nur „Ideologen“ und „Technokraten“ unterscheiden 22 Vgl. Kröner et al. 1994: 78; Kröner 1998: 4 u. 12; Weingart et al. 1992: 544. Vgl. Harwood 1993. Zu speziellen Darstellungen zu dem Zeitraum 1900-1945, vgl. unter anderen Goldschmidt 1960; Kappert 1978; Roth 1986; Plarre 1987; Dorna 1995; Deichmann 1995; Dietrich 1995; Harwood 1996; Satzinger 1996; Potthast 1996; Harwood 1997; Satzinger 1998; Harwood 2000a; Satzinger 2000; Rheinberger 2000a; Rheinberger 2001; Mendelsohn 2001; Heim 2002; Harwood 2002; Gausemeier 2002; Flittner 2002; Wieland 2002; Scheich 2002. Vgl. auch diverse Artikel in Jahn 1990. 24 Vgl. Schmuhl 1987: 71. Vgl. auch Kaufmann 1998: 348. 25 Schmuhl 1987: 71 26 Vgl. Weingart et al. 1992: 6 (5-10). 27 Weindling 1985: 318 28 Vgl. Weingart et al. 1992: 16-18, 87 u. 142-43; Kröner 1998: 11. 29 Vgl. Weingart et al. 1992: 143 u. 528. 30 Weingart et al. 1992: 142 31 Die Technokratiethese ist aus der Technokratiediskussion der sechziger Jahre in der BRD hervorgegangen, angestoßen durch Gehlen 1957 und Schelsky 1965 bzw. ebenfalls entwickelt von Marcuse 1970 und Habermas 1968. In Umwandlung dieser wissenschaftsdeterministischen Perspektive sieht Stehr 1994: 40 in der Verwissenschaftlichung die Eröffnung neuer Handlungsoptionen in der „Wissensgesellschaft“. 23 15 lässt.32 Unter Berücksichtigung dieser Einschränkung bietet es sich an, den entscheidenden Kern der These vom technokratischen Gesellschaftswandel – die Ersetzung politischen Handelns (gesellschaftlicher Willensbildung und staatlicher Steuerung) durch wissenschaftlich-technische Sachzwänge – zu verwenden, um bestimmte Formen des wissenschaftlichen Selbstverständnisses beschreiben zu können: Im „technokratischen Bewusstsein“ wird Normativität durch die Faktizität wissenschaftlicher und technologischer Produktion ersetzt.33 Eine weitere Bestimmung, die in direktem Zusammenhang der Verwissenschaftlichung steht und sich als nützlich erweisen wird, ist die des „Experten“. Positionen Um zu verdeutlichen, in welcher Weise sich diese Begriffe – technokratisches Bewusstsein und Experte – im Übergang von der Trennung wissenschaftstheoretischer und wissenschaftssoziologischer, kognitiver und sozialer oder interner und externer Annäherungen an Wissenschaft einordnen, soll erst die grundsätzliche Position dieser Arbeit hinsichtlich der Rolle der Genetik bei der Entwicklung der Humangenetik und Rassenhygiene verdeutlicht werden, um dann ihren konzeptuellen Rahmen zu erläutern. Ich teile die These Weindlings, dass die Humangenetik älter als ihr Taufdatum ist, dass ihre Geschichte nicht mit einem fundamentalen Bruch anzusetzen ist und ihre Wurzeln nicht zuletzt in der Pflanzen- und Tiergenetik zu suchen sind.34 Die Verbindung von Genetik und Humangenetik ist von der Eugenik zwar nicht zu trennen. Die Feststellung, dass „genetics was indistinguishable from scientific eugenic“,35 trifft aber nicht den Punkt, wenn damit die eingleisige Bedingtheit der Entwicklung des Mendelismus durch den medizinischen Gedanken der Verhütung von Erbkrankheiten gemeint ist.36 Andererseits ist der These von der Schwäche der Genetik und ihrer Vernachlässigung im Nationalsozialismus nicht haltbar.37 Dies gilt gleich32 Vgl. Weindling 1985: 493-97, Herv. Verf.. Während Weindling diese Spaltung im Herrschaftssystem des Nationalsozialismus selbst verortet, wo sie Konfliktstoff birgt, entspricht sie bei Kröner der – sich ergänzenden – Entgegensetzung von Wissenschaft und Nationalsozialismus selbst. Die „technokratischen Träume und Utopien“ der Erbforscher und Anthropologen hätten „die Nazis“ als Legitimierung ihrer Ideologie genutzt (Kröner 1998: 59). Wissenschaft und Nationalsozialismus standen im Verhältnis der „gegenseitigen Indienstnahme“ zu einander, deren Effekt die ‚verschleiernde’ „Szientifizierung der Ideologie“ war (ebd.). Dies heißt, dass das Verhältnis von Wissenschaft und Nationalsozialismus im Zentralen keine Einheit bildete. 33 Vgl. auch Mehrtens 1980: 42 (40-45). Zu „technokratischem Bewusstsein“, vgl. Habermas 1968: 88-89. 34 Vgl. Weindling 1993: 643 u. 648. Die Emanzipierung der Humangenetik als medizinische Genetik wird als Bruch mit der Eugenik verstanden, der in England und den USA in den 1930er einsetzte (vgl. Kevles 1995: 193 u. 205), in Deutschland in den frühen vierziger, tatsächlich sich aber erst in den sechziger Jahren vollzog (vgl. Weingart et al. 1992: 144-45, 561 u. 622ff.). Es ist jedoch andererseits auf die zunehmende Bedeutung der Genetik für die Anthropologie als einem Strang der disziplinären Genese der Humangenetik in den zwanziger und dreißiger Jahren hingewiesen worden (vgl. Massin 1993: 225ff.), so dass Kaufmann 1998: 348 von einer „rassenhygienisch-genetischen Wende in der Anthropologie“ spricht. 35 Weindling 1985: 307 36 Vgl. Weindling 1993: 644. 37 Vgl. Propping & Heuer 1991: 79-80. Die Autoren beziehen sich auf die These von Nachtsheim 1955b: 10; vgl. auch Nachtsheim 1953a: 319; Nachtsheim 1947c: 149. Nachtsheims Beurteilung bezieht sich auf die Breitenwirksamkeit der Genetik und die Verankerung der Erb- 16 falls für die These ihrer Wirkungslosigkeit im Vererbungsdiskurs und Diskurs der Eugenik und Rassenhygiene in der Weimarer Republik.38 Aus all dem folgt, dass die Medikalisierung der Humangenetik und ihre Abkehr von sozialtechnologischen Konzepten der Eugenik unzulässig mit dem „Sieg der Genetik über die Eugenik“ zusammengebracht werden.39 Die These ist dagegen, dass die Genetik von der Weimarer Republik an die Verbindung von Medizin und Eugenik substanziell stärkte.40 An der Geschichte des KWI für Anthropologie, das an der Spitze der Medikalisierung stand, lässt sich zeigen, dass sie mit dem ununterbrochen bis heute aktuellen Programm der „Genetifizierung“ der Medizin41 verbunden und Teil des Programms der genetischen Fundierung des Wissens vom Menschen und untrennbar von Eugenik war. Ferner lautet die These, dass dieses Programm gerade im Rückgriff auf Genetik und die konzeptuellen und methodischen Innovationen der Genetik in den dreißiger Jahren einen Entwicklungsschub erlebte. Die Medikalisierung der Humangenetik folgte ihrer Mendelisierung. Diese Verbindung wurde bereits in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren unter starker Beteiligung der Genetik in zweierlei Weise präformiert. 1. In die Medizin wanderten genetische Methoden und mendelgenetische Problemstellungen ein. 2. Die Genetik näherte sich – aus unterschiedlichen Gründen – pathologischen Themen. Dies wird anhand dreier Fallbeispiele in dieser Arbeit erhärtet: A. am Werdegang des Genetikers Hans Nachtsheim und der Kaninchengenetik am Institut für Vererbungsforschung der Landwirtschaftlichen Hochschule, Berlin, und dem KWI für Anthropologie (Kapitel 2, 6 u. 7), B. am Aufbau von zentral organisierten Versuchstierzuchten für medizinische Forschung durch die Notgemeinschaft deutscher Wissenschaft (Kapitel 3 u. 4), C. am Diskurs um die Gefahr der Erbschädigung durch die Anwendung von Röntgenstrahlen in der Gynäkologie (Kapitel 5). Es zeigt sich, dass die Genetisierung und Medikalisierung der menschlichen Vererbungsforschung mit der Entwicklung in den angelsächsischen Ländern den Umstand teilte, dass sie bereits Anfang der dreißiger Jahre einsetzte und durch den ‚Mutationismus’ – die große Bedeutung der Mutationsphänomene in der Genetik – befördert wurde.42 Es wird das Bild einer durch ein mutationsgenetisches Dispositiv eingefassten strahlengenetischen Episteme zu zeichnen und Rassenlehre des Nationalsozialismus, nicht auf ihr Verhältnis zur Eugenik. Nachtsheim betont zugleich die Verantwortung und das schuldhafte Versäumnis der Genetiker zum Protest gegen die „Rassentheorie Hitlers“. Dagegen, vgl. Weingart et al. 1992: 556-57. Weingart et al. 1992: 560 sehen die Schwäche der Genetik – trotz einer zunehmenden genetischen Fundierung der Rassenhygiene im Nationalsozialismus – in ihrer politischen Marginalisierung. 38 Vgl. Weingart et al. 1992: 355 u. 365-66; dagegen Weindling 1993: 646. 39 Vgl. Weingart et al. 1992: 635-36. – Dagegen steht die These, dass die deutsche Eugenik im Wesentlichen ein medizinisches Profil annahm. Sie ist demnach als ein Produkt sozialer Umbrüche in der deutschen Gesellschaft seit der zweiten Hälfte des 19. Jh. zu begreifen, in deren Folge Wissenschaft, Biologie und Medizin zu zentralen Elementen sozialer Interessen und Affirmation wurde: Eugenik als medizinisch-biologische Ideologie der sozialen Integration (vgl. Weindling 1989: 7-10 u. 574-77). 40 In diese Richtung geht Roth 1986 (zugleich: Roth 1999). 41 Zur Aktualität, vgl. Vogel 1990, Höhn 1997; Vogel 1998. 17 sein, deren produktive Wirkung in allen drei Beispielen von entscheidender Bedeutung war. Hans Nachtsheims sticht in der Genetik dieser Zeit hervor, da seine Forschung spätestens ab Mitte der dreißiger Jahre programmatisch eine Verbindung zwischen Humangenetik, Medizin und Genetik darstellte. Sein Programm einer „vergleichenden Erbpathologie“ ist insofern ein besonderes; dennoch ist es auch exemplarisch für die Hinwendung der Genetik und speziell der Säugetiergenetik zu pathologischen Problemen (wenn auch der Bezug damit nicht unbedingt humangenetischer Art war). Die Person Nachtsheims war wiederholt Gegenstand historiographischer Untersuchungen, da er im Nationalsozialismus geradezu personifiziert am Schnittpunkt von Genetik, Humangenetik und Eugenik stand sowie eine führende Rolle in der Reetablierung der Genetik und Humangenetik in der Bundesrepublik einnahm.43 In der Beachtung dieser Zusammenhänge sind aber seine Tätigkeiten im Kaiserreich und in der Weimarer Republik unterbelichtet geblieben. Dies erweist sich im Hinblick auf die hier aufgeworfenen Fragen nun aber als Nachteil, da, so wird zu zeigen sein, die Darstellung Nachtsheims Rolle nach 1933 im Lichte vorhergehender Ereignisse von erheblicher Bedeutung für die Interpretation seiner Person im Spannungsfeld von „Wissenschaft und Gesellschaft“ ist. Der Schlüssel zum Genetiker und Eugeniker Nachtsheim scheint mir weniger in seiner mendelschen Eugenik als seinem technokratischen Selbstverständnis als Wissenschaftler zu liegen, das ihn unter den Bedingungen der Techniknähe und des Universalitätsanspruchs der mendelschen Genetik innerhalb des biomedizinischen Diskurses zu einer kompromisslosen Haltung disponierte, die Züge eines ‚mendelgenetischen Weltbildes’ annahm. Diese Haltung bedingte die szientistische Anwendung genetischer Konzepte auf nicht-genetische Problemfelder und ergänzte sich mit einem selbstbeschränkten politischen Bewusstsein. Da der mögliche Raum von Politik in Nachtsheims Verständnis eng entlang der Grenzen der eigenen Wissenschaft orientiert war, konvergierte die Dichotomie von Wissenschaft und Politik von ihren beiden Polen her. Die eugenische Exponierung war nur ein folgerichtiger Ausschnitt dieser Haltung. Darüber hinaus betraf sie den mendelgenetischen Fundamentalismus, den Nachtsheim im Spektrum der deutschen Vererbungslehre einnahm, die kämpferische Genetisierung der Landwirtschaft, die eng gefasste Programmatik der vergleichenden Genetik und Erbpathologie sowie letztendlich die Modellierung von Kaninchen im Wechselspiel von Experiment und Menschenversuch. Die grundlegenden Aussagen dieser Charakterisierung bilden eine Struktur und Verfasstheit wissenschaftlicher Arbeit und ihrer gesellschaftlichen Verortung, die auch auf andere Teile und Vertreter der Genetik zutreffen. 42 Zu USA und England und der Erforschung von Mutationsraten und der Frequenz rezessiver Gene, vgl. Kevles 1995: 204ff.. 43 Vgl. Weindling 1989: 557-73 u. Register; Harwood 1993: siehe Register; Deichmann 1995: 302-19; Klee 1997: 228-30; Kröner 1998: 97-118 u. 209-35; Müller-Hill 2000: 216 u. 220 (zugleich: Müller-Hill 1999); Paul & Falk 1999; Deichmann 1999; Proctor 2000: 19 u. 35; Sachse & Massin 2000: 36-38; Klee 2001: siehe Register. Studien, die über den hiesigen Untersuchungszeitraums hinausgehen: Paul, Diane: The Cold War in Genetics: Hans Nachtsheim and Human Genetics in Post-War-Germany, History of Science Annual Meeting, New Mexico, 17.1.1993; Neppert 1997; Hahn 2000: 8, 60-61, 110 u. 122-29. 18 Die Geschichte Nachtsheims, dessen exponierte Rolle zunächst zu einer personalisierten Wahrnehmung der Verbindung von Genetik und Medizin verleiten mag, führt unter dem zeitlich erweiterten Blickwinkel zu einer Wissenschaftsgeschichte, die sich abseits der intentional oder ideologisch, ideengeschichtlich oder konzeptuell sowie institutionell geleiteten Sicht ereignet. In diese Richtung gehen auch die anderen beiden Beispiele dieser Arbeit, die weiter unten erläutert werden. Unter einer solchen Perspektive vervielfältigen sich die Verbindungen zwischen Genetik und Medizin oder Genetischem und Medizinischem, in denen der erbpathologische Gegenstand hergestellt wurde. Sie waren häufiger, intensiver und von größerem Einfluss, als bislang dargestellt. Dieser Blickwechsel korrespondiert mit der Kritik an bisherigen Ansätzen. In der soziologischen Sicht der Wissenschaft als einer neuen und dominierenden Produktivkraft bleibt die Produktion dessen, was ihre Mächtigkeit begründet, Wissen und Technik nämlich, unterbelichtet. Das Unternehmen Wissenschaft bleibt in einer kaum thematisierten Autonomie verhangen. Die Frage, wie es zur Stabilisierung und Vereinheitlichung wissenschaftlichen Wissens kommt, bleibt in einer Black Box.44 So behält die Wissenschaft auch in Gesellschaftstheorien, die den besonderen Einfluss der Wissenschaft auf die Gesellschaft konstatieren und dies mit Kritik an der Art des wissenschaftlichen Wissens verbinden, ihren Sonderstatus. Entstehungsbedingungen der modernen Wissenschaft, die Qualitäten der wissenschaftlichen Erkenntnis und die Art und Weise ihrer praktischen Durchsetzung bleiben außerhalb der Betrachtung bzw. werden vorausgesetzt.45 Angenommen aber, wissenschaftliches Wissen ist wesentlich fragil, dann heißt das, dass es ständig aktiv stabilisiert, erhalten und vermittelt werden muss. Damit rücken die Aktivitäten der Wissenschaft, ihre Produktionsprozesse und der Wissenschaftler selbst als aktive Teilnehmer in den Mittelpunkt der Betrachtung. In den verschiedenen Beispielen dieser Arbeit geht es um Formen dieser Aktivität in der Wissenschaft. Mit „Experten“ und „technokratischem Bewusstsein“ werden dann im weiteren die Weisen charakterisiert, wie Wissenschaftler die Grenzen der Wissenschaft aktiv überschreiten.46 Unter dieser Maßgabe stellen sich beispielsweise die Beziehungen von Genetikern zum Machtapparat des Nationalsozialismus als verschiedene Formen von „Kollaborationsverhältnissen“ dar.47 Vor dem Hintergrund jener vielfältigen Verbindungen und Bedingungsverhältnisse, unter denen der erbpathologische Gegenstand Form gewann, ist zudem zu schlussfolgern, dass sie dem Verhältnis von Eugenik und Genetik vorhergehend sein konnten oder sich unabhängig davon herstellten. Wenn dies so ist, stellt sich allerdings die Frage, was das Gemeinsame dieser vielfältigen ‚Pro44 Vgl. Stehr 1994: 209 u. 219. Zu dem Problem der Einheit und Stabilität in der Wissenschaft, vgl. auch Hacking 1992: 29. 45 Vgl. Stehr 1994: 276. Das trifft auch auf die ältere Wissenschaftssoziologie im Ganzen zu (vgl. Hasse et al. 1994: 225). 46 Als „Experte“ wird hier jemand verstanden, der Spezialwissen bereitstellt, über das und mit dem Macht und Herrschaft zunehmend mediatisiert wird (vgl. Szöllösi-Janze 2000: 47-48). In die Vermittlung und Anwendung von Wissen ist der Experte aktiv eingebunden (vgl. Stehr 1994: 391). Auf die Rolle des Experten in den spezifischen Kontexten weisen auch Weindling 1989: 34 u. 7, Mehrtens 1994a: 14 und Harwood 1993: 306 hin. 47 Zu „Kollaborationsverhältnisse“, vgl. Mehrtens 1994a: 14. 19 duktionsverhältnisse’ war, durch das letztendlich die genetische Humangenetik hervorgebracht wurde. Als Antwort auf diese Fragestellung soll hier nur thesenhaft formuliert werden, dass die Experimentalisierung, das technokratische Bewusstsein und das rassenhygienische Paradigma gemeinsam diese überbrückende und konvergierende Funktion einnahmen. Aktualität Mit Blick auf die außerwissenschaftlichen Einflüsse ist aber zum rassenhygienische Paradigma anzumerken, das es als Paradigma einer Kuhnschen Normalwissenschaft und scientific community48 kein soziologischer Begriff in dem Sinne ist, dass er für sich schon verdeutlichte, wie Wissenschaft zu Gesellschaft kommt und umgekehrt.49 Bevor ich deutlich machen werde, in welcher Weise die Produktion des erbpathologischen Gegenstands außer als normalwissenschaftliche Explikation eines Paradigmas verstanden werden kann, möchte ich kurz auf die Aktualität einiger Themen dieser Arbeit hinweisen, die sich mit jüngsten Entwicklungen in der Genetik und Genomforschung auftun. Nicht zuletzt wegen mancher Ähnlichkeiten zwischen den historischen Debatten und der Gegenwart erscheinen die methodischen Überlegungen wichtig, um die richtigen Vergleiche anzustellen, die ‚richtige’ Geschichte von Kontinuität und Brüchen schreiben und heute die richtigen Fragen stellen zu können. An der Person Hans Nachtsheims ließe sich zeigen, in welcher ungebrochenen Weise in der genetischen Forschung Probleme und Themen nach 1945 wieder aufgenommen und weiter entwickelt wurden. Die Geschichte liest sich aber auch auf der Folie des heutigen Booms molekulargenetischer Forschung und des Human Genome Projects als eine Wiederaufnahme von Problemen und Fragen des Mendelismus der zwanziger und dreißiger Jahre in Deutschland – in molekularbiologischer Lesart. Allen voran steht die Renaissance entwicklungsphysiologischer Fragen, mit denen in der functional genomics die Brücke zwischen Genloci und dem Phänotyp geschlagen werden soll. Für die Humangenetik und das genetische Verständnis von Krankheiten sind der Ausbau der vergleichenden 48 Mit der „scientific community“ wird der oben angesprochenen Notwendigkeit nachgekommen, unterhalb von Disziplinen und oberhalb verstreuter lokaler Praktiken, die Bildung von Homogenität und Stabilität zu beschreiben. S.c. charakterisiert eine spezialisierte Gruppe von Wissenschaftlern, die durch die Befolgung eines gemeinsamen Paradigmas bestimmt ist (vgl. Kuhn 1967: 29). Ich möchte im Folgenden Kuhns Bergriffsverwendung nur eingeschränkt übernehmen, da andere Gruppierungen sinnvoll und notwendig sind (Forschergruppen innerhalb einer „Experimentalkultur“ oder um ein „boundary object“ herum). 49 Es sei zudem angemerkt, dass die Vermittlung von „Wissenschaft und Gesellschaft“ auch in der Diskurs- und Machttheorie Michel Foucaults nicht voll erfasst wird (vgl. Honneth 1989: 19091). Allerdings ist für Foucault (ab „Überwachen und Strafen“) wissenschaftliches Wissen wie Wissen überhaupt nicht nur konstitutiv für Macht, sondern umgekehrt auch durch Macht hervorgebracht, wenn auch Foucault es nicht auf die diskursive Hervorbringung zu reduzieren scheint (vgl. Foucault 1976: 39; Deleuze 1987: 58; Lemke 1997: 90ff.). Es böte sich auch an, Foucaults „Mikrophysik der Macht“ und seinen dezentralen Machtbegriff auf die Vielfältigkeit der Vermittlungswege zwischen genetischen Wissen und Machtverhältnisse anzuwenden, zumal anderseits Foucault mit der „Bio-Macht“, der Regulierung der Bevölkerung, Disziplin der Körper und zuletzt der Gouvernementalität der Risiken selbst das biomedizinische Wissen ins Zentrum seiner Genealogie der Macht stellt (Foucault 1999a). Dass dies zumeist mit dem Blick auf neuere Entwicklungen der Gentechnologien geschieht (vgl. Lemke 2000), liegt nicht zuletzt daran, dass sich die spezifischen Entstehungsbedingungen und Ausformungen des Nationalsozialismus der genealogischen Analytik entziehen (vgl. Foucault 1999a: 96 u. 300-02). 20 Genetik und die Rückkehr von Säugetieren als Modelle entscheidend. Aus der Sicht der Humangenetik stellt sich die entwicklungsbiologische Untersuchung der Pathogenese als eine Möglichkeit dar, den komplex verursachten Krankheiten in genetischen Begriffen Herr zu werden.50 Von einer ähnlichen Motivation war die Humangenetik der dreißiger Jahre geleitet, als sie sich mit der genetischen Entwicklungsphysiologie zu verbünden suchte (Kapitel 7). Es wird heute auch an die über Jahrzehnte zurückgestellte Hoffnung angeknüpft, den genetischen Erklärungsanspruch auf so genannte multifaktorielle Formen der Vererbung, auf alle Arten der variablen Merkmalsmanifestation und die Verschränkung von Vererbung, Epigenese und Umwelt (Ernährungsfragen und Infektionskrankheiten) ausweiten zu können (Kapitel 4).51 Es bahnt sich ein genetisch fundiertes „ganzheitliches Modell’ an ähnlich der Ankündigung einer „modernisierten und genetisch fundierten Ganzheitsauffassung des Organismus“ durch den Genetiker Nikolaj Timoféeff-Ressovskys 1934 – mit dem Unterschied, dass heute die Grenze zwischen Individuum und Umwelt in der Interaktion verschiedener (menschlicher und nicht-menschlicher) Genome aufgelöst wird.52 Daher stellt sich die Frage umso dringender, was es mit der „postgenomischen“ Ära auf sich haben wird.53 Methodische Einordnung Auch in der neueren Geschichtsschreibung des Nationalsozialismus wird die Unterscheidung von good science und bad science beibehalten. Die Frage nach der Gesellschaftlichkeit von Wissenschaft und danach, wie Wissenschaft sich genau in Strukturen und Ziele gesellschaftlicher Arbeitsteilung einbindet,54 drängt aber danach, auf neuere Entwicklungen in der Historiographie der Wissenschaften und Epistemologie zurückzugreifen und die ‚interne’ wissenschaftlichen Tätigkeiten nicht vorauszusetzen, sondern Wissenschaft als einen Prozess der Produktion von Wissen zu verstehen.55 Die szientistische Wissenschaftskonzeption ist in den vergangenen Jahren von einem soziohistorischen Verständnis der Wissenschaftsentwicklung abgelöst worden. Die Black Box wurde geöffnet. Es zeigte sich, dass Wissen keineswegs an eine bestimmte Form der Rationalität oder Logik gebunden ist oder ausschließlich als nicht-lokales Wissen produziert wird. Wissenschaftliches Wissen ist fragil, und der Ort der Produktion wissenschaftlicher Erkenntnis unterscheidet sich vielfach nicht von der Situation der Produktion alltäglicher Wissensformen. Wird Wissenschaft und speziell die hier im Zentrum stehenden experimentellen Wissenschaften nicht als eine Institution verstanden, die – zumindest im Kern – eigenen Gesetzen gehorcht und einen Prozess der Kumulation und linearen Fortentwicklung von Wissen und seiner fortschreitenden Verbesserung, Rationalisierung oder Annäherung an eine unabhängig von ihr bestehende Realität trägt, dann erklärt sich der neue Stellenwert ihrer Aktivitäten für historische Betrachtungen. 50 Vgl. Vogel 2000: 492. Vgl. Vogel 2000: 489-99; von Schwerin 2001; Lemke 2002. 52 Vgl. Timoféeff-Ressovsky 1935b: 112; Lemke 2002: 25. 53 Vgl. Fox Keller 2000: 9. 54 Vgl. Mehrtens 1980: 40. 55 Vgl. Biagioli 1992: 199. 51 21 Diese Arbeit versucht deshalb den Anschluss zu Strömungen herzustellen, die sich in den science studies mit den Schlagworten science-as-practice bzw. Experimentalismus verbinden. Kennzeichnend ist die Kritik nicht nur an ideen-, personen- und institutionenzentrierter Wissenschaftsgeschichte, sondern auch an dem fortwährenden Primat von Theorie in relativististischen Wissenschaftstheorien (kulturrelativ) und in der sociology of scientific knowledge (interessenrelativ).56 Wenn ich auf der anderen Seite weiterhin auf umfassende historische oder soziologische Termini nicht verzichte, so stellt dies keinen Eklektizismus dar, sondern spiegelt die – anhaltende – Schwierigkeit wider, zwischen der lokalen, situativen und differenziellen Produktion von Wissen einerseits und seiner Stabilität oder der Einheit der Wissenschaft andererseits sowie dem Zusammenwirken von Wissenschaft und anderen gesellschaftlichen Praktiken und Diskursen zu vermitteln.57 Gegen die reduzierende und idealisierende Soziologisierung führte die Beschäftigung mit der wissenschaftlichen Praxis und ihrer materiellen Gestalt (Techniken, Apparate) ein Stück weit zurück.58 Die experimentelle und technische Praxis stellen sich als Bereiche relativer Autonomie dar. Wissenschaftliche Kultur, so aber die wichtige Botschaft, besteht gleichermaßen aus materiellen, institutionellen, sozialen und konzeptuellen Aspekten, die nicht in einheitlicher Beziehung zu einander stehen und somit disziplinäre Schemata obsolet machen. Die Betonung der Heterogenität, Multiplizität und Unreduzierbarkeit verabschiedete zugleich „Interesse“ als zentrale Kategorie.59 Dies führt zur Frage, wie Theorie und Experiment technisch und sozial vermittelt sind.60 Von hier aus erklärt sich die aufgeworfene Frage, wie eine Ge56 Das Experiment und die Praxis werden letztlich immer nur als Überprüfung oder Exemplifikation von Theorie dargestellt und untersucht (Die Vorliebe des logischen Empirismus für die Empirie bezieht sich auf die Beobachtung, die nicht mit dem Experiment gleichgesetzt werden kann). Bei Kuhn drückt sich dies in der „Priorität der Paradigma“ aus (Heidelberger 1998: 7275). – Die Spannung zwischen Sozialem und Politischen einerseits und dem Wissenschaftlichen andererseits ist seit fast dreißig Jahren Gegenstand der inzwischen stark diversifizierten science studies, die zumindest eines zusammenhält: die Historisierung des wissenschaftlichen Wissens und damit die Zugänglichkeit auch seines bisherigen „internen“ Kerns – des Rechtfertigungszusammenhangs – und damit die Kontextualisierung der Wissenschaft als Ganzes. Dies fand als die Betonung der Theorie und Sprache bei Bachelard, Wittgenstein und Kuhn gegenüber den wissenschaftlichen Tatsachen statt, denen in der positivistischen Wissenschaftsphilosophie oder in realistischen Konzeptionen ein besonderer Status zugeordnet wurde. An die Historisierung schloss die Soziologisierung an, der Versuch, wissenschaftliches Wissen als ein soziales – und damit entweder relativistisches, konstruktivistische oder diskursives – Produkt darzustellen (vgl. Pickering 1992: 1; Lynch 1992: 215). Daneben findet sich ein Strang der ethnomethodologischen Studien, die zum Teil aber eng mit der sociology of scientific knowledge (SSK) verbunden sind (vgl. ebd.: 216). Teil der SSK war die Beschäftigung mit der wissenschaftlichen Praxis, wodurch die Frage aufgeworfen wurde, in welchem Verhältnis Praxis und Theorie stehen. 57 Vgl. Pickering 1992: 8-9; Rheinberger & Hagner 1997: 26. – Das Problem tritt auch dann auf, wenn – wie bei Foucault – Macht in ähnlicher Weise wie ‚Erkenntnis’ an Mikropraktiken in- und außerhalb von Institutionen gebunden und somit verstreuter, pluraler und dezentrierter gedacht wird. 58 Die Beschäftigung mit der wissenschaftlichen Praxis und dem Experiment wurde durch empirische Untersuchungen von Latour & Woolgar 1979 und Knorr-Cetina 1991 und wissenschaftsphilosophisch durch Hacking 1996 eingeleitet. Als Überblick, vgl. Hasse et al. 1994. 59 Vgl. Pickering 1992: 8 bzw. Lynch & Woolgar 1990: 9 u. 16. 60 Vgl. Lenoir 1992b: 177. 22 schichte der Details den besonderen Einfluss erklären kann, den die Wissenschaft entfaltet. Wie können wenige Bewegungen in einem Labor eine Gesellschaft verändern, wie es Latour provokativ mit der „Pasteurisierung“ Frankreichs ausgedrückt hat?61 Vor dem Hintergrund, dass wissenschaftliches Wissen als ein historisches Produkt gelten kann, stellt sich nun umgekehrt die Frage, wie dieses Wissen politisch, kulturell, sozial oder ökonomisch wirksam wird. Latour hat ein Modell für diese aktive Rolle der Wissenschaft entworfen, in dem das gesellschaftliche Handeln des Wissenschaftlers als Teil der Produktion des wissenschaftlichen Wissens begriffen wird.62 Die historiographische Beschreibung folgt Handlungen und Aktivitäten oder dem „interessement“ als einer Gruppe von Aktionen.63 Daraus ergibt sich ein erweitertes Netzwerk, in dem die Interessen verschiedenartigster Akteure nur im transitorischen Zustand der Übersetzung („translation“) existieren.64 Wenn der Prozess, in dem beispielsweise sich Nachtsheims vergleichende Erbpathologie zu einem Programm herausbildete, nicht als Aufeinandertreffen von fixen Interessen beschrieben wird, sondern als die Möglichkeit und Realisierung von Assoziationen, dann erweitert sich das Bild von der wissenschaftlichen Aktivität um die Eigenbewegung der technischen und experimentellen Ermöglichungsbedingungen und die zahlreichen Gegenstände im Experiment (Kapitel 2 u. 6).65 Die Stärke dieses Praxisbezuges für das Thema dieser Arbeit, das nicht die Disziplin der Humangenetik, sondern – davor- und danebenliegend – die Herausbildung des erbpathologischen Gegenstands ist, liegt darin, die Realisierung des erbpathologischen Gegenstands in verschiedenen Formen seiner Repräsentation verfolgen zu können. Verschiedene Repräsentationsräume, in denen menschliche Krankheiten in Konzepten der Vererbungswissenschaft dargestellt wurden, werden nun angetroffen.66 In der Sicht, in der die Dinge und Objekte der Wissenschaft an ihr materielles und diskursives Medium gebunden sind, stellen die experimentellen Anordnungen „hybride Gebilde“ dar: die „Forschungsobjekte, Experimentiervorrichtungen, Instrumente sowie disziplinäre, institutionelle, soziale und kulturelle Dispositive bilden hier ein Amalgam“, in dem die relative Autonomie von Theorie und Praxis einschmilzt.67 Die Analyseebene der experimentellen Systeme und ihrer Gegenstände umfasst Aktivitäten innerhalb eines Ensembles von Experimentalsystemen eines Instituts,68 wech- 61 Vgl. Latour 1999a: 269 bzw. Latour 1988. Vgl. Latour 1987. 63 Vgl. Latour 1987: 213 bzw. Callon 1999: 71. 64 Vgl. Latour 1987: 108-16. 65 Vgl. Latour 1987: 141, 175 u. 202; Latour 1999b: 284. 66 Repräsentation wird hier im Zuge der Überwindung der paradigmatischen Rolle sprachlicher Strukturen als eine materiell verankerte kulturelle Tätigkeit verstanden (vgl. Rheinberger & Hagner 1997: 25). Eine praxisorientierte Repräsentationsanalyse rekurriert auf die experimentellen, instrumentellen, pragmatischen und diskursiven Aspekte wissenschaftlicher Symbolproduktion gleichermaßen (vgl. ebd.; Hagner 1997: 338). Repräsentation ist Produktion und Reproduktion oder „eventuation“ (intervention, invention, creation of events) (Rheinberger 1997: 108). 67 Rheinberger & Hagner 1997: 14-15. Foucault fasst Dispositive als ein Netz aus heterogenen Elementen auf, die diskursives und nicht-diskursives umfassen (vgl. Foucault 1978: 119-20). 68 Diese Ensembles in den Grenzen eines Instituts nenne ich im Folgenden „Experimentalkomplex“. Siehe zur Erläuterung 2.1.2, Seite 80. 62 23 selt aber nahtlos zu anderen Laboren, anderen wissenschaftlichen Kulturen, verstreut sich und zielt nicht zuletzt auch auf außerwissenschaftliche Bereiche. Im Folgenden soll der ‚rote Faden’ dieser Arbeit entlang thematischen Blöcken – Tiermodelle, das Verhältnis von „Wissenschaft und Gesellschaft“ und der erbpathologische Gegenstand – aufgezeigt werden. Anschließend folgt eine inhaltliche Übersicht der Reihe nach. Modelle Zu jenen Aktivitäten der Wissenschaft gehört die für die Experimentalwissenschaften zentrale Prozedur der technologischen und irreversiblen Umwandlung von einem aufgefundenen Objekt in ein „wissenschaftsfähiges Modellobjekt“.69 Zu solchen Modellobjekten gehören die Modellorganismen der Biologie und der Genetik. Sie sind die Objekte der Experimente: Fliegen, Frösche, Mäuse, Kaninchen usw. Auch die erbpathologischen Gegenstände waren an Modellobjekte und die Herstellung von Modellsystemen gebunden. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich im genetischen Diskurs der zwanziger und dreißiger Jahre die grundlegende Bedeutung von Modellorganismen für die genetische Forschung und ihre praktisch-diskursive Wirkung auf die Medizin. Diese Bedeutung wurde mit der Geburt der vergleichenden Genetik, die gegen Anfang der dreißiger Jahre anzusetzen ist noch verstärkt. In einer historischen Perspektive haben die Modelltiere der Genetik bereits einige Beachtung erfahren.70 Gerade im Hinblick auf die Renaissance von Modellorganismen im Zusammenhang des Human Genome Projects bzw. mit Entwicklung der functional genomics könnte eine methodische Reflexion in den Fachwissenschaften erwartet werden.71 Es zeigt sich aber, dass die Geltung von Modellen wie schon in den dreißiger Jahren nicht in expliziten und isolierten Verhandlungen, sondern im Gebrauch bestimmt wird und ihre Einführung als soziotechnischer Prozess aufzufassen ist.72 Es sei an dieser Stelle angedeutet, dass die Modelle der vergleichenden Genetik als experimentelle Modelle für den Menschen eine besondere Problematik aufwerfen. In die Schemata wissenschaftstheoretischer Unterscheidungen lassen sie sich nicht einfach einordnen. Ein theoretisches Modell ist beispielsweise die Repräsentation eines Mechanismus, eines Ablaufs oder einer Beziehung. Das vergleichende Modell versucht hingegen eine Simulation, auf deren Grundlage erst Repräsentationen angestrebt werden. Das vergleichende Modell interessiert nur als Modell für die Medizin. Der Maßstab ist der menschliche Organismus, mit dem in der Regel nicht experimentiert werden darf. Es ist ein Ersatz. „The mouse was – and still is – a powerful useful surrogate for man in inquiry as to whether principles and phenomena found in ‚simpler’ systems apply 69 Rheinberger & Hagner 1997: 22; vgl. auch Rheinberger 1997: 108-10. Vgl. Clarke, Fujimura 1992; Clause 1993; Zallen 1993a; Kohler 1993; Burian 1993; Gaudillière 1994; Amann 1994, Rader 1995; Keirns 1999; Gaudillière 1999; Rader 1999; Fujimura 1999; Amsterdamska 2001; Gaudillière 2001a. Neuere Literatur zu Modellorganismen schließt zumeist an wissenschaftsphilosophische Unterscheidungen an (vgl. Wagner 1997; Schaffner 1998 (u. folgende Aufsätze darin); Ankeny 2001). 71 Ausnahmen sind: Bell 1984; Leiter et al. 1987; Erickson 1989; Darling & Abbott 1992; Brenner 2000; Benner & Gaucher 2001. 72 Vgl. Gaudillière 1994: 233; Gaudillière 2001a: 91. 70 24 to the human.”73 Das Tiermodell hat den Vorteil, dass es ein einfacheres „System” ist als der menschliche Referent. Dies ist zugleich der Ausgang der Problematik solcher imitierenden Modelle: Das Manipulative und Konstruktive ist expliziter und ausgeprägter als sonst in den Modellorganismus eingeschrieben.74 Kapitel 5.4 und 6.3 vertiefen diesen Denkansatz. Der Umgang mit Organismen steht auch in den anderen Kapiteln – bis auf das erste – in verschiedener Weise im Mittelpunkt: Die Modelltiere treten einerseits als Vermittler der wissenschaftlichen Praxis, Konzepte, Probleme und des politisch-gesellschaftlichen Kontextes auf. Differenzielle Reproduktion ist eine zentrale Bedingung der Möglichkeit der Experimentalwissenschaften, die die ‚Mitarbeit’ der Modelle erforderte (Kapitel 4). Diese Möglichkeitsbedingung verbindet die Organismen mit der Produktion neuer epistemischer Dinge wie auch mit der Formung des Diskurses moderner Naturwissenschaften (Kapitel 2). In einem anderen Beispiel lässt sich darstellen, wie Modelltiere das Zusammentreffen und die Dynamik zwischen zwei Fachgebieten (Säugetiergenetik und Serologie) vermittelten; die Vermittlerrolle basierte auf ihrem konstruktiven Charakter und nicht auf ihrem ‚Wesen’ (Kapitel 3). Das Zusammentreffen von bislang getrennten scientific communities kann unter gegebenen Umständen auch konfrontativ sein. Die Verknüpfungen, die durch das Ereignis der Röntgenmutationen möglich wurden, verwirklichten die unterschiedlichen Akteure, indem sie den Status von genetischen Modellen und experimentellen Repräsentationsräumen der Genetik härteten (Kapitel 5). Die direkte Übertragung von Techniken, Objekten und Modellen zwischen Genetik und Humangenetik wiederum blieb im Wesentlichen einseitig (Kapitel 7). Die Zuspitzung von Modellen auf Modellorganismen der vergleichenden Genetik bzw. Erbpathologie führt ins Zentrum des Themas dieser Arbeit. Die Modellierung von Tiermodellen für menschliche Erbkrankheiten bewegte sich in einer zweifachen Reflexionsstufe der Experimentalisierung, die als Bewegung zwischen Imitat, Surrogat und Supplement verdeutlicht werden kann (Kapitel 6). Die unerfüllte Identität zwischen dem Modell und seinem menschlichen Referenten sowie die Handlungszwänge der science in action sind der Ausgangspunkt dafür, ein extremes Beispiel wissenschaftlicher Grenzüberschreitung – den Menschenversuch – und die Frage nach dem Zusammenhang von Experimentalisierung und Brutalisierung der Forschung zu thematisieren (Kapitel 8). Das Verhältnis „Wissenschaft und Gesellschaft“ Ausgehend von Harwoods wissenssoziologischer Unterscheidung zweier Denkstile in der deutschen Vererbungswissenschaft wird der frühe Werdegang von Hans Nachtsheim nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft untersucht (Kapitel 1). Die Produktivität seiner Unterscheidung liegt meines Erachtens darin, auf Kontexte der mendelschen Genetik hinzuweisen, die ‚alte’ Fragen nach dem Zusammenhang von Moderne, Wissenschaft und Technik wieder 73 McKusick & Roderick 1987: 5 Unmittelbar einsichtig zeigt sich die Produziertheit von Modellen mit Beginn der transgenetischen Ära in der Molekularbiologie. Durch Genmanipulation und schließlich durch Übertragung menschlicher Gene in den tierischen Organismus sollen die Tiermodelle eine immer bessere Simulation eines Prozesses im Menschen ergeben. 74 25 aufnehmen. Unter welchem Vorzeichen dieser Zusammenhang dann aber ausgeführt wird, hängt nicht zuletzt von der gesellschaftstheoretischen Fundierung ab. Anhand der Untersuchung von Nachtsheims Verständnis von Wissenschaft kann in Abgrenzung zu anderen Handlungsformen von Wissenschaftlern eine spezifiziert werden, die sich allgemein durch die Tendenz zur Suspendierung von Politik durch wissenschaftlich-technisches Wissen charakterisieren lässt, das heißt die Ersetzung politischen Handelns durch die unbeschränkte Übersetzung von Naturwissenschaft, Technik und andere Bereiche gesellschaftlicher Praxis ineinander (das heißt nicht, dass keine Politik mehr statt findet, sondern die Performanz politischen Handelns ersetzt wird). Diese Übersetzungen sind mit Blick auf die Rolle des Wissenschaftlers das Thema von Kapitel 1, 2 und 6. Der pathologische Gegenstand In Kapitel 2 wird gezeigt, wie sich der pathologische Gegenstand aus einer bestimmten Konstellation der experimentellen Bedingungen in Nachtsheims Experimentalsystem herausbildete. Kapitel 6 verfolgt dann die weiteren Einflüsse, unter denen der pathologische Gegenstand zum zentralen Gegenstand für Nachtsheims Experimentalkomplex wurde. Diese Einflüsse liegen in der Konstitution moderner Naturwissenschaft wie der forschungspolitischen Situation des Nationalsozialismus. Kapitel 3 zeigt ähnlich zum zweiten Kapitel die Entwicklung des humangenetischen Gegenstands als unintendiertes Ergebnis, das heißt – hier – als die tastende und explorative Anwendung der genetischen Experimentalmethode auf serologische Probleme. Die Verschiebungen sind wechselseitig, da im Zusammentreffen („conjuncture“) der Experimentalsysteme medizinische Probleme genetisch umgedeutet wurden sowie die Genetik medizinische Fragestellungen adaptierte. Kapitel 4 exemplifiziert die Nichtintentionalität dieser Entwicklungen. Kapitel 5 nimmt dann eine institutionelle Perspektive ein, da in der Auseinandersetzung über die Gefahr von Röntgenstrahlen sich zwei disziplinär getrennte und institutionell organisierte Gruppen, Gynäkologen und Genetiker, gegenüberstanden. Der erbpathologische Gegenstand ging aus der Mischung politischer Interessen und interessement hervor. Kapitel 6 zeigt, wie unter den veränderten Bedingungen des Nationalsozialismus die Technikund Politikfähigkeit der Genetik die Stabilisierung und Stärkung des erbpathologischen Gegenstands übernahm. Kapitel 7 bewegt sich innerhalb des – in der deutschen Genetik – schon institutionell präformierten Übergangsfeldes von Genetik und Anthropologie. Das spezielle Interesse der Humangenetiker an der umfassenden Genetifizierung des Menschen führte zur Adaptation genetischer Konzepte und Methoden sowie zur Instrumentalisierung des Pathologischen in ihrer experimentellen Strategie. Gliederung der Inhalte Die Arbeit kann ihrem historischen Gegenstand nach in drei Teile gegliedert werden: Teil A (Nachtsheim, Tierzucht und Pigmente) umrahmt dabei Teil B (Versuchs-Tierzucht) und Teil C (Röntgenstreit, Strahlen und Mutationen). Teil B und C liefern Interpretationshilfen für den ersten Teil. Alle Teile werden nicht nur durch Überschneidungen in den Protagonisten, Institutionen, Problemen oder Zielen zusammengehalten. Sie bewegen sich alle im Diskurs und inner- 26 halb der experimentellen und gesellschaftlichen Praxis der mendelschen Genetik und liefern jeweils Facetten für ein verallgemeinerndes Bild der Genetik der zwanziger und dreißiger Jahre. Teil A umfasst die ersten zwei Kapitel und wird ab Kapitel sechs fortgesetzt. Die Kapitel dieses Teils bewegen sich entlang des Entwicklung von Hans Nachtsheim und fragen danach, wie aus Nachtsheims Experimentalsystem zur genetischen Analyse von Merkmalen von Haustieren für die Landwirtschaft an der Landwirtschaftlichen Hochschule das Forschungsprogramm einer vergleichenden und experimentellen Erbpathologie erwuchs und Nachtsheim damit in den Mittelpunkt einer humangenetisch orientierten Genetik rückte. Diese Entwicklung umfasst den Zeitraum 1920 bis 1945. Es macht wenig Sinn, Nachtsheim als singuläre Figur auftreten zu lassen. Der erbpathologische Gegenstand und die vergleichende Genetik hatten viele Entstehungsgründe und -quellen. So war Nachtsheims Weg eng an das Arbeitsumfeld im Institut für Vererbungswissenschaft und ganz besonders an seine verehrte Kollegin Paula Hertwig gebunden. Es hätte sich also angeboten, eine Gruppenbiographie anzulegen, die auch Hans Stubbe oder Günther Just sowie die Schülergeneration (Kurt Koßwig, Hans Grüneberg, Hans Steiniger und Archibald Kaven) hätte umfassen können. Aus den erwähnten epistemologischen Gründen sollte aber gerade über die Sozialisation und Enkulturation von Mentalitäten, Stilen und Schulen hinausgegangen werden. Zwischen dem ersten Teil sind deshalb zwei inhaltlich eigenständige Teile eingeschoben. Im Teil B, der Kapitel 3 und 4 umfasst, steht das Zoologische Institut von Alfred Kühn in Göttingen und die Versuchstierzuchtanlagen der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft im Mittelpunkt. Die Aufmerksamkeit gilt der Zusammenarbeit mit dem Staatlichen Institut für experimentelle Therapie in Frankfurt und seinem Leiter Friedrich Kolle zwischen 1928 und 1934. Teil C (Kapitel 5) bewegt sich in einem Diskursraum zwischen Genetikern, Anthropologen, Gynäkologen und Röntgenologen – Experimentalmedizinern, Klinikern und Eugenikern. Er handelt von einer langwierigen Auseinandersetzung zwischen 1927 und 1936 um die möglichen Gefahren, die von der Verwendung von Röntgenstrahlen in der medizinischen Diagnostik und Therapie, insbesondere in der Gynäkologie, ausgehen würden. Inhalt und Realgeschichte Zunächst wird die wissenschaftliche Sozialisation von Hans Nachtsheim dargestellt – von Richard Hertwig und Richard Goldschmidt kommend zu Erwin Baur an die Landwirtschaftliche Hochschule, wo sich seine Genetik als eine auf Landwirtschaft zweckorientierte „Haustiergenetik“ und ideale Ergänzung am Institut darstellte. (1.1) Nachtsheim entsprach dem exakten Spiegelbild Baurs in der Weise, wie er in der aufstrebenden, aber noch ungeordneten deutschen Pelztierzucht im Sinne der Genetik und Nationalökonomie agierte. (1.2) Hieran schließt sich eine Fallstudie an, die die Verhandlungen und Verschiebungen im Diskurs des Wissenschaftlers Nachtsheim mit Kaninchenzüchtern über die Signifikation und Bedeutung eines neuen Fellmerkmals verfolgt. Als zentraler Ordnungspunkt dieser konfliktreichen Auseinandersetzung fungierte die Pathologisierung des Merkmals. (2.1) Von hier aus lässt sich in einer Art Exkurs ein Leitkonzept von Krankheit entsprechend dem Prinzip von Broussais 27 ausmachen, das ebenso wesentlich für das Verständnis von Affinitäten und Neuorientierungen in Genetik und Eugenik war wie der ‚Mutationismus’ der Genetik. (2.2) Der zweite Teil beginnt mit der Darstellung der Aktivitäten in der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft zur Einrichtung zentraler und professionalisierter Versuchstierzuchten für die medizinische Forschung zwischen 1920 und 1934. (3.1) Im Verlauf dieser von Medizinern und Genetikern getragenen Bemühungen wurde der Zweck solcher Anstalten wiederholt neu bestimmt und letztlich eng an genetisches Know-how gebunden. (3.2) In der Mikroperspektive lässt sich die methodisch-technische Dynamik verfolgen, durch die im Staatsinstitut für experimentelle Therapie (Frankfurt) genetische Fragestellungen mit Legitimität und Relevanz versehen wurden und, umgekehrt, am Göttinger Zoologischen Institut die Säugetiergenetik unter Friedrich Kröning zunehmend mit pathologischen Merkmalen zu tun bekam. (3.3) Die Darstellung wird fortgesetzt mit der Untersuchung von Alfred Kühns Engagement bei der Einrichtung von Versuchstierzuchten in einer epistemologischen Perspektive. Nach Überlegungen zum Verhältnis von Standards (Identität) und Differenz im Forschungsprozess, (4.1) wird der paradigmatische Umbruch in der mendelschen Genetik um 1930, das heißt die Hinwendung zu kleinen, variablen und physiologischen Merkmalen, dargestellt (4.2) und herausgearbeitet, in welcher Weise den Versuchstierzuchten am Göttinger Institut eine integrale Rolle in der Neukonzipierung des genetischen Organismusbildes zufiel (4.3). Im dritten Teil werden Kühn und das Institut für Vererbungsforschung von Baur zusammengebracht. Der Hintergrund ist die therapeutische Anwendung von Röntgenstrahlen in der Gynäkologie zur „temporären Sterilisation“. (5.1) Unter dem Banner von Strahlengenetik und Mutationsforschung wurden die damit verbundenen medizinischen Probleme eugenisch umgedeutet. (5.2) Dies gab Anlass zu Forschungsvorhaben in der Genetik (unter anderen durch F. Kröning und F. Martius, P. Hertwig, N. Timoféeff-Ressovsky, H. Stubbe) – durchaus mit Gewinn für die Genetik. (5.3) Die Auseinandersetzung zwischen Genetikern und Gynäkologen war vor allem eine über die experimentelle und vergleichende Methode der Genetik und ihrer Modelle. (5.4) Diese Diskussion um Tiermodelle in der Genetik leitet über zur Fortsetzung der Geschichte Nachtsheims. Die Entwicklung seiner experimentellen und publizistischen Tätigkeit in den dreißiger Jahren und die Formulierung des Forschungsprogramms einer „vergleichenden und experimentellen Genetik“ 1934 wird entlang der historischen Kategorien von Bruch und Kontinuität untersucht. (6.1) Ein weiteres Fallbeispiel – die Diskussion um die Diagnostik der „erblichen Epilepsie“ in der Psychiatrie nach Erlass des „Gesetz zu Verhütung erbkranken Nachwuchses“ und Nachtsheims Beitrag dazu – kann die in 6.1 kursorisch entwickelte These vom technokratischen Gesellschaftsbezug der Wissenschaftler exemplifizieren. (6.2) Es wird dann auf die Konjunktur der vergleichenden Genetik in Dahlem und die Bedingungen des Diskurses um Tiermodelle in der vergleichenden Genetik zurückgekommen, um sich mit der epistemologischen Problematik des Homologiekonzepts zu beschäftigen. (6.3) 28 Hiernach werden die Fortentwicklung Nachtsheims vergleichender Genetik in den vierziger Jahren und ihre Integration am Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, Eugenik und menschliche Erblehre dargestellt. (7.4) Den Hintergrund dazu liefert die Entwicklung der Humangenetik in den dreißiger Jahren, wie sie an diesem Institut antizipiert wurde. Methodische Unzulänglichkeiten und das Projekt der ‚Genetifizierung’ des Menschen führten in der Adaptation des „Höheren Mendelismus“ und der Phänogenetik zur Entwicklung von Strategien zur Ausweitung der humangenetischen Kompetenz. (7.1) Genetifizierung und Medikalisierung der menschlichen Erblehre waren ein starker Trend. (7.2 u. 7.3) Von hier aus könnte der Anschluss an die medizinische Humangenetik nach 1945 gesucht werden. Das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft ist aber über Eugenik (6.1) hinaus auch im Zusammenhang von Menschenversuchen zu untersuchen. Die Epilepsieforschung Nachtsheims am KWI entwickelte eine eigene Dynamik, in der die naturwissenschaftlich-analytische Konzeption von Modellorganismen nicht zufällig (8.1) neben sozialen Bedingungen der Forschungskultur (8.2) von entscheidender Bedeutung waren. An dieser Stelle kumulieren die in den vorausgehenden Kapiteln vorgenommenen Bestimmungen und Unterscheidungen zu mendelscher Genetik, Experten, „technokratischem Bewusstsein“ und Experimentalisierung. (8.3) Es kann schließlich am Beispiel von Hans Nachtsheim angedeutet werden, inwiefern der Nationalsozialismus für die Genetiker und die Vererbungswissenschaft alles andere als einen Ausnahmezustand bedeutete und wie in der Bundesrepublik nahtlos die alten Probleme der Forschung aufgenommen und weiterentwickelt wurden sowie ihre gesellschaftliche Relevanz in Kontinuität aktualisiert wurde. (8.3) Quellen Als Quellen wurde auf wissenschaftliche Literatur (siehe Literaturverzeichnis) und Archivalien (siehe Anhang: archivarische Quellen) zurückgegriffen. Einige Fachzeitschriften wurden systematisch zu bestimmten Themen (Vererbungswissenschaft, vergleichende Genetik, Kaninchenzucht, temporäre Sterilisation, Cardiazolprovokation von Krampfanfällen) durchgesehen (siehe Anhang: Fachzeitschriften). Den Kern der Archivarbeit bildete die Recherche von Korrespondenzpartnern von Hans Nachtsheim, seinem Umfeld und der Genetik und von Beständen einschlägiger Institutionen der Forschungs-, Gesundheits- und Agrarpolitik. Darüber hinaus wurden Interviews mit Schülern und Mitarbeitern Nachtsheims geführt (siehe Anhang: archivarische Quellen). Über die Präsidentenkommission der Max-Planck-Gesellschaft „Geschichte der Kaiser-WilhelmGesellschaft im Nationalsozialismus“ erhielt ich Zugang zu dem seit 1989 geschlossenen (Geschäftszimmer-)Nachlass von Hans Nachtsheim im Archiv der Max-Planck-Gesellschaft.75 Der Nachlass konnte allerdings nicht mehr in Gänze berücksichtigt werden – zum Beispiel nicht Nachtsheims Laborbücher aus den zwanziger Jahren. (Die im Nachlass enthaltenen Dokumente stammen zum allergrößten Teil aus der Zeit nach 1945 und sind für die Entwicklung der Humangenetik in der Bundesrepublik eine wichtige Quelle.) 75 Vgl. dazu Kröner 1998: 8. 29 Zitation Außer Zitaten stehen Ausdrücke und Begriffe in Anführungszeichen, die dem zeitgenössischen Sprachgebrauch entnommen sind und einen spezifischen Jargon wiedergeben, aber nicht im Einzelnen belegt werden. In einfachen Anführungszeichen beziehen sich auf eigene Ausdrücke. 30 1 Wie erobert man ein Terrain? Heilsbringender Mendelismus und Landwirtschaft 1 „Man sagt immer: ‚Züchten ist eine Kunst’, aber ‚Züchten ist auch eine Wissenschaft!’” Die Entwicklung der Erbpathologie und der landwirtschaftlichen Genetik in Deutschland weist Parallelen in ihren Problemen und Zielen auf.2 Diese Parallelen scheinen nicht zufällig zu sein, da die Konzepte und Techniken der mendelschen Genetik in hervorragender Weise dazu geeignet waren, als Instrumente einer neuen, modernisierten Form von Wissenschaft zu dienen. Der Zoologe und Genetiker Hans Nachtsheim war Vertreter eines pragmatisch orientierten Typus von Wissenschaftlern, deren Verständnis von Wissenschaft eng an ihren Nutzen gebunden war und deren kognitive und mentale Strukturierung das subjektive Gegenstück zu jenem Transformationsprozess der industriellen Gesellschaft war, der allgemein als Verwissenschaftlichung gefasst wird. Dementsprechend war Nachtsheim ein glühender Verfechter der mendelschen Genetik, die, nachdem die Arbeiten Gregor Mendels 1900 neu gelesen worden waren,3 einen ungeahnten Siegeszug angetreten hatte. Mendelismus, Verwissenschaftlichung und technisch verstandener Fortschritt tendierten dazu, eine Einheit zu bilden. Bevor noch die mendelsche Genetik in den medizinischen Diskurs eindringen und für die Humangenetik produktiv werden konnte, entfaltete sie im landwirtschaftlichen Vererbungs- und Züchtungsdiskurs eine umwälzende Wirkung. Sie stand in Koinzidenz mit dem agrar-industriellen Umwälzungsprozess des späten Kaiserreichs und der nationalökonomischen Autarkiepolitik Deutschlands nach dem ersten Weltkrieg, welche den sozioökonomischen Hintergrund für die Szientifizierung der Landwirtschaft bildete. Der einfache Formalismus der mendelschen Gesetze entsprach den Ansprüchen an eine technisch effektivierte Landwirtschaft. Er ermöglichte die atomisierende und ökonomische Zergliederung der Oberflächen der Organismen und zugleich die Abtrennung ihres Lebensgeheimnisses als monadisches Wirkprinzip im Körperinnersten. Die Landwirtschaft als ein spezifisches Terrain, das durch eine eigene Rationalität strukturiert war, bildete die Projektionsfläche für die Techniknähe der mendelschen Genetik, und sie bildete das Terrain, auf dem die „messianischen Mendelianer“4, die Genetiker, die hier im Mittelpunkt stehen werden, mit dem Zweck tätig wurden, wissenschaftliches Wissen als Anwendungswissen zu implementieren. ‚Züchten’, um Nachtsheim zu paraphrasieren, ‚ist nichts anderes als Wissenschaft’.5 Die Genetiker bewährten sich bei der Ausdehnung der gesellschaftlichen Funktion des Wissenschaftlers, indem sie als Experten, Mediatoren und Organisatoren agierten. Diese Wissenschaftler befanden sich mehr, als jemals Wissenschaftler zuvor, aktiv mitten im gesellschaftlichen Vermittlungsgefüge von Macht und Herrschaft.6 Um die epistemologische Seite dieser neuen Funktio1 Nachtsheim 1934f: 525 Vgl. auch Heim 2002: 151. 3 Zum Begriff der „Wiederentdeckung“ der mendelschen Regeln, vgl. Falk 1995b: 221-25. 4 Harwood 2000a: 1065 – Oder vorsichtiger: die missionarischen Mendelianer. 5 Vgl. das voran gestellte Zitat Nachtsheims. 6 Vgl. Szöllösi-Janze 2000: 48. 2 31 nen hervorzuheben, könnten sie auch als boundary persons bezeichnet werden, verwandt also mit den boundary objects, jenen wissenschaftlichen Gegenständen, durch die verschiedene Bereiche der Wissenschaft verbunden und in einander übersetzt werden.7 Übersetzen bedeutet, zu interpretieren und zu verschieben: Interessen werden verschoben, Fakten ‚re-repräsentiert’.8 Der Wissenschaftler als Mediator kennt keine Grenze zwischen Wissenschaft und Politik – ohne dass er sich selbst als politisch verstehen muss. Hier trifft Latours Diktum zu: „Science is politics pursued by other means“.9 Mit eigenen Mitteln verfolgte die Wissenschaft ihre Politik auch im politischen Raum, hier: auf einem agrarpolitischen Terrain. Die Durchsetzung von wissenschaftlicher Autorität lässt sich als die Bildung von Allianzen beschreiben, die durch wissenschaftliche boundary objects und persons vermittelt werden. 1.1 Nachtsheim und das Primat der Gene an der Landwirtschaftlichen Hochschule in Berlin „Die Gene bewahren also ihre Integrität, das ist der Fundamentalsatz der Theorie vom 10 Gen, der Genotypenlehre und des ganzen Mendelismus.“ Die hier am Beispiel des Zoologen und Genetikers Hans Nachtsheim vorgestellte Geschichte der vergleichenden Erbpathologie beginnt mit einer scheinbaren Zäsur, dem Wechsel Nachtsheims 1921 vom Zoologischen Institut der Universität München an die Landwirtschaftliche Hochschule in Berlin. Nach Harwoods wissenssoziologischer Typologie der deutschen Genetik seit 1900 war dies ein Wechsel vom einen zum anderen Extrem. Der Weg Nachtsheims von der ganzheitlichen Biologie zur mendelschen Genetik ist der Rahmen, in dem der Harwoodschen Typisierung veräußerter kognitiver und mentaler Struktur – „Stile“ – nachgegangen werden soll. Während die meisten deutschen Vererbungswissenschaftler dem Gelehrtenideal der deutschen Universität verpflichtet waren und sich und ihre Wissenschaft als Träger der Kultur in einem umfassenden Sinne verstanden – als „Mandarine“ –, bildete sich eine Gruppe von „Außenseitern“ heraus, deren biologisches Interesse und deren vererbungswissenschaftliche Probleme und Strategien sich auf die mendelsche Genetik beschränkten.11 Diese Wissenschaftler forcierten den Spezialisierungsprozess in der Wissenschaft. Sie orientierten sich nicht an umfassenden Fragen, sondern an der Praxis. Nachtsheim erscheint als Prototyp des pragmatischen Genetikers.12 Mithin spiegelt sich nach Harwood in dieser kognitiv distinkten Charakterisierung der Modernisierungsprozess in Deutschland wider.13 Den Topos der Modernisie7 Vgl. Star & Griesemer 1999: 509. Vgl. Latour 1987: 108 (99, 117 u. 241). 9 Latour 1999a: 273 10 Federley 1930: 24 11 Hier und nachfolgend, vgl. Harwood 1993: 351-52. 12 „Denn das Pragmatische, nicht das Philosophische ist die Essenz dieses großen Genetikers und Biologen. [...] Dieses Pragmatische in Form und Inhalt macht Nachtsheim zu einem modernen Menschen, [...]“ (Günther & Hirsch 1970: II-III). 13 Vgl. Harwood 1993: 352. 8 32 rung aufnehmend, soll Harwoods Unterscheidung durch Einbezug des modernen Szientismus ergänzt werden. Die mendelsche Genetik – oder „Mendelismus“ in der Sprache seiner kompromisslosen Verfechter – entsprach dem, was von einer nutzfähigen biologischen Wissenschaft erwartet werden konnte. Die These ist, dass der pragmatische Stil der so genannten Außenseiter nicht nur Reaktion auf die Demontage des Mandarin, des alten Gelehrtenmodells, war, sondern selbst ein aktiver Teil in der Bewegung der Verwissenschaftlichung gesellschaftlicher Produktions-, Lenkungs- und Entscheidungsprozesse. 1.1.1 Vom Organismus zum Korpuskel Hans Nachtsheim, 1890 geboren, entstammte der gebildeten Mittelklasse und aus einem alt-katholischen Elternhaus. Er war der einzige Sohn eines geheimen Justizrates.14 Seine Ausbildung und Enkulturation entsprach dem traditionellen deutschen Bildungsideal. In Köln besuchte er ein humanistisches Gymnasium und wuchs zwischen griechischer und lateinischer Sprachwelt, deutscher Geschichte und deutscher Literatur auf. Seine Abiturrede hielt er über das Thema „Was sind uns Griechen und Römer?“ Die Liebe zu den Naturwissenschaften entwickelte er jedoch schon parallel dazu durch „die von mütterlicher Seite ererbte Freude an der lebenden Natur“.15 Ganz ähnlich zu dem Verhaltensforscher Konrad Lorenz fand er über populärwissenschaftliche Literatur Zugang zu den Problemen der Biologie, war einer der ersten Mitglieder der 1904 gegründeten Gesellschaft der Naturfreunde und begann eigene kleine Artikel zu verfassen.16 Sein früher Berufswunsch traf nicht auf Gegenliebe, da Biologie als Liebhaberei und teils als weltanschaulich gefährlich galt, während die Mehrzahl der Gebildeten, so Nachtsheim rückblickend, „keine Ahnung“ von den Möglichkeiten dieser Wissenschaft hatte.17 Forschen und Wissenschaft waren im Kaiserlichen Deutschland erst auf dem Weg, eine akzeptierte Alternative für Beruf und Karriere darzustellen.18 An den großen Fragen von Abstammungs- und Vererbungslehre interessiert, plante Nachtsheim, bei Ernst Haeckel, dem Abstammungsforscher und einflussreichen Denker eines biologischmaterialistischen Weltbildes, zu studieren. Seine akademischen Lehrer wurden aber Richard Hertwig, ein Schüler und Anhänger Haeckels,19 und Richard Goldschmidt. Hertwig hatte sich von der Dominanz der vergleichenden Anatomie des 19. Jahrhunderts gelöst und war einer der Wegbereiter der experimentellen Physiologie geworden. Nachtsheim promovierte 1913 mit zytologischen Untersuchungen über die Chromosomenverteilung und die Geschlechtsdeterminierung bei der Honigbiene und dem viel beachteten Ergebnis, daß Drohnen aus unbefruchteten Eiern hervorgehen und 14 Die folgenden biografischen Daten sind entnommen aus: Ulrich 1950; Nachtsheim 1964b; Günther & Hirsch 1970; Wolf 1981; Vogel 1980a; BA D, RME, ZB II 1869, Akte 2, HSA FU, PA Nachtsheim; UHUB, Landw. Fak. v. 1945, PA Nachtsheim, Nr. 1067, Bd. 2. Vgl. auch Nachtsheims Lebenslauf im Abriss im Anhang. 15 Nachtsheim 1964b: 9 16 Vgl. zum Beispiel Nachtsheim 1911b; Nachtsheim 1911a. 17 Nachtsheim 1964b: 10 18 Vgl. Weindling 1991: 182-83. 19 Richard Hertwig, geb. 1850, Friedberg (Hessen), gest. 1937. Jüngerer Bruder von Oscar Hertwig. 1878 o. Prof. in Jena, dann Ordinarius in Königsberg, Bonn u. seit 1885 in München. 33 demzufolge nur einen einfachen Chromosomensatz besitzen.20 Nach Aufenthalten in den deutschen zoologischen Stationen in Triest und Rovigno in Italien dehnte er die Untersuchung auf ein mikroskopisches Objekt, einem marinen Borstenwurm, aus. Durch den Krieg unterbrochen, den Nachtsheim nicht an der Front, sondern als Soldat bei der Zensurbehörde und Mitglied der Mazedonischen Landeskundlichen Kommission erlebte, forschte er an Franz Dofleins Zoologischen Institut in Freiburg, das noch der Geist von August Weismann durchwehte, und abermals bei Hertwig in München. In der Habilitation über die Geschlechtsbestimmung bei einem marinen Borstenwurm (Dinophilus apatris) zeigte Nachtsheim, dass das Geschlecht vor der Befruchtung, noch in der Oocyte festgelegt wird.21 Richard Hertwigs Schule war eine der angesehensten biologischen Schmieden in Deutschland. Aus ihr zu kommen, bedeutete, das mandarine Gelehrtentum erfahren zu haben, mit einer allgemeinen Kenntnis und einem umfassenden Verständnis der biologischen Wissenschaft ausgerüstet zu sein und ihre Probleme im Zusammenhang sehen zu können.22 Nachtsheims Selbstverständnis war es sein Leben lang, tief in der Biologie verwurzelt zu sein.23 Die umfassende Kenntnis baute er aber als Spezialist aus, wurde durch seine unbestechliche Gründlichkeit zum teils gefürchteten Kenner der genetischen Spezialliteratur und geschätzten umsichtigen Kritiker. Mehr noch blieb Nachtsheim dem aufgeschlossenen Doktorvater Goldschmidt zeitlebens verbunden, wenn sich auch nach dessen Wechsel 1914 an das Kaiser-Wilhelm-Institut für Biologie ihre Wege nicht mehr kreuzten.24 Die anhaltende Verehrung erklärt sich nicht zuletzt daraus, dass es Goldschmidt war, der Nachtsheim die mendelsche Vererbungslehre nahe brachte.25 Hertwig war der mendelschen Vererbungslehre fern geblieben.26 Sein Schüler Goldschmidt, der sich zunächst mit Morphologie und Zellanatomie beschäftigt hatte, begann hingegen 1909 mit genetischen Untersuchungen. Goldschmidt hielt in München pionierhafte Vorlesungen zur Vererbungslehre, aus denen eins der ersten deutschsprachigen genetischen Lehrbücher hervorging.27 Darin entwickelte er den „Mendelismus“ systematisch aus der Abstammungslehre und dem Problem der Variation der Lebewesen heraus.28 Für Goldschmidt war die Vererbungslehre nicht nur von umfassender theoretischer Bedeutung, 20 Vgl. Nachtsheim 1913a. Vgl. Nachtsheim 1919b. 22 Zum breiten Spektrum Hertwigs Arbeiten, vgl. Doflein 1920; Nachtsheim 1920c; Goldschmidt 1920b und andere Artikel in dieser Ausgabe der Naturwissenschaften. Zum Familienhintergrund u. zur akademischen Sozialisation, vgl. Weindling 1991: 187-95. 23 Die umfangreiche Separatasammlung deckte alle Gebiete der Biologie ab (vgl. IGMH, SDNL). 24 Vgl. Nachtsheim 1948d bzw. Besprechung der deutschen Ausgabe von Goldschmidts Erinnerungen „In and Out the Ivory Tower“ von 1963 und das Besprechungsmanuskript zu Übersetzung von Goldschmidts „Theoretical Genetics“ ins Deutsche 1961, in der von „unserem [der jüngeren Genetiker] Meister“ die Rede ist (vgl. AMPG, Abt. III, Rep. 20A, Nr. 62). 25 Vgl. Nachtsheim 1948d: 141. 26 Vgl. Hartmann 1938: 66. 27 Vgl.Nachtsheim 1948d: 141; Goldschmidt 1960: 317, neben den Lehrbüchern von Baur 1911 u. Haecker 1912. 28 Diese Schwerpunktsetzung entsprach der zeitgenössischen Auseinandersetzung über die ‚Natur’ der Variationen der Lebewesen zwischen Biometrikern und mendelschen Genetikern (vgl. de Marrais 1974; MacKenzie & Barnes 1975; Schulz 1998: 548-51). 21 34 sondern stand bereits im Zeichen des möglichen unbegrenzten praktischen Nutzens. Die „exakte Erblichkeitslehre“ (Johannson) sei in gleicher Weise für „Zoologen und Botaniker, wie für den Arzt, den praktischen Züchter, den Anthropologen und Sociologen bedeutungsvoll“.29 In einer populären Darstellung spitzte Goldschmidt 1919 dies dahingehend zu, dass der Mendelismus „Grundlage aller Tier- und Pflanzenzucht, aber auch Rassenhygiene“ sei.30 Goldschmidt, selbst angeregt durch Richard Hertwig, war zudem ein Agent der Wissenschaft in der Öffentlichkeit.31 In Zeitungsartikeln, Vorträgen, Ringvorlesungen und später auch im Radio widmete er sich intensiv der Popularisierung der Wissenschaft. In den zwanziger Jahren regte er den Verleger Ferdinand Springer zu der dann durch ihn herausgegebenen erfolgreichen Buchreihe Verständliche Wissenschaft an. Der Schritt in die Öffentlichkeit entsprach nach Goldschmidt ganz der intellektuellen Situation der Weimarer Republik, in der ein „idealistic spirit“ zu Hause war.32 Die liberale Frankfurter Zeitung ließ wöchentlich Forscher über den Fortschritt in der Wissenschaft berichten, und es wurden Klubs und Gesellschaften gegründet, die sich mit den Themen der Wissenschaft auseinander setzten. Für Goldschmidt gehörte dieses Engagement zur kulturellen Sendung des Wissenschaftlers. Wenn Nachtsheim Goldschmidt in dem Engagement folgte, so trennten sich an diesem Punkt ihre Wege. Nachtsheims Verständnis von der Vermittlung wissenschaftlichen Wissens folgte keinem Kulturauftrag. Es ging um die Nutzanwendung oder die Legitimation der Wissenschaft. Eine scharfe akademische Auseinandersetzung mit einem Kollegen über die Geschlechtsbestimmung bei Bienen wurde nicht zufällig ‚vor den Augen’ der bayerischen Bienenzüchter in ihren Zuchtfachblättern ausgetragen.33 Die Frage, wie Drohnen oder Bienen entstehen, war von direktem züchterischem Interesse. Die Lösung dieser „schwierigen und viel umstrittenen Frage“ in seiner „außergewöhnlich tüchtigen“ Doktorarbeit brachte Nachtsheim nicht nur frühe Lorbeeren ein,34 sondern bescherte den Züchtern eine Möglichkeit, das Geschlecht des Bienennachwuchses zu kontrollieren. Diese Form des Interdiskurs – des Austauschs zwischen einer Spezialwissenschaft und anderen Bereichen der Gesellschaft – war in diesem Fall noch der Resonanzraum einer akademischen Frage. Später verkehrte sich dieses Verhältnis, als Anwendungsfragen die Folie für Nachtsheims experimentelle Arbeit hergaben. Neben der Popularisierung seiner zytologischen Arbeiten entwickelte Nachtsheim Interesse an der mendelschen Genetik. Seine Karriere als Wissenschaftsmediator gründete in der Verbindung dieser beiden Elemente: der öffentlichen Vermittlung des Mendelismus als technischer Heilsbringer. Mit der Herausbildung des Mendelismus wurde das alte Verständnis von „Vererbung“, das auf die Ausbildung gleicher Strukturen und Formen abzielte und deshalb Wachstum, Entwicklung und Reproduktion als einheitlichen Prozess begriff, durch die Trennung in Phänotyp und Genotyp abgelöst. Die Be29 Goldschmidt 1911: III Goldschmidt 1920a: Vorwort 31 Vgl. Nachtsheim 1948d: 141; Goldschmidt 1960: 233-34 u. 339-42. 32 Goldschmidt 1960: 234 33 Vgl. Nachtsheim 1912a; Nachtsheim 1912b; Nachtsheim 1915. 34 8.4.1927, Hertwig an Baur, hands. (GStA, I. HA, Rep. 87B, 20283: Bl. 41-42) 30 35 deutung von Vererbung engte sich auf die Übertragung der Vererbungsträger – die Transmission – und ihren Mechanismus ein. Der Organismus wurde zur bloßen Erscheinung oder Manifestierung der An- oder Abwesenheit der Vererbungsträger.35 Nachtsheim war der Überzeugung, dass die mendelschen Vererbungsgesetze, wie sie an Pflanzen entwickelt worden waren, auch auf das Tierreich zutreffen mussten – wenn auch ihre praktische Nutzanwendung bislang auf Schwierigkeiten stieß.36 Noch im Krieg begann er, die Brauchbarkeit seines Bienen-Experimentalsystems für mendelgenetische Arbeiten auszuloten.37 Die erbanalytischen Untersuchungen Morgans und seiner Schule, die die Fruchtfliege als innovatives Forschungsobjekt der Genetik eingeführt hatten, hielt Nachtsheim für so fundamental, dass er umfassend über das schnell wachsende und in Deutschland kriegsbedingt noch völlig unrezipierte Gebiet der Drosophilagenetik berichtete und bald darauf mit der Übersetzung Thomas H. Morgans „The physical basis of heredity“ begann.38 Morgan vertrat in seiner Schrift gegen – noch – zahlreiche gegenteilige Stimmen die Überzeugung, dass die analytisch-hypothetischen „Erbfaktoren“ der mendelschen Erbanalyse in irgendeiner Weise eine stoffliche Grundlage haben müssten und dass das Keimplasma nichts anderem als der Summe dieser Elemente entspräche.39 Nachtsheim entwickelte sich zum glühenden Anhänger und Verteidiger der Chromosomentheorie der Vererbung und ihrer korpuskularen Grundlage.40 Eine physiologisch-chemische Theorie der Vererbung sei zwar noch entfernt und bedürfe der Zusammenarbeit verschiedener Forschungsrichtungen, dennoch sei die Ablehnung der „korpuskulären Vererbungstheorie“ ein „krasses Beispiel dafür, wie fremd Physiologen und physiologische Chemiker vielfach der modernen Vererbungsforschung“ gegenüberständen.41 Angesichts der Lage, dass die von der Schule Morgans favorisierte chromosomale Interpretation der phänomenologisch beschriebenen Gen-Koppelungsgruppen keineswegs Commonsense war,42 repräsentierte Nachtsheim mit der absolutierenden 35 Vgl. Churchill 1987: 360-61; Falk 1991: 468-72. Vgl. Nachtsheim 1916b: 50-51. Nachtsheim bezog in diesem Übersichtsartikel die angelsächsische Literatur mit ein – vor allem die Ergebnisse der Morgan-Gruppe und zur Säugetiergenetik (Castle, Little, MacDowell). Weitere Übersichten folgten: Nachtsheim 1920b; Nachtsheim 1922c. – Die Position als Militärzensor gestattete es Nachtsheim, sich einen Überblick über die gesamte genetische Literatur zu verschaffen. 37 Vgl. Armbruster et al. 1917: 274. Nachtsheim wollte die „experimentelle Verifikation der Hauptthese des Mendelismus“ an der Biene durchführen, indem er sich die parthogenetische Fortpflanzung der Bienen zunutze machen wollte (Parthogenese = Jungfernzeugung. Die Männchen entstehen aus unbefruchteten Eiern.). An der Arbeit war der Pflanzenzuchtwissenschaftler Theodor Roemer (ab 1920 in Halle) beteiligt, der auf Arbeiten Mendels mit Bienen hinwies und die landwirtschaftliche Bedeutung des Mendelismus für die Tierzucht betonte. (Vgl. Nachtsheim 1916b: 50-51; vgl. auch Harwood 2002: 25ff.) 38 Vgl. Nachtsheim 1919a bzw. Morgan 1921: III; Harwood 1993: 38. 39 Vgl. Carlson 1966: 75-76. 40 Nachtsheim vertrat schon 1914 das „Kernmonopol“ der Vererbung und machte sich seine mendelsche Interpretation sofort mit der Rezeption der Arbeiten Morgans zu Eigen (vgl. Nachtsheim 1914a; Nachtsheim 1916a; Nachtsheim 1920a). 41 Nachtsheim in: Morgan 1921: 3-4, Fußn. 1 42 Der Inaugurator des Phänotypkonzepts, der Kopenhagener Pflanzenphysiologe Wilhelm Johannson, bestand zum Beispiel nach wie vor auf einer rein formalen Interpretation der GenMerkmal-Beziehung (vgl. Carlson 1966: 20-23, 36 u. 49ff.; Weingart et al. 1992: 328-35). Nachtsheim befand sich dagegen in Übereinstimmung mit zum Beispiel Curt Stern, Karl Belar 36 36 Verteidigung der Chromosomentheorie unter den deutschen Biologen eine radikale Interpretation der mendelschen Erbkonzeption, auch wenn er eingestand, dass der „zytologische Unterbau der Theorie“ ihre schwache Stelle sei.43 1.1.2 Der Mendelismus und deutsche Biologie – Primat der Gene Im Herbst 1921 wurde die Deutsche Gesellschaft für Vererbungswissenschaft in Berlin gegründet. Biologen, Vererbungswissenschaftler, Züchter und Mediziner – Anthropologen, Pathologen, Hygieniker, Psychiater – gehörten zu den Gründungsmitgliedern.44 Trotz dieser gemischten Zusammensetzung garantierte die biologische bzw. experimentelle Ausrichtung der Mitglieder genügend Gemeinsamkeiten. Paläontologen und Anthropologen sowie Zuchtwissenschaftler alten Stils waren nicht vertreten. Neo-Lamarckianer und die Anhänger der Keimplasmalehre45, die konträrsten Strömungen also innerhalb der Evolutionslehre und in den Vorstellungen von der Vererbung, blieben somit getrennt. Das heißt nicht, dass die deutsche Vererbungswissenschaft inhaltlich homogen gewesen wäre. Sie war in den zwanziger Jahren durchaus durch eine differenzierte Haltung gegenüber dem Problem der erworbenen Eigenschaften charakterisiert.46 Es existierten zahlreiche Modifikationen der strikten mendelschen Genetik auf der Basis Weismanns Keimplasmalehre einerseits und der neo-lamarckistischen Position der durch Umweltwirkung vermittelten Artentstehung. In der deutschen experimentellen Biologie und Vererbungswissenschaft dominierte anders als in der US-amerikanischen Genetik nicht jene Trennung zwischen Phänotyp und Genotyp.47 Die Frage, wie die Vererbung mit dem ganzen Organismus zusammenhing, blieb präsent. Dagegen blendete der Mendelismus den Organismus aus. Die mendelgenetische Beschäftigung mit der Vererbung als und Erwin Baur. Die meisten Zoologen und Anatomen standen der Chromosomentheorie der Vererbung kritisch gegenüber. Eine mittlere Position vertraten die meisten der deutschen Genetiker (vgl. Harwood 1993: 34, 36 u. 39-43). 43 Nachtsheim 1920a: 127-28 44 Vgl. Nachtsheim 1921a: 844. – Zu den Aufrufenden gehörten 29 biologische Wissenschaftler, Anthropologen, Mediziner und Wissenschaftler aus der landw. Zucht (zum Beispiel Correns, Fischer, Gruber, Haecker, Kronacher usw.) (vgl. Nachtsheim 1922b: 230). Von 221 Gründungsmitgliedern stammten mindestens 25 aus der Medizin (nach Angabe in der Mitgliederliste, vgl. ebd.: 274-80). 45 Die Keimplasmalehre ging auf August Weismann (1834-1914) zurück. Sie trennte die Entwicklung der Keimzellen vom übrigen Körper. Die mendelsche Vererbungslehre stützte hierauf ihre Hinwendung zur Transmission, bei der der Organismus ausgeblendet werden konnte (vgl. Churchill 1995: 437-40). Das anti-lamarckistische Lager war selbst gespalten in orthodoxe Darwinisten, die die Selektion für den entscheidenden Evolutionsmechanismus hielten, und die Mutationisten, zu denen meist auch die Mendelianer zählten. Für die mendelsche Genetik entstand daraus, dass die phänotypische Erscheinung und der Genotyp prinzipiell unabhängig von einander konzipiert wurden, die zwingende Ablehnung des Lamarckismus (vgl. Falk 1995b: 23441). 46 Vgl. Harwood 1993: 121. 47 Vgl. Weingart et al. 1992: 332+34; Harwood 1993: 51ff. u. 138; Deichmann 1995: 93. – Die Mehrheit deutscher Vererbungswissenschaftler beschäftigte sich mit Problemen der Entwicklung oder Evolution. An diese Traditionslinie, insbesondere die Schule um Hans Spemann, konnte sehr viel später die Verbindung aus Entwicklungsbiologie und molekularer Genetik anknüpfen (vgl. Fox Keller 2000: 116-17; vgl. auch Galperin 1998; Morange 2000). – In den USA wurden vereinzelt auch andere genetische Forschungsansätze verfolgt. Zum Beispiel ging der Pflanzengenetiker Rolins A. Emerson physiologischen Fragestellungen nach (vgl. Kimmelman 1992: 199). 37 Transmission ging einher mit der Prämisse vom Primat der Gene. Treffender als der Titel des amerikanischen Drosophilagenetikers Hermann J. Muller geht es nicht: „The Gene as The Basis of Life“.48 Anlässlich einer gemeinsamen Tagung der deutschen Paläontologischen und der vererbungswissenschaftlichen Gesellschaft 1929 traten die extremen Positionen deutlich zu Tage. Dabei zeigte sich, dass der Konflikt über die Mechanismen der Evolution und die Bedeutung der mendelschen Erbanlagen darin auch ein Konflikt um Methoden war. Die experimentelle Analyse, welche das Kreuzungsexperiment der mendelschen Genetik symbolisierte, stand gegen die deskriptiven Methoden der Feldforscher und vergleichenden Morphologen. Während der Paläontologe Franz Weidenreich vermittelnd beschwor, dass bei allen Schwächen der vergleichenden Methode und des hypothetischen Charakters der aus ihr abgeleiteten Deduktionen der Organismus nicht in einzelne Teile zerlegt werden dürfe, sondern offensichtlich doch als Gesamtsystem aufgefasst werden müsse, vertrat der finnische Genetiker Harry Federley die rigorose Position des Mendelismus: Die Gene seien analog zum Atom, sie seien „das Wesentliche und Konstante“, die konstanten Bausteine des Individuums, der Organismus hingegen das Abgeleitete und Zufällige.49 Für Federley machte sich die Grenze zwischen Spekulation und Exaktheit, Einsichtigen und Uneinsichtigen entlang der Methode fest: dort Morphologen, Phylogenetiker und Paläontologen, die sich der Methoden der Geschichtsforschung bedienten, hier die Genetik, die induktiv verfahre, sich auf Mathematik stütze und als physiologische Disziplin experimentell arbeite.50 Das Primat der Gene, der Transmission oder der Erblichkeit, das Federleys Position charakterisierte, war aber nicht die notwendige Konsequenz daraus, dass sich die Genetik als Experimentalwissenschaft verstand, sondern war in dieser Verabsolutierung eine Doktrin.51 Nachtsheims wissenschaftliches Engagement in der Vererbungswissenschaft bewegte sich kompromisslos entlang diesem Primat. Auf besagter Gründungsversammlung der vererbungswissenschaftlichen Gesellschaft, auf der er einen Hauptvortrag hielt, widmete sich Nachtsheim der unterschiedlichen Bedeutung des Kerns und des Zellplasmas für die Vererbung. Er verabsolutierte die mendelsche Vererbung stipulativ zum einzigen Typ „echter Vererbung“.52 In einem 48 Vgl. Harwood 1993: 84 (Bezug auf: Muller 1962b). Vgl. Weidenreich 1930: 9 u. 12 bzw. Federley 1930: 21 u. 23; vgl. auch Harwood 1993: 119f.. – Seit Muller in Berlin auf dem Internationalen Kongress für Genetik seine Röntgenexperimente über die Erzeugung von Mutationen vorgelegt hatte, sah sich diese Strömung noch bestätigt, da sie in den Genmutationen nun auch den Zugang zum Evolutionsproblem sah (vgl. Federley 1930: 42). – Selektion und Mutation blieben aber noch unvermittelt. Die kleinen Mutationen schienen den sprunghaften Mutationen der Mutationisten zu widersprechen. Mit ihnen konnte nicht erklärt werden, wie Formen und Arten aus einzelnen Mutationen entstanden. 50 Vgl. Federley 1930: 29. – Der Zoologe Max Hartmann, der keineswegs die mendelsche Vererbung verabsolutierte, gestand dem Experiment in wissenschaftstheoretischen Überlegungen ebenfalls Priorität über die verallgemeinernde Induktion der vergleichenden Methode zu (vgl. Hartmann 1930). 51 In den Worten Federleys präsentierte sich die mendelsche Genetik als die Inkarnation einer Experimentalwissenschaft. Dies war nicht untypisch, insofern die Genetik die legitime Nachfolgerschaft einer experimentellen Bewegung beanspruchte, die sich aus der Krise der Selektionstheorie seit den neunziger Jahren entwickelt hatte (vgl. Beurton 1994: 109-15). Die Verbindung von Experiment und Mendelismus war aber nicht zwingend (vgl. Harwood 1993: 94-98). 52 Nachtsheim 1922b: 251. Herv. Verf. 49 38 hierarchischen Bild charakterisierte er das Zellplasma als bloßes Baumaterial für die Zusammensetzung der Chromosomen, die den Architekten glichen: Die Erbanlagen standen für das Neue und Kreative; das Material setze nur die Grenzen.53 Die Vererbung wurde in dieser Lesart, deren mechanistischer Atomismus in der Konstruktionsmetapher des Reißbretts angedeutet war, im Zellgeschehen örtlich und materiell monopolisiert. Dagegen bestanden gerade in der deutschen Genetik alternative Konzepte, die teils lamarckistische Vererbungsmodi Raum verschafften (zum Beispiel das Konzept der Dauermodifikation), teils zwischen den diskreten „Perlen auf der Kette“ und dem ganzen Organismus vermittelten. Eine solche Zwischenstellung nahm der Zoologe Ludwig Plate ein, dessen Vorstellungen von der Vererbung erworbener Eigenschaften durch „somatische Induktion“ wiederholt Ziel Nachtsheims scharfer Kritik wurden. Plates „Erbstock“-Konzept bezeichnete eine „geschlossene, nichtspaltende“ Struktur aus „Biomolekülen“, die neben dem „Mendelstock“ im Kern lokalisiert sein sollte.54 Die alternative Erbsubstanz, die sich von der Gensubstanz durch ihre Einheitlichkeit unterschied, sollte erklären, wie die harmonische und charakteristische Ausprägung von Organtypen und Spezies zustande kommt. Für Nachtsheim war der Wert Plates blumiger Überlegungen, die jener selbst nur als theoretisches Sprungbrett betrachtete, um das Nebeneinander von Phylogenese und Vererbungsvorgänge zu beleuchten, bloß „schlechte Spekulation“, ohne den „Schatten eines wissenschaftlichen Beweises“.55 Das Primat der Gene, das sich atomistisch und korpuskular als im Chromosom materialisiertes und monopolisierten Vererbungsgeschehen äußerte, wurde in dieser Einseitigkeit nur von einer kleineren Gruppe der Genetiker vertreten. Der grundlegende Konflikt um den Monopolanspruch der Genetik äußerte sich indes auch in dem Widerspruch gegen die Mendelisten, nur bestimmte – äußerliche und unwichtige Eigenschaften – würden durch Gene beeinflusst würden. Die mendelschen Genetiker hingegen waren beständig versucht, ihren originären Zuständigkeitsbereich auszudehnen – auf artspezifische, pathologische oder physiologische Merkmale.56 Der Erfolg dieser Bestrebung war, wie sich zeigen sollte, von Innovationen abhängig, die den experimentellen Spielraum 53 Vgl. Nachtsheim 1921a: 849. Das Bild des Zellplasmas als das potenzlose Baumaterial befand sich in Gesellschaft zahlreicher sozial aufgeladener Analogien, deren Intension untrennbar war von der gesellschaftlichen Positionierung der zeitgenössischen Wissenschaftler (vgl. Harwood 1993: 337-39 (329-50); Weindling 1991: 288ff.; zum physikalisch-mechanischen Bild der Chromosomen, vgl. Falk 1995a: 65-66). 54 Hier und nachfolgend, vgl. Plate 1927: 88, 105-07 u. 113. – Plates Erbstockhypothese war nicht so weit entfernt von der bei Skeptikern gegenüber der Exklusivität mendelscher Vererbungsmechanismen recht verbreiteten Annahme eines „Grundstocks“, der als Platzhalter nichtmendelscher Vererbungsformen diente (vgl. Haecker 1922: 1221; Wettstein 1928: 378; Harwood 1993: 105-09). Die Grundstock-Hypothese wiederum war Annahmen über die cytoplasmatische Vererbung nahe, die experimentell am weitesten differenziert waren (vgl. ebd.: 115; zum Beispiel Correns 1928: 132 u. Referat). 55 Vgl. Plate 1927: 109 bzw. Nachtsheim 1925a: 816; Nachtsheim 1927c: 115. – Ganz ähnlich kritisierte N. Valentin Haecker (vgl. Nachtsheim 1922a: 255). 56 Vgl. einerseits Haecker 1922: 1221; Plate 1927: 100; andererseits: Fischer 1922: 641; Bauer 1925; Federley 1930: 25-27; Nachtsheim 1927c: 116; Koehler 1935: 1297; Baur erscheint ambivalent in: Baur 1923: 62 u. 64. In der Landwirtschaft wurde eine ganz ähnliche Diskussion um den Zuständigkeitsbereich der mendelschen Genetik geführt (vgl.Nachtsheim 1922f). 39 der mendelschen Genetik erhöhten.57 Für die Stärkung der mendelgenetischen Position war aber, wie gleich zu sehen ist, noch etwas wesentlich: das technische Versprechen. 1.1.3 Genetik und Modernisierung: Vom Mandarin zum Experten Nachdem das vererbungswissenschaftliche Feld abgesteckt und Nachtsheim darin lokalisiert worden ist, lässt sich in Nachtsheim unschwer als Prototyp des Mendelisten in der deutschen Vererbungswissenschaft erkennen, dem cytoplasmatische Forschung und nicht-mendelische Vererbung fremd waren. Anfang 1921 trat Nachtsheim seinen Dienst als Abteilungsleiter am Institut für Vererbungsforschung der Landwirtschaftlichen Hochschule in Berlin an.58 Er wurde auf Vererbungswissenschaften umhabilitiert und erhielt Lehraufträge für allgemeine und angewandte Genetik.59 Erwin Baur, Vorstand des Instituts, Mediziner und Pflanzengenetiker, war einiges daran gelegen, Nachtsheim als einen der „besten jüngeren Experimentalzoologen“ für sein Institut zu gewinnen.60 Vielleicht waren ihm auch Nachtsheims Fähigkeiten als Mediator und Organisator aufgefallen; denn Baur war eine der tatkräftigsten und entschlossensten Figuren in der deutschen Genetik, zugleich als Wissenschaftler wenig distinguiert und erst recht kein Mandarin. Der Lesart Harwoods folgend, wurde die Verbindung Baur – Nachtsheim vor allem durch eine weitgehende Strukturähnlichkeit ihres Selbstverständnisses als Forscher und ihrer sozialen wie kognitiven Loyalitäten getragen. Beide zählten zu den „pragmatics“, den durch einen pragmatischen Denkstil charakterisierten Genetikern.61 Demnach gehörten sie zu den Außenseitern eines traditionell als Mandarine auftretenden Gelehrtenapparats im Deutschen Reich. Jenes elitäre Gelehrtentum, das sich auf umfassende Bildung verpflichtet sah und im Denken ganzheitlich disponiert war, verstand sich als Stifter deutscher Kultur und nationaler Integrität. Doch Industrialisierung und die Demokratisierung nach 1918 brachten dieses Selbstverständnis in Bedrängnis. Nach Ringer reagierte ein – kleinerer – Teil der Gelehrten mit ‚Selbstmodernisierung’ darauf. Sie blieben Mandarine, schlossen aber politische Kompromisse.62 Harwood dagegen charakterisiert eine dritte akademische Gruppe, 57 Die neuen experimentellen Möglichkeiten ließen auch Vererbungswissenschaftler mit einer differenzierten Ausrichtung den Mendelismus favorisieren, wie zum Beispiel Alfred Kühn (siehe 4.2 u. 4.3). 58 Nachtsheim blieb bis 1941 am Institut. 1928 wurde N. Oberass.. Formal wurde N. als Assistent eingestellt, obwohl Baur ihm eine Abteilungsleiterstelle versprochen hatte und er faktisch die Funktion ausfüllte. Dass er dieses Versprechen nicht einlösen konnte, führte 1929 zum Bruch mit N. (vgl. 8.3.1921, Baur an Rektor der LHB, Abschrift, in: UHUB, Landw. Fak. v. 1945, PA Nachtsheim, 1067, Bd. 2: Bl. 26; 29.8.1921, PML an Baur, in: GStA, I. HA, Rep. 87B, 20281: Bl. 113; siehe auch 6.1.1). 59 Nachtsheims Vorlesungen in der chronologischen Reihenfolge der je ersten Lesung: WS 1921/22: Die Zellulosen Grundlagen der Vererbung, SS 1922: Darwinismus und Lamarckismus im Lichte der Vererbungslehre, WS 1922/23: Angewandte Vererbungslehre in der Tierzucht, SS 1923: Geschlechtsbestimmung, SS 1924: Das Domestikationsproblem, WS 1924/25: Die stofflichen Grundlagen der Vererbung, SS 1927: Die innere Sekretion der Keimdrüsen, Tierzüchterische Konsequenzen der Vererbungswissenschaft, SS 1932: Pelztierzucht (vgl. GStA, I. HA, Rep. 87B, 20283: versch. Bl.; vgl. auch AMPG, Abt. III, Rep. 20A, Nr. 141). 60 23.1.1921, Baur an PML (GStA, I. HA, Rep. 87B, 20281: Bl. 10) 61 Harwood 1993: 351-52 62 Vgl. Ringer 1987: 123-25. 40 die der Denk- und Mentalitätsstruktur deutscher Mandarine entkommen war. Vom Kulturideal entfernt, begrüßte sie die Spezialisierung in der Wissenschaft und verhielt sich, befreit aus dem Gelehrtenkosmos, durchaus politisch.63 Baur, Nachtsheim und eine ganze Reihe anderer Genetiker entsprachen genau dieser Charakterisierung.64 Von der intellektuellen Synthese waren sie heruntergestiegen, um die Rolle der Spezialisten und Experten anzunehmen.65 Baur war indes nicht engstirnig, im Gegenteil, er war der nationalen Sache verpflichtet. Deutsche Wissenschaft, deutsche Ökonomie und Gesundheit des deutschen Volkes leiteten sein Engagement. Er war einer der wichtigsten Förderer der Rassenhygiene.66 Mir scheint es vor diesem Hintergrund sinnvoll, den Begriff des Experten aufzugreifen, um die gesellschaftliche Funktion dieser Wissenschaftsgruppe stärker zu betonen.67 Wenn der schillernde Begriff der Modernisierung über sozioökonomische Umstrukturierung einerseits und akademische Spezialisierung andererseits hinaus fruchtbar gemacht werden soll, so kann mit diesem Begriff auf einen fundamentalen Zusammenhang zwischen beiden aufmerksam gemacht werden. Modernisierung kann als „Extension von Handlungsmöglichkeiten auf der Basis von Wissen“ gefasst werden.68 Die Produktion von Wissen, sozialer Wandel und die Transformation von Produktionsformen und gesellschaftlichen Strukturen werden dabei zunehmend miteinander verknüpfen. Durch ihren Formalismus war die mendelsche Genetik in besonderem Maße geeignet, als wissenschaftliches Kontroll- und Manipulationswissen an diesen Prozess anzuschließen. Das heißt nicht, dass erst mit der mendelschen Genetik die Praxis der Zucht von Nutzpflanzen und -tieren rational und planerisch strukturiert werden konnte; den Nimbus der Wissenschaftlichkeit konnte der Mendelismus aber gegen alte Zuchtmethoden monopolisieren.69 Die Rhetorik von Experimentalismus, Exaktheit, Kontroll- und Zukunftswissen gab der mendelschen Genetik von Anfang an einen technischen Charakter. Davon zeugt die frühe Verbindung von Genetik und Pflanzenzucht.70 Die pragmatischen, mehr der Transmissionsgenetik zugewandten Genetiker zeigten sich zugleich an praktischen Fragen interessiert, entwickelten an ihnen entlang ihre Probleme und Theorien; das Ziel ihrer Wissenschaft waren Mittel der Vorhersage und Kontrolle.71 Auch zum neuen Wissenschaftlertypus gehörte ein elitäres Selbstverständnis. Anders aber, 63 Vgl. Harwood 1993: 189, 269, 303-06 u. 352. Nicht im Sinne von Parteipolitik. Vgl. Harwood 1993: 210-12, 258; zu Nachtsheim: 246-47, 250, 253-54 u. 260. 65 Vgl. Harwood 1993: 306. 66 Vgl. Harwood 1993: 212. Zur Eugenik Baurs, siehe Weingart et al. 1992: 352; Weindling 1989: 465; Kröner et al. 1994; Lösch 1997: 168-75. 67 Als „Experte“ wird hier jemand verstanden, der Spezialwissen bereitstellt, über das und mit dem Macht und Herrschaft zunehmend mediatisiert wird (Szöllösi-Janze 2000: 47-48). In die Vermittlung und Anwendung von Wissen ist der Experte aktiv eingebunden (vgl. Stehr 1994: 391). Auf die Rolle des Experten in den spezifischen Kontexten weist auch Harwood 1993: 306 hin. 68 Szöllösi-Janze 2000: 46 69 Vgl. Harwood 1997: 188. 70 Die Verbindung zwischen Genetik und Landwirtschaft ist aber trotzdem insgesamt als schwach zu bewerten (vgl. Harwood 1993: 160). 71 Vgl. Harwood 1993: 212 u. 270. 64 41 als bei den Mandarinen, äußerte es sich im aggressiven Interdiskurs mit anderen gesellschaftlichen Bereichen. Bevor im nächsten Abschnitt die Figur des experto- und technokratischen Wissenschaftlers als Mediator im Mittelpunkt steht, soll zuvor an Nachtsheims Vorstellungen die Verbindung von Mendelismus und Anwendung exemplifiziert werden. Baur war seit 1914 Direktor des ersten Instituts für Vererbungsforschung in Deutschland. Als Genetiker befasste er sich mit dem Problem der Variationserscheinungen beim Löwenmaul (Antirrhinum) und beteiligte sich experimentell an der Frage, ob die Chloroplasten Vererbungsträger sein können.72 Genetische Theorie und Anwendung der Genetik waren dabei untrennbar mit einander verbunden. „Gerade so wie unsere chemischen Institute die wissenschaftlichen Grundlagen liefern, auf denen die chemischen Fabriken weiter arbeiten, gerade so muß sich auch das Verhältnis zwischen den Instituten für Vererbungslehre und den praktischen Züchtern gestalten.“73 Baus Vorbild war das schwedische Pflanzenzuchtinstitut in Svalöv.74 Das 1927 neu gegründete KWI für Züchtungsforschung in Müncheberg wurde unter Baurs Leitung so strukturiert, dass es mehr einem Industrielabor als einer akademischen Institution glich: Nach Kulturpflanzen unterteilte Arbeitsgruppen arbeiteten an der Herauszüchtung neuer, agrarintensiver und -stabiler Sorten; bis zur Hälfte des Institutsetats wurde durch die Agrarindustrie getragen; ähnlich war das Kuratorium besetzt.75 Zum Gedenktag Mendels entwarf Nachtsheim ein „Programm für die Zukunft“ der Vererbungswissenschaft – zugleich die Programmatik seiner Abteilung – und für ein „verständnisvolles Zusammenarbeiten von Theorie und Praxis“.76 Verwissenschaftlichung und Industrialisierung sollten in Zukunft auch die Tierzucht prägen. Abschätzig monierte Nachtsheim, dass die bestehende Gesellschaft für Züchtungskunde eine „mystischen Anschauungen einer vormendelistischen Zeit befangene Schule” repräsentiere und forderte, „die Nutzbarmachung der auf vererbungswissenschaftlichen Gebiete gewonnenen Ergebnisse” in der Züchtung.77 Während in der Pflanzenzucht schon einige Erfolge erzielt worden waren, könne, so Nachtsheim, nicht die Rede davon sein, dass „der Mendelismus für die Tierzucht bereits nennenswerte praktische Bedeutung gewonnen“ habe; die Tierzüchter zeigten dem „wissenschaftlichen Fortschritt ge72 Vgl. Harwood 1993: 64 u. 346. Zur wiss. Arbeit Baurs, vgl. auch Hagemann 2000. Zu anderen Arbeitsgebieten am Institut, siehe auch 3.1.2 u. 5.3.3. 73 Baur 1922: 409 – 1930 bereits formulierte er dieses Verhältnis als ein faktisches: „Schon heute ist die Züchtung eine eigene Wissenschaft geworden, welche zu der Vererbungslehre ungefähr die gleichen Beziehungen hat wie die chemische Technologie zu der Chemie” (Baur 1930b: 403, Herv. Verf.). 74 Vgl. Plarre 1987: 162. 75 Vgl. Harwood 1993: 205; Einschätzung: 218; Zahlen: 214-18; vgl. auch Harwood 2002: 29. Mindestens 11 von 30 Kuratoren waren „Rittergutbesitzer“ oder Firmenvertreter (vgl. BA B, R1501, 26802: Bl. 17). – Es ist allerdings zu beachten, dass Baur eher einer staatsinterventionistischen, kooperatistischen und antiliberalen Wirtschaftspolitik nahe stand, sich gegen den Wettbewerb in der Privatzucht aussprach und entsprechend die Verschaltung von Wirtschaft, Wissenschaft und Staat dachte (vgl. Baur 1927: 377 u. Baur 1933b (auch enthalten in: AMPG, Abt. III, Rep. 4A, Nr. 13); vgl. auch Harwood 2002: 30-31; 1.2.1). 76 Nachtsheim 1922d: 635+39 77 Nachtsheim 1924b: 183 42 genüber nicht das nötige Verständnis”.78 Ja, unter den Tierzüchten ging ein regelrechter „Horror vor den ‚Aufspaltungen’“ der Eigenschaften, dem Basiskalkül des Mendelismus, um.79 Die Haustierzucht als „praktischer Teil” der Zoologie, die in der Genetik nun eine Führungsrolle übernommen habe, stehe aber, prophezeite Nachtsheim, am Beginn einer neuzeitlichen Entwicklung auf dem Boden des Mendelismus; doch dafür sei der Aufbau der Vererbungswissenschaft an den Universitäten und eigene Anstalten für Züchtungskunde erforderlich.80 Der Mendelismus mit seinem einfachen Kalkül der mendelschen Regeln eignete sich als technische Wissenschaft, weil sie Kontrolle, Voraussage und Eingriff ermöglichten. Die Wissenschaft nahm in dieser Programmatik die Rolle des technologischen Katalysators des agrarischen Industrialisierungsprozesses an. Im Anschluss an den hier verwendeten Modernisierungsbegriff wurde damit die Modernisierung der Züchtungskunde und der landwirtschaftlichen Produktion zum Ziel der Genetik. Der Kern dieser Modernisierung bestand in der Verwissenschaftlichung der Produktionsweise. Die technologisch ausgerichtete Wissenschaft sollte den Platz einer ersten Produktivkraft der Agrarwirtschaft einnehmen.81 Am Beginn dieser Entwicklung, so fuhr Nachtsheim fort, müsse eine umfassende und am Nutzungszweck der Tiere orientierte genetische Analyse der Haus- und Nutztiere stehen, was zugleich den Ausbau des theoretischen Fundaments des Mendelismus bedinge.82 Das erste Projekt, das Nachtsheim in Dahlem in Angriff nahm, führte beispielhaft vor, um was es ging. Vom Preußischen Landwirtschaftsministerium unterstützt, führte Nachtsheim variationsstatistische Untersuchungen über die Vererbung der Zitzenzahl bei Hausschweinen durch. In der technologischen Logik standen Wissenschaft, Genetik, Zitzenzahl, Fruchtbarkeit, Ferkelzahl und Zuchtwert der Sauen in einem Zusammenhang. Nach dem Niedergang der Schweinezucht und Tierzucht allgemein in den Kriegs- und Revolutionsjahren sah Nachtsheim solche Arbeiten von weittragender „Bedeutung für große Gebiete unseres Wirtschaftslebens“.83 Als Leitfigur diente die Verschaltung von Industrie und Wissenschaft in der Technologie. Während „die schwerfällige Landwirtschaft bisher den nötigen Weitblick“ vermissen ließ, schaffe die Industrie „großzügig auch noch heute neue Institute“.84 Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert entwickelte sich eine enge Beziehung zwischen Forschung und Industrie – chemische Fabriken stell78 Nachtsheim 1922d: 635. Die eigentliche „Schuld“ läge allerdings nicht bei den Tierzüchtern selbst, sondern „an den Objekten“, an der Widerständigkeit von Tieren in der genetischen Analyse. 79 Nachtsheim 1922d: 636 80 Vgl. Nachtsheim 1922d: 640. – Hintergrund der Forderung war zudem der sich verzögernde Ausbau des Institut für Vererbungsforschung, dessen Liegenschaften von Potsdam nach Dahlem in ein neues Institut umziehen sollten. Seit 1914 lag Baur mit den Verwaltungsbehörden und Ministerienstellen darüber im Clinch (vgl. 8.11.1914, Baur an Rector der Kgl. LHB, in: GStA, I. HA, Rep. 87B, 20058: Bl. 37; 18.5.1922, Niederschrift [über Besprechung im PML zu Neubauten in Dahlem], in: ebd., 20281: Bl. 224-58). 81 Wissenschaft als erste Produktivkraft, vgl. Habermas 1968: 88. 82 Vgl. Nachtsheim 1922e: 66 u. 68. 83 Nachtsheim 1922d: 639; vgl. Nachtsheim 1922e: 65; Nachtsheim 1925b. Zu den weiteren Arbeiten am Institut siehe 2.1. Zeitgleich begann Paula Hertwig mit äquivalenten Zuchtversuchen an Hühnern. Zu Hertwigs Arbeiten, siehe 5.3.3. 43 ten den Laboren synthetische Substanzen zur Verfügung und die Forscher ihre Isolate, Gleichungen und Theoreme der Industrie. Die „Produktion von Natur“ in der Wissenschaft und die Formierung der Gesellschaft traten in eine Wechselbeziehung, die durch „praktische“ oder instrumentelle Vernunft vermittelt wurde.85 In der biologischen Wissenschaft nahm die Genetik beginnend mit den zwanziger Jahren eine vorreitende Rolle in der Technologisierung der wissenschaftlichen Arbeit ein. Baur warnte Nachtsheim, an die Landwirtschaftliche Hochschule zu kommen, hieße, den Weg des Außenseiters zu gehen: „Ich muß nur bemerken, dass natürlich die Aussichten auf weitere Berufungen pp von hier aus immer etwas schlechter sind als von einer Universität. Sie würden sich eben ganz auf ein Fach spezialisieren, für das es noch keine Professuren gibt.”86 Das spezialisierte Fach, das Baur meinte war der Mendelismus in Reinform, die an der praktischen Verwertbarkeit orientierte Genetik. 1.1.4 Kultur vs. Zivilisation: Spezialisierung und Technik im Vorbild Amerikas Es könnte auf diesem Hintergrund neu gefragt werden, was zur schnellen Verbreitung des Mendelismus beitrug. Die Wahl des mendelschen Experimentalsystems und seines theoretischen Rahmens war nicht innerwissenschaftlich zwingend, sondern mit der mentalen und kognitiven Struktur der Protagonisten rückgekoppelt.87 In den USA, so zeigt Harwood vergleichend, dominierte der Mendelismus über andere Strömungen der Vererbungswissenschaft auf Grund eines verbreiteten pragmatischen Wissenschaftsverständnisses. Die zunehmende Spezialisierung wurde von den Wissenschaftlern akzeptiert und befördert; denn Wissenschaft war weder im Binnen- noch im Außenverständnis vorrangig kulturstiftend; Wissenschaftler waren Leute, die halfen, praktische Probleme zu lösen.88 Die Wissenschaft stiftete in den USA den Wohlstand. Dies zeigt sich paradigmatisch an dem seit Ende des 19. Jahrhunderts ausgebauten agrarwissenschaftlichen Netz von Agricultural Colleges und Experimental Stations.89 Es gab keine landwirtschaftliche Hochschule ohne ein genetisches Institut.90 Diese Form der Einspannbarkeit der Genetik in die landwirtschaftliche 84 Nachtsheim 1922d: 637 Vgl. Lenoir 1992a: 148, zur Verknüpfung von Wiss. u. Industrie: 152ff.; vgl. auch Harwood 1993: 196-70. 86 29.1.1920, Baur an Nachtsheim am, zit. n. o.D. [vermutl. 1930], Nachtsheim: Auszug aus meinen Verhandlungen mit Professor Baur (UHUB, Landw. Fak., PA Nachtsheim, Bd. 3: Bl. 51) Noch 1931 warnte Baur in ähnlicher Weise Hans Stubbe, dass er aus der Landwirtschaft nicht zurück in die Botanik wechseln könne (vgl. 9.2.1931, Baur an Stubbe, in: BBAW, Stubbe-Fonds, 9). 87 Harwood hat im Vergleich zwischen amerikanischer und deutscher Vererbungswissenschaft gezeigt, dass die axiomatische Fokussierung auf die Unterscheidung von Genotyp und Phänotyp in den zwanziger und dreißiger Jahren eine mögliche experimentelle Forschungsstrategie war. Die Entscheidung dazu hing von Vorentscheidungen über das Problem – Entwicklung vs. Transmission – und wiederum vom sozialhistorischen Kontext ab. (Vgl. Harwood 1993: 94-98.) 88 Vgl. Harwood 1993: 165 u. 189-90. 89 Vgl. Kay 1993: 67 bzw. Kimmelman 1992: 220. 90 Vgl. Nachtsheim 1922d: 637; Harwood 1993: 158-60; Kay 1993: 13; Kimmelman 1992: 20102. – Kimmelman spricht von einer speziellen Ideologie der landwirtschaftlichen Genetik, die sich aus der Überschneidung von kooperativen Forschungsstil, Objekten der Forschung und den institutionellen Verbindungen mit sozialen Interessen herausbildete (vgl. ebd.: 200+20). Die Allianz zwischen akademischer Wissenschaft und Agrarbusiness war in den USA gewöhnlich nicht ohne Spannung. Die Doppelgesichtigkeit des Mendelismus aber als akademisches und 85 44 Produktion lässt die wissenssoziologische Begründung der Dominanz des Mendelismus durch eine ökonomische und techniktheoretische Blickweise erweitern. Der Vergleich mit Amerika ist über das Methodische hinaus umso mehr nahe liegend, als Amerika wiederkehrender Bezugspunkt des mendelistischen Diskurses in Deutschland war. Amerika ist „doch eigentlich das Land der Genetik“, gestand Nachtsheim,91 und meinte damit die Führungsrolle der USA in der Transmissionsgenetik. Es war also konsequent, dass Nachtsheim mit der wärmsten Unterstützung Baurs 1926 zu einem Forschungsaufenthalt in die USA aufbrach.92 Im Rahmen des Austauschprogramms der Rockefeller Foundation verbrachte Nachtsheim zwölf Monate an Thomas Hunt Morgans Labor an der Columbia-Universität in New York bzw. im Marine Biological Laboratory, Woods Hole, und lernte die Methoden der Drosophilagenetik kennen.93 Sein eigentliches Interesse war aber, „Mittel und Wege kennen [zu] lernen, die man in Amerika eingeschlagen hat, um die Ergebnisse der Vererbungsforschung in der tierzüchterischen Praxis nutzbar zu machen“.94 Er bereiste drei Monate lang landwirtschaftlich-genetisch arbeitende Institute im Osten und Mittelwesten der USA.95 In Nachtsheims Bewunderung für den amerikanischen Weg schimmerte nicht der feinste Riss auf, der darauf deutete, dass er einen epistemologischen Unterschied zwischen „reiner“ oder angewandter Forschung machte. Im Gegenteil, die Einheit zwischen Theorie und Praxis war die Bedingung der Proliferation beider: von Wissen und Technik, von Wahrheit und Produktivkraft. Weil die Genetik, so Nachtsheim, in den USA auf dem Boden der landwirtschaftlichen Forschung stand, sei sie bereits ein selbständigtes Fachgebiet. „Der durchaus praktisch eingestellte Sinn des Amerikaners ließ ihn sehr bald die große Bedeutung der Genetik für die Landwirtschaft erkennen, und eine solche Erkenntnis und intensivste Förderung des jungen Forschungsgebietes bedeutet in Amerika technisches Fach machte die landwirtschaftlichen Wissenschaftler zu der frühesten und entschiedensten Lobby des Mendelismus: Er bediente ihre intellektuellen und die praktischen, sprich: ökonomischen Interessen (vgl. ebd.: 207 u. 202-03). 91 22.10.1927, Nachtsheim an C. B. Davenport (APS, Davenport papers) 92 Die mendelgenetische Sympathie war gegenseitig: „Baur is the foremost geneticist in Germany. and also the ablest. Nachtsheim is the most intelligent and best [?] of the on-coming generation of experimentalists” (9.7.1925, Morgan an Dr. Rose [Intern. Education Board], hands., in: RAC, IEB, file Nachtsheim). 93 Vgl. 15.2.1927, Nachtsheim an IEB: Bericht (RAC, IEB, file Nachtsheim); Nachtsheim 1928b; Nachtsheim 1928f. 94 29.5.1925, Nachtsheim an Morgan (RAC, IEB, file Nachtsheim) 95 Er besuchte alle relevanten Säugetiergenetiker u. viele Pflanzengenetiker [PG], insgesamt 23 Institutionen: L. J. Cole u. R.A. Brink [PG] (College of Agriculture, Univ. Wisconsin, Madison); L. C. Dunn (Connecticut Agricultural College, Storrs); E. M. East [PG] u. W. E. Castle (Bussey Institution of applied Biology, Harvard Univ., Cambridge); R. A. Emerson (Experimental Station, New York State College of Agriculture at Cornell Univ., Ithaca); C. C. Little (Dep. of Genetics, Univ. of Michigan, Ann Arbor; dort auch Sturtevant, W. Landauer und C. L. Strong); Wistar Institute (Philadelphia); E. W. Lindstrom [PG] (Dep. of Genetics, Iowa State College of Agriculture); H.C. Phee u. G. N. Collins [PG] (Animal Husbandry u. Bureau of Plant Industry Division, U.S. Dep. of Agriculture, Washington); K. B. Hanson (U.S. Experimental Fur Farm, Seratoga Springs) (vgl. 21.8.1926, Nachtsheim an Wallace Lund, IEB, in: RAC, IEB, file Nachtsheim; Nachtsheim: Die Genetik der Vereinigten Staaten von Amerika, Reise März-Juni 1927, Anlage 2 zu: 26.7.1927, N. an PLM, in: GStA, I. HA, Rep. 87B, 20283: Bl. 87-92). 45 eines.”96 In Deutschland sei es gerade umgekehrt. Die deutschen Genetiker seien bis auf wenige Ausnahmen „Theoretiker, reine Botaniker und reine Zoologen, denen vielfach das Interesse und Verständnis für die angewandte Genetik völlig fehlt“.97 Nachtsheims spontane und bereits vor seiner Reise bestehende Bewunderung der amerikanischen Wissenschaftsorganisation entsprach jenem pragmatischen Denkstil. In der Semantik von Kultur und Zivilisation fand sich der Gegensatz der Mandarine und Modernisierer in der Aufbruchsstimmung eines technischen Fortschrittsglaubens und der Furcht vor der „Amerikanisierung“ wieder. Die einen sahen die Kulturnation durch den Schulterschluss von Wissenschaft und Industrie gefährdet, die Kultur in der Krise und schlossen damit an ein verbreitetes antimodernes Diskursfeld an, zu dem unabhängig von politischen Zuordnungen die Kritik an Industrialisierung, Verstädterung, Kapitalismus und zwecklosem instrumentellen Denken gehörte.98 In der „Zivilisation“ kam hingegen ein gegensätzliches Gesellschaftsbild zum Ausdruck. Sie war der Inbegriff der fortschrittlich und rein praktisch organisierten und verwalteten, kapitalistisch strukturierten und legalistisch verfassten Gesellschaft.99 Im Willen zur Nutzbarmachung des Mendelismus drückte sich ein grundsätzlich technikfreundliches und technikgläubiges Bewusstsein aus.100 Den Skeptikern warf Nachtsheim entgegen, dass er „nicht zu den Kleingläubigen“ gehöre, die solche Probleme für unüberwindlich hielten.101 96 Nachtsheim: Die Genetik der Vereinigten Staaten von Amerika, Reise März-Juni 1927, Anlage 2 zu: 26.7.1927, N. an PLM (GStA, I. HA, Rep. 87B, 20283: Bl. 91) 97 Nachtsheim: Die Genetik der Vereinigten Staaten von Amerika, Reise März-Juni 1927, Anlage 2 zu: 26.7.1927, N. an PLM (GStA, I. HA, Rep. 87B, 20283: Bl. 91) Dieser Absatz wurde im PML durch Unterstreichung und „richtig“ kommentiert. 98 Vgl. Harwood 1993: 279-80; vom Bruch 1996: 10-12; zu Lebensreform u. völkische Bewegung, vgl. Linse 1983; Hartung 1996; Puschner et al. 1996: XXI-XXII; zu Wissenschaftsfeindlichkeit, vgl. auch Breuer 1993: 198. 99 Zur – deutsch-spezifischen – Unterscheidung von Kultur u. „Zivilisation“, vgl. Ringer 1987: 8486. – In Deutschland umfasste – anders als in Frankreich – der Zivilisationsbegriff eine kulturkritische Komponente, ein Unbehagen an den eigentlich nützlichen Zivilisationserscheinungen (vgl. Stehr 1994: 263). Max Weber machte sich die Unterscheidung in Zivilisation und Kultur in seiner Kultursoziologie zu Eigen (1920). Danach war der Zivilisationsprozess gleichbedeutend mit der Intellektualisierung und Rationalisierung der Gesellschaft durch Wissenschaft und Technik. Allgemeingültigkeit, Notwendigkeit und Zweckhaftigkeit stehen demnach im Gegensatz zur Einmaligkeit kultureller Ausdrucksformen (vgl. ebd.). Gegen die „vergesellschaftlichte Erkenntnis“ wurde – im konservativen Denken nach Karl Mannheim – die Erfahrungsgemeinschaft gesetzt (vgl. ebd. 279). 100 Nachtsheims Kollegin Paula Hertwig gebrauchte 1933 den Begriff (vgl. Hertwig 1933a: 1400). N. wechselte die Sprache von „Kulturmensch“ und „Kulturvolk“ (Nachtsheim 1936d: VIIVIII) zu „Zivilisation“ und „Zivilisationsschaden“ erst in den dreißiger Jahren (vgl. Nachtsheim 1939h; Nachtsheim 1940e). N. gebrauchte „Zivilisation“ im eugenischen Diskurs. Der Zivilisation wurde eine inhärente degenerative Tendenz zugeschrieben. Spätestens in den dreißiger Jahren wurde der Bezug auf „Zivilisation“ im mendelschen eugenischen Diskurs verankert (vgl. zum Beispiel Timoféeff-Ressovsky 1935a: 118; von Verschuer 1941: 115; Eintrag im Erbpathologischen Wörterbuch 1943 zum Stichwort „künstliche Auslese“: „So kommt es zum Beispiel beim Menschen zu einer k.A. als Folge der Zivilisation [...]“ (AMPG, Abt. III, Rep. 20A, Nr. 280: Seite 20 der Druckfahne v. 1.2.1945). 101 Nachtsheim 1922d: 639 46 Amerika war für Nachtsheim prägend. Die geknüpften Verbindungen erwiesen sich immer wieder von unschätzbarem Wert.102 Mit dem ‚Vater der Säugetiergenetik’, William E. Castle, blieb er in wissenschaftlichem Kontakt.103 Mit Amerika verband Nachtsheim, der zwar formkonservativ auftrat,104 sein „Berufsethos“ – ein kooperativer und offener Arbeitsstil.105 Internationalismus in der Wissenschaft zog allerdings nicht ebensolche politischen Einstellungen nach sich. Nachtsheim ließ keine parteipolitischen Bindungen erkennen und war in dem Sinne unpolitisch; die Bezüge seines Denkens und gesellschaftlichen Handelns waren aber national strukturiert.106 Im Aufbau der Deutschen Gesellschaft für Vererbungswissenschaft und als Generalsekretär des V. Internationalen Kongress für Genetik erbrachte Nachtsheim seinen Teil, die deutsche Genetik international wieder in Führerschaft zu bringen.107 Die festgestellte Anwendungsfreundlichkeit der mendelschen Genetik lässt auch danach fragen, welche Rolle dies für die Mobilisierung der Genetik für die Eugenik spielte. Nachtsheim befand sich als Assistent am Baurschen Institut an einem Knotenpunkt des Vererbungsdiskurses in der Weimarer Republik. Informationen und persönliche Kontakte liefen bei Baur zusammen. Es war unausweichlich, dass Nachtsheim in Berührung mit der menschlichen Erblehre und 102 Neben den amerikanischen Genetikern hatte Nachtsheim guten Kontakt zum 1933 emigrierten Curt Stern, der mit N. an Morgans Labor Gast war. Charles Davenport, Leslie Dunn, Walter Landauer, Herman Muller waren N.s häufigeren Briefpartner in den USA. In prekären persönlichen Lagen konnte Nachtsheim immer mit der Option, nach Amerika gehen, agieren: 1933, als er bedrängt wurde und entlassen werden sollte (vgl. Harwood 1993: 269; vgl. auch 6.1.3), 1949, als die Arbeitsverhältnisse in Deutschland ungenügend waren (vgl. 1.3.1949, ? an Castle, in: APS, Castle papers) und 1960, als das MPI für Erbbiologie demontiert wurde (vgl. 10.1.1961, Pätau an Grüneberg, in: WIHM, PP, GRU, box 13). Nach 1945 konnte Nachtsheim vor dem Hintergrund dieser Verbindungen die Rolle einer Vertrauensperson für die ausländischen Genetiker einnehmen (vgl. Weingart et al. 1992: 565+76). Die guten Beziehungen zur angloamerikanischen (und internationalen) Genetik dokumentiert sich in der Festschrift zum 60. Geburtstag N.s, in der u.a. W. Landauer, P. B. Sawin, C. Stern und S. Wright (sowie R. Goldschmidt, G. Dahlberg) Beiträge beisteuerten (vgl. Grüneberg, Ulrich 1950). Eigenen Assistenten, wie Udo Ehling, konnte N. Forschungsaufenthalte an anerkannten Forschungsstationen zur Säugetiergenetik vermitteln (zum Beispiel Oak Ridge National Laboratory). 103 Vgl. Castle & Nachtsheim 1933. Sie tauschten auch Versuchstiere aus. Zu Castle und Säugetiergenetik in den USA, vgl. Rader 1998: 327. 104 Seinem Schüler und engeren Korrespondenzpartner Hans Grüneberg bot Nachtsheim mit 88 Jahren das „Du“ an (vgl. 18.7.1977, Nachtsheim an Grüneberg, WIHM, PP/GRU, box 12). Zum Ausdruck kommt darin auch die teils nüchterne, teils misstrauische Distanz, die N. immer zumindest zu wissenschaftlichen Kollegen hielt. Seine Todesanzeige war überschrieben mit: „Mensch sein, heißt Kämpfer sein“ (Vogel 1980a: 28). 105 Vgl. 8.4.1947, Nachtsheim an P. Dahr (AMPG, Abt. III, Rep. 20A, Nr. 15). – Ein Trend zur Teamarbeit entwickelte sich in den dreißiger Jahren auch in Deutschland (siehe 4.1.1). 106 Sein Leben lang vertrat er den Anspruch, Deutsch müsse international eine Wissenschaftssprache sein und bleiben (vgl. Nachtsheim 1933c: 109; Nachtsheim 1961a; Nachtsheim 1968a). Die genetische Unterstützung der landwirtschaftlichen Genetik begründete sich für N. im nationalökonomischen Nutzen (siehe unten). N.s Nationalismus blieb aber gemäßigt. Dies korrespondiert damit, dass er der Wissenschaft voll und ganz verschrieben war und keine Interessen außerhalb der Wissenschaft (vgl. Harwood 1993: 253-54) hatte. Nationalismus kritisierte er, insofern er die Freiheit der Wissenschaft drohte (vgl. 13.4.1928, Nachtsheim an A. F. Blakeslee, in: APS Blakeslee papers). 107 Vgl. Nachtsheim 1927a: 994. Nachtsheim war 1921 neben E. Baur, Carl Correns und R. Goldschmidt Mitglied im Gründungsausschuss der Gesellschaft und fungierte bis zu einer Erkrankung 1931 als ihr Schriftführer. In der Bundesrepublik war er eine maßgebliche Figur in der Reinstitutionalisierung der (Human-)Genetik. 47 Eugenik kam.108 Es kann angenommen werden, dass Nachtsheim eugenische Ansichten teilte,109 jedenfalls vertrat er keine kritische Haltung gegenüber der Eugenik. Es deutet aber nichts darauf, dass er sich in den anfänglichen Jahren am Institut besonders für Eugenik interessierte.110 Nachtsheim war voll und ganz mit der landwirtschaftlichen Anwendung des Mendelismus beschäftigt. Diese Feststellung wird noch von Bedeutung sein, denn in den dreißiger Jahren wandelte sich Nachtsheim zum vehementen und aktiven Fürsprecher der Eugenik. In den USA waren es nach den Tier- und Pflanzenzüchtern und der Landwirtschaft die Eugeniker, die dem Mendelismus zu seiner schnellen Ausbreitung verhalfen; und die Genetiker funktionierten reibungslos: „Geneticists warmed easily to their priestly role.“111 Passte der technische Charakter der Genetik und das technologische Bewusstsein der Genetiker zu dem gesellschaftlichen Umstrukturierungsprozess, in dessen Verlauf auch soziale Probleme als wissenschaftlich-technische Probleme aufgefasst wurden? Der Kurzschluss zwischen mendelscher Genetik und Gesellschaft knüpft die Annahme Harwoods, dass 108 Die Planungen und die Initiative zur Einrichtung eines KWI für menschliche Vererbungslehre konnte Nachtsheim unmittelbar mitverfolgen. Nachdem schon 1922 im Preuß. Landesgesundheitsrat eine Reichsanstalt für menschliche Vererbungslehre und Bevölkerungskunde angeregt worden war, übernahm Baur 1926 die konkrete Initiative. Zusätzlich trat der Jesuit, Privatgelehrte und aktive Eugeniker Dr. Hermann Muckermann als nicht unbedeutender Strippenzieher auf, da er notwendige Finanzmittel akquirierte. Muckermann weihte N. 1925 in seine Pläne ein (vgl. 30.8.1947, N. an Muckermann, AMPG, Abt. III, Rep. 20A, Nr. 49; siehe auch Lösch 1997: 169+78). 1927 wurde das KWI für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik im Rahmen des Intern. Kongresses für Genetik eingeweiht. An der Stelle von Muckermann wurde 1933 Fritz Lenz Leiter der Abteilung für Eugenik (dann: Rassenhygiene). Nach 1947 ergriff N. die Initiative zur Wiedereinsetzung Muckermanns (vgl. 21.5.1946, Nachtsheim an Omgus, in: AMPG, Abt. III, Rep. 20A, Nr. 110). 109 Nachtsheims ersten akademischen Lehrer waren, wie Baur, Teil der rassenhygienischen Bewegung – entweder, wie R. Hertwig, als Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene (vgl. Hertwig 1930b; Ploetz 1931) oder, wie Goldschmidt, als gemäßigter Sympathisant (Goldschmidt 1920a: 74-76). N. vertrat später ein mendelgenetisch begründetes rassenhygienisches Paradigma und war der medikalisierten Eugenik zuzuordnen. Die technische Expertise des Mendelismus fungierte darin als sozialtechnologischer Ausgleich der Effekte der zivilisatorischen „Kontraselektion“ (vgl. Weingart et al. 1992: 142ff.; zur besonderen Rolle der ‚negativen’ Eugenik in Deutschland: Weindling 1989: 976ff.). Die Änderung N.s Interesse an eugenische Fragen spiegelt sich in seiner Sonderdrucksammlung wider: Erst ab 1933 sammelte er SD gesondert unter dem Schlagwort „Eugenik“ (Vorhanden sind: 29 SD „Eugenik“ 1912-33, 103 SD 1933-45). (vgl. IGMH, SDNL) – Nachtsheims einziger explizite Bezug auf „Rassenhygiene“ stammt von 1928 im Kontext eines Vergleichs von Tierzucht und „Rassenhygiene“ (vgl. Nachtsheim 1928e: 611). 110 Einer der wenigen Hinweise ist der Besuch Nachtsheims bei dem kompromisslosen und lautstarken Eugeniker Charles B. Davenport (Station for Experimental Evolution der Carnegie Institution of Washington). Sie diskutierten neben theoretischen auch „angewandte Fragen“ der Genetik (vgl. Nachtsheim: Die Genetik der Vereinigten Staaten von Amerika Reise März-Juni 1927, Anlage 2 zu: 26.7.1927, N. an PLM, in: GStA, I. HA, Rep. 87B, 20283: Bl. 87). Später versicherte Nachtsheim Davenport, der schon 1921 Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Vererbungswissenschaft geworden war, sein „lebhaftes“ Interesse an den Themen der Rassenhygiene (vgl. 3.11.1922, Davenport an N. bzw. 22.3.1928, Nachtsheim an Davenport, in: APS, Davenport papers). Dieses Bekenntnis wirkte aber als Teil einer offiziellen Mitteilung als gezwungene Höflichkeit. Gezwungen war diese Versicherung, da Davenport zwar pionierhaft den Mendelismus auf menschliche Krankheiten übertrug, aber darüber hinaus sehr spekulativ war, und eine rassisch gewendete Eugenik vertrat, die Nachtsheims Sache nicht war (zu Davenport, vgl. Kevles 1995: 46 u. 48). 111 Kevles 1995: 69 bzw. vgl. 69-70. 48 sich die Wahl der genetischen Strategie aus sozialen Strukturen erklärt, über den Denkstil hinaus an die industriell-administrative Umgestaltung der modernen Gesellschaft.112 Der spezifische modernistische Enthusiasmus für die Verbindung von Theorie und Praxis macht das Institut Baurs exemplarisch für die szientistische Behandlung von Problemen der Zucht wie der Medizin und Gesellschaft. Wissenschaft an der „Schnittstelle von Theorie und Praxis“113, wie es die Devise der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft war, machte beispielsweise „Ziegenböcke mit Ausbildung weiblicher Merkmale“ zu einem gleichermaßen landwirtschaftlichen wie eugenischen Problemfall. Wenn die Intersexualität erblich sei, gab Baur zu bedenken, müssten jene Ziegenböcke von der Zucht ausgeschlossen werden.114 Die Auflösung der Trennung von Theorie und Praxis in der technischen Auffassung von Wissenschaft hieß zugleich, ihre Gegenstände technisch zu begreifen. Wie in Physik und Chemie die Erkenntnis der Praxis diene, so müsse auch die Biologie die Weizenpflanze als Maschine begreifen. Baur: „Genau so, wie es z.B. Dampfkessel gibt, welche sehr wenig rationell arbeiten, d.h. viel Kohlen verbrauchen und wenig Kraft liefern, so sind auch die verschiedenen Weizenrassen sehr ungleich leistungsfähig“ und ließen sich verbessern.115 1.2 Mendelisierung der Pelztierzucht „Diese Zeilen sollen Sie, hochverehrter Herr Professor, bitten, mich und vielleicht noch andere Kaninchenzüchter auf den richtigen Weg zur Züchtung verschiedener Haararten 116 beim Kaninchen zu führen.“ Nachdem die mendelsche Genetik im akademischen Raum positioniert wurde, soll nun genauer charakterisiert werden, in welcher Weise die Genetiker die Umsetzung ihres Programms anstrebten. Es wird sich schnell zeigen, dass die Wissenschaftler des Dahlemer Instituts für Vererbungsforschung nicht nur das nötige Verständnis für die praktische Bedeutung ihrer Tätigkeit besaßen, sondern in aktiver Weise ihr Wissen zur Verfügung stellten. Sie wirkten an der Schaffung eines gesellschaftlichen Bedürfnisraumes für ihr technisches Wissen mit, indem sie es produktiv an vorgegebene politische und sozioökonomische Strukturen und Dynamiken koppelten. Baur und Nachtsheim manövrierten sich selbst in eine Position, in der sich die Entwicklung ihrer Wissenschaft in einem offenen und direkten Rückkoppelungsverhältnis mit gesellschaftlichen Teilbereichen vollzog. Der Prozess der Verwissenschaftlichung verschränkte also die Disziplinenbildung und Spezialisierung der Genetik mit den sozioökonomischen Strukturen des Weimarer Deutschland. 112 In den Kapiteln 2 u. 6 wird am Beispiel Nachtsheims die Hervorbringung des eugenischen Anwendungsbezugs im Zusammenwirken des Mendelismus als landwirtschaftliche Produktivkraft und dem konkreten genetischen Experimentalsystem dargestellt. 113 14.2.1928, DAZ, Baur: Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und Landwirtschaft (BA B, alt 168, 83) 114 Vgl. 14.2.1925, Baur an PML, Abschrift (GStA, I. HA, Rep. 87B, 20282: Bl. 159-60). 115 18.10.1929, Baur: Neue Wege der Pflanzenzüchtung [(Rundfunk-)vortrag in Portugal, 11/1929] (AMPG, Abt. III, Rep. 4B, Nr. 3) 116 Kaninchenzüchter Stutzer 1929: 326 49 Der Wissenschaftler wird uns im Folgenden in verschiedenen Rollen begegnen: in der des Experten, des Mediators und des Organisators. Das Beispiel Nachtsheims zeigt einen spezifischen Zusammenhang zwischen jenem neuen – „pragmatischen“ – Typ des Wissenschaftlers und seinem Handeln. Seine Zuchtbemühungen brachten Nachtsheim in Berührung mit dem Diskurs der Tierzüchter. An seiner schnellen Karriere zum Vorsitzenden des Reichsbundes deutscher Kaninchenzüchter sind drei Aspekte interessant: 1. der Inhalt der Auseinandersetzung zwischen traditioneller Zucht- und mendelgenetisch ‚modernisierter’ Zuchtpraxis, 2. die gesellschaftliche Legitimierung der Mendelgenetik und 3. die Machtpolitik des Wissenschaftlers im wissenschaftlichen Interdiskurs mit einer gesellschaftlichen Subgruppe sowie als teilnehmender Akteur im Gefüge lobbyistischer und staatsinterventionistischer Interessenpolitik. Der Wissenschaftler tritt als boundary person auf, die ebenso wie bestimmte wissenschaftliche Gegenstände – zum Beispiel mendelnde Gene – geeignet ist, verschiedene gesellschaftliche Sphären mit einander zu vermitteln und dabei produktiv Neues hervorzubringen – zum Beispiel „Wirtschaftsrassen“ in der Kaninchenzucht. 1.2.1 Die Schnittstelle von Theorie und Praxis: Technisierung des „Künstlerischen“ An der deutschen Tierzucht ging im Vergleich zu den amerikanischen Verhältnissen der mendelgenetische Diskurs lange vorbei. 1922 stellte Nachtsheim fest, dass sich die Tierzüchter größtenteils in Vorstellungen bewegten, „die mit neuzeitlicher Vererbungswissenschaft wenig gemein haben, und es kann bisher nicht die Rede davon sein, daß der Mendelismus für die Tierzucht bereits nennenswerte praktische Bedeutung gewonnen hat”.117 Die deutschen Kaninchenzüchter bildeten da keine Ausnahme, wie der bunte Stimmenwirrwarr in Der Kaninchenzüchter, einem reichsweiten Züchterorgan, enthüllt. Sie führten zwar einen lebhaften Diskurs über Zucht, Zuchtwahl und Vererbung; der Mendelismus aber, so wird zu sehen sein, verlangte einen ‚Paradigmenwechsel’ in der traditionellen Zuchtpraxis. In den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts drehte sich der Zuchtdiskurs der Kaninchenzüchter noch darum, welche Merkmale der Tiere zuchtwürdig waren, das heißt, als schön galten: lange Tiere, kurzes oder langes Behänge (Ohren) und so weiter. In diese fröhlich-ernste – selbstzweckhafte – Beschäftigung der Sport- und Freizeitzüchter mischte sich die Forderung, nur Tiere von bestem Blut, also gesunde Tiere zu nehmen.118 Die immer wieder gebetete Formel des „Altmeisters Marpmann“, wie mit kränklichen und „fehlerhaften“ Tieren zu verfahren sei, lautete „in echter kerniger Züchterübersetzung: ‚Schlage das armselige Tierchen mit trockenem Holz ins Genick und gib ihm kaltes Eisen (das Messer) in die Kehle!’“119 Die Messer- und Kochtopfrhetorik zielte nicht zufällig auf einen Gestus entschlossenen und radikalen Handelns; denn in der Verlängerung des „Kampfes ums Dasein“ schlüpfte die Hand des Züchters nun 117 Nachtsheim 1922d: 635 Vgl. zum Beispiel B. 1905; Marpmann 1905. 119 Baumbach 1928: 862 118 50 in der Rolle der ausmerzenden Natur.120 Mythische Erzählungen vom „Urmensch“ und dem Naturzustand und Adaptionen aus dem wissenschaftlichen Diskurs bildeten ein haltloses Gemisch, durch das in der Züchterwelt (und im Alltagsdiskurs) das Normale und Pathologische in eine Ordnung „der Mutter Natur“ fielen: „Hat der gesunde Mensch noch heute dieses Ekelgefühl gegen seinen kranken Artgenossen, so hat er erst recht einen Ekel vor dem kranken Tier.“121 Die Auslese der „Feierabend- und Sportzüchter“ blieb unmittelbar an die Erscheinung des Kaninchens gebunden. Für die Zucht beliebter Kaninchenrassen wurden unmittelbar der Erfahrung entlehnte, partikulare Regeln aufgestellt: Um beispielsweise „Englische Schecken“ zu züchten, sollte mit hellen Häsinnen angefangen, ab und zu ein vollfarbiges Tier eingekreuzt und keine blaue Farbe genommen werden, da sie dazu neige, rasch zu verblassen.122 Mitunter wurden phänomenologisch inspirierte Gesetze und Kräfte der Vererbung konstruiert. Nach dem „Gesetz der Variabilität“ ließ ein unbestimmtes Bestreben jedes Tier von seinen Eltern ein wenig abweichen, während das Gesetz der „Vererbungskraft“ den Umstand verallgemeinerte, dass die Nachkommenschaft den Eltern ähnelte.123 Ein „System“ in der Züchtung wurde allenthalben angemahnt, und Diplomlandwirte erläuterten die „Theorie der Züchtung“, deren Kernbestandteile Inzucht, Verwandtschaftszucht und Kreuzung seien.124 Die Praktiken überschnitten sich zum Teil mit den Grundtechniken der mendelschen Genetik, ihre Verwendung war aber ganz gegensätzlich, sodass gerade sie aus Sicht der mendelschen Genetik den hartnäckigsten Kern irrationaler Züchtungspraxis bildeten. Die Verwandtschaftszucht war beispielsweise in zwei Diskurse eingebunden: in den lebensweltlichen Degenerationsdiskurs, der Inzucht mit Verfall der Konstitution zusammenbrachte, und in einen vererbungstheoretischen über die Arithmetik der Vererbungsanteile, nach dem die Einkreuzung von Tieren einer „Blutauffrischung“ gleich kam.125 Die Lehre der Blutanteile war das dominierende Leitkonzept der Zuchtpraxis, mit dem es der Mendelismus zu tun bekam. Danach vermischten sich die Eigenschaften der Eltern in 120 Zum Bezug auf Darwin und das Vorbild „Natur“, vgl. Wendler 1923: 472; Sustmann 1923a: 469; Bappert 1925: 581; zu „Ausmerzung“, vgl. Amtstierarzt Sustmann 1923b. 121 Körner 1925: 765; vgl. zur „Mutter Natur“: Königs 1926: 415. 122 Vgl. Heintz 1905. 123 Vgl. Heintz 1910: 258-59. 124 Auers 1910 125 Inzucht als die extremste Form der Reinzucht wurde schon im 19. Jh. als Zuchttechnik genannt; schon da trug sie die Ambivalenz zwischen der Festigung von „Qualitäten“ bei Nutztieren und ihrer Schwächung, eine Spannung, die im Züchtungsdiskurs nicht auflösbar war (vgl. Stichwort „Inzucht“ in: Brockhaus‘ Conversations-Lexikon, 13. vollst. umgearbeitete Ausg. in 16 Bd., Leipzig 1884). „Reinzucht“ und „I.“ werden hier von einander unterschieden. „Incestzucht“ ist eine Möglichkeit der I., mit der „allerdings die Gefahr einer Schwächung der Nachkommen verbunden ist“ (vgl. ebd. nach Nathusius: Vorträge über Viehzucht und Rassenkenntnis, 1872 u. Settegast: Tierzucht, Breslau 1878). – Reinzucht wurde teils synonym für die Züchtung von Rassen benutzt („Rassezucht“) (vgl. Wischer 1925d: 393). Die Nutzzüchter (von Schlachttieren) lehnten eher die Inzucht ab (vgl. Piegsa 1925b). Zur Befürwortung der Inzucht, vgl. Göhlich 1921; zur Ambivalenz, vgl. Porzig 1916: 24; Stang 1926: 653 (Prof. für Tierzucht, Berlin); Loeßl 1927) Zu Inzucht, siehe auch 3.2.3. 51 der Vererbung als Ganzes zu gleichen Teilen zu einem neuen Gemisch.126 Während ein Teil der Züchter aus Furcht vor dem Auftauchen von Zuchtschäden enge Verwandtenpaarung vermied, diskutierte ein anderer Teil immer aufs Neue und durch eigene Erfahrungen illustriert die rechte Balance zwischen der Intensität der Paarung verwandter Kaninchen und der „Blutauffrischung“, um das Zuchtziel zu erreichen, aber der Entartung zu entgehen.127 Hin und wieder von „Wanderlehrern“ oder Tierzuchtwissenschaftlern belehrt, die in Formeln die Blutlehre rationalisierten, schöpften die Fleischkaninchenzüchter und „Spezialzüchter“ bestimmter Kaninchenrassen jedoch vor allem aus dem tradierten Erfahrungswissen und ihrer situativen und partikulären Praxis.128 Der erfahrungspraktische Diskurs war der rationale Kern der Zuchtpraxis. Das züchterische Wissen entstammte nicht der objektivierenden Analyse, sondern kaum systematisierter, lebensweltlich erhobener, assoziativer und intuitiv umgesetzter Erfahrung. Der Züchter begegnete seinen Kaninchen nicht als Objekten des Experiments (bzw. pflegte nicht den Gestus der Distanz). Das Kaninchen war sein Gegenüber, zu dem der Züchter in verschiedener Weise empathische Beziehungen unterhielt (und offenbarte). Der gelebte Zugang, außerhalb des Ideals der Objektivierung und Distanz kommt beispielsweise in folgender Stelle zum Ausdruck, in der sich ein Züchter gegen die Wissenschaft wendet. Trotz der Nutzenkalkulierenden Drastik seiner Ratschläge drückt seine Sprache doch einen subjektivierenden Bezug zu den Kaninchen aus. „[Der Züchter] weiß aber auch sehr genau [...], daß er durch Inzucht und Inzestzucht niemals Glück und Erfolge in der Zucht hatte. Meist züchtete er dabei recht kränkliche Tiere heraus, welche für die ‚ewigen Jagdgründe’ gerade noch im 3. oder 4. Monat reif genug waren. Meist drehten sich diese dann noch mehrmals wie irrsinnig im Kreise herum, um dann mit zusammengebissenen Zähnen dieser schnöden Kaninchenwelt Valet zu sagen. Und ein alter und echter Kaninchenzüchter hat für dergleichen undankbare Experimente keine Zeit und kein Geld übrig, denn Bücherweisheit und Theorie ist grau, und nur langjährige Erfahrung zeigt den Meister.“129 Auf Grund des Zusammenhangs von Wissen und Erfahrung wurden die alten verdienten Züchter, die „Meister“, verehrt. Das Wissen der Züchter war nicht fixiert. Mehr noch: Es war nicht fixierbar oder auf eine Formel zu bringen. Das züchterische Know-how war an das Erfassen der je neuen Zuchtsituation gebunden. Und so ist es konsequent, dass die Züchter in Abgrenzung zum wissenschaftlichen Experiment ihr Tun dem Künstlerischen zuordneten. „Wir können diese Arbeit des Züchters wohl mit der eines bildenden Künstlers verglei- 126 Vgl. Nolte 1926: 6-7. Diese Lehre stand völlig im Gegensatz zur Auffassung der mendelschen Genetik, nach der die Eigenschaften sich aufspalteten und neu kombiniert werden konnten. Siehe auch 3.2.3. 127 Vgl. Porzig 1916: 21. Dieser Kaninchenzüchter stellte die Blutauffrischung als „Kampf um die Herrschaft (Dominanz)“ der guten und schlechten Determinanten dar (vgl. auch Wischer 1925c: 405). Zu „Degeneration“ u. Blutauffrischung, vgl. Auers 1910: 1063; zum Zusammenhang Blutauffrischung, Inzucht und Inzuchtschäden, vgl. Stang 1926. 128 Vgl. der Wanderlehrer Königs 1922; der Professor Balser 1918. 129 Baumbach 1928: 862 52 chen.“130 Das Künstlerische lag darin, dass die Tätigkeit des Züchters mehr dem Modellieren glich, als dass sie aus einem systematischen oder formalisierten Wissensbestand abgeleitet war. „Neulich zeigte mir ein Bekannter seine Tiere, [...] darunter eine 0,1 [einzehntel Blut] mit nach links spielender Blume. Als ich ihn auf den Schönheitsfehler aufmerksam machte, sagte er: ‚Macht nichts, bei ihrem Bruder spielt die Blume gerade so stark nach rechts, wenn der sie deckt, dann gleicht sich’s aus.’“131 Die Dichotomie dieser Entgegensetzung mag, so sei angemerkt, vor allem ein Produkt der Performanz der wissenschaftlichen und züchterischen Rede sein, auf die es hier letztlich nur ankommt. Diesem Spektrum aus planloser bloßer Vermehrung von Schlachtkaninchen auf dem Lande bis zur tradiert oder systematisch geregelten Praktik des semiprofessionellen Feierabendzüchters stand die mendelsche Genetik gegenüber. Sie machte sich aber erst Anfang der zwanziger Jahre verhalten im Züchterdiskurs bemerkbar. Der Typ des wissenschaftlich interessierten Züchters, der „die Lehren Darwins, Malthus und Mendels“ aufmerksam gelesen hatte, trat auf und vermischte die Begrifflichkeiten der Blutlehre und der Faktorengenetik eigenwillig.132 Der „Mendelismus“ war in aller Munde,133 seine revolutionierende Bedeutung wurde aber zunächst selten verstanden. Markiert durch den Eintritt Nachtsheims in das Kaninchenzuchtwesen, wie unten zu sehen sein wird, professionalisierte und verwissenschaftlichte sich aber der Züchterdiskurs zunehmend.134 Telegonie, progressive Vererbung, Blutmischung, Abnahme der Vererbungskraft mit dem Alter, ihre Unterschiedlichkeit bei den Geschlechtern und die Vererbung erworbener Eigenschaften waren also die „veralteten Vorstellung und Begriffe“, denen die „neuzeitlichen Methoden“ der Genetik gegenüber standen.135 Die neue Praxis setzte ein Denken voraus, das paradigmatisch anders geartet war. Der mendelsche Grundbegriff des „Herausspaltens“ von Eigenschaften galt den Züchtern als einer der „schlimmsten Feinde“ der Zucht: „mendeln heißt pendeln“.136 Den Tierzüchtern blieb das Erscheinen und Verschwinden von Merkmalen opak. Das „Mendeln” von Merkmalen war für sie Synonym für unberechenbare und deshalb gefürchtete Zuchtergebnisse. Aus der Sicht des Genetikers war klar, dass den Züchtern nur die Möglichkeit fehlte, darin die Regelmäßigkeit der mendelschen Regeln zu sehen. Dies war nach Nachtsheim ein Problem der gesamten Tierzucht: Die Züchter verwechselten den „persönli- 130 Mette 1928: 364; vgl. auch Stang 1926: 654; Diplomlandwirt Sommermeyer 1928: 410; Nachtsheim 1929a: 550. 131 Balser 1918: 74 132 Bspw. wurde gegen die verbreitete Auffassung der Telegonie argumentiert. Nach der T. wurde durch die erste Paarung die Vererbungsqualität eines Tierweibchens beeinflusst. Es konnte mit nicht „erwünschten Vererbungsstoffen“ „imprägniert“ werden (vgl. Krieg 1923). 133 Vgl. Piegsa 1925a: 2 bzw. Piegsa 1925b bzw. Nachtsheim 1930f: 733. – Der früheste explizite Bezug auf die „mendelschen Vererbungsgesetze“ fand sich in Porzig 1916, ebenfalls vermischt mit „Blutauffrischung“. 134 Vgl. Wischer 1925d; Wischer 1925a; Wischer 1925b; Wischer 1926; der Genetiker Dr. Schultz aus Allenstein: Schultz 1926. 135 Nachtsheim 1929a: 550. Progressive Vererbung meinte Zunahme der Ausprägung eines Merkmals von Generation zu Generation (vgl. zum Beispiel Kast 1928: 363). Zu Vererbungskraft u. Alter, vgl. Wischer 1925c: 406; zu Geschlechtsunterschiede, vgl. Königs 1922: 65. 136 Sustmann 1923a: 469 bzw. Nachtsheim 1922d: 636 53 chen Wert” eines Zuchttieres mit seinem „Zeugungswert”, da sie nicht die mendelgenetische Trennung in Phänotyp und Genotyp verstanden.137 Im System des Mendelismus zerfielen die alten Zuchtkonzepte in die monadische Bewegung der Erbanlagen.138 Nachtsheim war bemüht, die Blutanteillehre in „die Rumpelkammer“ zu befördern. Diese sei zwar eingängig – im Mendelismus müsse man mehr beobachten und denken –, aber für die Richtigkeit und den „praktischen Wert der neuzeitlichen Vererbungslehre“ verwette er seinen Kopf.139 Prompt meldete sich der alte Wanderlehrer Karl Königs, der Beauftrage „für Kleintierzucht der Landwirtschaftskammer für die Rheinprovinz“, zu Wort: Nachtsheim müsse akzeptieren, dass es auch eine Vererbung nach der Art der Mischung von Flüssigkeiten gäbe.140 Dagegen stellte Nachtsheim das Bild des Mosaiks oder loser Steinchen in einem Würfelbecher und verwahrte sich, die durch die Wissenschaft festgestellten „Tatsachen“ als „seine Ansichten“ klein zu reden.141 Ein ‚bekehrter’ Züchter stimmte in „heller Freude“ ein, ihm seien die Augen geöffnet worden. Er sähe ein, dass seine „vierzigjährigen Zuchtmethoden“ mit der neuzeitlichen Vererbungsforschung kollidierten.142 Die meisten Züchter würden „nach dem alten Stiefel“ weiterzüchten, weil sie die gelehrten Ausführungen nicht verständen. Er hingegen hatte dank Nachtsheims Ausführungen verstanden, dass es am besten war, wenn man Marderkaninchen züchten wollte, gerade solche Kaninchen mit einander zu paaren, deren Fell gerade nicht dem von „Mardern“ entsprach. In dieser Denkbewegung kulminierte der Partikularismus des Mendelismus, nach dem der Organismus nicht seine Erscheinung war, sondern die Transmission der Erbanlagen. Diese neue Denkweise kam einem Paradigmenwechsel sowohl im Alltags- und interdiskursiven Wissen wie in der Praxis der Freizeitzucht gleich. Doch diese Praxis entzog sich beharrlich dem Einfluss des akademischen Vorbilds. 1.2.2 Kaninchenzucht, Nationalökonomie und Ordnung des Sichtbaren Die Renitenz der Freizeitzüchter wäre ohne weitere Bedeutung gewesen, wenn die Kaninchenzucht nicht Objekt der nationalökonomischen Mobilisierung in der Weimarer Republik geworden wäre. Es ging darum, „aus dem bisherigen Würfelspiel, dem Glücksspiel der Züchtungskunst ein Züchterschach, ein bestimmtes Arbeiten mit bestimmten Werten nach festen Gesetzen“ zu ma137 Nachtsheim 1922d: 637 Unter rein mendelschen Vorgaben löste sich die Ambivalenz der Inzucht zwar nicht auf, sie erhielt aber eine rationale Grundlage und konnte innerhalb der mendelschen Konzeptualisierung entschärft werden. „Inzuchtschäden“ stellten sich als „Homogetisierung“ latenter „krankhafter Erbanlagen“ dar, die durch ergänzende Selektion entfernt werden können (vgl. Nachtsheim 1933f: 197). In ähnlicher Weise bezog sich Lenz 1936: 582 auf die umfangreichen Rattenversuche der amerikanischen Genetikerin Helen D. King. Baur allerdings nahm einen „zweiten Typ“ der Inzuchtschwächung an, unter anderem mit Bezug auf seine Antirrhinumversuche (vgl. Baur 1930b: 381 (180-86), siehe auch 3.2.3.1). Das Problem der Vererbung erworbener Eigenschaften wurde im mendelschen Diskurs ebenfalls relativ schnell abgehandelt. In einem einfachen Dreh wurden die Umwelteinflüsse zu bloßen Modifikationsfaktoren der Ausprägung von Merkmalen und Eigenschaften (vgl. Nachtsheim 1931b: 406). 139 Nachtsheim 1930f: 733-34; vgl. Nachtsheim 1929b. 140 Königs 1930a. 141 Nachtsheim 1930b; vgl. Königs 1930b; Nachtsheim 1930d. Herv. Verf. 142 Schürer 1930 138 54 chen.143 Das Ziel war die Effektivierung der Landwirtschaft durch Technisierung und Industrialisierung. Der Leiter der Tierzucht an der Bayerischen Königlichen Akademie für Landwirtschaft, Carl Kronacher, hatte die volkswirtschaftliche Bedeutung der Tierzucht und Kleintierzucht schon 1926 ausgearbeitet und gefordert, dass sich das „technische Prinzip“ – „moderne Biologie“ und Vererbungslehre – der Wirtschaft unterordnen müsse.144 Die Kaninchenzüchter wurden so zum Bestandteil der industriell-ökonomischen Umstrukturierung im Kaiserreich, des volkswirtschaftlichen (Wieder-)aufstiegs Deutschlands sowie der Autarkiepolitik nach der Erfahrung des Zusammenbruchs der landwirtschaftlichen Versorgung im ersten Weltkrieg.145 Die Einpassung der Tierzucht erforderte allerdings die Entwicklung der richtigen Technik. Dies war die Aufgabe Erwin Baurs und seines Instituts.146 Das erste Ziel einer neuartigen Tierzucht müsste die „möglichst weitgehende Erbanalyse der wirtschaftlichen wertvollen Eigenschaften unserer Haustierrassen“ sein.147 Diese setzte die Verwendung neuer statistischer Methoden zur Analyse quantitativer Merkmale, Fehlerstatistik und die Systematisierung der Herd- und Zuchtbücher, mit denen die staatlichen Tierzuchtinspektoren betraut werden sollten, voraus. Da aber durch Erbanalyse allein „nichts eigentlich Neues geschaffen“ werden könne, propagierte Baur die Kombinationszüchtung, geleitet vom Vorbild des schwedischen Pflanzengenetikers Hermann Nilsson-Ehle.148 Durch gezielte Kreuzungen sollten wirtschaftlich interessante Eigenschaften zu neuen Sorten kombiniert werden. Das Paradebeispiel des Instituts wurde die Züchtung der Süßlupine.149 In einer ökonomisierten technologischen Logik erschienen die Naturgegenstände nicht mehr als Erkenntnisgegenstände, sondern als bloß technische Objekte, deren „Konstruktionsfehler” behoben werden sollten. Durch die Verbesserung der „vielen Millionen kleinen chemischen Maschinen auf unseren Feldern“ sollte die Landwirtschaft immer leistungsfähiger werden, so Baur.150 143 Nachtsheim 1929a: 550 Kronacher 1916a: VII u. 26 (5ff.); vgl. auch Henseler 1920. 145 Zur allg. Landwirtschaftspolitik, vgl. Wehler 1994: 47-48; zur speziellen Landwirtschaftspolitik, vgl. Kunze 1984: 142-68. Zu Autarkie, vgl. 19.6.1918, Rector der LHB an PML (GStA, I. HA, 87B, 20059: Bl. 111-116); 21.5.1933, Der Tag, Baur: Deutschlands Nahrungsfreiheit durch Selbstversorgung (AMPG, Abt. III, Rep. 4B, Nr. 3). Zu Autarkie u. Förderung der wiss. Tierzucht, vgl. Kronacher 1922: 16-17. 146 Vgl. Heim 2002: 146. 147 Nachtsheim 1922d: 636 148 8.12.1917, Illustrierte Landwirtschaftliche Ztg., Baur: Die Organisation der Landw. nach dem Kriege (AMPG, Abt. III, Rep. 4B, Nr. 5); vgl. 18.10.1929, Baur: Neue Wege der Pflanzenzüchtung, (Rundfunk-)vortrag, Portugal 11/1929 (ebd., Nr. 3). – B. versuchte zudem, durch „physikalische und chemische Reize“ (zum Beispiel Radiumstrahlen) neue Varianten zu erzeugen (vgl. 14.2.1928, DAZ, Baur: KWG u. Landw., in: BA B, alt R 168, 83). Zudem ging es darum, durch Massenselektion, neue Varianten zu selektieren. Deshalb interessierten die ‚genetischen Ressourcen’ anderer Länder. Eine direkte Linie führt von hier zu den Ausbeutungsprogrammen im Nationalsozialismus (vgl. Heim 2002: 146). 149 Vgl. 22.2.1933, Hamburger Correspondent, o.N.: Sensation in der Landw. (BA B, alt R 168, 83); 11.11.1929, Schlesische Volks-Ztg., Baur: Wissenschaftliche Überraschungen in der Landw. (ebd.) 150 18.10.1929, Baur: Neue Wege der Pflanzenzüchtung, (Rundfunk-)vortrag, Portugal 11/1929 (AMPG, Abt. III, Rep. 4B, Nr. 3) 144 55 Genetische Techniken waren Teil der Fantasien zur Industrialisierung und Technologisierung der Agrarproduktion. In der Wissenschaft musste „in diesem ganz grossen Maßstabe gewissermaßen fabrikmäßig gearbeitet werden“, um die „Nationalisierung der Wissenschaft“, das heißt die Symbiose von Wissenschaft, Technologie, Industrialisierung und Nationalökonomie, zu erreichen.151 In der Zeitungsberichtserstattung, in der Baurs Institut eine Präsenz neuen Ausmaßes erreichte,152 erschien es wie der Kulminationspunkt einer technologischen Agrarwende. Komplementär zum Einsatzplan für die Wissenschaft forderte diese ihre disziplinären Interessen ein: Ausbau der Lehre der Vererbungswissenschaft und der genetischen Forschung (finanziell „absolute Bewegungsfreiheit“, staatliche Institute für Züchtungskunde) und – als neuartiges Interesse einer Wissenschaftsindustrie – den Patentschutz für Sortenneuzüchtungen.153 Die Tierzucht hinkte hinter diesen Entwicklungen in der Pflanzenzüchtung hinterher. Als die Kaninchen aber Objekt der Pelztierzucht wurden, gerieten sie ebenfalls in den Sog technisch-ökonomischer Verwertungslogik. „Volkswirtschaft! Nichts ist moderner, als dieses Wort, das nicht von jedem verstanden wird.“154 In der Kleintierzucht, der Domäne des ‚kleinen Mannes’, schwelte die Spannung zwischen allgemeinen und partikularen Interessen. Seit Ende des 19. Jahrhunderts war mit zunehmender Begeisterung in Hinterhofverschlägen und Gärtchen der Laubenkolonien „Sportzucht“ betrieben worden: Die rechte Einförmigkeit des gemeinen Hauskaninchens wandelte sich durch die Kreuzungslust der Hobbyisten zu einer selbstgenügsamen bunten Vielfalt von Rassen und Schlägen. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs wurde staatlicherseits allerdings die Kleintierzucht und ihr Potenzial für die Volksernährung entdeckt und mit ihrer gezielten Propagierung begonnen.155 Schon bald nach Beginn des Kriegs wurde die Förderung angesichts der sich abzeichnenden Fleischknapp- 151 5.11.1928, Baur an RMEuL (BA B, alt R 168, 14) bzw. 15.3.1929, DAZ: Nationalisierung der Wissenschaft (AMPG, Abt. III, Rep. 4B, Nr. 3) 152 Baurs offensive Pressepolitik, die inhaltlich und in der Form Werbekampagnen ähnelte, irritierte Kollegen in der Pflanzenzucht, die „die Müncheberger Züchtungsreklame“ für unzeitgemäß hielten u. über die „unkollegial“ die Ergebnisse anderer Institute dabei verwertete. Baur wiederum schob die Verantwortung auf die Presse (vgl. 9.11.1932, Börner, BRA, Zweigstelle Naumburg/Saale, an BRA, Berlin; 22.2.1933, Zillig, BRA, Zweigstelle Berncastel-Cues, an BRA, Berlin, in: BA B, alt R 168, 127; 25.10.1932, Müller: Bericht zu einer Sitzung im Ausschuß der Saatzuchtabteilung der D.L.G., in: ebd., 83). 153 Zu Forschung, vgl. 1.4.1927, Illustrierte Landwirtschaftliche Ztg., o.N.: Pflanzenzüchtung und Tierzüchtung im preußischen und im Reichsetat, Zu den Ausführungen von Baur vor der Gesellschaft zur Förderung deutscher Pflanzenzucht (AMPG, Abt. III, Rep. 4B, Nr. 3); zu Patenten, vgl. 8.12.1917, Illustrierte Landw. Ztg., Baur: Die Organisation der Landw. nach dem Kriege (ebd., Nr. 5); Baur 1930c; Baur 1932c: 29-30; Harwood 2002: 27. – Die Organisation des Instituts – keine „wissenschaftlich-unproduktiven Spielereien” – beschrieb Baur wie eine Firmenstruktur: „Es gibt nur einen Chef. Wir sind keine Behörde. Langjährige Mitarbeiter sind vertraglich an den Reingewinn beteiligt. Die erzielten Züchtungsergebnisse werden in Form von Lizenzen an die Zuchtgüter ausgewertet, [...]“ (11.11.1929, Schlesische Volks-Ztg., Baur: Wiss. Überraschungen in der Landw., in: BA B, alt R 168, 83). – Die Angleichung der wiss. ‚Produktion’ an ökonomische Strukturen zeigt sich in einem Vorfall von ‚Industriespionage’ zwischen den konkurrierenden KWI für Züchtungsforschung und der BRA, in dem es um den Vorwurf des Diebstahls von Pflanzenmaterial ging (vgl. Sache Prof. Müller gegen Baur wegen „Werksspionage”, in: BA B, alt R 168, 175). 154 Vgl. Wischer 1927: 394 155 Vgl. Reis 1910: 463. 56 heit ausgebaut.156 Zunächst ging es um die Förderung der Subsistenz. Im fortgeschrittenen Kriegsverlauf und mit Einführung der Kriegs-(Aktien-)Gesellschaft als staatliche Treuhänderin für das Ressourcenmanagement wurden die Felle für den Heeresbedarf eingezogen. Ende 1918 konnten über den Bedarf hinaus 1,5 Millionen Felle zugunsten der Staatskasse versteigert werden.157 Die Entdeckung des Kaninchens als Pelztier und die Neuzucht des Angorakaninchens zur gleichen Zeit lösten eine Welle der Kaninchenbegeisterung aus. Nach dem Krieg sollte dieser Aufschwung fruchtbar gemacht werden, und das Preußische Ministerium für Landwirtschaft, Provinzialverbände und Landwirtschaftskammern nahmen sich ab 1920 der Kaninchenzucht an.158 Etwa zeitgleich wurde der deutsche Markt durch kanadische Pelzprodukte aus Zuchtfarmen erobert. In Reaktion darauf wurden Forderungen nach Autarkie in diesem lukrativen Wirtschaftsbereich laut. In der Pelztierzucht machte sich Goldgräberstimmung breit. Gegen Ende der zwanziger Jahre formierte sich eine „Pelztierzucht-Bewegung“ mit spekulativen Zügen.159 Je mehr der erwartete Boom aber ausblieb, desto mehr drängten Züchter und pelzverarbeitende Industrie darauf, durch Zölle und veterinärmedizinische Maßnahmen den heimischen Markt zu entlasten.160 „Deutscher Pelz rettet die deutsche Wirtschaft!“, hieß es.161 Die Wissenschaft wurde zunehmend gutachterlich und beratend in Lobbyarbeit und in den administrativen Ordnungsprozess einbezogen.162 Innerhalb der Pelztierzucht eroberte sich die Kaninchenzucht eine Spitzenstellung, was den Fellumsatz betraf. 1924 machte der Kaninchenfellhandel mit 2 Millionen Fellen 42 Prozent des Fellumsatzes aus.163 Zugleich bildete die Kaninchenpelzproduktion in ihrer Struktur eine Ausnahme, da sie sich nicht auf die Züchtung und Haltung von Tieren in eigenen Betrieben („Pelztierfarmen“) stützte, sondern auf ca. 300.000 Kaninchenhalter oder Feierabendzüchter.164 Letztere organisierten in den sprichwörtlichen Kaninchenzuchtvereinen die Muße mit den „lieben Tierchen” als allabendliche Entspannungsübung und bezeichneten sich als „Idealisten”, die in jahrelanger Zuchtanstrengung hohe ästhetische Ziele verfolgten. Viele züchteten aber nur auf Größe, um viel Fleisch und Fell zu erhalten, und die Angorazüchter wiederum waren auf den 156 Vgl. 15.11.1914, Frh. v. Schorlemer an Landwirtschaftskammern (GStA, I. HA, Rep. 87B, 22135: Bl. 10) 157 Vgl. DKa, 24, 20.8.1918: 722. 158 Vgl. Wischer 1933. 159 Vgl. Schöps & Tänzer 1927: 1-3 160 1934 wurden im Deutschen Reich über 2.000 Pelztierzucht-Betreibe gezählt, doppelt so viel wie 1931 (vgl. Wolff 1934: 98). 161 Mitte der zwanziger Jahre waren in Leipzig, dem Zentrum der Pelzverarbeitung, 50.000 Menschen in der Fellverwertungsindustrie beschäftigt (vgl. Gerriets 1926). 162 Indikator ist hierfür die Gründung verschiedener Zeitschriften: 1925, Deutsche Pelztierzucht; 1926, Der Deutsche Pelztierzüchter; 1928, Z. für Pelztier- und Rauchwarenkunde; 1930, Landwirtschaftliche Pelztierzucht. – 1930 fand in Leipzig die Intern. Pelzfachausstellung (IPA) statt, auf der Vertreter der Wissenschaft sprachen, um die „notwendige Verbindung zwischen wissenschaftlicher Forschung und praktischer Züchterarbeit“ voran zu bringen (vgl. BA B, R 86, 1468, Bd. 2). 163 Vgl. Nachtsheim 1928d: 45. – Dies entsprach einem intern. Trend, denn drei viertel des Weltbedarfs an Tierfellen wurde durch Kaninchenfelle gedeckt (vgl. Tänzer 1926a: 3; Meek 1927: 10-16). 164 Vgl. Wischer 1927: 394. 57 Verkauf der Wolle aus. Außerhalb der Vereine gab es ungezählte „Kaninchenhalter” – wie sie die Vereinsmeier abschätzig bezeichneten. Abertausende Kaninchen warteten stumpfsinnig und von Kindern malträtiert in unansehnlichen Verschlägen in Scheunen, im Hinterhof und beim Laubenpieper im Gärtchen, mit Essensresten gepäppelt, auf ihre Schlachtung. Die Geister schieden sich an der Parole: „Kaninchenfleisch muß Volksnahrung werden!” Im Krieg war der Kaninchenbraten eine nationale Aufgabe; in der Republik wurde er zur Sache der Arbeiter, während das Pelzkaninchen als nationalökonomische Aufgabe in Erscheinung trat: Volksernährung vs. Industrieproduktion. Der Beauftragte des Instituts für Vererbungsforschung für Pelztierzucht, Hans Nachtsheim, stellte seine Expertise in den Dienst der industriellen Pelzveredelung. „Läßt sich nicht vielleicht das lebenden Kaninchen veredeln?”, fragte er rhetorisch, denn eine „Antwort auf diese Frage kann nur der Vererbungsforscher geben, und sie setzt stets eine genaue Analyse der erblichen Grundlage für die Charaktere des Kaninchenfells voraus”.165 Die Genetik versprach ein Mehr an Effizienz – durch den Einsatz ihrer Techniken; doch dies setzte eine neue Ordnung der Kaninchenfelle voraus. Statt des Sichtbaren sollte der verborgene Erbfaktor der neue Regulator der Zucht- und Auslesepraxis werden. „Die Betrachtung der Kaninchenrassen nach genetischen Gesichtspunkten ermöglicht es uns, Ordnung in das bunte Durcheinander der vielen Farben und Zeichnungen zu bringen.”166 Die genetische Kenntnis der 20 Faktoren für Farb- und Felleigenschaften, die die Züchter – unbewusst – festgehalten hatten, war die Voraussetzung für kontrollierte Manipulation. „Da wir die genetische Konstitution der meisten Kaninchenrassen, soweit Haarmerkmale in Frage kommen, heute kennen, haben wir die Rassenbildung nunmehr in der Hand. Wir können sagen, was an neuen Typen sich noch schaffen läßt, und wie der Weg ist, um diese neuen Typen zu gewinnen.”167 Die Forschung Nachtsheims situierte sich im Merkmalsraum der „Wirtschaftsrassen”. Sie zergliederte den alten, ästhetisierenden Merkmalsraum der Züchter, ordnete ihn genetisch um und fügte neue Dimensionen hinzu. Die Varianten der Dimension ‚Farbe’ wurden zunächst in die Begrifflichkeit der Mendelgenetik übersetzt. Die Farbvarianten stellten sich als Genvarianten dar, die gekoppelt sein konnten, in einem bestimmten Verhältnis der Epistase zu einander standen oder die als Allelenserie in Reihen der Dominanz und Rezessivität geordnet werden konnten.168 Die genetische Analyse wirkte auf die phänomenologische Seite zurück, indem die Farbverteilung beispielsweise, die zuvor Teil des Aspekts Farbe war, nun als Wirkung eines „Verteilungsfaktors” der Wahrnehmung hinzugefügt wurde. Die züchterische Systematik und die dazugehörige Wahrnehmungsordnung wurden umgeworfen. Kaninchen, die vormals als sehr ähnlich galten, da ihr Felle gleiche Farbtöne besaßen, wurden durch die Genanalyse getrennt, andere, die der Erscheinung nach nichts gemein hatten, standen 165 Nachtsheim 1928c: 265 Nachtsheim 1929d: 106 167 Nachtsheim 1929d: 106 168 Vgl. die zusammenfassenden Artikel: Nachtsheim 1929d; Nachtsheim 1934g. 166 58 der genotypischen Konstitution nach eng beieinander. Es wurde ein genetisches System der Ähnlichkeit und Klassifikation installiert.169 1.2.3 Vom Wissenschaftler zum Experten: ‚High Noon’ im Diskurs um den ‚König’ der Kaninchen Der revolutionierende Anspruch der Genetik traf auf die erwähnten Widerstände. Darüber hinaus war die Vermittlung dieses Anspruchs – und also des nationalökonomischen Ziels – an die Implementierung der Wissenschaft als letzte epistemologische Instanz gebunden. Die Definitionsmacht der wissenschaftlichen Methode musste als ihre selbstverständliche Kompetenz begründet werden. Der Wissenschaftler musste im Interdiskurs einen klaren Trennstrich zwischen sich und dem Traditionswissen der Laien ziehen. Dies gelang dadurch, dass der Wissenschaftler sich als „Experte“ inszenierte. Die Modernisierung als Verwissenschaftlichung immer neuer gesellschaftlicher Bereiche, Produktionsverhältnisse und Herrschaftsstrukturen brachte den Wissenschaftler als Experten hervor, dessen Spezialwissen nachgefragt werden kann, der aber selbst auch aktiv gesellschaftlich relevante Problemfelder mitdefiniert.170 Der Wissenschaftler wirkte also aktiv an der Installierung der Wissenschaft als scheinbar extragesellschaftliche Sphäre ‚eigenen Rechts’, das heißt mit dem exklusiven Zugang zu ‚Wahrheit’, mit. Der Gestus des Experten und die Subjektbildung als Experte verbanden sich leicht mit der Techniknähe der mendelschen Genetik und den technophilen Genetikern.171 Im Übergang vom Traditions- zum Expertenwissen und der Konfrontation Nachtsheims mit der Hartnäckigkeit der Kaninchenzüchter wird dieser Zusammenhang transparent. Der Züchter, der in vorbildlicher Weise die Ergebnisse der Wissenschaft referierte und empfehlenswürdig für den Wissenschaftler wurde, war eine Ausnahme.172 Anderen wurde erst in der Konfrontation mit der wissenschaftlichen Institution die performative Bedeutung ihrer Tätigkeit spontan gegenwärtig. Ein schlesischer Züchter, der sich im Besuch der Dahlemer „Versuchsanstalt“ einen „jahrelang gehegten Wunsch“ erfüllte, übersetzte sofort die Botschaft des performativen Gemisches aus Architektur, Habitus und Unverständlichkeit in den Geltungsanspruch der Wissenschaft: „Die Leser dieser Zeilen haben keine Ahnung, was dort vorbereitet wird zur Hebung deutscher Kulturwerte. [...] Man steht dort vor solcher Forscherarbeit mit Staunen, und lachen möchte man über die kostbare Zeit, die draußen vergeudet wird. Lerne man dort!“173 Jener schlesische Züchter war auch deshalb begeistert, da er als erster deutscher Züchter ein Exemplar einer neuen Kaninchenrasse sehen konnte, die bereits im Hörensagen Furore machte. Ihm war nun klar geworden, dass dieses Kaninchen „in die Hände der Wissenschaftler, wie Herr Professor Dr. Nachtsheim einer ist“ gehörte.174 169 Eine ganz parallele – revolutionierenden – Wirkung entfaltete die Genetik, in der Anwendung auf die Ordnung von Krankheiten in der Humanmedizin (siehe 2.2.3). 170 Vgl. Stehr 1994: 391; Szöllösi-Janze 2000: 47-48. 171 Vgl. auch Harwood 1993: 306; Harwood 2000b: 26-27. 172 Vgl. Wischer 1926: 18 bzw. Nachtsheim 1930b. 173 Zimmermann 1925: 285 174 Zimmermann 1925: 285 59 Neben diesem Reisebericht präsentierte die Schriftleitung des Kaninchenzüchters mit sensationellem Unterton ein erstes Foto des „Rexkaninchens“, das Nachtsheim mit Unterstützung des Preußischen Landwirtschaftsministeriums teuer aus Frankreich importiert hatte.175 Was hatte es mit dem Rexkaninchen auf sich? Im Frühjahr 1925 berichtete ein Prof. E. Kohler aus dem Elsaß über ein „Zufallsprodukt“ der Natur, ein Kaninchen, dessen Fell eine nie gekannte Weichheit erreichte, und eine Kaninhandelsgesellschaft bestätigte, dass das Rexkaninchen „das Pelzkaninchen der Zukunft“ sei.176 Kaninchenfelle mussten in der Regel vor ihrer Verwertung industriell veredelt werden. So erklärte sich die entfachte Aufregung unter den Kaninchenzüchtern mit der Annahme, das Fell des Rexkaninchens sei naturbelassen schon so gut wie das eines Edelpelztiers. In die Euphorie – „das größte Wunder aller Züchtungen, der erfüllte Wunsch der Fellverwertungsindustrie, die Goldgrube der Kaninchenzüchter, der Mörder von einigen dreißig Artgenossen!“ – mischte sich nur vereinzelt Skepsis.177 Hohe Anschaffungskosten von über 300 RM hinderten immer seltener Züchter, sich der Rexkaninchenzucht zu verschreiben und sich in speziellen Klubs zu organisieren, um das französische Zufallsprodukt, das leider auch rachitisch und degeneriert sei, und gewisse Makel der Fellbeschaffenheit durch „deutschen Züchterfleiß“ zu verbessern.178 Anfang 1927 erschienen allerdings widersprüchliche Einschätzungen darüber, ob das Rexfell als „Naturfell“ taugte und für eine maschinelle Verbesserung überhaupt geeignet war; Kürschner und Fellverarbeiter zeigten sich plötzlich skeptisch über das zu erwartende Kosten-Nutzen-Verhältnis.179 Es entspann sich nun eine verwirrende und widersprüchliche Debatte im Kaninchenzüchter über den Wert des Rexkaninchenfells – verwirrend, da immer deutlicher wurde, dass sich die Beurteilungskriterien der einzelnen Kombattanten unterschieden, dass sie verschiedene Beurteilungstechniken anwendeten und dass es letztlich nicht das Rexkaninchen gab. Das Signifikat der Urteile war in einer Vielheit aufgelöst. Im Verlauf der Konfrontation des Züchterwissens mit der wissenschaftlichen Autorität wurde die unklare Signifikation wieder vereindeutigt. Dabei verschob sich in der Kette der Signifikanten der beurteilende Blick auf die Kaninchenfelle zum Pathologischen hin. Diese Verschiebung soll Thema des 2. Kapitels sein; hier wird nun zunächst der Wirkung Nachtsheims Intervention auf den Züchtdiskurs nachgegangen. Nach Rückkehr aus Amerika meldete sich Nachtsheim 1928 mit dem eindeutigen Hinweis zurück, auf die Fragen zum Rexkaninchenfell könne „nur der Vererbungsforscher“ eine Antwort geben.180 Sein Schüler Oskar Thiel hatte während Nachtsheims Abwesenheit die genetische Analyse weitergeführt und mikroskopische Haarstudien zum Rexkaninchenfell angefertigt. Diese Untersuchungen enthüllten nach Nachtsheim, dass das Rexkaninchen ein „Blender“ 175 Vgl. Nachtsheim 1928d: 46. Vgl. Kohler 1925 bzw. Kanin-Handelsgesellschaft Maerz 1925. 177 Dittes 1925 bzw. vgl. Königs 1926: 414. 178 Kleinhaus & Orphel 1927: 95; vgl. Schaaf 1927, (1. Badische Castorrex-Zuchtstation). 179 Vgl. der Kürschner und PelznählehrerKolley 1927b; Fa. Berger & Friedrich 1927c, Leipzig. 180 Nachtsheim 1928c: 267 176 60 sei, dass die Wirkung des Fells aus der allgemeinen Verkümmerung der Haare resultiere.181 Dieses Verdikt musste die Rexzüchter herausfordern, und prompt wurde in Frage gestellt, dass das Institut für Vererbungsforschung ein wirkliches Rexkaninchen besitze und ein echtes „Zuchtinstitut“ sei. Solches konnte wiederum Nachtsheim nicht auf sich sitzen lassen. Er hielt dem „dreisten“ Vorsitzenden des Berliner Rex-Züchterklubs, Mette, entgegen, dass dieser nicht mit „neuzeitlicher Züchtungsbiologie“ vertraut sei, dass er, Nachtsheim, als „strenger Wissenschaftler“ nur strenge Urteile fälle und dass, wenn es so etwas überhaupt schon gäbe, nur das Dahlemer Institut ein richtiges „Zuchtinstitut“ sei.182 Die Konfrontation war damit auf eine generelle Ebene zwischen Wissenschaft und Züchtern gehoben. Bezweifelten die Züchter nun nicht die Andersartigkeit der Tätigkeit der Wissenschaftler, so stellten sie aber die epistemologische Vorgängigkeit der Wissenschaft in Frage. Der Experimentallogik des Labors wurde ein weltferner Gegenstandsbezug vorgeworfen. Die „praktischen Erfahrungen“ hätten, so die Züchter, noch immer die Wissenschaft korrigiert; Nachtsheims Urteil begründe sich in theoretischen Ableitungen und zeichne sich durch „Vorläufigkeit“ aus.183 Dieser Verweis auf die Maßgeblichkeit der Praxis zog nicht zuletzt seine Autorität aus dem Verständnis der Praxis als künstlerische Tätigkeit, was hier nichts anderes meinte als die lokalen und sich einer eindeutigen Protokollierung entziehenden Züchtungspraktiken. Nachtsheim wurde entgegnet, seine Tiere bekämen zu viel Flüssigkeit, die Rexkaninchen bedürften hingegen wegen ihrer Konstitution einer „besonderen Behandlung“, man sollte „gutes Körnerfutter“ wählen, Vitamine, ölhaltige Stoffe und Vitakalk verwenden usw..184 Schließlich wurde die wissenschaftliche Zuchtpraxis auch als Ausdruck bestimmter Interessen gedeutet und Nachtsheims Verbindung zur Fellveredelungsindustrie kritisiert.185 Wenn Nachtsheim darauf die Vorstellungen des „Herrn Mette“ zur züchterischen Verbesserung des Rexkaninchenfells als „Wahnvorstellungen“ bezeichnete, so war das dies in den Augen der Züchter die Ignoranz der strikten Logik der mendelschen Vererbungstheorie, nach der nur das erblich war, was im Rahmen des mendelschen Experimentalsystems beschrieben werden konnte. In gleicher Weise entstand ein Gegensatz zwischen der zählenden und messenden Haarqualitätsbestimmung im Labor und der Bastelei im Hinterhof. Von Seite der Züchter wurde der Wert der Mikroskopieergebnisse von Thiel in Frage gestellt, da die Haltbarkeit eines Fells sich nur in der Praxis erweisen könne, während Nachtsheim ablehnte, den Belastungsversuch der Berliner Rexzüchter mit einem Treibriemen nachzuvollziehen, da er „wissenschaftlich nicht einwandfrei“ nachprüfbar sei.186 181 Nachtsheim 1928c: 266; vgl. Nachtsheim 1928d; Thiel 1928a; Thiel 1928b. Nachtsheim 1928i 183 Burkhardt 1928b: 379, vgl. Württembergischer Castorrex-Züchterklub; Will 1928: 394; vgl. auch Lutz 1928, Amtsgerichtsrat; Bendeler 1928, Mitglied des Castorrex-Züchter-Klubs, Berlin; Franke & M. 1928, Vors. des Verbandes der Kurzhaarkaninchenzüchter Deutschlands. 184 Sommermeyer 1928: 411 185 Vgl. Burkhardt 1928b. 186 Franke & M. 1928; vgl. Maucher 1928 bzw. Nachtsheim 1929e: 326. Der exakten Bestimmung der Wertigkeit von Wolle und Haar wurde bereits in der Tierzucht einige Aufmerksamkeit geschenkt (vgl. Tänzer 1926b). 182 61 Nachtsheim nahm eine Haltung ein, die den Züchtern jede Legitimität absprach. Er entzog sich in den geschlossenen Bereich des vererbungswissenschaftlichen Stils, der wissenschaftlichen Regulierung von Praktiken und der ihr eigenen Dynamik der Konzeptentwicklung.187 Er partizipierte dabei rhetorisch vom gestiegenen gesellschaftlichen Stellenwert der Wissenschaft. Zunächst versuchte er den Züchter Mette zu desavouieren, indem er ihm vorwarf, mit einem Doktortitel hochzustapeln; dann stellte er klar, dass es sich nicht „um einen Gegensatz zwischen Wissenschaft und Praxis“ handele, sondern um einen zwischen „objektiver Beurteilung der Sachlage“ und Privatinteressen; die Vorwürfe träfen ihn nicht. „[M]eine wissenschaftlichen Feststellungen habe ich nur gegenüber der Wissenschaft zu verteidigen“.188 Nachtsheim brach damit die Diskussion ab und verwies auf künftige Veröffentlichungen in Fachblättern.189 Expertenwissen ist durch Exklusivität gekennzeichnet. Die strukturelle Rückbindung von gesellschaftlichen Verhältnissen an das Spezialwissen der Wissenschaft entfaltet nur seine Mächtigkeit, wenn die Wissenschaft als ein Monopol, das heißt, als eine Sphäre epistemologischer Vorgängigkeit auftritt. Nachtsheim trat im Kaninchenzüchter erst wieder in Erscheinung, als zwei Jahre später die Frage nach der Identität der Rexkaninchen geklärt schien.190 Die opponierenden Züchter bemühten sich nun, ihre Haltung gegenüber der Wissenschaft zu korrigieren und die Expertenrolle der Wissenschaft anzuerkennen. Vom Eigenrecht des Erfahrungswissens war nicht mehr die Rede. Herr Mette, ehemals Wortführer der Widerständigen, der für seine Zuchterfolge am Rexkaninchen nun mit grünem Licht Dahlems zum nationalen Erfolgszüchter und Vorsitzenden eines Reichsverbandes Deutscher Rex-Kaninchenzüchter befördert werden konnte, kannte plötzlich nur noch die Unterscheidung zwischen Wissenschaft und „Laien“. Unter diesen gäbe es aber auch „reichlich ernsthafte Männer“, die sich „nebenberuflich auf wissenschaftlicher Grundlage“ mit Forschung befassten, so der Züchter, um hinfort die Leistungen des „verdienten Gelehrten“ und der Wissenschaft insgesamt zu preisen und für eine „mehr wissenschaftlich“ betriebene Zucht zu streiten.191 Die Ereignisse zeigten den Züchtern, dass die „wissenschaftlich betriebene Zucht eben doch den Sieg davongetragen hat“.192 Ein „Akademiker“ bekräftigte, dass nur die internationale Wissenschaft über Forschungsergebnisse urteilen könne, schon die „Moral und die Mentalität der deutschen Wissenschaft“ verpflichte sie „aufrichtig und rückhaltlos“ auf die Wahrheit; der „hochverehrte Herr Professor“ wurde gebeten, den „richtigen Weg zur Züchtung“ zu weisen, oder es wurde eingestanden, dass den Züchtern eben die theoretischen Kenntnisse 187 Zum Beispiel hielt er sein fehlerhaftes Verständnis der wiss. Vererbungskonzepte vor (vgl. Nachtsheim 1929e: 326). 188 Nachtsheim 1928g bzw. vgl. Nachtsheim 1928a. 189 Vgl. Nachtsheim 1929f: 54; Veröffentlichung: Nachtsheim 1929c in ZIAV; Nachtsheim 1931c auf dem wiss. Forum des Pelzzucht-Kongresses; Nachtsheim 1932c in Forschungen und Fortschritte. 190 Zu den näheren Umständen, siehe Seite 59 u. Kapitel 2.1.3. 191 Mette 1929a; vgl. Mette 1929c: 735 bzw. Mette 1929b, Herv. Verf.; vgl. auch Mette 1930b: Widmung: „Der Züchter – dem Forscher. Dem [...] Gelehrten [...] gewidmet“. 192 Mette 1930a: 283; vgl. Tänzer 1931: 353. 62 fehlten, ohne welche überhaupt keine praktische Zucht möglich sei.193 Sieg hieß auch, dass das Mikroskop über den Treibriemen, die Experimentalpraxis einer sozial definierten Sphäre der Wissenschaft über die Bastelei der ‚Künstler der Praxis’ gesiegt hatte.194 In neuerer historiographischer Betrachtung erscheint die experimentelle Wissenschaft als eine Tätigkeit, deren Eigentümlichkeit nicht-geplante, spontane, zufällige und nur schwer rational rekonstruierbare Momente umfasst.195 Die Trennung der Praxen von Genetik und Kaninchenzüchtern stellt sich insofern als die Konsequenz der diskursiven und strukturellen Trennung zweier Rationalitätssphären – der gesellschaftlichen und der wissenschaftlichen Rationalität – dar. Die Ereignisse wirkten wie ein läuterndes Exempel, das die Verwissenschaftlichung und Mendelisierung der Kaninchenzucht erzwang. Die Wissenschaft hatte sich als der mächtigere Diskursteilnehmer erwiesen. 1.2.4 Vom Experten zum Mediator Welchem Zweck aber diente die Expertise des frisch gekürten Experten? Es war nicht ganz zufällig, dass manche Züchter Nachtsheim Kungelei mit der Industrie vorwarfen. Nachtsheim setzte sich unter einigem Aufwand für die Belange der Pelztierwirtschaft ein und orientierte sich streng an der Einpassung der Zucht an den pelzwirtschaftlichen Betrieb. Nachtsheim ging noch einen Schritt weiter als Baur, der den Bereich der Forschung nicht eigentlich verließ. Er bespielte eine weitere Möglichkeit des ‚modernen’ Wissenschaftlers. Seine Wissenschaft war nicht nur einem technischen und instrumentellen Erkenntnisinteresse verschrieben, er agierte nicht nur in die Gesellschaft hinein mit dem Ziel, die technische Macht der Wissenschaft auch als einzig legitimen Wahrheitsdiskurs abzusichern, sondern vermittelte selbst die Herstellung von Macht aus dem wissenschaftlichen Wissen. Der Begriff des Mediators hebt darauf ab, dass es einer Vermittlung der Partialrationalitäten gesellschaftlicher Teilsysteme bedarf.196 In diesem Sinne trat der wissenschaftliche Experte als Mediator der nationalökonomischen Interessen Deutschlands auf. Sein Agitationsspektrum erstreckte sich von der Mendelisierung des wissenschaftlichen Diskurses über die Verwissenschaftlichung des Züchterdiskurses, der Zentralisierung seiner Definitionsmacht, der Standardisierung der Zuchtpraktiken bis hin zur Effektivierung der Zucht als Ganzes und Ökonomisierung der Kaninchenzucht als ein landwirtschaftliches Teilssystem der Nationalökonomie. Im Preußischen Landwirtschaftsministerium war Anfang der zwanziger Jahre bekräftigt worden, dass die Kleintierzucht als Pelztierzucht im staatlichen Interesse lag. Dies entsprach der Tradition sozialökonomischer Ordnungspolitik im 193 Kunze 1929: 168; vgl. Burkhardt 1928a; Stutzer 1929: 326 bzw. Weller 1929. Vgl. Mette 1929b. – Unter der Präsentation von mikroskopischen Bildern forderte Mette die Züchter auf, die von Nachtsheim beschriebenen Untersuchungsmethoden zu beachten (vgl. Mette 1930a: 283; Mette 1931). Die mikroskopischen Untersuchungen wurden von nun an allgemein als Maßstab der Haarbewertung verwendet (vgl. zum Beispiel Schröder 1930). 195 Vgl. zum Beispiel Rheinberger 1997: 32. 196 Vgl. Szöllösi-Janze 2000: 49. 194 63 Deutschen Reich.197 Die staatsinterventionistischen Strukturen wurden im Umbruch zur Weimarer Republik nicht abgeschafft, sondern an die Bedürfnisse eines modernen Industriestaats angepasst.198 Das Ziel, die Pelztierzucht und speziell die Kaninchenzucht in die Autarkiepolitik Deutschlands einzugliedern,199 war aber eine Herausforderung, da es die Verpflichtung auf dieses Interesse, gemeinsame Zuchtziele und eine gemeinsame Praxis erforderte. Dies musste umso schwieriger sein, in je mehr Hände die Produktion von Pelztieren verteilt war. Der Übergang zu einer industriellen Pelzwirtschaft bedurfte also der intensiven staatlichen wie wissenschaftlichen Vermittlungstätigkeit. Während auf Reichsebene noch unschlüssig beraten wurde, begann das preußische Landwirtschaftsministerium mit koordinierenden Aktivitäten zur Förderung der Pelztierzucht.200 Der massive Unmut in den Kaninchenzüchterkreisen über die Vermarktungspraxis der Kriegs-Fell-Aktiengesellschaft sollte durch die Gründung von Fellverwertungsgenossenschaften produktiv umgelenkt werden.201 Die zunächst gut angelaufene Zusammenarbeit zwischen Wirtschaftsadministration und Kaninchenzüchtern zerbrach aber, als das Ministerium Bewertungsstandards zur Bedingung von Staatspreisen bei Ausstellungen machte. Der Bund Deutscher Kaninchenzüchter (BDK) ging in Konfrontation und provozierte damit die Spaltung der Landesverbände.202 Die Vereinsposse, die das Pathetische und knochig Persönliche prägte, erklärt sich aus dem Gegensatz zwischen wirtschaftsadministrativen Interessen und dem politischen Bewusstsein eines Teils der Züchter. Auf der einen Seite wurde eine genossenschaftliche Selbstverwaltung gefordert – Direktveräußerung nach dem Vorbild von Konsumvereinen, Preisgestaltung ohne Konkurrenz und Gründung von Genossenschaftsbanken. Auf der anderen Seite verlangte man die Unterordnung unter die regulativen Vorgaben einer Ministerialkommission.203 Eine zentrale Lenkung der Kaninchenzucht wurde zwar allgemein begrüßt, der Dissens trat in der Frage der Vereinheitlichung der Richtlinien für die Zucht und die Benotung von Zuchtkaninchen auf Ausstellungen zu Tage. Das wirtschaftsbürokratische Interesse kollidierte sowohl mit den Bewertungsmaßstäben der „Sportzucht“, die sich nach selbstgesetzten ‚ästhetischen’ Zuchtzie197 Staatsbürokratie und Wirtschaft hatten seit Reichsgründung zu einer engen Zusammenarbeit zusammengefunden, die durch die faktische Zentralverwaltungswirtschaft im ersten Weltkrieg noch verstärkt wurde (vgl. Hirsch 1973: 37-38). 198 Vgl. Hirsch 1973: 40. – Zur Einpassung der Genetik am Beispiel Baurs in diese nationalökonomisch verstandene Wirtschaftspolitik: siehe Fußn. 75. 199 Von der Seite des RMI wurde zum Beispiel bemängelt, dass noch 1928 für 28 Mill. RM Kaninchenfelle importiert wurden (vgl. o.D. [1930], Dr. A. Zschiesche [RGA]: Reisebericht über den Besuch der IPA in Leipzig 13.+14.8.1930, in: BA B, R 86, 1468, Bd. 2). 200 Vgl. o.D., Aktenauszug [zum Schreiben des Reichsministers vom 19.2.1919] (GStA, I. HA, Rep. 87B, 22137: Bl. 69c-e); Wischer 1933. 201 Vgl. zum Beispiel in DKa, 24, 1918: 513-14, 531 u. 722. 202 Vgl. 11.4.1920, Allgemeinen Kaninchenzeitung: Mitteilungen des BDK (Reichsverband) e.V., Nr.18: 173- 75 (GStA, I. HA, Rep. 87B, 22137: Bl. 69c-e); 12.7.1920, Meyer, Hannsen, Fischer an PML (ebd.: Bl. 276-77); Reis 1921 (Vors. des Landesverbandes Sachsen). 203 Vgl. o.D., Protokoll der Sitzung vom 22.8.1919 zwecks Gründung eines „Verbandes der Fellverwertungsgenossenschaften deutscher Kaninchenzüchter, e.G.m.b.H. Sitz Leipzig” (GStA, I. HA, Rep. 87B, 22137: Bl. 8-22) bzw. o.D., Niederschrift der Beratungen über Maßnahmen zur Hebung der Kaninchenzucht im PML zu Berlin am 28.-29.2.1920 (ebd.: Bl. 200). 64 len (zum Beispiel lange Ohren) richtete, als auch mit der Schlachttierzucht, solange diese nicht mit den Qualitätsanforderungen an das Fell vereinbar war.204 Die Einheit der Züchter war in dieser Frage aber zerbrochen und drückte sich in den Parolen wie: „Kaninchenfleisch: Volksnahrung!“ – „Nutzzucht oder Rassenzucht” – „Sport- vs. Wirtschaftszucht” und „Pelzzucht ist Trumpf!“ aus. Das Referat für Kleintierzucht im Preußischen Landwirtschaftministerium fädelte eine Initiative zur Gründung einer neuen Reichsvertretung der Kaninchenzüchter ein, die bei den abtrünnigen preußischen Kaninchenzüchtern Unterstützung fand. Ihre Forderung war, „Theorie und Praxis in rechter Mischung miteinander zu vereinen“.205 Hans Nachtsheim wurde 1924 zum Vorsitzenden des Reichsbundes der Deutschen Kaninchenzüchter (RDK) gewählt.206 Das satzungsgemäße Ziel des Verbands war unter dem Motto: „Arbeit an der Kaninchenzucht – Arbeit am Volke!“ die Herstellung einer reichsweiten Einheit der Kaninchenzüchter.207 Dies war, erläuterte Nachtsheim, eine Aufgabe von größter volkswirtschaftlicher Bedeutung, da die hiesige, in Entwicklung begriffene Fellindustrie noch weitgehend auf den Import von Fellen angewiesen sei; die vaterländische Pflicht der Kaninchenzüchter sei es deshalb, den Bedarf der Industrie an einheitlichen Rohstoffen decken zu helfen.208 Nachtsheim und der Regierungsrat Dr. Jan Gerriets im Landwirtschaftsministerium bildeten ein enges Paar in der Mediation der volkswirtschaftlichen Interessen. Schon 1922 hatte das Ministerium Kaninchenzuchtversuche am Institut für Vererbungsforschung angeregt, die nach Gründung des RDK fortgesetzt und durch einen 13-Punkte-Plan zur Verwissenschaftlichung der Kaninchenzucht erweitert wurden.209 Nachtsheim hatte nun als Verbandsvorsitzender die Möglichkeit, die mendelsche Bereinigung des Vererbungsdiskurses über eifrige Windmühlenarbeit in Vorträgen, Besprechungsteilen und Vorlesungen hinaus auf breiter Front voranzutreiben – zum Beispiel auf der Düsseldorfer Ge-So-Lei mit Präparaten von „unserer Versuchs-Station in Berlin-Dahlem“. Und auf den beliebten Wanderausstellungen der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft kursierten Schautafeln über „die Grundgesetze der Vererbung“, die später in Zusammenarbeit mit der Bildstelle des Preußischen Landwirtschaftsministeriums zu Unterrichtsfilmen weiterentwickelt wurden.210 Da Nachtsheim mit den 204 Vgl. Wischer 1925d: 393; Wischer 1933. Burkhardt 1922: 634 206 Vgl. zum Beispiel in DKa, 30, 1924: 356-57 u. 387. – Stellv. Vors. wurde Prof. Valentin Stang, seit 1923 Direktor des Instituts für Tierzucht der Tierärztlichen Hochschule, Berlin, O.Reg.Rat u. Referent für Tierzucht im RMEuL. 207 Gerriets 1924: 413-14; vgl. Zeunert 1924: 623. 208 Vgl. Nachtsheim & Zeunert 1924. 209 Müller 1922: 29 bzw. vgl. Gerriets 1924: 413. 210 Vgl. zum Beispiel Nachtsheim 1922f; Nachtsheim 1924b; Nachtsheim 1924a; o.D. [ca. 1928], Nachtsheim: Vorlesungsmanuskript: „Hereditas“ bzw. o.D. [ca. 1930], „Tierzüchterische Konsequenzen der Vererbungslehre“ (AMPG, Abt. III, Rep. 20A, Nr. 139 bzw. 141) In dieser Vorlesung bespricht N. die in der Tierzucht verbreiteten Vererbungsvorstellungen. Zu „Ge-So-Lei“, vgl. Thoma 1926: „beherzigende Fingerzeige von der Mendelschen Erblehre“ – ein „vollständiges Verstehen des Gebotenen ist aber für viele noch recht schwer“. – Die „Ge-So-Lei“ (Gesundheit, soziale Fürsorge u. Leibesübungen) war eine 1926 breit angelegte Ausstellung zur Gesundheitsführung, die neueste Methoden der „health propaganda“ einführte u. 7,5 Mill. Besucher verbuchte (vgl. Weindling 1989: 411+14). – Zu Wanderausstellungen, vgl. Nachtsheim 1931e; zu Bildstreifen, vgl. Nachtsheim 1933e; Nachtsheim 1934c. 205 65 Fachzeitschriften zur landwirtschaftlichen Züchtung unzufrieden war, schuf er sich 1930 mit der Landwirtschaftliche Pelztierzucht ein eigenes Organ, in dem auch Wirtschaftsfragen diskutiert wurden.211 Höhepunkt des vererbungswissenschaftlichen Interdiskurses war die Organisation des I. Internationalen Kaninchenzüchter-Kongresses, der 1930 in Verbindung mit der Internationalen Pelzfachausstellung (IPA) in Leipzig, dem Zentrum der deutschen Fellverarbeitung, stattfand. Das Ausstellungsprogramm wurde durch ein wissenschaftliches Symposium mit 25 internationalen Vertretern der Züchtungsbiologie begleitet, das im Schulterschluss mit dem Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft den Ausbau der „Wirtschaftszucht“ erörterte.212 Der Kongress konnte als Erfolg gelten, denn die Presse hatte verstanden, dass „das Kaninchen das wertvollste Pelztier“ war, und die Reichsstellen zeigten sich zufrieden mit den Verdiensten Nachtsheims und der Rolle der Wissenschaft in der Entwicklung der Kleintierzucht.213 Die mediatisierende Rolle Nachtsheims komplettierte sich aber erst durch die Einbeziehung der pelzverarbeitenden Industrie. Die Deutsche LandwirtschaftsGesellschaft (D.L.G.) war das ideale Forum. Die D.L.G. war eine aus Züchtern und Hochschullehrern zusammengesetzte Interessenvertretung der Landwirtschaft.214 Bereits 1911 hatte sie mit der Ausschreibung des Preisthemas: „Welche Ausnutzung haben bisher die mendelschen Regeln über Verhalten von Bastarden bei Züchtung unserer landwirtschaftlichen Kulturpflanzen gefunden und welche Ratschläge sind den Züchtern zu erteilen, um [...] möglichst sichere Sorten von besonders hoher Leistungsfähigkeit zu erhalten?“215 szientistischen Spürsinn bewiesen. Nachtsheim war Mitglied der Tierzuchtabteilung der D.L.G. und Vorsitzender des Sonderausschusses für Kaninchenzucht mit beratender Funktion am Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft, in dem Rauchwarenindustrie, Wissenschaft und Züchter zusammengeführt wurden.216 Diesem Gremium kam eine entscheidende Funktion bei der Fokussierung der Zucht auf bestimmte „Wirtschaftsrassen“ zu. Der Sachverständigenausschuss für Pelztierzucht der Deutschen Reichszentrale für die Pelztier- und Rauchwarenforschung wirkte ebenfalls als ein vermittelndes Forum.217 Als sein Mitglied nahm Nachtsheim zum Beispiel Einfluss auf die Einfuhrregelungen ausländischer Edelpelztiere, die zwischen Reichsministerium des Innern, Preußischen Landwirtschaftsministerium und Reichsgesundheitsamt abgestimmt wurden.218 Nachtsheim ließ sich schließlich auch auf die direk211 Vgl. Nachtsheim 1924b; ders.: Zum Geleit, Landwirtschaftliche Pelztierzucht, 1, 1930: 1. Vgl. Nachtsheim 1930a: 201; vgl. auch Schöps 1930: 217; Nachtsheim 1931a. 213 30.7.1930, Sächsische Staatszeitung [Artikel zu IPA] bzw. vgl. 25.8.1930, 5. Beilage der Leipziger Neueste Nachrichten, o.N.: Internationaler Kaninchen-Züchter-Kongreß; o.D. [1930], Dr. A. Zschiesche [RGA]: Reisebericht über den Besuch der IPA in Leipzig 13.-14.8.1930, u. 30.8.1930, G.M. (zu III2266/30): Bericht vom Besuch am 24. u. 25.8. (BA B, R 86, 1468, Bd. 2). 214 Vgl. Harwood 2002: 17. 215 Preisausschreiben der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft, ZIAV, 6, 1911/12: 200 216 Vgl. Schöps 1925; Nachtsheim 1932g: 206. 217 An die durch die sächsische Handelskammer und das sächsische Wirtschaftsministerium gegründete Zentrale waren zahlreiche Wirtschaftsverbände angeschlossen (vgl. Schöps & Tänzer 1927: 29-30). 218 Vgl. Richter 1932: 71-72; o.D., o.N.: Auszug aus Niederschrift über Veterinär-Konferenz in Oldenburg, 24.-27.7.1931: Punkt 7, Veterinär-polizeiliche Beschränkung der Einfuhr von Edel212 66 te Lobbyarbeit für die Pelztierzüchter ein, indem er Anfang der dreißiger Jahre den Vorsitz des Reichsverbandes Deutscher Edelpelztier-Züchter übernahm, um die Reorganisation und Vereinheitlichung des zersplitterten Verbandswesens zu betreiben.219 Das Ziel war, die „Rentabilität der Landwirtschaft“ zu verbessern und „unsere Außenhandelsbilanz zu entlasten“.220 Die Steigerung der Quantität und Qualität der Kaninchenfellproduktion erforderte, das gewöhnliche Kanin den Ansprüchen der Pelzindustrie anzunähern. Wissenschaft und Praxis mussten dabei an einem Strang ziehen, um die existierenden Kaninchenrassen zielgerecht zu verbessern, die Kennzeichnung der Kaninchen zu standardisieren, die Zucht durch Standards zu vereinheitlichen und vor allem auf wenige interessante Rassen zu beschränken.221 Als Vorbild galt die Geflügelzucht, in der es gelungen war, die Leistungen durch die Konzentration auf wenige Zuchtrassen erheblich zu steigern. 1931 beschloss der D.L.G.-Ausschuss eine Liste von sieben Kaninchenrassen, die als „Leistungstypen“ oder „Wirtschaftsrassen“ für die Fell-, Wolle- bzw. Fleischerzeugung anerkannt wurden.222 Die Maßnahmen gipfelten in der Einrichtung von „Reichsstammzuchten“, in denen die „Wirtschaftsrassen“ professionell verbessert und standardisiert werden sollten, damit die „Leistungszüchter“ sie dann nur noch zu vermehren brauchten.223 An diesem Punkt spitzte sich der Konflikt innerhalb der Züchtergemeinschaft erneut zu.224 Für die ‚Volkswirtschaftler’ unter den Züchtern waren die Begriffe „Leistungszucht“ und „Nutzzucht“ synonym. „Der Wert eines Tieres ist abhängig von seiner Leistung für die Wirtschaft.“225 Die Sportzüchter aber, die Anfang der dreißiger Jahre noch über 90 Prozent der Züchter stellten und vor allem auch die Preisrichter waren ihre hartnäckigsten Gegner. Ihnen könne zwar, so Nachtsheim, ein „hoch entwickeltes“ Zuchtkönnen attestiert werden, doch, da sie nicht auf „Höchstleistung“ für die deutsche Wirtschaft hinzielten, sei der tat- pelztieren; o.D., Nachtsheim an PML, 3 Bl. [Anm. mit Tinte: anläßlich der Kommissionssitzung im RMI am 21.5.1931 als Verhandlungsunterlage erhalten]; 11.10.1931, Nachtsheim an PML; 26.10.1931, PML: Viehseuchenpolizeilichen Anordnung, betreffend die Ein- und Durchfuhr von Edelpelztieren [entsprechend Nachtsheims Entwurf] (BA B, R 86, 1468, Bd. 3). 219 Vgl. zum Beispiel 29.1.1931, Reichsverband Deutscher Edelpelztier-Züchter, e.V., Sitz Berlin, Nachtsheim, an Dr. Freyer, D.L.G., Abschrift (BA B, R 86, 1468, Bd. 3); zur Schaffung eines Einheitsverbandes, vgl. Nachtsheim 1931i: 568-69; zur Organisation des Rohfellmarktes, vgl. Nachtsheim & Redlich 1932. 220 Nachtsheim & Redlich 1932: 178 221 Hinzu kam eine konsequente und einheitliche Zuchtbuchführung, die nicht zuletzt die Grundlage für wissenschaftliche Arbeit war (vgl. Nachtsheim & Zeunert 1924). – Einheitliche Vorschriften für die Fellbewertung traten 1927 in Kraft, eine einheitliche Reichskennzeichnung und Zuchtbuchführung schon 1925 (vgl. Nachtsheim 1931h: 838). 222 Vgl. Nachtsheim 1931h: 838. 223 Vgl. Nachtsheim 1932a: 496. – Strukturell wurden die Wirtschaftsstandards in einem geregelten Absatzmarkt für die Rohfelle verankert. Die Züchter sollten ihre Felle über die Vereine ausschließlich an drei große Vertragshändlerfirmen weitergeben. Den Züchtern wurden auf der einen Seite Preise und andere Garantien gegeben, auf der anderen Seite hoffte Nachtsheim auf diese Weise, einen einheitlichen Absatzmarkt zu schaffen (vgl. Loudwin 1928: 209). 224 Der Neologismus „Nutzzucht“ war Mitte der zwanziger Jahre im Züchterdiskurs aufgetaucht, „Wirtschaftszucht“ und „Leistungszucht“ gegen Ende (vgl. Gruenhaldt 1925). 225 Nachtsheim 1931g: 757 67 sächliche Fortschritt für die Zucht entsprechend unterentwickelt.226 Hinter der Entgegensetzung von Sport- und Leistungszucht verbarg sich darüber hinaus ein weiterer vererbungstheoretischer Widerstreit. In der Sportzucht wurde der Wert eines Tieres an der Farbe der Krallen oder Augen, den Flecken auf den Ohren, dem geraden Wuchs der Blume usw. gemessen. Dieser „Formalismus“ war, abgesehen von der Ästhetik, in der Konstitutions- und Degenerationslehre begründet, nach der bestimmte äußerliche Auffälligkeiten als Anzeichen – Stigmata – für eine innere Degeneration oder generelle Konstitutionsschwäche des Tieres galten. Zuchtregeln auf der Grundlage der Degenerationslehre waren nicht nur in der Kaninchenzucht, sondern besonderes in der Großviehzucht verbreitet. Dieser Praxis entgegenzutreten, war ein beliebtes Agitationsfeld von Erwin Baur. „Zwischen den alten Tierzüchtern mit ihren gewohnten Traditionen und den Genetikern wird ein ganz schwerer Kampf ausgekämpft.“227 Bis jetzt habe „man immer auf Äußerlichkeiten gezüchtet: der Schwanz durfte nur eine bestimmte Farbe haben, Hörner eine bestimmte Form usw.; die nebensächlichen Dinge wurden zu aller erst berücksichtigt, und dann erst die Leistung selbst“. Baur und Nachtsheim fochten gleiche Kämpfe um die Hegemonie genetischen Wissens. Die mendelsche Genetik versuchte dem so genannten Formalismus und jenen Züchterregeln, die aus ihrer Sicht ‚Voodo’-Praktiken gleich kamen,228 bei jeder Gelegenheit den Garaus zu machen – nicht ohne Erfolg. „Ich erinnere mich, wie ich einst bei einer solchen Gelegenheit erwartete, dass die Biergläser mir an den Kopf gehen würden; es geschah aber nicht.“229 1.2.5 Nachspiel: Rexzüchter im Abseits, „Kaninchenzucht wird politisch“ und Wirtschaftszucht durch Nationalsozialismus Ungeachtet dieser Konflikte vermehrten sich die Kaninchen Deutschlands in nie gekannter Weise: Mit Beginn amtlicher Kaninchenzählungen in Preußen 1928 verdoppelte sich ihre Zahl in einem Jahr von 1,8 auf 2,3 Millionen; in den Jahren der Weltwirtschaftskrise überrundete der Fellumsatz aus der Kaninchenzucht mit einer Jahresproduktion von 200 Millionen Fellen den der professionellen und in Farmen organisierten Edelpelztierzüchter.230 Wie auch in zurückliegenden Zeiten einer prekären landwirtschaftlichen Versorgung,231 so eignete sich auch diese Agrarkrise zur Popularisierung des Kaninchens – beispielsweise durch öffentliche Kaninchenessen. Die Zuspitzung der Krise eignete sich aber insbesondere dazu, das Programm der Ökonomisierung und eingeführten effektiven Verschaltung der Produktionskette im schwächsten Glied – der Ein226 Nachtsheim 1931g: 758; vgl. Nachtsheim 1932a: 496. – Der Gegensatz „Sportzucht oder Rassenzucht“, der von vielen Sportzüchtern aufgemacht wurde, war aus Sicht der Genetik keiner, da Leistung „Rasse“ voraussetzte (vgl. Nachtsheim 1930e: 298). 227 Vgl. 15.1.1929, Baur: Die praktischen Aufgaben der Pflanzenzüchtung in Deutschland (AMPG, Abt. III, Rep. 4B, Nr. 5) 228 Vgl. Nachtsheim 1931h: 838; Baur 1932c: 22. – In der späteren Entwicklung der mendelschen Genetik musste die Lehre der Degenerationszeichen bestätigt werden. 229 15.1.1929, Baur: Die praktischen Aufgaben der Pflanzenzüchtung in Deutschland (AMPG, Abt. III, Rep. 4B, Nr. 5) 230 Vgl. DKa, 36, 1930: 52 bzw. Nachtsheim 1932a: 496. 68 heit der Züchter – propagandistisch zu forcieren. Im Duktus der Zeit wurde der „Alarm!“ ausgerufen: „Volk in Not – Kaninchenzucht hilft“. Die „Mobilmachung aller Kräfte“, die Einbeziehung der Frauen- und Jugendbewegung, der Siedlungsbewegung und ihrer Genossenschaften wurde angestrebt. Und vor allem sollte – um der „Linderung der Not“ willen – alle Kritik zurückgestellt werden.232 Über dieses durchschaubare Manöver zur Disziplinierung der Züchter kochte aufs Neue der Unmut über die industrieorientierte Reglementierung der Zucht hoch.233 Gerade aber die Rexkaninchenzüchter hatten von Anfang an ihr Kaninchen als Pelzkaninchen gezüchtet. Die Rexkaninchenvariante, die der Berliner Züchterklub herausgezüchtet hatte, wurde durchaus auch von Seiten der Kürschner und Fellverarbeiter gelobt, doch war ihr Fell nicht mehr „seidigweich“, sondern galt als „griffig-derb“. In dieser Weise hatte sich die Identität des Rexkaninchens aufgespaltet und stabilisiert. Das von der Industrie akzeptierte „griffig-derbe“ Rexfell entsprach aber nicht der ursprünglichen Überzeugung der Züchter, ein Edelpelztierkaninchen gezüchtet zu haben. Das Dilemma war perfekt, da die extreme Weichheit des Fells nur um den Preis mangelnder Dichte – und Krankhaftigkeit zu haben war. Für Nachtsheim war die Situation eindeutig: „Wer das seidig-weiche Tier propagiert, vertritt den Standpunkt: ‚Je kranker das Haar, umso besser für den Kürschner!’“234 Die Rexkaninchenzüchter standen ungewollt vorm „Scheideweg“: Nutzzucht oder Sportzucht.235 Ein Züchter bedankte sich sogleich, dass Nachtsheim das Zuchtziel gesteckt hatte: „Die Parole heißt bis auf weiteres: derb-griffig!“236 Die Rexzüchter, die an der Spitze der Züchter die Überzeugung vertraten, dass Fellzucht „Trumpf“ war, und genetisch auf Linie gebracht worden waren, stellten jetzt nur noch eine gefügige Manövriermasse dar. Und nur als solche waren die Züchter vom RDK eingeplant. Die Züchter der ursprünglichen Rexkaninchenvariante riskierten nach der Einigung der Wissenschaft und Industrievertreter auf die doppelte Rexidentität, ihre Felle nur als Schneideware veräußern zu können und als „Lederlappen-Züchter“ beschimpft zu werden.237 Aber auch die Rexzüchter der „Berliner Richtung“ sahen sich bald mit der Schärfe der Vermarktungslogik konfrontiert. In den Katalog der „Wirtschaftsrassen“ wurde das Rexkaninchen nicht aufgenommen, da sich eine effektive Produktion auf wenige Rassen konzentrieren musste.238 Immerhin riet ihr Potenzial, die Rexzüchter nicht völlig zu entmutigen. Diese hinhaltende Aussonderung war die Konsequenz der zentralisierten Verschaltung von technischer Wissenschaft, Industrieproduktion und Landwirtschaft. Nachtsheim ließ keinen Zweifel: Die 231 Gegen „das drohende Gespenst der Unterernährung des Volkes“ (vgl. Strauch 1910) u. „um der minderbemittelten Bevölkerung Fleisch zu verschaffen“ (vgl. Meyer 1916). 232 Reichsbund der Deutschen Kaninchenzüchter & Wischer 1931a: 613; Reichsbund der Deutschen Kaninchenzüchter & Wischer 1931b: 645; Reichsbund der Deutschen Kaninchenzüchter & Wischer 1931c: 821-22. 233 Vgl. Klug 1931; Reichsbund der Deutschen Kaninchenzüchter & Wischer 1931c: 823; Weiser 1932; Königs 1932. 234 Nachtsheim 1930e: 298 235 Schröder 1929: 519 236 Mauß 1930; vgl. auch Will 1931: 3. 237 Stöckigt 1930; vgl. Nachtsheim 1931h: 838. 238 Vgl. Nachtsheim 1933b: 165 bzw. Nachtsheim 1934g: 90. 69 „Wirtschaftszucht marschiert, und wir werden dafür sorgen, daß sie auf dem Marsche bleibt!“239 Auf dem Marsche war auch die nationalsozialistische Bewegung, die bereits im Frühjahr 1933 die immer noch mit einander ringenden Kaninchenbünde hinwegwischte und an ihre Stelle den Reichsverband Deutscher Kaninchenzüchter setzte (RVK). Jetzt wurde vollzogen, was unter den Bedingungen einer zwar staatsinterventionistischen, dennoch aber durch die Freiheit der Wirtschaftssubjekte gekennzeichneten Ökonomie nicht möglich war. Nicht zufällig begrüßte Nachtsheims RDK, der die zentrale Zusammenfassung der Wirtschaftskräfte als nationale Aufgabe verstand, noch im April das „neue Deutschland“.240 Der RDK sah sein „Alarm-Programm“ zur Hebung der nationale Wirtschaft und Linderung der Not des „kleinen Mannes“ ganz im Geiste der „Revolution“ zum Zusammenschluss der Volksgemeinschaft. Materialismus, „liberalistischer Parteienstaat“ und Marxismus erschienen nun als die natürlichen Antipoden der „antikapitalistischen“ Nationalökonomiedoktrin.241 Der gegnerische Bund Deutscher Kaninchenzüchter, der für die Erhöhung der Subsistenz durch Fleisch- und Fellzucht eingetreten war, wurde als sozialdemokratisch, liberalistisch-marxistisch, klassenkämpferisch und volkszersetzend denunziert. Tatsächlich aber konnte der Vorsitzende des BDK, ein bis dahin „sozialdemokratisch denkender Mensch“ und Vorkämpfer für den demokratischen konsumgenossenschaftlichen Weg – damit nicht bestimmte Leute „mit einem Mercedes Benz in der Welt rumfahren“ – überzeugender die Anschlussfähigkeit der Kaninchenzucht verkörpern. Nachtsheim, der eine Parteimitgliedschaft in der NSDAP verweigerte,242 wurde abgesetzt und sein ehemals „sozialdemokratisch denkender“ Kontrahent neuer Spitzenfunktionär im Reichsverband. Im Juni übernahm der Parteifunktionär aus dem agrarpolitischen Amt der NSDAP, Karl Vetter,243 die Leitung der Kaninchenzüchter und gesamten Kleintierzucht. Nun begann die konsequente Durchsetzung des nationalökonomischen Ansatzes. Durch diktierte Wirtschaftsrassenzucht auf der einen und ihre Verschaltung mit einer unberührt fortexistierenden weiterverarbeitenden Industrie auf der anderen Seite waren die Züchter nun in einen Staatskapitalismus eingespannt, der die alten Hoffnungen der Fellindustrie auf die Autarkiepolitik bzw. die Befürchtungen der Züchter vor der „Diktatur“ der Pelzbranche und Industrie erfüllte.244 239 Nachtsheim 1932g: 206 Jokisch 1933: Seite 1 v. 4 241 Hier und nachfolgend Jokisch 1933: Seite 2-3 v. 4 242 24.10.1933, Nachtsheim an W. Landauer (nach Auskunft v. J. Harwood) – Zu Nachtsheims Konflikt mit Karl Vetter (vgl. 6.1.3). 243 Karl Vetter, geb. 15.4.1895, Todtnau i. Baden, ev.. Seit 1923, selbstständiger praktischer Landwirt. 1925-27, Mitglied d. Jungdeutschen Ordens. NSDAP-Mitglied, 1.12.1929 (Nr. 177.063), SA-Mitglied bis 1931, SS-Mann, 24.9.1934 (Nr. 239.794). 1932 Kreisleiter der NSDAP. 4/32, MdL Preußen. 12.11.1933, MdR. Seit 1933 Fachbearbeiter im Amt für Agrarpolitik der NSDAP. 10/1933, Führer d. dt. Kleintierzucht und Reichshauptabt.ltr IV im Reichsnährstand. 1935, Enthebung z.b.V. der Stabskanzlei im RuSHA. 12/1936, v. H. Backe (Vierjahresplan, Geschäftsgruppe Ernährung) beauftragt mit der Durchführung in der Kleintierzucht, 1937 „Sonderbeauftragten für die Kleintierzucht und -haltung“. 13.1.1941, Einberufung zum Heeresdienst. (Vgl. BA B, BDC-Akte Vetter.) 244 Zu Zwangsmitgliedschaft u. Förderung der Wirtschaftsrassenzucht, vgl. Vetter 1934: 480; zu dem Industrievertreter als Reichsfachberater, der die Züchtungsziele vorgibt, vgl. Loudwin 240 70 Wenige Jahre später stand die Kaninchenzucht bereits mitten in der „Erzeugungsschlacht“ und sah sich eingebunden in die kriegsvorbereitenden Maßnahmen des Vierjahresplans.245 Da dies die Stärkung der Wirtschaftlichkeit gegen die Abhängigkeit vom Ausland bedeutete, kam auch Hans Nachtsheim, der in der Verbandspolitik nun keine Rolle mehr spielte, nicht umhin, die „Zeit der Erzeugungsschlacht“ zu begrüßen.246 1934: 510; zur Konfrontation von Fellverarbeitern und Züchtern, vgl. Loudwin 1926 bzw. Zimmermann 1926: 543. 245 Vgl. Vetter 1937. 246 Nachtsheim 1936f: 86 71 2 Tierzucht und Erbpathologie Nachdem der Kontext dargestellt worden ist, in dem Nachtsheims Züchtungsversuche ab Anfang der zwanziger Jahre standen, und in welcher Weise er als ein vermittelndes Glied zwischen Wissenschaft, landwirtschaftlicher Tierzucht und Politik fungierte, soll nun die Spur pathologischer Themen aufgenommen und verfolgt werden, wie sie Eingang in die Genetik fanden. Das Augenmerk bleibt zunächst auf Hans Nachtsheim gerichtet. Im zweiten Teil des Kapitels werden Leitthemen angesprochen, in denen sich Genetik und das Medizin um 1930 diskursiv überschnitten. Im Weiteren wird zu sehen sein, dass diese konzeptuellen und thematischen präfigurierten Schnittstellen immer wieder eine Verbindung von Vererbung und Pathologie erleichterten. Wie kam es dazu, dass pathologische Themen in Dahlem auftauchten und auf verstärktes Interesse stießen? Diese Frage kann nur beantwortet werden, wenn Nachtsheims Experimentalsystem zur Bestimmung und Überprüfung von Felleigenschaften des Kaninchens näher betrachtet wird. Das besondere Arrangement des Experimentalsystems war die Bedingung dafür, dass pathologische Merkmale und Eigenschaften unerwartet, das heißt unintendiert an den Kaninchen zur Geltung kamen und zu einem eigenen Gegenstand des Experimentalsystems gemacht werden konnten. Die Rekonstruktion dieser Entwicklung ist für die Frage entscheidend, wie Nachtsheim dazu kam, von 1933 an den Dahlemer Experimentalkomplex auf ein neues Forschungsprogramm, das der vergleichenden Erbpathologie, umzustellen. Hier soll die ‚Vorgeschichte’ dargestellt werden, ohne die – dies ist dann die zentrale These in Kapitel 6 – die Implementierung des neuen Forschungsprogramms nicht verstanden werden kann und auf seine ideologische Seite eingeengt würde. Diese Vorgeschichte ist als Geschichte der Praxis Nachtsheims Kaninchenzuchtanlage zu verstehen. Über die Gegenstände der Experimente – Pigmente und Felleigenschaften – wurden verschiedene Forschungsprobleme, -bereiche und -interesse mit einander verbunden. Kurz gesagt, mit der Dynamik des Experimentalsystems und seiner Eigenschaft, als Experimentalsystem Neues zu produzieren, können historische Bedingungen der Möglichkeit dafür benannt werden, dass die pelz- und pigmentgenetische Experimentieranstalt Nachtsheims unter das Regime des pathologischen Gegenstands kam. An diese Darstellung schließt sich eine provisorische und ausschnitthafte Bestandsaufnahme des konzeptuellen Diskurses in der Medizin über Krankheit und in der Genetik über das Verhältnis von Gen- und Umweltwirkung an. Damit wird deutlich, dass zwar das Auftauchen des Pathologischen in Nachtsheims Experimentalkomplex, nicht aber seine weitere Beachtung ein bloß situatives Ereignis war. Medizin und Genetik, das Pathologische und das Erbliche gerieten in den zwanziger Jahren an unterschiedlichen Punkten diskursiv in Berührung. Diese thematisch und methodisch interessanten Verbindungspunkte werden herausgearbeitet. Es zeigt sich dann, dass Nachtsheims Aufmerksamkeit für pathologische Erscheinungen in seinem Experimentalsystem nicht nur im tierzüchterischen Diskurs, sondern auch zeitgleich im Zusammentreffen von Genetik und „rassenhygienischen Paradigma“ begründet war. 72 2.1 Vom Pigment zum Pathologischen als epistemischer Gegenstand „Aufgrund unserer Untersuchungen müssen wir also sagen, der Züchter seidig-weicher Rexe hält seine Tiere für um so besser, je kranker ihr Haarkleid ist, und je kranker das Haarkleid ist, um so stärker machen sich auch die sonstigen schädigenden Wirkungen 1 des Rexfaktors bemerkbar.” Um zu verstehen, wie die Erbpathologie in Dahlem die Landwirtschaft als Forschungsinteresse verdrängte, ist es notwendig, sich ein weiteres Mal mit Nachtsheims Beschäftigung mit Kaninchen, der Organisation seines Experimentalsystems und dem Diskurs der Kaninchenzüchter zu beschäftigen. Die Vererbung von Fellfarben und -eigenschaften stand im Mittelpunkt Nachtsheims Vererbungsexperimente. Ihr epistemischer Gegenstand waren die Prozesse, die von Generation zu Generation die Pigmentierung des Kaninchenfells bestimmten.2 Der epistemische Gegenstand verkörpert in einem Experimentalsystem das, was noch nicht eindeutig benennbar ist, was noch nicht gewusst wird und was wage und fragil ist. Mit dieser Unbestimmtheit ist ein wichtiger Aspekt von Experimentalsystemen verbunden. Gerade über diese Unbestimmtheit der Gegenstände und Objekte von Experimentalsystemen lassen sich verschiedene Interessen, Probleme und Forschungspraxen mit einander verbinden. So führten auch die Pigmente verschiedene Forschungszusammenhänge zusammen. Sie waren „boundary objects“3, die zum Beispiel die experimentelle und vergleichende Methode in der Genetik verknüpften. In der Auseinandersetzung Nachtsheims mit den Kaninchenzüchtern, in deren Mittelpunkt das schon erwähnte Rexkaninchen stand, war es genau jene Unbestimmtheit des epistemischen Gegenstands, die erlaubte, dass etwas Neues in Nachtsheims Forschungslabor auftauchte. Die besondere Konstellation aus Diskurs und Experimentalsystem führte dazu, dass neben den Pigmenten pathologische Prozesse und Merkmale die Aufmerksamkeit erregten. Diese und die die Frage nach ihrer Vererbung wurden dann der Gegenstand eigener Experimentalsysteme. Die Wissenschaft gestaltete, wie im vorigen Kapitel gesehen, nicht nur aktiv die Naturordnung der Kaninchenzüchter um. Das aufklärerische Engagement im Diskurs der Züchter um die Brauchbarkeit und die ‚Identität’ des Rexkaninchens wirkte auch auf Nachtsheims Experimentalsystem zurück, und zwar in unvorhergesehener Weise. In dieser Zweiseitigkeit zeigt sich die fundamentale Wechselhaftigkeit der ‚Produktion von Natur’ und ‚Schaffung der Gesellschaft’.4 Der Begriff „Produktion“ ist hier in Abgrenzung zur ‚Ent-deckung’ einer vorhergehenden und immer schon da gewesenen Natur zu verstehen – als Verwobenheit des ‚natürlichen’ Gegenstands, wie er von der Laborwissenschaft beschrie1 Nachtsheim 1931c: 77 Der epistemische Gegenstand ist das Objekt, das in einem Experiment untersucht wird. Er ist eine materielle Entität oder ein Prozess (vgl. Rheinberger 1997: 28-29; zu „experimental system“, vgl. ebd.: 27-28). 3 Zum Begriff „boundary object“, vgl. Star & Griesemer 1999: 506-09. 4 Vgl. Lenoir 1992a: 148. 2 73 ben wird, mit ihrem experimentellen Repräsentationssystem.5 Die Repräsentation des Rexkaninchens wandelte sich mehrfach und wurde erst mit der Zeit eindeutig. Diese Festlegung wurde weniger durch die materiellen Eingenschaften der Rexkaninchen selbst geleitet, als wäre es ein selbstidentisches Ding der Natur, das nur raffiniert im Experiment enthüllt werden müsste. Im Diskurs über den Wert des Fells und dann vor allem erst durch die Form der Repräsentation wurde die Eindeutigkeit in der Repräsentation der variablen Materie erreicht. Die Darstellungsprozeduren im Labor und im Prozess einer differenziellen Reproduktion – wiederholte Operationen planmäßiger Fortpflanzung und der Analyse der Haarbeschaffenheit – produzierte und stabilisierte allmählich einen Begriff und eine klare Vorstellung von dieser Kaninchensorte. Anschließend diente das Rexkaninchen selbst als Instrument in Nachtsheims Experimentalsystem – als technischer Gegenstand oder Black Box –, um anderen Zusammenhängen nachzugehen. Der pathologische Gegenstand, der unerwartet dabei hervorging, war deshalb im engen Sinne an den experimentellen Repräsentationsraum des Rexkaninchens gebunden. Er war wie das Rexkaninchen weder die Enthüllung eines schon Dagewesenen, noch das intendierte Ereignis einer Hypothesengeleiteten Experimentalpraxis, noch die Materialisierung eines vorhergehenden Interesses. 2.1.1 Das Experimentalsystem der Pigmente Dass Nachtsheim schon bald, nachdem er nach Berlin gekommen war, sich mit Kaninchen zu beschäftigen begann, lag nicht so sehr an der Bedeutung der Kaninchenzucht.6 Eigentlich hielt Nachtsheim das Hausschwein wegen seiner frühen Fortpflanzungsfähigkeit und den verhältnismäßig vielen Nachkommen für „zweifellos das günstigste Objekt“ für mendelgenetische Experimente am Tier;7 denn mit dem Hausschwein ließen sich die wissenschaftliche Praxis und das landwirtschaftliche Interesse verbinden.8 Doch 1922 wurde im Dahlemer Institut eine neue Stallanlage fertig gestellt, die eine umfangreiche Kleintierzucht ermöglichte. Die Tiere waren vor allem als Versuchstiere für medizinische Experimente verplant, boten aber zugleich Nachtsheim hervorragende experimentelle 5 Vgl. Rheinberger 1997: 108. Angehalten, sich mit Nutztieren auseinander zusetzen, hatte er zunächst neben seinen Analysen über die Zitzenzahl bei Schweinen Schafe als mögliches Untersuchungsobjekt ausgelotet (vgl. Nachtsheim 1959b: 1799; 26.4.1922, Nachtsheim an PML, in: GStA, I. HA, Rep. 87B, 20281: Bl. 181; 14.8.1923, Baur an PML, in: ebd.: Bl. 29). 7 Nachtsheim 1922e: 68. Der Nachteil zoologischer Objekte für die mendelsche Genetik lag auf der Hand, wenn sie mit dem Vorteil der Pflanzenzucht verglichen wurden – ein Grund Nachtsheim zur Folge für die mendelgenetische Abstinenz in der Tierzucht: Der schwedische Genetiker Nilsson-Ehle rechnete mit 20.000 Individuen als Minimum für einen Versuch, um die Sicherheit der Ergebnisse zu gewährleisten (vgl. Nachtsheim 1922d: 636). Die meisten der Kulturpflanzen waren zudem Selbstbefruchter, das heißt ließen sich ohne weiteres in Reinzucht züchten. „Reine Linien” waren ein wesentliches Instrument für erbanalytische Kreuzungsversuche. 8 Viele Merkmale waren für eine landwirtschaftliche Vererbungsforschung interessant; doch anders als die Mastfähigkeit, Fleischfülle oder Krankheitsfestigkeit eignete sich die Zitzenzahl besonders als Gegenstand einer mendelgenetischen Analyse. Die Zahl der Zitzen war, ähnlich wie Mendels Blütenfarben, äußerlich und eindeutig protokollierbar, wohingegen andere Merkmale kontinuierlich und nicht operationalisierbar waren oder stark von der Umwelt beeinflusst zu sein schienen. Die Schweineversuche waren von Erwin Baur initiiert worden, der sie im KWI für 6 74 Möglichkeiten, sodass die Voraussetzungen für die Kaninchenzucht jetzt weitaus idealer waren, als die für die Schweineversuche.9 Das landwirtschaftliche Interesse Nachtsheims Forschung war nun in der Farbe und den Eigenschaften des Kaninchenfells aufgehoben. Die Pigmentierung war zugleich eines der bestbearbeiteten Themen der Genetik – nicht zuletzt, weil die äußere Färbung von Pflanzen und Tieren leicht feststellbar war. Die Mechanismen des Entstehens und der Vererbung der Pigmente waren dennoch nicht leicht zu erhellen, wie sich herausgestellt hatte. Vieles war noch unklar. Pigmente waren boundary objects – eindeutig und wage zugleich: eindeutig benennbar und wage darin, was sie bedeuteten. Es ist nicht zufällig, wenn wir immer wieder über Pigmente stolpern werden. Ihre Plastizität ermöglichte, Objekte, Forschungsthemen und unterschiedliche Forschungsinteressen miteinander zu verknüpfen.10 Nachtsheim, dessen wissenschaftliche Leistung es in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren war, die Vererbung der Fellfarben beim Kaninchen genetisch zu analysieren, lotete eine solche Möglichkeit aus, bevor er zur Erbpathologie kam. Die genetische Farbanalyse, die vor allem von Castle, Durham, Cuénot und Hagedoorn bei Nagetieren vorangebracht worden war, hatte zu einem System von fünf Erbfaktoren geführt, zu denen je nach Spezies einige weitere hinzukamen.11 Auch am Institut für Vererbungsforschung war neben Baurs Versuchen am Löwenmäulchen bereits Pigmentanalysen am Kaninchen durchgeführt worden.12 Curt Koßwig13, der Nachtsheim bei der Kreuzungsanalyse der Pigmentfaktoren unterstütze, unternahm ab 1924 auch selbstständig Versuche zur Pigmentierung.14 Systematisch züchteten sie die möglichen KomZüchtungsforschung wieder aufnehmen ließ (durch Hans Peter Ossent) (vgl. Koßwig & Ossent 1934: 306). 9 Vgl. Nachtsheim 1929d: 54, Fußn. 1. Zur Versuchstierzucht in Dahlem, siehe 3.1. 10 Genetische, entwicklungsphysiologische und phänogenetische, anthropologisch-rassenbiologische, erbpathologische und eugenische Probleme überschnitten sich im Pigment. Diese unterschiedlichen Frageräume ließen sich über diesen Gegenstand ineinander übersetzen, und Pigmente konnten so den Zugang zu neuen Repräsentationsräumen öffnen. 11 Vgl. Koßwig 1925: 104. – Am weitesten war die Pigmentanalyse bei der Maus (sieben Faktoren für Fell und Augenfarbe) ausgebaut (vgl. Sinnott & Dunn 1925: 100-01). Es wurde zudem die Verteilung des Pigments und Haarlänge und -form beachtet. 12 Vgl. die Promotionsarbeit von Endre Pap: Ueber Vererbung von Farbe und Zeichnung bei den Kaninchen, Berlin 1920 (HUB, Teilbibl. Inst. f. Tierzucht: V M 90); Pap 1921; Baur 1922: 69 u. 72. 13 Curt Karl Ferdinand Koßwig, geb. 1903, gest. 1980. 1930, ao. Prof. TH Braunschweig. 1933, SS-Mitglied. 1937, Emigration aus polit. Gründen in die Türkei und o. Prof. an Univ. Istanbul (Zoolog. Institut). 1955 o. Prof. in HH (Zoolog. Staatsinstitut und -Museum). (Vgl. Deichmann 1995: 45-46, 80ff. u. 268.) 14 ´Koßwigs Experimente schlossen an die „Schwärzungsexperimente“ von Walter Schultz an. Schultz hatte 1915 als Erster damit begonnen, die Beeinflussbarkeit der Pigmentbildung durch Temperatur zu verfolgen. Koßwig versuchte, den Ansatz auszuweiten und den „Chemismus der Pigmentbildung“ zu untersuchen. Die Versuche zeigten, dass sich die Verhältnisse der Farbgebung des Kaninchenfells nicht einfach in der Kombination einzelner Faktoren erschöpften. Die Beeinflussbarkeit durch Temperatur wies in den Frageraum der chemischen Ausbildungsprozesse der Pigmente. Erst spätere Experimente nahmen aber diese Spur auf und verfolgten ein entwicklungsgenetisches Interesse (zum Beispiel die Experimente von Rolf Danneel, vgl. 7.1.2). Entwicklungsgenetische Experimente hätten vorausgesetzt, dass ein enger Bezug zu bestimmten Genotypen hergestellt wurde, was Koßwig nicht versuchte. K. versuchte vergeblich ein oxidatives Ferment in der Kaninchenhaut nachzuweisen und damit eine Annahme über die Bedeutung von Oxidatonsprozessen bei der Pigmentbildung (außer bei Melanin) zu bestätigen. (Vgl. Koßwig 1927a: 390-92.) 75 binationen der Grundfaktoren für die Farbgebung. Nach Nachtsheims Aufenthalt in Amerika und seinem Besuch bei William E. Castle an der Bussey Institution der Harvard-Universität führten sie die weiteren Analysen in engem Vergleich und zum Teil in Abstimmung mit Castle durch.15 Castle, Mendelgenetiker der ersten Generation in Amerika und „Vater der Säugetiergenetik“, stand in seiner unkonventionellen Art, mit Züchtern zu kooperieren und für die Landwirtschaft zu arbeiten, Nachtsheim nahe und war ihm ein Vorbild.16 Die eintönige Aufgabe, die mit jeder Neubestimmung eines Faktors exponentiell zunehmenden möglichen Faktorenkombinationen im Experiment nachzuvollziehen, war neben der Erschließung pelzzüchterischer neuer Wirtschaftsformen für Castle und Nachtsheim auch deshalb interessant, da auf diese Weise ein ‚genetischer Stammbaum’ der Kaninchenrassen aufgestellt werden konnte. Castle erhoffte insbesondere mit der Mendelgenetik, die für ihn lange nicht so absolut war wie für Nachtsheim, ein Instrument für Fragen der Evolution zu haben.17 Nachtsheim begann, möglicherweise von Castle beeinflusst, selbst damit, die Fellgenetik als Repräsentationsraum für Fragen der Evolution zu begreifen. Er sah den Einsatz der Genetik als eine – vernachlässigte – Ergänzung der vergleichenden Methode in der bisherigen Haustierforschung.18 Nachtsheim ging es darum, die „Haustiergenetik“ als eine eigene Zugangsweise zu dem Problem der Abstammung auszuloten.19 Der Vorteil der Genetik der Haustiere war, dass sie, wie im Falle des Kaninchens, mit einer Fülle von verschiedenen Formen zu tun hatte, und diese Formen konnten bequem experimentell untersucht werden, weil es Merkmale der Haut und Haare waren.20 Die Haustiergenetik beschäftigte sich mit „Domestikationsmerkmalen“, den Eigenschaften und Merkmalen der Haustiere, die oft in der Haustierforschung in lamarckistischer Weise auf die Umstände der Haltung zurückgeführt wurden. Das Programm des jungen neuen Faches sollte es hingegen sein, sie genetisch – durch Mutation und Kombination von Erbfaktoren – zu erklären. Die „Rassenbildung“ bei Kaninchen als mendelgenetisches Ereignis wurde somit ein Gegenstand im experimentellen Raum Nachtsheims Experimentalsystems für Pelzkaninchen, und zwar dadurch, dass sich das Problem der „Rassengeschichte“ und der Manipulierbarkeit der „Wirtschaftseigenschaften“ der Haustiere überschnitt. Nachtsheim: Damit „haben wir die Rassenbildung nunmehr in der Hand“.21 15 Vgl. unter anderen Nachtsheim 1929c: 12; Castle 1929: 53; Castle & Nachtsheim 1933. Rader 1998: 327 bzw. 336. William Ernest Castle, geb. 1867, gest. 1962. Doktoranden bei Castle waren unter anderen E.C. MacDowell, C.C. Little, Sewall Wright, L.C. Dunn, William Gates, Clyde Keeler, Laurence Synder, George Snell, Paul Sawin, Sheldon Reed. Die Säugetierzuchten existierten seit 1908 (Mäusen, Meerschweinchen, Kaninchen, Ratten – und Tauben (vgl. ebd.: 330). Die Organisation war den steigenden Anforderungen, die die breit gefächerten Zuchten stellten, so dass die Zuchten 1936 eingestellt wurden (vgl. ebd.: 353). 17 Vgl. Rader 1998: 335-36. 18 Vgl. Nachtsheim 1929d: 53-54. 19 Vgl. Nachtsheim 1929d: 54. 20 Vgl. Nachtsheim 1929d: 54. 21 Nachtsheim 1929d: 106-07. Nachtsheim verfolgte den Zusammenhang zwischen genotypischer Konstitution der Kaninchenrassen, ihrem historischen Auftreten im Domestikationsprozess und der Rolle der Mutation bis zu einem Buchprojekt weiter (Nachtsheim 1936d). Er begriff diesen Prozess, ganz ähnlich wie Darwin, als exemplarisch für die Rassenbildung allgemein. Entgegen verschiedener andere Interpretationen – zum Beispiel dem Einfluss der Ernährung – erklärte er Domestikationserscheinungen durch die unterschiedlichen Einwirkungen der „natürli16 76 Nachtsheim begann hier, zwischen Evolution und Genanalyse, seine Genetik als „vergleichende Genetik“ zu verstehen, zum einen, weil die Haustiergenetik als Beginn einer allgemeinen genetischen Theorie der Rassenbildung verstanden werden konnte, und zum anderen, weil der Domestikationsprozess, so Nachtsheim, auch über ähnliche Situationen „künstlicher Selektion“ Aufschluss geben konnte – zum Beispiel die Zivilisation.22 2.1.2 Pigmente, Degeneration und der Vergleich in der Genetik Ein in Züchterkreisen neu gezüchtetes Kaninchen führte Nachtsheim und Koßwig Ende der zwanziger Jahre zur Neubeschreibung eines sechsten Allels in einer Serie von Allelen des Erbfaktors A.23 Von dort aus schlossen sich Fragen nach Konstitution und Degeneration an, die mit dem Problem der Domestikation in einem Zusammenhang standen. Dieser Zusammenhang konnte entlang des Experimentalsystems der Pigmente hergestellt werden.24 Zunächst einmal entfaltete die Genetik ihre subversive Kraft gegenüber phänomenologischen Ordnungen. Die A-Serie stand für Pigmentverlust des Fells. Es kamen alle Abstufungen vor zwischen völlig weißem und nur punktuell weißem Fell sowie von Verlust der Pigmentierung der Iris. Der Haustierforscher Adametz hatte 1905 die Grade und Formen der Pigmentlosigkeit in eine Stufenabfolge gebracht.25 Die Genetiker waren sich aber uneins, wie viele Gene die Pigmentlosigkeit steuerten.26 Der Wirrwarr in der genetischen Ordnung der unchen Selektion“ einerseits und der „künstlichen Selektion“ durch den Züchter andererseits (ebd.: 12-13). 22 Nachtsheim 1929d: 107, Nachtsheim 1936d: 12 u. 21 bzw. zu Zivilisation, vgl. ebd.: VII-VIII. Zum Vergleich von Zivilisation und Domestikation, siehe auch 6.3.3. 23 Vgl. Koßwig 1927b: 271; Nachtsheim 1930c. 24 Vgl. Nachtsheim 1936d: VII-VIII. 25 Vgl. Nachtsheim 1932e: 233-34; N. bezieht sich hier auf Adametz („Die biologische und züchterische Bedeutung der Haustierfärbung“, Jb. d. landw. Pflanzen- u. Tierzchtg., 1905). Der Wiener Biologie Leopold Adametz war nach Nachtsheim einer der ersten Haustierforscher. – Die Allele des A-Faktors konnten zwar tatsächlich mit einem sukzessiv zunehmenden Pigmentverlust bis hin zum Albinismus in Verbindung gebracht werden, aber nicht mit allen Formen des Pigmentverlusts. Baurs Doktorand, Pap, hatte zum Beispiel schon gezeigt, dass die als Holländerscheckung bekannte zunehmende Ausdehnung weißer Fellanteile gegenüber normal-pigmentierter Zonen auf eigene Erbfaktoren zurückgeführt werden müsste, und zusätzlich, dass die aus einer Holländer-Zucht neu aufgetauchten Weißen Wiener Kaninchen genetisch nichts mit der Holländerscheckung zu tun hatten (vgl. Pap 1921: 229f. bzw. 194-95). Castle wiederum war anderer Auffassung und wollte die unterschiedlichen Formen der Scheckung bis zur völligen Weißheit der Wiener Kaninchen als die Reihe einer multiplen Allelenserie verstanden wissen (vgl. Nachtsheim 1932e: 239 bzw. 236). Castles Kontrahenten waren in den USA zunächst Punnet und Pease (vgl. Koßwig 1926: 227ff.). 26 Diese Meinungsverschiedenheit, ob die Phänomenologie des sukzessiven Pigmentverlusts durch mehrere Gene oder mehrere Allele genetisch zu erklären war, entsprach einem Dissens darüber, wie allgemein zusammengesetzte Phänotypen gebildet wurden: durch multiple Allelie oder mehrere Gene (Polymerie). Nachtsheim schlug sich auf letztere Seite, und zeigte in eigenen Experimenten, dass gescheckte Weiße Wiener Kaninchen versteckte Faktoren trugen, die mit dem ‚Wiener Weiß’ nichts zu tun hatten (vgl. Nachtsheim 1932e: 261). Diese Trennung der Faktoren nach ihrer Funktion gelang aber nicht wirklich. In ihrer Wirkung auf die Augenfarbe zeigte sich, dass sich ihre Wirkungswege mehrfach überschnitten. Das charakteristische Merkmal der Weißer Wiener Kaninchen waren blaue Augen, die sich aus dem Pigmentverlust in der mesodermalen Schicht der Iris erklärten. Diese Charakteristik der homozygoten Weißen Wiener zeigten auch heterozygote Tiere bei Anwesenheit von Scheckungs-Faktoren. Der Faktor der Weißen Wiener Kaninchen konnte wiederum in bestimmter Kombination die für die Albinos der 77 übersichtlichen Formenvielfalt der Pigmentlosigkeit war nur auf den ersten Blick verwirrend – dann nämlich, wenn man, so Nachtsheim, der „gefühlsmäßigen“ phänomenologischen Ordnung folgte wie Adametz.27 Aus der Sicht der Genetik könne daraus nur ein „künstliches“ System folgen, da nicht die Phylogenese als ordnender Bezugspunkt diente. Die durch die Genetik enthüllte Rassenbildung erst führe zu einer „natürlichen Reihe“. Der zunehmende Pigmentverlust stand aber auch unter Verdacht, mit einer zunehmenden Schwächung der Konstitution zusammenzuhängen und insofern eine „Entartungserscheinung“ oder ein „Degenerationszeichen“ zu sein.28 In Begriffen der mendelschen Genetik konnte ein solcher Zusammenhang nun als pleiotrope – mehrfache – Wirkung eines Erbfaktors beschrieben werden. Auch dies hatte die Umordnung der äußerlichen Erscheinungen in eine Ordnung nach Maßgabe des Genotyps zufolge. Bis dahin war der Augenschein maßgeblich. Diese Umordnung war eine Operation, die typischerweise mit der Unterwerfung eines Gegenstands unter ein mendelsches Experimentalsystem einherging. Während Nachtsheim sich mit Blick auf jene alte Ordnung des Augenscheins in Züchterkreisen in der Frage der Degenerationszeichen zunächst skeptisch zeigte,29 war die Verbindung von Pigment und Degenerationszeichen eine typische Position in der menschlichen Vererbungsforschung. Valentin Haecker, der bemüht war, den Mendelismus in die Medizin hineinzutragen, verband den mendelnden Albinismus wahlweise mit einem „Habitus albinoidicus“, mit allgemeiner Lebensschwäche oder morphologischen Defekten sowie Rothaarigkeit mit der Disposition zu malignen Formen der Tuberkulose.30 Der Humangenetiker Eugen Fischer, der sich ganz dem Mendelismus verschrieben hatte, stellte apodiktisch fest, dass Rothaarigkeit und Albinismus ins „pathologische Gebiet“ führen.31 Die mendelsche Genetik stellte das Konzept der Degenerationszeichen nicht prinzipiell in Frage, sondern verschaffte ihm mit der pleiotropen Gen- A-Serie typischen roten Augen (völliger Pigmentverlust) bewirken; und so weiter. (Vgl. Nachtsheim 1933c: 105+07.) 27 Hier und nachfolgend: Nachtsheim 1932d: 6 u. 8. 28 Vgl. Nachtsheim 1932d: 4-5. Diese Auffassung vertrat auch L. Adametz in Bezug seine Stufenabfolge zunehmender Pigmentlosigkeit. Zu Degenerationszeichen, siehe auch 7.1.3, Seite 327. 29 Er hatte jene alte Ordnung des Augenscheins im Visier, als er auf der Gründerversammlung der Gesellschaft für Hundeforschung ihre Leitfrage nach dem Zusammenhang von „Farbenverblassung“ und „Leistungsfähigkeit“ aufgriff. Nachtsheim relativierte zunächst die generelle negative Bewertung des Albinismus evolutionstheoretisch, da Entartung relativ zum Wert einer Mutation in einem Lebensraum sei (vgl. Nachtsheim 1932d: 10). Die Auffassungen der Züchter seien „lediglich als gefühlsmäßiges Urteil zu werten, dem eine persönliche Abneigung gegen die hellen Farben zugrunde liegt, irgendwie wissenschaftlich begründet ist es nicht“ (Nachtsheim 1932d: 12). – Das Milieukonzept der Anpassung warf wiederum die Frage nach der Modifikabilität der Ausprägung von Felleigenschaften und -pigmentierung auf. In der Edelpelztierzucht wurde allgemein ein Einfluss der klimatischen Bedingungen auf die Fellausprägung angenommen. Nachtsheim regte die experimentelle Nachprüfung dieser Frage an, die er nicht rundweg auf Grund des Wissens um die Kaninchenfellpigmentierung ausschließen konnte (vgl. Nachtsheim 1932f: 51). 30 Vgl. Haecker 1922: 1219 bzw. 1220. Der Konstitutionspathologe Julius Bauer bestätigte Haecker darin (vgl. Bauer 1924a: 479; siehe auch Bauer 1924b: 612-13). 31 Fischer 1936b: 120; siehe auch Fischer 1930e: 133. 78 wirkung oder der Kopplung von Genen eine rationale Grundlage.32 Der Preis war die Umstellung auf das neue Bezugssystem der verborgenen Erbfaktoren – die Verinnerlichung des Wirkprinzips durch die neue Methodik –, und damit die Neubewertung und Relativierung der äußeren Erscheinungen als unabhängige Degenerationszeichen. Tatsächlich vertrat auch Nachtsheim, wie gleich zu sehen sein wird, die Degenerationslehre auf mendelscher Grundlage. Der Gewinn, der mit der mendelschen Umstellung einherging, lag in der Kombination von experimenteller und vergleichender Methode.33 Mit der mendelschen Genetik war ein Universalitätsanspruch verbunden, nach dem das Experiment am Kaninchen Modell für andere Nagetiere sein und im Hin- und Herwandern zwischen verschiedenen Spezies im Vergleich beispielsweise ein theoretisches Modell für die genetische Zusammensetzung der Fellfarbgebung entwickelt werden konnte.34 Der Disput zwischen dem Paläontologen Weidenreich und dem Genetiker Federley 1929 stellte sich, wie in 1.1.2 gesehen, noch als eine Konfrontation von vergleichender und experimenteller Methode dar. Der Preis der unversöhnlichen Position des Genetikers gegenüber der „historischen Wissenschaft“ war, dass Fragen der Evolution für die Genetik unerreichbar schienen.35 Um so signalhafter war es, dass Max Hartmann, der eine differenziert mendelsche Position vertrat, in der Diskussion herausstellte, dass die Genetik als experimentelle Disziplin auf die vergleichende Methode zurückgreifen müssen werde, um neue Problemstellungen angehen zu können.36 Dies darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass vergleichende Verfahren in der mendelschen Genetik auch bis dahin schon Verwendung gefunden hatte, wenn es auch nicht ausdrücklich thematisiert worden zu sein scheint. Noch apodiktischer als Erwin Baur37 verstand Eugen Fischer Nachtsheims Untersuchungen als Erklärungsgrundlage für die menschlichen Pigmentierungsverhältnisse.38 Eine Ähnlichkeit im Denkstil zwischen Baur, Fischer und Nachtsheim als ‚missionarische’ Mendelisten ist unverkennbar, da Fischer programmatisch in Rekurs auf das Domestikationstheorem die Gleichheit des „anatomischen Verhalten[s] von Iris, Haut und Haar zwischen manchen Stufen von Albinismus und 32 Vgl. unter anderen Vogt & Vogt 1930: 571ff.; Fischer 1939: 54. – Ein Beispiel für eine mendelsche Analyse zur Verknüpfung des Albinismus mit pathologischen Störungen aus dem angelsächsischen Kontext ist Gates 1931. 33 Die vergleichende Methode war eine besondere Methode in der Biologie und hatte mit der vergleichenden Anatomie im 19. Jahrhundert eine Hochzeit, als auf ihrer Grundlage die Abstammungslehre ausgebaut wurde. Anders als bei der Induktion von allgemeinen Aussagen im physikalischen Experiment band sie die Verallgemeinerbarkeit des genetischen Experiments an den Analogieschluss (vgl. Nachtsheim 1929d: 65). 34 „Wir wissen heute, daß fast die gleichen Erbfaktoren, die die Farbe und Zeichnung des Kaninchens bedingen, einschließlich der Allelenserie, auch bei den anderen Nagern [...] zu finden sind. Aber nicht nur das. Ich erinnere an die Ähnlichkeit zwischen Marderkaninchen und Siamesischer Katze“ (Nachtsheim 1929d: 107). 35 Federley 1930: 42 36 Vgl. Hartmann 1930: 44. 37 Baur meinte 1922 auf Grund der vorliegenden Erkenntnisse über die Vererbung der Haarfarbe beim Kaninchen, die „unangenehme Überraschung“ erklären zu können, dass aus der Ehe eines „’weißen Negers’ (aaXXYYZZ ...)“ mit einer „Europäerin (Aaxxyyzz ...) typische d u n k e l h ä u t i g e Mulatten“ hervorgingen (Baur 1922: 382-83. Die Angaben in den Klammern stellen mendelsche Erbformeln dar). „Dieser Fall entspricht sehr weitgehend der Kreuzung eines ‚albinotischen’ rotäugigen weißen Kaninchens mit einem blauäugigen weißen“ (ebd.: 383). 38 Vgl. Fischer 1936b: 120. 79 blondhaarig-blauäugig-weißhäutigen Rassen, bei Tier und Mensch” postulierte.39 Diese Position war nicht selbstverständlich, wie die Kritik des Anthropologen Karl Saller zeigt. Es sei rein hypothetisch, Erbformeln vom Kaninchen „einfach auf den Menschen“ zu übertragen; die Ergebnisse am Kaninchen auf die „spezifisch menschlich gelagerten Fragen“ umzuarbeiten, sei aussichtslos.40 Dieser kurze Einblick in Entwicklungsmomente der vergleichenden Genetik offenbart bereits die Sprengkraft ihres in der mendelschen Erblehre wurzelnden universalisierenden Anspruchs. Festzuhalten ist hier vor allem, dass sich gegen Ende der zwanziger Jahre im experimentellen System der Pelzkaninchenzucht in Dahlem die vergleichende Genetik als eine ergänzende Methode zum Kreuzungsexperiment herausbildete. Als Methode versprach sie, die theoretischen und praktischen-landwirtschaftlichen Probleme der Genetik miteinander zu verbinden. „Die vergleichende Genetik scheint mir ein zukünftiges Arbeitsfeld zu sein, das nicht nur manches für den Theoretiker zutage fördern, sondern auch für den praktischen Züchter Bedeutung gewinnen wird.“41 Nachtsheims Blick begann sich damit zu verschieben, wie sein Bericht vom VI. Internationalen Kongress für Genetik zeigte, in dem er ausführlich die vergleichenden Untersuchungen Stockards referierte und ganz ähnlich wie dieser auf die Relevanz seiner eigenen Untersuchungen über Haut- und Augenfarbe für den Vergleich mit dem Menschen hinwies.42 2.1.3 Geburt des pathologischen Gegenstandes: differenzielle Reproduktion im Diskurs... Das „Pigment“ öffnete Repräsentationsräume für Probleme und Fragestellungen, die über die enger genetisch gefassten hinausgingen. Nachtsheim begann, wie soeben gesehen, über diese boundary-Eigenschaft des Pigments die Transmissionsgenetik des Pigments an einen evolutionstheoretischen Diskurs anzukoppeln. Parallel dazu schob sich subtiler ein neuer Gegenstand in die Ordnung seines Experimentalsystems. Dieser Vorgang führt nun zurück zum Rexkaninchen und zur Auseinandersetzung mit den Kaninchenzüchtern. 39 Fischer 1936b: 124. Auf Grund der „vollständigen Parallelen“ könnte der Albinismus allgemein erklärt werden, auch wenn es sich letztlich nur um Arbeitshypothesen handelte, an denen neue Vorstellungen und Fragestellungen entwickelt werden könnten: „Ich glaube, das paßt auch für den Menschen ganz ausgezeichnet” (Fischer 1936b: 124 (122 u. 129). Fischer sah spätestens 1930 explizit die experimentelle Genetik als systematische Grundlage für die menschliche Erblehre (vgl. Fischer 1930e: 134). 40 Saller 1931: 218. In dieser Kritik, die die Fortsetzung eines mehrjährigen Streits um den Erbgang und das Entstehen der Rothaarigkeit war, stand die Auseinandersetzung um eine Arbeit von Fischers Schüler H. Conitzer im Zentrum. Saller sah die Rothaarigkeit als Ausdruck einer „besonderen Gesamtkonstitution“, die es unumgänglich mache, zunächst den „Chemismus des Organismus während der Ontogenese“ zu verstehen (Saller 1931: 217-18). Mit dieser Vorstellung einer „Vererbungsphysiologie“ (Saller) zeichnete sich mit den Pigmenten ein Ansatz zur Überbrückung der mit der mendelschen Genetik eingeleiteten Trennung von Entwicklung und Übertragung an. Die Frage, ob „letzten Endes“ Chromogene oder nicht eher Fermente und Hormone Ursache der Rothaarigkeit waren (Saller 1931: 217; vgl. Saller & Maroske 1932), entsprach der Frage nach der „primären Genwirkung“, wie sie durch Alfred Kühn etwa zeitgleich in seiner „genetischen Entwicklungsphysiologie“ in Angriff genommen wurde (siehe 4.2). Es wird zu sehen sein, dass auch der ‚missionarische’ Mendelismus sich im Laufe der dreißiger Jahre – zu seinen Zwecken – der phänogenetischen Methode zu bedienen begann (siehe 7.1.3). 41 Nachtsheim 1929d: 107 42 Vgl. Nachtsheim 1933f: 205+09. Zu N.s Vortrag vor dem Kongress, vgl. Nachtsheim 1932b. 80 Was die schlesischen Kaninchenzüchter noch nicht mitbekommen hatten, nämlich dass sich inzwischen auch feinste Kreise nicht mehr schämten, Kaninchenfellimitate zu tragen, verhalf dem Rexkaninchen zu einem ungewöhnlichen „Siegeszug“, denn die Erwartung war, dass das Rexfell ohne Veredelungsprozess als „Naturfell“ gehandelt werden könnte.43 Umso tiefer war der Fall des ‚Edelkaninchens’, als sich das so genannte Naturimitat als „krankhafte Veränderung“ und die naturgegebene Fellverbesserung als „degenerative Mutation“ herausstellte. Im Dahlemer Experimentalsystem des Rexkaninchenfells trat also im Verlauf der Diskussion um den ökonomischen Wert des Fells des Rexkaninchens das Pathologische als Gegenstand hervor. Im Gesamtarrangement der Dahlemer experimentellen Forschung trat zugleich der pathologische Gegenstand an die Seite des Pigments. Um dieses Arrangement der experimentellen Handlungen, Apparate, Einrichtungen, Probleme und so weiter bezeichnen zu können, das so zusagen mehrere Experimentalsysteme institutionell zusammenfasste, könnte von dem „Experimentalkomplex“ gesprochen werden, der sich neben den Pigmenten um einen weiteren und neuen Gegenstand zu gruppieren begann.44 Für das Verständnis der Entwicklungen der Rexkaninchendiskussion ist es entscheidend, darauf zu achten, wie sich im Verlauf des Diskussionsprozesses das Ableitungsverhältnis zwischen der Krankhaftigkeit des Fells des Rexkaninchens und der Krankhaftigkeit der Mutation verkehrte und die degenerative Mutation ins Zentrum Nachtsheims Blick und Argument rückte. Während der Diskussion um das Rexfell fanden zwei entscheidende Transformationen statt, die auf den erbpathologischen Gegenstand hinführten: 1. Das Fell wurde schlecht bewertet, weil die Haarveränderungen nun als pathologische Veränderungen galten. 2. Die Haarveränderungen galten als pathologisch, weil die zu Grunde liegende Mutation „degenerativ“ war. Diese zweite Transformation ist die, die im Folgenden vor allem interessiert. Die Rexkanincheneuphorie war 1925 durch den besagten Artikel des elsässischen Professors ausgelöst worden, in dem dieser angab, dass das Rexkaninchen ein so weiches Fell habe, weil ihm Deckhaar (Grannen) fehlte. Die Identität des Rexkaninchens schien eindeutig und unveränderlich zu sein: „Tiere mit Grannen verdienen den Namen „Rex“ nicht. [...] Seidenweich sind die Felle der reinrassigen Tiere, ganz besonders weich und grannenfrei.“45 Da das Kaninchen sehr teuer verkauft wurde, wurde es zunächst nur schleppend in Zucht ge43 Vgl. Loudwin 1926; zum „Siegeszug“: Nachtsheim 1929c: 47; zum Veredelungsprozess, vgl. Nachtsheim 1928d: 45-46; Nachtsheim 1931c: 70-71. Die hohen Erwartungen an das Rexkaninchen spiegeln sich im Anzeigenteil des Kaninchenzüchter wider oder zum Beispiel in dem „Kaninchenprozeß“ um ein für 7000,- RM verkauftes Rexkaninchen (Amtsgerichtsrat Lutz 1930). 44 Ein Experimentalkomplex wäre in einem bestimmten institutionellen Rahmen (einem Institut) die Gesamtheit der einzelnen „Experimentalsysteme“, welche jeweils eine Reihe einzelner und auf eine bestimmte Frage bezogener Versuchsarrangements bezeichnet. Der Begriff stände gewissermaßen zwischen der Epistemologie des Experiments und der Soziologie der Institution. Zum Begriff des Experimentalsystems, vgl. Rheinberger 1997: 27. „Experimentalkomplex“ ist dann nicht gleichbedeutend mit „ensembles of experimental systems“ oder „experimental culture“, da damit überinstitutionelle und transdisziplinäre Beziehungen gemeint sind, die sich epistemologisch und nicht soziologisch definieren (ebd.: 137-38). 45 Linde 1927 81 nommen, und nur vereinzelt landeten die kostbaren Zuchttiere beim Kürschner. Erst Anfang 1927 findet sich eine erste Anmerkung eines Kürschners im Kaninchenzüchter, in der er bemängelte, dass im Fell der Rexkaninchen immer noch Grannen zu finden seien, die entweder weggezüchtet oder doch maschinell entfernt werden müssten.46 Kritik an der Dichte und Farbe des Fells schloss sich von Seite der Industrie an.47 Während von Züchterseite der Verbesserungsbedarf teils eingestanden, teils aber in Anspruch genommen wurde, dass die Rexkaninchen der eigenen Zuchten ein günstigeres Bild abgäben oder sich zum Günstigeren gewandelt hätten, ließ die Kürschnerfirma nun unbeeindruckt verlautbaren, dass sich das Rexfell nicht einmal für die maschinelle Verarbeitung eigne, weil die Granne „zu weich“ sei, um maschinell entfernt zu werden.48 Und die Kürschner beharrten ihrerseits darauf, dass sie über den richtigen Maßstab für ein Rexkaninchenfell verfügten, während die Züchter sich täuschten.49 Aus den wenigen Tieren des Professors im Elsass, die vereinzelt in die Kaninchenzuchtkreise in Deutschland eingesickert waren, waren Hunderte Kreuzungsprodukte geworden. Die differenzielle Selbstreproduktion der neuen Kaninchensorte entzog sich der Eindeutigkeit der Benennung. Die Signifikation war vervielfacht und ohne feste Referenz. Die eindeutige Artikulation von Signifikant und Signifikat verlor sich mit der immer neuen Produktion von Signifikanten im Kaninchenzüchter und den feinen Differenzen zwischen ihnen von Ausgabe zu Ausgabe des Fachblattes. Die Identität der Felle blieb auch dann umstritten, wenn alle Kombattanten sie auch gesehen und befühlt hatten. Der Diskurs darüber, was das Rexkaninchen ist, verschob nicht nur permanent das Bild von ihm, sondern brachte es damit zugleich auch immer erst wieder hervor. Das Rexkaninchen entstand während der und durch die differenzielle Reproduktion der Bezeichnung im Diskurs über sein Fell und den Zusammenhang von Fell und Konstitution. „Was ein typischer Castorrex ist, bestimmen erst wir, dann kann der Herr Kürschnermeister kommen.“50 Der kontroverse Diskurs über die hervorgebrochenen Differenzen war nur die Sichtbarmachung einer unendlichen Benennungskette und des Umstands, dass es das Rexkaninchen als präsentes Sein und selbstidentisches Ding „da draußen“ nicht gab. Die Kürschnerfirma Berger & Friedrich war eine der drei großen Fellvermarktungsfirmen, die vertraglich als Rohfellabnehmer in dem aufeinander abgestimmten System aus Zuchtstandards und Ansprüchen der Weiterverarbei46 Vgl. Kolley 1927a; Kolley 1927b. Vgl. Berger & Friedrich 1927c. 48 Schaaf 1927; vgl. Ulrich 1927 bzw. Berger & Friedrich 1927a. 49 Das Begutachtungsfell der Kürschner sei ein typisches Rexfell von einem einwandfreien „Vollbluttier“, während andere dichtere Felle, die maschinell veredelt worden waren, nicht von vollblütigen Rexen stammten, auch wenn die Züchter sie ‚als Rexfelle’ abgeliefert hatten (Berger & Friedrich 1927d; vgl. Berger & Friedrich 1927b). Züchter hatten nämlich eingewandt, dass erstens der Farbe nach die begutachteten Felle nicht wirklich von einem Castorrexkaninchen stammen konnten – „Castor“ stand für eine biberbraune Farbe –, dass, zweitens, die Dichte des Fells unabhängig von der Grannenlänge vererbt werde und somit sehr wohl verbessert werden könnte, und, drittens, stellten sie eine Verbindung zwischen den Felleigenschaften und dem oft schlechten Gesundheitszustand der Tiere her. „In tödlicher Krankheit kann Grannenlosigkeit nicht das durchschnittliche Normalbild aufzeigen“ (Mendera 1927; vgl. auch Prof. Kohler 1927; Burkhardt 1928c: 146). 50 Gerichtssekretär a.D. Mendera 1927 47 82 tungsindustrie agierten.51 Wenn der leitende Kürschner der Firma nun gegen das Fell der Rexkaninchen einwendete, dass die Grannen durch „den krankhaften Zustand der Haareigenschaft in der Vererbungszelle“ verkümmert seien,52 dann stand hinter diesem Urteil Nachtsheim, der soeben aus den USA zurückgekehrt war, wo er mit Castle die Erbanalyse des Rexkaninchens weitergeführt hatte. Das Ergebnis war entgegen den Annahmen vieler Züchter, dass die Felleigenschaften völlig unabhängig von der Farbe der Tiere vererbt wurden.53 Am Dahlemer Institut hatte Nachtsheim zudem mikroskopische Haaruntersuchungen an Fellproben veranlasst. Das Ergebnis war, dass die Grannen weder verschwunden noch reduziert waren, sondern dieser Eindruck nur durch ihre Verkümmerung entstand; außerdem beeinträchtigte ihr unregelmäßiger Bau – Verdickung der Haarspitze, Einschnürung des Haarzylinders – die Festigkeit des Haars.54 Da Nachtsheims Kaninchen alle von dem einen, mit Unterstützung des Landwirtschaftsministeriums erworbenen, elsässischen Rammlers abstammten, reagierten die Züchter gelassen. Sie behaupteten, dass sich jene Verkümmerung des Haars herauszüchten ließe und kein Wesensbestandteil der Rexidentität sei.55 Für Nachtsheim war die „abnorme Haarbeschaffenheit“ und die Schwächung des Haares hingegen der identitäre Kern dieser Kaninchenrasse. Die konstituierende Rasseneigentümlichkeit der neuen Kaninchenrasse und die „abnorme“ Haarbeschaffenheit gingen notwendig miteinander einher, und letztere war damit hinreichend, um ein Rexfell zu identifizieren. Nachdem die Haarbeschaffenheit derart neu definiert worden war, verschob sich von hier aus der Rassenbegriff des Rexkaninchens abermals; denn die „abnorme“ Eigentümlichkeit betraf nicht nur die Grannen, sondern auch die Wollhaare, die Schnurrhaare und den Milchhaarwechsel; das „gesamte Haarkleid“ des Rexkaninchens zeigte „eine krankhafte Veränderung“, stellte Nachtsheim vernichtend fest.56 Vom Fell und seinen verschiedenen spezifischen Merkmalen glitt der Blick unbemerkt hinab zum Erbfaktor, als der „Rexfaktor“, der die anfänglich mit dem weichen Fell identifiziert worden war und genetisch für die Rexkaninchenrasse stand, jetzt in den Verdacht geriet, auch die „krankhaften“ Veränderungen zu bewirken. Das heißt, die verschiedenen Felleigenschaften hatten Eines gemeinsam: Sie konvergierten im Rexfaktor. Dabei blieb es aber nicht. Auch die häufig auftretende „schwächliche Konstitution“ der Rexkaninchen wurde zu einer Frage der Konstitution der über den Rexfaktor definierten Rasse. Die Sorge um die gebrechliche Gesundheit hatte sich schon nach der ersten Begutachtung der Rexkaninchen des elsässischen Professors durch einen reiselustigen Züchter eingestellt. Die Rasse müsse erst 51 Vgl. Loudwin 1928: 209. Loudwin & Berger & Friedrich 1927 53 Vgl. Nachtsheim 1928c: 266; dagegen der Züchter, vgl. Mendera 1927. 54 Vgl. Thiel 1928b: 50; Nachtsheim 1928c: 266. 55 Vgl. Maucher & Mette 1928a. 56 Nachtsheim 1929c: 8 (6-9) – Es sei bemerkt, dass Nachtsheim den in der mendelschen Genetik üblichen formalistischen Rassebegriff anwendete, nach dem eine Rasse über ein oder mehrere homozygot gezüchtete Erbfaktoren definiert wurde. Zum Beispiel übertrug E. Fischer grundsätzlich diesen Begriff auch auf die menschliche Erblehre (vgl. Fischer 1922: 641). 52 83 noch widerstandsfähig und kräftig „gemacht“ werden.57 Während sich nun eine deutsche Revanche und elsässische Heimholung abzeichnete, als andere deutsche Züchter aus der Einheit von deutschem und elsässischem „Züchterfleiß“ „fröhliche“ Kaninchen oder überhaupt „kaninchenähnliche“ Tiere aus dem „halbtoten“ französischen „Schund“ hervorgegangen sahen,58 vermehrten sich doch die sorgenvollen Klagen und Ratschläge. Entscheidend war aber, dass aus der Sicht der Züchter die allgemeine Schwäche der Rexkaninchen nur zufällig beim ihnen vermehrt auftrat und sich durch Zucht von der Rasse abtrennen ließe.59 Nachtsheim ging der konstitutionellen Schwäche der Rexkaninchen messgenau nach. Die Jungensterblichkeit der Rexkaninchen erwies sich als doppelt so hoch als normal, gehäuft waren Atemwegserkrankungen, Augenentzündungen und rachitische Veränderungen.60 Da im Kreuzungsexperiment diese Erscheinungen anscheinend nicht zu mindern waren, bestätigte sich Nachtsheims Vermutung, dass es sich nicht um Inzuchterscheinungen handelte, sondern um Folgen des Rexfaktors selbst. Abermals musste der „Stab über der neuen Rasse gebrochen“ werden und wurde dem „deutschen Züchterfleiß“ seine Grenzen aufgezeigt.61 Alle diese Ergebnisse lenkten den Blick vom Fell auf den Rexfaktor, von dem aus sich die vielfältigen, rassetypischen Veränderungen erklärten. Es war also konsequent nun festzustellen, dass „wir es beim Rexkaninchen mit einer stark degenerativen Mutation zu tun haben“.62 Die Konvergenz der Felleigenschaften und der Konstitutionsschwächen im Rexfaktor erzwangen die semantische Genauigkeit, das Rexkaninchen nicht mit seinem Merkmal (weiches oder krankes Fell), sondern nun mit seiner Mutation zu identifizieren. Mit dem „degenerativen“ Rexfaktor wurde zugleich ein neues inneres Wirkprinzip der Pathologie eingeführt: die mutative Veränderung des wildtypischen Rexfaktors. Dieses genetische Wirkprinzip fungierte als Gelenk für die Verschiebung in der Rexkaninchenidentität. Die profunden Krankheiten (Rachitis) ließen keinen Zweifel daran, dass der Rexfaktor „degenerativ“ war. Und die 57 Orphel 1925. Der Professor hingegen, dessen Markenrechte von einem französischen Abbé angefochten wurden, weil er als Erster, nämlich schon 1919, das Rexkaninchen „fixiert“ habe, hielt sich zugute, dass er die „gänzlich rachitisch und degeneriert“ daherkommenden Tiere des Abbé unter viel Mühe zu einem gesunden und zuchtfähigen Stamm gezüchtet habe (Prof. E. Kohler 1926: 903, Thumenau i. Elsass; vgl. auch Abbé Gillet 1926, Pfarrer von Coulongé (Sarthe)). Kohler hielt Gillet insbesondere vor, dass er selbst nichts „herausgezüchtet“ habe, weil das Castorrexkaninchen zunächst „bloß eine Mutation, ein Zufallsprodukt, oder ein Spiel der Natur“ gewesen sei. 58 Vgl. Schaaf 1927; elsaß-lothringischen Preisrichter Kleinhaus & Orphel 1927: 95; Kohler 1926: 903. 59 Geklagt wurde über einen krummen Rücken, eine schiefe Blume, weiße Krallen, Röcheln und immer wieder über krumme Beine und Schnupfen. Einigkeit bestand bald darüber, dass die Rexkaninchen mehr oder weniger durch Inzucht der Degeneration anheim gefallen waren. Gemeinhin wurde deshalb geraten, die „degenerierte Rasse“ durch Blutauffrischung, „scharfe Auslese“ oder auch bessere Fütterung zu verbessern (Will 1927a: 740; vgl. Ulrich 1927; Burkhardt 1928c: 147; von Otto 1928: 473). Zugleich würde dadurch das Fell verbessert, da das züchterische Kalkül die Annahme beinhaltete, dass sich die „degenerativen“ Veränderungen und unüberlegten Zuchtziele – zum Beispiel Zucht auf Größe – negativ auf die Felleigenschaften auswirkten (Mendera 1927; vgl. Maucher & Mette 1928b: 34) 60 Vgl. Nachtsheim 1929c: 37 u. 45. 61 Nachtsheim 1928c: 266 62 Nachtsheim 1931c: 75 84 Haarverkümmerungen, die nicht ohne weiteres als „krankhafte“ Erscheinungen bezeichnet werden konnten, waren eindeutig „krankhaft“, insofern sie durch einen „degenerativen“ Erbfaktor bedingt wurden. Die Verkümmerung und Pathologie verschmolzen umso mehr, als Nachtsheim andere degenerative Symptome als eine Folgewirkung der Haarverkümmerung ansah.63 Die Pathologie bzw. die Gesundheit wurden damit zum Bezugspunkt der Beurteilung der neuen Kaninchenrasse und ihres Fells.64 Obwohl Nachtsheim feststellte, dass bei günstigen Haltungsbedingungen die Kaninchen genauso vital heranwuchsen wie andere Rassen, kam für ihn auf Grund seiner wesensmäßigen Pathologisierung das Rexkaninchen als Wirtschaftskaninchen nicht mehr in Frage.65 2.1.4 ... und im Experimentalsystem Dieser Kurzschluss von Wirtschaftlichkeit, Pathologie und Degeneration korrespondierte mit der Abwertung des Erfahrungswissens und des bastelnden Ausprobierens zugunsten der – ihrem Anspruch nach – systematischen instrumentellen Prüfung im Labor, die durch den Blick durchs Mikroskop den objektivierenden Blick bis in die „Vererbungszelle“66 lenkte: „Wer aber auf Grund langer Untersuchungen weiß, daß die Besonderheit des Rexkaninchens in einer krankhaften Entwicklung des gesamten Haarkleides besteht, [...], für den ist die Frage, welches Fell haltbarer ist, das Rexfell oder das normalhaarige Fell, einfach nicht mehr diskutabel.“67 Es kann nicht unterschieden werden, ob das Laborwissen oder der ökonomische Diskurs um den Fellwert Nachtsheims „anfänglichen Optimismus“68 in eine pathologisierende Richtung lenkte. Eine eindeutige Entscheidung kann vielleicht auch nicht erwartet werden, wanderte Nachtsheim doch zwischen Experimentalsystem und dem Züchter-, Kürschner- und Industriediskurs (ZKI-Diskurs) hinund her. Die schnelle Repräsentation des Kaninchenfells als etwas Pathologisches lässt sich aber angemessener durch die Einbindung ihrer Produktion in den problematischen Kontext und einen bestimmten wissenschaftlichen Stil erklären. Die Spuren, die im Labor dem Rexkaninchen apparativ und experimentell entlockt wurden, waren der Gegenstand ökonomischer Befragungen. In der Eingliederung der Spuren aus dem Labor in die fortwährende Kette von Re-präsentationen des Rexkaninchens im ZKI-Diskurs begann sich die Darstellung der Kanincheneigenschaften, zu einer pathologischen Struktur zu verdichten. Die Verkörperung eines pathologischen Objekts als Komplex aus Haaren, Erbfaktor, krummen Beinen und Schnupfen war eingespannt zwischen Nachtsheims Positionierung im ZKI-Diskurs und der Darstellung des Objekts in der mendelschen Experimentalkultur. Der spezielle experimentelle Stil führte ‚automatisch’ 63 Vgl. Nachtsheim 1929c: 42-45. Vgl. das Eingangszitat auf Seite 72. 65 Oder sollte ein Kürschner etwa „ein Fell mit durchaus krankem Haar besser verwenden können als ein veredeltes mit gesundem Haar“, fragte Nachtsheim selbstbeantwortend (Nachtsheim 1929c: 42-45). Als neues Zuchtziel empfahl er nun, ein „derb-griffiges“, „möglichst gesundes Haarkleid“ aus dem Rex weiter zu züchten (Nachtsheim 1931c: 77; vgl. Nachtsheim 1928i; Nachtsheim 1931d: 215; Nachtsheim 1931c: 77; Nachtsheim 1936d: 99). 66 Loudwin & Berger & Friedrich 1927 67 Nachtsheim 1929e: 326; vgl. Nachtsheim 1933d: 770. 68 Nachtsheim 1928c: 266 64 85 zu einer Verknüpfung der konstitutionellen Eigenschaften und der Felleigenschaften im Rasse-konstituierenden Gen.69 Es war dieses patho-ökonomisch ausgerichtete Experimentalsystem, das dann schließlich den pathologischen Gegenstand als einen epistemischen Gegenstand im eigentlichen Sinne hervorbrachte. Seit dem Jahr 1927 traten in Nachtsheims Kaninchenbestand gehäuft Lähmungserscheinungen an den Hinterbeinen der Tiere auf, deren Wesen zunächst im Dunklen lag.70 Erst als Nachtsheim die Herkunft der Kaninchen in die Form einer Liste brachte, stellte er fest, dass alle diese Tiere aus Versuchsserien zur Kurzhaarigkeit stammten und alle auf den importierten Rexrammler 744 zurückgingen. Damit „lag natürlich die Vermutung nahe“, dass die Lähmungen erblich waren und zum Charakter der Rexrasse gehörten.71 „Natürlich“ war diese Vermutung, weil sie sich aus dem Arrangement der mendelschen Experimentalordnung ergab. Die Versuchsserien aus Kreuzung, Rückkreuzung und Inzuchtpaarung organisierten sich in einem Dokumentationssystem der Abstammungsverhältnisse und des Verhaltens der mendelschen Merkmale.72 Die Darstellung der Tiere und ihrer Fortpflanzung folgte ihrer operativen Anordnung in der mendelschen Experimentalkultur. Die Lähmung der Hinterbeine, die zunächst als arbiträres Ereignis keine Beachtung gefunden hatte, konnten durch dieses Arrangement als etwas Erbliches repräsentiert werden und durch die Überschneidung mit dem patho-ökonomischen Experimentalsystem des Rexkaninchens zum Gegenstand werden. Die Überschneidung der Lähmungserscheinung mit den Eigenschaften des Rexfells wirkte auf die Wahrnehmung des Rexkaninchens zurück. Seine Repräsentation wurde differenziell reproduziert und mit einer Frage oder Lücke versehen. Als Nachtsheim feststellte, dass die Erblichkeit der Lähmung nicht mit dem Rexfaktor zusammenfiel, blieb als unvorhergesehenes Ereignis die Lähmung als eigener Gegenstand zurück.73 1929 wurde der Rexrammler 744 an das Pa69 Zu dieser der mendelschen Genetik eigenen Neuordnung und Zusammenfassung von Zeichen und Symptomen, vgl. 2.2.3. 70 An der Berliner Tierärztlichen Hochschule wurde eine Infektion ausgeschlossen; ein Tierpfleger geriet – ungerechtfertigt – in den Verdacht, durch unsachgemäße Behandlung den Tieren Verletzungen zugefügt zu haben; und so weiter (vgl. Nachtsheim 1931f: 254). 71 Nachtsheim 1931f: 254+58 72 Nachtsheim hatte für diesen Zweck eigens eine standardisierte Form der Kennzeichnung der Tiere und der Zuchtbuchführung entworfen. In der Kennzeichnung – durch Tätowierung an den Ohren – wurden bereits die wichtigsten Abstammungsdaten verschlüsselt (vgl. Nachtsheim 1928h: 310-11). Zentrale Felder des Zuchtblatt, das je für ein Kaninchen (und eine Nummer) ausgestellt wurde, waren ein schematisierter Stammbaum, in dem die Erbformeln und eindeutigen Kennzeichnungsziffern der Elterngenerationen eingetragen wurden, die vermutete Erbformel des betreffenden Kaninchens und die Dokumentation der interessierenden Merkmale. In einem weiteren Blatt wurden die Paarungen und Verweise auf die Jungen dokumentiert (vgl. ebd.: 308-09). Diese Zuchtformulare, von Nachtsheim entworfen, sollten allgemein gebräuchlich werden und waren als Form Nr. 701 (Kaninchenzuchtblatt für wissenschaftliche Versuche) beim Deutschen Landwirtschaftlichen Formularverlag G.m.b.H., Berlin-Halensee, erhältlich (vgl. zum Beispiel die Zuchtbücher Nachtsheims: Zuchtbuch XVIII, in: IGMB, S 909; AMPG, Abt. III, Rep. 1a, Nr. 136) 73 Vgl. Nachtsheim 1931f: 256. – Die Unabhängigkeit beider Erbfaktoren diente Nachtsheim als Erklärung dafür, dass einzelnen Züchtern gelang, die Krankheitsanfälligkeit der Rexkaninchen zu mindern. Nach dieser mendelschen Lesart konnten sie die Rasse verbessern, indem sie andere, nicht die Rasse konstituierende „degenerativen Erbfaktoren“ züchterisch von ihr trennten (Nachtsheim 1931c: 76). – In späteren Untersuchungen ergab sich allerdings doch ein Effekt 86 thologische Institut der Heilanstalten Berlin-Buch überwiesen. Nachdem er „etwa ein Jahr lang in der Irrenanstalt gewesen war, kam er, ohne daß sich sein Zustand wesentlich verschlimmert hatte“, zurück nach Dahlem.74 Dennoch hatte sich Entscheidendes geändert: Das Kaninchen hatte jetzt eine Diagnose und kam zurück, um gezielt, orientiert an dieser Diagnose, weitergezüchtet zu werden. Der Bucher Pathologe Berthold Ostertag war überzeugt, dass es sich bei der Lähmung um ein dysraphisches und neurodegeneratives Syndrom handelte, das in der Medizin als Syringomyelie bezeichnet wurde. Er stellte sogleich die Frage, ob beides völlig analog zu einander sei, und, wenn ja, ob dann die bislang unbekannte Ätiologie der Syringomyelie eine Aufklärung in der Vererbung finden würde.75 Dies war der Ausgangspunkt einer Zusammenarbeit zwischen Ostertag und Nachtsheim, in deren Verlauf weitere erbliche Kaninchenkrankheiten, die auf Vergleichbarkeit mit Krankheiten des Menschen untersucht wurden, hinzukamen. Dieses Auftauchen eines neuen Gegenstandes und eines neuen Problems sowie die Beförderung eines neuen Forschungsinteresses und -programms, das in den Kapiteln 6 und 7 behandelt wird, war, epistemologisch gesprochen, Ergebnis der differenziellen Reproduktion ‚des’ Rexkaninchens.76 Nachtsheims Aufgabe in dem neuen Forschungsprogramm war die genetische Analyse, die wie im Fall der vom Rexkaninchen abgespaltenen Syringomyelie äußerst kompliziert sein konnte, da die Manifestation und das klinische Bild der Krankheit äußerst variabel waren.77 Dies zwang Nachtsheim dazu, Umwelteinflüsse, Haupt- und Nebengene und genetisches Milieu in seinem experimentellen Arrangement zu berücksichtigen. Das Experimentalsystem ordnete sich jetzt nicht mehr nach der Eignung eines Merkmals – Pigment – für eine mendelsche Analyse, sondern die genetische Analyse musste sich fügen, um dem pathologischen Gegenstand zu folgen. Dies führte ab einem bestimmten Punkt dazu, dass die Verbindung mit anderen Experimentalkulturen gesucht werden musste. Nachtsheim schlug deshalb vor, als die Genanalyse der Syringomyelie an einem toten Punkt angelangt war, den Ort der Primärwirkung des Gens zu suchen.78 Dies bedeutete, das mendelsche Experimentalsystem nach Embryologie und Entwicklungsphysiologie hin zu überschreiten. Wie in 7.1 zu sehen sein wird, war die Verbindung von Genetik und Entwicklungsphysiologie keine originäre Idee Nachtsheims, sondern eine Strategie, die zeitgleich in ähnlichen Experimentalsystemen mit ähnlicher Problemstellung und ähnlichem For- des Rexfaktors auf die Nervenkrankheit, den Nachtsheim als indirekte Wirkung des Rexfaktors auf Manifestation und Verlauf der Erkrankung interpretierte (vgl. Nachtsheim 1939b: 128). 74 Nachtsheim 1933d: 770 75 Vgl. Ostertag 1930a: 166 u. 173-74; Nachtsheim 1934a: Seite 2. 76 Wie gesehen, war das Rexkaninchen als Kaninchenrasse zunächst ein fragiler ‚Gegenstand’, der sich erst in den wiederholenden Laboroperationen zu stabilisieren begann – nicht aber als die Entdeckung einer vorgängigen Entität, sondern in seiner Veränderung, die mit seiner Dislokation und der Abspaltung scheinbarer Identitäten verbunden war. 77 Zu polymerer Vererbung u. Einfluss von Milieufaktoren, vgl. Nachtsheim 1936b: 744-45; zu Einfluss des „genotypischen Milieus“, vgl. Nachtsheim 1939b: 128; zur Variabilität des Krankheitsbildes, vgl. ebd.: 128-29; Nachtsheim 1942b: 80-81. – Nachtsheim stellte schließlich – nach zehn Jahren – fest, dass die Beteiligung verschiedenster exogener und endogener Faktoren die Suche nach mendelschen Faktoren aussichtslos mache (vgl. Nachtsheim 1939b: 129). 78 Vgl. Nachtsheim 1942b: 81. 87 schungsinteresse (vergleichende Genetik zur Darstellung (komplexer) menschlicher Krankheiten als mendelsche Erbkrankheiten) hervorgebracht wurde.79 2.2 Pathologie und Mendelgenetik „Durch die Erbanlagen wird nur eindeutig festgelegt, wie sie [die Organismen] auf bestimmte Bedingungen reagieren können, ihre Reaktionsnorm. In den Vererbungs- und den Modifikationserscheinungen liegen die biologischen Grundlagen der Erziehung der 80 Einzelmenschen und der Völker.“ In diesem Abschnitt soll nun der Blick vom Experimentalsystem auf den konzeptuellen Diskurs gelenkt werden, an dem Nachtsheim partizipierte und vor dessen Hintergrund sich die Verbindung von Genetik und Pathologie in Dahlem ereignete. Es wird deutlich, wie durch bestimmte Denkströmungen und unter der Konjunktur von neuen Gegenständen in der Genetik – den Mutationen – genetische und medizinische Probleme nahe aneinander geführt wurden und wie eine besondere Nähe der Genetik zu eugenischen Themen entstand. Die konzeptuelle Verflechtung von Medizin und Genetik kann hier jedoch nur explorativ erfolgen und durch vereinzelte Beispiele plausibel gemacht werden. Die Anbindung dieser leitenden Denkansätze in einem gesellschaftstheoretischen Rahmen, wie sie sich anbietet, kann ebenfalls nur thesenhaft erfolgen. Vorbehaltlich also dieser realhistorischen Bewertung jener konzeptuellen Verknüpfungen scheint mir der aufzuzeigende Zusammenhang eines veränderten Verständnisses vom Verhältnis zwischen Pathologischem und Normalem in der Medizin und innovativen Konzepten der Genwirkung in der Genetik von großer Bedeutung für die Annäherung von Medizin, menschlicher Erblehre und Genetik gewesen zu sein. Kurz gesagt, gab es in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhundert sowohl in der Medizin wie in der Genetik jeweils die Tendenz, Dichotomien in Kontinuitäten aufzuheben. In der Medizin betraf dies die Gegenüberstellung von Pathologischem und Gesundem, in der Genetik die von Vererbung und Umweltprägung. Beides war von Bedeutung für das methodisch-konzeptuelle Selbstbewusstsein der Humangenetiker. Von ihnen wurde die nicht selbstverständliche Auffassung vertreten, dass sowohl normale als auch pathologische Erscheinungen einer genetischen Bearbeitung zugänglich seien. Diese Behauptung erhielt mit der Annahme, dass es keinen Wesensunterschied zwischen beiden Bereichen gab, eine substanzielle Begründung. In ähnlicher Weise konnte durch die Auflösung der strikten Trennung von Umwelt und Vererbung in der Genetik der humangenetische Zuständigkeitsanspruch auf solche Merkmale ausgedehnt werden, die sich aus der mendelschen Sicht bisher als variabel und unregelmäßig und deshalb unzugänglich dargestellt hatten. Beide Kontinuitätenräume wurden darüber hinaus in der Genetik ineinander verschränkt, indem die Evolutionstheorie und ein genetisch interpretierter Begriff der Anpassung als vermittelndes Glied dazwischen geschaltet wurden. Die 79 Zu den Fragen der genetischen Entwicklungsphysiologie, siehe 4.2 u. 7.1 sowie Fußn. 40. o. D. [ca. 1930-33], Kühn: Hauptaufgaben der Lebensforschung, hands. Mans. (AMPG, Abt. III, Rep. 5, Nr. 15) 80 88 Genetik zog damit das Interesse der Humangenetiker auf sich und provozierte das Interesse an einem umfassenden Projekt, nämlich dem, Vererbung und pathologische Erscheinungen miteinander zu verbinden. Unter den Genetikern wiederum blieb die Nähe zu Themen der Pathologie, die sich aus ihren neuen Beschäftigungen ergaben, nicht unbemerkt. Diese neuen Beschäftigungen waren neben der Entwicklung von Konzeptionen, die variable Erscheinungen der Genwirkung integrieren konnten, die Untersuchung von Mutationen. Vom Ende der zwanziger Jahre an rückten Genmutationen zunehmend in den Fokus der experimentellen Arbeit der Genetiker. „Höherer Mendelismus“ und Mutationsgenetik bargen ein umwälzendes Potenzial für die Anwendung der Genetik auf die menschliche Erblehre und die Medizin. Sowohl das eugenische Theorem von der fortschreitenden Degeneration des menschlichen „Erbguts“ als auch die Lehre von den Krankheitsursachen (Ätiologie) und die Ordnung der Krankheiten (Nosologie) standen in ihrer bisherigen Form in Frage bzw. in der Gefahr subversiv auf einer genetischen Grundlage umgeschrieben zu werden. 2.2.1 Bruch in der Episteme des Pathologischen: Prinzip von Broussais Es lassen sich Anhaltspunkte dafür finden, dass sich in der Genetik eine neue Weise, das Pathologische zu denken, ausbreitete, zumal diese sich bequem mit einer neuen Konzeptualisierung der Wirkweise der Gene und damit dem Kardinalproblem ihrer Bedeutung in der Ausprägung eines Organismus kurzschließen ließ. Der krankheitstheoretische Diskurs und die genetische Vorstellung von der Rolle der Vererbung gegenüber dem Ganzen des Organismus und der Umweltwirkung überschnitten sich in zwei in einander übersetzbaren Konzepten: das der Anpassungsfähigkeit und das der Reaktionsnorm. Doch zunächst soll der neue Begriff vom Wesen der Krankheit und dem Krankhaften vorgestellt werden. Die Neuorientierung des Krankheitsbegriffs stellte die Wesenhaftigkeit von Krankheit in Frage. Zur jener ontologischen Vorstellung trat die funktionelle Position zunehmend in Konkurrenz. Während in der ontologischen Betrachtungsweise Krankheit entweder mit den Symptomen selbst, mit spezifischen Kausalitäten (zum Beispiel Krankheitserregern) oder bestimmten veränderten Teilen des Körpers identifiziert wurde, wurde sie nun als eine Abweichung vom normalen physiologischen Funktionieren verstanden.81 Das funktionelle Konzept, das nicht zufällig zeitlich mit dem Aufstieg der Physiologie zusammenfiel,82 bedeutete, nicht mehr abstrakte oder materielle Dinge, die für sich stehen konnten, zu suchen, sondern Veränderungen der Funktion. Diese ideengeschichtliche Entgegensetzung kann auch als die Neuübersetzung der Dichotomie von Krankheit und Gesundheit in einen Kontinuitätsraum des Normalen und Pathologischen beschrieben werden. Canguilhem setzt mit die Kontinuierung der qualitativen Dichotomien mit dem nach dem französischen Arzt benannten Prinzip von Broussais an, das die Basis eines quantifizierten und später statistischen Normalitätsdenkens im 19. Jahrhundert gewesen sei.83 Diesem Prinzip zu Folge 81 Vgl. Strasser & Fantini 1998: 192-93. Vgl. Hess 1999: 270. 83 Vgl. Canguilhem 1991: 54-63. Der französische Arzt François-Joseph-Victor Broussais formulierte seine Theorie in: De l’irritation et de la folie, Paris 1828. – Diskursgeschichtlich ist das 82 89 waren die Krankheitsphänomene substanziell mit denen der Gesundheit identisch und unterschieden sich lediglich der Intensität nach von ihnen.84 In Deutschland vertrat der Mediziner und Humangenetiker Fritz Lenz am klarsten diese Position und scheint von besonderem Einfluss im disziplinären Übergangsfeld von Genetik und Medizin gewesen zu sein. Im dritten Teil des verbreiteten genetisch-rassenhygienischen Lehrbuchs, dem Baur-Fischer-Lenz, in dem versucht wurde, die menschliche Erb- und Rassenlehre sowie die Eugenik ganz allein im konzeptuellen Rahmen der mendelschen Erblehre anzugehen, formulierte Lenz die Grundsätze einer Theorie der Krankheitslehre. Er führte aus, dass „zwischen Gesundheit und Krankheit kein biologischer Wesenunterschied“ bestehe.85 Gleiches gelte auch für Erbkrankheiten, also Krankheiten, bei deren Zustandekommen „krankhafte Erbanlagen“ beteiligt waren. Dies fand sein perfektes Echo beim Koautor und mendelschen Anthropologen Eugen Fischer, nach dem die „krankhaften Erbanlagen des Menschen“ „auf allen Gebieten ohne scharfe Unterscheidungsmöglichkeit in gesunde“ übergingen.86 Es überrascht zunächst, dass sich in dieser ‚Broussaischen Erbpathologie’ das diskrete Prinzip der Mendelgenetik mit dem Kontinuitätsprinzip verbinden ließ. Die partikularen Erbfaktoren ließen eher eine Ontologisierung des Krankheitsverständnisses erwarten, da die Identifizierung einzelner Mutationen und die Unterscheidung von materiell diskreten Allelen desselben Gens eine klare Trennung möglich machte. Diese Erwartung verkennt aber, dass das mutative „diskursive Ereignis“ des Normalismus an Auguste Comte gekoppelt, der seine „Soziologie“ in strikter Analogie zur Physiologie dachte (Link 1999: 209+16). Die Kontinuierung von Diskontinuitäten ist eine Basisoperation in der Ausprägung normalistischer Dispositive (vgl. ebd. 323ff.). Dieses Prinzip wurde zur systematischen Grundlage der Pathologie, welche dadurch dem Ganzen der Biologie untergeordnet werden konnte, wie Auguste Comte 1851 kommentierte (vgl. Comte: Système politique positive, Bd. 1, Paris 1851, zit. in Schuller 1999: 127). In einer diskursgeschichtlichen Betrachtungsweise, die mit Comte beginnend, über die medizinische Variante mit dem Arzt Broussais und dem Physiologen Claude Bernard zur Begründung der statistischen Methoden durch Adolphe Quételet und Francis Galton bis hin zur völligen Expansion im 20. Jahrhundert führt, stellt sich der im Grunde ahistorische Normalitätsbegriff Canguilhems als Kristallisationspunkt eines gesellschaftsstrukturierenden Umbruchs in der Episteme der wahrheitskonstituierenden Spezialdiskurse (und industrialistischer Dispositive) dar, auf den bis heute gesellschaftliche Machtverhältnisse zurückbezogen werden können (vgl. Link 1999: 15, 81, 126, 192 u. 202). In einer Diskursgeschichte kann in Anschluss an Foucault über die ideengeschichtliche Beengung hinaus die enge Kopplung von im engeren Sinne diskursiven (etwa semantischen) Komplexen und operativen Dispositiven (Link nennt als Musterbeispiel die Gaußkurve und ihren operativen Einsatz bei Intelligenztests usw.) verfolgt werden (vgl. ebd.: 185 u. 187-88). 84 In Bezug auf diese historisch-spezifische Formation muss im Blick behalten werden, dass die Spezialdiskurse – neben Soziologie Meteorologie, Naturgeschichte und Medizin –, in denen der epistemologische Umbruch sich zuerst manifestierte, mit anderen gesellschaftlichen Bereichen in Austausch (Interdiskurs) traten. Der biometrische Normalismus wuchs sich zur Denormalisierungsangst aus und bildete derart die Rationalisierungsgrundlage von Degenerationsvorstellungen und der aufkeimenden Eugenik (vgl. Link 1999: 236+39). Normalität wurde so zum Bindeglied zwischen Biologie und Sozialwissenschaften (vgl. Schuller 1999: 125). Die Verbindung zu Vererbungstheorien stützte sich zugleich auf den medizinischen Diskurs. 85 Hier und nachfolgend: Lenz 1923: 161 86 Fischer 1922: 641+44; Fischer 1930e: 130. Die Sensation, auf die Fischer dabei abzielte, so muss angemerkt werden, war in diesem Moment nicht die Kontinuierung, sondern die Behauptung, dass das gesamte Spektrum des Pathologischen prinzipiell auch in den Zuständigkeitsbereich der mendelschen Genetik falle. Mehrheitlich wurde Anfang der zwanziger Jahre dagegen vor allem in der Medizin die Auffassung vertreten, dass die mendelschen Erbregeln nur auf äußerliche und ‚unwichtige’ Merkmale zutrafen. 90 Ereignis selbst nicht per se als pathologisches Ereignis verstanden werden konnte. Dies ergab sich aus seiner evolutionstheoretischen Deutung. Die Mutationen standen zwar erst am Anfang einer Karriere, in der sie zum zentralen Gegenstand der synthetischen Verbindung aus Genetik und Evolutionstheorie wurden. Der evolutionstheoretische Bezug bildete aber jetzt schon die Grundlage für ein allgemeines entontologisiertes und auf die Erbpathologie ausgedehntes Verständnis von Krankheit. Lenz fasste Gesundheit grundsätzlich als den „Zustande voller Anpassung“ auf.87 Anpassung wiederum war ein funktioneller Begriff, der die Leistungsfähigkeit eines Organismus in kontinuierlicher Beziehung zur Umwelt auffasste. „Den Zustand eines Lebewesens, das an den Grenzen seiner Anpassungsfähigkeit lebt, bezeichnen wir als krank. Es gibt also alle Übergänge zwischen voller Gesundheit und schwerster Krankheit.“ Mit dieser Anbindung an die relative Funktionalität sah Lenz seinen Krankheitsbegriff in der allgemeinen Biologie verwurzelt.88 In der Medizin war das Anpassungskonzept durch Lenz’ Lehrer, Ludwig Aschoff, vertreten. Aschoff verfolgte seit 1906 auf dem Freiburger Lehrstuhl für Pathologie den Ausbau der Pathologie als funktionelle Wissenschaft, die einerseits die Strukturfixierung der morphologischen Pathologie integrieren andererseits als pathologische Physiologie entwickelt werden sollte.89 Ein funktioneller Begriff von Krankheit war in der Pathologie gegen Ende des 19. Jahrhundert formuliert worden, zu dem sich bald „Leistungsfähigkeit“ und „Anpassungsfähigkeit“ gesellten, sodass Aschoff den Organismus als gesund verstand, der „mit genügender, d.h. die biologische Existenz sichernder Anpassungsfähigkeit“ ausgestattet war.90 Die Begriffe der Leistungs- und Anpassungsfähigkeit, die sich mit dem der Konstitution verbunden fanden, konnten insbesondere in Diskursen der Sozialhygiene und Psychiatrie Eingang finden und breiteten sich in den Jahren der Weimarer Republik aus.91 Da Aschoff als Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene die Pathologie als „Hüterin der Erbmasse“ verstand, verwundert es nicht, dass er völlige Zustimmung bei seinem Freiburger Kollegen Eugen Fischer fand.92 Der eugenische und der medizinische 87 Hier und nachfolgend: Lenz 1936: 323 Vgl. Lenz 1927c: 175. 89 Vgl. Prüll 1997: 334. 90 A. Fischer 1932: 66. Fischer bezieht sich auf den Freiburger Pathologen E. Ziegler (1898) bzw. den Berliner Pathologen Joh. Orth (1904) u. Aschoff (Berl. Klin. Wschr., Nr.3, 1917). 91 Vgl. zum Beispiel eine Diskussion unter Hygienikern und Ärzten in der Badischen Gesellschaft für soziale Hygiene (A. Fischer 1932 u. in Anschluss: 70-79; Maitra 2001: 99-101). Im Zuge des 1. Weltkriegs wurde im psychiatrischen Diskurs ‚normales’ Verhalten an seine Funktionstüchtigkeit gekoppelt (vgl. Kaufmann 1999: 137-38). Vererbung und ökonomische Betrachtungen wurden in der Weimarer Republik untrennbare Bestandteile der Gesundheitsdiskurse (vgl. Maitra 2001: 91-92). Der Zoologe Valentin Haecker stellte ebenfalls Krankheit als eine „abnorme Empfänglichkeit für bestimmte Reize“ vor, Ferdinand Hueppe sprach von der „Widerstandskraft“ (Haecker zit. n. ebd.: 64 bzw. Hueppe zit. n. ebd.: 70). 92 6.7.1932, Aschoff an E. Fischer zit. n. Prüll 1997: 349 u. vgl. 343. – Mit der Frage nach der Anpassungsfähigkeit war nach der medizinischen Seite die Frage verbunden, ob Krankheit außer als Prozess auch als Zustand (Konstitution u.Ä.) gefasst werden könnte (vgl. Lenz 1923: 160). – Fritz Lenz nahm für sich in Anspruch vor und zunächst gegen seinen Lehrer Aschoff den Anpassungsbegriff von Krankheit (in: Über die krankhaften Erbanlagen des Mannes, 1912: 95) entwickelt zu haben (vgl. Lenz 1936: 324). Von anderer Seite hieß es dagegen, Schallmayer (in: Vererbung und Auslese, 2. Aufl., Jena 1910: 41) und Aschoff in seinen Vorlesungen 88 91 Kontext scheinen kaum noch trennbar in der interdiskursiven Vermittlung des Krankheitsbegriffs an die Genetik.93 2.2.2 Das Pathologische zwischen Medizin und Genetik: Variabilität und Mutationen (die mutationsgenetische Episteme) Die mendelsche Genetik trat Ende der zwanziger Jahre in eine Umbruchsphase ein, in deren Verlauf sich die mutative Veränderung von Genen als ein wichtiges Problem und Instrument für die Weiterentwicklung der Genetik herausstellte. Neben neuen Konzepten, die das Verhältnis von Gen und Organismus dynamischer auffassten, wurden gänzlich neue Forschungsfragen erschlossen und es bahnte sich eine Synthese von Genetik und Evolutionstheorie an. Während auf Einzelheiten in Kapitel 4 eingegangen wird, soll hier bereits so viel vorweggenommen werden, um das Verhältnis der Genetik zum Pathologischem zu charakterisieren zu können, wie es sich innerhalb jener avancierten Strömung der Genetik, deren Ausstrahlungskraft in den dreißiger Jahren auch auf die Humangenetik enorm war, ergab. Der Drosophilagenetiker Nikolaj Timoféeff-Ressovsky entwickelte als einer der Ersten in der deutschen Genetik die Anpassung als einen relativen Begriff. Er verband ihn zugleich mit dem Broussaisschen Krankheitsprinzip und mit einer neuen Konzeption des Zusammenwirkens von Gen, Organismus und Umwelt. Krankheiten seien nichts anderes als eine Form von Variation, der Tiere und Pflanzen unterlagen.94 Diese Variationen der Organismen seien in unterschiedlicher Weise an verschiedene Umwelten angepasst, das heißt, die Vitalität eines Organismus war immer nur relativ zu verstehen.95 „Vitalität“ war gegen Anfang der dreißiger Jahre ein wichtiger konzeptueller und operativer Begriff in der Genetik.96 Sie verschaltete Evolution mit Genetik, denn Mutationen konnten die „relative Vitalität“ des Organismus herab- oder heraufsetzen; Mutationen er(gedruckt: Berl. Klin. Wschr., Nr.3, 1917) hätten die Auffassung entwickelt, Lenz sie dann übernommen (zum Beispiel Lenz u. Jarotzky, MMW, Nr. 39, 1924) (vgl. Fischer 1932: 66-67). 93 Ironischerweise schlich sich auf diese Weise in den Dunstkreis der eugenischen Konzeptualisierung eine Relativierung und Flexibilisierung des Normbegriffs selbst ein. In der funktionellen Auffassung, in der Krankheit im Gegensatz zur Norm definiert wurde, wurde die Norm zunächst noch idealtypisch, dann aber vor allem an statistische Mehrheiten gebunden verstanden (vgl. Strasser & Fantini 1998: 193; Link 1999: 165). Fischer erklärte eigens in konsequent anti-essentialistischer Lesart, dass auch dieses statistische Mittel nur der Anschein von etwas Vorhandenem sei. Und Lenz erklärte, dass die „Lebenstüchtigkeit“ als Gradmesser der Gesundheit nicht erlaube, einen „normalen Typ“ oder eine „normale Variationsbreite“ zu bestimmen (Lenz 1936: 324). Die Norm sei eine Sache der Definition. Die Norm stand an der Schnittstelle zwischen dem wissenschaftlichen Diskurs, in dem zunächst als Innovation im 19. Jahrhundert ‚Normalität’ von ‚Normativität’ getrennt wurde, und anderen Diskursen. Normative Bestimmungen wurden schnell wieder eingeführt. Die Aufhebung von Dichotomien schloss faktisch die Entgegensetzung von Polaritäten nicht aus. Die statistisch-biologische Norm(alität) wurde auf Normativität zurückgewendet: Das Gesunde war das Normale und Erwünschte. (Vgl. Schuller 1999 mit Verweis auf Foucault: 126 (126-30); Hess 1999: 275-76; Link 1999: 180 u. 205.) Andererseits konnte diese Normativität wieder durch Wissenschaftlichkeit eingeholt werden, indem die Flexibilisierung der Norm über die gelungene oder nicht gelungene „Anpassung“ an evolutionstheoretische Konzepte gekoppelt wurde. Dies führt nun zurück zur Genetik. 94 Vgl. Timoféeff-Ressovsky & Vogt 1926: 1188. 95 Vgl. Timoféeff-Ressovsky 1934c: 102-03; Timoféeff-Ressovsky 1934d: 338; Kühn 1934: 22122; Kühn 1935a: 77-78 u. 87. 96 Vgl. zum Beispiel Kühn & Henke 1930: 206; Vogt & Vogt 1930: 558; Timoféeff-Ressovsky 1934d. 92 zeugten „alle Übergänge, von sehr starken pathologischen Abweichungen“ bis zu den „kleinen Mutationen“, die sich als kaum merklich oder, im Gegenteil, als vorteilhaft erwiesen.97 Da nun auch in der mendelschen Genetik die Umwelt mehr und mehr als bestimmender Faktor der Entwicklung eines Organismus einbezogen wurde, resultierte der variable Anpassungswert von Mutationen auch aus ihrer variablen Wirkung auf den Organismus. Die Beziehung zwischen Gen und Außenmerkmal wurde jetzt in der Genetik als „Entwicklungssystem“ vorgestellt, in dem die genbedingte Modifikation des Entwicklungsvorgangs außer mit dem äußeren Milieu (Umwelt) auch mit dem genotypischen und inneren Milieu sowie dem Gesamtgenotyp zusammenwirkte.98 Verbreiteter noch als die Vorstellung eines Systems war die perspektivische Konzeption allein von der Genwirkung aus.99 Die Erbanlagen bestimmten danach nicht die Ausbildung eines Merkmals schlechthin, sondern die „Reaktionsnorm, also die Art, wie die Zellen auf bestimmte Entwicklungsreize antworten“.100 Die verschiedenen Begriffszusammenhänge von „Norm“ konnten nun in einander übersetzt werden: Die statistische Norm einer Gaußverteilung, wie sie sich aus der Modifikationsbreite einer Anzahl genetisch gleicher Individuen ergab, in die reaktive Norm einzelner Erbanlagen und diese wiederum in den idealen Anpassungswert bezüglich verschiedener Umwelten.101 Für den Mediziner Johannes Schottky zum Beispiel war Krankheit nichts Neues, das in den Organismus hineinkommt, sondern eine Störung des Gleichgewichts zwischen Umwelt und Organismus, genauer: eine Störung der Konstitution des Organis- 97 Timoféeff-Ressovsky 1935a: 118; vgl. Vogt & Vogt 1930: 558+72. Timoféeff-Ressovsky 1935b: 112 99 Eine klare Trennung zwischen der Begrifflichkeit von System und Reaktionsnorm scheint es aber nicht gegeben zu haben. Der ausgeprägte Organismus stellt bei Kühn auch ein „System“ dar (Kühn 1935b: 38). Timoféeff-Ressovsky beschreibt die Variabilität des Individuums gegenüber der Umwelt in Begriffen wie „Reaktionsmuster des Individuums“ oder „Reaktionsintensität“ (Timoféeff-Ressovsky 1934c: 98). – Kühn bezog die Konzeption der Reaktionsnorm auch auf den Artbegriff. Die Mitglieder einer Art unterschieden sich demnach in ihrer Reaktionsnorm untereinander weniger als sie sich von Mitgliedern anderer Arten unterschieden (vgl. Nachtsheim 1940a: 554). Nachtsheim nahm diese Verwendung der Reaktionsnorm auf, um die Domestikationserscheinungen bei Haustieren zu erklären (vgl. ebd.: 565). 100 Kühn 1934: 218; vgl. auch o. D. [ca. 1930-33], Kühn: Hauptaufgaben der Lebensforschung, hands. Mans. (AMPG, Abt. III, Rep. 5, Nr. 15); Kühn 1935a: 2-3 u. 10; Kühn 1935b: 38. – Erstmals 1909 von Richard Woltereck eingeführt, wurde mit der Reaktionsnorm das in der Genetik als Modifikabilität beschriebene Variationsspektrum von Erblinien in Beziehung zu unterschiedlichen Umwelten gebracht (vgl. Federley 1930: 49; Sarkar 1998: 84-85; Sarkar 1999: 235; Schwartz 2000: 35). Wenn dieses Konzept auch in der genetischen Literatur bis 1950 weitgehend ignoriert wurde, so scheint es in der deutschen Diskussion um Vererbung und Entwicklung zumindest zeitweise – bis Anfang der vierziger Jahre vielleicht – von Genetikern gern benutzt worden zu sein (vgl. Mendelsohn 2001: 63-64). – Nach dem Paläontologen Weidenreich war die Reaktionsnorm in der von der Vererbungslehre beeinflussten Literatur ein beliebtes Schlagwort gegen den Lamarckismus (vgl. Weidenreich 1930: 16-17). – Unter Umständen muss die theoretisch-diskursive Funktion des Konzepts von seiner tatsächlichen Bedeutung in der Experimentalpraxis unterschieden werden. Zum Beispiel bezog sich der Genetiker Federley zwar nicht in seinem Vortrag, aber in seiner Diskussionsbemerkung gegen den Lamarckisten Weidenreich auf die Reaktionsnorm (vgl. Federley 1930: 49). 101 Es passt dazu, dass die „quantitative Theorie“ der Genwirkung von Richard Goldschmidt sich anscheinend in medizinischen und erbpathologisch interessierten Kreisen einer gewissen Beliebtheit erfreute (vgl. unter anderen Conrad 1940: 107; vgl. auch Fischer 1939: 68). 98 93 mus.102 Auf diese Weise wurde das biologisch-statistische Normverständnis (Modifikationsbreite, Reaktionsnorm) mit der Idealnorm in der Krankheitslehre (Konstitution, Anpassung) verbunden, wenn auch Krankheit zugleich fließend definiert wurde (als fließendes funktionelles Zusammenspiel zwischen Genen und Umwelt). Die Bindung des Krankheitsbegriffs und der Vererbungskonzeption in Medizin bzw. Humangenetik an die ‚avancierte’ Genetik besaß zwei bestechende strategische Vorteile. Der „höhere Mendelismus“, wie zeitgenössisch die Forschungsstränge bezeichnet wurden, die auf die Variabilität der Genwirkung abzielten,103 erschloss der Erbpathologie bislang konzeptuell und methodisch unerreichbar gewesene Krankheitsspektren: physiologische, variable und zusammengesetzte klinische Bilder.104 Zugleich konnten die pathologischen Phänomene auf Grund ihrer Verortung im Broussaisschen Kontinuitätenraum der Ausgangspunkt dafür sein, die normalen zu studieren – zumal diese der menschlichen Erblehre besondere Schwierigkeiten bereiteten.105 Grundsätzlich konnte das eine für das andere stehen. Diese wechselseitige Gültigkeit basierte auf der Allgemeinheit der Erscheinungen der Variationen.106 Von eben diesen Erscheinungen gingen zu jener Zeit umwälzende Wirkungen aus. Als Grundlage der erblichen Variationen in der Erscheinung der Organismen kam die Kombination der Erbfaktoren und die Mutation in Frage. Die Mutationen wurden mit den durchbrechenden Experimenten Hermann Mullers zu einem Schlüsselthema der Genetik,107 sodass geradezu von einem ‚Mutationismus’ gesprochen werden könnte. Ein „Schlüsselthema“ war die Variationsforschung schon deshalb, weil mit den Mutationen das „elementare Evolutionsmaterial“ ‚enthüllt’ wurde.108 Doch die Bedeutung der Mutationen war nicht auf 102 Schottky bezog sich mit dem Normverständnis von Lenz auf die Anpassung und mit Kühns Interpretation der Norm der Genwirkung auf das Zusammenwirken von Umwelt und Vererbung in der Formierung der Konstitution. „Die Konstitution ist, wie die Mehrzahl der Forscher heute anzunehmen geneigt ist, eine Reaktionsbegriff, und A. Kühn bestimmt sie mit Recht dahin, sie werde ’in der individuellen Lebensgeschichte geschaffen durch die aufeinander folgenden Entwicklungsreaktionen auf die Umweltbedingungen nach der erblich festgelegten Reaktionsnorm’“ (Schottky 1937: 4-5 (Herv. Verf.); vgl. 16 u. 18-19). Dr. Schottky, Abt.ltr. im Stabsamt des Reichsbauernführer, sah seine Auffassung – Konstitution ist die Reaktionsbereitschaft, die die Leistungsfähigkeit und Anpassungsfähigkeit bedingt – von den Medizinern F. Curtius und Siebeck und dem Humangenetiker v. Verschuer geteilt (vgl. ebd.: 19). 103 Vgl. v.Verschuer 1944b: 23; 1943, G. Just: Bericht über Lehrprobe (BA B, BDC-Alte F. Steiniger). 104 „Die Berücksichtigung komplexer Wirkungszusammenhänge hatte den Effekt, daß nun [...] Krankheiten als erblich verstanden werden konnten, die sich einem mendelschen Erbgang entzogen und somit von den klassischen genealogischen Verfahren nicht erfaßt wurden“ (Satzinger & Vogt 2001: 458). 105 Vgl. Fischer 1936b: 110. – Der genaue Charakter des strategischen Bezugs der Humangenetik auf den „höheren Mendelismus“ wird in Kapitel 7 untersucht. 106 Vgl. Timoféeff-Ressovsky & Vogt 1926: 1188. 107 Zu Mullers Experimenten an Drosophila, siehe unten und 5.3.1. 108 „Der wesentlichste Beitrag der experimentellen Genetik, der ihre Anwendung bei der Analyse der Evolutionsfragen unumgänglich macht, besteht in der Klärung der Frage über das Wesen und die Ursachen der erblichen und nichterblichen Variabilität der Organismen“ (Timoféeff-Ressovsky 1939: 158). Dies entsprach der neodarwinistischen Interpretation des Evolutionsmechanismus: Mutabilität sei neben Selektion und Isolation ein der elementarer Evolutionsfaktor, nicht aber als richtender Faktor, sondern als reiner Materiallieferant (vgl. ebd.: 163). Die experimentelle Genetik könne alles wesentlich notwendige für die Theoriebildung der Mikroevolution lie- 94 Art- und Rassenbildung beschränkt, sondern auch in dem beschriebenen Übergangsfeld zwischen Anpassung und Erbpathologie angesiedelt: Sie waren es, die „neue Leistungsmöglichkeiten“ oder „Erbschäden“ bedingen konnten. Kühn betrachtete deshalb die „Aufklärung der Erscheinungen der Erbgutveränderung“ als „eine der dringendsten Aufgaben der Vererbungsforschung“.109 Der Einbruch des ‚Mutationismus’ über die Genetik hatte nicht zuletzt seinen Ursprung im Auftreten von unzähligen „minute imperceptible mutations“ in der Drosophilaforschung.110 Das distanzierte Verhältnis, das die Genetik in den ersten zwei Jahrzehnten zur Frage der Mutationen eingenommen hatte, verkehrte sich Anfang der zwanziger Jahre:111 Mutative Variationen waren nun eine Möglichkeit der mendelschen Vererbung.112 Am deutlichsten artikulierte sich die Umwertung der schillernden Mutationserscheinungen 1923 mit Mullers Bestimmung der Mutation: „mutation is alteration of the gene“.113 Das Zusammentreffen von Genetik und Medizin, wie es in der vorliegenden Arbeit in drei Fallstudien verfolgt wird, ereignete sich in diesem Diskursfeld um erbliche Variationen. Es könnte von einer durch ein mutationsgenetisches Dispositiv eingefassten strahlengenetischen Episteme gesprochen werden. Das Ereignis der durch Strahlen erzeugten Mutationen im Labor Herman J. Mullers ermöglichte von der Bekanntgabe 1927 an in Konvergenz mit der erweiterten Phänomenologie des höheren Mendelismus und dem Prinzip von Broussais eine Umformulierung des mendelgenetischen Repräsentationsraums, seine Ausweitung und den Anschluss an die evolutionsbiologische Episteme. fern, und es beständen keine grundsätzliche Bedenken, aus dieser die Makroevolution zu extrapolieren (vgl. ebd.: 169). 109 Kühn 1934: 227 110 Carlson 1974: 31 111 Der Mendelismus und Mutationstheorien der Evolution hatten zwar in der gemeinsamen Distanz zur Selektionstheorie zusammengefunden. Die Genetik war aber ebenso gegenüber den sprunghaften, formgebenden Mutationen des Botanikers Hugo de Vries distanziert. Variationen des Organismus stellten sich ihr vielmehr als Modifikationen dar und waren damit der Vererbung gegensätzlich. (Zu Morgan und de Vries, vgl. Carlson 1974: 36-37; Allen 1984: 726; zur Nähe von Mendelismus und Mutationstheorie, vgl. Carlson 1966: 3-6; MacKenzie & Barnes 1975: 171-72 u. 179; Falk 1995b: 228-31 u. 235; zur Distanz zum Mutationismus, vgl. Carlson 1966: 29-30 u. 73-75; zur mendelschen Interpretation der Variation als statistische Abweichung, vgl. Churchill 1974: 13-14; Carlson 1966: 20.) 112 Vgl. Carlson 1974: 31. Die materielle Grundlage der Variationen, die in der mendelschen Genetik zunächst als Neukombination von Genen bei der Chromosomenaufteilung verstanden worden waren, wurde nun in den Genmutationen, den ‚kleinen’ Mutationen der Fruchtfliege Drosophila gesehen; denn diese hatten sich in „a sudden shower of mutations“ von 1910 an in Morgans Labor bis 1920 auf 300 vervielfacht, sodass schon ihre bloße Anzahl ein Umdenken herausfordern musste (zu „shower“ u. zu ‚kleinen Mutationen’, vgl. Carlson 1974: 37, 88 u. 91; zu Drosophila als „first true breeder reactor” u. der Schwierigkeit, die Varianten experimentell zu kontrollieren, vgl. Kohler 1994: 47 u. 73). 113 Muller 1962a: 221 bzw. ähnlich schon 1921 auf einen „symposium on variation“ in Toronto: Muller 1962c: 177; vgl. auch Carlson 1966: 86-88. Muller begann im späten zweiten Jahrzehnt des 20. Jh. bereits damit, Mutationsraten bei Drosophila zu bestimmen (unter anderen zusammen mit Edgar Altenburg). Sein Interesse war dabei die Charakterisierung der ‚Natur’ der Gene (vgl. ebd.: 81-83). 1917 hatte er de Vries’ Mutationen als crossover interpretiert und den Weg für die Redefinition von „Mutation“ geöffnet (vgl. ebd.: 73). Die Arbeit der Drosophilagruppe führte von hier aus Anfang der dreißiger Jahre schließlich zur Regeneration der Mechanismen der Darwinischen Evolution (vgl. Carlson 1966: 89). 95 2.2.3 Der mendelgenetische Begriff von Erbkrankheit und seine subversive Wirkung: Eugenik und Klassifikation Es brauchte ungefähr ein Jahrzehnt, bis die Relevanz der Mutationen über die engeren genetischen Fragen hinaus in – bedrohlicher – Deutlichkeit wahrgenommen wurde. Zunächst waren sie vor allem ein Mittel, um die umstrittene Frage nach der ‚Natur’ der Gene zu bearbeiten.114 Anfang der zwanziger Jahre mehrten sich die Überlegungen über die Bedeutung der Mutationen bei der Artbildung.115 Damit ging die Vermutung einher, dass Mutationen nicht wie zumeist bei Drosophila nur Ausfallerscheinungen bewirkten.116 Eine methodische Frage, die mit der Fokussierung auf Mutationen einherging, war es, ob Mutationen künstlich herbeigeführt werden könnten.117 Dies war zugleich die Frage danach, ob eine „more perfect control of evolution“ möglich war.118 Dieser Anwendungsbezug, der schon Anfang der zwanziger Jahre hergestellt wurde, zielte darauf, durch die Erzeugung von Mutationen, „neues Auslesematerial für künstliche Züchtung“ in der Landwirtschaft zu erhalten.119 Diese Erwartungen wurden noch gesteigert, als Hermann Muller 1927 in Berlin auf dem Internationalen Kongress für Genetik erstmals überzeugende Daten dafür präsentieren konnte, dass Mutationen durch Röntgenstrahlen künstlich ausgelöst werden konnten.120 Es war nicht auszuschließen, dass Mutationen Gegenstand einer kontrollierten, technischen Verfügbarkeit werden würden. Wenn sie jetzt schon „nach Belieben erzeugt“ werden konnten, schwärmte Nachtsheim nach Mullers Vortrag, war vielleicht auch möglich, ihre Richtung zu bestimmen.121 „Die tiefere Erkenntnis der Mutation muss es jedenfalls erst ermöglichen, die Züchtung willkürlich zu beeinflussen.“122 Mullers Röntgenversuche lenkten die Aufmerksamkeit aber auch zurück auf die schädigende Wirkung der Mutationen, und das nicht nur, weil sein experi114 Vgl. Carlson 1966: 81. In Hinblick auf die „zu erwartenden Diskussionen“ darüber hatte Nachtsheim in seiner Übersetzung von Morgans „Die Stoffliche Grundlage...“ ein eigenes Kapitel mit einer Übersicht über die Mutationen bei Drosophila angehangen (Nachtsheim in: Morgan 1921: VI u. 235-60; Muller 1962a: 222; Baur in: Nachtsheim 1921a: 846). 116 Muller und Baur nahmen beispielsweise an, dass Mutationen, die nur geringe und geringste Effekte bewirkten, häufiger als angenommen seien und ein „wichtiges Auslesematerial für die natürliche Zuchtwahl“ darstellten (Baur nach Nachtsheim 1921a: 846; vgl. Baur 1922: 374-75; Muller 1962a: 225). – Nachtsheim fasste 1919 die Ergebnisse der Drosophilagruppe zusammen, dass Mutationen richtungslos aufträten, zweckmäßig sein könnten, aber zumeist „Verlustmutationen“, das heißt „rezessiv gegenüber der Stammform“, seien und deshalb in der „freien Natur“ wieder verschwinden würden (Nachtsheim 1919a: 150-51). Die Frage spitzte sich darauf hin zu, ob die positiven Varianten eine quantitativ merkliche Rolle spielen konnten. Im Bezug auf die Evolution von komplexen Formen, musste sich zudem die Frage stellen, ob eine bloße Akkumulation kleiner Veränderungen solche hervorbringen konnten. 117 Vgl. Nachtsheim 1920b: 32. 118 Muller 1962a (1921): 226 119 Baur 1911: 257; vgl. Baur 1932c: 17. – In Baurs Experimentalkomplex stand die Untersuchung von Mutationen am Löwenmaul, Antirrhinum majus, im Mittelpunkt. „Er hat, und das ist hier sein größtes Verdienst, mit einer Sorgfalt und Scharfsinnigkeit wie kein Botaniker vor ihm auf das plötzliche Auftreten neuer erblicher Eigenschaften geachtet, das wir Mutationen nennen, [...]“ (Renner 1935: 354). 120 Vgl. Carlson 1984: 769-70; Muller erregte „lebhaftes Aufsehen“ (Nachtsheim 1927b: 991; vgl. Muller 1927; Muller 1928). 121 Vgl. Nachtsheim 1927a: 1136. 122 Will 1927b: 687 115 96 mentelles Arrangement auf letale Mutationen zugeschnitten war. Kaum in die USA zurückgekehrt, wendete sich Muller an Radiologen mit dem Appell, Röntgenstrahlen nur in Ausnahmefällen für Diagnostik und Therapie einzusetzen.123 Die Annahme, dass Mutationen viel häufiger zu erwarten waren, als bislang beobachtet, dass sie zumeist rezessiv waren, das heißt, ihr Auftreten zunächst verborgen blieb, und der sich herausschälende schwer durchdringbare Zusammenhang zwischen Mutationen und Umwelteinflüssen wendeten die Bewertung der Mutationen ins Negative. Muller, der 1919 die ersten Überlegungen über Mutationsraten angestellt hatte,124 hatte bereits wenig später das Szenario entwickelt, dass über die Akkumulation von „lethals and other undesirable genes“ der „complete and permanent collapse of the evolutionary process“ drohe.125 Anfang der zwanziger Jahre war dies aber eher als eine abstrakte Denkmöglichkeit zu verstehen, die die Wichtigkeit der Selektion in der Evolution verdeutlichte.126 Auch Baur hatte 1922 ähnlich wie Muller in populationsgenetisch aber ausgearbeiteteren Überlegungen über die genetische Zusammensetzung von Populationen und ihre Veränderung durch Mutationen angestellt.127 Ihm ging es dabei ebenfalls noch vor allem um die Darstellung der Wirkung von Ausleseprozessen.128 Mit den Röntgenversuchen Mullers änderte sich das Ausmaß der Bedrohung und wurde die Tonlage in Deutschland zunehmend alarmistisch. Im genetischen Diskurs trat nun neben der Kombination von guten und schlechten Erbeigenschaften und ihrer Auslese in der Evolution die Gefahr, die mit der Mutation verbunden wurde. Die Konstellation aus Mutationen und Röntgenstrahlen bildete ein explosives Gemisch, das sich bald nach dem Berliner Kongress zu einer spezifisch mendelgenetischen Variante negativer Eugenik entwickelte. In Kapitel 5 wird gezeigt, wie in der Auseinandersetzung zwischen Genetik und Medizin über die Schädigungswirkung von Röntgenstrahlen die mendelgenetisch begründete Eugenik Fuß fasste. Auch Baurs Tonlage änderte sich.129 Nach dem kulturbedingten Wegfall ‚natürlicher’ Ausleseprozesse (1922) wurden die genetischen Ursachen der Variationen zum zentralen Thema Baurs Eugenik (1930).130 Dieser Wandel in Baurs Einstellung, der als irritierend empfunden 123 Vgl. Carlson 1984: 771-72. Vgl. Carlson 1966: 82-83; Muller & Altenburg 1962. 125 Muller 1962a: 227 126 Vgl. Muller 1962a: 226-27. Eugenik erwähnte Muller nur am Rande (vgl. ebd.: 222). 127 Vgl. Baur 1922: 338ff.. 128 Er warnte zwar vor der Auslese der „besten Elemente im Volk“ durch sozialökonomische Prozesse. Diese „g r o ß e Gefahr“ wäre die erste Aufgabe der Rassenhygiene; doch, den populationsgenetischen Überlegungen folgend, schritte dieser „Verfall“ der Kulturvölker nur „s e h r langsam vor sich“ (Baur 1922: 90-91). Bezüglich der Ausbreitung schädigender Mutationen entwarf Baur nur ein kurzes spekulatives Szenario über die Ausbreitung des Diabetes (vgl. ebd.: 350-51; wortgleich in der Ausgabe Baur 1930b: 375). 129 „Wir schleppen aber in unserer Kulturmenschheit schon einige Hundert mehr oder weniger unangenehmer pathologischer Erbfaktoren mit herum. [...] Vom eugenischen Standpunkt ist eine weitere Vermehrung dieser pathologischen Faktoren durchaus unerwünscht“(Baur 1930a: 131). 130 Vgl. Baur 1933a: 7-12. Außer dem Wegfall der „bestveranlagten Volksbestandteile“ (1922) drohte durch Mutationen jetzt noch die Vermehrung von „minderwertigen Typen“ (1930). Wenn Baur Anfang der zwanziger Jahre Maßnahmen der ‚negativen’ Eugenik – Verhinderung von Fortpflanzung und Sterilisierung – nicht als so dringlich angesehen hatte, so bekannte er sich 124 97 und als „politische[s] Kalkül“ interpretiert worden ist,131 erklärt sich meines Erachtens aus dem Umbruch in der mendelschen Genetik, in der mit dem Ereignis der künstlichen Erzeugung von Mutationen ein neues gegenständliches Bezugssystem entstand. Indem die Variation der Organismen nun als Ergebnis von Mutationen verstanden werden konnte, erhielt die eugenische Diskussion ein mendelgenetische Begründungsmöglichkeit, die sie eindeutig in Richtung ‚negativer’ Eugenik lenkte und – noch vor der politischen Wende 1933 – radikalisierte.132 Auf diese spezifische Wirkung der mendelschen Genetik hat Roth bereits aufmerksam gemacht.133 An dieser Stelle können Nachtsheim und die Kaninchenzüchter in Erinnerung gebracht werden; denn die Diskussion um das Rexkaninchen endete damit, dass die Mutation, die das besondere Rexfell bewirkte, als eugenisches Problem begriffen wurde. Oben wurde nachvollzogen, wie die für das Rexkaninchen typische Mutation zur „degenerativen Mutation“ wurde. Diese Pathologisierung konnte spätestens 1928 als Teil jenes durch die Genetik gestärkten und um die Mutation ergänzten Assoziationsgefüges von Vererbung und Pathologie gelesen werden. Alarmiert erläuterte Nachtsheim, es sei die Aufgaben der Rassenhygiene, „die Fortpflanzung solcher mit defekten Erbanlagen behafteter Menschen zu verhindern und auf diese Weise die schädlichen Erbanlagen auszurotten oder doch wenigstens zu vermindern“.134 Den Kaninchenzüchtern riet er gleiches Vorgehen an, wenn sie nicht „eine Rasse von Krüppeln züchten wollten“, das heißt, wenn sich nicht endlos Mutationen anhäufen sollten. „Es ist heute wirklich an der Zeit, davor zu warnen.“135 Für Nachtsheim wurden Mutationen zu einem allgemeinen Bezugspunkt der Tierzucht, insofern es darauf ankam, „schädliche Erbfaktoren aus der Zucht zu eliminieren“.136 Die Rexkaninchen gerierten zugleich zum Musterbeispiel dafür, inwiefern Mutationen als neuer Bezugspunkt der Eugenik verstanden werden mussten. Sie waren ein „gutes Beispiel, wie durch einen Mutationsschritt, d.h. die mutative Veränderung eines Erbfaktors, eine Schwächung der Konstitution in den verschiedensten Richtungen eintreten kann“.137 nun in eindeutiger Weise zu ihrer Notwendigkeit (vgl. Baur 1922: 391 bzw. Baur 1933a: 12-14). – Die Wende in der Einschätzung ‚negativ’ eugenischer Maßnahmen wird auch dadurch signalisiert, dass Baur in der Ausgabe seiner „Vererbungslehre“ die „taktische“ Bevorzugung ‚positiver’ Maßnahmen heraus ließ. Die letzten drei Abschnitte in Baur 1930b: 431 fehlen im Vergleich zu Baur 1922: 391. 131 Kröner et al. 1994: 53-55 132 Fritz Lenz stellte parallel zu den Spekulationen in der Landwirtschaft über die Möglichkeit, Röntgenstrahlen zur gerichteten Auslösung von Mutationen zu benutzen, die Überlegung an, ob sie auch ein Instrument der – ‚positiven’ – Rassenhygiene wären. Auf Grund der bisherigen Erfahrungen forderte er aber Maßnahmen gegen die Gefahr durch Röntgenstrahlen und mögliche andere Einwirkungen (Nikotin, Alkohol, Blei und andere Gifte), also ‚negative’ Maßnahmen gegen „krankhafte Erbanlagen“ (Lenz 1932: 8). Als andere Stimme aus der Genetik, vgl. Timoféeff-Ressovsky 1935a: 118. 133 Vgl. Roth 1986. – Zur veränderten Bedeutung ‚negativer’ Eugenik nach dem ersten Weltkrieg und ihrer Bevorzugung durch die Rassenhygieniker, vgl. auch Schmuhl 1987: 46. 134 Nachtsheim 1928e: 611. – Dies ist der einzige Bezug Nachtsheims vor 1933 auf die Rassenhygiene. 135 Nachtsheim 1928e: 611 136 Nachtsheim 1932d: 11 137 Nachtsheim 1934e: 101 98 Wenn hier auch nicht weiter verfolgt werden kann, wie diese mendelgenetische Neuformulierung des eugenischen Problems Eingang in den rassenhygienischen Diskurs Anfang der dreißiger Jahre gefunden hat, so zeigen doch die Beispiele, dass sie nicht in der Genetik eingeschlossen blieb. Im Gegenteil, diese Stärkung der Verbindung von Genetik und Eugenik hatte eine solche Brisanz, dass die Genetiker sich mit einem neuen gesellschaftlichen Auftrag versehen sahen, wie in Kapitel 5 gezeigt wird. Die Bedeutung der Genetik für die Rassenhygiene war so zumindest mittelbarer Art und findet ihre Entsprechung in der Feststellung, dass sich die Rassenhygiene in Deutschland in enger Anlehnung an den wissenschaftlichen Diskurs entwickelte und dass die Genetik als relevanteste Referenzwissenschaft fungierte.138 Die mit der Neuformulierung verbundene Verschiebung der Aufmerksamkeit auf repressive Maßnahmen zur Verhütung der Verbreitung von Mutationen passte sich in eine immanente Tendenz zur Eskalation der Gewalt ein, wie sie von Schmuhl für die strukturelle Veranlagung des rassenhygienischen Paradigmas ausgemacht worden ist.139 Die Radikalisierungstendenz entfaltete sich insbesondere entlang den Degenerationstheorien, nach denen eine schleichende oder rapide Erosion der genetischen Substanz zu erwarten war. Die Tendenz zur Ausweitung eugenischer Maßnahmen machte sich de facto 1933 an der Kritik zu den Regelungen des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses fest. Wie oben gezeigt wurde, erhielt die verbreitete degenerationstheoretischen Verbindung zwischen Albinismus und Pathologie eine mendeltheoretische Grundlage. Tatsächlich wurde der Albinismus mit Erlass des Gesetzes unter „Erbliche Blindheit“ subsumiert und als Sterilisierungsgrund festgeschrieben.140 In der Weise, wie sich die genetische Position gegenüber dem Sterilisationsgesetz bestimmte,141 bestimmte sich die genetische Kritik an der Ordnung der Krankheiten in der Medizin. Grundlegend dafür waren wieder die Prämissen der 138 Vgl. Schmuhl 1987: 58-59 u. 70; Weingart et al. 1992: 197. Vgl. Schmuhl 1987: 65. – Schmuhl führt den Begriff des rassenhygienischen Paradigmas (r. P.) ein, um vier historische Leitlinien in der Argumentation der Rassenhygieniker zu unterscheiden. In der Geschichte und in der Struktur des Begründungszusammenhangs der rassenhygienischen Positionen zeigt sich insbesondere der enge Austausch zwischen Rassenhygiene und der biologischen Wissenschaft. Nach Schmuhl gehört zum r. P., erstens, eine Naturlehre der Gesellschaft, die sich in Bezug auf die darwinistische Evolutions- und Selektionstheorie konstituiert, zweitens, das Primat des Selektionsprinzips, drittens, die dynamisierende Dichotomie aus Degenerationstheorien und Züchtungsutopien, und, viertens, der Antiindividualismus bzw. organizistische Sozialtheorien (vgl. Schmuhl 1987: 49 (49-70)). Schmuhl versteht seinen Begriff des Paradigmas im Sinne T. S. Kuhns (vgl. ebd.: 399). Es ist allerdings problematisch, das r. P. bloß durch seine inhaltlichen Bestandteile zu bestimmen, da Kuhns Paradigma einen Zusammenhang von Theorie und wissenschaftlicher Praxis bezeichnet. Es ist zudem fraglich, ob die Rassenhygiene in diesem Sinne einem einheitlichen Paradigma folgte, da sie wissenschaftlich in verschiedenen Praxen gründete. Die genannten „Strukturelemente“ des rassenhygienischen Denkgebäudes sind dennoch eine treffende Analyse. 140 Vgl. Gütt et al. 1934: 111. 141 Die Indikationsbestimmung für „erblich blind“ blieb zum Beispiel hinter der subversiven Wirkung der Genetik zurück. Es wurden nur Personen berücksichtigt, die erkrankten, nicht solche, die Träger des Gens waren, aber gesund blieben (vgl. Gütt et al. 1934: 109). Die Orientierung an der Erscheinung statt am untergründigen Genstatus wurde von Seiten der Genetiker kritisiert (vgl. Nachtsheim 1934h: 38; ein Beispiel für eine nicht-mendelsche Position: Lange 1934: 382. Hierzu, siehe auch 6.1.5). 139 99 Genetik: Trennung des Organismus in Geno- und Phänotyp und das Primat der Vererbung. Sie waren die Grundlage für die Einsicht, dass von der gleichen Erscheinung nicht auf die gleiche Verursachung geschlossen werden konnte. Das heißt, die Phänomenologie der Krankheiten wurde als Bezugspunkt der Systematik und Klassifikation der Krankheitserscheinungen abgesetzt. Der Genetiker Timoféeff-Ressovsky und der Mediziner Oskar Vogt, Direktor des Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung, machten zuerst darauf aufmerksam, dass eine „genaue ätiologische Forschung“ die bisherigen Krankheitseinheiten auflösen würde.142 In selbstverständlicher Weise setzten sie dabei „ätiologische Forschung“ mit Genetik gleich, erklärten „die pathologische Anatomie für inkompetent“ und disqualifizierten alle anderen Gebiete in der Medizin, die eine Verknüpfung von Ätiologie und Nosologie verfolgten.143 Mit dem Erscheinen von immer komplizierteren Beziehungen zwischen Geno- und Phänotyp in der ‚avancierten’ Genetik oder dem „höheren Mendelismus“, an dessen Spitze neben anderen Timoféeff-Ressovsky stand, bekam die genetische Ätiologie, so wie sie hier gefordert wurde, erst ihre subversive Kraft. Die experimentell erforschten verwickelten Erbeigenschaften der Tiere und Pflanzen wurden Modell für die Erwartung an das Verhalten klinischer Symptome. Die „Farbenunterschiede der Kaninchen“ etwa lehrten, stellte nun auch Fritz Lenz fest, wie Gene und Serien von Allelen sich in ihrer Wirkung verschränkten.144 Entsprechend könne in der Medizin erwartet werden, dass es einheitliche Heredodegenerationen nicht gäbe, sondern die Symptomkombinationen von einfachen Krankheiten und Syndromen mal durch die Wirkung eines Gens, mal durch die Kombination oder die Überschneidung mehrerer Gene zustande kommen könnte. Die „mit Willkür“, das heißt nur nach klinischen Symptomen getroffenen „naturwidrigen“ Gruppeneinteilungen, verdeckten die eigentliche – genetische – Ordnung, denn im „Lichte der genetischen Forschung lösten sich diese Gruppen, so Lenz, in zahlreiche spezifische Biotypen auf“.145 Die entscheidende methodische Konsequenz aus diesen Feststellungen war, dass nicht mehr von Krankheitsbildern her gedacht werde konnte. Beides, die Erbanlagen und die Erscheinungen, die bis dahin das Feste oder Selbstevidente der genetischen Analyse waren, konnten nicht der selbstverständliche Ausgangspunkt des experimentellen Zugangs sein. Klassifikation und ätiologische Analyse mussten ‚in Kommunikation’ treten und sich im Hin- und Herwandern nähern. In Vogts und Timoféeff-Ressovskys Entwurf wurde die Klinik dabei zur Hilfswissenschaft der Genetik.146 142 Timoféeff-Ressovsky & Vogt 1926: 1188; vgl. auch Vogt & Vogt 1930: 574. – Zum Verständnis von Ätiologie und Pathologie bei Vogt, vgl. auch Laubichler 1999: 14-15. Zur Verknüpfung mit der Genetik, vgl. Satzinger 1998: 285 u. 291-95. 143 Timoféeff-Ressovsky & Vogt 1926: 1188. Sie machten aber auch darauf aufmerksam, dass eine genaue phänotypische Klassifikation von Krankheiten dennoch die Arbeitsgrundlage für die erfolgreiche Analyse komplexer genetischer Verhältnisse sei (vgl. ebd.: 1189). 144 Lenz 1934a: 251 145 Lenz 1934a: 251 146 Die erbbiologische Untersuchung konnte nicht mehr von großen Krankheitseinheiten ausgehen, sondern musste sich den spezifischen Besonderheiten und ihrer Kombination in neuen Krankheitsfamilien zuwenden. Die ‚Restsymptomatik’, die bislang bei der Zusammenfassung verschiedenster klinischer Bilder nach einem Hauptmerkmal als akzidentiell missachtet worden waren, wurde umgekehrt aufgewertet. „In analoger Weise hat Klinik und pathologische Anato- 100 Für diesen Entwurf waren zweifellos die jüngsten Trends in der Genetik leitend, denn mehr und mehr schien die enge Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Forschungsgebieten wie Genetik, Entwicklungsphysiologie, Biogeographie und Feinsystematik erforderlich zu sein.147 Die Genetik stellte außerdem die Konzepte zur Verfügung, nach denen das Wirkungsverhältnis zwischen Genen und Symptomen auch dann noch, wenn es sich nicht als einfacher Determinismus darstellte, in genetischen Begriffen verstanden werden konnte. Dadurch erklärte sich die Schwierigkeiten bisheriger Nosologie oder Syndromologie, hinreichende oder notwendige Krankheitszeichen zu bestimmen. Das Konzept der Reaktionsbereitschaft erklärte die Variabilität der Symptomkombination und zugleich die Intransparenz der genetischen Bedingung.148 Es ist aber entscheidend festzuhalten, dass das dynamisierte Genwirkungskonzept, das jener Subversion des medizinischen Krankheitsverständnisses zu Grunde lag, in der Regel das Primat der Vererbung nicht anzweifeln ließ, sondern den Anspruch der Genetik ausdehnte.149 Die umwälzende Wirkung, die von der Genetik auf mie in erster Linie [...] möglichst alle klinischen und pathologisch-anatomischen Merkmale des Einzelfalls aufzudecken und durch Zusammenstellung gleicher Kombinationen die ätiologische Klassifikation anzubahnen“ (Timoféeff-Ressovsky & Vogt 1926: 1190; vgl. auch Timoféeff-Ressovsky 1935a: 118). Th. H. Morgan hatte schon früher diese voraussetzungsreichen Verhältnisse der Anwendung der Genetik auf die Pathologie thematisiert und wegen der leichten Fehlinterpretationen sich gegen eine verfrühte Anwendung gewandt (vgl. Morgan 1922: 33). 147 Vgl. Kühn 1934: 227. 148 Vgl. Timoféeff-Ressovsky & Vogt 1926: 1189; zur gegenseitigen Voraussetzung von Klassifikation und Genetik der variablen Erscheinungen, vgl. Timoféeff-Ressovsky 1935b: 113-14. 149 „Keine Eigenschaft kann durch Einwirkung äußerer Einflüsse aus einer Persönlichkeit auf reaktiven Wege herausgeholt werden, die nicht irgendwie in der erbgegebenen Reaktionsnorm liegt“ (o. D. [ca. 1930-33], Kühn: Hauptaufgaben der Lebensforschung, hands. Mans., in: AMPG, Abt. III, Rep. 5, Nr. 15). 101 die Medizin ausging,150 war die einer historisch situierten Genetik unter dem Primat der Vererbung.151 150 Dieser ab Ende der zwanziger Jahre in der deutschen Genetik entwickelte Anspruch konnte wohl nicht unmittelbar in die Medizin übertragen werden. Zum Teil war die Skepsis und die Verankerung alternativer ätiologischer Konzeptionen außerordentlich stark, wie beispielsweise in der Krebsforschung (vgl. unter anderem 26.9.1934, Kolle [Gutachten zu Forschungsantrag von K.-H. Bauer]; 19.2.1935, G. Klein an DFG, in: BA B, R 73, 10179). In der Psychiatrie wiederum, in die vererbungswissenschaftliche Problemstellung besonders verbreitet war, konnte eine solche Programmatik einer „primär genetisch gesehenen klinischen Ordnung“ am ehesten fruchten (Panse 1939: 108; vgl. Claussen 1939: 22; Roggenbau 1939: 170). 151 Die Stoßrichtung, die die Genetik entfaltete, sobald sie auf die Pathologie angewandt wurde, setzte sich aber über die Entwicklung der Molekularbiologie und -genetik bis heute fort und erhielt erst mit der Genomforschung eine neue aggressive Gestalt. (vgl. Kitcher 1982: 356; Harris & Schaffner 1992: 127; Strasser & Fantini 1998: 209-10; zu Genetik als Grundlagenwissenschaft der Medizin, vgl. Vogel 1990; Vogel 1998). 102 3 Genetik und Medizin – Maus, Meerschweinchen und Kaninchen als „standardisierte Reagenzien” (A. Kühn) Das Institut für Vererbungsforschung bietet sich an, um eine weitere Fährte auf der Suche nach Verknüpfungspunkten zwischen Genetik und Medizin in der Weimarer Republik aufnehmen. Anfang der zwanziger Jahre wurde auf dem Dahlemer Gelände mit der systematischen Züchtung von Versuchstieren für medizinische Experimente begonnen. Es blieb aber nicht bei dabei. Vertreter der Medizin und der Genetik pflegten zum Zweck der Organisation der Versuchstierzucht einen intensiven kooperativen Austausch. Die Zusammenarbeit in den praktischen Fragen der Einrichtung und Organisation der Versuchstierzuchtanlagen schuf Raum und Anreiz, Genetisches und Pathologisches miteinander zu verbinden. Die These ist, dass die Versuchstierzuchten, die von der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft betrieben wurden, unintendiert die Entwicklung der vergleichenden Erbpathologie förderten. Die Einbindung genetischer Methoden in die ‚Werkzeugherstellung’ für die experimentelle Medizin – Zucht von Versuchstieren bestimmter Art – schuf umgekehrt die Voraussetzung, in der Medizin genetische Fragestellungen aufzuwerfen. Das Bedingungsgefüge für dieses Auftauchen der „erblichen Konstitution“ soll genauer beleuchtet werden. Die Verbindung von Genetik und Medizin im Umfeld der Zucht von Versuchstieren ist in der Literatur, die sich in den letzten Jahren mit der Organisation von Versuchstierzuchten in den USA beschäftigt hat, am Rande angesprochen worden. Der Säugetiergenetiker Clarence C. Little und seine Mitarbeiter untersuchten die Empfänglichkeit verschiedener Mausstämme gegenüber transplantierten Tumorgewebe. Die Genetiker konnten allerdings nur begrenztes Interesse der Mediziner wecken.1 Am Weimarer Beispiel fällt dagegen auf, dass die Initiative zur Einrichtung spezieller – genetisch geleiteter – Versuchstierzuchten maßgeblich von medizinischer Seite ausging. Beim Interesse an den Nagetieren der Genetik ging es um mehr als bloß die organisierte Vermehrung von Versuchstieren. Das medizinische Interesse an von Genetikern geleiteten Zuchtanlagen muss im Zusammenhang der Experimentalisierung des Lebens in den biomedizinischen Wissenschaften gesehen 1 Vgl. Löwy & Gaudillière 1998: 216. – Das von Little geleitete Jackson Memorial Laboratory vertrieb seit Mitte der dreißiger Jahren große Mengen an Mäusen; doch wurden diese vor allem in medizinischen Forschungszusammenhängen benutzt, die keine genetische Fragestellung verfolgten (vgl. ebd.: 179). Deutlicher indes ist das Bemühen der genetischen Wissenschaftler, eine Verknüpfung der genetischen und medizinischen Forschung zu erreichen. Der philanthropische Gründungsgedanke sah vor, „man’s knowledge of himself“ durch die experimentelle Erforschung von genetisch kontrollierten Tieren zu erweitern und Forschung zu weit verbreiteten Krankheiten des Menschen zu unternehmen (Rader 1995: 115 u. 120). In der Motivation muss allerdings die intendierte planmäßige Zusammenarbeit mit medizinischen Instituten unterschieden werden von bloßer rhetorischer Anknüpfung an die Medizin, um Forschungsressourcen zu mobilisieren, oder von einer eugenischen Motivation (vgl. ebd.: 115-16 u. 151-56; Gaudillière 1999: 94-98). – Clause untersucht das Wistar Institute for Anatomy and Biology (Pennsylvania), nicht aber, in wieweit durch den planmäßigen Vertrieb von Ratten eine Verknüpfung von Genetik und Medizin auch im Experiment hergestellt werden konnte (vgl. Clause 1993). 103 werden.2 Als Standardisierung kann die Einpassung des lebenden Bestandteils des Experiments in den Versuchsaufbau gefasst werden:3 Im Zuge der zunehmend verfeinerten Anwendung der experimentellen Methode auf das Leben geriet das Leben selbst unter die Regeln und Zwänge des (gelungenen) Experiments.4 Ein wachsendes Interesse von Seiten der Medizin an Methoden und experimentellen Systemen der Biologie zeigt sich exemplarisch, so meine ich, im Deutschland der zwanziger Jahre in der gesteigerten Nachfrage medizinischer Institute nach „rein gezüchteten Stämmen“ für medizinische Experimente. Dieses Interesse schloss sich nicht selten an konkrete Probleme im medizinischen Versuchsgeschehen an. Im Zentrum der Aktivitäten um die Organisation der Versuchstierzucht standen zwei Institute: das Frankfurter Staatsinstitut für experimentelle Therapie unter dem Serologen Friedrich Kolle und Alfred Kühns Institut für Zoologie in Göttingen. Die Geschichte um die Versuchstierzuchten ist für das Verständnis disziplinärer Interaktion von Interesse, da sich über den eigentlichen Zweck der genetisch-medizinischen Zusammenarbeit hinaus eine produktive Vernetzung von vererbungswissenschaftlicher Methodik, medizinischem Problem und genetischem Lösungsansatz ergab. Zugespitzt könnte man sagen, dass einerseits über die Verwendung genetischer Inzuchtstämme im Arrangement der medizinischen Versuche eine Genetifizierung der medizinischen Frage- und Problemstellungen unterstützt wurde. Die Zusammenarbeit mit den Medizinern eröffnete andererseits der Genetik einen neuen Gegenstandsraum: pathologische Eigenschaften und Merkmale. In welcher Weise dies geschah, das ist die zentrale Frage dieses und des nächsten Kapitels. 3.1 Eine Versuchstierzuchtanlage in Dahlem aus der Not heraus und Pläne der Notgemeinschaft zur „Massenaufzucht reiner Stämme im Grossen“ „Gerade in dieser Verbindung von Vererbungsforschung und Versuchstierzucht hatte die Eigenart der Dahlemer Anlage gelegen, die einerseits der Forschung die Möglichkeit bot, an einem vielseitigen und reichen Tiermaterial vererbungswissenschaftlich zu arbeiten, andererseits die für die Weiterführung dieser Versuche nicht benötigten 5 Jungtiere den Instituten für experimentelle Forschung zur Verfügung zustellen.” Als Anfang der zwanziger Jahre die Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft in der Organisation der Versuchstierzucht erste Schritte unternahm, um die Bedürfnisse medizinischer Institute zu decken, war das Experiment am Tier auch in der Biologie nichts Neues mehr. Seit Ende des 19. Jahrhunderts wuchs die experimentelle Zoologie schnell und differenzierte sich in verschiedene Disziplinen. Das Experiment im Labor begann, naturgeschichtliche Untersuchungen oder vergleichende Anatomie zu verdrängen.6 Die verschiedenen Spezies, 2 Die organisierte Versuchstierzucht steht am Anfang der Entwicklung von Forschungstechnologien in den biologischen Wissenschaften (vgl. Gaudillière 2001b : 192). 3 Vgl. Kohler 1994: 14. 4 Vgl. Logan 2002: 330-31. 5 26.1.1924, Schmidt-Ott an PML (GStAP, I. HA, Rep. 87B, 20282: Bl. 66-67) 6 Vgl. Logan 2002: 332. 104 die vom Feld ins Labor transferiert wurden, hatten indes ihre jeweiligen Vorund Nachteile für die Zwecke eines Versuchs.7 So tauchte in der Suche nach passenden Organismen für seine spezielle experimentelle Fragestellung die berühmte Fruchtfliege Drosophila melanogaster in Thomas Hunt Morgans Labor auf.8 Auch Säugetiere – Mäuse, Ratten und Kaninchen – waren Objekte der experimentellen Forschungsinteressen und wurden mehr und mehr in eigenen Laborzuchten vermehrt. Das vielleicht früheste Beispiel der Einrichtung einer groß angelegten Versuchstierzucht ist das 1892 privat gestiftete Wistar Institute for Anatomy and Biology in Pennsylvania (Philadelphia).9 Ab 1906 wurden von dem Institut kommerziell Ratten für die wissenschaftliche Verwendung vertrieben. Einrichtungen wie diese entwickelten sich zunehmend zu entscheidenden Durchgangs- und Katalysationspunkten für die Vermittlung speziell produzierter Versuchstierstämme und ihre Monopolisierung in der medizinischen Forschungsgemeinschaft, wie Karin Rader es für das Jackson Memorial Laboratory und die Krebsforschung in den USA beschrieben hat.10 In Deutschland war von Anfang die Organisation der Versuchstierzucht auf eine gewisse Zentralität hin angelegt. Die vorbildliche Rolle der Entwicklungen in Amerika wurde durch finanzielle und forschungsplanerische Aspekte umgeformt. Dies wird deutlich, wenn man Baurs und Nachtsheims Aktivitäten zur Einrichtung zentraler Anstalten zur Versuchstierzucht folgt und in die Gremien der Notgemeinschaft gelangt. Der Blick des Betrachters fällt nun auf einen regsamen Betrieb: Forscher, Wissenschaftsorganisatoren, Administratoren und Gefängnisdirektoren beschäftigen sich in Denkschriften, Sitzungen und Verhandlungen mit Kleintieren, die in medizinischen Versuchen verbraucht werden sollen. Nicht Technik oder kostenaufwendige apparative Neuentwicklungen waren Gegenstand der eigens eingesetzten Kommission der Notgemeinschaft, sondern Kaninchen, Meerschweinchen, Mäuse und Ratten. Was genau, so möchte man fragen, machte die Nagetiere, die sich nahezu problemlos in jedem einfachen Stall vermehren lassen, für einen derart aufwendigen Verhandlungs- und Mobilisierungsapparat interessant? 3.1.1 Versuchstiere in den Laboratorien Schon bald nach ihrer Gründung 1920, die vor allem auf technische Anwendungen abgezielt hatte, entdeckte die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft die „Volksgesundheit” als ein Thema von besonderer Wichtigkeit für ihre Forschungsförderung.11 Das Thema wurde gleich umfassend angegangen: Vitamine, die boomende Serologie, Kinderkrankheiten und „Volksseuchen” – allen voran Syphilis, Krebs, Tuberkulose –, Gewerbekrankheiten, Kropfkrankheiten, Diabetes, das Herz als der „Motor des Körpers“, pharmakologische Forschung, die sich diversifizierende Physiologie, Gefahren in der Schwanger- 7 Vgl. Kohler 1993: 286. Vgl. Kohler 1994: 37-46; vgl. Kohler 1993. 9 Vgl. Clause 1993; zum Wistar-Institut, vgl. auch Logan 2001. 10 Vgl. Rader 1995: Kapitel 5. siehe auch Rader 1999. 11 Kirchhoff 1999: 21 u. 78 8 105 schaft einschließlich Alkohol und die soziale Hygiene wurden zu forschungspolitischen Schwerpunkten.12 Vorausgegangen war eine radikale und entscheidende Umstrukturierung in der Arbeitsweise der Wissenschaftsorganisation. Unter anderem entstanden Sonderkommissionen zur Koordination von „Gemeinschaftsarbeiten”. Diese Gremien waren, anders als die bisherigen Fachkommissionen, gemischt besetzt. So tauchten in einer von Medizinern dominierten Sonderkommission zur Einrichtung von Zuchtanstalten für Kleintiere gegen Ende der zwanziger Jahre die Vererbungswissenschaftler Alfred Kühn und Erwin Baur auf. Auch andere Kommissionen, die sich mit – bislang der Medizin zugeschriebenen – Themen befassten, unterhielten Verbindungen zu Genetikern wie Hans Nachtsheim, Hans Stubbe und Paula Hertwig. Die Beschaffung mit Versuchstieren wurde in den späten zwanziger Jahren zu einem wichtigen Thema in der Wissenschaftsförderung. Als Anfang 1928 in jener mit Medizinern und Vererbungsforschern besetzten Sonderkommission der Notgemeinschaft über die Einrichtung von Zuchtanstalten für Kleintiere gesprochen wurde, war die Thematik nichts Neues. Der Verbrauch von Versuchstieren war aber ein spürbarer Posten im Finanzhaushalt der experimentell arbeitenden Institute und Labore geworden. Oft hatte man bislang den Bedarf an Versuchstieren über eigene kleine Zuchten gedeckt. Doch der Verbrauch von Versuchstieren den Experimenten wurde immer größer. Die Anforderungen an Qualität und Quantität der Experimente stiegen. Umfangreicheres Zahlenmaterial wurde benötigt, dessen materielle Grundlage die einzelnen Tiere in langen Versuchsserien waren.13 Die Zucht von Versuchstieren im Keller oder Schuppen der Laboratorien war zunächst die einfachste und kostengünstigste Variante. Der steigende Bedarf erschöpfte aber schnell die Institutskapazitäten. Die Wissenschaftler verließen deshalb ihre Laboratorien und kauften bei privaten Züchtern Tiere auf, um sie als Versuchstiere zu verwenden. Es etablierten sich Versorgungsnetze für den wissenschaftlichen Tierverbrauch, in die Züchter von Kleintieren eingebunden waren. Diese Kleintierzüchter waren entweder Hobbyisten, die nur wenige Tiere an die Institute verkauften, sie besaßen eine große Zucht im Rahmen eines landwirtschaftlichen Betriebs oder einer Pelzfarm oder hatten sich auf den Laborbedarf spezialisiert. „Die Beschaffung von Kleintieren zu Versuchszwecken“, so erzählt Hans Nachtsheim, „war vor dem Kriege nicht schwierig. Abgesehen davon, dass man die Tiere direkt vom Züchter beziehen konnte, gab es auch genug Händler, welche sich die Versorgung der wissenschaftlichen Institute mit dem notwendigen Tiermaterial zur besonderen Aufgabe gemacht hatten und Kaninchen, Meerschweinchen, Mäuse und Ratten in jeder gewünschten Zahl beschafften. Dies ist in der Kriegs- und vor allem Nachkriegszeit anders geworden. Die Zahl der Liebhaber, welche Meerschweinchen, Ratten und Mäuse züchteten, ging mehr und mehr zurück. Es machte zu viele Schwierigkeiten, das Futter für die Tiere zu beschaffen, und wenn man im eigenen Haushalt Abfälle hatte, so zog man es vor, Kaninchen zu züchten, die wenigstens ein 12 13 Anonymus 1928c: 102ff. Vgl. Allen 1998: 41. 106 verwertbares Fell und Fleisch für die Küche lieferten. [... F]ür die wissenschaftlichen Institute wurde die Beschaffung einer hinreichenden Menge von Versuchstieren zu einem ernsten Problem.“14 Die Institute und Labore sahen sich in eine Ökonomie des Kleintierhandels eingebunden. Bei steigender Nachfrage konnten die Tierzüchter mit Preisforderungen empfindlich das Budget der Institute treffen. So verwundert es nicht, dass sich die Wissenschaftler gerade in wirtschaftlichen Krisenzeiten um eine Absicherung ihrer Betriebe zu bemühen begannen. Wie auch Unabhängigkeit der nationalen Wirtschaft zum eigenen Wert in den Weimarer Jahren stilisiert wurde und sich zu einem durchschlagenden politischen Argument auswuchs, so wurde im Kleinen die Autarkie des wissenschaftlichen Betriebs zu einem wichtigen Ziel. In unwirschem Ton wendete sich ein betroffener Forscher an den Präsidenten der Notgemeinschaft: „Es ist aber überhaupt in hohem Masse erwünscht, dass eine Stelle zur Tierzucht besteht, deren Preise gewissermaßen behördlich festgesetzt werden und dadurch unmäßigen Preissteigerungen seitens der Tierhändler vorgebeugt wird.”15 Schon Anfang der zwanziger Jahre hatte es deshalb in der Notgemeinschaft erste Unternehmungen gegeben, die Bedarfsstillung an Versuchstieren auf kalkulierbare Beine zu stellen. Es wurden eigene Kleintierzuchtsanstalten eingerichtet, „um die Institute nach Möglichkeit von Händlern und Züchtern unabhängig zu machen“.16 Kleintierzuchtanlagen für Kaninchen und Meerschweinchen wurden 1922 am Tierzuchtinstitut der Landwirtschaftlichen Hochschule in Hohenheim und in der Strafanstalt Sonnenburg bei Küstrin/Oder eingerichtet. Die gezüchteten Tiere wurden zum Selbstkostenpreis an die Forscher abgegeben. Auch am Baurschen Vererbungsinstitut wurde ein solches Zentrum für Kleintierzucht geschaffen. 3.1.2 Die Zuchtanlage in Dahlem Die Initiative zur Einrichtung der Zuchtanlage in Dahlem war von Baur selbst ausgegangen. Später waren es Wissenschaftler aus der Medizin, die sich aus einer noch genauer zu betrachtenden Motivation über die Notgemeinschaft an die Vererbungsforscher wandten. Baurs Initiative hatte einen handfesten pragmatischen Hintergrund. In den Augen Baurs litt die Vererbungsforschung in Deutschland unter chronischer Unterfinanzierung.17 Sein Lehrstuhl und Institut sei gegenüber Dutzenden in den USA die einzige derartige Einrichtung in Deutschland.18 Zudem hätte er, klagte Baur, seit seiner Berufung an die Berliner Landwirtschaftliche Hochschule seine wissenschaftliche Arbeit „mit den denkbar kümmerlichsten Mitteln“ durchführen müssen.19 Das Institut für Vererbungsforschung hatte seinen Sitz in der Invalidenstraße in Berlin, seine Forschungseinrichtungen, also die Versuchsfelder und -ställe, 14 Nachtsheim 1928h: 301 29.6.1931, Hahn an Präsidenten der Notgemeinschaft (BA Ko, R 73, 159) 16 Nachtsheim 1928h: 301 17 Vgl. 12.2.1913, Baur, Botanisches Institut der Kgl. LHB, an Staatsminister v. Schorlemer (GStA, I. HA, Rep. 87B, 20058: Bl. 9-11). 18 Bisher kaum beachtet, gab es aber noch das vererbungswissenschaftliche Institut von Carl Kronacher an der Tierärztlichen Hochschule, Hannover. Siehe 6.1.1, Seite 260. 19 8.11.1914, Baur an Rector der Kgl. LHB (GStA, I. HA, Rep. 87B, 20058: Bl. 37) 15 107 waren aber in provisorischen Anlagen in Potsdam untergebracht. Das Preußische Landwirtschaftsministerium hatte schließlich in umfangreiche Neubauten auf der grünen Wiese in Berlin-Dahlem eingewilligt. Es sollten neben Institutsgebäuden auch Kaninchen-, Ratten- und Mäusestallungen entstehen, deren Kosten auf 5,6 Millionen RM beziffert wurden. Die 1919 aufgenommenen Bauarbeiten kamen aber immer wieder wegen Finanzierungsfragen ins Stocken. Auf Grund des zögerlichen Umzugs nach Dahlem kamen die wissenschaftlichen Arbeiten im Frühjahr 1922 fast zum Erliegen, worauf Baur Planung und Durchführung der letzten Arbeiten in eigener Regie durchführte.20 Die Stallbauten wurden zum einen behelfsmäßiger ausgeführt. Zum anderen verfolgten Baur und sein Abteilungsleiter Nachtsheim seit 1921 einen kreativen Plan zur finanziellen Konsolidierung des Instituts. Ende des Jahres unterbreitete der zermürbte Baur dem Landwirtschaftsministerium einen Vorschlag. Ihm erscheine es „angezeigt, die Bedürfnisse des Instituts mit denen der medizinischen Institute zu verbinden”.21 Die Verbindung der Interessen aus Medizin und landwirtschaftlicher Tierzucht stellte sich Baur in nichts anderem vor als in dem Bau einer schönen Tierzuchtanlage in seinem Institut. In dieser Anlage sollte kommerziell die Zucht von Versuchstieren betrieben werden und ihr Verkauf an medizinische Institute die Kosten der Versuche decken, die „für die praktische Tierzucht von der grössten Wichtigkeit sind”.22 Als Abnehmer dachte Baur an das Institut für Infektionskrankheiten „Robert Koch”, die tierärztlichen Hochschulen in Hannover und in Berlin und an das Institut für experimentelle Therapie in Frankfurt. Dort bestände allein ein Bedarf an 20.000 Kaninchen jährlich.23 Bei der Notgemeinschaft traf Baurs Akquisitionstätigkeit auf offene Ohren. Sie erklärte sich bereit, die Kosten für die anzuschaffenden Käfige und Ställe zu übernehmen, das Risiko für Seuchen und andere Unglücksfälle zu tragen und verpflichtete sich, die erzeugten Tiere zum Selbstkostenpreis abzunehmen. Baurs Vorteil lag über den Bau der Anlage hinaus darin, ihren Betrieb durch eine intelligente Doppelnutzung der Tiere für das Institut fruchtbar machen zu können: einmal durch ihren Verkauf als Versuchstiere und zum anderen als Versuchskaninchen für die Forschung am Institut. Die Bauarbeiten der Ställe wurden nun zügig abgeschlossen. Im September 1922 war das Potsdamer Gelände endgültig geräumt. Nachdem die Pflanzenzuchten bereits sukzessive nach Dahlem verlagert worden waren, konnte nun endlich auch der Forschungsbetrieb der zoologischen Abteilung aufgenommen werden. Baur hatte so dem umworbenen Privatdozenten Nachtsheim aus München eine formidable Ausgangsbasis für seine Vererbungsexperimente organisiert. 20 Vgl. o.D., Niederschrift über die Besprechung am 18.5.1922 im PML betreffend die Neubauten in Dahlem (GStA, I. HA, Rep. 87B, 20281: Bl. 224-258). 21 14.12.1921, Baur an PML (GStA, I. HA, Rep. 87B, 20281) 22 o.D., Niederschrift über die Besprechung am 18. 5. 1922 im PML (GStA, I. HA, Rep. 87B, 20281: Bl. 223) 23 Vgl. o.D., Niederschrift über die Besprechung am 18. 5. 1922 im PML (GStA, I. HA, Rep. 87B, 20281: Bl. 223). Baur errechnete Einnahmen durch den anvisierten Verkauf von 4.000 Versuchskaninchen, 100 Zuchttieren, 5.000 Ratten, 5.000 Mäusen in Höhe von 255.000 RM, denen ein Bedarf des Instituts von 217.250 RM gegenüber stand (vgl. 19.5.1922, Baur an PML, in: ebd.: Bl. 218). 108 Der planmäßige Zuchtbetrieb in Dahlem begann also unter einem guten Stern; doch eine große Zukunft sollte ihm nicht beschert sein. Die anlaufende Zucht und Etablierung von Zuchttieren konnte die laufenden Kosten nicht decken. „Der ganze Zuchtbetrieb lebt heute von der Hand in den Mund.”24 Vom Landwirtschaftsministerium war nichts zu erwarten, zumal dort auf Grund allgemeiner Finanzknappheit über eine Reduzierung des Institutpersonals nachgedacht wurde, obwohl nicht einmal das Plansoll erreicht worden war.25 Anfang 1924 brach Baur resigniert das Projekt ab. Mit der ihm eigenen Art zur tragischen Inszenierung gab er seinen Entschluss bekannt, alle Versuchstiere zu verkaufen, allmählich alle Versuche einzustellen und alle Mitarbeiter zu entlassen. Seit 1911 arbeite er unter „den elendsten kümmerlichen Bedingungen”, ein Provisorium habe das andere abgelöst, und jedes Mal sei ihm die wissenschaftliche Arbeit von Jahren vernichtet worden.26 Baur wäre aber nicht Baur, wenn er sich von den preußischen Kultusbeamten hätte erledigen lassen. Die Notgemeinschaft übernahm nun die Zuchtanlage als ihre volle Nutznießerin. Nur die Hilfskräfte blieben in der Bezahlung des Preußischen Ministeriums. Nachtsheim wurde mit der selbstständigen Leitung der Anlage betraut.27 Zwei Jahre später, im Frühjahr 1926, konnte der Verkauf von 184 Mäusen, 1.151 Ratten, 198 Kaninchen, 3 Schweinen, 13 Ferkeln, 3 Ziegen, 125 Hühnern – sowie 199 Eiern und 5 Zierfischen berichtet werden.28 Der doppelgenutzte Zuchtbetrieb schien somit etabliert: Versuchstierverkauf einerseits und Versuchstierverbrauch in eigener Sache andererseits. Kaninchen und Schweine wurden in Versuchen Nachtsheims, Hühner, Mäuse und Ratten von Paula Hertwig verwendet. 3.1.3 Die Initiative Wilhelm Kolles und die Gemeinschaftsarbeiten der Notgemeinschaft Die Ergebnisse der Zuchtaktivität in Dahlem waren weit von dem entfernt, was große Zuchtanstalten in Amerika leisteten. Diese hatte man allerdings vor Augen, als 1928 in der Notgemeinschaft eine initiierende Besprechung zur zentralen Koordination der Versuchstierzuchten stattfand. Aufmerksam war bis dahin in der Notgemeinschaft das Problem der Versuchstierzuchten verfolgt worden. Ihr Präsident, Friedrich Schmidt-Ott, hatte sich, als Baur drohte, seine Kleintierzuchtanstalt zu schließen, appellierend an das preußische Landwirtschaftsministerium gewandt, da er die Dahlemer Anlage erst am Anfang ihrer eigentlichen Aufgabe sah, die unter Tiermangel leidenden wissenschaftlichen Institute Preußens zu entlasten.29 Um dem Ziel der Versorgung der deutschen Wissenschaft mit Versuchstieren näher zu kommen, bedurfte es aber einer effektiven 24 20.12.1923, Baur an das PML (GStA, I. HA, Rep. 87B, 20282: Bl. 64) 18.12.1923, Baur an das PML (GStA, I. HA, Rep. 87B, 20282: Bl. 64) 26 Vgl. 16.1.1924, Baur an das PML (GStA, I. HA, Rep. 87B, 20282: Bl. 70-71). 27 Vgl. 2.2.1924, Baur an das PML (GStA, I. HA, Rep. 87B, 20282: Bl. 72). 28 Vgl. 10.3.1926, Baur an das PML (GStA, I. HA, Rep. 87B, 20282: Bl. 330). – Im Herbst 1923 wurden die ersten Tiere verkauft: 34 Mäuse, 29 Ratten, 11 Meerschweinchen und 57 Kaninchen auf einer Zuchtgrundlage von 390 Mäuse, 160 Ratten, 100 Meerschweinchen, 300 Kaninchen (vgl. 20.12.1923, Baur an das PML, in: GStA, I. HA, Rep. 87B, 20282: Bl. 64). 29 Vgl. 26.1.1924, Schmidt-Ott an PML (GStA, I. HA, Rep. 87B, 20282: Bl. 66-67). 25 109 Struktur der Wissenschaftsplanung und vor allem der Einbindung der Wissenschaftler selbst.30 Die unmittelbare Initiative zur Einrichtung zentraler Versuchstierzuchtanlagen war von Wilhelm Kolle ausgegangen, Direktor am Staatlichen Institut für experimentelle Therapie in Frankfurt. Begeistert war er von der Besichtigung der privaten Zuchtanstalt Burrogh von Welcome & Co. in Detroit, in der jährlich 30- bis 40.000 Meerschweinchen gezüchtet wurden, zurückgekehrt. So inspiriert schlug er 2 bis 3 zentrale und gut ausgestattete Institute im Deutschen Reich vor, die die Zucht von Versuchstieren übernehmen sollten.31 Der Präsident der Notgemeinschaft machte sich in gewohnt autokratischer Weise die Angelegenheit zum eigenen Anliegen.32 Der schon existierende so genannte Tier-Beschaffungsausschuss, bestehend aus einem Sachbearbeiter der Notgemeinschaft und zwei beratenden Medizinern, wurde um ein Beratungsgremium für die „Gemeinschaftsarbeit zur Versuchstierzucht“ erweitert – oder, wie es später hieß, die „Gemeinschaftsarbeit zum Zweck der Züchtung von Versuchstieren mit besonderen konstitutionellen Merkmalen“ –, an dem auch Reichsministerium des Inneren und Reichsgesundheitsamt beteiligt wurden.33 In einer Reihe von Denkschriften äußerten Mediziner den dringenden Bedarf nach Anstalten zur Tierreinzucht. Der Berliner Hygieniker Martin Hahn erklärte vornweg, dass „die gesamte medizinische Forschung an Tierversuchen, die mit reinen Linien ausgeführt werden, ein außerordentliches Interesse besitzt, [...]”.34 Spezielle Plädoyers erläuterten die Bedeutung solcher genetisch rein gezüchteten Tierstämme für einzelne Forschungsrichtungen: Wilhelm Kolle für die Toxizitätsbestimmung in der Chemotherapie, Fred Neufeld, Bakteriologe und Direktor des Preußischen Instituts für Infektionskrankheiten „Robert Koch“, für die Tuberkuloseforschung, der Serologe und Immunologe Hans Sachs, Direktor der wissenschaftlichen Abteilung des Heidelberger Instituts für experimentelle Krebsforschung und Mitglied des Frankfurter Instituts für experimentelle Therapie, für Serologie und Immunologie und Wilhelm Caspari, Physiologe und Leiter der Abteilung für Krebsforschung am Kolleschen Institut, schließlich für die Resistenzfrage bei Geschwulsterkrankungen, für Transplantationsexperi30 Dies ist in Zusammenhang mit der Zentralisierung der Forschung durch die Notgemeinschaft und dem Programm der Gemeinschaftsarbeiten zu sehen (siehe 4.1.3). 31 Vgl. 12.3.1928, Niederschrift der Sitzung am 12. März 1928 im Staatlichen Institut für experimentelle Therapie, Frankfurt (GStA, I. HA, Rep. 92, C58: Bl. 208-209). – Teilnehmer: Proff. Kolle, Kühn, Baur, Hetsch, Dr. Wolff (Notgemeinschaft), Prof. Schlossberger, Prof. Caspari, Dr. Albrecht. 32 Zum Führungsstil Schmidt-Otts, vgl. Hammerstein 1999: 46. 33 3.7.1928, Aktennotiz: Betr. Antrag Geh.Rat Kolle auf Errichtung von Zuchtanstalten für kleine Tiere nach bestimmten wissenschaftlichen Gesichtspunkten (GStA, I. HA, Rep. 92, C58: Bl. 197) – Zu den Beratungen in Berlin wurden eingeladen: Geh.Rat Prof. Haendel, RGA; Geh. Med.Rat Prof. Friedrich v. Müller, München, Tier-Beschaffungsausschuss; Prof. Miessner, Hygienisches Institut der tierärztlichen Hochschule, Tier-Beschaffungsausschuss; Geh.Rat Prof. Nocht, Hamburg, Inst. f. Schiffs u. Tropenkrankheiten; Prof. Martin Mayer, ebd.; Geh.Rat Prof. Neufeld, Berlin, Inst. f. Infektionskrankheiten „Robert Koch”; Geh.Rat Prof. Hahn, Berlin, Hygienisches Inst. der FWU; Geh.Rat Prof. Uhlenhuth, Freiburg, Hygienisches Inst.; Prof. Sachs, Heidelberg, Inst. f. exp. Krebsforschung; Geh.Rat Prof. Kolle, Frankfurt, Staatl. Inst. f. exp. Therapie; Prof. Caspari, ebd.; Prof. Kühn, Göttingen, Zoologisches Institut; Prof. Baur; Prof. Nachtsheim. 34 Hahn 1928: 143 110 mente in der Tumorforschung sowie die in ihren Anfängen stehende Züchtung von Tumorzellen in vitro. Nach kürzester Beratungszeit wurde im März 1928 beschlossen, kleinere Zuchtanlagen zu errichten, um zunächst mit wenigen Zuchtstämmen die ersten Erfahrungen zu gewinnen.35 An zwei Standorten, die Kolle vorgeschlagen hatte, sollten die zentralen Zuchten untergebracht sein: am Göttinger Zoologischen Institut von Alfred Kühn die Meerschweinchenzucht und am Institut für Vererbungsforschung der Landwirtschaftlichen Hochschule in Berlin Zuchten von Mäusen und Kaninchen. Die Versuchstiere sollten im Rahmen der Gemeinschaftsarbeiten der Notgemeinschaft allen Forschergruppen zu moderaten Preisen zur Verfügung stehen. Als spezielle Zuchtziele wurde beschlossen, Meerschweinchenstämme auf die Festigkeit gegenüber Infektionen, speziell Tuberkulose, und Stallseuchen zu prüfen bzw. sollte „das störende individuelle Moment“ bei der Prüfung der Salvarsane als Chemotherapeutikum mit Mäusen „ausgeschaltet“ und verschiedene Tumorstämme nach „amerikanischen Vorbild“ als ideale Objekte für krebstherapeutische und immunbiologische Versuche gezüchtet werden. Außerdem sollte bei den Kaninchen, die der Syphilisforschung in Frankfurt dienten, auf empfängliche Linien und große Hoden geachtet werden.36 Eine gewisse Spannung bestand nur in der Einschätzung, wie schnell die Zuchten ausgebaut und damit die Produktion von Zuchttieren gesteigert werden könnte. Baur plädierte für einen schnellen Ausbau, da nur die „fabrikmäßige“ Produktion von Zuchttieren den Anforderungen der Forschung gerecht werde.37 Kühn wandte ein, dass ein all zu schneller Ausbau möglicherweise unbedachte Festlegungen treffe. Die eingeschlagenen Methoden müssten sich erst im kleineren Rahmen bewähren.38 Die Zurückhaltung Kühns in dieser Frage begründete sich in der veränderten Rolle, die die neuen Zuchtanlagen in der Forschungsplanung der Notgemeinschaft spielen sollten. Die Einbeziehung der züchterischen Aktivitäten in den medizinischen Forschungskontext bedeutete eine einschneidende Umstellung der Zuchtpraxis, wie noch zu sehen sein wird. Nach der schnellen Initiierung der Gemeinschaftsarbeiten zur Versuchstierzucht stand dem groß angelegten Ausbau der Dahlemer Zuchtanlage finanziell nichts mehr im Wege. Doch nun machte das Preußische Landwirtschaftsministerium Baur endgültig einen Strich durch die Rechnung. Inzwischen stand nämlich fest, dass Baur als Direktor eines neu gegründeten Kaiser-WilhelmInstituts für Züchtungsforschung die Landwirtschaftliche Hochschule 1928 verlassen würde. Auf Ziele des Nachfolger Baurs sollte Rücksicht genommen 35 Anfang 1928 hatte Kolle seine Vorschläge in die Notgemeinschaft eingebracht (vgl. AMPG, Abt. III, Rep. 20A, Nr. 103), die medizinischen Denkschriften folgten unmittelbar und im März wurden bereits konkrete Vorhaben beschlossen. 36 12.3.1928, Niederschrift der Sitzung am 12.3.1928 im Staatl. Institut für experimentelle Therapie, Frankfurt (GStA, I. HA, Rep. 92, C58: Bl. 208-09) – Die Züchtung von Versuchsratten wurde zunächst zurückgestellt. 37 5.1.1928, Baur an RMEuL (BA B, Biologische Reichsanstalt, alt, R 168, 175). Baur verfügte schon über konkrete Erweiterungspläne, um 5.000 Kaninchen und 10.000 Mäuse nach Frankfurt liefern zu können (vgl. 14.4.1928, Baur an Schmidt-Ott, in: AMPG, Abt. III, Rep. 20A, Nr. 103). 111 werden – für Baur eine absurde Vorstellung, da „sämtliche Genetiker, die für mich überhaupt als Nachfolger in Betracht kommen, [...] ganz selbstverständlich auch die Arbeiten übernehmen und [...] in dem Bau dieser Einrichtungen eine sehr wichtige Verbesserung des Institutes erblicken” würden.39 Die Nachfolgeverhandlungen Baurs zogen sich aber hin, sodass sich die Notgemeinschaft schließlich genötigt sah, die groß angelegte Kaninchen- und Mäusezucht an anderer Stelle zu verwirklichen.40 Der Ort, auf den die Notgemeinschaft auswich, war die neu errichtete Strafanstalt Brandenburg an der Havel. Sie ersetzte verschiedene veraltete Strafanstalten, so auch das Sonnenburger Gefängnis. Per Schiff wurden 1931 die beweglichen Stallanlagen der dortigen Zuchtstation der Notgemeinschaft nach Brandenburg geschafft und der Zuchtbetrieb mit neuen Zuchttieren aufgenommen. Der Aufwand wurde als berechtigt bewertet, da die neue Anlage „die Massenaufzucht der rein gezüchteten Stämme“ mögliche mache.41 An das Gefängnis in Brandenburg war das staatliche landwirtschaftliche Gut Plauerhof angeschlossen, das mit 2.000 Morgen fast einem mittleren landwirtschaftlichen Betrieb ostelbischer Größenordnung entsprach. Beste Voraussetzungen also für groß angelegte Zuchtvorhaben. Die Leitung der Zuchten in Plauerhof wurde Alfred Kühn übertragen, dem damit jetzt die gesamten Versuchstierzuchten der Notgemeinschaft unterstanden. Schon im Herbst fragte ungeduldig Schmidt-Ott bei Kühn an, ob „jetzt mit der Massenaufzucht reiner Stämme im Grossen begonnen werden“ könnte,42 worauf Kühn ihn abgeklärt unterrichtete: „Es ist sehr wohl möglich, dass ich mit der Lieferung von Zuchttieren nach Plauerhof sofort beginne. Nach und nach werden immer mehr Stämme dort in Zucht genommen werden können, so daß die Massenaufzucht rasch in Gang kommen wird.“43 1933, nach anderthalb Jahren Betrieb, war der Grundbestand an Meerschweinchen nach seinem Neuaufbau mit Zuchttieren aus Göttingen auf 1.116 Tieren angewachsen und damit verzehnfacht worden.44 3.2 Einfach nur Tiere vermehren? Experiment, Reinzucht und Konstitution „Le lapin est un animal capricieux.“ 45 Nachdem die Entstehungsgeschichte der Versuchstierzuchten der Notgemeinschaft skizziert wurde, sollen im Folgenden anhand des Diskurses um die Not38 Vgl. 30.6.1928, Karl Stuchtey, Notgemeinschaft, Apparateausschuss, an Schmidt-Ott (GStA, I. HA, Rep. 92, C58: Bl. 198). 39 26.2.1929, Baur an PML (GStA, I. HA, Rep. 87B, 20283: Bl. 215) 40 Vgl. 26.3.1929, Notgemeinschaft an das PML (GStA, I. HA, Rep. 87B, 20283: Bl. 223-24). – Am KWI für Züchtungsforschung wurde aus finanziellen Gründen keine Tierzuchtanstalt eingerichtet. Die Säugetierforschung war, so weit ich sie überblicke, dort auf Untersuchungen an Schweinen zur Immunität gegenüber Seuchen beschränkt. 41 29.6.1931, Hahn an den Präsidenten der Notgemeinschaft (BA Ko, R 73, 159) 42 13.10.1931, Schmidt-Ott an Kühn (BA Ko, R 73, 159) 43 19.10.1931, Kühn an Schmidt-Ott (BA Ko, R 73, 159) 44 Vgl. 29.12.1933, Kühn an die Notgemeinschaft, Abschrift (BA Ko, R 73, 159). Zur weiteren Entwicklung, siehe 3.3.1. 45 Französischer Züchter zit. n. Neufeld 1928: 149. 112 wendigkeit von organisierter Versuchstierzucht und dann an Beispielen der praktischen Kooperation (3.3) die markanten Veränderung in den Erwartungen und der experimentellen Bedeutung der Versuchstierzucht von Anfang der zwanziger Jahre bis in die dreißiger Jahre hinein nachvollzogen werden. Waren die Denkschriften der Mediziner über „Tier-Reinzucht für Versuchszwecke“ bloß im finanziellen Kalkül und der Notwendigkeit vermehrter Zuchtanstrengungen begründet? Es wird zu zeigen sein, dass die Einrichtung solcher Anlagen die Konsequenz der Experimentalisierung der Versuchstiere und die Voraussetzung ihrer ‚Technisierung’ war und dass mit der Einrichtung dieser Anlagen Umstellungen in der Zuchtpraxis einhergingen. Bevor die Praxis der Versuchstierzuchten unter Kühns Leitung betrachtet wird, wird nun die sich verändernde Gestalt der Versuchstierzucht der Notgemeinschaft – beginnend mit den Sonnenburger Gefängniszuchten ab 1922, über die Zuchten Baurs und Nachtsheims bis zu den Einrichtungen, die der Kommission zur Versuchstierzucht unterstanden – verfolgt. Es wird sich ein zentraler Zusammenhang zwischen den Zielen der Mediziner und den Veränderungen in der Zuchtpraxis herausstellen. Die Verschiebungen in der Zuchtpraxis, wie sie sich bereits anhand des Diskurs um die Zuchtanlagen zwischen 1922 und 1935 festmachen lassen, werden durch die Schlagworte: „Rein-Zucht” und Zucht reiner Rassen mit „verschiedenen konstitutionellen Merkmalen” markiert. Zunächst beschränkte sich die „Zusammenlegung der Interessen“ (Baur) medizinischer Institute und der Genetik auf die Quantität der experimentellen Ressourcen. Während Inzucht und Versuchstierzucht sich bis dahin entweder ausschlossen oder in einer zufälligen Verbindung standen, wurde ihre Verbindung mit den Denkschriften der Mediziner als Mittel konzeptualisiert, erbliche Homogenität herzustellen. Versuchstierzucht war nicht mehr anders zu denken als Reinzucht bzw. als Inzucht. Die Genetik wurde damit das bestimmende Ordnungsprinzip der züchterischen Maßnahmen und der organisatorischen Gestaltung in den Versuchstieranstalten. Der experimentelle Zugang zum Leben fand in der Reinzucht und der organisierten Versuchstierzucht eine konsequente Ergänzung, mit der das experimentelle Regime der Genetik in die Medizin hineingetragen wurde. Die Biologie dieser Zeit stand unter dem Vorbild der Physik als der exakten Naturwissenschaft, und die Vererbungslehre schien diesem Ideal am nächsten zu kommen.46 Der Vorbildcharakter der experimentell-analytischen Methode der Vererbungslehre schien nun auch in der experimentellen Medizin auf fruchtbaren Boden zu fallen. Mit dem Konzept der „reinen Linien“ und den genetischen Züchtungsmethoden trat das Erbliche in die biomedizinischen Experimentalsysteme ein. Es gelangte zunächst als ungedachte ‚Natürlichkeit’ des experimentellen Objekts von der Peripherie des Experiments über die Funktion eines technischen Gegenstands in das Zentrum des Forschungsinteresses. Die Bewegung des Genetischen als möglicher wissenschaftlicher Gegenstand (epistemisches Ding) in den hybridisierenden medizinisch-genetischen Experimentalsystemen soll hier zunächst am Diskurs über die Versuchstierzucht nach verfolgt werden. Es kann 46 Vgl. Allen 1998: 41. 113 festgehalten werden, dass die Versuchstierzuchten eine unintendierte vermittelnde Dynamik zwischen Medizin und Genetik entfalteten. Thema der nachfolgenden Abschnitte ist dann, nach dem Wie dieser Vermittlung zu fragen. 3.2.1 Der experimentelle Vorteil experimentalisierter Versuchstiere Mit der Verlagerung der Versuchstierzucht in die Kontrolle der Forschergemeinschaft war nicht nur ein Bedürfnis der Forschungsinstitute nach kalkulierbarer Versorgung mit Versuchstieren verbunden. Einher damit gingen unmittelbare Vorteile für den Laborbetrieb. Mit der Gesundheit der Tiere der Kleinzüchter war es häufig nicht zum Besten gestellt, sodass sich nicht selten Epidemien in den Laborställen entwickelten. „Der Abfall an Tieren an interkurrenten Erkrankungen sowohl vor Inversuchnahme wie auch besonders während der Versuche ist häufig so groß, dass die Versuche entweder nur schwer oder auch gar nicht auswertbar sind und damit natürlich unverhältnismäßig kostspielig werden.“47 Unter der Obhut kundiger veterinärmedizinischer Betreuung konnten die für die Versuchsserien missliche Ausbreitung von Krankheiten reduziert werden. Das Augenmerk gilt hier aber einer anderen Entwicklung. Nach und nach schoben sich die technischen Bedürfnisse und Vorteile für den Laborbetrieb in den Vordergrund. Der finanzielle Vorteil, der in den Verhandlungen um die Zuchtanstalten zunächst im Vordergrund gestanden hatte, wurde schließlich sogar in sein Gegenteil verkehrt. Der Zuschnitt der Versuchstiere für die Laborpraxis wurde zur eigentlichen Herausforderung und zum Zweck der aufgewendeten Professionalität in den Zuchtanstalten. Finanziell wurden sie aber dadurch zu einem teuren wenn auch, wie die Forscher den Forschungsbürokaten deutlich zu machen verstanden, einem Vergnügen, das sich eine zeitgemäße Forschungspolitik leisten musste. Zunächst jedoch bewegten sich die unter der Leitung Wilhelm Kolles verfassten Denkschriften in einer Logik forschungspolitischer Ökonomie. Der Hinweis auf eine damit einhergehende Finanzeinsparung war all zu deutlich. Wilhelm Caspari blies für die Krebsforschung das gleiche Horn. Er hielt vor Augen, dass in Amerika bei manchen Versuchen die Zahl der Kontrolltiere mehrere tausend Stück betrüge. Auf diese Weise sollten die Fehlerquellen minimiert werden, die daraus resultieren, dass nie mit Sicherheit bestimmt werden konnte, welchen Ursprungs das vom Händler bezogene Tiermaterial war. Was in Amerika gut und schön sei, wäre eine Methode, „die natürlich für uns schon wegen der ungeheuren Kosten nicht in Betracht kommt”.48 Eine „wesentliche Verbilligung” der Versuche versprach er sich von der Züchtung und Verwendung reiner Mäusestämme. Die Einrichtung einer besonderen Zuchtanstalt für Versuchstiere war also unvermeidlich, wollte man nicht international den Anschluss verlieren. Durch eine Erhöhung der technischen Kontrolle über das „Versuchsmaterial” und die gesamte Versuchsorganisation, so die Argumentation der Gutachter, könne der Nutzen für die Menschheit und die finanzielle Effizienz der Forschung gesteigert werden. Eine frohe Botschaft an die Forschungsorganisation. 47 48 21.6.1935, Hans Reiter an Forschungsgemeinschaft (BA Ko, R 73, 12475: Seite 1 v. 3) Caspari 1928: 151; vgl. auch Kolle 1928: 148. 114 Der Wunsch, mit gleichförmigem Versuchsmaterial ausgestattet zu werden, war für die Wissenschaftler allerdings keine rein finanzielle Frage. Die Unterschiedlichkeit unter den Versuchstieren wurde als ein Hindernis für die experimentelle Praxis dargestellt und ihre Ursache in der unprofessionellen Organisation der privaten Tierzuchten ausgemacht. Versuchstierzucht in den Kleintierzüchtereien oder auch in wissenschaftlichen Instituten war bis dahin meist eine bloße Vermehrung der Tiere. Es gab keine Genealogien und keine Abstammungsnachweise. Die Physiologie des Kaninchens, die Endokrinologie der Maus oder die Pathologie des Meerschweinchens wurde untersucht. Es war gleichgültig, ob die Maus weiß, schwarz oder wildfarben war, ob ihre Ahnen einmal in Brandenburg, Bayern oder im Elbsandsteingebirge zu Hause gewesen waren oder ob das Schicksal des Mäusestamms schon über Generationen durch die Hand des Züchters bestimmt wurde. In den Denkschriften wurde nun gefordert, mit der undurchschauten Konstitution der Tiere Schluss zu machen. Aufstrebende Forschungsbereiche, die zum Teil erst auf eine jüngste Vergangenheit zurückblickten, meldeten Bedarf an: Physiologie, Bakteriologie, Serologie, Endokrinologie und chemotherapeutische Forschung. Darin manifestierte sich ein neues forscherisches Selbstbewusstsein: Medizinische Wissenschaft soll und kann als exakte Forschung stattfinden.49 Mit der Physiologie begann sich im 19. Jahrhundert in der medizinischen Forschung die experimentelle Methode zu etablieren. An die Stelle der „Betrachtung des ganzen Organismus“ trat in der experimentellen Medizin das Interesse an „Stoffwechselvorgängen in den einzelnen den Körper zusammensetzenden Geweben, ja sogar den einzelnen Zellen“.50 Das Tierexperiment, so erläuterte der Berliner Hygieniker Martin Hahn, zeichnet sich durch Kontrolle und Nachahmung aus. Durch die Kontrolle der Umweltwirkungen gelänge es, die akuten Schädigungen an einem Organismus durch chemische, physikalische oder biologische Agenzien nachzuahmen und isoliert zu betrachten.51 3.2.2 Die Experimentalisierung des Versuchstierkörpers zum „Reagenzmaterial“ – das ‚Prinzip des erweiterten Laboratoriums’ Das Laboratorium gestattete es zwar, die Bedingungen eines Versuchs gleichförmig zu gestalten. Doch half dies nichts, wenn die Gleichförmigkeit im Versuchsobjekt selbst schon ein Ende fand. So litten Experimente mit „belebten Reizen, d.h. mit Infektionserregern und makroskopischen Parasiten”, unter ihrer wechselnden Virulenz.52 Diese Schwierigkeiten hatten ihre Entsprechung im Organismus, denn die Infizierung hing auch vom Zustand des Körpers des befallenen Tiers ab. Alter, Gewicht, Ernährung und auch durch eine vorausgegangene Krankheit erworbene Eigenschaften, so Hahn, machten den individuellen Menschen mal mehr oder weniger für eine bestimmte Krankheit anfällig. Die Disposition variiere von Mensch zu Mensch und verändere sich im Laufe eines Lebens.53 49 Zu der Rhetorik dieses Anspruchs, vgl. Hagner 2002: 2. Anonymus 1928c: 107 51 Vgl. Hahn 1928: 140. 52 Hahn 1928: 140 53 Vgl. Hahn 1928: 141-42. 50 115 Die Wandelbarkeit und Unterschiedlichkeit der Menschen in ihrer Krankheitsanfälligkeit, die dem Arzt in seiner täglichen Praxis als geheimnisvolle Erfahrung entgegentrat, war dem forschenden Arzt ein Hemmnis für seine exakten experimentellen Unternehmungen. Im experimentellen Arrangement eines Labors nivellierte sich der Unterschied zwischen den Instrumenten, Apparaten und Abläufen und dem wissenschaftlichen Objekten – dem Körper oder Präparat. Während zunächst in der physiologischen Forschung ein Sammelsurium an Tieren verwendet worden war, setzte sich im neuen Jahrhundert eine Tendenz zur Standardisierung unter der veränderten Annahme durch, dass sich das Allgemeine in der Gleichförmigkeit verberge.54 Unter den Bedingungen des Experiments musste das Leben der gleichen Standardisierung unterworfen werden, wie der Apparat oder die Prozedur. In der experimentellen Befragung wird das, was die Natur repräsentieren soll, in seine Eigenschaften zerlegt – konzeptuell und auch materiell. Es werden isoliert Vorgänge oder Abschnitte im Organismus betrachtet, das heißt, die übrigen Teile des Organismus werden ausgeklammert. Mit der Zergliederung wird dieses Übrige des Lebewesen oder Präparats zum experimentellen Umfeld. Es ist ebenso Umfeld, wie das Labor Umfeld ist. In der funktionellen Einrichtung eines experimentellen Systems zerfließt die Grenze, die durch die organismische Einheit des Versuchstiers gegenüber den Instrumenten und Vorrichtungen des Labors. Das Umfeld des Experiments endet erst an der Stelle, an der der Gegenstand des Experiments beginnt. Diese Tendenz zur Ausdehnung des experimentellen Umfelds in den Körper hinein – oder aber auch auf weit entfernte Züchtungsstationen – könnte als ‚Prinzip des erweiterten Laboratoriums’ bezeichnet werden. Die Mediziner der Gutachten, so ist zu beobachten, lasteten die den Körpern der Versuchstiere zugeschriebene Variation im Experiment nun der unterschiedlichen Konstitution und Disposition der Tiere an. Der Heidelberger Serologe Sachs erklärte, dass die Fähigkeit von Kaninchen, spezielle Antikörper zu bilden, konstitutionell bedingt sei, und klagte, dass bislang „bei dem zur Verfügung stehenden gemischten Tiermaterial nur die reine Empirie entscheiden” lässt, welche Individuen zu einer solchen Immunisierungsreaktion fähig sind.55 Dadurch wäre nicht nur die Forschung, sondern auch die wohltätige Gewinnung von Antisera für die Medizin von der Zufälligkeit des „Tiermaterials“ abhängig. Das sollte sagen, dass man, wenn die Virulenz von Erregern untersucht werden sollte, auch auf das Wirkungsfeld der Erreger selbst achten musste: das Meerschweinchen oder Kaninchen. Deshalb waren die Haltungsbedingungen möglichst gleich zu halten, und deshalb musste die Fütterung einheitlich sein, zur gleichen Tageszeit erfolgen, die gleiche Kost in gleichen Mengen verabreicht werden. 54 Vgl. Logan 2002: 358. – Es wäre aber auch zu fragen, ob die Ausdehnung des experimentellen Umfelds in das Versuchsobjekt hinein nicht als konsequente Fortschreibung der Episteme der experimentellen Medizin und Biologie seit dem 19. Jahrhundert und der „Experimentalisierung des Lebens“ gesehen werden kann. 55 Sachs 1928: 144. Ähnlich äußert sich Prof. Neufeld zur Krankheitsempfänglichkeit von Kaninchen gegenüber Tuberkulose (vgl. Neufeld 1928: 150). 116 Durch eine Koordinierung der Zuchtabläufe an verschiedenen Orten oder durch die Konzentrierung der Zuchten an einem Ort sollten diese gleichen Bedingungen geschaffen werden. Als Alfred Kühn mit der Betreuung der Versuchstierzuchtanstalt auf dem landwirtschaftlichen Gut Plauerhof beauftragt wurde, bedang er sich aus, dass der Tierzuchtleiter zuvor nach Göttingen kommen sollte, um die dortige Anlage und Verfahren kennen zu lernen. Protokolle der „peinlich genauen Zuchtbuchführung nach Göttinger Muster“56, wie die Anstaltsleitung rekapitulierte, sollten ständig nach Göttingen geschickt werden. Kühn wollte dadurch Sorge tragen, dass von vornherein die gleichen Abläufe, Techniken und Benennungen, wie sie in siebenjähriger Erfahrung an Kühns Zoologischen Institut und in der benachbarten Geflügelstation Friedland herausgearbeitet worden waren, auch auf die in Brandenburg heran zu züchtenden Versuchstiere angewandt würden.57 Gleiche Bedingungen der Aufzucht und gleiche Zuchttechniken sollten die Angleichung des „Versuchsmaterials” selbst bewirken. Das medizinische Labor wurde durch diese Standardisierungsmaßnahmen, die das wissenschaftliche Objekt mit einbezogen, den chemischen oder physikalischen Laboratorien weiter angeglichen. Die Versuchstiere wurden zum festen Bestandteil der materiellen Infrastruktur des Labors. Viele der Materialien, Stoffe oder Reagenzmittel galten bereits als gereinigt und zwischen verschiedenen Laboren austauschbar. Analog sollte auch in der medizinischen und biologischen Forschung das „Tiermaterial” standardisiert werden. Die Versuchstiere der Zuchtstation, die zur Analyse ins Labor geschickt wurden, galten dementsprechend als „standardisierte[s] Reagenzmaterial” (A. Kühn).58 Die organisierte Versuchstierzucht stärkte die experimentelle Praxis. Sie wurde vielleicht billiger, aber vor allem wurde sie ausdehnbarer. Die Angleichung des „Tiermaterials“ konnte die Migration experimenteller Protokolle zwischen einzelnen Laboren erleichtern – von „immutable mobiles“ in Latours Worten.59 Dies war ein entscheidender Aspekt der Überlegungen zur Versuchstierzuchtanlage, auf deren zentrale Organisationsform Kühn deshalb bestand. Die Zentralität entsprach zudem der Form von Forschung in „Gemeinschaftsarbeiten“, wie sie durch die Notgemeinschaft forciert wurden. Und die Angleichung der Tiere ermöglichte in der Genetik neue Fragestellungen, wie noch zu sehen sein wird. Doch nun der Reihe nach. 3.2.3 Inzucht vermeiden und analysierte ‚second-hand’ Tiere Der leitende Gedanke der ersten Zuchtanlagen der Notgemeinschaft war, „das Material durch Zusammenarbeit mehrerer Institute möglichst vielseitig auszunutzen. Die Kleintierzuchtanstalten wurden an Institute angeschlossen, denen es auf die Züchtung einer möglichst grossen Zahl gesunder Tiere ankommt, sei es zu Vererbungs-, zu Fütterungs- oder anderen Versuchen. Die aus den Versuchen frei werdenden Tiere werden dann zu einem möglichst billigen Preise an medizinische und andere Institute zu serologischen oder Infektionsversu56 12.12.1931, Direktor der Strafanstalt Brandenburg an Notgemeinschaft (BA Ko, R 73, 159) Vgl. 26.12.1931, Kühn an Notgemeinschaft (BA Ko, R 73, 159). 58 19.10.1931, Kühn an Schmidt-Ott (BA Ko, R 73, 159) 59 Latour 1987: 227 57 117 chen, operativen Eingriffen usw. abgegeben. Auf diese Weise ist in den letzten Jahren bereits eine beträchtliche Zahl von Versuchstieren herangezogen worden.“60 Mit diesen Worten ist die Ausgangssituation des Engagements der Notgemeinschaft in der Versuchstierzucht beschrieben. Es muss genauer hingesehen werden, um zu erkennen, welcher Begriff von Zucht sich darin verbarg, um dann die Veränderungen zu sehen, die ab 1928 die Versuchstierzucht prägten. Die Genetik der Tiere war anfangs kein Thema der Versuchstierzucht – und konnte es auch nicht sein. 3.2.3.1 Die Kleintierzucht der Notgemeinschaft in der Strafanstalt Sonnenburg Die erste Tierzuchtanlage, die die Notgemeinschaft einrichtete, wurde 1922 im Gefängnis Sonnenburg bei Küstrin (Oder) untergebracht. Versorgung, Pflege und Betreuung unterstanden der Gefängnisverwaltung. Die Sträflinge waren mit den Arbeiten betraut. Die wissenschaftliche Beratung erfolgte durch den Mediziner Martin Mayer, Abteilungsvorsteher am Hamburger Institut für Schiffs- und Tropenkrankheiten. Mayer hatte beträchtliche Erfahrung in der Tierhaltung, denn seit 1904 betreute er das dortige Tierhaus. Entsprechend detailliert waren seine Ratschläge, die er der Notgemeinschaft und den Gefängnisdirektion zu Fütterung und Haltung und schließlich auch zur Steuerung der Vermehrung zu erteilen hatte. Unter anderem sei eine „gute Auswahl“ unter den Zuchttieren zu treffen. Was verstand Mayer unter „guten“ Zuchttieren? „Gute harte Tiere können [...] aus der Aufzucht gewählt werden, und durch Registrieren des Bespringens und der Geburtenzahl ist eine gute Zuchtwahl zu treffen. Die von den Kaninchenzüchtern bevorzugten Böcke sind meist nicht für Versuchstierzwecke geeignet, da sie für andere Ziele (Rassenliebhaberei) herausgezüchtet sind. Edle Rassen sowie Albino sind als Versuchstiere gewöhnlich zu empfindlich. Die braunen, grauen, silbergrauen und schwarzen Rassen und besonders Kreuzungstiere dieser sind am härtesten.“61 Im Zentrum der Aufmerksamkeit standen, wie die konkrete Anweisung zeigt, Eigenschaften, die eine effiziente Produktion garantierten. Die Tiere sollten nach ihrer Robustheit für den Gefängniseinsatz selektiert werden. Der Horizont der Zuchtplanung reichte genau bis zum Gefängnistor. Möglichst viele Tiere sollten dieses verlassen. In welchem medizinischen Institut und in welchem experimentellen Arrangement sie benutzt werden sollten, brauchte den Zuchtleiter nicht zu interessieren. Andere Ratschläge Mayers beschäftigten sich mit der Kontrolle der Vermehrung. Bei Meerschweinchen, die in Gruppen bis zu 300 Stück gehalten werden könnten, müssten Maßnahmen getroffen werden, um Seuchen und Inzucht zu vermeiden. Und bei den getrennt zu haltenden Kaninchen musste der Wärter ein „geübter Kaninchenzüchter“ sein, „um das hier für die Aufzucht sehr wichtige Verteilen der Böcke vorzunehmen und Maßnahmen gegen Inzucht zutreffen“.62 Die Vorkehrungen zielten also auf die Vermeidung der Inzucht und damit auf das Erbliche, aber in einer unspezifischen und rein negativen Weise. In60 Nachtsheim 1928h: 301 o. D., Martin Mayer: Gesichtspunkte für Versuchstierzucht (BA Ko, R 73, 160) 62 o. D., Martin Mayer: Gesichtspunkte für Versuchstierzucht (BA Ko, R 73, 160) Herv. Verf. 61 118 zucht, also die Paarung engst verwandter Tiere, wurde seit Mitte des 19. Jahrhundert immer wieder eine degenerative Wirkung zugeschrieben.63 Insbesondere in Kreisen deutscher Tierzüchter hielt sich diese Auffassung. Die Inzucht wurde für alle möglichen in der Praxis auftretenden ‚Mängel’ an Haus- und Nutztieren verantwortlich gemacht: Überbildung der Körperform, verminderte Lebenskraft, mangelnde Entwicklungsfreudigkeit, verminderte Zeugungsfähigkeit, schlechte Futterausnutzung, Missbildungen, wie Hasenscharte, Kurzbeinigkeit, Achondroplasie, Albinismus, Instinktverlust usw.64 Typisch für die erhitzte Debatte in den Züchterkreisen dürfte die schon bekannte Äußerung eines Kaninchenzüchter sein, in der er das Erfahrungswissen alter Züchter pries: Der Züchter weiß, dass „er durch Inzucht und Inzestzucht niemals Glück und Erfolge in der Zucht hatte. [...] ‚Schlage dem armseligen Tierchen mit trockenem Holz ins Genick und gib ihm kaltes Eisen (das Messer) in die Kehle!’ Es war dieses Verfahren die beste Medizin für dergleichen Tiere, welche durch Inzucht meist ein ganzes Arsenal an Krankheiten in sich hatten.“65 Die „graue Theorie“ (der Züchter) kam in Gestalt der mendelschen Erblehre, die die Behandlung des „Inzuchtproblems“ auf „ein exakt wissenschaftliches Niveau“ zu bringen trachtete.66 Aus der Sicht der Genetik war der Widerstreit der Meinungen und die Auseinandersetzungen zwischen führenden Züchtern und leitenden Zuchtbeamten über ihre Erfahrungen nicht verwunderlich, wie Carl Kronacher, wohl der beste Kenner des tierzüchterischen Geschehens seiner Zeit,67 bemerkte, „weil derartige Auseinandersetzungen vielfach immer noch von falschen Vorstellungen und Voraussetzungen ausgehen und die Begriffe und Ergebnisse der neuzeitlichen Biologie dabei meist ungenügende Berücksichtigung und irrtümliche Verwendung finden“.68 Reinzucht und Inzucht waren aus Sicht der Genetik wertvolle, wenn auch riskante Methoden, um „wünschenswerte Eigenschaftsanlagen“ festzulegen und zu vereinheitlichen, deren Gebrauch Experten vorbehalten sein sollte.69 Die Genetiker, die mit der alten Versuchstierzucht zu tun bekamen, standen in der Diskreditierung der strikten Haltung der praktischen Züchter und der dort 63 Vgl. Kronacher 1924: 1. Kronacher zufolge wurde seit „den Zeiten des Altertums“ um die Frage gestritten. Englische Hochzüchter hätten die I. im 19. Jh. erfolgreich angewandt. Erst de Charpeaurouge hätte die Frage durch Forschungen in der Haustierzucht gründlich angegangen und wäre damit erfolgreich gegen die einseitige Schulmeinung insbesondere in Deutschland Sturm gelaufen. – Nach dem finnischen Genetiker H. Federley war Darwin der Erste, der die Bedeutung der Vererbung für die Inzuchtfrage erkannte; doch erst mit der mendelschen Erblehre sei ein wissenschaftlicher Zugang zum Problem möglich (vgl. Federley 1928: 2). 64 Vgl. Kronacher 1924: 12. 65 Baumbach 1928: 862 66 Federley 1928: 2 67 Vgl. Comberg & Hrsg. 1984: 116. Zu Kronacher, siehe 6.1.1, Seite 260. 68 Kronacher 1924: 2 69 Kronacher 1924: 48 – In der Bewertung der Inzucht beriefen sich die Verfechter vor allem auf experimentelle Ergebnisse der Genetikerin Helen D. King, die im Wistar Institute Ratten bis zur 25. Generation in ingezüchtet hatte (vgl. zu King Clause 1993: 345; Rader 1995: 44-46). In Deutschland wurden am Dahlemer Genetik-Institut Versuche an Baurs wichtigster Experimentalpflanze, dem Löwenmaul, durchgeführt. Vor allem ging es in den von Nachtsheim vorgeschlagenen Versuchen um die in den zwanziger Jahren in der Genetik umstrittene Frage, ob die tatsächlichen „Degenerationserscheinungen“ nach Inzucht auf die Wirkung rezessiver Allele oder andere Ursache zurückzuführen seien (Kronacher 1924: 14). 119 praktizierten Zuchtkniffe nicht zurück. Für den Leiter der Göttinger Zuchten war klar, dass die „beliebte ‚Blutauffrischung’ mit Einzeltieren, der Tausch größerer Anzahlen von Zuchttieren oder ein häufigerer vollständiger Wechsel in der Fütterungsart bekannte Mittel [sind], um über den eigentlich eingetretenen Mißerfolg solcher Züchtungsmethoden [schlechte Haltungsbedingungen] hinwegzutäuschen“.70 In den genetischen Instituten war die Inzucht eine experimentelle Methode, die aus dem mendelgenetischen Experimentalsystem nicht wegzudenken war. Wegen der doppelten Nutzungsstruktur waren die Versuchstiere in Dahlem deshalb automatisch Inzuchttiere. In Sonnenburg hingegen wirkte die züchterische Barriere gegen die Inzucht als Ausschluss mendelgenetischer Methoden. Die Zuchttiere konnten nicht als genetisch Gestaltbares in den Blick kommen, solange der Eingriff in das Erbgeschehen Bedrohliches verkörperte. Zu diesen praktizierten Zuchtprinzipien verhielten sich die Wünsche der Abnehmer der Versuchstiere komplementär. Die Kunden der Versuchstierzucht waren zumeist Mediziner.71 An erster Stelle ihrer Wünsche stand die Gesundheit der Tiere. Hin und wieder wurde ein spezielles Gewicht der Tiere oder eine spezielle geschlechtliche Zusammensetzung der Tiergruppen gewünscht, mal wurden „silbergraue Tiere bevorzugt“ oder „Kaninchen mit möglichst langen Ohren“. Alles dies waren Eigenschaften, die sich auf vorhandene Möglichkeiten der Versuchstiere bezogen. Mit der Zucht als Gestaltungstechnik hatte dies nichts zu tun. Die Erblichkeit konnte also im Modell der Sonnenburger Versuchstierzucht kein Prinzip der Gestaltung sein. Die Gestaltung der Tiere fand im Zufall ihrer Paarung statt. Die Tiere wurden, so ihre ‚Natur’ dies zuließ, in gemischten Gemeinschaften gehalten. Das schloss jede Ordnung oder Klassifikation von vornherein aus, erlaubte aber eine effiziente Massenzucht. Das „Tiermaterial“ konnte „nicht analysiert“, das heißt nach mendelschen Vererbungseigenschaften aufgeteilt werden, wie Nachtsheim bemängelnd anführte, war dafür aber „wegen der geringen Produktionskosten besonders billig“.72 70 Kröning 1938: 711 Im Jahr 1925 wurden bspw. 30 verschiedene Abnehmer beliefert, davon waren, so weit ersichtlich, 26 Mediziner oder medizinische Institute: PD Dr. Hesse, Breslau (Pharmakologisches Inst.); Prof. Ackermann, Würzburg; Prof. Trendelenburg, Physiologisches Inst., Tübingen; Prof. Grafe, Med. Univ. Poliklinik, Rostock; Dr. Granzow, Breslau (Univ.-Frauenklinik); Oberarzt Dr. Langer, Dermatologische Abt. d. RVK, Berlin; Dr. Ela Evers, Georg Speyerhaus, Frankfurt; Dr. Uhlenhuth, Hygienisches Inst. Freiburg; Sachs, Inst. f. exp. Krebsforschung, Heidelberg; Prof. Binz, Chemisches Inst., LHB; Prof. Jötten, Hygienisches Inst. Münster; Dr. Werner Schultz, II. innere Abt. des Krebskrankenhauses Westend; Dr. Ehrismann, Pharmakologisches Inst., Berlin; Pharmakologisches Inst. Halle; Prof. Löhlein, Univ. Augenklinik, Jena; Dr. Domagk, Pathologisches Inst., Münster; Dr. Kurt Meer, Bakteriologische Abt. RVK; Univ.-Hautklinik, HH; Dr. Bergel, Pharmakologisches Inst., Berlin (immuntherapeutische Versuche bei Syphilis); Prof. Kuczinski, Dr. Schwarz u. Prof. Lubarsch, Pathologisches Inst., Berlin; Inst. für Infektionskrankheiten „Robert Koch“; Prof. Scholtz, Univ.klinik u. Poliklinik f. Hautkranke, Königsberg; Staatl. Hygienisches Inst., Beuthen; Tierseucheninst. der Landwirtschaftskammer der Provinz Hannover; Dr. Wolff, Pathologisches Inst., Charité; Dr. Rühl, Berlin; W. Kolle, Frankfurt; Prof. Bongert, Berlin; Inst. für Nahrungsmittelkunde der Tierärztlichen Hochschule, Berlin; Prof. Zwick, Veterinärhygienisches u. Tierseuchen-Inst., Giessen; Dr. Otto Moritz, Botanisches Inst., Kiel (vgl. BA Ko, R 73, 160). 72 Nachtsheim 1928h: 302 71 120 3.2.3.2 Der trojanische Stall aus Dahlem Der Bedarf nach Versuchstieren stieg zwischendurch derart, dass ein Ausbau der Sonnenburger Tieranlage nötig schien. Den Ausschlag dazu gab der wiederholte Ausbruch von Epidemien bei Überbelegung der Tierställe. War nun die benachbarte Tuberkulosestation des Gefängnisses oder das feuchte Klima Ursache für das Massenhusten unter den Kaninchen? Nachtsheim kam nach einer Ortsbesichtigung zum Schluss, dass die Feuchtigkeit Schuld sei und empfahl die Dahlemer „Frei-Luft-Züchtung“. Zudem vertrat er die Ansicht, dass alle Tiere und Zuchttiere vernichtet und die Stammrasse durch eine andere Rasse ersetzt werden sollten.73 Auf diese Weise wurde das Haltungskonzept der genetischen Tierzuchten aus Dahlem in den bislang aus der Sicht der genetischen Wissenschaft unprofessionellen Bereich der Gefängnismauern implantiert. In der Anlage des Instituts für Vererbungsforschung kam es darauf an, dass sich darin Kaninchen aller Art wohl fühlen konnten. Die Optimierung der Verhältnisse durch einzelne bauliche Maßnahmen hatte sich daran zu orientieren, um „möglichst viel Licht und Luft“ und den Muttertieren „einige Monate Ruhe“ zu erlauben. Die völlige Trennung von Futtergang und Dunggang war neben anderen eine „wichtige hygienische Maßnahme“, um Ungeziefer „keinen Unterschlupf“ zu gewähren. Darüber hinaus: Alle Buchten nach Süden offen für ein angenehmes Klima; eine minimale Stallgröße entsprechend jeder Rasse; viel Auslaufmöglichkeiten, denn dann entwickelt sich das Kaninchen umso besser. Andere Maßnahmen wiederum sollten „die für Kaninchen besonders gefährliche Zugluft“ vermeiden oder gewährleisten, dass der Urin in den Dunggang abfließen kann, dass das Tier trocken sitzt – „das Kaninchen ist gegen Feuchtigkeit sehr empfindlich“, oder sollten eine gründliche Reinigung und Desinfizierung ermöglichen – nicht nur vier mal im Jahr „wie es in einem Buche heißt, das sich auch mit der Haltung von Versuchstieren befaßt“.74 Die gesamte Stallanlage in Dahlem war so konzipiert, dass sich die Haltungsverhältnisse auf die Wahl der Kaninchen nicht auswirken mussten. Die Auswahl der Tiere konnte sich, so entlastet, allein am vererbungswissenschaftlichen Interesse orientieren. Es war egal, ob Albinokaninchen empfindlich waren oder nicht. Die baulichen Maßnahmen ermöglichten spezielle genetische und pelzzüchterische Fragestellungen. Sie ermöglichten sogar pathologische Fragen. Insofern auch gebrechliche und kaum lebensfähige Kaninchen gehalten werden konnten, schuf die Architektonik der Stallanlage die Voraussetzung für das Auftauchen prekärer Lebenszustände im Versuchstierstall und erbpathologische Fragestellungen. Die genetische Zuchtanlage war nicht nur auf die Gewährleistung von Effizienz und Gesundheit hin ausgelegt, sondern darauf, Arbeiten in einem vererbungswissenschaftlichen Kontext zu unterstützen. Die Methoden der Genetik erforderten die reproduktive Trennung der Tiere und ihre genaue Identifikation. 73 Vgl. 21.6.1926, Notgemeinschaft an Preuss. Hauptlandwirtschaftskammer; 20.6.1927, Strafanstaltsdirektor an Notgemeinschaft; 15.12.1927, Notgemeinschaft an Strafanstalt (BA Ko, R 73, 160). 74 Nachtsheim 1928h: 305-06 121 Die baulichen Maßnahmen in der Dahlemer Kaninchenzuchtanlage seien, so setzte Nachtsheim fort, darauf ausgelegt, eine „geordnete Zuchtbuchführung“ zu erlauben, sich „auch im Stall über die Abstammung und die Nachkommenschaft jedes Kaninchens rasch orientieren zu können“, einen „raschen Überblick über das alte Zuchtmaterial“ zu ermöglichen, „bei einem Rundgang durch den Stall sich sofort darüber orientieren zu können, wo tragende Häsinnen oder solche mit Jungen sitzen, welche Tiere krankheitsverdächtig sind usw.“ und um Verwechslungen zu vermeiden.75 Die Zuchtstruktur, die das architektonische Gerüst der Neubauten in Sonnenburg nach Dahlemer Vorbild ermöglichte, blieb zunächst eine ungenutzte Form. Sie erwies sich als ‚Trojanisches Pferd’, als Sonnenburg zur Disposition stand. Alfred Kühn fragte kritisch, ob denn die Einrichtung überhaupt „zweckmäßig und modern [sei], daß es sich verlohnt, mit ihr den wichtigen Betrieb mit standardisiertem Material anzufangen“?76 Aber ja, die Form der Anlage stellte sich als „außerordentlich zweckmäßig“ dar,77 nur fehlte eben noch das züchterische Know-how. 3.2.3.3 Die Versuchstierzucht am Institut für Vererbungsforschung Baur hatte es zwar eingefädelt, sein Institut in den Versorgungsplan für Versuchstiere aufzunehmen, Pate hatte aber Wilhelm Kolle gestanden, der bereit war, auch in finanzieller Hinsicht die Versuchstierzucht zu fördern, um den hohen Bedarf an Versuchstieren an seinem Institut zu stillen.78 In der Dahlemer Tierzucht sollten vor allem Ratten und Mäuse gezüchtet werden, bei Anfrage wurden aber auch Kaninchen abgegeben, und als besonderer Vorteil galt, dass die Tiere „analysiert“ seien.79 Was bedeutete es, dass die Tiere in Dahlem „analysiert“ waren? Von Anfang an waren die Dahlemer Kleintierzuchten ein Hybrid aus genetischer Forschungseinrichtung und Versuchstierzuchtanstalt. Die Interessen der Genetiker und Mediziner überschnitten sich darin. Baur erläuterte, dass „die Klärung rein wissenschaftlicher und tierzüchterischer Fragen“ ohne eine solche Anlage zur Versuchstierzucht nicht im nötigen Umfang durchgeführt werden könnte.80 Die frisch gebackenen Dahlemer Tiergenetiker Hans Nachtsheim und Paula Hertwig kamen so überhaupt in die Möglichkeit, mit dem Betrieb der zoologischen Abteilung beginnen zu können.81 Der Vorteil der Mediziner war die verlässliche Versorgung mit gesunden und preisgünstigen Versuchstieren. Mit den Bedürfnissen der Mediziner und der Einrichtung ihrer Experimentalsysteme hatten die Zuchtversuche Nachtsheims und Hertwigs aber wenig zu tun. Paula 75 Nachtsheim 1928h: 307ff. – Eine genaue Beschreibung der Dahlemer Anlage, der Haltungsbedingungen und der Zuchtmethoden findet sich in diesem Aufsatz. 76 2.7.1931, Kühn an Schmidt-Ott (Ba Ko, R 73, 159) 77 31.10.1931, Schmidt-Ott an den Präsidenten des Strafvollzugsamts (Ba Ko, R 73, 159) 78 Nach Verhandlungen mit Nachtsheim und Baur unterstützte Kolle den Bau der Stallanlagen mit 200.000 RM (vgl. 19.5.1922, Baur an PML, in: GStA, I. HA, Rep. 87B, 20281: Bl. 218; o.D., Niederschrift über die Besprechung am 18.5.1922 im PML, in: ebd.: Bl. 230). 79 In Hohenheim wurden Meerschweinchen gezüchtet, Sonnenburg lieferte Kaninchen (vgl. 30.8.1926, Koßwig, Institut für Vererbungswissenschaft; in: BA Ko, R 73, 160). 80 14.12.1921, Baur an PML (GStA, I. HA, Rep. 87B, 20281) 81 Vgl. Nachtsheim 1959b. 122 Hertwig beschäftigte sich mit Fragen der Entstehung von Mutationen bei Mäusen,82 Nachtsheim mit Fellfarben. Die Dahlemer Tiere waren also nicht mehr ‚unbehauene’ Naturgegenstände; sie waren für und durch die genetischen Versuche geformt. Die Tiere waren zwar genetisch analysiert, zurechtgezüchtet, standardisiert oder selektiert, aber nicht im Bezug auf ihre Funktionalität im medizinischen Versuch einen anderen. Sie waren ‚second hand’. Die vererbungswissenschaftliche Praxis war mit der Versuchstierzucht also nicht verknüpft. Die Einbindung der Tierzucht an das genetische Institut war noch nicht die richtige Lösung. Der organisatorische Aufbau, den jene Methoden bis in die bauliche Strukturierung der Zuchtanlagen erforderten, erschien als Ballast für die versuchstierzüchterische Unternehmung. Der zuständige Referent der Notgemeinschaft mutmaßte über die effizienteste Versuchstieranlage, ob nicht „ein anderer als der Dahlemer Typ bei gleicher Zweckmäßigkeit billiger [ist], da es bei ihnen nicht notwendig sein wird, wie in Dahlem auf den Zweck der Vererbungsforschung Rücksicht zu nehmen, sondern alles nach rein massenzüchterischen Gesichtspunkten angelegt werden kann“.83 War es zum Beispiel möglich, auch für Kaninchen Massenställe statt Einzelboxen zu verwenden? Kaninchen in Massenboxen – das wäre das Ende jeder genetischen Analyse und genealogischen Überwachung. Eine grundlegende Änderung im Verständnis der Versuchstiere macht sich indes an der Forschungskooperation zwischen Baur und Kolle fest. Baur berichtete, dass die geplanten Versuche sowohl im Interesse des Frankfurter als auch seines Instituts lägen.84 Und dieses gemeinsame Interesse betraf nicht mehr nur die Ressourcen, sondern die Versuche selbst. Der infektionsmedizinische Forschungsauftrag des Frankfurter Staatsinstituts und die haustiergenetischen Interessen mussten sich in den Mäusen und Kaninchen Dahlems materialisieren. Die Züchtung besonders widerstandsfähiger Stämme wäre, so Nachtsheim, für Bakteriologen und Serologen von hervorragender Bedeutung.85 Für die Haustiergenetik galt entsprechend, dass „die Züchtung seuchenfester oder doch besonders widerstandsfähiger Stämme unserer Kulturpflanzen und Haustiere“ eine ihrer zukünftigen Hauptaufgaben sei.86 Solche Vorhaben erforderten aber, so fuhr Nachtsheim fort, die Zusammenarbeit mehrerer Institute. In Amerika wären bereits solche auf breitester Basis angelegte Versuche erfolgreich durchgeführt worden: Genetiker in gemeinsamer Arbeit mit Pflanzenphysiologen zur genetischen Analyse der Rostwiderstandsfähigkeit des Weizens oder „Genetiker in ‚Cooperation’ mit dem Veterinärmediziner und dem Bakteriologen“ zur Züchtung widerstandsfähiger Hühnerstämme gegen die weiße Ruhr. Genau in diese Reihe würden sich auch die Versuche einreihen, welche „bei der in Aussicht genommenen Erweiterung der Kleintierzuchtanlage des Institut für Vererbungsforschung“ in „Zusammenarbeit 82 Vgl. Harwood 1993: 201; Nachtsheim 1959b. o. D., Fragebogen betreffend Tierzuchtanstalten (BA Ko, R 73, 160) 84 Vgl. 14.4.1928, Baur an Schmidt-Ott (AMPG, Abt. III, Rep. 20A, Nr. 103). 85 Vgl. 14.4.1928, Nachtsheim [Gutachten], Anlage zu: 14.4.1928, Baur an Schmidt-Ott (AMPG, Abt. III, Rep. 20A, Nr. 103). 86 14.4.1928, Nachtsheim [Gutachten] (AMPG, Abt. III, Rep. 20A, Nr. 103) 83 123 zwischen Genetik und Serologie“ mit Frankfurt in Angriff genommen werden sollten.87 Wie bereits dargelegt, konnte der Ausbau der Dahlemer Anlage und die Kooperation zwischen Frankfurt und Dahlem nicht mehr begonnen werden. An diese Stelle trat eine umso intensivere Zusammenarbeit zwischen Kolle und dem Zoologischen Institut in Göttingen. Die 1928 projektierten Zusammenarbeiten markierten einen Einschnitt in der bisherigen Zuchtpraxis für Versuchstiere. Die spezifischen Eigenschaften der Tiere wurden nun zum Hauptaufgabengebiet der Versuchstierzüchter. Eine Zuchtpraxis, wie sie bislang in Dahlem entsprechend haustiergenetischer Ziele praktiziert worden war, war mit der Versuchstierzucht nicht mehr vereinbar – es sein denn, die Interessen an der Versuchstiergestaltung überschnitten sich. Um die Tiere musste nun eine Organisation errichtet werden, die sich mit ihrer Manipulation, Weiterentwicklung und Ausreifung als Werkzeuge für spezifische medizinische Experimente beschäftigte. 3.2.4 Reinzucht als genetische Homogenisierung Es ist bemerkenswert, dass, wie sich sogleich zeigen wird, die Initiative zur Umgestaltung der Versuchstierzucht von Medizinern ausging – zu einer Zeit, als schon wieder viele Versuchstiere aus privater Hand angeboten wurden, wie Nachtsheim Ende der zwanziger Jahre beobachtete, als also der initiierende Zweck der Versuchstierzuchten der Notgemeinschaft gar nicht mehr so drängend war. „Trotzdem dürfte sich die Einrichtung der Kleintierzuchtanstalten durch die Notgemeinschaft auch in Zukunft bewähren“, beeilte sich Nachtsheim sogleich richtig zu stellen. „Aufgabe der einem Institut für Genetik angegliederten Kleintierzuchtanstalt ist die Erstellung solcher besonders widerstandsfähiger oder immuner Stämme und die genetische Analyse dieser Resistenz, [...] Die Schaffung und Bereitstellung eines möglichst gleichmäßigen, gesunden und widerstandsfähigen Versuchsmaterials wird also eine Hauptaufgabe der Kleintierzuchtanstalten sein.“88 Eine solche Aufgabenstellung hatten bereits die medizinischen Gutachter klar umrissen und sie im Titel ihrer Denkschriften benannt: Tier-Reinzuchten für Versuchszwecke. Die speziellen Erfahrungen und Schwierigkeiten, die die Mediziner bei ihren Forschungsarbeiten gemacht hatten, führten dazu, die Zucht homogener Versuchstiere anzumahnen. Eine allgemeine Homogenisierung und vor allem eine genetische Vereinheitlichung war also das vordringliche Ziel, das die Mediziner mit ihren Denkschriften anstrebten. Die Zucht reiner Linien war ein Konzept der mendelschen Genetik. Organismen galten als rein gezüchtet, wenn sie alle die gleiche Variante eines bestimmten Erbfaktors besaßen. Was anfangs für den dänischen Forscher Johannson als Methode diente, um sich gegen die Vererbungsvorstellungen der metrischen Schule Francis Galtons zu wenden, entwickelte sich mit der theoretischen Etablierung und Ausdehnung der mendelschen Vererbungswissenschaft zu einer Technik von hohem Nutzwert. Reine Linien wurden zu Werkzeugen für das genetische Arbeiten. In der Landwirtschaft wurden sie das Mittel für 87 88 14.4.1928, Nachtsheim [Gutachten] (AMPG, Abt. III, Rep. 20A, Nr. 103) Nachtsheim 1928h: 301 124 eine vererbungswissenschaftlich unterstütze Effizienzsteigerung bei der Agrarproduktion. Wie erreicht man aber, dass ein Organismus in seinen Erbfaktoren rein bzw. homozygot wird? Durch Paarung verwandter Tiere, im Extremfall: Inzucht. Je enger der Verwandtschaftsgrad, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass gleiche Allele eines Gens miteinander kombiniert werden. Das Entscheidende für die Versuchstierzuchtfrage war, dass die phänotypische Variabilität der Versuchstiere durch die fortgesetzte Inzucht abnahm.89 Was bislang als ‚tödlich’ für eine bewahrende Versuchstierzucht galt: der Eingriff in das Gemisch der Blutanteile durch die Inzucht, wurde zum methodischen Prinzip wissenschaftlich fundierter Versuchstiergestaltung. Unter der Aufsicht des Experimentators war es, wie oben angedeutet, möglich, das Versuchstier von seiner Geburt an dem strengen Reglement des Laborbuchs zu unterwerfen. Haltung, Fütterung und Aufzucht der Versuchstiere wurde vereinheitlicht, damit die Versuchstiere einen möglichst gleich gestalteten Körper und eine gleich klingende Physiologie ins Rennen brachten. Doch alle Maßnahmen, von denen bis jetzt die Rede war, bezogen sich auf das schon geborene Tier. Trotz aller Anstrengungen blieben unerklärliche Unterschiede zum Beispiel in der Erkrankungsanfälligkeit. Der Verdacht kam auf, dass eine variable „erbliche Krankheitsdisposition“ diese Unterschiede bedingte. Das Bemühen um die lebende Maus war umsonst, wenn nicht schon ihr ‚Vorleben’ in Form der Abstammung mitbedacht wurde. Die Konstitution eines Organismus formte sich demnach nicht erst beginnend mit dem Tag der Zeugung oder der Geburt. Martin Hahn wies darauf hin, dass die Einflüsse der Umwelt, so weit sie chemischer und physikalischer Natur wären, verhältnismäßig leicht im Experiment zu dosieren seien. Schwieriger sei es schon, den Einfluss der Zahl der Erreger in einem Infektionsexperiment und ihre Eintrittspforte zu kontrollieren. Aber alles nütze nichts, wenn nicht die Disposition des Individuums „für den betreffenden Infektionserreger“ mit in Betracht gezogen würde. Die Disposition schwanke von Individuum zu Individuum, da ihr erworbene oder vererbbare Eigenschaften zugrunde lagen.90 89 Durch Auslese immer solcher Tiere mit den gewünschten Eigenschaften, sollten die Allele des Gens, die eine andere und nicht gewünschte Ausprägung des Merkmals oder der Eigenschaft bewirkten, peu à peu bis zur ihrer endgültigen Elimination aus dem Genbestand einer Zucht herausfallen. – Es kann hier nur angemerkt werden, dass sich das Konzept der Reinzucht nur theoretisch derart unproblematisch darstellte. Dies festzustellen ist umso wichtiger, als die Methode gerade in der Säugetiergenetik weit verbreitet war und unhinterfragt verwendet wurde. Es wurden verschiedentlich Berechnungen angestellt, ab wann Versuchstiere als genetisch homogen gelten konnten. Die Möglichkeit der völligen genetischen Standardisierung wurde allerdings bezweifelt (vgl. Clause 1993: 347-48). Meines Erachtens tut sich hier ein interessantes Forschungsthema auf. Zum Beispiel fand in den USA auch eine methodische Debatte über die verfälschenden Auswirkungen der Inzucht statt (zwischen Maud Slye und Clarence Little) (vgl. Gaudillière 1999: 96-97). – Unter der Annahme, dass zwischen dem äußerlich erkennbaren Merkmal und dem Erbfaktor eine einfach Zuordnung bestand, musste die Inzucht eine unfehlbare Methode sein. Sobald sich die Verhältnisse zwischen Genotyp und Phänotyp komplizierter gestalteten, wurde das Konzept der reinen Stämme eine zweifelhafte Angelegenheit, zumal es kein Prüfsystem gab, den Grad der genetischen Reinheit festzustellen, ohne eine Zirkelschluss zu begehen. 90 Vgl. Hahn 1928: 141. 125 Im Experiment wirkte sich die erbliche Unterschiedlichkeit der Tiere als ein diffuses Rauschen aus, das sich zwischen die gesuchten Signale mischte, wie jeder andere beliebige „Störfaktor“. Die Schwankungsbreite der Reaktionen der Tiere wurde erhöht, was es erschwerte, die ‚eigentliche’ Reaktion aus dem Kontinuum von Spuren herauszulesen. Die methodische Standardformel einheitlicher Versuchsbedingungen musste also nicht nur auf die Entwicklungsbedingungen der Tiere, sondern auch auf die Transmissionswege ihrer Erscheinung angewandt werden. Die Experimentalisierung der Körper der Versuchstiere musste auf ihre Genetik ausgedehnt werden. Hahn fuhr fort: „Im Tierexperiment hat man, namentlich in Amerika, erst in neuerer Zeit angefangen, dem Einfluss der Rasse größere Beachtung zu schenken, und nach dem oben Gesagten ist es einleuchtend, wie wichtig für die Klarstellung des Virulenzbegriffes, des Einflusses, den man dem Infektionsmodus zuschreiben muss, vor allem aber auch für die richtige Bewertung therapeutischer, insbesondere chemotherapeutischer Maßnahmen die Feststellung der Disposition verschiedener Rassen ist.“91 Es ist entscheidend festzuhalten, dass der Zweck der genetisch erweiterten Homogenisierung dabei – zunächst – unverändert blieb: therapeutische Fragen und „Klarstellung des Virulenzbegriffs“. Das Augenmerk lag auf den Erregern, ihrer Klassifikation, auf dem Eindringen in den Organismus und die Abhängigkeit der Gefährlichkeit des Erregers von der Gesamterscheinung seines Wirts. In allen anderen Denkschriften zur Versuchstierzucht von 1928 wurde in ähnlicher Weise der spezifische Nutzen, der von genetisch reinen Versuchstierstämmen für das jeweilige Forschungsgebiet erwartetet wurde, spezifiziert.92 3.2.5 Auslese und Reinzucht: Negation der „erblichen Konstitution“ Neben diesen Aspekt mischten die Mediziner in ihre Denkschriften jedoch einen weiteren. In der Bewegung der genetischen Homogenisierung steckte schon ein 91 Hahn 1928: 141-42 Der Serologe Hans Sachs klagte, dass „bislang bei dem zur Verfügung stehenden gemischten Tiermaterial nur die reine Empirie entscheiden“ könne, ob ein bestimmtes Tier zur Bildung von Antikörpern befähigt ist. „Durch die Bereitschaft von geeigneten reinen Tierstämmen und durch ihre Eignung wäre die praktische Auswirkung dieses Prinzips auf eine rationelle Grundlage gestellt, die das Ergebnis dem Spiel des Zufalls entreißen würde“ (Sachs 1928: 145-46). Er versprach sich darüber hinaus günstigere Versuchsbedingungen, um körpereigenen chemischen Stoffen auf die Spur zu kommen, die Überempfindlichkeitskrankheiten hervorriefen. Kolle hob hervor, wie lästig für die Toxizitätsbestimmung die außerordentlich großen Unterschiede der im Handel erhältlichen Versuchstiere in der Resistenz gegenüber der Giftwirkung chemischer Stoffe seien (vgl. Kolle 1928: 147). Fred Neufeld stellte speziell für die Tuberkuloseforschung heraus, dass durch die Verwendung reiner Linien Versuche zum Einfluss der Ernährung auf die Resistenz von Meerschweinchen gegen Tuberkulose und die Untersuchung schwächer virulenter Erregerkulturen erleichtert würde (vgl. Neufeld 1928: 149). Der Krebsforscher Wilhelm Caspari maß der Züchtung reiner Mäusestämme für alle Zweige der experimentellen Krebsforschung eine ausschlaggebende Bedeutung zu. Die Arbeit mit so genannten Impf- oder Transplantationstumoren würde dadurch stark eingeschränkt, dass man nichts über den Ursprung des bezogenen Tiermaterials wisse. In der Verwendung von Mischstämmen unterschiedlicher Empfänglichkeit für Impftumore läge eine besondere Fehlerquelle. Anfangs wären so beispielsweise überimpfte Tumore nur in geringer Zahl (5 %) zum Anwuchs gekommen, heute durch „fortgesetzte Tierpassagen“ zu 80 bis 90 %. Die erhöhte Anwuchsrate der Tumoren sei durch die erbliche Disposition bedingt (Man hätte fälschlich geschlossen, dass die Virulenz der Tumoren ähnlich zu Phänomenen in der Bakteriologie durch die immer erneute Übertragung gesteigert worden war). Ohne dass es intendiert gewesen war, wären also bereits Inzuchttierstämme in der Krebsforschung verwendet worden (vgl. Caspari 1928: 150-51). 92 126 nächster Schritt, der von der bloßen ungerichteten Homogenisierung der Tiere wieder zu einer Differenzierung führte – aber nicht als ein Zurück zu dem Durcheinander zusammengewürfelter Versuchstieransammlungen, wie man sie aus dem Handel bezogen hatte. Die Variation, die jetzt unter den Versuchstieren planmäßig hervorgebracht und gepflegt wurde, bewahrte das Erreichte der Homogenisierung – homozygote Erbanlagen –, um auf dieser Grundlage verschiedene Inzuchtstämme anzulegen, die sich in nur ganz bestimmten Erbfaktoren unterscheiden sollten. Von hier aus konnte die „erbliche Konstitution“ zum eigentlichen Forschungsgegenstand reüssieren. Das Erbliche kam allerdings nicht mit einem Schlag zur Geltung. In welche Richtung das Interesse an der erblichen Konstitution führen sollte, war zunächst nicht absehbar. 3.2.5.1 Die genetische Analyse als Mittel verbesserter medizinischer Forschung Martin Hahn beschrieb in folgender Weise, wie sich nun die Konstitution über ihre Neutralisierung hinaus für die medizinische Forschung nutzen ließ: Die Disposition unterscheide sich nach Spezies, Rasse und Individuum. Die der Spezies könne man leicht durch die Verwendung nur einer Tierart ausschalten. „Den Einfluß der Rasse hat man früher nur gelegentlich in tierärztlichen Beobachtungen einigermaßen sicher festgestellt [...] Das Endziel ärztlichen Forschens auf diesem Gebiet wird immer die Aufklärung der individuellen Disposition sein und damit auch eines Teiles des jetzt so viel umstrittenen Konstitutionsbegriffes. Aber vorangehen muß, wie ohne weiteres einleuchtend ist, die Klarstellung der Rassendisposition.”93 Außer einer allgemein unterschiedlichen Disposition für Krankheiten zwischen den Tierspezies – zwischen Kaninchen und Maus zum Beispiel –, war nach Hahn die Disposition der Rasse zu unterscheiden. Die erbliche Disposition, die „Rassendisposition” sollte ein eigener Forschungsgegenstand werden – als eine Voraussetzung dafür, sich der eigentlichen medizinischen Frage nach der unterschiedlichen individuellen Disposition für Krankheiten zu nähern. Warum war dies nun ein besonderer Schritt? Einerseits reihte sich dieses Ansinnen in das bisherige experimentelle Kalkül ein, nach dem auch die unterschiedliche Reaktionsfähigkeit der Tierindividuen auch auf ihrer erbbiologischen Seite bekämpft werden sollte. Und damit war das Erbliche Teil der Reihe experimentell erfassbarer Störfaktoren, eine stochastische Größe im Arrangement der medizinischen Experimentalsysteme, eine Fehlerquelle unter anderen. Die mendelsche Genetik half, die Zufälligkeit dieser Störung zu rationalisieren. Die experimentelle Zufälligkeit erklärte sich dadurch, dass genetische „Mischstämme“ (Caspari) als Versuchstierpopulationen verwendet wurden. Um die Eindeutigkeit der Signale zu erhöhen, waren Tiere schon zuvor planmäßig nach Gewicht, Alter und Geschlecht geordnet worden. Diese Rationalität gestattete es, die Klarheit der Ergebnisse und die Sensitivität des Expe- 93 Hahn 1928: 142 127 riments zu erhöhen.94 Mit der Vererbungslehre kam ein weiteres Ordnungssystem hinzu. Dadurch, dass die erbliche Disposition aber transparent gemacht werden konnte, war sie nicht nur mehr ein Zufallsfaktor, sondern Teil des medizinischen Gegenstandes, der experimentell untersucht wurde, und ein berechenbarer und kontrollierbarer Parameter. Die Kontrolle machte es notwendig, die Eigenschaften Parameter herauszuheben, ihn zu differenzieren, das Gegenteil also von nivellieren. Dennoch, die erblichen Eigenschaften waren nur insofern von Interesse, als sie erlaubten, beispielsweise die individuelle Disposition zur Reaktion auf einen Infektionserreger zu verstehen. Die genaue Analyse der Versuchstierpopulation und die Entmischung der „Mischstämme“ nach unterschiedlicher Disposition konnte dazu dienen, eine bestimmte erbliche Disposition auszuwählen, um daraus einen Reinzuchtstamm zu formen, mit dem die schon zuvor gestellten, bloß zurückgestellten Fragen weiter und besser erforscht werden konnten. So litt beispielsweise die Tuberkuloseforschung unter der individuellen Tuberkuloseempfänglichkeit der Kaninchen: „Le lapin est un animal capricieux“.95 Die konstitutionelle Unterscheidung von Kaninchenstämmen mit hoher und solchen mit niedriger Krankheitsempfänglichkeit versprach einen Fortschritt in der Unterscheidung der Tuberkelbazillen. 3.2.5.2 Der genetische Gegenstand im Prozess der Werkzeugherstellung Die Situation des genetischen Gegenstands im medizinischen Experimentalsystem ähnelte in dieser Situation einem Vexierbild: Zunächst löste er sich heraus als Ordnungsprinzip des Bildes, um dann wieder zu verschwinden. Das Verschwinden war indes gewollt. In dem Moment, in dem die erbliche Disposition sich in den Zuchtexperimenten genauer charakterisieren ließ und damit die Voraussetzung gegeben war, die Versuchstiere in eine neue Ordnung zu bringen und vor dem Hintergrund der genetischen Analyse Reinzuchten anzulegen, verschwand das Interesse an der genetischen Disposition. Die Disposition war erst Gegenstand des Interesses oder befragtes Unbestimmtes, dann Mittel oder Instrument. Diese Bewegung war dialektisch, da die Herauslösung der Disposition aus ihrer Unbestimmtheit ihre eigene Negation erzeugte. Auch in den Denkschriften Kolles und der anderen Mediziner nahm die erbliche Disposition keine fixe Rolle als Werkzeug oder als eigentliches Forschungsziel ein. Kolle erklärte einerseits den wissenschaftlichen Wert der Reinzuchten so: „Das wissenschaftliche Interesse [...] liegt in der Ermittlung der Vererbbarkeit dieser Resistenz bzw. Nichtvererbbarkeit.“ Dann aber sprach er von der „Ermittlung der Heilwirkung chemischer Körper“, zu der reingezüchtete Mäusestämme unverzichtbar seien, sowie vom „Erfolg der Chemotherapie“, der mit der „der Reaktionsfähigkeit des infizierten Organismus im Zusammenhang“ stände. Die Klärung der Frage der Erblichkeit sei schließlich „nicht nur wissenschaftlich und theoretisch, sondern auch praktisch für die chemotherapeutische Forschung von großer Bedeutung“.96 94 Vgl. Logan 2002: 354-55. Französischer Forscher zit. n. Neufeld 1928: 149. 96 Kolle 1928: 148 95 128 Die Erforschung der Erblichkeit von Resistenzen sollte die Aufgabe der neuen an genetischen Instituten angeschlossenen Zuchtanstalten sein.97 War die Zucht von Stämmen „mit besonderen konstitutionellen Merkmalen“ deswegen schon genetische Forschung? Nein, insofern die genetische Analyse darauf angelegt war, verbesserte Werkzeuge für die medizinische Forschung herzustellen. In der genetischen Unterscheidung von Geno- und Phänotyp lässt sich das Verhältnis zwischen Gegenstand und Werkzeug so ausdrücken: Zwar musste in Zuchtexperimenten versucht werden, die möglichen erblichen Wirkungen voneinander zu trennen, als einzelne Erbfaktoren zu analysieren und dann selektiv reinzuzüchten. Als Mittel dazu mussten verschiedene Tests zur Verfügung stehen, um den Phänotyp – die unterschiedliche Empfänglichkeit der Individuen gegenüber einer Infektion – zu bestimmen. Der Phänotyp diente als Detektor für die genotypischen Verhältnisse. Gelang es schließlich, diese Verhältnisse in Erbformeln gerinnen zu lassen, wurden aber die Rollen getauscht. Der – geronnene – genetische Gegenstand wurde jetzt seinerseits zum Werkzeug. Die Erbformel erlaubte nun die planmäßige Manipulation des Versuchsobjektes, zum Beispiel die Zucht eines Versuchstierstamms mit einer bestimmten einheitlichen Resistenz. Das Wissen um die Erbverhältnisse wurde dann zur Grundlage für die Formung eines probaten Werkzeugs für Fragen an den Phänotyp. Die „erbreinen Stämme“ als instrumentelle Black Box verdunkelten die Erblichkeit der Resistenz. Das Wissen um die Erblichkeit ermöglichte somit die eigene Negation.98 Diese Negation ist eine Art Bewegungsphänomenologie der funktionalen Rollen im Experimentalsystem. Aus ihr geht nicht hervor, was mit dem Werkzeug oder dem Gegenstand passierte. 3.2.6 Auslese, Reinzucht und Organisationsstruktur: Positivität der erblichen Konstitution Die Vermischung und wechselseitige Bedingung der „erblichen Disposition“ als Werkzeug und Gegenstand konnte in einer weiteren Wendung die Erblichkeit als Forschungsinteresse affirmieren. Der Krebsspezialist Caspari, der in seiner Denkschrift zunächst Impftumore als Mittel zur Erforschung von physiologischen und anderen Aspekten von Tumoren thematisiert hatte, widmete sich dann den spontanen Tumoren. Sie seien ein noch bedeutsameres Forschungs97 Vgl. Nachtsheim 1928h: 301. Diese Negation konnte von praktischer und theoretischer Auswirkung sein: Unter den Bedingungen der völligen genetischen Gleichförmigkeit wurde der Idee der genetisch bedingten Unterschiedlichkeit der materielle Anhaltspunkt entzogen. Fritz Lenz warnte: „Auf eine naheliegende Gefahr des Irrtums sei besonders hingewiesen. Die gebräuchlichen Versuchstiere Mäuse, Kaninchen, Meerschweinchen stammen meist aus Inzuchtlinien; die Individuen eines Stammes sind daher in viel höherem Maße erbgleich als die Individuen einer menschlichen Bevölkerung. Dieser Umstand macht die genannten Versuchstiere gerade besonders geeignet für das Studium von Umweltwirkungen wie Infektionen [...] Eben darum aber haben die Bakteriologen bei ihren Tierversuchen meist keine erblichen Unterschiede der Widerstandsfähigkeit bzw. Anfälligkeit gefunden” (Lenz 1936: 592). – Genau genommen, ist die Negation erst vollständig, wenn ein Inzuchtwerkzeug etabliert ist. Solange der Prozess der Fixierung einer bestimmten erblichen Form noch andauert und das Gelingen im Ungewissen steht, ist dieses Experiment zugleich Untersuchung des genetischen Gegenstandes wie seine instrumentelle Anwendung 98 129 gebiet als das der Impftumoren. Die Erblichkeit der Disposition für Spontantumoren und für Krebskrankheiten im Allgemeinen, die Gesetze ihrer Vererbung, die Vererbung des Lebensalters des Auftretens der Krankheit und die der lokalen Organdisposition wären die Fragen, die sich in diesem Forschungsgebiet stellten.99 Die „erbliche Disposition“ war dann der Gegenstand der Forschung – reine Positivität. Zurück von der systematischen zur wirkungsgeschichtlichen Darstellung: Erst geht es jetzt um den Diskurs und – im nächsten Abschnitt – den Ort, in dem sich die erbliche Disposition bzw. Konstitution als Gegenstand etablierte. 3.2.6.1 Kühns Initiative: „Reine Vermehrungs-Zuchtanstalten“ und „genetische Züchtungsanstalten“ Die Vorstellungen der Mediziner scheinen mit Gründung der Gemeinschaftsarbeit zur Reinzucht von Versuchstieren und der Einrichtung der Versuchstierzuchtanstalten 1929 in Göttingen und im Plauerhof nicht prinzipiell gelöst worden zu sein. Einige Jahre später gab es erneut Diskussionen um die Versuchstierzucht. Von den Medizinern war zwar zunächst die Initiative zur Einrichtung von Tierversuchsanstalten mit reingezüchteten Tierstämmen ausgegangen. Nun waren es aber nicht mehr ihre Argumente, die im Mittelpunkt standen, sondern die der Genetiker. Zwar war Reinzucht, Vereinheitlichung und Standardisierung weiterhin ein zentrales Thema, doch daneben hatte sich der differenzielle Aspekt der Tierzuchten geschoben. Die erbliche Unterschiedlichkeit wurde nun als solche beachtet und musste ihren eigenen Platz, räumlich wie methodisch, in der Arbeit der Zuchtanstalten erhalten. In die Verhandlungen um die Versuchstieranstalt waren von Beginn an Vererbungswissenschaftler hinzugezogen worden. Neben Erwin Baur und Hans Nachtsheim war das vor allem Alfred Kühn. Und Kühn hatte bereits 1928 der Notgemeinschaft ins Gewissen geschrieben, dass den Medizinerkreisen unbedingt noch einmal die genetischen Grundlagen solcher Tierzuchten verständlich gemacht werden müsse.100 An Kühns Institut wurde seit Anfang der zwanziger Jahre Säugetiergenetik und entsprechende Zuchten betrieben. Nachdem Kühn ab 1928 seine Göttinger Meerschweinchenzucht zum Zwecke der Reinzucht ausgebaut und ab 1931 auch die Leitung der Tierzuchtanlage der Notgemeinschaft in der Strafanstalt Brandenburg übernommen hatte, wurde er die treibende Kraft in der Diskussion um die Organisation und den Ausbau der Versuchstieranstalten. Im September 1934 richtete Kühn eine Denkschrift an die Notgemeinschaft, in der er die Erweiterung der Tierzuchtanlagen anmahnte. Kurz zuvor hatte die von Kolle organisierte „Wissenschaftliche Woche zu Frankfurt“ stattgefunden, zur Herstellung des Werkzeugs. Im Experimentalgeschehen können beide Rollen der „erblichen Disposition“ im gleichen Arbeitsablauf zusammenfließen. 99 Vgl. Caspari 1928: 152. Dass es sich für die deutsche Krebsforschung dabei um keinen ganz selbstverständlichen Schritt handelte, ist Casparis Vergleich mit der amerikanischen Forschung zu entnehmen. Alles, was über die Fragen der Vererbung des Krebses bekannt sei, wisse man hauptsächlich aus den Versuchen von Leo Loeb und seinen Mitarbeitern Maud Slye, Thyzzer und Lynch an Mäusen. Hiesige Versuche – seine eigenen am Institut für experimentelle Therapie – litten hingegen trotz aller Sorgfalt am uneinheitlichen Versuchsmaterial (vgl. ebd.: 151). 100 Vgl. 30.6.1928, Karl Stuchtey an Schmidt-Ott (GStA, I. HA, Rep. 92, C58: Bl. 198). 130 ein großes Symposium, das durch seine übergreifenden Themen und die unterschiedlichste fachliche Beteiligung den Geist der Gemeinschaftsarbeiten in die Wissenschaft tragen sollte. In den Verhandlungen sei dringlich, so berichtete Kühn, der größere Bedarf nach Versuchstieren aus speziellen Zuchtanstalten hervorgetreten.101 Auch in anderen Forschungszusammenhängen wurde die Notwendigkeit des Ausbaus der Zuchteinrichtungen wiederholt betont – so durch eine Kommission der Notgemeinschaft, die sich seit 1932 mit Erbschädigungen durch Strahlenwirkung befasste.102 Daneben lenkten Initiativen zur forschungspolitischen Koordination der Krebsforschung die Aufmerksamkeit auf die Versuchstierzucht.103 Kühn drängte bis zu seinem Wechsel an das Berliner Kaiser-Wilhelm-Institut für Biologie 1937 beständig auf den Ausbau der Anlagen in Plauerhof sowie in Göttingen. In seiner Denkschrift rekapitulierte Kühn die Leistungen und Aufgaben der wissenschaftlich kontrollierten Versuchstierzucht. „Die neueren genetischen Untersuchungen haben gezeigt, dass die Reaktionsweisen der Tiere in den verschiedensten Hinsichten außerordentlich stark erblich verschieden sind. Es müssen daher große Mengen von genetisch reinen Tieren zur Verfügung stehen.“104 Zahlreiche medizinisch-biologische Untersuchungen verlangten Tiere mit verschiedenen Reaktionsweisen. Deshalb müssten verschieden reagierende Rassen in genügender Reinheit und Stückzahl gezüchtet werden. Nachdem Kühn die Aufgaben der Tierzuchtanstalten differenziert hatte, entwarf er einen umfassenden Plan für die Organisation der Versuchstierzuchten. Vorausgesetzt war, dass die Zuchten weiterhin in der Obhut der Wissenschaftsorganisation verbleiben und einer professionellen Leitung unterstehen sollten. Nach Kühns Plänen sollte die Organisation aber in „genetische Züchtungsanstalten“ und „reine Vermehrungs-Zuchtanstalten“ unterteilt werden. Diese strukturelle Aufteilung ergab sich konsequent aus der Differenzierung der Aufgaben, die die Zucht der Versuchstiere erfüllen sollte. Die reinen Vermehrungsanstalten sollten spezielle Rassen und Inzuchtstämme „nach einem bestimmten Zuchtplan, im Wesentlichen in enger Inzucht“ vermehren.105 Hierbei kam es vor allem darauf an, dafür zu garantieren, dass die Stämme gesund und ihre Gleichmäßigkeit erhalten blieb. Vermehrung und Erhalt waren also die Aufgabe der Vermehrungszucht. Die Technik war vor allem Inzucht. Die Aufgabe der genetischen Zuchtanstalt sollte hingegen die ‚Herstellung’ von geeigneten Zuchttieren sein: Suche nach bestimmten Merkmalen, Auslese und Kombinationszucht. Der Bedarf nach dieser gesonderten Auslesearbeit ergab sich aus den Erwartungen an die Versuchstierzucht. Es galt, wie oben dargestellt, entsprechend „den Bedürfnissen der medizinsch-biologischen Arbeitsziele“ möglichst geeignete Tiere auszuwählen.106 Dies erforderte eine 101 Vgl. o.D. (im Juni 1935 ergänzte Denkschrift vom 26.9.1934), Kühn, abgezogene Schrift: „Zoologisches Institut der Universität Göttingen...“ (BA Ko, R 73, 12475: Seite 2 v. 5). 102 Siehe dazu 4.2.1. Die Hälfte der Kommissionsmitglieder dort waren Vererbungswissenschaftler. 103 Siehe dazu 3.3.5. 104 o. D., Kühn: „Zoologisches Institut...“ (BA Ko, R 73, 12475: Seite 2 v. 5) (s. Anm. 101) 105 o. D., Kühn: „Zoologisches Institut...“ (BA Ko, R 73, 12475: Seite 4 v. 5) (s. Anm. 101) 106 o. D., Kühn: „Zoologisches Institut...“ (BA Ko, R 73, 12475: Seite 3 v. 5) (s. Anm. 101) – Eine ähnliche Differenzierung der Zuchtarbeiten wurde Mitte der fünfziger Jahre am Jackson Memo- 131 besondere Kenntnis und Expertise in vererbungswissenschaftlicher Methode und Theorie. Jedenfalls erforderte die Verwendung von Versuchstieren in medizinisch-biologischen Versuchen eine vorhergehende Durchforschung der Tiere hinsichtlich ihrer Erbeigenschaften. In den genetischen Züchtungsanstalten stand also die Beschäftigung mit der erblichen Konstitution der Tiere im Vordergrund. Aus den Gemeinschaftsarbeiten zur „Reinzucht von Versuchstieren“, wie die Denkschriften 1928 noch überschrieben gewesen waren, wurden die „Gemeinschaftsarbeiten zum Zweck der Züchtung von Versuchstieren mit besonderen konstitutionellen Merkmalen“. 3.2.6.2 Erbliche Konstitution: Vom negierter Gegenstand zum epistemischen Gegenstand Kühns Aufzählung der Aufgaben der wissenschaftlich geleiteten Versuchstierzucht spitzte den Sinn reiner Rassen mit verschiedenen konstitutionellen Merkmalen ein weiteres Mal zu. Sie seien „vor allem auch nötig, um die Frage zu lösen, wieweit für verschiedene Erkrankungen oder Krankheitsbereitschaften die erbliche Veranlagung oder die äußeren Entwicklungsbedingungen, Folgen anderer Infektionen u.s.w. maßgebend sind“.107 Kühn benannte die Erforschung der Erblichkeit von Krankheiten und Krankheitsveranlagungen als eigenes Ziel der Tierzucht und der Forschung. Es sei deshalb wichtig, wie Kühn weiter ausführte, systematisch Versuchstierstämme zu ziehen, in denen sich erbliche Missbildungen und Erbkrankheiten fänden, welche auch beim Menschen vorkommen. Damit geriet ein eigenes Forschungsgebiet, die medizinische Genetik oder „menschliche Erbpathologie“ (Kühn), in den Blick. Die Versuchstierstämme mit speziellen Erbkrankheiten und Missbildungen könnten als „‚Modellversuche’ für Fragen der Entstehung der menschlichen Erbkrankheiten“ dienen.108 Die Aufzählung Kühns stellt sich wie die Systematisierung einer zeitlichen Abfolge der veränderten Funktion der Zuchtanlagen der Notgemeinschaft dar: von der Gesunderhaltung der Tiere zur Zucht genetisch reiner Stämme, dann Zucht genetisch reiner Stämme mit bestimmten Eigenschaften, abgestimmt auf medizinische Fragestellungen, und schließlich die spezialisierte Suche nach erbpathologisch interessanten Merkmalen als Gegenstand der Forschung. Ohne eine strenge Chronologie behaupten zu können, kommt doch in der Gegenüberstellung Kühns Planung von Mitte der dreißiger Jahre und der Sonnenburger Anfänge eine Entwicklung zum Ausdruck. Diese Entwicklung kann als die Professionalisierung der Zuchtmethodik, die Ausbildung einer integralen Infrastruktur und die systematische Differenzierung der Ziele einer Versuchstierzuchtanstalt gesehen werden. Damit einher ging die Heraushebung des genetischen Gegenstands, ein Ergebnis, das keinem intendierten Zweck im Engagement der Notgemeinschaft entsprach. Die Herstellung von genetisch reinen Versuchsstämmen als Werkzeuge der Experimentalmedizin setzte die Beschäftigung mit den erblichen Verhältnissen der Tiere voraus. In diesen Experimenten war das Erbliche noch das Unerkunrial Laboratory vorgenommen. Anlass dazu war aber die Erfordernis, die Kontrolle über die Zuchten zu erhöhen (vgl. Gaudillière 2001a: 189). 107 o. D., Kühn: „Zoologisches Institut...“ (BA Ko, R 73, 12475: Seite 2 v. 5) (s. Anm. 101) 108 o. D., Kühn: „Zoologisches Institut...“ (BA Ko, R 73, 12475: Seite 3 v. 5) (s. Anm. 101) 132 dete und noch nicht Geformte. Der epistemische Gegenstand der Experimente war genetisch. Die Zuchtkniffe wurden selbst zum Experiment. Das Aufgabenspektrum der Versuchstierzuchten hatte sich in der dialektischen Bewegung um die erbbiologische Forschung erweitert. 1935 dankte Kühn der Forschungsgemeinschaft. Es sei nur durch ihre Förderung möglich gewesen, die Zuchten aufzubauen und auszuwerten, „deren Bedeutung für die Erkenntnis der erblichen Konstitution und für die medizinische Versuchstierverwertung immer deutlicher sich ergibt“.109 Der Schritt zur „Erkenntnis der erblichen Konstitution“ als eigenes Anliegen der Zuchten war methodisch und organisatorisch nicht mehr weit. Aus den verfolgten Zielen der medizinischen Forschung erwuchs ein machtvolles Instrumentarium, die genetischen Bedingungen einer Krankheit zu erforschen. 3.3 Von der Methode zur Aufgabe – züchtungstechnisch vermittelte Übergänge (Konjunkturen) zwischen Infektionsmedizin und Säugetiergenetik „In gemeinsamer Arbeit mit medizinischen, physiologischen und chemischen Instituten sollen die konstitutionellen Eigenschaften der reinen Stämme (Lebenseignung, Widerstandkraft gegen Außenbedingungen, Infektionen u.a.) und die Erblichkeitsweise dieser Eigenschaften geprüft werden, damit das Material in möglichst vielseitiger Weise der 110 medizinischen Forschung nutzbar gemacht werden kann.“ Im Diskurs um die Versuchstierzucht spiegelte sich eine Abfolge von funktionalen Rearrangements in den durch die Versuchstierzucht unterstützten Experimentalsystemen wider. Diese Rearrangements machten sich an der veränderten Rolle des Genetischen fest. Wie kamen aber diese Verschiebungen in der Bedeutung des Genetischen zustande? Man könnte sich zufrieden geben, einfach auf die Bedeutungszunahme erbbiologischer Fragestellungen in der Weimarer Zeit hinzuweisen oder ein unmittelbar theoretisches Interesse zu unterstellen. Man könnte auch die Veränderung im Forschungsinteresse auf die wachsende allgemeingesellschaftliche Bedeutung eugenischer Denk- und Deutungsmuster zurückführen. Dies ist schon deshalb plausibel, da die Versuchstierzuchten auch in einen eugenischen Kontext eingebunden waren, wie Kapitel 4 zeigen wird. Dagegen ist die Meinung vertreten worden, dass der Schwenk vieler deutscher Mediziner auf erbbiologische Fragen unabhängig von ihrer Einstellung zur Eugenik, ja oftmals trotz ihrer Ablehnung erfolgte.111 Entscheidend für diesen Einstellungswandel gegen Mitte und Ende der zwanziger Jahre sei die Rezeption von Zwillingsuntersuchungen, serologischer Arbeiten und nicht zuletzt der Tierzucht gewesen. Dies legt nahe, dass die biologische Transformation der 109 10.12.1935, Kühn an DFG (BA Ko, R 73, 12475: Seite 9 v. 9) 4.12.1934, Kühn an Notgemeinschaft (BA Ko, R 73, 12475: Seite 6 v. 9) 111 Vgl. Mendelsohn 2001: 60-61. Ein prominentes Beispiel für den Wechsel zu genetischen Fragestellungen ist Fred Neufeld (Robert Koch-Institut, Berlin, und einer der Verfasser der Versuchstierdenkschriften). 110 133 Medizin, das heißt die Übernahme biologischer Konzepte und Methoden, die Medizin empfänglich für genetische Themen machte.112 Die Zusammenarbeit zwischen dem Göttinger Zoologischen Institut und dem Institut für experimentelle Therapie ist ein konkretes Beispiel, an dem die Bedeutung der experimentellen Praxis für jenen Einstellungswandel deutlich gemacht werden kann. Zugleich wird plausibel, warum gerade die mendelsche Genetik im konstitutionellen Denken der Medizin eine Rolle spielen konnte.113 Die methodische Durchdringung der Versuchstiere mit Begriffen und ihre Klassifizierung nach Konzepten der Vererbungswissenschaft schufen alle Voraussetzungen, die um die Versuchstierzucht gruppierten Experimentalsysteme zu genetisieren. Das Ziel dieses Abschnitts ist es, die Bedingungen für die Verschiebungen in den Zielen der Versuchstierzucht in ihrer eigenen Praxis zu suchen. Es geht darum, züchtungstechnisch vermittelte Übergänge zwischen Medizin und Genetik aufzuzeigen. Genetisches und medizinisches Wissen konnte sich durch die experimentelle Kooperation und der daraus erwachsenden Konjunktur der serologischen und genetischen Experimentalsysteme verbinden.114 Als entscheidend erweist sich, dass die Versuchstierzucht als wissenschaftliches und speziell als mendelgenetisches Problem neu gefasst worden war. Die Verwissenschaftlichung und Professionalisierung integrierte die Göttinger und Frankfurter Experimentalkulturen entsprechend dem Prinzip des ‚erweiterten Labors’. Am Frankfurter Staatsinstitut wurde einerseits durch die Integration genetischer Inzuchtstämme die Umformulierung der serologischen und immunologischen Versuche in erbbiologische Versuche möglich. Die erbliche Unterschiedlichkeit stellte einen Katalysator dar, der den medizinisch-biologischen Problemraum auf Vererbungsfragen fokussierte. Auf diese Weise wandelte sich die genetische Konstitution von der Experimentalbedingung zum Experimentalgegenstand und tauschte ihren instrumentell gefestigten Charakter gegen das Prekäre eines epistemischen Gegenstands. Die Kreuzung medizinischer und genetischer Wissenschaft spannte andererseits Kühns Göttinger Institut in den Kontext medizinischer Forschungsprobleme ein und führte sie an die Erbpathologie heran. 3.3.1 Der Plauerhof – Professionalisierung der Versuchstierzucht: Standardisierung Der Neuanfang in Plauerhof bedeutete vor allem den Einstieg in die Professionalisierung der Versuchstierzucht. Die einfache Zucht als Haltung und Vermehrung von Tieren, wie sie in Sonnenburg noch betrieben worden war, musste mit der Einrichtung der so genannten Reinzuchtanstalten durch eine komplizierte und professionalisierte Organisation ersetzt werden. Die züchterischen Aufga- 112 Vgl. Mendelsohn 2001: 25. – Ganz in diese Richtung geht die Untersuchung von Amsterdamska 2001: 173. – Im Beispiel des Jackson Laboratory (USA) wurden über genetische kontrollierte Versuchstiere, Medizin und Eugenik verbunden (vgl. Gaudillière 1999: 95). 113 Die Frage wird von Mendelsohn 2001: 64 aufgeworfen. 114 Dagegen ein amerikanische Beispiel, bei dem reine Stämme Labor und Klinik, nicht aber biologisches und klinisches Wissen verbinden konnten (vgl. Löwy & Gaudillière 1998: 240). 134 ben in den Tierzuchtanstalten wurden durch die Einbindung der Vererbungswissenschaft wesentlich erweitert. Skeptisch hatte sich Kühn über die Voraussetzungen der Strafanstalt Sonnenburg geäußert.115 Noch konnte er den jährlichen Bedarf des Kolleschen Institut – 2.000 Meerschweinchen für Diphtherieresistenz – durch eigene Zuchten decken; doch über kurz oder lang werde „die Massenaufzucht reiner Stämme im Großen ein Bedürfnis“.116 Die von der Notgemeinschaft bei Küstrin in der Strafanstalt Sonnenburg eingerichtete Zuchtanstalt wurde 1931 zusammen mit der Strafanstalt aufgelöst und in die nagelneue Landesstrafanstalt bei der Stadt Brandenburg verlegt.117 1932 wurde mit der Zucht von Meerschweinchen und Mäusen begonnen. Ende 1934 war der Bestand an Zuchttieren von Meerschweinchen auf 1.500 Tiere angewachsen. Von knapp tausend gezüchteten Mäusen wurde die Hälfte abgegeben.118 Der relativ langsame Zuwachs erklärt sich durch das von Kühn beabsichtigte langsame und explorative Vorgehen beim Aufbau der Zuchten, da die Etablierung der Zuchtstämme nicht einfach vom lokalen Kontext zu trennen war und das Arrangement der Zuchttechniken sorgsam abgestimmt werden sollte.119 Die Auflösung von Sonnenburg wurde genutzt, nun auch diese Versuchstierzucht der Notgemeinschaft an ein wissenschaftliches Institut anzubinden und umzustellen. Dass dies kein einfaches Unterfangen war, hatten die Zuchtergebnisse der Versuchstieranstalt in Hohenheim gezeigt. Diese Anstalt, die „ja in Aussicht genommen war für Massenaufzucht, besonders für das Züchten geeigneter Stämme“, so befürwortete Kolle das Brandenburger Projekt, hatte „bisher vollkommen versagt“.120 Der Zuchtbetrieb in Plauerhof musste ganz neu gestaltet werden. „Im Gegensatz zu den früher in Sonnenburg geführten Tierzuchten hat die Experimentalforschung heute nicht mehr ein so grosses Interesse daran, Versuchstiere überhaupt zu züchten, sondern solche mit bestimmten konstitutionellen Merkmalen“, erklärte Schmidt-Ott der zuständigen Strafvollzugsbehörde.121 Die Zuchten könnten ihren vollen Wert nur gewinnen, wenn in engster Fühlung mit der Göttinger Zuchtstelle verfahren würde, das heißt, dass „gerade für diese als standardisiertes Reagenzmaterial gedachten Stäm115 Vgl. 2.7.1931, Kühn an Schmidt-Ott (BA Ko, R 73, 159). 2.7.1931, Kühn an Schmidt-Ott (BA Ko, R 73, 159) 117 Das spätere Schicksal der Versuchstierzuchten im Plauerhof ist nicht ganz klar. Die Strafanstalt Brandenburg/Havel war im Ortsteil Görden untergebracht. Es ist deshalb anzunehmen, dass sie identisch ist mehr der Strafanstalt, die hier 1939 aufgelöst wurde, dann als chemischtechnische Versuchsanstalt firmierte, und in der im Rahmen der so genannten Euthanasieaktion planmäßige Ermordungen von Patienten der benachbarten psychiatrischen Anstalt stattfanden (vgl. Klee 1993: 174). Die Versuchstierzuchten auf dem Staatsgut Plauerhof wurden ab 1937 von F. Kröning geleitet, verschiedenen Hinweisen zur Folge bis mindestens 1943 (vgl. BA Ko, R 73, 12435; UAG, Rek. PA Kröning). Quellen zu den Aktivitäten vor Ort ab 1937 sind mir nicht bekannt. 118 Vgl. 4.12.1934, Kühn an die Notgemeinschaft (BA Ko, R 73, 12475: Seite 3 v. 9). 119 Vgl. 30.6.1928, Karl Stuchtey, Notgemeinschaft, Apparateausschuss, an Schmidt-Ott (GStA, I. HA, Rep. 92, C58: Bl. 198). 120 2.7.1931, W. Kolle an Schmidt-Ott (BA Ko, R 73, 159); vgl. auch 26.6.1929, Dr. Wo/Wk.: Besprechungsprotokoll mit Prof. Kühn am 26.6.1929 (BA Ko, R 73, 160). – Die Weiterführung der Versuchstierzucht in Plauerhof wurde daraufhin auf einer Präsidialsitzung der Notgemeinschaft am 11.7.1931 beschlossen. 121 5.1.1932, Schmidt-Ott an Präsidenten des Strafvollzugsamtes, Berlin (BA Ko, R 73, 159) 116 135 me die Zuchtverfahren auch standardisiert werden“.122 Paarungs- und Wurfprotokolle sollten ständig nach Göttingen geschickt werden. Die Verteilung der Versuchstiere an interessierte Institute würde dann in Göttingen zentral koordiniert. Während man sich bislang auf das einfache Gefängnispersonal verlassen hatte, das die Sträflinge bei der Pflege und Fütterung der Tiere anleitete, so ließ der neue Anspruch dies nicht zu. Es war notwendig, einen Tierpfleger mit „besonderer Ausbildung“ in Plauerhof zu stationieren.123 Kühn legte großen Wert auf die vertragliche Vereinbarung, dass die Aufsicht über den Tierpfleger vor Ort ganz allein ihm unterlag. Die Aufgabe des Tierpflegers war nicht mehr auf Haltung, Fütterung und Pflege begrenzt, sondern erforderte ein besonderes Verständnis vererbungswissenschaftlicher Arbeitsmethoden und entsprach somit der Aufgabe eines technisch-wissenschaftlichen Assistenten. Haltungsbedingungen, Fütterung, Markierung der Tiere, ihre Registrierung und Pflegeabläufe wurden unter wissenschaftliche Kontrolle gebracht. Nachdem der Verwalter von Plauerhof, der zunächst die Zuchtaufsicht übernehmen sollte, zur Einweisung nach Göttingen gefahren war, wurde auch dem Gefängnisdirektor deutlich, dass „für die Vornahme dieser Züchtungsarbeit und der damit verbundenen, besonders peinlich genauen Zuchtbuchführung nach Göttinger Muster nur eine Person in Frage kommt, die nach längerer Eignungsprüfung und guter Ausbildung am zoologischen Institut in Göttingen für geeignet angesehen wird“.124 Die Konsequenz war, dass, nicht wie bislang ein „mittelmäßiger Strafanstaltsaufsichtsbeamter“125 (Kühn) mit der Aufgabe betraut wurde, sondern Kühn aus Göttingen einen Tierpfleger schickte, der am dortigen Landwirtschaftlichen Institut ein besonderes Examen abgelegt hatte. Die Zuchttiere zum Aufbau der Massenzucht wurden ebenfalls aus Göttingen geliefert. Zunächst wollte aber Kühn nur mit wenigen Stämmen die Funktionstüchtigkeit des technisch-personellen Zuchtsystems im fernen Brandenburg testen. Das System musste gewährleisten, dass die Zuchtstämme unverändert blieben. Dies war keine triviale Aufgaben, da neuere Mutationsversuche gelehrt hatten, „dass auch in den Inzuchtstämmen nicht selten äußerlich nicht auffallende Erbgutveränderungen auftreten, durch welche ein ursprünglich einheitlicher Stamm unvermerkt in mehrere Linien mit verschiedener Reaktionsweise zerfallen kann“.126 Die Expertise und die technischen Voraussetzungen mussten also das Erkennen auch solcher schwer erkennbarer oder verborgener Veränderungen möglich machen, um rechtzeitig entsprechende Tiere aus der Zucht auszuschließen. Alle diese Maßnahmen standen unter dem Ziel, standardisierte Zuchtstämme zu produzieren, die, wann auch immer sie angefordert und wo auch immer sie in Experimenten verwendet wurden, „dieselben konstitutionellen Eigenschaften“ aufwiesen. Durch die Angleichung der Tiere, Arbeitsweisen und Bedingungen der Brandenburger Zuchtanstalt an die der Göttinger wurde zudem der Einfluss des Ortes und der involvierten Personen bei der Zucht zurückgedrängt. So wur122 19.10.1931, Kühn an Schmidt-Ott (BA Ko, R 73, 159) Vgl. 19.10.1931, Kühn an Schmidt-Ott (BA Ko, R 73, 159). 124 12.12.1931, Der Strafanstaltsdirektor Dr. Schwerdtfeger an Schmidt-Ott (BA Ko, R 73, 159) 125 26.12.1931, Kühn an Schmidt-Ott (BA Ko, R 73, 159) 126 o. D., Kühn: „Zoologisches Institut...“ (BA Ko, R 73, 12475: Seite 4 v. 5. (s. Anm. 101) 123 136 den Tiere aus Göttingen durch solche aus Plauerhof ersetzbar und umgekehrt. Für einen Experimentator war es gleichgültig, wo er seine Tiere bestellte, da es sich um „standardisiertes Reagenzmaterial“127 handelte. 1935 berichtete Kühn zufrieden an die Deutsche Forschungsgemeinschaft, dass sich die Zusammenarbeit mit der Zuchtanstalt Plauerhof bewährt habe. Die Bereitstellung ganz bestimmter Züchtungsprodukte sei gewährleistet.128 Dass diese Leistung ohne den entsprechenden personellen Aufwand nicht möglich war rief er immer erneut ins Gedächtnis: „Mit dem Bedarf der verschiedenen Anstalten an genetisch reinem Versuchsmaterial wachsen die Ansprüche an das Personal. [...] Ohne eine genaue Protokollführung sind alle Versuche wertlos.“129 Die Neuorganisation der Versuchstierzucht im Plauerhof macht augenfällig, von welcher Bedeutung die richtige Organisation von Haltung, Fütterung und Zuchttechnik geworden war. Der Zufall wurde mit aller wissenschaftlichen Expertise angegangen. Die panoptischen und lokalen Praktiken, die in der Göttinger Säugetiergenetik über Jahre hinweg entwickelt worden waren, wurde auf die Plauerhofer Zucht in die bereit stehende Nachtsheimsche Zweckarchitektur übertragen. Durch Kontrolle und jederzeitigen Zugriff wurden bestimmte Eigenarten von Zuchttieren wie ein „immutable mobile“130 weit von Göttingen entfernt als ein Set von Zuchtpraktiken in Bewegung gebracht.131 3.3.2 Vom Sinn einer Züchtungsanstalt – Die Göttinger Säugetierzuchten und ihre Kooperationen Kühn erprobte mit dem Plauerhof bereits im Kleinen, was er 1934 mit seiner Denkschrift bei der Notgemeinschaft anregte. Der Plauerhof entsprach demnach einer „reinen Vermehrungs-Zuchtanstalt“ – während in Göttingen die Idee einer „genetischen Züchtungs-Anstalt“ realisiert wurde. In Göttingen war mit der Herauszüchtung von Versuchstieren mit bestimmten konstitutionellen Merkmalen 1929 begonnen worden. Hier zeigte sich am deutlichsten, dass die Zuchtarbeit selbst zu einer wesentlich wissenschaftlichen Arbeit wurde. Gezieltes Herauszüchten bestimmter Merkmale erforderte nicht nur ein erweitertes genetisches Methodenarsenal, sondern die Erweiterung der Expertise. 3.3.2.1 Das Göttinger Zoologische Institut und die Säugetierzuchtanlage 1920 hatte Kühn das „Zoologische und Zootonische Institut“ der Georg AugustUniversität in Göttingen übernommen und schon wenig später mit der Zuchthaltung von verschiedenen Säugetieren begonnen.132 Kühn und seine Schüler ex127 19.10.1931, Kühn an Schmidt-Ott (BA Ko, R 73, 159) Vgl. 10.12.1935, Kühn an DFG (BA Ko, R 73, 12475: Seite 4 v. 9). Es sei wiederholt, dass es hier um die Bewertung des Ziels und nicht die Beurteilung geht, in wieweit die Standardisierung verwirklicht wurde. 129 29.1.1937, Kühn an DFG (BA Ko, R 73, 12475: Seite 3 v. 3) 130 Latour 1987: 236ff. 131 Das Handlungsprinzip war, den Zufall im Zuchtverlauf auszuschalten. Das soll nicht heißen, dass die experimentelle Praxis lückenlos rational bestimmt war. Der Zufall konnte zum Beispiel eine Rolle in der Auswahl lokaler Praktiken als Standardpraktiken bei der Zucht spielen. 132 Bis dahin hatte er in Freiburg als Assistent von August Weismann Forschungen an niederen Organismen wie parthenogenetischen Cladoceren, Hydroiden und Protozoen (Amöben und 128 137 perimentierten in den zwanziger Jahren mit den unterschiedlichsten Spezies. Die Versuche mit der Mehlmotte Ephestia, die Kühn zusammen mit seinen Mitarbeitern in den dreißiger Jahren zu seinen größten Erfolgen führten, begann er 1924. Die Motten nahmen jedoch keineswegs sofort eine prominente Stellung in Kühns Institutsarbeit ein, wenn auch mehr als hunderttausend Motten aus „speziell entwickelten Massenkulturen“ bis 1930 gezogen wurden.133 Das Ephestiasystem stellte „nur eine unter mehreren Optionen dar, die parallel dazu verfolgt wurden“.134 Erst allmählich begann Kühn, sich für die Verknüpfung zwischen „kreuzungsanalytischen und entwicklungsphysiologischen Fragestellungen und Tatsachen“ zu interessieren, und setzte sich schließlich das Ziel, den Boden für eine „strenge entwicklungsphysiologische Theorie“ zu bereiten.135 In den umfassenden, zusammen mit dem Assistenten Karl Henke, veröffentlichten „Genetischen und entwicklungsphysiologischen Untersuchungen an der Mehlmotte Ephestia...“ ging es zunächst darum, das neue Experimentalobjekt zu etablieren. Das heißt, es wurden die Haltungs- und Züchtungseigenschaften dargestellt.136 Für die Durchführung der Arbeiten mit Säugetieren war Friedrich Kröning verantwortlich. Er hatte bei Kühn 1922 über das Farbensehen promoviert und wurde 1923 als Assistent übernommen. Als einziger Mitarbeiter am Institut beschäftigte er sich mit der Genetik der Säugetiere. Kühn regte ihn dazu an, „außer reinen Mendelfragestellungen unter Zugrundelegung von Mutationen vor allem (entwicklungs-)physiologischen Problemen nachzugehen“.137 Im Mittelpunkt der Trypanosomen) durchgeführt. Nun begann er mit vergleichend physiologischen Arbeiten zur Orientierung im Raum und zum Farbsehen von Tieren. 133 Rheinberger 1999: 88 134 Rheinberger 2001: 544. Bis Mitte der dreißiger Jahre beschäftigte sich nur die Hälfte der Dissertationen mit Ephestia. Andere Doktoranden nahmen Versuche mit der Feuerwanze Pyrrhocoris apterus und der Schlupfwespe Habrobracon juglandis auf, um die Frage nach der Beeinflussbarkeit der Pigmentierung durch äußere Reize wie Wärme zu bearbeiten. 135 Kühn & Henke 1929: 1 – Zunächst hatten auch bei Kühn bei der Beschäftigung mit Zeichnungsmustern und Pigmentierung Fragen der Artumwandlung in Tradition seines Lehrers Weismann im Vordergrund gestanden. Jedoch hatten die an die Temperaturversuche angeknüpften phylogenetischen Fragestellungen sich nicht als fruchtbar erwiesen, wie Kühn 1926 schrieb. „Immer mehr drängten sich entwicklungsphysiologische Fragen in den Vordergrund, Fragen nach den äußeren und inneren Bedingungen der Zeichnungsausbildung, also nach der Zuordnung bestimmter Zeichnungsänderungen zu bestimmten Reizen und inneren Vorgängen, die von den äußeren Einflüssen betroffen werden“ (Kühn 1926: 123). – Kühn unternahm selbst Experimente zur Flügelzeichnung an Schmetterlingen, die zum Teil die Fortführung alter Versuche mit Weismann unter neuer Fragestellung waren. In Temperaturversuchen mit verschiedenen Arten von Argynnis stieß Kühn auf das – nicht unbekanntes Phänomen -, dass die Nachkommen von Temperatur-behandelten Faltern ebenfalls gleichsinnige Veränderungen aufwiesen. In der Vergangenheit hatte das zu Spekulationen über die Vererbung erworbener Eigenschaften Anlass gegeben (vgl. ebd.: 129) 136 Kühn und Henke kamen nach intensiver Prüfung zu dem Ergebnis, dass die fortgesetzte Inzucht zu einer Abnahme der Nachkommenschaft führte und zum Teil „Glasflügeligkeit“ bewirkte (Kühn 1926: 36-40 u. 112). – In weiteren Experimenten sollte geklärt werden, ob der Inzuchtschaden auf verminderter Fruchtbarkeit der Eltern oder erhöhter Sterblichkeit der Nachkommen und ob er auf einer Kombination von bestimmten Mendelfaktoren beruhte oder nicht. 137 o. D. [ca. 1926/27], Kröning: Lebenslauf, Durchschlag (UAG, Kur. PA Friedrich (Albert, Wilhelm) Kröning) – Kröning beschäftigte sich bis zu seiner Habilitation 1928 vor allem mit der Entwicklung die Genese der Pigmentierung und die Modifikabilität der Fellscheckung (vgl. 15.8.1939, Kröning Lebenslauf m.U., in: UAG, Rek., PA F. Kröning). 1922 bzw. 1923 begann K. mit Experimenten an Katzen und Meerschweinchen (vgl. Kühn & Kröning 1928). Methodische 138 1923 begonnenen Experimente an Meerschweinchen standen Selektions- und Reinzuchtversuche. Verschiedene Methoden der Inzucht wurden ausprobiert: Rückkreuzung, Vetternehe und Bruder-Schwester-Inzucht, von denen Kröning letztere schließlich als Hauptmethode zur Fixierung von Merkmalen wählte. Die Reinzuchtstämme waren durch ihre Scheckung, den Grad der Rosettenbildung der Haarstellung oder durch ihre Pigmentierung charakterisiert. Schnell wurden über 30 verschiedene Pigmentierungs- und Haarvariantenstämme etabliert.138 Obwohl die Fell- und Pigmentstudien mit Intensität betrieben wurden, erschien außer zwei Untersuchungen zur Scheckung nur eine weitere Publikation über die Pigmentchemie.139 Der erste Bericht über mendelsche Erbanalysen erschien erst 1934. Mit diesen Untersuchungen wurde 1928, also parallel zu den Verhandlungen in der Notgemeinschaft über die Ausweitung der Versuchstierzuchten, begonnen. Auffällig ist vor allem, dass die Meerschweinchen ab jetzt nicht mehr nur nach Fellfarben und Musterung untersucht wurden, sondern Aborte und Frühgeburten, die Jugendsterblichkeit sowie alle möglichen anderen auffälligen Merkmale registriert wurden.140 Kröning stellte zu den Unterschieden in Wurfgröße und Lebensfähigkeit fest, dass kein Zweifel bestehen könne, „dass diese Unterschiede, da es sich um Inzuchtstämme handelt und da sämtliche Stämme unter den gleichen Bedingungen aufgezogen sind, genetischer Natur sind“.141 Die Erforschung von Unterschieden in der Überlebensfähigkeit oder Vitalität beschäftigte zur gleichen Zeit auch Kühn. Dies war ebenso wenig ein Zufall, wie Krönings Hinwendung zur Mendelanalyse neuer Merkmale, wie noch zu sehen sein wird. Gleich, nachdem in der Notgemeinschaft die Neugestaltung der Versuchstierzucht beschlossen worden war, wurde entsprechend der speziellen Erfordernisse mit dem Bau einer neuen, großzügigen Tierzuchtanlage am Göttinger Institut begonnen. Die Architektur wurde bis ins Detail auf die Zuchtansprüche und ihre Praxis hin abgestimmt. Die Anordnung der Ställe und die architektonische Führung der Arbeitsabläufe mussten die Standardisierung der Tiere, die Rationalisierung der standardisierten Arbeitsprozesse und die genetische Arbeit durch Kontrolle und Übersicht unterstützen. „Will man planmäßig und in größeren Mengen Säugetiere züchten, die von Versuch zu Versuch ganz gleichwertiges Tiermaterial liefern sollen, so muß erstens für alle Versuchstiere der LeProbleme standen bei den Versuchen zunächst im Vordergrund. So stellte sich die Klassifikation der Scheckungsvarianten zum einen, die Erfassung feiner Pigmentierungsunterschiede zum anderen als entscheidende Probleme dar. An der Vielgestaltigkeit der Scheckung hatten sich bislang vor allem amerikanische Genetiker umsonst abgearbeitet. Die Untersuchungen mit den Katzen führten nach sechsjähriger Arbeit zur Bestimmung eines Gens und der Annahme eines Modifikationsfaktors. Klar war aber nicht, ob zu einem anderen Genort gehörte oder ein Allel des analysierten Faktors war. Durch die Genanalyse überführte K. eine kontinuierliche Reihe von Scheckungsvarianten in eine „Stufenfolge“, der verschiedene Genotypen zugeordnet wurden. Das quantitative Merkmal stellte sich als qualitatives Merkmal dar. Neben diesen Züchtungsversuchen versuchte Kröning, die Modifikabilität der Scheckung über so genannte Doppelmissbildungen zu untersuchen (vgl. Kröning 1924). Bis Ende der zwanziger Jahre bemühte sich Kröning, die Messtechniken zu verfeinern, um Pigmentierungsintensitäten in reproduzierbaren Maßen ausdrücken zu können (vgl. Kröning 1930b). 138 Vgl. Kröning 1934b: 25. 139 Vgl. Kröning 1930a. 140 Vgl. Kröning 1934b: 26. 141 Kröning 1934b: 43 139 bensraum und das Milieu möglichst gleichartig sein. [...] Das bedingt, daß die gesamte Zuchtanlage: die Räume oder der Platz, wo die Tiere gezogen werden, die Käfige, in denen sie gehalten werden, das Futter in seiner Zusammensetzung und Darbietung gleichartig und der jeweiligen Tierart angepaßt sein muß.“142 Der fast 20 Meter lange Neubau der Zuchtanlage bot sich dementsprechend als eine gleichmäßige Konstruktion dar, in der die Meerschweinchen in jeder Stelle gleich belüftet und belichtet waren. Die Ställe waren in über die Länge des Gebäudes laufende Reihen aufgestellt und nicht in Nischen verschachtelt, wie es sonst verbreitet war. Dies ermöglichte nicht nur eine Beschleunigung aller Arbeitsabläufe, sondern sollte auch die bessere Überwachung und den Vergleich des Zustands der Ställe und der Tiere begünstigen. Eine besonderes Kanalsystem und Sickerschächte sorgten für den Abfluss aller Jauchereste und Flüssigkeiten, womit Kondenswasser an Decken und Türen vermieden werden konnten. Die Fütterung wurde einseitig, dafür sehr gleichartig gehalten: Heu und Rüben wurden über die Jahre vom gleichen Landwirt bezogen, sowie für die Grasnutzung die gleichen Wiesenflächen genutzt. Für die Registrierung und die damit verbundenen Untersuchungen stand ein gesonderter Registrierraum zur Verfügung.143 3.3.2.2 „Medizinisch-biologische Grenzprobleme“ und die Arbeit an den Versuchstieren Schon vor der Einrichtung der Versuchstierzuchten 1929 am Göttinger Institut waren vereinzelt auffällige Merkmale an den Tieren beobachtet worden. Daraus war 1923 ein Stamm von Meerschweinchen hervorgegangen, bei denen immer wieder überzählige Zehen, so genannte Überzehen, an den Hinterbeinen vorkamen, doch erst 1929 wurden sie zum Forschungsinteresse,144 ein Umstand, der sich aus Krönings neuer Aufgabe als Leiter der Versuchstierzuchten erklärt: Herstellung von Reinzuchtstämmen mit bestimmten konstitutionellen Merkmalen für die Zwecke der Medizin. Kröning war nun ganz damit beschäftigt, in „planmäßigen mit großem Arbeitsaufwand durchgeführten Versuchen, die biologischen Unterschiede von Inzuchtstämmen zu prüfen“.145 „Hier tritt seine Neigung besonders zutage,“ so hieß es in einer Beurteilung, „biologische Fragestellungen und Methoden in den Dienst medizinischer Anwendungen zu stellen. Sein Verständnis für medizinisch-biologische Grenzprobleme und sein hervorragendes technisches Geschick in der Inangriffnahme von biologischen Problemen, die für die medizinische Forschung wichtig sind, haben ihm besondere Hochschätzung von Seiten medizinischer Fachkollegen eingetragen, die mit 142 Kröning 1938: 711 Alle Angaben, vgl. Kröning 1938: 712ff.. 144 Vgl. Kröning & Engelmann 1934: 123. – Kröning versuchte, durch die Züchtung der Unterstämme zu zeigen, dass das Erscheinungsbild durch gezielte Selektion beeinflusst werden konnten. Die Selektionsversuche zeigten, so K., dass der Einfluss der Umwelt zurückgedrängt werden konnte, indem die Penetranz und Expressivität der Merkmale erhöht wurde. Im Rahmen der Vorstellung von der Gen-Umwelt-Beziehung, wie sie K. mit Kühn teilte, wurde damit gezeigt, dass die Genetik die Weite der Reaktionsweise eines Organismus bestimmt. 145 25.1.1935, Dekan der Math.-Nat. Fak. an RMW (UAG, Rek., PA Kröning) 143 140 ihm zusammenarbeiten (wie Geh.R. Prof. Dr. Kolle, Direktor des Instituts für experimentelle Therapie in Frankfurt/M.).”146 Der Hauptteil der Versuchstiere wurde, der Absprache in der Notgemeinschaft gemäß, an Kolle versandt. Weitere Abnehmer von Versuchstieren für „große Reihenversuche“ waren das Reichsgesundheitsamt, das Meerschweinchen für Tuberkuloseresistenzversuche und Mäuse für Pockenversuche erhielt, Emil Abderhalden in Halle und der Gynäkologe Heinrich Martius.147 Kleinere Abnehmer waren das Hygienische und das Pharmakologische Institut in Marburg, das Pathologische Institut der I.G.-Farbenindustrie (Erprobung von Krebsheilmitteln) und das Veterinäruntersuchungsamt in Merseburg.148 Die wichtigste Arbeit der Versuchstierzucht sahen Kühn und sein Zuchtleiter darin, die vorhandenen Meerschweinchenstämme nach allen Seiten genau zu untersuchen. „Die wesentlichen konstitutionellen Merkmale sprechen sich nicht in leicht feststellbaren äußerlichen Kennzeichen aus, sondern in physiologischen Eigenschaften, wie Wurfgröße, Jugendsterblichkeit, Wüchsigkeit u.s.w.; deshalb müssen die Inzuchten dauernd messend kontrolliert werden.“149 Interessante Merkmale mussten dann auf ihre Erblichkeit untersucht werden. Dies konnten auch Eigenschaften mit einem zuchtpraktischen Interesse sein, wie die Resistenz gegen verbreitete Stallseuchen.150 Es wurde zum Beispiel versucht, die Versuchstiere „handzahm“ zu züchten.151 Zudem sollten durch selektive Inzucht „inzuchtfeste“, das heißt gleich bleibend fruchtbare Meerschweinchenstämme herausgezüchtet werden.152 Die Ansprüche der medizinischen Laborarbeit entfalteten ihre eigene Formungsmacht auf die Versuchsobjekte. Im Zentrum der Herausforderung standen die Ansprüche einer verfeinerten medizinischen Experimentalforschung. Die medizinischen Prüfsysteme reagierten beispielsweise, wie sich an den Arbeiten in Kolles Institut zeigen lässt, empfindlich auf eine verminderte Lebensfähigkeit der Versuchstiere. Aufgaben der Routineprüfung war daher, die Fertilität der Stämme, den Beginn und die Regelmäßigkeit der Ovarialcyclen, die Deckfähigkeit, die durchschnittliche Anzahl der Jungen pro Wurf und die der Würfe pro Weibchen zu registrieren. Die Jungtiere sollten ständig gewogen werden, um ihre Vitalität laufend übersehen zu können.153 Die genaue Kenntnis der physiologischen Eigenschaften, aus denen sich die „Lebenstüchtigkeit“ eines Stammes zusammensetzte, wurde von den 146 25.1.1935, Dekan der Math.-Nat. Fak. an RMW (UAG, Rek., PA Kröning) – Ein Betätigungsfeld Krönings war ab 1929 in Zusammenarbeit mit der Göttinger Universitäts-Frauenklinik unter dem Gynäkologen Heinrich Martius die mutative Wirkung von Röntgenstrahlen und ihre Wirkung auf Zellvorgänge bei der Carcinombestrahlung. (siehe auch 4.2.2.3; vgl. auch Seulberger et al. 1929a Seulberger et al. 1929b; Kröning 1934a; Martius & Kröning 1936) Darüber hinaus beschäftigte sich K. publizistisch mit der Vererbungstheorie des Krebs (vgl. Kröning 1935b; Kröning 1935a; Kröning 1937; Kröning 1940). 147 Vgl. 4.12.1934, Kühn an die Notgemeinschaft (BA Ko, R 73, 12475: Seite 3 v. 9). – In diesem Bericht heißt es, daß 956 Meerschweinchen (plus 269 aus Plauerhof) und 518 Mäuse abgegeben worden waren. 1935 waren es 685 (540) Meerschweinchen und 280 Mäuse. 148 Vgl. 18.6.1935, Kühn an DFG (BA Ko, R 73, 12475: Seite 2 v. 6). 149 o. D., Kühn: „Zoologisches Institut ...“ (BA Ko, R 73, 12475: Seite 3 v. 5. (s. Anm. 101) 150 Vgl. o. D., Anonymus: Sitzung am 12.5.1928 im Staatlichen Institut für experimentelle Therapie (AMPG, Abt. III, Rep. 20 A, Nr. 103). 151 Vgl. 28.2.1936, Kühn an Deutsche Forschungsgemeinschaft (BA Ko, R 73, 12475). 152 Vgl. o. D., Kühn: „Zoologisches Institut ...“ (BA Ko, R 73, 12475: Seite 3 v. 5. (s. Anm. 101). 153 Vgl. 29.1.1937, Kühn an die Deutsche Forschungsgemeinschaft (BA Ko, R 73, 12475). 141 Genetikern als Voraussetzung für die medizinische Arbeit mit Versuchstieren benannt.154 Das experimentelle Versuchstierzuchtsystem musste die Balance zwischen entgegengesetzten Anforderungen halten. Zwischen dem Ein- und Feinschliff eines Werkzeugs gewissermaßen und Exploration. Die Untersuchungen mussten spezifisch genug sein, um die Einpassung geeigneter Eigenschaften und Merkmale der Tiere in Bezug auf eine Forschungsfrage an die Bedingungen der Laborwerkstätten zu unterstützen. Sie mussten unspezifisch genug sein, um schwer fassbare und mit der Möglichkeit ihres ständigen Neuauftretens die medizinischen Versuche bedrohende Eigenschaften nicht zu übersehen. Um die Erfassung von Unterschieden auf allen Ebenen zu gewährleisten, war ein verstärkter personeller Aufwand notwendig und mussten neue Analysemethoden erschlossen werden. Deshalb strebte Kühn die Zusammenarbeit mit physiologischen, klinischen und chemischen Instituten an.155 Eine solche Zusammenarbeit bestand mit dem Institut für Physiologie und physiologische Chemie in Halle. „Um die Konstitutionsunterschiede mit allen Mitteln zu erfassen, habe ich eine Gemeinschaftsarbeit mit Prof. Dr. Abderhalden begonnen, die feststellen soll, ob bei Rassen, die sich durch bestimmte Erbfaktoren unterscheiden, durch die Abwehrferment-Methode Eiweißunterschiedenheiten nachweisbar sind.“156 Abderhalden prüfte sechs Meerschweinchenstämme. Das „überraschende Hauptresultat“ war, dass sie „streng spezifische Reaktionen ergeben haben, das heißt nach unserer Auffassung Eiweißstoffe enthalten, die ein spezifisches Merkmal haben”.157 Kühn zufolge zeigten diese Ergebnisse die Überlegenheit der Reinzuchtmethode.158 Die Fellfarben, an denen Kröning vergebens entwicklungsphysiologische Fragestellungen erprobt hatte, ‚verschwanden’ im genetischen Laboratorium Kühns, wohingegen physiologische Merkmale auftauchten, die sich mendelgenetischen Untersuchungen stellen mussten. Allerdings entzogen sich Merkmale wie die Vitalität einer mendelschen Faktorenanalyse, was neue Fragestellungen der Genetiker provozierte. Das ist Thema des Kapitels 4. Das medizinische Experiment jedenfalls profitierte daran, dass die – statistische oder mendelgenetische –-Voraussage des Verhaltens der Meerschweinchen immer weiter in Versuchstierstämmen aufdifferenziert wurde. Kühn resümierte 1935, dass die neu etablierten Versuchstierstämme „ihre Überlegenheit in den Reaktionen gegenüber dem genetisch unkontrollierten Material gezeigt“ hätten.159 154 4.12.1934, Kühn an Notgemeinschaft (BA Ko, R 73, 12475: Seite 4 v. 9) Vgl. 4.12.1934, Kühn an Notgemeinschaft (BA Ko, R 73, 12475: Seite 6 v. 9). 156 4.12.1934, Kühn an Notgemeinschaft (BA Ko, R 73, 12475: Seite 4 v. 9) – Die Abderhaldensche Abwehrfermentmethode war zu dieser Zeit eine – wenigstens in Deutschland – unbestrittene Methode, mit der sich unter Ausnutzung der Fähigkeit eines Organismus, körperspezifische Antikörper auszubilden, die physiologische Eigenarten eines Organismus bestimmen ließ. Der Methode wurde eine so große Potenzialität zugesprochen, dass sie in den unterschiedlichsten Bereichen Anwendung fand (vgl. Deichmann & Müller-Hill 1998). 157 18.6.1935, Kühn an Forschungsgemeinschaft (BA Ko, R 73, 12475: Seite 2 v. 6) 158 Vgl. 18.6.1935, Kühn an Forschungsgemeinschaft (BA Ko, R 73, 12475: Seite 2 v. 6). 159 18.6.1935, Kühn an Forschungsgemeinschaft (BA Ko, R 73, 12475: Seite 2 v. 6) 155 142 3.3.2.3 Die Kooperation der Züchtungsanstalt mit dem Staatlichen Institut für experimentelle Therapie – Standardisierung von Impfstoffen Die Meerschweinchenzuchten in Göttingen gerieten durch die Aufgaben der Versuchstierzucht in einen neuen Forschungskontext. Eine Verbindung nach Frankfurt scheint aber schon seit Beginn der Meerschweinchenversuche in Göttingen bestanden zu haben.160 Der Bakteriologe Wilhelm Kolle, Mitglied im Reichsgesundheitsrat, war der Nachfolger Paul Ehrlichs am Frankfurter Staatlichen Institut für experimentelle Therapie und Direktor des chemotherapeutischen Forschungsinstitut, dem nach seinem Stifter benannten Georg-SpeyerHaus. Das Institut für experimentelle Therapie erfüllte reichsweit die Aufgabe der amtlichen Überprüfung von Heilsera und Impfstoffen.161 Darüber hinaus wurden umfangreich eigene Forschungsarbeiten zur Immunitätslehre, zur Serologie, Bakteriologie, Hygiene und zur experimentellen Krebsforschung betrieben. Das Institut war in vier Abteilungen gegliedert, Kolle leitete die experimentell-biologische Abteilung. Ein wichtiger Aspekt seiner Arbeit bis in die dreißiger Jahre hinein war die Bestimmung der Qualität (Wertbestimmung) von Toxinen und Antitoxinen.162 Auch in den anderen Abteilungen spielten Standardmaße 160 Vgl. Kröning 1934b: 25. – Es entzieht sich allerdings meiner Kenntnis, wie diese Zusammenarbeit zustande kam und welche Form sie anfangs annahm. Kühn scheint sich seit ca. 1925 bereits mit der Versuchstierzucht befasst zu haben (vgl. 19.10.1931, Kühn an Notgemeinschaft, in: BA Ko, R 73, 159). 161 Das Institut für experimentelle Therapie war hervorgegangen aus der 1895 in Berlin eingerichteten Kontrollstation für Diphtheriesera (hier und nachfolgend, vgl. Kolle 1926). Dies war auf Initiative des RGA geschehen, um zu überwachen, dass nur einwandfreie Präparate abgegeben werden. Nach den Bestimmungen durfte das Diphtherieserum nur durch Apotheken und auf ärztliches Rezept hin abgegeben werden, musste die Produktion sanitätspolizeilich überwacht und der Heilwert und die Unschädlichkeit der Präparate staatlich festgestellt werden. Dies waren die Aufgaben der Kontrollstation, angegliedert an das Institut für Infektionskrankheiten. Unter der Leitung Robert Kochs waren H. Kossel und A. Wassermann mit der Prüfung der Sera betraut. Die Aufgaben der Kontrollstation weiteten sich schnell aus, allein durch die gesteigerte Produktion des Diphtherieserums. Der preußische Minister für Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten F. Althoff und seine Mitarbeiter F. Schmidt-Ott und M. Kirchner veranlassten die Gründung einer eigenen Forschungsstätte. Hier sollten auch theoretische Fragen der Serumtherapie bearbeitet werden. Direktor wurde Ehrlich (Mitarbeiter: W. Dönitz und H. Bonhoff). U.a. wurde die Seitenkettentheorie der Immunitätsreaktion entwickelt. Die Prüfung aller Tetanussera kam dazu. Da auch eine Prüfung „am Krankenbett“ notwendig war, in Berlin zu der Zeit aber keine Kooperation mit einem Krankenhaus möglich war, wurde das Institut verlegt. Vorteil Frankfurts war die Anbindung an die Farbwerke in Höchst, wo fast das gesamte Diphtherieserum hergestellt wurde. Neben der Kontrolle wurden nun schwerpunktmäßig hygienisch-bakteriologische Arbeiten sowie der Ausbau der Immunitätslehre vorangetrieben. Bei der Institutsübernahme durch Kolle 1917 wurden sofort mit Forschungsarbeiten im Auftrag der Heeresverwaltung über die Diagnose, Ätiologie und Serumtherapie des Gasödems aufgenommen. Impfstoffe, die 1929 staatlich durch das Institut geprüft wurden, waren: Diphtherieserum (seit 1895), Tetanusserum (seit 1896), Kochsches Tuberkulin (seit 1899), Schweinerotlaufserum (seit 1899), Menigokokkenserum (seit 1925), Geflügelcholeraserum (seit 1925). Amtliche Prüfung ohne staatliche Vorschrift (Wirksamkeit nicht gesichert): Schweineseuchenserum, Dysenterieserum, Antistreptokokkenserum. 162 Aus den Arbeiten ging ein Standardsystem zur Prüfung hervor. Die Frage von einheitlichen Maßstäben zur Bestimmung der Wirksamkeit der Sera beschäftigte auch das Hygienekomitee des Völkerbundes, mit dem Kolle in Verbindung stand. Die Beratungen führten zur Einführung einer Immunitätseinheit, die mit Hilfe eines Standardserums ermittelt wurde und als internationaler Maßstab für die Prüfung bestimmter Sera benutzt werden sollte. – Ähnliche Arbeiten wurden im Auftrag der Heeresverwaltung von H. Sachs und W. Georgi am Institut ausgeführt (Prüfung antitoxischer Ruhrsera) (vgl. Kolle 1926: 13). 143 eine herausragende Rolle. So musste neben der Prüfung der Sera und Tuberkuline ständig die Konservierung und sichere Fortführung der amtlichen Standardmaße gewährleistet sein. „Da auch die geringste Verschiebung der Maßeinheit unbedingt vermieden werden muß, kommt es bei diesen Arbeiten darauf an, durch immer erneute Versuchsreihen das neue Serum so exakt einzustellen, dass es in seinen Wirkungen im Tierversuch mit dem alten Serum ganz genau übereinstimmt.“163 Andere Untersuchungen Kolles betrafen die Wirkungsweise des Diphtherie- und des Schweinerotlaufserums sowie die Prüfung von Metallsalvarsanen auf ihre therapeutische Wirkung vor allem bei Syphilis. Bei den serologischen, immunologischen und chemotherapeutischen Versuchen stand das Tierexperiment insbesondere an Mäusen und Meerschweinchen im Mittelpunkt. Es wurden große Mengen an Versuchstieren benötigt. 1899 war bereits eine eigene Tierzucht in Frankfurt errichtet worden. 1922 wurde sie erweitert und modernisiert („über das Dach führender Abluftkanal aus glasierten Tonrohren“, „Beheizung mit reduziertem Hochdruckdampf“). Es gibt keinen Hinweis darauf, dass in Frankfurt Reinzuchtversuche unternommen wurden. Die – so genannte – zufällige Variabilität im Experiment wurde mehr und mehr zum Problem. Dieses Problem stand in enger Beziehung zur Aufgabe des Instituts, der Standardisierung von Impfstoffen. Die Voraussetzung war dazu die genaue Bestimmung der Wirksamkeit der Impfstoffe. Die Genauigkeit war aber von der genauen Kontrolle der Stoffverläufe – von der Quantität und Qualität der Toxine der Erreger bis zu den Serumeigenschaften der infizierten Tiere – abhängig. Und die wachsenden Ansprüche an die Genauigkeit bedingten, dass die Variabilität immer störender ‚in Erscheinung’ trat.164 Spätestens seit 1928 wurde das Kollesche Institut mit Meerschweinchen aus Göttingen versorgt. Zum einen wurden unspezifisch ingezüchtete Tierstämme für die Versuche zur Standardisierung und Testung von Diphtheriesera geliefert, zum anderen Stämme, die in voranschreitender selektiver Zucht auf unterschiedliche Immunität gegenüber Tuberkuloseerregern herausgezüchtet wer- 163 Kolle 1926: 16 – Als Träger der Maßeinheit wurde ein Standardserum verwendet, das bei der Prüfung verbraucht und deshalb immer nachproduziert werden musste. Es wurde portioniert in entsprechend der von Ehrlich entwickelte Vakuumkonservierungsmethode in kleine Vakuumröhrchen eingeschmolzen. Mehrere Dutzend Abonnenten bezogen zur Kontrolle ihres eigenen Prüfungsmaßstabes regelmäßig Lösungen des Standardserums aus Frankfurt. 164 Es musste bspw. die exakte Dosis certe letalis oder certe tolerate eines Heilserums bestimmt werden. Zum statistischen Ausgleich wurde die Anzahl der Versuchstiere in einem Versuch immer weiter erhöht. Als finanzielles Argument hieß es, dass die Versuchsreihen kleiner werden könnten, wenn die Variabilität im Experiment gesenkt würde. Die Vergrößerung der Versuchsreihen machte eine komplexere Statistik nötig. Die Sensibilität für diese Schwierigkeiten führte dazu, dass am Institut eigens ein Mathematiker und Statistiker eingestellt wurde, der die experimentellen Wissenschaftler in der Analyse ihrer Versuche unterstützte (Dr. Wilhelm Schäfer, Mathematiker und Biologe, in der experimentell-therapeutischen Abt. von R. Prigge). Schäfers Aufgabe war unter anderem die variationsstatistische Untersuchung über Wertbestimmung der Diphtherieimpfstoffe sowie die statistische Analyse von Vergleichsuntersuchungen mit britischen, deutschen und dänischen Dysenterie-Standard-Sera. – Es bestand eine Zusammenarbeit mit Dr. H. v. Schelling (Berlin-Charlottenburg) und Prof. L. v. d. Waerden (Leipzig). – Statistische Arbeiten des Instituts zum Beispiel: Prigge 1937; Schäfer 1937; Schäfer 1939; v.Schelling 1938; v.Schelling 1939. 144 den sollten. Hieraus entwickelte sich eine langjährige Zusammenarbeit der Institute. 3.3.3 Genetisch homogene Versuchstiere sensibilisieren ein experimentelles Prüfsystem: Diphtherieimpfstoffe In diesem Abschnitt wird anhand der Experimente zur Bestimmung der Wirkung von Diphtherieimpfstoffen („Diphtheriewertbestimmung“) verfolgt, wie die reingezüchteten Versuchstiere zum zentralen Element des immunologischen Experimentalsystems und die Genetik der Versuchstiere Mittelpunkt der Versuchsplanung wurden. Die Versuchstiere wurden zunächst als Einzelindividuen behandelt, dann als amorphe Kollektive und schließlich als mehr oder weniger genetisch homogenes „Versuchsmaterial“. Diese Verschiebung wurde nicht durch ein bestimmtes Verständnis von Infektionskrankheit oder eine ideologische Präferenz vorangetrieben, sondern war ein Ergebnis der Möglichkeiten und Zwänge der zur Verfügung stehenden Labortechniken und der experimentellen Ideale von Messbarkeit und Kontrolle. Diese Art der Annäherung an genetische Fragen war kein Einzelfall in der Infektionsmedizin, wie für die experimentelle Epidemiologie zu Typhus in England und den USA gezeigt worden ist.165 Die Kontroll- und Manipulationserfordernisse brachten gegen Ende der zwanziger Jahre, ermöglicht durch gereifte genetische Techniken, die Genetik in das medizinischen Labors. Im Unterschied zu den angelsächsischen Beispielen bildeten in Frankfurt nicht epidemiologische Forschungsfragen den Rahmen, sondern die Aufgabe, die Giftigkeit und Wirksamkeit von Impfstoffen oder Heilseren zu kontrollieren. Die Prüfung und Überwachung erforderte standardisierte Verfahren, die im Tierversuch auf den Menschen übertragbare, vergleichbare und reproduzierbare Ergebnisse lieferten. Das Diphtherieserum unterstand seit 1895 der amtlichen Prüfung. Das Frankfurter Staatsinstitut erhielt 1927, als ein neues aktives Immunisierungsverfahren durch das Preußische Ministerium für Volkswohlfahrt unter staatliche Kontrolle gestellt wurde, den Auftrag, die Unschädlichkeit sowie die Herstellerangaben über die für die Toxin-Antitoxin-Gemische verwendeten Giftprodukte und Sera nachzuprüfen.166 Die von der Prüfungsabteilung des Instituts unter Beteiligung von Sachverständigen der Serumindustrie ausgearbeiteten und vom Reichsgesundheitsrat genehmigten Prüfvorschriften erfüllten zunächst ihren Zweck. Mit der laufenden Veränderung der Impfgemische – höhere Toxinkonzentration, Beimengung weiterer Toxine – mussten aber die Prüftests angepasst, sensibilisiert und sicherer gemacht werden. Kolle und seine Mitarbeiter Prigge und Fischer begannen deswegen mit groß angelegten Tierversuchsreihen mit Meerschweinchen. 3.3.3.1 Das Problem und die Einstellung des Experimentalsystems Seit Anfang des Jahrhunderts war zur Wertbemessung von Impfstoffen, die aus Antikörpern bestanden, ein einfaches und bewährtes Grundprinzip verfolgt wor- 165 166 Vgl. Amsterdamska 2001: 138-39 u. 172-73. Vgl. Hetsch 1931. 145 den.167 Bei den Diphtherieimpfstoffen, die in den zwanziger Jahren zu prüfen waren, war die Lage komplizierter. Als Impfstoffe wurden nicht Antikörper sondern unwirksame Giftstoffe der Bakterien benutzt. Die Immunisierung war aktiv, das heißt, der Körper produzierte nun gegen die injizierten, entschärften Toxine „antitoxische Antikörper“. Bei einer Infektion sollten die von den Diphtheriebakterien gebildeten, gefährlichen Toxine neutralisiert werden.168 Die Voraussetzungen, die die Wirkungsprüfung von Seren aus Antikörpern ermöglicht hatten, waren bei der Impfung mit entschärften, bakteriellen Giftstoffe nicht mehr gegeben. Bisherige, passive Impfstoffe hatten eine Immunreaktion im geimpften Körper bewirkt, die zu der Impfstoffmenge in einer klaren Beziehung stand. Die Immunisierungswirkung durch ein toxisches Impfserum war nicht mehr einfach vorhersagbar. An diese veränderten Verhältnisse in der Immunreaktion musste das experimentelle Prüfsystem angepasst werden. Bei den bisherigen Experimenten wurde eine Anzahl Versuchstiere mit je verschiedenen Mengen des Impfstoffs geimpft. Nach der Immunisierung wurde ihnen das Prüftoxin verabreicht. Tiere, die zu geringe Mengen des Impfstoffs erhalten hatten, starben. Dasjenige überlebende Tier, das die geringste Impfstoffmenge erhalten hatte, repräsentierte die Wirksamkeitsschwelle des neuen Impfstoffpräparats. Diese Impfstoffmenge war äquivalent zu dem Standardimpfstoff. Im Normalfall waren die Ergebnisse so gut reproduzierbar, dass bislang in dem Reihenversuch für jede Testdosis nur ein Tier benutzt werden musste. Diese Art aber, wie die immunisierende Wirkung verschiedener Dosen der Impfstoffe gemessen wurde, konnte die neue Dynamik der Immunisierungsreaktion nicht mehr ‚abbilden’. Jene – verhältnismäßig – klare Grenze der Impfwirkung gab es beim neuen Diphtherieserum nicht. Die Spanne zwischen einer absolut schützenden und der hundertprozentig versagenden Impfstoffdosierung war so weit, dass es unmöglich war, mit Versuchsreihen, in der die verschiedenen Impfstoffmengen nur durch einzelne Versuchstiere repräsentiert wurden, eine sichere Grenze zu ziehen. Eine gewisse Unsicherheitsspanne konnte und musste immer toleriert werden. Was toleriert werden konnte, hing vom Anspruch an die Genauigkeit der Wirkungsprüfung ab. Bei der Diphtherie war aber die Spanne zwischen den eindeutigen Grenzdosen und damit der Fehler zu groß, wie Richard Prigge feststellte.169 Prigge war Schüler Kolles und seit 1922/23 Assistent am Institut.170 Prigges Lösung für die Wertigkeitsprüfung der neuen Diphtherieimpfstoffe schien nahe 167 Voraussetzung war zunächst die Festlegung eines „Standard“-Impfstoffes, einer willkürlich ausgewählten Menge Impfstoff, die in einem Prüfungsamt konstant reproduziert und gehalten werden konnte. Es wurde dann ermittelt, gegen welche Menge infektiösem Material der Standard-Impfstoff gerade noch Immunität verleihen konnte. Diese Giftdosis wurde als Testdosis zur Bestimmung der Wirksamkeit anderer Impfstoffe benutzt. 168 Die Diphtheriebakterien, die sich lokal in der Schleimhaut ansiedeln, erzeugen Giftstoffe (Toxine), die in den Körper geschwemmt werden, die Durchlässigkeit von Gefäß- und Zellwänden steigern bzw. zur möglichen tödlichen Schädigung von Herz, Nervensystem und Nebennieren führen. 169 Vgl. Prigge 1935: 1-2. 170 1929 wurde Prigge wiss. Mitglied in der Nachfolge von Hans Schlossberger. P. war zunächst an der Syphilisforschung und Entwicklung der Salvarsantherapie beteiligt. Mit der Entwicklung aktiver Impfstoffe gegen Diphtherie erweiterte sich sein Arbeitsgebiet: Zusammensetzung und 146 zu liegen. Es sei auch unter den neuartigen „Voraussetzungen möglich, reproduzierbare Werte zu erhalten, wenn man ein den Pharmakologen seit langem geläufiges und auch in der Immunbiologie schon verschiedentlich angewandtes Verfahren befolgt, nämlich nicht das Verhalten des Einzeltieres, sondern das Verhalten von Tierkollektiven studiert“.171 Durch die Verwendung von Versuchstierkollektiven sollte herausgefunden werden, welche Impfmenge gerade bei allen Tieren eine Immunisierung bewirkte. Es musste allerdings damit gerechnet werden, dass „unkontrollierbare individuelle Faktoren“172 bewirkten, dass die Reaktion der Tiere auf die Immunseren stark unterschiedlich war. Diese Tücken der Tierkollektive machten sich in der Tat schnell bemerkbar. Die Durchführung der Experimente zur Überprüfung der neuen Vorgehensweise wurde auf die Kapazitäten des Frankfurter Institut, des Statens Seruminstitut in Kopenhagen und dem National Institute for Medical Reseach in London-Hamstead verteilt. Die Prüftoxine wurden mal vom dem einen, mal vom anderen Institut zur Verfügung gestellt. Es gelang aber nicht, ein verlässliches Prüfsystem aufzustellen, da der Prozentsatz der geschützten Tiere von Versuch zu Versuch variierte. Der Verdacht kam auf, dass die Tiere nicht nur unterschiedlich auf ein Impfserum reagierten, sondern schon als ungeimpfte Tiere eine unterschiedliche Resistenz gegen das Diphtherietoxin besaßen. Wenn die Versuchstiere sich in ihrer „natürlichen Giftresistenz“ (Prigge) unterschieden, dann konnte nicht einfach auf Grund der aktuellen Immunität im Experiment auf die erwobene Immunität geschlossen werden.173 Prigge versuchte nun, mit einer „einfachen Änderung der Versuchsanordnung“ das Problem zu umgehen, und die Verhältnisse so zu gestalten, als ob die „natürliche“ Resistenz bei allen Tierindividuen gleich groß wäre. Der experimentelle Trick war theoretisch so simpel wie die Einführung von Versuchskollektiven. Die Dosen der Impfseren und Toxine wurde so weit gesteigert, dass die Unterschiede, die – theoretisch – bei nicht immunisierten Tieren auf Grund der „natürlichen Immunität“ erwartet wurden, rechnerisch nicht mehr ins Gewicht fallen konnten. Nichtsdestotrotz, die Unregelmäßigkeiten im Vergleich zwischen den drei Instituten blieben, ja, die „größten Unterschieden“ traten auf, wenn ein- und derselbe Versuch unter den „gleichen experimentellen Bedingungen vorgenommen“ und zur gleichen Zeit mehrmals wiederholt wurde.174 Unter diesen Bedingungen hatten die Versuchsergebnisse keinerlei „objektive Bedeutung“ (Prigge). Als Grund der Schwierigkeiten veranschlagte Prigge den „Einfluß des Zufalls“.175 Aus dieser Perspektive stellten sich die Ergebnisse als ein rein methodisches Problem dar. Der Zufall war dann ein statistisches Problem. Die Unregelmäßigkeiten beruhten also auf der „Verwendung einer zu geringen Zahl von Reinigung der Toxine, Beziehung des Diphtherieserums zu seinem Heilwert, Bestimmung des Antitoxingehalts in Impfseren und kleinster Menge von Antitoxin. 171 Prigge 1935: 2 172 Prigge 1935: 3 173 Strittig war dabei zudem, ob „natürliche“ und erworbene Immunität überhaupt mit einander verglichen werden konnten, das heißt, ob sie auf gleichen Mechanismen beruhten. 174 Prigge 1935: 10 175 Prigge 1935: 11 147 Versuchstieren“.176 Entsprechend dieser Einsicht wurde gehandelt. Die Anzahl der Versuchstiere pro Experiment wurde von 25 auf mindestens 100 erhöht, um die „zufälligen“ Schwankungen hinter Durchschnittswerten verschwinden zu lassen. Prigge resümierte: „Nur durch die Einführung wesentlich größerer Versuchsreihen wurde es möglich, die auf den individuellen Unterschieden in der Immunisierbarkeit der verschiedenen Tiere beruhenden Schwankungen im Versuchsausfall zu beherrschen und zu reproduzierbaren Ergebnissen zu gelangen.“177 Von Außen wurden jedoch die Erwartungen an den Grad der Genauigkeit der Wirkungsbestimmung erhöht. Die Genauigkeit war zwischen zwei Stellschrauben des experimentellen Arrangements aufgehangen: der Anzahl der untersuchten Tiere und der Höhe der „zufälligen“ Schwankungen in der Immunität zwischen den Versuchstieren. Je höher die Schwankungen waren, desto mehr Versuchstiere mussten eingesetzt werden, um einen bestimmten Grad der Genauigkeit zu halten. Auch die unterschiedliche Qualität der untersuchten Präparate und Stoffe, der Antigene, Seren oder Toxine, strapazierte weiterhin das experimentelle System, das vorläufig durch die große Zahl der Versuchstiere stabilisiert schien. 3.3.3.2 Im Prüfsystem vom Zufall zum „Wesen“: genetisch reine Versuchstiere Das experimentelle Prüfsystem erinnert an den Pantograph, ein technisches Zeichengerät. Der Pantograph ist ein gelenkiges Gestell, mit dem eine Vorlage in einem anderen Maßstab abgebildet werden kann. Dieses Gestell interessiert nun aber nicht als etwas, das abbildet, sondern als eine Anordnung beweglicher, aber gegenseitig abhängiger Gelenke, der das Arrangement des Experiments entspräche. Die ‚Gelenke’ des Experiments wären dann die Versuchstieranzahl, die individuelle Immunisierbarkeit der Meerscheinchen, die Wirkunterschiede des Immunserums, die „natürliche Resistenz“ etc.. Im Unterschied zum viergelenkigen Pantographen besteht allerdings das experimentelle Gestell aus unzähligen Gelenken, die veränderlich sind oder nicht, dem Experimentator zugänglich oder verborgen. Wird ein Gelenk gebogen, so verändern sich die Winkel der anderen Gelenke mit und verziehen zugleich die Konfiguration des gesamten Gestells. Der Zeichner muss indes die Gelenke in eine bestimmte Konfiguration bringen, um den Punkt seiner Wahl auf der Zeichenfläche zu erreichen. Dieser Punkt ist die Genauigkeit der Impfwertbestimmung. Neue Anforderungen an die Genauigkeit verschoben den Zielpunkt des Prüfsystems; verschob sich ein Gelenk, entfernte es das Arrangement vom Zielpunkt. Wenn dieser außerhalb der Gelenkigkeit des Gestells geriet, war es notwendig, ein Gelenk gefügig zumachen oder zu reduzieren, um ein leichter zu handhabendes experimentelles System zu erhalten. Dies war die Strategie, die Prigge als Nächstes wählte. Die Schwankungsfaktoren waren als ein Gelenk aufgetrennten, da sie der Einfachheit halber als Zufallsfaktor zusammengefasst worden waren. Hinter der statistischen Zusammenfassung verbargen sich aber eine Anzahl weiterer Gelenke, deren Ver176 177 Prigge 1935: 10 Prigge 1935: 11 148 schiebung die Gesamtapparatur immer wieder in Spannung brachte und auf die sich nun das Interesse richtete. Ihr „Wesen“ (Prigge) hatte nicht interessiert, solange sie methodisch uninteressant waren. Um sie unschädlich machen zu können, mussten sie zunächst als Bestandteile des Labors oder des experimentellen Systems transparent gemacht werden. Die unterschiedliche Immunisierbarkeit der Versuchstiere musste deshalb aufs Neue einer Betrachtung unterzogen werden. Der Schwankungsfaktor, der am leichtesten transparent zu machen war, war der genetische. Gegen die genetische Variabilität waren schon zuvor spezifische Vorsichtsmaßnahmen getroffen worden: Die Tiere wurden gemischt. „Es sollte unter allen Umständen vermieden werden, daß Tiere, zwischen denen ein näherer genetischer Zusammenhang bestehen konnte, geschlossen in ein und dieselbe Versuchsreihe hineingelangten.“178 Durch die Mischung wurde die Variabilität nicht verringert, die Schwankungen aber gleich verteilt. Die „individuelle Variation in der Immunisierbarkeit“ konnte aber bei erhöhten Anforderungen die Einstellung des experimentellen Gelenksystems zunehmend behindern. Prigge hob jetzt hervor, dass bisher Tiermaterial verwandt worden war, „welches in genetischer Hinsicht mehr oder weniger inhomogen war“.179 Ein Fortschritt in der Messgenauigkeit würde sich erst erzielen lassen, wenn alle Untersuchungen mit „sogenannten ‚reinen Linien’, also mit Inzuchttieren“, die hinsichtlich ihrer Immunisierbarkeit „größere Gleichförmigkeit“ aufwiesen, durchgeführt würden.180 Die Einführung von homogenem „Tiermaterial“ (Prigge) versprach, das experimentelle Prüfsystem zur Bestimmung des Wirkgrades von Diphtherieimpfstoffen zu sensibilisieren. Im Bild des Pantographen heißt das, dass bislang unerreichbare Punkte erreichbar wurden. Die Konfiguration der Gelenke wurde flexibler, indem sie von der Spannung der auf sie einwirkenden Gestellanbauten befreit wurde. Die Unterschiede der Impfstoffe verschiedener Anbieter – 1929 wurden die Seren von acht Anbietern geprüft181 – konnten transparenter gemacht werden. Die Schwierigkeiten Prigges konnten nach Kühn auf diese Weise „sofort“ behoben und eine exaktere Einstellung der Sera versucht werden.182 3.3.3.3 Das experimentelle (Prüf-)System: widerständig gegen Genetisches Welchen Weg hatte die individuelle Immunisierbarkeit der Versuchstiere im Verlauf der Neujustierung des experimentellen Prüfsystems genommen? Wenn das Wesen eines Dings daran gebunden ist, wie es repräsentiert wird, dann veränderte sich die individuelle Immunisierbarkeit selbst mit der Neujustierung und der Praxis der Repräsentation. Als was also wurde die „Immunisierbarkeit der Versuchstiere“ behandelt? 178 Prigge 1935: 33. Am Versuchstag wurden die Tiere nach Gewicht geordnet und im Laufkasten „gemischt“. Durch den ‚zufälligen Griff’ wurden die Gruppen zusammengestellt. 179 Prigge 1935: 32 180 Prigge 1935: 32 181 Vgl. Kolle 1929: 282. I.G. Farbenindustrie, Werk Höchst; Behringwerke, Marburg; Sächs. Serumwerk AG., Dresden; Serumlaboratorium Ruete-Enoch, Hamburg; Serum-Institut Bram, Leipzig; Chem. Fabrik Schering-Kahlbaum, Berlin; Chem. Fabrik E. Merck, Darmstadt; Pharmaz. Institut L.W. Gans, Oberursel. 182 28.2.1936, Kühn an Deutsche Forschungsgemeinschaft (BA Ko, R 73, 12475) 149 1. Die Immunisierbarkeit zeigte sich anfangs im Überleben oder Tod eines Versuchstiers stellvertretend für alle. Sie wurde als Immunität behandelt. 2. Als ein neues Serum eingeführt wurde, änderte sich die Überlebensmöglichkeit des einzelnen Tiers. Es wurden nun Kollektive à 25 Meerschweinchen benutzt. Die individuelle Immunisierbarkeit stellte sich jetzt als Dosisproblem dar. 3. Als Unregelmäßigkeiten zwischen den verschiedenen Laboren auftraten, wurden statistische Kollektive à 125 Meerschweinchen eingeführt. Die individuelle Immunisierbarkeit stellte sich nun als Zufall in der Verteilung der Tiere dar. 4. Als der Zufall weiterhin nicht zu behebende Unwägbarkeiten erzeugte, wurden die Versuchstiere homogenisiert. Die individuelle Immunisierbarkeit wurde als genetisches Gemisch behandelt. Die Benennung des individuellen Unterschieds wurde zu einem Angelpunkt der verbesserten Messgenauigkeit. Die „genetische Hinsicht“ wurde in dem Moment von Prigge ‚erkannt’, als eine Methode auftauchte, mit der sie behandelt werden konnte: die Reintierzucht. Diese Methode, von Außen an Prigges experimentelles Prüfsystem herangetragen, bot sich als Mittel der Wahl an. Prigge rekurrierte aber mit der Benutzung der Göttinger Versuchstiere implizit auf das Konzept der genetischen Disposition. Man hätte deshalb erwarten können, dass neben der Immunisierbarkeit nach der „natürlichen Resistenz“ der Tierkörper gefragt worden wäre. Doch das geschah nicht. In dem Experimentalsystem gab es eine geradezu ‚natürliche Resistenz’ gegen eine genetische Fragestellung, das heißt die Behandlung der Versuchstiere mit einer Methode, die auf das Genetische abzielte, machte das Genetische nicht automatisch zum Gegenstand. Prigge erwähnte die Bedeutung des Gegenstandes, auf den mit der Inzuchtmethode zugegriffen wurde, stellte aber gleich klar, dass eine Analyse, die nach dem Wesen der individuellen Unterschiede fragt, nicht zum Ziel führt. „Feststellungen über den immunbiologischen Zustand einzelner Organe, vor allem des Blutes, bieten von vornherein die Möglichkeiten, Unterschiede zwischen den einzelnen Individuen zu studieren. Selbstverständlich beanspruchen derartige Studien über die Verschiedenheit des individuellen Immunitätsgrades der Tiere größtes biologisches Interesse. Untersuchungen über die Verschiedenheit der Impfstoffe und über deren Wertbemessung verfolgen aber ein prinzipiell anderes Ziel.“183 Die genetische Modellierbarkeit und Reinheit der Versuchstiere war nur insofern von Interesse, als sie die immunbiologischen Abläufe der Tiere aneinander angleichen konnte. Aus Prigges Sicht – mit der Aufgabe versehen, die amtliche Prüfung von Sera zu gewährleisten und zu verbessern – konnten die individuellen Unterschiede, nachdem die Methode zu ihrer Eliminierung eingeführt worden war, sogleich wieder zu undifferenzierten Gegenständen verschmelzen.184 Klassifizierung heißt Differenzierung, und Differenzierung heißt Heraushebung und Vervielfachung. Aber nur „ein einziger für die Antigenmessung verwendbarer Wert“ wurde benötigt! Der genetische Gegenstand trat also in diesem Experimentalsystem, das als 183 184 Prigge 1935: 37 Vgl. Prigge 1935: 37. 150 Prüfsystem fungierte, zwar hervor, wurde aber – zunächst – nicht zum Gegenstand gemacht.185 3.3.4 Erbliche Disposition der Infektionskrankheiten: Die Tuberkuloseresistenz als Versuchsballon Etwa zeitgleich zu den Versuchen zur Diphtheriewertbestimmung wurde die „erbliche Disposition“ einer anderen Infektionskrankheit, der Tuberkulose, zum eigentlichen experimentellen Gegenstand. Die ersten mendelgenetischen Tierexperimente zur Tuberkulosedisposition, denen eine in ihrer methodischen und technischen Neuartigkeit exemplarische medizinisch-genetischen Zusammenarbeit zugrunde lag, wurden zwar schon 1921 in den USA veröffentlicht;186 die Zusammenarbeit zwischen dem Frankfurter und dem Göttinger Institut lässt in der Stringenz ihrer Programmatik sowie in ihrem Umfang jedoch deutlicher eine einschneidende Markierung des Beginns der Zusammenarbeit von Genetik und (Infektions-)medizin erkennen. Bereits Anfang Januar 1928 ließ Kolle eine besondere Affinität gegenüber Fragen der erblichen Disposition erkennen: „Es wäre von großer Bedeutung, die ganze Frage der Erblichkeit der Disposition und der Resistenz gegenüber bestimmten Infektionskrankheiten zu klären.“187 Die Frankfurter Mediziner setzten in Absprache mit den Genetikern in Dahlem und Göttingen die Tuberkulose neben der Syphilis an die erste Stelle der Aufgaben ihrer Zusammenarbeit.188 Im Herbst 1929 beauftragte Kolle Emil Küster und die Tuberkuloseabteilung des Instituts zusammen mit Friedrich Kröning, groß angelegte Versuchsreihen durchzuführen. Das System der Reinzucht, das der Diphtheriewertbestimmung noch vorgeschaltet war, wurde jetzt Teil der eigentlichen Experimente. Dazu wurde es in ein differenzielles Reinzuchtsystem umgewandelt. Noch 1929 wurden die ersten vier Göttinger Stämme zur Prüfung der Tuberkuloseempfindlichkeit an das Frankfurter Institut verschickt. 1931 berichtete Kühn: „Stämme mit in sich einheitlichen und von Stamm zu Stamm verschiedenen Merkmalen in der Empfänglichkeit für Tuberkulose heben sich schon heraus.“189 Bis Ende 1934 war die Tuberkuloseempfindlichkeit an 18 verschiedenen Stämmen untersucht worden.190 Die Tiere wurden alle in Göttingen „unter völlig gleichen Bedingungen, soweit sich solche überhaupt bei Säugetieren ver185 Prigge begann Ende 1937 mit dem Humangenetiker v. Verschuer eine Zusammenarbeit, die bis April 1943 lief und Versuche zur Erblichkeit der Resistenz gegenüber Diphtherietoxinen betraf (Es wurden aus methodischen Gründen keine Reinzuchttiere benutzt). „Mit der ursprünglichen Absicht, eine möglichst exakte Methodik der Antigenmessung zu finden, hatte Prigge die Immunisierbarkeit von verschiedenen Meerschweinchen-Inzuchtstämmen gegen Diphtherietoxin geprüft. [...] Die von Prigge ausgesprochene Erwartung, ‚daß der geistige Austausch zwischen der Immunbiologie und der Erbbiologie für beide Forschungsrichtungen reiche Früchte tragen wird’, gab die Veranlassung zu der vorliegenden gemeinsamen Forschung.“ (Prigge & v.Verschuer 1943: 157) 186 Vgl. Mendelsohn 2001: 56-57. 187 28.1.1928, Kolle an Schmidt-Ott (AMPG, Abt. III, Rep. 20 A, Nr. 103) 188 Vgl. o. D., Anonymus: Sitzung am 12. März 1928 im Staatlichen Institut für experimentelle Therapie (AMPG, Abt. III, Rep. 20 A, Nr. 103). 189 2.7.1931, Kühn an Schmidt-Ott (BA Ko, R 73, 159) 190 4.12.1934, Kühn an Notgemeinschaft (BA Ko, R 73, 12475: Seite 4 v. 9). In 14 Versuchsserien wurden über 2.000 Meerschweinchen mit Tuberkelbazillen infiziert, der Erkrankungsverlauf beobachtet und die gestorbenen Tiere seziert (vgl. Küster & Kröning 1938: 43 u. 66). 151 wirklichen lassen, gehalten. Umwelteinflüsse waren also durch gleich Unterbringung, Fütterung und Wartung [sic] der Tiere bei der Zucht und während des Versuches praktisch gleichgestaltet und damit auch ohne wesentliche Bedeutung für den Ausfall der Versuche. Es war also auch der Einfluß auf die Disposition gleichartig.“191 Ein ähnlicher Aufwand wurde beim Infektionsversuch und bei der anschließenden Haltung der Tiere in Frankfurt bis zu ihrem Tod betrieben.192 Auch der Bazillenstamm sollte gleichartig wie die Versuchstiere sein und es von Versuch zu Versuch bleiben.193 3.3.4.1 Tuberkulose und Genetik Die Versuche machten einen „Einfluss“ der „Erbkonstitution“ auf die Krankheitsanfälligkeit der Tiere wahrscheinlich.194 Kröning und Küster sahen die Ergebnisse in Übereinstimmung mit ihren Annahmen über die Pathogenese der Tuberkulose und mit einem allgemeinen Trend hin zur Konstitution. Gerade die praktischen Ärzte hätten schon immer die Vermutung geäußert, dass manche Familien besonders anfällig gegenüber der Tuberkulose seien.195 Infektionstheorie und die Entdeckung des Tuberkuloseerregers durch Robert Koch 1882 hätten durch die Verbindung von Klinik und Epidemiologie der bakteriellen Infektion mit der serologischen und pathologisch-physiologischen Forschung zwar zu einem Verständnis über die letzten Ursachen und zu wertvollen ‚Konzepten’ geführt; doch hätte die Forschung im modischen Interesse für die Tuberkuloseerreger den empfänglichen Körper außer Acht gelassen.196 Erst in jüngster Zeit sei ein Umdenken eingetreten, da der Kampf gegen die Tuberkulose auf der bakteriologisch-serologischen Plattform nicht befriedigt hätte und mit dem Aufblühen der Konstitutionsforschung und der Erbbiologie auf den verschiedensten Krankheitsgebieten eine Abkehr von Umwelt-bezogener Forschung eingetreten sei. Die Tuberkulose stelle sich jetzt als eine Konstitutionskrankheit dar. Bei Menschen und Meerschweinchen gleichermaßen sei „für die Widerstandsfähigkeit gegenüber einer Tbc-Infektion einerseits Erbfaktoren, andererseits nichterbliche äußere Faktoren von Bedeutung“. 191 Küster & Kröning 1938: 41 Zu beachten war vor allem die möglichst gleichmäßige und gleichdosierte Infektion mit den Tuberkelbazillen. Die Infektion erfolgte zum Teil als subkutane Impfung, bei dem größeren Teil, um einen möglichst naturgemäßen Infektionsweg nachzuahmen, durch eine – aufwendige – Tröpfcheninfektion. Die Meerschweinchen mussten in Inhalationskäfigen derart fixiert werden, dass sie kontrolliert dem Inhalationsgemisch ausgesetzt werden konnten – und dabei die Sicherheit des Experimentators gewährleistet war. 193 Der Bazillenstamm musste sich zudem durch eine Virulenz auszeichnen, die eine bestimmte mittlere Überlebenszeit der Meerschweinchen erwarten ließ, sodass die unterschiedliche Widerständigkeit der Meerschweinchenstämme gegen die Infektion in der Überlebensrate zutage gefördert werden konnte (hier und nachfolgend, vgl. Küster & Kröning 1938: 46). Die Bazillen mussten sich gleichmäßig und umfangreich kultivieren lassen, um regelmäßig gleichdosierte Infektionspräparate anfertigen zu können. Es wurde der humane Tuberkelbazillenstamm Nr. 16, der über mehrere Jahrzehnte am Institut in Reinzucht gehalten wurde, ausgewählt. 194 Küster & Kröning 1938: 67. Insbesondere schien die Konstitution die Gewichtsveränderung während der Krankheit und ihre Lokalisation zu beeinflussen. Als Parameter wurden neben dem Genotyp Jahreszeit, Gewicht, Alter der Eltern, Wurffolge und -größe, Geschlecht und Sektionsbefunde berücksichtigt. 195 Vgl. Küster & Kröning 1938: 67. 196 Hier und nachfolgend, vgl. Küster & Kröning 1938: 38-40. 192 152 Das Bild, das Kröning und Küster zeichneten, traf auf die Gemengelage zwischen Infektionsmedizin und Konstitutionspathologie in Deutschland zu. In systematischer Weise wurde beginnend mit den zwanziger Jahren versucht, Infektionspathologie mit Erbpathologie zu verbinden.197 Es kann geradezu von einer Rückkehr der Vererbung in der deutschen (und französischen) Medizin gesprochen werden.198 Die Bestrebungen der Konstitutionsmedizin liefen darauf hinaus, eine ätiologische Wende zu bewirken, zumeist gestützt auf einen multikausalen und konditionalistischen Krankheitsbegriff und vereint in der Gegnerschaft einer „verabsolutierten Bakteriologie“.199 „Tuberkulose ist keineswegs die Infektion mit Tuberkelbazillen [..., sondern ist] die Reaktion des Körpers auf die Infektion“,200 war der passende Slogan dazu. Klinische Familienuntersuchungen standen im Vordergrund; doch Mitte der zwanziger Jahre befand Julius Bauer, führender Konstitutionspathologe auf mendelgenetischer Grundlage, dass über Tuberkulose und Konstitution viel gesprochen werde, ohne dass neue Erkenntnisse hinzukämen.201 Ab zirka 1930 nahm das Interesse, gemessen an der Zahl der Forschungsarbeiten, zu.202 In der Regel wurde Tuberkulose als eine Frage der Konstitution und des Körperbaus behandelt. Unter den Prämissen der Mendelgenetik wurde das Thema vereinzelt Ende der zwanziger Jahre im Rahmen von Zwillingsstudien behandelt.203 Dem Einfluss der biologischen Wissenschaft und der Genetik auf die Medizin kam auch hierbei eine entscheidende Rolle zu, wie die Versuche Krönings und Küsters zeigen, zu denen sich erst in den dreißiger Jahren weitere tierexperimentelle Ansätze in Deutschland gesellten.204 Von besonderer publizistischer Bedeutung waren die Züchtungsexperimente mit Kaninchen von Karl Diehl und Otmar v. Verschuer, mit denen sich Kröning und Küster im Einklang sahen. Verschuer war Abteilungsleiter im 1927 neu gegründeten Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschlichen Erblichkeits197 Vgl. Bochalli 1958: 41-52. Dies traf besonders auf Friedrich Martius zu. Vgl. Mendelsohn 2001: 59. 199 von Engelhardt 1985: 41-42. Hau 2000: 500-01 sieht die antibakteriologisch ausgerichteten Konstitutionsmediziner als zeittypische – bildungsbürgerliche – Gegner der modernen wissenschaftlichen Medizin. Dem zufolge wäre ihre Haltung gegenüber der Genetik zu untersuchen. – Warboys stellt hingegen (für England) fest, dass der bakteriologische und der ätiologische Ansatz sich zunächst (bis in die 1890er) nicht gegenseitig ausschließen (vgl. Worboys 2001: 96). 200 von Hansemann 1912: 7 201 Vgl. Bauer 1924a: 477-79. Bauer, Wien, war Schüler von Friedrich Martius. Bauer ist ein Beispiel für den Brückenschlag zwischen Konstitutionsmedizin und Vererbungslehre. Die Disposition zu Infektionskrankheiten hing für ihn u.a. von bestimmten Erbanlagen ab (vgl. Bauer 1920: 93; Bauer 1924a: 479). 202 Nach einem Übersichtsartikel von 1940 wurden zur Frage der Tuberkulosekonstitution zwischen 1890 und 1930 17 Artikel, nach 1930 28 Arbeiten veröffentlicht. (Vgl. Diehl 1940a: Literaturverzeichnis.) 203 Vgl. Mendelsohn 2001: 63. 204 Nach einer umfassenden britischen Übersicht über tierexperimentelle Arbeiten zur Vererbung von Infektionsresistenzen beschäftigten sich von 19 Arbeitsgruppen nur eine mit der Tuberkulose (Wright und Lewis). Vier von 67 gelisteten Arbeiten datieren vor 1920, 25 Arbeiten allein erst nach 1929 (vgl. Hill 1934: 25). Nach Diehl 1942: 331 waren die einzigen tierexperimentellen Erbuntersuchungen die Arbeiten von Wright & Lewis 1921/26, die „weit umfangreicheren“ von Küster und Kröning und von Weber 1940. Mit dem mendelschen Erbgang befassten sich (außer Diehl) explizit H. Münter 1930, Ickert & Benze 1933, K. Schubert 1933/35, O. Geissler 1936 (vgl. Diehl 1940a: Literaturverzeichnis). Bauer erwähnt frühe – nicht-mendelsche – tierexperimentelle Arbeiten von Hamburger und Kleinschmidt an Meerschweinchen und Guérin an Rindern (vgl. Bauer 1924a: 477-79). 198 153 lehre und Eugenik. Eugen Fischer, dem Direktor, zufolge, war eine seiner Aufgaben und von „unendlicher Bedeutung“, den Zusammenhang von (erblicher) Konstitution und der Widerstandsfähigkeit gegenüber Krankheiten wie Tuberkulose und Krebs zu bestimmen.205 Verschuer bezog diese Fragen von Anfang an in seine groß angelegten Zwillingsstudien mit ein.206 Die Untersuchungen „über die erbliche Veranlagung für die Erkrankung an Tuberkulose“ ab 1928 wurden durch das Preußische Ministerium für Wohlfahrt unterstützt.207 Verschuer und Diehl gingen bald von einer spezifischen vererbten Disposition, also einer Organ-bezogenen Krankheitsanfälligkeit gegenüber der Tuberkuloseinfektion, aus.208 Als die Ergebnisse auf einem Tuberkulosekongress 1930 erstmals vorgestellt wurden sorgten sie für Aufsehen und Widerspruch.209 Der Versuch, Tuberkulose in eine „Erbkrankheit Tuberkulose“ umzumünzen, prallte unmittelbar auf die Anhänger der Infektionspathologie. Es ging dabei zugleich um den paradigmatischen Weg in der Gesundheitspolitik. Den hygienischen, infektionsmedizinischen und serotherapeutischen Maßnahmen standen zunehmend eugenische Optionen gegenüber. Die Zwangsasylierung und Sterilisierung Tuberkulöser auf Grund angenommener Erblichkeit der Tuberkulose nahm wenig später im Nationalsozialismus reale Gestalt an. Ab zirka Mitte der dreißiger Jahre versuchte Diehl, die Ergebnisse der Zwillings- und Sippenforschung an Kaninchen zu bestätigen.210 Dies wurde nicht zuletzt dadurch notwendig, da die Ergebnisse aus der Zwillingsforschung in der Substanz problematisch erschienen.211 Durch die große Rolle der peristatischen Faktoren bei jeder Infektion seien „Zufallsexperimente“ am Menschen, so oft sie sich auch durch die große epidemiologische Bedeutung der Tuberkulose ereig205 Fischer 1926: 751-52. Nach Fischer wisse man nicht einmal, ob Blonde oder Brünette zu Krebs oder Tuberkulose mehr disponieren – englische und deutsche Statistiken würden sich da widersprechen – oder ob die Rassenkomponenten in Europa sich verschieden verhalten würden. 206 Auch vom Frankfurter Institut aus wurden am Menschen (genealogische) Untersuchungen zur Frage der erblichen Tuberkulosedisposition seit Ende der zwanziger Jahre angeregt und unterstützt (vgl. Berghaus 1938: 56). Mit Unterstützung von Landesversicherungsanstalten, Heilstätten, Bürgermeisterämtern und Pfarrern nahm Wilhelm Berghaus (Münster, dann Karlsruhe) Sippenforschungen die Erhebung von 1.200 „tuberkulöser Sippen“ mit Unterstützung des Georg-Speyer-Hauses in Angriff. Er kam zum Ergebnis, dass seine Untersuchungen andere bestätigen, womit „auch die langjährige Kontroverse grundsätzlich entschieden“ sei (hier u. nachfolgend: ebd.: 67). Im Gegensatz zu v. Verschuer relativierte B. zynisch die Bedeutung eugenischer Maßnahmen – obgleich die eugenische Eheberatung über alle Zweifel erhaben sei –, da die „gütige Mutter Natur“ nach dem Krieg den größten Teil der Belasteten und „Anbrüchigen“ durch Ausmerze hinweggerafft habe. So sei auch der Rückgang der Tuberkulosesterblichkeit zu erklären. 207 Hier und nachfolgend, vgl. Lösch 1997: 206ff.. 208 Vgl. Diehl & von Verschuer 1930; von Verschuer 1931b; Diehl 1932von Verschuer 1932; von Verschuer & Diehl 1933; von Verschuer & Diehl 1933. 209 Vgl. Lösch 1997: 209. – Die anhaltende Debatte wird u.a. durch eine Rundfrage im Deutschen Tuberkulose-Blatt dokumentiert, die eher auf eine Bereitschaft der Ärzteschaft schließen lässt, Konstitution und Tuberkulose zusammen zu denken (vgl. Klare 1934). 210 Vgl. Lösch 1997: 365. 211 Das verhältnismäßig kleine Zahlenmaterial und die beschränkte Individuenzahl der Familien gestatteten es nicht, den Erbgang zu analysieren (hier und nachfolgend, vgl. Diehl 1940b: 94). Die starke unterschiedliche Virulenz sowie die Abhängigkeit der Infektion von der Menge, Infektionswiederholung und Eingangspforte des Tuberkulosebazillus erhöhte zudem die Umweltschwankungen derart, dass „die Beobachtungen einzelner Familien keinen sicheren Beweis für oder gegen die These der Erbmitbedingtheit der Tuberkulose bringen konnte“. 154 neten, „gegenüber exakter Forschung geradezu als hoffnungslos zu bezeichnen“.212 Diese klaren Feststellungen zur bisherigen Erbforschung am Menschen hätten auf die bisherigen Unternehmungen, erbbiologisch den „Kampf gegen diese verhängnisvollste Volksseuche“ und „verbreitetste Infektionskrankheit des Menschen“ (Diehl) zu führen und der „Wichtigkeit der Tuberkulose als Volksseuche“ (Fischer) beizukommen, einiges Licht werfen müssen. Die Annahme der Erblichkeit einer Tuberkulosedisposition gewann in den dreißiger Jahren jedoch an Boden. 3.3.4.2 Feuerprobe der ätiologischen Wende am Staatsinstitut Vor dem Hintergrund dieser Skepsis lohnt die Mühe, einige Details der Meerschweinchenversuche Krönings und Küsters zu betrachten. Doch zunächst stellt sich die Frage, warum sie überhaupt durchgeführt wurden. Bereits 1919 waren solche Experimente, ebenfalls in Zusammenarbeit eines Mediziners, Paul Lewis, und eines Genetikers, Sewall Wright, in den USA durchgeführt worden.213 Diese Experimente waren ein Nebenprodukt Wrights landwirtschaftlich gebundener Forschung an der Experimental Station des Bureau of Animal Industry des U.S. Departement of Agriculture in Washington D.C. – genau genommen, „a by-product of experiments on the effects on inbreeding“.214 Die Fragestellung der amerikanischen und deutschen Experimente war gleich, und Kröning und Küster sahen ihre Ergebnisse als Bestätigung der früheren. Die Experimente unterschieden sich aber im Umfang, in den Vorentscheidungen über die Wahl der Methode und der Objekte und in der spezifischen Vorbereitung der Instrumente auf das Experiment.215 Wright und Lewis führten die Versuche in der kurzen Zeit von fünf Monaten durch.216 Die wacklige Datengrundlage der amerikanischen Versuche reichte für spezifische und differenzierte Aussagen über die erbliche Disposition von Infektionskrankheiten nicht aus. Das Frankfurter Institut verfolgte hingegen ein spezifisch medizinisches Interesse. Die Frage nach der erblichen Konstitution der Tuberkulose war nicht neu; neu war aber die mit der mendelgenetischen Bearbeitung verbundene Neuaus212 Diehl 1940b: 94 – Ab 1938 leitete Diehl als „Dirigierender Arzt“ des Tbc-Krankenhauses Waldhaus Charlottenburg in Sommerfeldt bei Beetz (Osthavelland) die „Außenstelle für Tuberkulose-Erbforschung“ des KWI für Anthropologie. 213 Vgl. Wright & Lewis 1921; Wright 1926. 214 Wright & Lewis 1921: 21-22. 1906 war dort mit groß angelegten Reihen zur Untersuchung der Folgen der Inzucht begonnen worden. Zunächst hielt die Station 23 Meerschweinchenstämme, die auf fünf reduziert wurden, um sie im größeren Umfang zu züchten. 30.000 Tiere wurden bis 1920 verbraucht. Wright war seit 1915 Mitarbeiter. 215 1919 wurde 2.400 junge Meerschweinchen auf der Experimental Station aufgezogen, aber nur weniger als 400 wurden für die Tuberkuloseexperimente verwandt. Davon stammten nur 177 aus Reinzucht (vgl. Wright & Lewis 1921: 22ff.). Die Datenbasis der Amerikaner war sehr dünn und erlaubte letztlich keine statistische Bearbeitung. Auf die Inzuchtstämme kamen ein bis 68 Tiere. Die 11 Versuchsreihen waren nicht vergleichbar. Es wurde nur ein Jahrgang der Tiere getestet. – Im deutschen Beispiel liefen dagegen die Versuche über einen Zeitraum von fünf Jahren. 216 Vor der Infektion mit Tuberkulose wurden die Tiere per Schiff von Washington nach Pennsylvania verfrachtet. Die Art der Applikation der Tuberkuloseerreger variierte in den Versuchsreihen. Es wurden keine weiteren Angaben gemacht über die benutzten Tuberkulosestämme, ihre Eigenschaften oder die Dosierung. Der bakteriologische und serologische Hintergrund des Staatsinstituts ermöglichte hingegen aufwendige Tests der Erregerstämme auf ihre GeeEignung ignetheit für die Versuche. 155 richtung der Forschung zur Ätiologie und Pathogenese der Tuberkulose.217 Bis Ende der dreißiger Jahre herrschten bakteriologischen und chemotherapeutischen Fragestellungen am Staatsinstitut vor.218 Die Forschung orientierte sich am Ausbau der Kochschen Grundfeststellungen über die Färbbarkeit des Tuberkelbazillus, seine kulturelle Charakterisierbarkeit und seine ätiologische Bedeutung und pathogene Wirkung. Küster zog eine entmutigende Bilanz. Die Immunisierung sei bislang nicht gelungen, von Prophylaxe wäre nichts zu erwarten und auf chemotherapeutischem Gebiet sei bisher nichts erreicht worden.219 Dem entgegen stand die Konstitutionsforschung als neue ätiologische Strategie, die sich an den tierexperimentellen Arbeiten Küsters und den statistischgenealogischen Arbeiten von Berghaus festmachte. Die Tuberkuloseexperimente sollten die Möglichkeiten der neuen Strategie ausloten, das heißt, die Forschungsstruktur des traditionellen infektionsmedizinischen Instituts wurde durch sie letztlich zunächst nicht angetastet.220 Die groß angelegten Experimente zur Tuberkuloseresistenz stellten einen Modellversuch auf dem für die Mendelgenetik schwierigen Terrain der Infektionskrankheiten dar. Die Stoßrichtung der Tuberkuloseexperimente entsprach den Bestrebungen der Konstitutionsmedizin, den Blick von Außen ins Innere des Organismus zu verschieben. Einem solchen Versuch wurde Ende der zwanziger Jahre noch verbreitete Skepsis entgegengebracht.221 In Frankfurt und Göttingen stand ein genetisch-medizinisches Experimentalsystem zum Test an und zugleich die genetische Episteme von Krankheit. Entsprechende Experimente mussten mit besonderer Sorgfalt durchgeführt werden. Das Experimentalsystem war aus der konstitutionsbiologischen Fragestellung und einer Verklammerung medizinischer und genetischer Labormethoden sowie der Verfeinerungen des sero-bakteriologischen Labors gebildet. Ein besonderes Charakteristikum dieses Experimentalsystems war das ‚Prinzip des erweiterten Laboratoriums’, nach dem die Standardisierung der Methoden, Apparate und Reagenzien im Laborraum selbst in die Körper der Versuchstiere und ihre Lebensgeschichte verlängert wurde. Dementsprechend und ganz anders als bei Wright und Lewis, die keine wieteren methodischen Überlegungen anstellten, war der methodische Teil in der Arbeit Küsters und Krönings außerordentlich detailliert und weit gefasst. Es wurde detailliert über Infektionsweg, Kulturmethode der Erreger und Eigenschaften 217 Anfang der zwanziger Jahre bildete die Tuberkuloseforschung am Staatsinstitut zunächst einen Schwerpunkt (1920-22: von 101 Veröffentlichungen 18 zur Tuberkulose), der aber aufgegeben wurde (1923-29 von 209 insgesamt nur 9) zugunsten der Forschungen zu Krebs (4/ 36) und Syphilis (13/ 43; zur Salvarsantherapie bei Syphilis 10/ 12) (vgl. Kolle 1926: 58ff.). 218 Eine Ausnahme bildete die Frage, ob der Tuberkelbazillus in seinem Entwicklungszyklus in kleinsten Formen vorkommt, worauf Filtrierungsexperimente hingewiesen hatten. Französische Autoren vertraten die Auffassung, dass ein „Virus filtrant“ oder „Ultravirus“ existiert und brachten dies mit der Vererbung der Tuberkulose in Zusammenhang (vgl. Küster 1931: 95). 219 Vgl. Küster 1931: 111. – Noch 1938 hielten Küster und Kröning an dieser Einschätzung fest! Nicht einmal in der Tiermedizin hätten die bakteriologisch-serologischen Arbeiten befriedigende Ergebnisse erzielt (vgl. Küster & Kröning 1938: 39-40). 220 Tatsächlich wurde die erbbiologische Begründung der Infektionsmedizin in Frankfurt nicht mehr intensiver weitergetrieben, was u.a. am uneindeutigen Ausgang der Experimente lag und daran, dass W. Kolle Ende 1935 starb. Sein Nachfolger, Richard Otto, war hingegen Schüler R. Kochs. 156 der Erregerstämme wie über die Bedeutung der Reinzucht berichtet. Die Meerschweinchen stellten in „allen Erbfaktoren homozygotes Material“ dar.222 Alle Umstände, beginnend mit der Unterbringung über Fütterung und Haltung bis zur Infektion mit den Erregern, sollten „praktisch gleichgestaltet und damit ohne wesentliche Bedeutung für den Ausfall der Versuche“ sein.223 Die „Stallanlagen der Versuchstierzüchtung der Deutschen Forschungsgemeinschaft am Zoologischen Institut“ rückten damit an prominente Stelle direkt neben die Methodik des eigentlichen Experiments, der Applikation von Tuberkelerregern. Auch dies zeigt, was mit dem ‚Prinzip des erweiterten Laboratoriums’ gemeint ist. 3.3.4.3 Tuberkulose: ein prekärer genetischer Gegenstand Auf jenes methodische A&O konnte sich die Interpretation der Ergebnisse stützen, als die Daten keineswegs so eindeutig ausfielen, wie Küster und Kröning sie zu verkaufen versuchten. Die Frage war, ob die Homogenisierung aller Laborbedingungen einschließlich der beteiligten Organismen eine so komplizierte kontinuierliche und von unterschiedlichsten Einflüssen mitbedingte physiologische Eigenschaft wie die Anfälligkeit gegenüber einer bakteriellen Infektion ‚detektieren’ – wahr machen – konnte. Nur unter Zusatzannahmen ließ sich ein Zusammenhang zwischen Tuberkuloseinfektion und Konstitution herstellen. Genau jene ‚sozio-technisch-architektonischen’ Mühen zur Gleichgestaltung der Versuchstiere bildeten den Angelpunkt dafür, die störenden Schwankungen in den Ergebnissen den Tuberkelbazillen anzulasten.224 Die unerwartete Situation war die, dass sich die statistischen Überlebenszeiten der Meerschweinchen insgesamt und getrennt nach Stämmen mit der Zeit änderten. Apodiktisch stellten Kröning und Küster entsprechend ihrer methodischen Vorarbeiten fest, dass Umwelteinflüsse „praktisch gleichgestaltet und damit ohne wesentliche Bedeutung für den Ausfall der Versuche“ wären.225 In gleicher Weise schlossen sie erbliche Einflüsse aus.226 Noch beunruhigender war, dass sich die Unterschiede zwischen den Stämmen in der Summe über die Jahre nivellierten.227 Statt auf eine Rassendisposition deutete dies eher auf eine Disposition nach Lebensalter. Kröning benutzte nun aber die unklaren zeitlichen Schwankungen in der Sterblichkeit innerhalb einzelner Stämme als Manövrierposten, um Unterschiede zwischen den Stämmen heraus zu präparieren. Er erstellte aus der Kombination einzelner Vergleiche von durchschnittlichen Überlebenszeiten der einzelnen Testgruppen in den fünf Jahre ein prekäres Gerüst auf, nach dem sich die Widerstandsfähigkeit der einzelnen Stämme graduell zu unterscheiden schien. Die ungeklärten zeitlichen Veränderungen gaben so den Raum für die Klassifizierung der Versuchstiere nach einem genetischen Krite221 Vgl. Ickert 1929: 1875. Küster & Kröning 1938: 30. Der Methodenteil umfasst sieben Seiten. 223 Küster & Kröning 1938: 41 224 Vgl. Küster & Kröning 1938: 68. 225 Küster & Kröning 1938: 41 226 Vgl. Küster & Kröning 1938: 68. 227 Ignoriert man die ansteigende Resistenz über die Versuchsserien, so ergeben sich nahezu für alle Stämme gleiche Überlebenszeiten nach einer Tbc-Erkrankung. Stamm III: 82 Tage, Stamm X: 79, Stamm XI: 84, Stamm: XVIII: 86, Stamm XXII: 82 usw. (vgl. Küster & Kröning 1938: 59). 222 157 rium her. Die Meerschweinchenstämme wurden in drei Gruppen aufgeteilt: Tiere mit geringer, mittlerer bzw. hoher Resistenz gegen eine Infektion.228 Dies passte hervorragend zu genealogischen und Zwillingsstudien, die eine „absolute Tuberkulosehinfälligkeit“, „Tuberkuloseempfänglichkeit bei teilweiser Resistenz“ und eine „völlige Tuberkuloseresistenz“ unterschieden und dies auf zwei mendelsche Erbfaktoren zurückgeführten.229 Wie waren aber die zeitlichen Veränderungen dann zu interpretieren? Kröning verlegte sich, nachdem er auf Grund der methodischen Vorbedingungen alles andere meinte ausschließen zu können, auf das Infektionsmaterial. „Mit erheblichen Aenderungen in der Virulenz der Tuberkelbazillen könnte man viele der Verschiedenheiten von Versuch zu Versuch erklären.“230 Diese Erklärung bewahrte den Anspruch auf die Leistungsfähigkeit der Göttinger Zuchtanlage. Kühn, der Krönings Ergebnissen folgte, aber entgegengesetzte Schlüsse zog, sah gerade darin das Wesentliche der Versuche: Sie zeigten, dass sich bei Benutzung reiner Versuchstierstämme die „Virulenz eines Tuberkelstamms ‚messen’ läßt“.231 Die Verantwortung lag bei der noch nicht ausgereiften serologischen Theorie über die Virulenzdynamik von (Tuberkel-)bazillen. Doch, wie das genaue Hinsehen gezeigt hat, ermöglichte gerade dies die Konstruktion der genetischen Resistenz. Um der Tuberkulose als genetische Disposition noch näher zu kommen, wurde eine weitere Strategie angewandt. Diese mobilisierte über die Reinzucht hinaus die diskriminativen Kapazitäten der Göttinger Zucht. Die Meerschweinchen wurden, der Fragestellung entsprechend, gezielt selektiert und gezüchtet. Kröning und Küster gingen davon aus, dass letztlich der erblichen Disposition mendelsche Vererbungsmodi zugrunde liegen mussten. Zugleich war klar, dass es auf Grund der kontinuierlichen Variabilität der Tuberkuloseresistenz nicht möglich sein würde, diese Modi direkt zum Vorschein zu bringen. Also musste ein Umweg beschritten werden. Die Frage war, „ob einzelne Gene, die sichtbare Merkmale determinieren, die Tuberkuloseresistenz mitbeeinflussen“.232 Die Stämme des Göttinger Zoologischen Instituts passten, wie zufällig, haargenau zu dieser Aufgabe. Tatsächlich handelte es sich ja um Stämme, die Kröning zum Zwecke seiner Pigmentstudien seit 1923 etabliert hatte. Es bot sich also an, nach einem Zusammenhang zwischen der physiologischen Eigenschaft („relative Tuberkuloseresistenz“) und einem der bekannten Merkmale (zum Beispiel einer bestimmten Pigmentierung) zu suchen. Durch die Korrelation zwischen einem einfachen mendelschen Merkmale und den Überlebenszei228 Vgl. Küster & Kröning 1938: 59. – Kröning war in der gemeinsamen Veröffentlichung mit Küster für den statistischen Teil verantwortlich. 229 Diehl 1940a: 180. Diehl zitiert O. Geissler: Der Erbgang der Tuberkulosehinfälligkeit in einer geschlossenen Sippe, Beitr. Klin. Tbk., 91, Heft 1, 1938. Diehl und v. Verschuer hätten ebenfalls graduelle Unterscheidungen in der Tuberkulosedisposition gefunden. 230 Küster & Kröning 1938: 68 231 18.6.1935, Kühn an DFG, in: BA Ko, R 73, 12475: Seite 2 v. 6. Kühn betonte im Gegensatz zu Kröning die Unterschiede zwischen den „erbgleichen“ Tieren eines Stammes – nicht zwischen den Stämmen – und damit die Umwelteinflüsse der Tbc-Infektion. Die Variabilität, so Kühn, die bei eineiigen Zwillingen nach einer Tbc-Infektion beobachtet wurde, werde nun verständlicher (vgl. ebd.). Genau diese Skepsis gegenüber der Eindeutigkeit der Ergebnisse der Tierversuche teilte K. Diehl (vgl. Diehl 1940a: 167). 232 Küster & Kröning 1938: 40. Herf. Verf. 158 ten der Meerschweinchen wäre die ‚Mendelisierungsfähigkeit’ der Tuberkulosewiderständigkeit experimentell nachgewiesen. Die statistischen Kopplungsanalysen blieben jedoch zunächst ein völliger Fehlschlag.233 Erst durch die Aufspaltung des Stamms, bei dem Überzehen häufig auftraten, gelang es, das sensorische Instrument ausreichend zu verfeinern: Eine „deutliche, wenn auch geringe Verschiedenheit in der Widerstandsfähigkeit gegen die Tbc-Infektion“ tauchte nun auf.234 Dieses Ergebnis war von großem Interesse, denn es konnte multipel mit aktuellen Fragestellungen der Genetik verknüpft werden. Kühn hob den Überzehenfaktor als ein besonderes sensorisches Instrument heraus. Das Überzehenmerkmal konnte an ganz anderen Werkbänken eingesetzt werden, als die einfachen Mendelgene der Drosophilisten, da er äußerliche Merkmale mit physiologischen Eigenschaften verband. In dem Zusammenhang zwischen dem physiologischen und dem morphologischen Merkmal, so prekär er auch war, lag innovatives Potenzial für andere Forschungskontexte: bei der Uminterpretation des Konstitutionsbegriffs in mendelschen Termen, als ein diagnostisches Mittel bei der Aufspürung von Mutationen und schließlich als Türöffner für genphysiologische Fragestellungen. Auf diese schillernde Eigenschaft wird in Kapitel 4 noch einzugehen sein.235 3.3.5 Nachspiel: Tumorfarm und Ende Kühns „genetischer VersuchstierZuchtanstalt“ Gegen Mitte der dreißiger Jahre kam erneut Bewegung in die Planungen der Versuchstierzuchten. Kühn forderte vehement ihren Ausbau, da sich die Nachfrage nach „reinem Versuchstiermaterial“ derart gesteigert hätte, dass er dem Bedarf nicht hinterher käme.236 Bislang hätte er die Tiere noch nicht in Massen gehalten, jetzt müsse aber die Massenzucht sukzessive angestrebt werden.237 Kolle und Hans Reiter, der Präsident des Reichsgesundheitsamtes, appellierten 233 Vgl. Küster & Kröning 1938: 61. – Auch Wright und Lewis hatten keinerlei Verbindungen feststellen können. Sie hatten über die einfachen mendelschen Merkmale hinaus quantitative Eigenschaften mit einbezogen (vgl. Wright & Lewis 1921: 44-49). Während bei der Fruchtfliege Drosophila mit Erfolg schon seit zwei Jahrzehnten Hunderte von Genen auf Chromosomen gekoppelt und kartiert wurden, hinkte die Säugetiergenetik weit hinterher. 234 Küster & Kröning 1938: 60. Dieser Stamm war in zwei Linien weitergezüchtet worden. In der einen wurde die Inzucht, wie gehabt, fortgesetzt, in der anderen wurden immer nur Geschwister mit den manifestierten Überzehen miteinander gepaart. In diesem zweiten Stamm, bei denen durch die Selektion die Überzehen häufiger auftraten, war die Lebenserwartung nach einer Tuberkuloseinfektion geringer. Kröning machte dafür wie auch für die gehäuften Überzehen das „genotypische Milieu“ verantwortlich (ebd.). – Nach der Beendigung der Zusammenarbeit mit Küster, setzte Kröning die Versuche selbstständig als Kreuzungsversuche mit dem Ziel fort, Erbgänge zu ermitteln (vgl. Weber 1942: 355). 235 Siehe 4.2.3.3, Seite 192. 236 29.8.1935, Kühn an Deutsche Forschungsgemeinschaft (BA Ko, R 73, 12475) 237 90.000 RM veranschlagte Kühn für eine leistungsfähigere Versuchstierzuchtanlage. Er selbst ergriff erste Maßnahmen, um die „Herstellung“ von 2.800 Meerschweinchen (zusammen mit Plauerhof), 3.500 Mäusen, 2.000 Ratten und 600 Kaninchen im Jahr zu ermöglichen (vgl. 18.6.1935, Kühn an DFG, in: BA Ko, R 73, 12475: Seite 5 v. 6). Die Haltung von Tauben und Hühnern wurde „zum Zwecke der Steigerung der Arbeiten an den medizinisch wichtigen Versuchstieren” aufgegeben (ebd.: S. 3 v. 6). Nach Abschluss der Katzenversuche wurden die Zuchträume in Göttingen auf Ratten- und Mäusezucht umgestellt (vgl. 10.12.1934, Kühn an DFG, in: ebd.: S. 5 v. 9). 159 ebenfalls dringlich an die Notgemeinschaft. Kolle regte eine Zentralzuchtstelle für Mäuse an. Die Mäuse dienten vor allem der Krebsforschung. Seit 1913 war, wie Kolle feststellte, in Amerika eine umfangreiche Literatur entstanden, durch die ein „recht in die Augen springendes Beispiel“ gewonnen sei, wie die mit „konstitutionellen bezw. erblichen Komponenten zusammenhängende Empfänglichkeit von Tieren derselben Rasse für Versuche Bedeutung gewinnen kann“.238 Die Frankfurter Krebsarbeiten mussten im Laufe der zwanziger Jahre aufgrund des Mangels an Versuchstieren immer weiter eingeschränkt werden.239 1930 wurde in Göttingen mit der Zucht von Mäusestämme begonnen, 1932 mit der Tumormäusezucht. Die Stämme waren teils aus Amerika beschafft, teils an Kühns Institut selbst herausgezüchtet worden.240 Die Zuchten von Tumorstämmen in Göttingen waren, wie Kühn meinte, in dem Umfang einmalig, und Bedarf bestände von allen Seiten. „Bei der ungeheuren Bedeutung, welche der Krebsbekämpfung heute zukommt, ist dieser vielseitige Bedarf verständlich.”241 Die Versorgung aber der gesamten Forschung sei, nachdem die Zucht prinzipiell in Griff wäre, an äußere Voraussetzungen gebunden. Im Oktober 1936 wurde in der Notgemeinschaft im Rahmen der Gemeinschaftsarbeiten zur Krebsforschung beschlossen, die Zucht der Krebsmäuse so auszubauen, dass ein jährlicher Bedarf von 20.000 Mäusen gedeckt werden könnte.242 Damit war der Weg zur Massenzucht geebnet. Wenig später wurden die Göttinger Tumormäuse an das Krebsbekämpfungsprogramm des Reichsausschuss für Krebsbekämpfung eingebunden. Getrieben vom Menetekel der Rückständigkeit der deutschen Forschung wurde ein breit angelegtes Krebsforschungsprogramm entworfen, in dem Vererbungsforschung 238 28.1.1928, Kolle an Schmidt-Ott (AMPG, Abt. III, Rep. 20 A, Nr. 103) – Ursprünglich sollten entsprechend der Vereinbarungen von 1928 an Baurs Institut Mäusezuchten angelegt werden, um „Krebsfamilien nach amerikanischen Vorbild“ zu züchten. Sie waren als ideale Objekte für Untersuchungen zur Krebstherapie und Immunbiologie gedacht. (Vgl. o.D., Niederschrift der Sitzung am 12.3.1928 im Staatlichen Institut für exp. Therapie, in: GStA, I. HA, Rep. 92, C58: Bl. 208-09.) 239 Vgl. Kolle 1926: 21. – Der Abt.ltr. für experimentelle Krebsforschung, Wilhelm Caspari, führte seit 1920 die Arbeiten zur Immunität gegen maligne Tumore fort, die von Ehrlich und dem ersten Leiter der 1902 gegründeten Abt., Apolant, in Transplantationsversuchen mit Tumoren begonnen worden waren. Die Versuche hatten zur Postulierung eines für jeden Tumor spezifischen Wuchsstoffs geführt. Durch den Tod Apolants (1914) und Ehrlichs (1915) wurden die Versuche unterbrochen, und auf Grund der Einwirkungen des Ersten Weltkriegs konnten von den gezüchteten Stämmen nur drei erhalten werden. Nach dem Krieg begann Caspari mit Versuchen zur intravenösen Überpflanzung von Impftumoren und ihrer Verimpfung in einzelne Organe. 240 Vgl. o.D., Kühn: „Zoologisches Institut...“ (BA Ko, R 73, 12475: Seite 5 v. 5) (s. Anm. 101) – Unter anderem ging es um Mäuse, die vermehrt Brustkrebs entwickelten (vgl. 5.9.1936, Kühn an DFG, in: ebd.: Seite 1 v. 3). Wahrscheinlich handelte es sich um den verbreiteten brown dilute-Stamm, der von C. C. Little im Jackson Laboratory groß angelegt gezüchtet wurde. 65.000 Tiere wurden an Labore in den USA und Europa (zwischen 1930-37) verschickt (vgl. Löwy & Gaudillière 1998: 209). 241 5.9.1936, Kühn an Forschungsgemeinschaft (BA Ko, R 73, 12475: Seite 2 v. 3) 242 Vgl. 28.10.1936, Dr. Greite an Kühn (BA Ko, R 73, 12475). Die Göttinger Anlage wurde erweitert, doch der Neubau einer Zuchtanlage konnte nicht durchgesetzt werden (vgl. 5.9.1936, Kühn an DFG, in: ebd.). 160 eine eher untergeordnete Rolle spielte.243 Der Reichsausschuss fungierte als Koordinationsstelle der Krebsforschungen. Er legte Schwerpunkte bei der Forschungsförderung und begutachtete Forschungsanträge.244 Die Förderung der Versuchstierzucht gelangte nun unter die Prämissen der Tumorforschung. 1936 wurde der Aufbau einer „Tumorfarm“, wie es abkürzend hieß, beschlossen, „einer Zentralstelle für die Belieferung der deutschen Krebsforscher mit einheitlichem und einwandfreiem Versuchstiermaterial auf dem Gebiete der experimentell erzeugten (Implantations-) Tumoren“.245 Die Zentrale Zuchtanstalt für Tumortiere wurde an das neu gegründete Institut gegen die Geschwulstkrankheiten im Rudolf Virchow-Krankenhaus angegliedert. Ihr Leiter wurde Friedrich Holtz, bis dahin in den „Sauerbruchschen Laboratorien“ der Chirurgischen Universitätsklinik in Berlin mit der Erforschung des Höhensonnencarcinoms beschäftigt. 246 Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits zehn Jahre lang Rattenzuchten „stammbuchmäßig“ geführt. Mit einem Startkredit über 29.000 RM wurde mit der Zucht von Ratten, Mäusen, Kaninchen und Hühnern begonnen. In Rundschreiben wandte sich Holtz an verschiedenste Institute als mögliche Interessenten und erklärte den Zweck der Tumorfarm entsprechend der seit 1928 entwickelten methodischen Prinzipien: „Die Zentralisation der Tumorzucht soll den einzelnen Forschern die oft mühsame Beschaffung des Ausgangsmaterials abnehmen [...]. Ganz besonders soll aber das Impfmaterial gleichmäßig, einheitlich werden, um gut vergleichbare und reproduzierbare Ergebnisse zu erzielen.“247 In Aufgabenteilung wurden nun in Dahlem – die Tumorfarm war in der Garystr. 9 untergebracht – erbreine Tierstämme für die Beimpfung mit Tumoren gezüchtet, während in Göttingen Mäusestämme mit spontanen Tumoren gehalten 243 Das Programm des Reichsausschuss war unterteilt in die Bereiche Tumorgenese (120.000 RM n. Haushalt 1936), Diagnose (50.000), Therapie (30.000) und Allgemeines (KonstitutionsDispositions- und Erblichkeitsfragen, Statistik, 30.000). „Die allgemeine Einteilung der Mittel dürfte der Bedeutung der einzelnen Gebiete entsprechend abgestuft sein“, kommentierte der Koordinator der Krebsforschung in der DFG (o. D. (1936?), Dr. Breuer, Durchschlag, in: BA Ko, R 73, 12388). 244 Vgl. 18.12.1936, Dr.Br./Kr. an Fischer Wasels (BA Ko, R 73, 11025). – 1936 wurde die Krebsforschungsförderung im Reichsausschuss zentralisiert (hier und nachfolgend, vgl. BA Ko, R 73, 11025 u. 10415; GStA, I. HA, Rep. 92, C63). Der Etablierung der neuen Strukturen zur „Krebsbekämpfung“ ging ein Machtkampf um Richtlinienkompetenz in der Forschungsförderung zwischen DFG und RME vorweg, der mit dem Weggang des DFG-Präsidenten J. Starck ein Ende fand. Die Planungen zur Krebsbekämpfung wurden nun aufgeteilt: Wissenschaftliche Fragen wurden durch das RME behandelt, das das einheitliche Vorgehen garantieren sollte, der gesundheitsaufklärerische Teil durch das RMI. Die Begutachtung lag ab jetzt beim Reichsausschuss für Krebsbekämpfung (1931 als eine gemeinsame Gründung des RMI und des Deutschen Zentralkomitee zur Erforschung und Bekämpfung der Krebskrankheiten e.V. entstanden; den Vorsitz hatte der Pathologe Max Borst), der DFG blieb die praktische Durchführung. (Die DFG hatte 1936 selbst die Ausarbeitung eines Tumorforschungsprogramms in Angriff genommen zum Zweck der Fokussierung der Forschung.) 245 10.12.1938, Dr. Br/Kr. [zusammenfassende Schrift] (Ba Ko, R 73, 11786) 246 Holtz übernahm die Biologische Abt. dieses Instituts, dessen Direktor Heinrich Cramer war. Das Institut wurde unter der Beteiligung der Stadt Berlin gegründet. Dabei engagierte sich besonders Stadtmedizinalrat Conti, Leiter des Hauptgesundheitsamtes und späterer Reichsärzteführer. 247 29.12.1937, Holtz an Deutsche Forschungsgemeinschaft (BA Ko, R 73, 11786) 161 und weitergezüchtet werden sollten.248 Im Frühjahr 1937 wechselte Kühn als Abteilungsleiter an das Kaiser-Wilhelm-Institut für Biologie in Berlin. Friedrich Kröning erhielt nun die Aufsicht über die Versuchstieranlagen, deren Hauptarbeit nun die Zucht von Tumormäusen war. Kröning gelang, wie es scheint, kein substanzieller Ausbau des Bestands an Stämmen mit unterschiedlichen konstitutionellen Merkmalen.249 Mit der Einrichtung der Krebsmäusezuchten war zwar erreicht worden, dass die Tierzuchtanlagen in Göttingen ausgebaut wurden, allerdings geriet Kühns Konzept zur Aufteilung der Versuchstierzuchtanstalten in Vermehrungsanstalten und Züchtungsanstalten aus den Augen. Die Kontinuität der Gemeinschaftsarbeiten zur Versuchstierzucht, welche in völligem Einverständnis zwischen Notgemeinschaft, Medizinern und Genetikern ins Leben gerufen und betrieben worden waren, wich nun den Prioritäten des Reichsausschusses für Krebsforschung bzw. des Reichsministeriums für Wissenschaft und Erziehung. Ein besonderes Verständnis für die Belange „genetischer Versuchstier-Zuchtanstalten“ war in den Gremien der Krebsforscher nicht vorhanden. Die direkte und einverständige Verbindung zwischen Kühns, Medizinern und der Forschungsorganisation war damit beendet. In der Zurückhaltung der Mediziner drückte sich ihre Skepsis der Genetik gegenüber aus: „Konstitution, Disposition, Erblichkeit können zunächst auf klinisch-statistischem Wege verfolgt werden. Die erbliche Anlage bei gewissen Tumoren der Tiere ist vor allem durch die amerikanischen Forschungen weitgehend aufgeklärt worden.“250 Dem hielt Friedrich Kröning, der nun selbst mit Krebsforschungen begonnen hatte, in einem Bericht über die Grundlagen der experimentellen Krebsforschung entgegen, dass „der Krebs eine ‚Erbkrankheit’ 248 Vgl. 22.11.1937, Kröning an Dr. Breuer (BA Ko, R 73, 12388). – Göttingens Aufgabe war, einen Tierstamm mit erhöhter Disposition für Lungencarcinome oder Sarkome zu züchten. In Berlin mussten neben den Stämmen, die mit Tumoren zu beimpfen waren, Tumorstämme gehalten und optimiert werden, aus denen Impfmaterial gewonnen werden konnte; denn die Tiere wurden bei Bedarf, bald obligatorisch entsprechend einer Anweisung Sauerbruchs zur Vereinheitlichung der Krebsforschung bereits mit Tumoren beimpft ausgeliefert. Im Angebot waren Ratten mit Jensen-Sa[arkom] und Flexner-Jobling-CA[rcinom], Mäuse mit Ehrlich-Ca und Collierschem Ascitestumor, Kaninchen mit Brown-Pearce-Tumor und speziell für die Krebsforschung mit Viren das Rous-Sarkom von Hühnern (vgl. 29.12.1937, Holtz an DFG, in: BA Ko, R 73, 11786). 249 1939 wurde Kröning als Nachfolger Holtz’, der aufgrund von Fehlverhalten zurücktreten musste, als Leiter der biologischen Abt. des Instituts gegen die Geschwulstkrankheiten am Rudolf Virchow- Krankenhaus nach Berlin geholt. Er verlegte die Göttinger Tierzucht nach Berlin. 1943 wurde die Tumorfarm nach Posen an das Zentralinstitut für Krebsforschung (oder auch: „Reichsinstitut“) verlegt (Direktor: der stellv. Reichsärzteführer Blome). Leiter der Tierzuchten wurde Hinsberg, zugleich Leiter der Chemischen Abt. des Pathologischen Instituts am Charité-Krankenhaus. 1944 meldete sich Holtz wieder zurück, jetzt Abt.ltr. der neu eingerichteten „Zweigstelle Birnbaum“ des Reichsinstitut in Birnbaum/Warthegau (Aufgaben „von höchster Dringlichkeit“, „unter stärkster Unterstützung des Reichsministers für Rüstung und Kriegsproduktion“, Ausbau und Transport durch die Waffen-SS). – Kröning kehrte nach Göttingen als Direktor am Institut für Jagdkunde und Naturschutz zurück. Zum Bedauern der dortigen medizinischen Fakultät blieben die verbliebenen Versuchstiere in Berlin bzw. in Posen, wo das gesamte Institut durch einen Bombenangriff vernichtet wurde. 1949 wechselte K. zwangsweise in den Ruhestand. (Vgl. DFG Förderakten Hinsberg, F. Holtz, F. Kröning; UAG, Rek., PA F. Kröning; AMPG, Abt. III., Rep. 58, Nr. 7, NL K. Henke.) 250 24.7.1936, Borst an Dr. Breuer (BA Ko, R 73, 12388) 162 ist“.251 Es müsse das vorrangige Ziel sein, „auf erblicher Grundlage krebsgefährdete Menschen zu finden, als solche, bei denen ein (kleiner) Tumor bereits manifest ist“. Der Erbgang von Tumoren verschiedener Lokalisation und die Wirkung carcinogener Stoffe und Materialien (Kohlenwasserstoffe, Mineralöle, radioaktive Substanzen) seien die zukünftigen Aufgaben der Vererbungsforschung. Die Voraussetzung aber für jede experimentelle Krebsarbeit seien, so die Botschaft Krönings, genetische Tierzuchten und ein homogenes, erbreines Versuchsmaterial. Dieser Bericht Krönings macht schlaglichtartig deutlich, dass die Göttinger Tierzuchten sich vom Instrument zur Unterstützung der medizinischen Forschung zu einem Instrument der medizingenetischen oder erbpathologischen Forschung gewandelt hatten. Kröning, der schon früh der Mutationstheorie der Krebsentstehung von Karl Heinrich Bauer anhing und damit die Krebskrankheiten als genetisches Problem verstand,252 stellte die Göttinger Zuchten konsequent in den Dienst einer Vererbungsforschung des Krebses. Damit war die „erbliche Konstitution“, die zunächst die Gestaltbarkeit des Zuchtmaterials für die Formung von medizinischen Werkzeugen charakterisiert hatte, zum eigentlichen Forschungsinteresse geworden. Die Göttinger Säugetiergenetik, die 1928 weder in mendelgenetischer noch in entwicklungsphysiologischer Hinsicht vorankam, gelangte über die Aufgaben in den Gemeinschaftsarbeiten mit den Medizinern in ein neues Fahrwasser. Krönings Thema war jetzt die Erbpathologie. 251 Hier und nachfolgend: 22.11.1937, Kröning an Dr. Breuer (BA Ko, R 73, 12388) Karl Heinrich Bauer, Chirurgische Klinik d. Univ. Breslau. 1928 veröffentlichte er seine Theorie von der Entstehung der Geschwulst durch eine somatische Mutation („Mutationstheorie der Geschwulst-Entstehung. Übergang von Körperzellen in Geschwulstzellen durch Gen-Änderung“). Er stand mit dieser Position in Opposition zur medizinischen Krebsforschung, die den Krebs als eine Erkrankung des Gesamtorganismus interpretierte (Kolle). Sprechend für diese Haltung dürfte folgende Stellungnahme sein: „B. frönt noch immer fantasievoll dem von im zwar nicht bewiesenen, sondern nur angenommen, inzwischen eindeutig widerlegten Aberglauben, dass unbekannt und unbeherrschbar irgendeinmal und irgendwie aus der Normalzelle die Krebszelle durch Metastasen entsteht. Diese aus Überschätzung der theoretischen Erbforschung durch Bauer [erwachsene Ansicht] ist widerlegt [...]. Der Krebs ist eine Allgemeinerkrankung des Körpers [...]“ (19.2.1935, G. Klein an DFG). – Zusammen mit dem Tierzuchtinstitut in Breslau führte B. ab 1935 Tumorresistenzexperimente an Kaninchen durch (vgl. BA Ko, R 73, 10179). 252 163 4 Innovative Kooperation: Die Versuchstierzucht als Knotenpunkt biomedizinischer Forschung am Ende der Weimarer Republik oder Versuchstiere zwischen Instrument und Modell „Die Röntgenröhre ist für den Genetiker gleichsam zum Zauberstab geworden, mit Hilfe 1 dessen er sich neue bisher noch nicht beobachtete Lebensformen hervorzaubern kann.“ Nachdem bislang vor allem die Rückwirkung der Versuchstierzucht auf die medizinische Forschung im Blickfeld stand, geht es jetzt um die Rolle der Versuchstierzucht in Bezug auf Kühns Zoologischen Institut. Wie im letzten Abschnitt schon gesehen werden konnte, machte ihre Dienstleistungsfunktion für die medizinische Forschung ein erbpathologisches Forschungsinteresse an der Göttinger Säugetiergenetik möglich. Dies traf übrigens auch auf Baurs Institut zu, an dem – ebenfalls wohl zusammen mit Frankfurt – Zuchtversuche zur Immunität gegen Infektionskrankheiten geplant worden waren.2 Darüber hinaus eignete sich die Gesamtorganisation der Versuchstierzucht in geradezu idealer Weise dazu, andere genetische Experimentalsysteme zu unterstützen. Es verblüfft auf den ersten Blick, wie die Versuchstierzucht und Kühns Zoologisches Institut Ende der zwanziger Jahre zusammenpassten. Wie die Struktur der Versuchstierzucht Kühns Forschungsambitionen ergänzte, ist das Thema dieses Kapitels. 4.1 Standard, Technik, Differenz Zur kooperativen Organisation der Forschung in den so genannten Gemeinschaftsarbeiten der Notgemeinschaft passte, dass in enger Absprache zwischen Medizinern und Genetikern eine zentrale Koordination der Züchtungsarbeiten gewährleistet werden sollte. Wenn auch weiterhin dezentral geforscht wurde, so sollten sich die Wissenschaftler jedoch in freier Koordination auf gleiche Ziele verständigen.3 Diese Verständigung fand in den vereinheitlichten Versuchstierstämmen geradezu ihren materialisierten Ausdruck. In Kühns Worten: „Ich bin nach wie vor der Ansicht, dass die experimentellen Gemeinschaftsarbeiten am sinnvollsten an verschiedenen Stellen in enger Fühlung zwischen den Arbeitenden durchgeführt werden, dass aber die genetisch kontrollierte Züchtung der Versuchstierstämme zweckmäßig einheitlich geschieht.“4 Die zentrale Koordinierung erlaubte es, die Versuchstierzucht als Zwischenglied zwischen verschiedenen medizinisch-biologischen Sachkommissionen innerhalb der Notgemeinschaft fungieren zu lassen. Während für Schmidt-Ott die effektive „Massenaufzucht” von Versuchstieren vor allem ein Beitrag zur wirkungsmaximierenden und „zweckentsprechenden 1 Hertwig 1933a: 1401 Vgl. 16.8.28, Baur an PML (GStAP, I. HA, Rep. 87B, 20283: Bl. 166). Diese Experimente an Kaninchen und Mäusen konnten nicht mehr begonnen werden. 3 Zum Programm der Gemeinschaftsarbeiten der Notgemeinschaft, siehe 4.1.3. 4 18.6.1935, Kühn an Deutsche Forschungsgemeinschaft (BA Ko, R 73, 12475: Seite 5 v. 6) 2 164 Zusammenfassung” der Forschung „ohne Rücksicht” auf Fachgrenzen war,5 entfaltete dieses Zwischenglied über seine rein instrumentelle Funktion hinaus – und neben einer ungeplanten Kostenflut – eine gestaltende Wirkung. Es vermittelte zum Beispiel die Anbindung Kühns Institut an die eugenische Debatte über die Gefahren, die von Röntgenstrahlen ausgingen. Kühn ging es allerdings weniger um die eugenische Thematik als um die Produktivität seines Experimentalkomplexes. Die These in diesem Abschnitt ist, dass die Versuchstierzuchten selber zur Generierung von Fragestellungen beitrugen. Fragestellung und Experimentalsystem zeigen sich eng miteinander verknüpft. Um dies zu verstehen, muss auf die Situation der Genetik Anfang der dreißiger Jahre eingegangen werden. Zudem muss verstanden werden, welche zwei konträren, aber dennoch einander voraussetzenden Funktionen von Experimentalsystemen sich in der Versuchstierzucht widerspiegeln: die Standardisierung von Versuchstieren und die Erzeugung von Differenz. Die Rolle von Versuchstierzuchten für die experimentelle Praxis soll deshalb zunächst aus einer epistemologischen Perspektive beschrieben werden, um diese grundsätzliche Unterscheidung vorzustellen. 4.1.1 Versuchstiere als Instrument Verschiedene Autoren haben die Standardisierung experimenteller Systeme anhand der systematischen Zucht von Versuchstieren und der Verbreitung ganz bestimmter Versuchstierstämme in einem Forschungsfeld untersucht. Als ein besonders gut untersuchtes Beispiel kann das Jackson Memorial Laboratory („Jax“) in Bar Harbor gelten.6 Der Genetiker Clarence C. Little gründete 1929 unter industrieller Patronage das Jax. Die reingezüchteten Mäusestämme wurden schon bald in großem Umfang an andere Forschungsinstitutionen verkauft.7 Die Tiere aus dem Jax fanden in den dreißiger Jahren zunehmend Verbreitung in den Laboren und setzten sich in der Krebsforschung als Standardversuchstiere durch, das heißt, jeder, der in die Krebsforschung einsteigen wollte, ‚musste’ mit den speziellen Zuchtstämmen aus dem Jax arbeiten.8 Die Standardisierung der Versuchstiere zeigt sich von wesentlicher Bedeutung bei der Vermittlung lokaler Experimentalpraktiken und der Herstellung robuster experimenteller Traditionen in der Wissenschaft.9 Hierin liegt die epistemologische Bedeutung des Standardisierungsprozesses. Die Standardisierung von Versuchstieren erhöht die Vergleichsmöglichkeit von Repräsentationen zwischen verschiedenen Laboren. Kühn achtete peinlich darauf, dass die eingespielten Techniken und Methoden seiner Zuchtanlage im Plauerhof kopiert wurden. Baur hatte das feine Gespür für die Rolle lokaler Techniken, die nicht aus 5 Schmidt-Ott 1928b: 5; 25.6.1931, Schmidt-Ott an Hahn u.a. (BA Ko, R 73, 159) Umfassend behandelt die Dissertation von Karen A. Rader die Entstehungsgeschichte des Jackson Memorial Laboratory und seine Entwicklung von einer Forschungsinstitution zu dem Produktionsort für Mäuse in der Krebsforschung (vgl. Rader 1995). 7 Vgl. Rader 1995: Kap. 3. 8 Vgl. Fujimura 1996a: 14. 9 Vgl. Fujimura 1999: 77. – Zu der Frage, wie Kohärenz oder Einheit in der Wissenschaft entsteht, wenn die ‚Natur’ als Bezugspunkt wegfällt und Repräsentation an die (lokalen) Wissenschaftspraxen gebunden verstanden wird, vgl. Lynch & Woolgar 1990; Keating et al. 1992: 313; Fujimura 1992: 168-70; Hacking 1992: 29-31; Star & Griesemer 1999: 506. 6 165 irgendwelchen Lehrbüchern abrufbar waren, sodass Nachtsheim auf sein Geheiß nach Passau fahren musste, um die Verhältnisse der Blindheimer Angorakaninchen-Zuchtanlage genau zu studieren, welche Kolle, der bislang von dort seine Versuchstiere bezogen hatte, Baur empfohlen hatte.10 Das Programm zur Herstellung von Tierreinzuchten war in die Bewegung der Experimentalisierung und Verwissenschaftlichung der medizinischen Forschung eingebunden.11 Geplante Zuchten nach standardisierten Techniken und Arbeitsabläufen hatten ihr Äquivalent in der Standardisierung der Werkzeuge und Protokolle im Labor. Das Versuchsobjekt – das „Tiermaterial” – musste methodisch durchdrungen sein. Der Kontingenz der lustvollen Vermehrung im Kleinzuchtstall entrissen, wurden die Versuchstiere so zu einem starren Instrument gewandelt und behandelt, wie jedes andere Instrument im Labor. Diese Erstarrung war nicht das Einfrieren eines Status quo, sondern, wie die Praxis der Gemeinschaftsarbeiten zeigte, eine Gestaltungsarbeit. Als „Material“ wurden das Versuchstier wie jedes andere Material im Labor zu einem plastischen Gegenstand, der den Laboransprüchen und den Forschungsinteressen entsprechend zu formen war. „These ‚standardized’ animals were used to construct representations that were comparable between laboratories. They were used to reconstruct laboratory work practices and representations were assumed to be homogeneous across laboratories and through time.”12 Die gestaltete Stabilisierung eines Inzuchtstamms mit bestimmten konstitutionellen Merkmalen erlaubt es also, Ort und Zeit zu überbrücken. Die Versuchstiere gerieten, so könnte man sagen, in ein Disziplinierungsregime. Und nicht nur der Versuchstierorganismus musste in einer bestimmten scientific community zum Zirkulieren gebracht werden, sondern mit ihm zusammenhängend die lokale Experimentalpraxis und die entsprechenden Probleme, die behandelt werden sollten. „The resulting animals were not simply experimental animals but instead standardized experimental systems.“13 Die Einheit der Analyse ist somit ein ganzes „experimentelles Modellsystem“.14 Die Verbreitung eines solchen Systems erfordert die wechselseitige Feinabstimmung der lokalen Experimentalsysteme – und die Glaubwürdigkeit einzelner Akteure innerhalb der Forschergemeinschaft.15 Insofern sind die standardisierten Versuchstiere nicht neutrale Objekte, über die sich im Experiment die Natur offen legt. Aus dem Umstand des wechselseitigen Abstimmungsprozesses innerhalb der Wissenschaftsgemeinschaft und dem allmählichen Zusammenfügen der einzelnen Elemente eines Experimentalsystems zu einer funktionierenden und akzeptierten „Technologie“, die als wissenschaftliches Werkzeug eingesetzt werden kann, folgert Fujimura über den epistemologischen Status der Ver10 Vgl. 19.5.1922, Baur an PML (GStA, I. HA, Rep. 87B, 20281: Bl. 218). Vgl. 3.2.2. Es heißt bspw. in der Notgemeinschaft im Rahmen der Strahlenforschung, dass den Röntgenärzten das notwendige physikalische Wissen beigebracht werde muss, damit sie ordentliche Fragen stellen und Untersuchungen durchführen können. – Gaudillière bringt die instrumentelle Spezialisierung in der Versuchstierzucht ebenfalls mit den neuen Herausforderungen in der biomedizinischen Forschung zusammen (vgl. Gaudillière 2001b : 189). 12 Fujimura 1996b: 12 13 Fujimura 1996b: 12 14 Amann 1994: 263 15 Vgl. Gaudillière 1999: 100; vgl. auch Fujimura 1996b: 14; Rader 1999: 338. 11 166 suchstiere in der Krebsforschung: „They were cyborgs, artifacts created under artificial conditions according to a formula that combined a commitment to rational scientific principles with a particular conception of cancer as a genetically caused transmitted diseases.“16 Zu erwarten ist also, dass der Trend zur Standardisierung von Versuchstieren ein allgemeines Phänomen biomedizinischer Forschung ist.17 Es ist deshalb auch nicht überraschend, dass die Anforderungen an die Intersubjektivität der situativen Praxis Vergleiche mit der etwa zeitgleich sich vollziehenden Industriestandardisierung nahe legten.18 Der Direktor des Wistar Instituts in Pennsylvania, das durch seine Rattenzüchtungen bekannt wurde, initiierte bereits 1908 den planmäßigen Ausbau der Tierkolonien des Instituts mit der Begründung, dass die Hinwendung der anatomischen Forschung zu „living anatomical structures” eine erhöhte mathematische Akkuratheit der Experimente und damit zahlreiche in ihren Eigenschaften bekannte Versuchstiere erfordere.19 Milton J. Greenman bezog sich in der technischen Umsetzung auf die Standardisierungskonzeption des United States Bureau of Standards, das Standards für die Industrie und das Eisenbahnsystem entwickelte, um Austauschbarkeit von Bauteilen, Massenproduktion und die Wirtschaftlichkeit zu steigern. 1905 wurden Standards auch für chemische Analysen – die Reinheit der Reagenzien und die Analysemethoden – eingeführt. Greenman bezog sich zudem auf Frederick W. Taylors „Shop Management“, das Gründungsmanifest tayloristischer Industrieproduktion. Zur Neuorganisation des Betriebsablaufes hieß es dort, dass „many of the elements that are know believed to be outside the field of exact knowledge will soon be standardized, tabulated, accepted and used [...T]he adoption and maintenance of standard tools, fixtures, and appliances down to the smallest item throughout the works and office, as well as the adoption of standard methods of doing all operations which are repeated, is a matter of importance [...]”.20 Wie standardisierte chemische Reagenzien sollten die Versuchstiere nach Greenmans Vorstellung produziert werden.21 In der Funktion standardisierter Reagenzien waren die Versuchstiere also Instrumente. Das Versuchstier wurde zum Teil des experimentellen Umfelds und Arrangements, das helfen sollte, auf den Gegenstand des Experiments zu fo16 Fujimura 1996b: 12 – Nach Amann werden im Labor die biologischen Gegenstände, also die Versuchstiere, im Prozess einer instrumentell-technischen Rekonfigurationen zu „Technofakten“ (vgl. Amann 1994: 270-71). 17 Vgl. Löwy & Gaudillière 1998: 209. 18 Vgl. auch Amann 1994: 267. 19 Clause 1993: 337 20 Taylor zit. in Clause 1993: 342 (341-42) 21 Vgl. Clause 1993: 345-48 (Zum Vergleich mit chemischen Reagenzien, siehe auch Löwy & Gaudillière 1998: 209). – Im Forschungsbetrieb des Wistar Instituts verschränkte sich – ähnlich zum Göttinger Beispiel – genetische und medizinische Forschung: Die Zoologin Helen Dean King begann 1909 mit Experimenten über die Wirkung der Inzucht und nutzte somit die einmaligen Möglichkeiten der Massenzucht (hier und nachfogend, vgl. ebd.Clause 1993: 338-39). Zugleich produzierte sie damit Tiere, die in den physiologischen Versuchen ihres Kollegen, dem Neurologen Henry Donaldson, Verwendung fanden. In diesen Versuchen mit Kings AlbinoRattenstamm verknüpfte Donaldson wiederum neurologische Parameter, wie Hirngewicht, und die Pigmentphysiologie (Albinismus) mit der Frage nach der Erblichkeit solcher Merkmale und der, ob auf Grund dieses Wissens für die Vermarktung günstigere Stämme durch selektive Inzucht züchtbar sind. 167 kussieren. Das arrangierte Versuchstier entspricht der Black Box Latours: Es funktioniert als komplexes Instrument, dessen Ursprung aber mehr und mehr in Vergessenheit gerät.22 Die Auslagerung und Routinisierung von komplexen Arbeitsabläufen in der Versuchstierzuchtanstalt einerseits sowie die Produktion im großen Maßstabe andererseits ähnelt selbst einer industriellen Produktion. Erwin Baur zog in der Art des Wissenschaftsmanagers einen solchen Vergleich und sah die ausgedehnten Versuchstierzuchten als Teil einer „fabrikmäßigen” Forschung.23 4.1.2 Versuchstiere als Modell Es liegt nun nahe, anzunehmen, dass diese Nähe von Wissenschaft und Technik Ausdruck davon ist, dass beides eigentlich nicht von einander zu unterscheiden ist, dass nicht nur die Instrumente, sondern auch die Gegenstände und Objekte der Wissenschaft, aus denen jene Instrumente als Black Boxes oft hervorgehen, von den technischen Objekten, also ausgemachten Artefakten, nicht wirklich verschieden sind und dass letztlich wissenschaftliche und technische Produktion im strengen Sinne miteinander identifiziert werden können.24 Eine fabrikmäßige Forschung würde sich durch rationalisierte und standardisierte Arbeitsabläufe in einer eigens dazu aufgebauten Umgebung auszeichnen, die eine möglichst normierte oder standardisierte Form der Produkte gewährleistete. Doch scheint der Vergleich eine Grenzen zu haben, denn die Gleichförmigkeit von Produkten der industriellen Produktion und von denen des Labors ist unterschiedlich zu bewerten. Während in der Industrieproduktion die Gleichförmigkeit das unbedingte Ziel ist und Anomalien am Produkt aussortiert werden, kommt den Anomalien der wissenschaftlichen Praxis eine wesentlich andere Rolle zu. Auch in der Wissenschaft ist die Gleichförmigkeit als Reproduktionsfähigkeit eine wesentliche Voraussetzung ihres Funktionierens, und auch dort werden experimentelle Anomalien ‚aussortiert’. In diesem Sinne wurde die Reproduktions- und Zirkulationsfähigkeit bislang herausgehoben. Die Versuchstiere produzierten aber als lebendiges ‚experimentelles System’ selbst – ‚aus sich heraus’ – Veränderungen.25 Dieses Eigenleben der Versuchstiere bringt es mit sich, dass das experimentelle Arrangement unvorhergesehene Wendungen nehmen kann. Versuchstiere können gar nicht in der Weise festgelegt werden, dass sie eine „Technologie“ in dem Sinne darstellen, dass sie sich selbstidentisch und geplant verhalten. Das Instrumentelle des Versuchstiers droht dann jederzeit selbst wieder zum Ge- 22 Vgl. Latour 1987: 81-82 (91-92). Dies ist äquivalent zum „technical object“ bei Rheinberger 1997: 29. 23 Vgl. 5.1.1928, Baur an RMEuL (BA B, alt R 168, 14). 24 Vgl. Latour 1987: 131 u. 253. – Fujimura sieht am Beispiel der Standardisierung von Versuchstieren die Grenze zwischen Wissenschaft und Technologie weggewischt, – in dem Sinne, dass die ‚Natur’ der Versuchsobjekte ebenso künstlich ist, wie technische Produkte künstlich sind. Den technischen Charakter der Versuchstiere sieht sie in der Ähnlichkeit der Produktionsform. (Vgl. Fujimura 1996b: 13.) 25 Zu diesen Schwierigkeiten, vgl. auch Clause 1993: 348. 168 genstand und Modell zu werden. Die Black Box kehrt wieder in den Fokus des Labors zurückkehrt, wird neu befragt und umgemodelt.26 Die Möglichkeit zum Rollenwechsel hatten aber nicht nur die Versuchstiere. Es handelt sich vielmehr um eine allgemeine Eigenschaft von Dingen in der experimentellen Konfiguration. Die Grenze zwischen dem epistemischen Gegenstand des Experimentalsystems und seinen technischen Bedingungen ist nicht absolut. Sie kann nie konkret und abgeschlossen im Experiment benannt werden, da der Gegenstand des Experiments zugleich das Befragte ist. Die Trennung von experimentellem Umfeld und Gegenstand erfolgt im Funktionieren des Experiments oder aus der Sicht des Experimentators ex post in der Auswertung und Interpretation der Daten. Die Art und Weise, wie das Experiment eingerichtet ist, und wie es in dem Moment des Versuchs funktioniert, bestimmt, wo die Trennung zwischen dem Umfeld und dem herausgelösten/herauszulösenden Gegenstand des Versuchs liegt. „The difference between experimental conditions and epistemic things, therefore, is functional rather than structural.”27 Eine ähnliche Rückholbarkeit ist auch in der industriellen Produktion möglich. Die Anomalie im Produktionsprozess kann der Ausgangspunkt von Innovation sein, indem die Teile der Produktion, neuen Fragen folgend, neu konfiguriert werden. In der Versuchstierzucht in Göttingen allerdings, so wird zu sehen sein, wurde die Rückholbarkeit der Instrumente als Gegenstände der Forschung Teil ihrer Aufgabe. Die Möglichkeit des Rollentauschs war eingeplant und wurde gefördert. Nimmt man wiederum an, dass die Möglichkeit unerwarteter Ereignisse und der aus ihnen resultierenden Neukonfigurationen ebenfalls allgemeine Eigenschaften experimenteller Systeme und zweckhaft mit ihnen verbunden sind, so stände das der Gleichsetzung von technischer und experimenteller Produktion entgegen. In diesem Sinne ist Rheinbergers Analyse der experimentellen Praxis zu verstehen, nach der der Experimentator an der Produktion von Differenzen interessiert ist und nicht an Identität und ein experimentelles System geglückt ist, wenn es unerwartete Ereignisse möglich macht.28 Aus dieser Perspektive, in der Wissenschaft wesentlich als eine Einrichtung zu verstehen ist, die durch den Begriff der Differenz zusammengehalten wird, ist die technische Produktion von Produktenidentität grundsätzlich von ihr verschieden. Der Blick ist damit von der Standardisierung der Versuchstiere und ihrer Faktizität auf einen Bereich gefallen, in dem noch keine Fakten sind. Mit der Standardisierung ist die Vermittlung verschiedener lokal situierter experimenteller Praktiken angesprochen worden; der Prozess, in dem sich eine spezielle lokale Praktik herausbildet, wurde dabei vorausgesetzt. Wenn es um die Herstellung einer Black Box geht, dann unter der Voraussetzung der vorhergehenden differenziellen Ereignisse.29 Bevor ein experimentelles Arrangement mit anderen Laboren ausgetauscht werden kann, müssen seine Bestandteile erst zu einander 26 Amsterdamska hat eindrucksvoll am Beispiel der experimentellen Epidemiologie in den USA gezeigt, wie die genetische Eigenart der Versuchstiere zugleich Thema war und benutzt wurde, um die Experimente systematischer zu gestalten (vgl. Amsterdamska 2001: 159). Der Sinn des Ummodelns kann sein, „experimental noise“ unter Kontrolle zu bekommen (vgl. Geison & Laubichler 2001: 8). 27 Rheinberger 1997: 30 28 Vgl. Rheinberger 1997: 79 u. 134. 169 passen. Die experimentellen Werkzeuge sind nicht schon fertig, bevor sie in einem Experiment Verwendung finden. Die Passendheit des Werkzeugs, hier: eines Versuchstierstamms, wird in der „Ko-Konstruktion“ zwischen den Ansprüchen oder der Aufgabe, den es erfüllen muss, und seinen Möglichkeiten im Verlauf der Entwicklung eines gelungenen experimentellen Arrangements erst hergestellt.30 Die Versuchstiere werden im Vorfeld eines Versuches schon aktiv gestaltet. Diese interaktionistische und konstruktivistische Beschreibung betont zwar mit der Plastizität experimenteller Systeme im Prozess der Standardisierung eine wesentliche Charakteristik der experimentellen Praxis. Konstruktion und Kreation beinhalten aber die Vorstellung eines planmäßigen, intendierten oder doch zumindest rational rekonstruierbaren Prozesses, dem ein Zweck oder die Regelhaftigkeit eines Systems zugrunde liegt. Der Eindruck ist darüber hinaus, dass die Materialität der Objekte im Experiment keine Rolle spielt. Demgegenüber möchte ich erneut auf die Widerständigkeit des Materials oder hier: das Eigenleben der Versuchstiere hindeuten. Während in der Literatur, die sich mit größer angelegten und organisierten Versuchstierzuchtanlagen in den USA beschäftigt, ihre Funktion innerhalb der Standardisierung experimenteller Systeme herausgearbeitet wurde, lenkt das Göttinger Beispiel den Blick auf einen entgegen gesetzten Aspekt. Die Göttinger Versuchstierzucht blieb sicher zu klein, um die Standardisierung eines ganzen Forschungsfelds materiell unterstützen zu können. Umso mehr möchte ich am Beispiel der Göttinger Versuchstierzucht eine andere wesentliche Funktion solcher ‚Materialien’ innerhalb experimenteller Systeme ablesen. Die standardisierungswiderständige Eigenschaft der Zuchttiere, sich nicht identisch zu reproduzieren, machte die Versuchstierzucht über die Herstellung von Werkzeugen – als Bedingung der Möglichkeit bestimmter Experimente – hinaus für Kontexte interessant, in denen nach Fragen gesucht wurde, um ein Experiment überhaupt erst zu entwerfen. Für Kühn bestand der Wert der Zuchtanlage darin, Differenz zu produzieren und nicht Gleichförmigkeit. Standardisierung oder Reproduzierbarkeit und Erzeugung von Differenz sind beides Ziele innerhalb der wissenschaftlichen Produktion. Instrumentalität und Modellhaftigkeit changieren mit der Einspannung des Versuchstiers in ein Experimentalsystem. Gleichförmigkeit und Variation können im selben Experimentalsystem miteinander verknüpft sein. Sie bilden ein dialektisches Paar in der Produktion wissenschaftlichen Wissens.31 Kühn brauchte keine standardisierten Versuchstiere, sondern Varianten, da er erst am Anfang stand, ein lokales Experimentalsystem für entwicklungsgenetische Fragen zu entwerfen. Es konnte noch gar nicht darum gehen, durch den Transfer bestimmter Tierstämme ein lokales System zu ‚internationalisieren’. So waren die organismischen Variationen von entscheidender Bedeutung für die Umgestaltungen des Göttinger Mehlmotten-Experimentalsystems, das Kühn und seine Mitarbeiter in die gene- 29 Vgl. Rheinberger 1997: 30. Vgl. Clarke & Fujimura 1992: 7. 31 Vgl. Geison & Laubichler 2001: 25. – Gaudillière stellt für das Jackson Laboratory fest, dass Produktion und Forschung nie weit von einander entfernt waren und zeigt den Übergang an einem Beispiel (vgl. Gaudillière 2001b : 190 (190-92)). 30 170 tische Entwicklungsgenetik hineinführte.32 Das so genannte experimentelle Rauschen, das es in anderen experimentellen Kontexten durch Reinzucht und Standardisierung zu eliminieren galt, wurde hier das Interessante. Auch die Göttinger Versuchstierzucht stellte in diesem Sinn einen ‚Variantengenerator’ dar, der versprach, das Unerwartete hervorzubringen und Fragen aufzuwerfen. Statt mit reinen und stabilen Versuchstierstämmen Identität zu produzieren, reproduzierte sie die Tiere in Differenz. Dies wird genauer nachzuvollziehen sein. 4.1.3 Die „Gemeinschaftsarbeiten“ der Notgemeinschaft (Exkurs) Die Bemühungen der Notgemeinschaft um die Zucht von Versuchstieren und die Koordinierung experimenteller Arbeiten hing eng miteinander zusammen und führen noch einmal zurück zum Thema der Standardisierung. Das Projekt der Zuchtanstalten war die materielle Entsprechung der Idee der „Gemeinschaftsarbeiten”. Mit den Gemeinschaftsarbeiten hatte die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft Mitte der zwanziger Jahre eine neue zentralisierte Organisationsform für die Verknüpfung von forschungspolitischen Vorgaben, der Planung von einzelnen Forschungsprogrammen und den ausführenden Forschungsstellen etabliert. Austauschbare – standardisierte – Versuchstiere waren in gewisser Weise die Voraussetzung für die Forschung unter solchen Bedingungen.33 Zuerst aber zur Umstrukturierung der Forschungsförderung der Notgemeinschaft. Die Anregung dazu war von dem Chemiker und deutschen Nobelpreisträger Fritz Haber ausgegangen, und wurde vom Präsidenten der Notgemeinschaft, Friedrich Schmidt-Ott, sogleich aufgegriffen.34 Modell stand Habers angewandte Forschung im Weltkrieg. Mit der Schaffung von Sonderforschungs32 Vgl. Geison & Laubichler 2001: 19. So erinnert der Göttinger Zoologe F. Kröning an Sinn und Zweck das VersuchstierzuchtProjekt von 1929 und führt aus, wie grundlegend für ein gemeinschaftliches Krebsforschungsprogramm tierische Krebsstämme seien. Vorraussetzung für jede experimentelle Arbeit sei ein „homogenes, erbreines Versuchsmaterial”. Im Rahmen der Versuchstierzüchtung der DFG waren bereits Mäusestämme mit Mammatumoren und dazugehörige Kontrollstämme gezüchtet worden. Weitere Aufgabe der normierenden Labortierzucht war es, Stämme mit klar abgegrenzten Krankheitsentitäten zu züchten, die zur Nosologie in der Humanmedizin passten: Mäuse-, Meerschweinchen und Kaninchenstämme mit spontanen Lungentumoren, Sarkomstämme und Mäuse mit Tumoren anderer Lokalisation. (Vgl. Kröning: Tierische Krebsstämme als Grundlage experimenteller Krebsforschung, Anlage in: 22.11.1937, Kröning an Dr. Breuer, DFG, in: BA Ko, R 73, 12388.) 34 Vgl. Hammerstein 1999: 39-47. – Planungen der Notgemeinschaft für neue Formen der Wissenschaftsförderung waren bereits kurz nach ihrer Gründung ins Gespräch gekommen (hier und nachfolgend, vgl. Anonymus 1928b: 7; Kirchhoff 1999: 81). Seit 1924 wurden sie „in einer großen Reihe von Besprechungen mit den namhaftesten Männern aus der Wissenschaft und Wirtschaft” vorangetrieben. Vom Reichstag wurden im Frühjahr 1926 die ersten drei Mill. RM für einen Sonderfonds bewilligt, mit dem die Notgemeinschaft zielorientierte Gemeinschaftsarbeiten (im Bereich der „nationalen Wirtschaft, der Volksgesundheit und des Volkswohles“) finanzieren sollte. Koordination durch führende Wissenschaftler, zentrale Planung lokaler Forschungstätigkeiten und strikte Zweckausrichtung waren die Merkmale der Gemeinschaftsarbeiten. Die Gebiete der Metallforschung, Strömungsforschung, theoretischen und praktischen Medizin, Eiweißkonstitution und des Eiweißstoffwechsels, der angewandte Entomologie, Ernährungsphysiologie der Pflanzen, der Elektrotechnik und der Strahlenkunde waren die ersten Schwerpunktbereiche. – Im Mai 1925 beantragte Schmidt-Ott weitere fünf Mill. RM, die bewilligt wurden. Diese Reichszuschüsse stiegen jährlich, fielen aber ab 1929 bedingt durch die Weltwirtschaftskrise wieder ab. 33 171 programmen – den „Gemeinschaftsarbeiten“ – bestimmte die Notgemeinschaft ihre Aufgaben neu, indem sie sich für eine aktive Förderpolitik in der Forschung entschied.35 Haber, zugleich Vizepräsident der Notgemeinschaft, begründete diesen Schritt mit der Kritik an der Politik des Kultusministeriums. „Glaubt ernsthaft jemand, dass es für das wirtschaftliche Wohlergehen unseres Volkes mehr auf die Kirche und die Schule als auf die Wissenschaft ankommt, oder ist das wirtschaftliche Wohlergehen in diesen unseren Tagen nicht wichtig genug, um dem, was Quelle und Ursprung ist, nämlich der Wissenschaft, ebenso materielle Fürsorge zuzuführen als Kirche und Schule?”36 Forschung versprach gesellschaftlichen Nutzen, indem sie „der Nationalen Wirtschaft, der Volksgesundheit und dem Volkswohl” diente.37 Es kam nun darauf an, dies auch der Öffentlichkeit zu vermitteln. So, wie Haber im Verlauf des Ersten Weltkriegs mit Stickstoffdünger – und Kampfgasen – den Krieg nähren half, so sollte die Forschung auch jetzt im ökonomisch angeschlagenen Deutschland neue Entwicklungsmöglichkeiten gewinnen, „um die für ein erfolgreiches Weiterleben des deutschen Volkes unentbehrliche Volkskraft in höherem Maße als bisher zu befähigen, am Wettbewerb auf dem Weltmarkt teilzunehmen”38. Ein wesentlicher Aspekt der neuen Bemühungen der Notgemeinschaft war es, „durch zweckentsprechende Zusammenfassung“ der Mittel eine „möglichst große Wirkung zu entfalten”.39 Die „besten Forscher” sollten nach einem gemeinsamen Plan wichtige Probleme angehen, welche „nicht durch die bestehenden wissenschaftlichen Einzelanstalten als solche gelöst werden” konnten. Auf diese Weise sollten gemeinsame Ziele „gegenüber der immer weitergehenden Spezialisierung“ der Forschung betont werden. Wohlgemerkt, sollte die Betonung der übergreifenden Forschungslenkung und die Zusammenfassung spezialisierter Forschungsbereiche die gewohnte Einzelförderung im deutschen Wissenschaftssystem nicht aushebeln.40 Die Notgemeinschaft werde, so beschwichtigte Schmidt-Ott diesbezügliche Befürchtungen, bei aller Verantwortung gegenüber der Gesellschaft die Freiheit behalten, Forscher und Institute selbst auszuwählen, um „wissenschaftlich grundlegende Fragen” anzugehen, 35 Vgl. Kirchhoff 1999: 76-77. Haber 1928: 23 37 Anonymus 1928b 38 Anonymus 1928b: 1-2 – Bei den Abgeordneten des Reichstages und den Reichsbehörden musste einige Überzeugungsarbeit geleistet werden, um den angestrebten Sonderfonds für das Projekt zu erhalten (vgl. Hammerstein 1999: 73). War zunächst nur an technische Bereiche gedacht worden, wurde deshalb bald die Bekämpfung von Volksseuchen, die physiologisch-chemische Grundlagenforschung, die Sporthygiene, die Gebiete der Ernährung und Arbeitsleistung in die Förderpläne der Notgemeinschaft mit einbezogen. – Es ist beachtenswert, dass mit der programmatischen Wende in der Förderpolitik der Notgemeinschaft (Förderung des Volkswohls und Nationalwirtschaft) einher sich gegen Ende der zwanziger Jahre der Schwerpunkt der Förderung immer weiter zur Experimentalforschung hin verschob (vgl. Hammerstein 1999: 64). – Geisteswissenschaften hatten einen Förderanteil von 30 Prozent an der Förderung, Ingenieurwissenschaften zwölf Prozent, Medizin und Naturwissenschaft stellten ganze 50 Prozent. 39 Hier und nachfolgend: Anonymus 1928b: 1 40 Vgl. Hammerstein 1999: 73. – Die zweckgebundene Vereinigung der Forscher einzelner Fächer „ohne Rücksicht” (Schmidt-Ott 1928a) musste bei den deutschen Forscher für Beunruhigung sorgen. So hieß es extra, es solle „niemand gezwungen werden, auf einem ihm fremden Gebiet zu arbeiten“, die Förderung sollte stattdessen die Weiterführung von schon im Gange befindlichen Arbeiten unterstützen (Anonymus 1928a: 85). 36 172 die für den erfolgreichen Fortschritt in der Wirtschaft und in der Volksgesundheit Vorraussetzung sind.41 Zu keiner Zeit – auch nicht später im Nationalsozialismus – wurden die Forscher zur Zusammenarbeit gezwungen.42 Die Konzeption einer zentral geplanten, dezentral durchgeführten, am Volkswohl orientierten, aber nur den wissenschaftlichen Voraussetzungen dienenden Forschung bildete die Struktur der Gemeinschaftsarbeiten. Kühn, der an entscheidender Stelle in zwei Kommissionen mitwirkte, stellte 1934 fest, dass sich genau diese Art der Zusammenarbeit bewährt habe: Koordination der Aufgaben durch die Kommission einerseits und die dezentrale Durchführung der Experimente andererseits.43 Als Vorbild für diese Art der Organisation von Forschungsaufgaben diente der National Research Council der Vereinigten Staaten.44 Zunächst eingerichtet, um die US-Regierung in Fragen der militärischen Forschung zu beraten, begann der Council nach dem Krieg mit der Organisation arbeitsteiliger und themenspezifischer Forschungsarbeiten, an denen zahlreiche Forscher unterschiedlicher Institutionen beteiligt sein konnten. Diese „cooperative research programs“ waren das Modell für Schmidt-Ott Gemeinschaftsarbeiten.45 Aber auch deutsche Wissenschaftler erkannten in der amerikanischen Wissenschaftsförderung ein zeitgemäßes Vorbild. Nachtsheim, der eine umfangreiche Zusammenarbeit mehrerer Institute bei der Züchtung seuchenfester Versuchstierstämme empfahl, machte darauf aufmerksam, dass „diese ‚Cooperation’ mehrerer Institute“ in Amerika eine erfolgreiche und weit verbreitete Methode der Biologie sei.46 In Biologie und Medizin in Deutschland wurde diese Form der Zusammenarbeit genau von jener kleinen Gruppe vorangetrieben, die sowohl in der Gemeinschaftsarbeit zur Versuchstierzucht wie in der zur Strahlengefahr tonangebend war. Für die Planungen des Krebsforschungsprogramms der Deutschen Forschungsgemeinschaft wurden eben jene Zusammenkünfte der Strahlengenetiker unter Kühns Leitung in Göttingen wie auch der Einsatz von Wilhelm Kolle vom Frankfurter Institut für experimentelle Therapie als vorbildlich 41 Schmidt-Ott 1928a: 26 Man war sich darüber einig, dass effektive Zusammenarbeiten nicht erzwungen werden können. Im Zuge der Umorganisation der Krebsforschungsförderung, hoffte man zum Beispiel, dass die Forschung allein ihre Koordination in die Hand nähme und sich zu einer „Art Reichsarbeitsgemeinschaft“ entwickeln würde; denn nur so bliebe es gewährleistet, dass „sich die einschlägige Forschung möglichst ungehindert von papierenen Organisationsmaßnahmen und ähnlichen Beschränkungen in aller Freiheit entwickeln“ würde (18.12.1936, Dr.Br./Kr. [DFG] an Fischer-Wasels, in: BA Ko, R 73, 11025). Die Zentralisierung der Forschungsförderung im Wissenschaftsministerium zur Vereinheitlichung des Vorgehens und Zusammenfassung der verstreuten Forschungsaktivitäten sollte somit nur die Infrastruktur stellen. „Eine zentrale Organisationsstelle wird bei diesen organischen entwickelten Gebilden viel leichter und wirksamer zu handhaben sein, als bei schematisch und gewaltsam um ein oktroyiertes Thema zusammengeschlossene Gruppen“ (o.D. [ca. Ende 1937], Dr. Br/Kr.: [Schrift ohne Titel über die Förderung der Krebsforschung]; vgl. auch 28.1.1939, Völkischer Beobachter: Professor Borst-München über die Krebsbekämpfung in Deutschland, in: BA Ko, R 73, 12388). 43 Vgl. o.D., [Kühn]: „Entwurf Niederschrift über die Sitzung der Notgemeinschafts-Kommission für Gemeinschaftsarbeiten zur Klärung der Fragen auf dem Gebiet der Erbschädigung durch Strahlenwirkung, Anlage in: 26.7.1934, Kühn an Notgemeinschaft (BA Ko, R 73, 12475: Seite 10 v. 12). 44 Vgl. Kirchhoff 1999: 80. 45 Kirchhoff 1999: 85 46 Nachtsheim 1928h: 301 42 173 genannt, „wie Gemeinschaftsarbeiten zustande gebracht werden können“.47 Neben Alfred Kühn propagierte Kolle besonders inbrünstig die Zusammenarbeit über Fachgrenzen hinweg. Um diese Idee voran zu bringen und die deutschen Forscher an sie zu gewöhnen, veranstaltete er im September 1934 die „Wissenschaftliche Woche zu Frankfurt“, ein achttägiges Symposium mit den Schwerpunktthemen Erbbiologie, Carcinom, Bakteriologie, Immunitätslehre und experimentellen Therapie.48 „Noch nirgends“ war es geschehen, hieß es anschließend, dass Biologen aller Arbeitsrichtungen zusammenfanden und im Austausch der Gelehrten aus 20 Ländern die Grenzen zwischen den verschiedenen Sichtweisen schwanden; die biologischen Probleme bekamen durch die gemeinsame Behandlung „ganz neue Überschriften“.49 Kolle betonte, dass die Zusammenarbeit von experimenteller Medizin und Biologie zum Volksnutzen eben nicht ausschließe, dass die Forschung der „Wahrheit“ diene und „an sich voraussetzungslos“ sei. Ihre Aufgabe sei, „die Natur der Krankheiten“ aufzuklären.50 Dem entspräche der Wunsch in der Wissenschaft „nach Gemeinschaftsarbeiten“. „Schon seit Jahrzehnten ist es ja den Vertretern der einzelnen Disziplinen der biologischen Wissenschaften, die sich zusehend vermehrt haben, klar geworden, daß zur Bearbeitung komplizierter Probleme das Zusammenwirken von Forschern verschiedener Disziplinen notwendig ist. Denn je mehr in der Biologie die verfeinerte Methode und Technik der Hilfsmittel zu neuen Erkenntnissen führt, desto schwieriger gestaltet sich die Klärung und geistige Verknüpfung vieler Phänomene und die Möglichkeit eines Fortschrittes, sei es für die Theorie oder die praktische Verwertung."51 Für Kolle stand die Auflösung der Disziplingrenzen im Zusammenhang mit einer Vision der „Erneuerung“ der Naturwissenschaften und der Annäherung an ein umfassendes Bild vom Organismus. Wenn dabei auch Kritik an einer „rein materialistisch-mechanistische Auffassung der Naturvorgänge“ anklang, so lief dies ebenso wenig auf eine idealistisch-vitalistischen Lebensauffassung hinaus wie die unten vorzustellende genetische „Ganzheitsauffassung des Organismus“ Timoféeff-Ressovskys.52 Im Gegenteil: Hier wie dort ging es um eine Synthese der Teilwissenschaften zu einer naturwissenschaftlich begründeten Einheitswissenschaft des Lebendigen. Die „Gemeinschaftsarbeiten“ waren insofern ein technischer bzw. operativer Begriff wissenschaftspolitischer Planung. Seine forschungspraktische Rationalität war ebenso bestechend, wie es unter dem historischen Stand der Wissenschaft notwendig zu sein schien, „die Arbeitsgemeinschaft, die wir zwischen Biologen, Chemikern und Physikern schon haben, auch zwischen Genetikern, Physiologen, Pathologen und Klini47 22.11.1937, Friedrich Kröning an Dr. Breuer, DFG (BA Ko, R 73, 12388) Die Tagung ist dokumentiert in Kolle 1935b. – Es wurden u.a. Möglichkeiten der Kinematographie und Mikrokinematographie besprochen. – Zu den Beiträgen der Genetik, siehe S. 179. 49 Lehmann 1934: 264 50 Kolle referiert in Lehmann 1934: 266. Kolle machte engagiert eine internationalistische Sichtweise der Wissenschaft stark. Die Konferenz sei zum einen „Symbol“ für das „Gemeinschaftsgefühl der Vertreter der Wissenschaft“, zum anderen für die Bedeutung der Wissenschaft im „neuen Europa“ für Technik, Heilkunde, Hygiene und die Verhütung von Seuchen und Krankheiten. Die experimentelle Biologie sei nie lebensfremd gewesen, sondern suche den „Kontakt mit dem Volk, seinen Ansprüchen, Leiden, Krankheiten und Sorgen“. (Vgl. ebd.: 265.) 51 Kolle 1935a: V 48 174 kern durchzuführen. Denn da liegt der Weg, wo wir uns gegenseitig helfen können. Wir sind zu der Überzeugung gekommen, daß es keinen Sinn hat, auf einem Nachbargebiet zu dilettieren, wenn der andere das besser kann, was man zur Lösung eines bestimmten Problems braucht“.53 Die Kooperation mehrerer Forschungsstandorte, die Loslösung eines Experiments also von seiner lokalen Situiertheit, setzte die Stabilisierung der einzelnen, lokalen Arbeitsergebnisse voraus. Die Gleichförmigkeit betraf zunächst das einzelne Labor. Die Initiative zur Verbesserung der Versuchstiere hatte genau das Ziel, die Variabilität der Experimente, die – aus der Sicht des Experimentators – durch zufällige Einflüsse bedingt war, zu reduzieren. In Kapitel 3 wurde dieser Aspekt ausgeführt und seine funktionelle Seite hervorgehoben, der diese Anstrengungen in einer scientific community dienten, nämlich „immutable mobiles“ zu ermöglichen.54 In der kooperativen Forschung erfüllte die Stabilisierung die Aufgabe, die Vergleichbarkeit zwischen Experimenten, die an verschiedenen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten durchgeführt wurden, zu steigern. Denn der Vergleich der eigenen mit Ergebnissen eines anderen Labors deckte nicht selten Diskrepanzen auf, die nicht sein ‚durften’. Unterschiede in Methoden und Technik konnten dafür verantwortlich sein. „Auf diese verschiedenen, quantitativ wechselnden Faktoren sind wohl zum großen Teil die Differenzen zurückzuführen, die bei der Ermittlung des chemotherapeutischen Index von verschiedenen Untersuchern an verschiedenen Orten erhalten sind. Die Schwankungen sind so groß, dass sie weder auf Versuchsfehler noch auf Unterschiede der zur Infektion benutzten Stämme allein zurückgeführt werden können.“55 Entsprechend dem ‚Prinzip des erweiterten Labors’ wurden die Objekte des Versuchs, die Versuchstiere, in diese Rationalität mit einbezogen.56 „Diese Ungleichmässigkeiten und Ungleichartigkeit des Tiermaterials gibt sicher zum Teil die Erklärung dafür ab, warum sehr häufig die Resultate gleichartiger Versuche in einzelnen Instituten so ausserordentlich verschieden sind und zwar sowohl bei Prüfung von Giften, wie namentlich bei allen Versuchen, die mit lebenden Infektionserregern arbeiten.”57 Es verwundert nicht, wenn die Versuchstierzuchtkommission in die Koordination der Gemeinschaftsarbeiten eingebunden war. Kühn bemühte sich im Rahmen der Gemeinschaftsarbeit zur Strahlenschädigung, auf die gleich zu kommen sein wird, Versuchstierzucht und Röntgenforschung zusammenzubringen. Er legte größten Wert darauf, dass die Kommission sich in Göttingen die zentrale Zuchteinrichtung von Meerschweinchen und ihre Arbeitsweise anschaute. Über die Tiere, die als Standards in den Laboren Verwendung finden sollten, musste man sich verständigen.58 Wenn im Forschungsverbund zum Beispiel Brustkrebs studiert werden sollte, mussten sich die Wissenschaftler einigen, welcher Tierstamm als Modell ihres Forschungsgegenstandes und als ‚Stan52 Lehmann 1934: 265 u. zu Timoféeff-Ressovsky, siehe Seite 181. Diskussionsbeitrag Kühns zit. in Timoféeff-Ressovsky 1935b: 117-18 54 Siehe Seite 116 u. 136. 55 Kolle 1928: 148 56 Zum ‚Prinzip des erweiterten Labors, vgl. 3.2.2. 57 28.1.1928, Kolle an Schmidt-Ott (GStAP, I. HA, Rep. 92, C58: Bl. 203-07. Hier: 204) 58 Vgl. 29.12.1933, Kühn an Dr. Stuchtey, Notgemeinschaft (BA Ko, R 73, 159). 53 175 dardobjekt’ gelten konnte.59 Die Verständigung über die Zuchttechniken und Tierstämme war genauso wichtig, wie die Methoden und Techniken zur Bestrahlung der Tiere. Die Zentralisierung der Versuchstierzucht sollte die Spannung, die durch die Variabilität der Versuchstiere bei einer kooperativ geplanten, aber nicht zentral durchgeführten Forschung auftrat, glätten. „Ich bin nach wie vor der Ansicht, dass die experimentellen Gemeinschaftsarbeiten am sinnvollsten an verschiedenen Stellen in enger Fühlung zwischen den Arbeitenden durchgeführt werden, dass aber die genetisch kontrollierte Züchtung der Versuchstierstämme zweckmäßig einheitlich geschieht.“60 4.2 Vom Konzept zum Experiment: Genetik und Entwicklungsphysiologie Den Kontext, in dem sich die angedeutete differenzielle Funktion der Göttinger Versuchstierzucht erklärt und entfaltete, bildeten aktuelle vererbungstheoretische Konzepte. Die Versuchstierzuchten wurden darüber hinaus gerade im richtigen Moment eingerichtet, um den Genetikern in der Auseinandersetzung mit Röntgenärzten und Gynäkologen über Strahlenschäden Schützenhilfe zu geben; denn die Massenzucht bei gleichzeitiger Expertenbegleitung eignete sich hervorragend, auch kleinste und ungewöhnliche mutative Varianten aus den Zuchten heraus zu fischen. Dass dies keine banale Aufgabe war, wird zu sehen sein. Die Röntgendebatte überschnitt sich wiederum mit den Problemen und Fragen der zeitgenössischen Genetik in kongenialer Weise. Die deutsche Genetik befand sich in einer Umbruchphase. In der Situation einer Überproduktion von Konzepten über Genwirkung, Entwicklungsphysiologie und Mutationsmechanismen und bei einer gleichzeitig erstockten Produktivität der experimentellen Systeme in der Genetik, versprach die Versuchstierzucht, neue Fragen aufzuwerfen und neue Handlungsoptionen für die experimentelle Praxis zu eröffnen. 4.2.1 Vorgriff auf die Gemeinschaftsarbeit über die Frage der Erbschädigung durch Röntgenstrahlung Die Röntgenkommission der Notgemeinschaft, auf die vorgegriffen werden soll, bildet den besten Einstieg in den konzeptuellen Hintergrund und die Forschungsfragen der zeitgenössischen Vererbungsforschung. Diese Kommission war damit beauftragt, gemeinsame Arbeiten zu planen und zu koordinieren, die sich mit der Frage auseinander setzten, ob die Verwendung von Röntgenstrahlen in der Medizin erbliche Schädigungen hervorrufen konnte. Bei der Durchführung der Experimente wurde zum Teil auf die Versuchstiere der Göttinger Zuchtanstalt und vom Plauerhof zurückgegriffen.61 Die Versuche zur Erzeugung 59 So versuchte Ferdinand Sauerbruch – in autokratischer Weise allerdings – aus diesen Gründen die Forschung an Transplantationstumoren auf Tiere der zentralen Tumorfarm in Berlin zu begrenzen (vgl. 11.4.1938, Holtz, Tumorfarm: Rundbrief, in: BA Ko, R 73, 11786). 60 18.6.1935, Kühn an Deutsche Forschungsgemeinschaft (BA Ko, R73, 12475) 61 Vgl. 28.5.1932, Kühn an Notgemeinschaft (BA Ko, R 73, 16079). 176 von Mutationen an Säugetieren durch Röntgenstrahlen, so hieß es, waren zugleich für die Vererbungswissenschaft von „größtem theoretischem Interesse“.62 Die Initiierung der Röntgenkommission stand am Ende einer ausgedehnten und kontroversen Diskussion über jene Frage. Seit Anfang des Jahrhunderts wurden Röntgenstrahlen in der Gynäkologie therapeutisch genutzt, um Blutungen, Myome und Geschwülste zu behandeln. Als „temporäre Sterilisation“ wurde die Bestrahlung der Ovarien zu therapeutischen Zwecken genannt. Ab Mitte der zwanziger Jahre geriet diese Behandlungsmethode innerhalb der Medizin zunehmend in Kritik. Eine Einigung war noch nicht in Sicht, als sich Genetiker und Eugeniker Ende des Jahrzehnts in die Diskussion einmischten. Es entbrannte eine heftige Auseinandersetzung zwischen Genetikern und Gynäkologen über die Frage der Gefährlichkeit der Röntgenanwendung und die richtigen Methoden ihrer Lösung. Die Genetiker sahen sich berufen, da gerade erst die mutative Wirkung von Strahlen nachgewiesen und Ausgangspunkt eines boomenden neuen Arbeitsgebietes geworden war. Die Strahlengenetik versprach zugleich, für die unterschiedlichsten biologischen Fragestellungen relevant zu sein. Die Strahlenwirkung war also das neue Wirkungsfeld vieler Genetiker. Für die Frage der Erbschädigung waren vor allem zwei strahlengenetische Annahmen von Wichtigkeit: zum einen die Annahme, dass es keine Schwelle gibt, ab der eine kleine Röntgendosis ungefährlich ist, und zum anderen die, dass die Wirkung der Röntgenstrahlen vor allem in der Verursachung „kleiner Mutationen“ besteht. Die kleinen Mutationswirkungen unterschieden sich von den bislang in der Genetik beobachteten dadurch, dass sie nicht leicht zu entdecken waren. Sie machten sich eher in subtilen und oft fließenden Veränderungen schwer erfassbarer, physiologischer Merkmale bemerkbar. Als ein solches Merkmal wurde beispielsweise die Lebensfähigkeit oder Vitalität der Tiere und Pflanzen angesehen. Unterschiede in der Vitalität konnten so fein sein und wurden zudem durch andere Faktoren mit beeinflusst, dass eine einzelne Mutation durch Strahleneinwirkung schwer nachweisbar war. Daraus ergab sich die methodische Forderung, Experimente an großen Zahlen von Experimentalobjekten vorzunehmen. Und genau mit dieser Forderung und der Kritik an der kleinen Datengrundlage der klinischen Erhebungen wandten sich die Genetiker gegen die Gynäkologen. Im Herbst 1933 wurde in der Notgemeinschaft eine Kommission „zur Frage der Erbschäden durch Röntgenstrahlen“ aus Genetikern und ihnen nahe stehenden Gynäkologen und Röntgenologen gebildet, die die Frage klären sollte. Alfred Kühn war in der Auseinandersetzung zwischen Genetikern und Gynäkologen zunächst nicht hervorgetreten. Nun übernahm er und sein Institut aber eine führende Rolle in der Koordination der Forschungsarbeiten.63 Bereits zur 62 14.3.1932, Heinrich Martius an Schmidt-Ott, unterz. v. Martius u. Kühn (BA Ko, R 73, 16079) – Die genetisch-medizinischen Kooperationen genossen allerdings Priorität. Kühn versichert dies gegenüber Schmidt-Ott (vgl. 28.5.1932, Kühn an Notgemeinschaft, in: BA Ko, R 73, 16079). 63 Röntgenstrahlen waren am Göttinger Institut schon länger im Gebrauch. Zum einen dienten die Strahlen als Werkzeuge. 1930 berichtete Kühn über Experimente „mit einer neuen Rasse, die als Mutation unter den F2 von Röntgen-Beeinflußten aufgetreten ist“ (vgl. 9.8.1930, Kühn an 177 initiierenden Kommissionssitzung im September 1933 übernahm er die Planungsinitiative und wurde von dem nach dem Regierungswechsel neu installierten Geschäftsführer der Forschungsgemeinschaft zum „Führer der Kommission“ bestimmt.64 Das hatte nicht zuletzt seinen guten Grund darin, dass Kühn Leiter der Versuchstierzuchten war. Überhaupt, es ergaben sich personell und institutionell einige Überschneidungen zwischen der Strahlenkommission und dem Netzwerk, das die Versuchstierfrage vorantrieb.65 Bis auf Baur war das Versuchstiernetzwerk bis dahin nicht in die Genetiker-Gynäkologen-Debatte verwickelt. Als aber eine interdisziplinäre Planungsgruppe zwischen Ärzten und Genetikern sich nicht auf einen Forschungsplan einigen konnte, verlagerte sich die Aufgabe in die Strukturen der Notgemeinschaft. Da sich hier bereits das effizient arbeitende, interdisziplinäre Versuchstiernetzwerk befand und die neue Kommission auf eine genetische Herangehensweise verpflichtet sein sollte, konnte personell das Gremium zur Versuchstierzucht im Wesentlichen auf das Röntgenproblem übertragen werden.66 Damit stellten sich keine Fragen mehr zur Methodik: Geplant wurden Bestrahlungsexperimente mit Reinzuchttieren, Mendelanalyse von Mutationsmerkmalen und die modellhafte Übertragung der Ergebnisse auf die Verhältnisse beim Menschen. Geleitet durch die praktisch-medizinischen Frage nach der Schädigungsmöglichkeit durch Strahlen und geeint im praktischen Herangehen, konnten auf diese Weise in der Kommission verschiedene experimentelle Systeme, Objekte und Probleme zusammengehalten werden. Das heißt nicht, dass die je eigenen Probleme der beteiligten Wissenschaftler unter dem koordinierenden Eingriff der Kommission ihre Eigenständigkeit verloren. Im Gegenteil, die Kommissionsarbeit belebte die genetische Forschung. Die eigentliche Frage der Röntgenschädigung wurde zwar nicht abschließend geklärt, doch der Raum der Kommission produzierte, gestützt auf die Versuchstierzucht, Knotenpunkte. Neue Ergebnisse und Konzepte wurden zu einer kritischen Masse verknüpft, sodass bald die einzelnen Laboratorien wieder in verschiedene Richtungen auseinander streben konnten. Die Versuchstierzuchten und die darum gruppierte Zusammenarbeit zwischen Genetik und Medizin bildeten ein Getriebe, das die Tätigkeit an der Göttinger Versuchstieranstalt, die vererbungswissenschaftlichen Probleme am Göttinger Institut, das Röntgenproblem und die konzeptuellen Henke, in: AMPG, Abt. III, Rep. 58, Nr. 7). Zum anderen wurde die Röntgenwirkung im Rahmen Kühns Studien zur Modifikation untersucht, wobei Kühn sich offenbar auch für das Problem der Strahlenschädigung interessierte (siehe Herv.): „In der nächsten Woche wollen wir noch neue Röntgenversuche ansetzen, Reizung mit der alten und parallel mit anderen Wellenlängen. [...] Vor allem möchte ich auch die Entwicklung der Geschlechtsorgane kennen lernen, schon um der Röntgenversuche willen” (10.5.1930, Kühn an Henke, hands., in: ebd., Nr. 7). 64 3.7.1934, Kühn an Dr. Wildhagen (BA Ko, R 73, 12475: Seite 1 v. 3) – Grundlage der Forschungskoordination wurde eine Denkschrift von Kühn, die mir allerdings nicht bekannt ist. Die Verlagerung nach Göttingen wurde sicher durch den Tod E. Baurs im Dezember 1933 befördert. 65 Neben A. Kühn waren aus der Versuchstierarbeitsgemeinschaft in der Röntgenkommission E. Baur, F. Kröning, W. Kolle, das RGA und das Hygienische Institut der Universität Berlin vertreten. 66 Die Gynäkologen, die auf andere methodische Zugangsweisen beharrten, waren damit ausgebootet worden, nicht so die Röntgenologen, die eher die Position der Genetik vertraten. 178 Bewegungen, die in ‚der Luft’ des genetischen Diskurses lagen, ineinander übersetzte. 4.2.2 Variable Genmanifestation im Blick – das Interesse deutscher Genetiker Anfang der dreißiger Jahre Um nun den avancierten Diskurs in der Genetik rund um die Veränderlichkeit von Merkmalen zu skizzieren und um dann die Überschneidungen zwischen dem Röntgenproblem und genetischen Fragestellungen aufzuzeigen, kann von einer Sitzung jener Kommission, die im Sommer 1934 in Kühns Zoologischen Institut abgehalten wurde, ausgegangen werden. Kühn hatte die Kommissionsmitglieder eingeladen, da man in Göttingen die Zuchten für Meerschweinchen und Krebsmäuse besichtigen sowie Präparate und Methoden der dortigen Bestrahlungsversuche vorführen könnte.67 Er wolle auch einen kurzen Bericht über „das den meisten Herren noch ganz neue Problem der vielseitigen Wirkung mutierter Gene auf die Vitalität und die Fortpflanzungsrate” halten. Einzelne Kommissionsmitglieder gaben zudem einen Überblick über die „neuesten Erkenntnisse“.68 Über Röntgenversuche an Mäusen und Meerschweinchen berichteten Paula Hertwig und Friedrich Kröning, über Bestrahlungsexperimente an Drosophila Nikolaj Timoféeff-Ressovsky. Kühn selbst berichtete „über Mutationsauslösung und Mutationswirkungen an Insekten als ‚Modellversuchstieren’” (Ephestia).69 Es sei bemerkenswert, so Kühn, dass die bisherigen Untersuchungen im Rahmen der Gemeinschaftsarbeit an „ganz verschiedenen Objekten“ zu „ganz gleichartigen neuen Ergebnisse über die Mutationswirkung“ geführt hätten.70 Mit Blick auf das bisher in den Gemeinschaftsarbeiten Erreichte, stellte er fest, dass weitere wissenschaftlich wichtige Ergebnissen mit hoher praktischer Bedeutung zu erwarten seien. Die Bestrahlungsversuche an der Mehlmotte, so berichtete Kühn dann, hatten zu Mutationen geführt, die sich in mehrfacher Weise auf den Insektenorganismus auswirkten. An den Motten seien veränderte Gestaltmerkmale beobachtet worden: Pigmentbildung in den Augen, in der Beschuppung und in den inneren Organen. Außerdem die Mutationen aber auch durchgehend Auswirkungen auf „Leistungsmerkmale“ gehabt. So unterschieden sich die äußerlich verschiedenen Motten auch in ihrer Entwicklungsgeschwindigkeit oder in der Fruchtbarkeit.71 Für die Frage der Erbschädigung durch Röntgenstrahlen war dies ein wichtiges Ergebnis, das aus der Strahlengenetik hervorging und das zur Kenntnis genommen werden musste. Für die Genetik verbarg sich darin aber ein Raum neuer Probleme, von dem aus „das Spiel des Möglichen“72 entfaltet werden konnte. Das „neue Problem“, das Kühn in dem Ergebnis erblickte, war letztlich nicht mit der Lebensschwächung sondern mit der „vielseitigen Wirkung mutier67 Hier und nachfolgend: 29.12.1933, Kühn an Prof. Stuchtey, Notgemeinschaft (BA Ko, R 73, 159) 68 Zu den Kommissionsmitgliedern siehe Seite 229, Fußn. 69 4.12.1934, Kühn an die Notgemeinschaft (BA Ko, R 73, 12475: Seite 5 v. 9) 70 Hier u. nachfolgend, o.D., [Kühn]: „Entwurf [...]“ (BA Ko, R 73, 12475: S. 9 v. 12) (s. Anm. 43) 71 o.D., [Kühn]: „Entwurf [...]“ (BA Ko, R 73, 12475: Seite 2-3 v. 12) (s. Anm. 43) 72 Rheinberger & Hagner 1997: 23 179 ter Gene auf die Vitalität“ verbunden.73 Kühn und andere Genetiker hatten begonnen, danach zu fragen, wie Erbfaktoren die Entwicklung eines Merkmals beeinflussen. Die vielseitige Wirkung von Erbfaktoren konnte vielleicht einen ersten Zugang zu diesem – entwicklungsphysiologischen – Problem ermöglichen.74 4.2.2.1 Konstitution und Konzepte der Genwirkung Das Problem der variablen Genmanifestierung stand im Zentrum des Interesses der beiden führenden deutschen Zentren in der mendelschen Vererbungslehre, Göttingen und Berlin. Beide hatten erkannt, dass Umbrüche in der bisherigen mendelschen Theorie nicht zu vermeiden waren, und die Frage war, wie groß dabei der Gewinn sein würde. Die genetische, insbesondere die strahlengenetische Forschung hatte Ergebnisse angehäuft, deren genauer theoretischer Gehalt noch nicht geklärt war. Die Frage war, in welche Richtung die Forschung in den einzelnen Laboren weitergehen sollte, um die experimentell unterdeterminierte konzeptuelle Matrix mit den neuerlichen Befunden zusammen zu bringen und in das mendelgenetische Gebäude zu integrieren. Auf der Frankfurter Wissenschaftlichen Woche, die nur wenige Wochen nach der erwähnten Kommissionssitzung stattfand, berichteten Kühn und TimoféeffRessovsky75 über den Stand der Genetik. Sie traten als Exponenten einer im Wesentlichen auf den Grundannahmen der mendelschen Genetik operierenden Vererbungsforschung auf und verfochten einen sehr ähnlichen Standpunkt.76 Beide fokussierten auf das Problem, wie Gene und Merkmale im „Wirkungsgetriebe der Gene“77 miteinander verknüpft sind. Timoféeff verstand die Strahlengenetik als eine Vorstufe zu einer genetischen Entwicklungsphysiologie, da sie 73 29.12.1933, Kühn an Dr. Stuchtey (BA Ko, R 73, 12475: Seite 2 v. 3) (Herv. Verf.) Dann musste aber zunächst nachgewiesen werden, dass tatsächlich von demselben Gen verschiedene Wirkungen ausgehen konnten. In Transplantationsversuchen zeigte Kühns Doktorand Ernst Caspari, dass ein einziger Wirkstoff und damit eine Mutation allein verschiedenste Pigmentierungsveränderungen hervorrufen konnten (vgl. Rheinberger 2001: 547ff.). 75 Der Drosophilagenetiker Timoféeff-Ressovsky hatte in Moskau bei dem Zoologen Sergej Sergeevič Četverikov gearbeitet. Četverikov, Leiter der genetischen Abteilung des 1921 gegründeten Instituts für Experimentalbiologie, bearbeitete Probleme des Zusammenhangs von Evolutionstheorie und Genetik mit variationsstatistischen Methoden. Diese Untersuchungen brachten die Wechselwirkung von Genen zum Vorschein. Aus diesem Hintergrund kommend kam T. 1925 nach Berlin an das KWI für Hirnforschung. T. arbeitete hier weiter zur variablen Genmanifestierung. (Vgl. Jahn 1990: 466; Satzinger 1998: 248; Satzinger & Vogt 2001: 451.) 76 Auf der breitenwirksamen Frankfurter Tagung waren nicht-mendelsche vererbungswissenschaftliche Forschungsansätze weniger stark vertreten. Auf der einen Seite: Gerhard Heberer (Die Chromosomentheorie der Vererbung), Alfred Kühn (Vererbung und Entwicklungsphysiologie), Hans Stubbe (Probleme der Mutationsforschung), Timoféeff-Ressovsky (Verknüpfung von Gen und Außenmerkmal), Rudolf von Sengbusch (Über Erfolge auf dem Gebiete der Züchtung landwirtschaftlicher Nutzpflanzen), Karl Laubenheimer (Fortschritte in der Blutgruppenlehre ...); zum anderen: Fritz von Wettstein (Über plasmatische Vererbung und das Zusammenwirken von Genen und Plasma), Max Hartmann (Allgemeine Theorie der Sexualität). – Allerdings heißt die hier gemachte Aufteilung nicht, dass sich die Auffassungen über eine vollständige genetische Theorie nicht überschnitten oder deckten. So befanden sich Kühn und v. Wettstein in enger Übereinstimmung. (Kühn zitierte Wettstein mit den Worten: „[...] alles wird von mendelnden Genen beeinflußt“, vgl. Kühn 1935b: 43). Umgekehrt erkannte Kühn ohne weiteres die Rolle des Plasmas im Vererbungsgeschehen an (vgl. zum Beispiel Kühn 1935a: 50ff.). 77 Vgl. Aussprachebemerkung Kühns in Timoféeff-Ressovsky 1935b: 117. 74 180 ermögliche, die Vielfältigkeit dieser Verknüpfungen aufzuzeigen und zu protokollieren.78 Kühn hatte hingegen bereits diese „Phänomenologie der Genmanifestierung“ (T.-R.) zur Physiologie hin überschritten. In seinem Vortrag umriss er nicht mehr und nicht weniger als eine integrierte Theorie der Genwirkung. An die Spitze stellte Kühn die Konstitution – ein Begriff, der im engeren Kontext der mendelschen Genetik ohne Verwendung war und gemieden wurde. Kühn stellte damit klar, dass es ihm um das ganze Individuum ging. Mit „Konstitution“ dürfe nicht mehr „das Ererbte schlechthin“ bezeichnet werden, wie das vielfach noch geschehe. Kühns Konstitutionsbegriff war relativ und reaktiv; die Konstitution war zwischen Erbe, Umwelt und Anpassung geschaltet.79 Kühns Definition der Konstitution war integrativ, da er erbliche und nicht-erbliche Bedingungen zusammenwirken ließ. Und sie war dynamisch, da die Konstitution sich im Verlauf eines Lebens herausbildete und verändern konnte: „Die Konstitution eines jeden Einzelwesens wird in der individuellen Lebensgeschichte geschaffen durch die aufeinander folgenden Entwicklungsreaktionen auf die Umwelt nach der erblich festgelegten Reaktionsnorm.“80 Die Gene bewirkten demnach nicht ein Merkmal in einer starren und festgelegten Weise, sondern gaben nur die Art vor, wie die Zellen auf bestimmte Entwicklungsreize reagierten.81 Wenn sich die Gene auch in der Weitergabe von Generation zu Generation als selbstständige und substituierbare Einheiten darstellten, die verteilt und neu kombiniert werden können, so waren sie in der Wirkung auf eine Zelle doch ganz unselbstständig. Es laufen keine „Reaktionsketten von Einzelgenen zu Einzelmerkmalen“ unabhängig nebeneinander her.82 Diese „harmonische Organisation“ eines Wesens auf Grund der „Gesamtheit der Genwirkungen und Plasmareaktionen“83 verdeutlichte Kühn programmatisch, indem er neue Begriffe, wie „Getriebe“, „Gefüge“ und „System“, bemühte.84 Bis in die Worte folgte Timoféeff-Ressovsky Kühn darin, dass nicht einzelne unabhängige Reaktionsketten zu einem Merkmal führen würden, sondern „jedes Gen am gesamten Entwicklungsvorgang beteiligt ist“.85 Die Verwirklichung eines Merkmals konnte aus dieser Sicht nur als die Wirkung eines Gemischs von Kausalitäten gefasst werden. Es kristallisierte sich 78 Nach Timoféeff-Ressovsky hatte die Phänogenetik zwei Aufgaben. In der „Phänomenologie der Genmanifestierung“ ging es um das „Herausgliedern und die Klassifikation der allgemeinen Erscheinungen auf dem ungeheuer mannigfaltigen und variablen Gebiet der Manifestation verschiedenster Erbmerkmale“. Dies sei „die Vorstufe zu einer genetischen Entwicklungsphysiologie“, der „kausal-analytischen, entwicklungsphysiologischen Seite der Phänogenetik“ (vgl. Timoféeff-Ressovsky 1935b: 92). 79 Hierzu und zur „Reaktionsnorm“, vgl. auch 2.2.2. Kühn verstand die Konstitution nicht nur relativ hinsichtlich der Wirkung des Erblichen in seiner Reaktionsfähigkeit auf die Umwelt, sondern auch ihre Angepasstheit in Abhängigkeit von der Umwelt. „Der biologische Wert [oder die Anpassung] einer Mutationsrasse, d.h. der Betrag, um den ihre Lebenseignung gegenüber der Ausgangsrasse verändert ist, hängt von den Außenbedingungen ab“ (Kühn 1935b: 48). 80 Kühn 1935b: 38 81 Vgl. Kühn 1935b: 38. 82 Vgl. Kühn 1935b: 42. 83 Kühn 1935b: 47 84 Zu Getriebe, vgl Kühn 1935b: 47; zu Gefüge, vgl. Kühn 1935b: 42; zu System, vgl. Kühn 1935b: 42. 85 Timoféeff-Ressovsky 1935b: 111 181 also ein konzeptueller Rahmen der Entwicklungsphysiologie heraus, in dem kaum noch von der Ursache gesprochen werden konnte. Auf der einen Seite gäbe es zwar „Gene, die sich unter allen praktisch und experimentell vorkommenden Bedingungen gleich und konstant manifestieren; auf der anderen Seite kommen wir über verschiedene Stufen der variablen Genmanifestation sozusagen an ‚die Grenze der Erblichkeit’“.86 Durch diese multikonditionale Konzeption der Erblichkeit entstand eine Distanz zur Praxis der bisherigen Mendelgenetik, in deren Studien über den Mechanismus der Vererbung meistens nur die „deutlich und konstant sich manifestierenden Mutationen benutzt“ worden waren.87 Es bot sich an, die Nähe zu anderen Konzepten zu suchen. Kühn wies darauf hin, dass die entwicklungsphysiologische Betrachtung des Vererbungsproblems eine „enge Beziehung zur Konstitutionslehre“ habe,88 ja, dass das Ziel der Genetik damit die „Gesamtkonstitution“ sei.89 Die Verzahnung von Umweltwirkung und Genotyp in der Modifikationswirkung mündete in der ‚feindlichen Übernahme’ des Begriffs der Ganzheit, ein Schlagwort, das oft in Opposition zum naturwissenschaftlich-experimentellen Verständnis des Organismus im Gebrauch war.90 „Wir müssen also die Beziehung zwischen einem Gen und einem Außenmerkmal als Zusammenwirkung einer genbedingten Modifikation des Entwicklungsvorganges mit einem bestimmten genotypischen, äußeren und inneren Milieu vorstellen, in einem Entwicklungssystem, dessen alle Elemente von dem Gesamtgenotypus kontrolliert werden. Wir kommen auf diese Weise zu einer modernisierten und genetisch fundierten Ganzheitsauffassung des Organismus.“91 ‚Feindlich’ war diese Umschreibung in dem Sinn, als die Ganzheitsauffassung letztlich immer wieder auf eine genzentrierte Sichtweise zurückgewendet wurde.92 86 Timoféeff-Ressovsky 1935b: 102 Timoféeff-Ressovsky 1935b: 101 88 Aussprachebemerkung Kühns zit. in Timoféeff-Ressovsky 1935b: 117 – Tatsächlich war im Schrifttum der Konstitutionslehre und Konstitutionspathologie ein multifunktionelles Denken verbreitet (vgl. von Engelhardt 1985: 39). Besonders wirksam war die Position des Kochschülers Ferdinand Hueppe, der Prädisposition, Reiz und äußere Bedingungen im Krankheitsgeschehen verband (vgl. Baader 1990: 5-8; Stöckel 1996: 18ff. u. 44-48). Der einflussreiche Ansatz von Friedrich Martius (und seines Schülers Julius Bauer) zeigt aber, dass ein multifaktorieller Beschreibungsansatz nichts über die Wertigkeit der ätiologischen Faktoren aussagte. Martius hielt die erbliche Anlage für ausschlaggebend. Die meisten Vertreter hielten an einem strikten Ursachenbegriff fest. – Als eine „Gegenbewegung“ (Meinertz 1920: 104) gegen Bakteriologie und Zellularpathologie gewandt verband sich die Konstitutionslehre und speziell -pathologie ihrerseits häufig mit Erblehre, Rassenbiologie und Erbpathologie. 89 Kühn 1935b: 48 – Diese weit gefasste Konzeptualisierung der Entwicklung mag im Zusammenhang mit Kühns Versuch der Grundlegung einer „generellen Biologie“ (zus. m. dem Göttinger Botaniker Fritz v. Wettstein) gestanden haben (vgl. Rheinberger 2001: 537). 90 Vgl. Hau 2000: 500-01. 91 Timoféeff-Ressovsky 1935b: 112 – Diese multifaktorielle Auffassung von dem Verknüpfungsverhältnis zwischen Gen und Merkmal wurden von Timoféeff-Ressovsky in Zusammenarbeit mit Oscar Vogt auch auf die menschliche Erbpathologie übertragen. – Der Physiologe Otto Koehler rekurrierte zum Beispiel auf Kühn und T. und betonte die vorbildliche Exaktheit des Mendelismus als Grundlage für einen „biologische[n] Ganzheitsbegriff“ (Koehler 1935: 1297-98). 92 Timoféeff-Ressovsky entwarf 1934 ein Schema, das die hypothetische Vorstellung über die Genmanifestierung zusammenfasste. Die Hierarchie der Darstellung, die Unterscheidung eines „Hauptgens“ und die Abwertung anderer Einflüsse als „Milieu“ ließen die Ganzheit im Licht einer genzentrierten Interpretation erscheinen (Timoféeff-Ressovsky 1934c: 100) Die Ganzheitskon87 182 4.2.2.2 Variable Phänomene und neue experimentelle Optionen So weit die Konzepte der ‚Genetik-im-Umbruch’ eine Destruktion der einfachen und determinierenden Beziehung zwischen Erbfaktoren und Merkmalen in der Transmissionsgenetik beinhalteten, handelte es sich doch nur um eine hypothetische „Zusammenfassung unserer Erfahrung über die Variabilität der Manifestationsphänomene“.93 Der Hinweis auf die variablen Phänomene lenkt aber nun unsere Aufmerksamkeit weiter in Richtung der genetischen Experimentalsysteme. „Variabilität“ meinte alle die Beziehungen zwischen Gen und Merkmal, die nicht den einfachen mendelschen Erwartungen folgten. Die Liste der Ausnahmeerscheinungen wurde immer länger und forderte konzeptuelle Versuche heraus, sie hypothetisch unter einen Hut zu bekommen. Es war zum Beispiel deutlich geworden, dass es „ein seltener Sonderfall“ (Kühn) war, wenn ein Gen sich nur in der Ausbildung eines Merkmals auswirkte, wie Kühn in seinen Ephestiaexperimenten nachvollziehen konnte. Bei jedem Organismus, der einigermaßen gründlich untersucht wurde, tauchten solche „pleiotrope Gene“ auf.94 Das Wildfarbenkleid zahlreicher Säugetiere bildete umgekehrt ein Beispiel dafür, dass ein Merkmal nie nur durch ein einziges, sondern eine ganze Reihe von Genen beeinflusst wurde.95 Mit den Konzepten der Pleiotropie und Polygenie gelang es, die aus der Sicht der mendelschen Erwartungen unregelmäßigen Erscheinungen der Merkmalsmanifestierung als das Zusammenspiel mehrerer mendelscher Erbfaktoren darzustellen. Nach Kühn konnte neben der Wirkung verschiedener nebeneinander stehender „Hauptgene“ die modifizierende und unspezifische Wirkung von vielen Modifikationsgenen unterschieden werden. Diese bildeten das genotypische Milieu.96 Es ergab sich das Bild, dass jedes Merkmal durch zahlreiche Modifikationsgene mit beeinflusst und jedes Gen wahrscheinlich modifizierend an der gesamten Entwicklung beteiligt sein musste.97 Wenn Timoféeff-Ressovsky davon sprach, dass sich diese Unterscheidung der Manifestationsphänomene „bestätigt und bewährt“ hätte,98 so gab es natürlich einen Bezugspunkt der Bewährung. Dieser war die Integration der variablen, insbesondere quantitativen Merkmale in den Bereich der mendelschen zeption der Entwicklungsphysiologie beinhaltete genug Interpretationsraum, der zum Teil auch gezielt eingesetzt worden sein mag, wie in Kühns Beitrag zu Heinz Wolterecks Einführung in „Erbkunde – Rassenpflege – Bevölkerungspolitik“ von 1935: „In letzter Linie werden alle Abwandlungen vom Erbgut bestimmt [...]“ (Kühn 1935a: 23). F. Krönings Konzeption der Entstehung und Erblichkeit der Krebserkrankung wirkt wie eine direkte Anwendung Kühns allgemeinen Überlegungen. Die Konstitution gerann ihm aber zur „genetischen Konstitution“, die sich sogar in mendelschen Erbformeln ausdrücken lässt (Kröning 1935b: 153). 93 Timoféeff-Ressovsky 1934c: 101 94 Vgl. Timoféeff-Ressovsky 1935b: 97-98. – Der Begriff der Pleiotropie wurde, T. folgend, von Ludwig Plate geprägt. 95 Vgl. Kühn 1935b: 41-42. 96 Vgl. Kühn 1935b: 42. – Der Begriff „genotypisches Milieu“ war von Sergej S. Četverikov im Zusammenhang der Moskauer merkmalsstatistischen Untersuchungen an Drosophila eingeführt und von Timoféeff-Ressovsky übernommen worden (vgl. Jahn 1990: 406). 97 Vgl. Timoféeff-Ressovsky 1935b: 111. T. argumentierte, dass man sonst zu irrsinnig hohen Genzahlen kommen würde. – Diesen Unterscheidungen war bereits die von stärker empirisch abgesicherten Konzepten vorausgegangen (siehe Fußn. 101). 98 Timoféeff-Ressovsky 1934c: 88 183 Genetik.99 Der Gewinn der Integration neuer Merkmalsbereiche in den mendelgenetischen Zuständigkeitsbereich hatte aber auch einen Preis. Die Variabilisierung der Merkmale wirkte auf die mendelschen Konzepte zurück. Die ehemals binäre Unterscheidung in dominant oder rezessiv manifestierende Gene beispielsweise wurde durch die Beobachtung quantitativer und kontinuierlicher Manifestationsunterschiede in Frage gestellt und war auch Gegenstand Kühns Bericht vor der Röntgenkommission.100 Die Beziehung zwischen Dominanz oder Rezessivität eines Gens und seiner Penetranz und Expressivität war ungeklärt.101 Es schien aber klar, dass „in den allermeisten Fällen irgendein Grad von unvollkommenen Dominanzverhältnissen vorliegt“.102 Die Voraussetzung aber, jene Unterscheidungen in der Genmanifestierung zu treffen, so lässt sich schon andeuten, war, dass experimentell immer feinere Einflüsse auf die Ausprägung eines Merkmals unterscheidbar wurden. Die deutsche Genetik befand sich also um 1930 in einer theoretisch produktiven Phase. In Deutschland bestand ein stärkerer Druck zu einer Integration von Vererbungsanalyse und Entwicklungsphysiologie als beispielsweise in den Vereinigten Staaten.103 Durch experimentelle Anomalien herausgefordert, wurden Begriffe eingeführt und theoretische Modelle versucht, die den Weg in Richtung einer integrativen Theorie der Genwirkung wiesen. Diese hypothetischen Überlegungen eröffneten einer experimentell offenen Forschung Möglichkeiten. Kühns Experimentalkomplex war Anfang der dreißiger Jahre wenig festgelegt; physiologische und entwicklungsbiologische Themen standen neben vererbungswissenschaftlichen.104 Timoféeff-Ressovsky bemerkte, dass die hypothetischen Vorstellungen zur Genmanifestierung „einen gewissen Wert“ hätten, da gerade jene bei der „erst einsetzenden kausalen entwicklungsphysiologi- 99 Vgl. Satzinger 1998: 292; Balaban 1998: 337. Die „phänomenologischen“ Konzepte machten die Merkmale, die sich nicht ohne weiteres den Vererbungsregeln unterordneten, der mendelschen Analyse zugänglich. Die eigentliche Analyse blieb aber aufgeschoben, da in originär mendelschen Termen der Genotyp nicht weiter differenziert werden konnte. 100 Vgl. o.D., [Kühn]: „Entwurf [...]“ (BA Ko, R 73, 12475: Seite 2-3 v. 12) (s. Anm. 43) 101 Timoféeff-Ressovsky hatte 1925 Ergebnisse von Versuchen an der Fruchtfliege Drosophila funebris veröffentlicht, nach denen die Variation von Merkmalen qualitativ zu unterteilen war: die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Merkmal überhaupt auftritt (Manifestationswahrscheinlichkeit oder Penetranz), der Ausprägungsgrad oder Expressivität des Merkmals, seine Spezifität (Lokalisation, Ausdehnung oder Musterung) und die Symmetrie der Ausprägung. (Vgl. TimoféeffRessovsky 1935b: 103-10 u. Timoféeff-Ressovsky 1934c: 88.) Die Unterscheidungen machte T. nach seinen Angaben (vgl. Timoféeff-Ressovsky 1934c: 54) erstmals in der Veröffentlichung: Timoféeff-Ressovsky 1925, auch erschienen als Timoféeff-Ressovsky 1927. Allerdings wird hier noch keiner der späteren Begriffe benutzt, sondern vom „degree of phenotypic manifestation“ und Ähnlichem gesprochen. Die Begriffe wurden erst in Berlin zusammen mit Oscar Vogt geprägt (vgl. Satzinger & Vogt 2001: 451). 102 Timoféeff-Ressovsky 1935b: 93 – Der Zweifel am Konzept der Dominanz resp. Rezessivität war verbreitet: „Die Frage, ob Krebs dominant oder rezessiv vererbt wird, hat demgegenüber wenig Interesse, nachdem erkannt ist, daß Dominanz und Rezessivität Spezialfälle hundertprozentiger Manifestation sind, die Manifestation bei den meisten Genen aber zwischen 0 und 100 % liegt“ (Kröning 1935b: 156; zum anders gearteten anglosächsischen Kontext, vgl. auch Falk 2001). – Die Verflüssigung des Dominanzkonzepts bildete ein Element im Aufbruch in der Genetik Anfang der dreißiger Jahre und floss auch in einen neuen Ansatz zur Genanalyse in der menschlichen Erblehre ein (vgl. v.Verschuer 1934: 766; siehe 7, Seite 329. 103 Vgl. Rheinberger 2001: 542. 104 Vgl. Rheinberger 2001: 544. 184 schen Analyse der Genmanifestierung von vornherein in Betracht gezogen werden“ müssten.105 4.2.3 Vitalität und das Experimentalsystem der genetischen Entwicklungsphysiologie In einem nächsten Schritt soll nun verdeutlicht werden, welche Auswirkung der Topos der Variabilität auf das Forschungsinteresse und auf das vererbungswissenschaftliche Experimentalsystem hatte. Was waren die bevorzugten Gegenstände der Variabilitätsforschung, was waren ihre Fragen und was war das geeignete experimentelle System für Phänomene der variablen Genmanifestierung? Die Variabilität wird sich als Transmissionsriemen darstellen, der verschiedene Experimentalsysteme in einander übersetzte und den Forschungsinteressen in verschiedenen biologischen und ‚biomedizinischen’ Forschungskontexten experimentelle Wege eröffnete. Die Aufmerksamkeit spitzte sich dabei kurzzeitig auf einen Aspekt des ‚variablen Organismus’ zu, der besonders gut verschiedene Forschungsinteressen, insbesondere die der Strahlenkommission, repräsentieren konnte: den lebensschwachen Organismus. Die Versuchstierzuchten der Notgemeinschaft bildeten einen hervorragenden experimentellen Unterbau für dieses Interesse an der Variabilität, wie die Forschungen Friedrich Krönings zeigen. 4.2.3.1 „Lebenseignung“ und Konjunkturen in der biologischen Wissenschaft Die Wirkung von Mutationen sei auf den ersten Blick, so Kühn, morphologisch nicht besonders vielseitig, was dazu geführt habe, dass immer nur einfache Beziehungen zwischen Genen und auffälligen Merkmalen angenommen worden waren. Es kämen aber fast immer weitere „Nebenmerkmale“ vor. Dies wären oft quantitative Veränderungen von Körperproportionen und vor allem physiologische Eigenschaften.106 Kühn und sein Mitarbeiter Karl Henke berichteten, dass alle Mutationen, die bei der Mehlmotte Ephestia aufgetreten waren, auch die Lebensfähigkeit der Motten beeinflussten; Timoféeff-Ressovsky sah dies in Bezug auf Drosophila ganz genauso.107 In Göttingen und Berlin war man sich einig, dass Mutationen in der Regel in lebenswichtige Entwicklungsvorgänge hineinwirkten und fast alle Mutationen die Vitalität der Mutanten senkten.108 Vor dem Hintergrund der Annahmen über das verschachtelte Zusammenwirken aller Gene in „der harmonischen Organisation“ (Kühn) „hochgradig differenzierter und angepaßter Organismen“ (P. Hertwig) war es plausibel, davon aus- 105 Timoféeff-Ressovsky 1934c: 101-02 Ein typisches Beispiel hierfür war die pleiotrope Wirkung der vestigal-Mutation bei Drosophila. Im Äußeren fielen die Fliegen durch ihre Stümmelflügeligkeit auf. Physiologisch bewirkte die Mutation, dass die Fliegen eine durchschnittlich verkürzte Lebensdauer hatten (vgl. TimoféeffRessovsky 1935b: 98-99). 107 Vgl. Kühn 1935b: 47; Timoféeff-Ressovsky 1935b: 98 mit Bezug auf Kühn & Henke 1932, Timoféeff-Ressovsky 1934a u. Timoféeff-Ressovsky 1934d. 108 Vgl. Vogt & Vogt 1930: 572 (V. & V. beziehen sich auf eine eigene Schrift von 1926); Stubbe 1935b: 86; Timoféeff-Ressovsky 1934d: 339; Kühn 1935a: 75. 106 185 zugehen, dass die Mutationswirkung in der Regel in einer Störung der fein abgestimmten Entwicklung und Organisation des Organismus bestand.109 Die Bedeutung mendelscher Erbfaktoren wurde allerdings durch diesen Befund unmittelbar aufgewertet. Bislang war nämlich immer wieder die Auffassung vertreten worden, dass die mendelschen Erbfaktoren nur äußerliche, unwichtigere Merkmale oder vielleicht noch „Rassenmerkmale“ beeinflussten, die lebenswichtigen Bedingungen eines Lebewesens aber nicht durch einzelne Erbfaktoren bedingt sein konnten.110 Mutationen dieser Erbanlagen konnten folglich nicht wesentliche Funktionen eines Lebewesens treffen. „Diese Vorstellung, die sehr leicht bei jedem entsteht, der unsere Bilder sieht und unsere Abhandlungen durchblättert, ist nicht richtig. Die erwähnten Merkmale sind nur die leicht erkennbaren, und daher für die mendelistische Statistik gut verwertbaren morphologischen Anzeichen von Veränderungen der Gesamtorganisation.“111 Mullers Strahlenexperimente an Drosophila hatten allerdings gezeigt, dass Mutationen vielfach zu letalen Veränderungen führen – ein „zwingende[r] Beweis, daß die Gene nicht nur untergeordnete Rassenunterschiede, sondern auch grundlegende Eigenschaften der Organisation bestimmen [...]“.112 Die milderen Formen der letalen Wirkung äußerten sich in jenen Mutationen, deren physiologische Wirkung nur schwach war und die als messbare Veränderung der „Vitalität“ oder Lebenseignung eines Organismus charakterisiert werden konnten. Es ließ sich eine „ganze Skala von morphologischen und physiologischen Übergängen von „großen“ bis ganz „kleinen“ Mutationen“ aufstellen. Die unscheinbaren Merkmale der „’kleinen’ physiologischen Mutationen“ mussten gesucht, gemessen oder mit neuen Messprozeduren erst ‚erfunden’ werden. Die morphologischen und gut sichtbaren Merkmalsabweichungen waren bislang nur deswegen hervorgetreten, weil sie „als Mittel der Verteilungs- und Lokalisationsforschung“ gedient hatten.113 Die Unauffälligkeit der „kleinen Mutationen“ ließ erwarten, dass sie mit größerer Häufigkeit auftraten, als bislang angenommen worden war, häufiger vielleicht, als alle anderen Mutationen.114 Die kleinen und physiologischen Mutationen waren die ‚Späher’ der mendelschen Genetik im Reich der Physiologie. In der „Lebenseignung“ fiel das Neue, mit dem die mendelsche Genetik nun umging, zusammen: variable, multiple, physiologische Wirkungen. Diese neuen Attribute der mendelschen Faktoren konnten in unterschiedlicher Form in genetische und medizinische Forschungskontexte eingespannt zu werden. Die Lebenseignung als konkreter und exemplifizierender Gegenstand der Variabilität war ein mehrfach aufgeladenes Sujet mit fließenden Grenzen. Forschungs- und 109 Vgl. Timoféeff-Ressovsky 1935b: 98-99. – Baur allerdings ging 1930 in seiner „Einführung in die Vererbungslehre“ noch davon aus, dass die kleinen Mutationen wesentlich nicht pathologischer Art sind und wahrscheinlich das Material bereitstellen, „mit dem im Evolutionsprozess die natürliche Zuchtwahl arbeitet“ (vgl. Baur 1930b: 323-24). 110 Vgl. Nachtsheim 1922f; Vogt & Vogt 1930: 558. 111 Hertwig 1932b: 661 112 Kühn 1935b: 43; vgl. auch Kühn 1935a: 75. 113 Kühn 1934: 218 114 Vgl. Stubbe 1935b: 86; Kühn 1934: 221; Timoféeff-Ressovsky 1934a: 164. Durch die Forschungen an Drosophila wusste man seit Anfang der zwanziger Jahre, dass neben den auffäl- 186 politische Interessen ließen sich über dieses Gelenk ineinander übersetzen. Die Vitalität trat in diesem Sinne als Teil der ‚neuen’ Breitenwirksamkeit der Mutationen und der Mutationsforschung auf, durch die verschiedenste wissenschaftliche Disziplinen mit einander verbunden wurden.115 Bisher „getrennte Forschungsgebiete, wie Genetik, Entwicklungsphysiologie, Biogeographie und Feinsystematik“ seien schon in engere Verbindung gebracht worden.116 Zugleich gewinne „die reiner Erkenntnis zustrebende Genetik auch neue, enge Beziehungen zum praktischen Leben: Züchtungskunde, medizinische Konstitutionsforschung, Vererbungspathologie und Rassenhygiene nehmen an den Fragen der Genwirkung und der Genveränderung gleichermaßen Anteil“.117 Auf einige dieser Verbindungen und Kontexte soll wegen ihrer Relevanz kurz aufmerksam gemacht werden, bevor die Versuchstierzucht und die Forschung zu variablen, physiologischen Merkmalen wieder unser Augenmerk erlangt. Auf dem Zusammentreffen der Röntgenkommission wurden die Mutationswirkung, die Lebenseignung und das eugenische Strahlenproblem verkoppelt. Die Enthüllung Kühns über die pleiotrope und subtile vitalitätssenkende Wirkung der Strahlenmutationen – als „’Modellversuche’ an Insekten“ verstanden – ließen aufhorchen, da sie „für die Experimente an Säugetieren wichtige Hinweise” gäben.118 Der Gynäkologe Heinrich Martius, ebenfalls Kommissionsmitglied, griff den Hinweis Kühns sogleich auf, um die warnende Position vor der Wirkung der Röntgenstrahlen zu stärken; denn seine Vermutung war schon lange, dass bei der ganzen Frage zu wenig auf eine „mangelhafte Vitalität und eine etwaige spätere Unfruchtbarkeit der Röntgenkinder“ geachtet wurde.119 Die Befürworter der Anwendung von Röntgenstrahlen hatten aus langen Listen klinischer Beobachtungen sorgfältig eine praktische Evidenz gegen die Möglichkeit der Erbschädigung aufgemauert. Diese Mauer zerbröselte, da auch mit Erbschädigungen zu rechnen war, „wenn eine grobe Anomalie gar nicht erscheint“.120 Die üblichen klinischen Untersuchungen waren demnach ungeeignet, die feinen physiologischen Veränderungen überhaupt wahrzunehmen. Die Vitalität und ihre Veränderung in kleinen Abstufungen taugten dazu, die eugenische Bedeutung der Frage um die erbschädigende Wirkung der Röntgenstrahlen zu dramatisieren. Zugleich bekam die theoretische Grundlegung der Eugenik neuen Zündstoff, da ein neuer, flexibler Gegner auftauchte: kleine Mutationen, die sich kaum wahrnehmbar im Volk vermehren und zu einer zunehmenden erblichen Degeneration führen.121 Ganz in diese Richtung warnte ligen Veränderungen kleine morphologische Merkmalsabweichungen in allen Abstufungen vorkamen, und die „kleinen“ Mutationen schienen häufiger zu sein als die „großen“ (ebd.: 163). 115 Hierzu und zur Bedeutung der Mutationsforschung, siehe 2.2.2. 116 Kühn 1934: 227 117 Kühn 1934: 218 118 o.D., (vermutl. Kühn): „Entwurf [...]“ (BA Ko, R 73, 12475: Seite 9-10 v. 12) (s. Anm. 70) 119 Martius 1931: 52 120 Martius 1934: 789 121 Roth spricht von dieser spezifischen Tendenz der mendelschen Genetik in der Anwendung auf die Eugenik als „Neo-Eugenik“ (vgl. Roth 1986: 34 u. 39). – Auch außerhalb Deutschlands wurde die Argumentation auf diese Weise geführt. H. J. Muller hob hervor, dass „the fact of a genetic effect of radiation and its danger to man” den „medical man“ interessieren sollte. Die Forschung sollte sich auf die Frequenz der kleinen, ‚unsichtbaren’ Mutationen konzentrieren, 187 Timoféeff-Ressovsky auf der erwähnten Kommissionssitzung, dass vom „rassenhygienischen Standpunkt“ die kleinen, vitalitätssenkenden Mutationen besonders unerwünscht seien, da sie eine erbliche Konstitutionsschwäche hervorriefen, „die zu gering ist, um durch raschen Tod sich selbst von der weiteren Vermehrung auszuschließen und keine groben und deutlichen pathologischen Merkmale zeigen, an denen man sie leicht erkennen könnte“.122 Die neuen Vererbungsbegriffe ließen sich auch auf die Grundlagen der Medizin durchdeklinieren; denn gerade die „krankhaften Merkmale“ des Menschen galten als sehr variabel.123 Die menschliche Erbforschung werde, so Timoféeff, in Zukunft bei Beachtung der variablen Genmanifestierung viel Aufschluss über den Einfluss der „erblichen Gesamtkonstitution“ auf die Manifestierung einzelner Erbkrankheiten liefern und so zu einer wesentlichen Vertiefung der Ätiologie der Erbkrankheiten führen. So sei die Suche nach „pleiotroper Manifestierung krankhafter Erbfaktoren“ von größter Bedeutung für die Suche nach Frühsymptomen sich spät im individuellen Leben manifestierender Krankheiten und der Suche nach Nebensymptomen, um ähnliche Krankheitsbilder weiter zur trennen und „ätiologisch richtig“ zu klassifizieren.124 „Die Kenntnis aller Faktoren, die die Variabilität der Erbkrankheiten beeinflussen, ist auch eine Vorbedingung für eine zukünftige Therapie dieser Krankheiten, die noch sehr lange neben rassenhygienischen Maßnahmen, die zur Ausrottung der Erbleiden allmählich führen sollen, notwendig sein wird.“125 Auch in bezug auf die Evolutionslehre standen die „kleinen“, physiologischen Mutationen im Rampenlicht. Anfang der dreißiger Jahre stellte sich die Frage, welcher Form der Variabilität die größere Bedeutung im Evolutionsprozess zukam: der Neukombination schon vorhandener Erbanlagen oder der Mutation. Mit den „Kleinmutationen“ schien ein Quell für „immer neues Auslesematerial“ aufgetan.126 Timoféeff-Ressovsky knüpfte die „Kleinmutationen“ ohne Umschweife an die Artbildung. Auf der Tagung der Vererbungswissenschaftler 1938 in Würzburg stellte er Makro- und Mikroevolution gegenüber und vertrat die Auffassung, dass auch die Makroevolution durch kleine Mutationen erklärbar und deshalb mit Mitteln der experimentellen Genetik analysierbar sei.127 Spezielle Versuchsreihen zur Vitalität hätten beispielsweise gezeigt, dass auch solche Gene, die anscheinend nur neutrale, an sich belanglose Merkmale hervorriefen, der Selektion unterliegen mussten, da sie in pleiotroper Weise auf die Vitalität des Organismus einwirkten.128 „Somit liegt es also nahe anzunehmen, daß diese besonders häufigen, ‚kleinen physiologischen Mutationen’ von der die die „viability“ senken (vgl. 22.4.1934, Muller an Stubbe, BBAdW, Stubbe-Fonds; siehe auch Seite 95. Muller hielt sich um 1930 für einige Zeit in Deutschland auf. 122 Timoféeff-Ressovsky in o.D., [Kühn]: „Entwurf [...]“ (BA Ko, R 73, 12475: Seite 5 v. 12) (s. Anm. 43) Oder ähnlicher Lautwort in: Timoféeff-Ressovsky 1934a: 175. 123 Vgl. Timoféeff-Ressovsky 1935b: 113. 124 Timoféeff-Ressovsky 1935b: 113-14. Siehe zum Programm einer genetischen Ätiologie: 2.2.3 u. Seite 276. 125 Timoféeff-Ressovsky 1935b: 114 126 Stubbe 1935b: 86 127 Vgl. Jahn 1990: 467. 128 Vgl. Timoféeff-Ressovsky 1934d: 341. 188 natürlichen Auslese als Material für die Bildung von Ökotypen und Anpassungseigenschaften benutzt werden“.129 4.2.3.2 Experimentelle Entwicklungsphysiologie und „gute Merkmale“ Der kurze Rundblick im Umfeld der Strahlenkommission brachte eine Reihe Probleme und Fragestellungen zutage, die sich an die variable Genmanifestierung, die physiologischen Mutationen und das variable und statistische Merkmal der Vitalität knüpften. Der für die Versuchstierzuchten in Göttingen zentrale Kontext wurde allerdings noch nicht erwähnt. Die Genetik war auf dem Sprung, die Transmissionsgenetik in Richtung einer „entwicklungsphysiologischen Genetik“ hinter sich zu lassen.130 Die Frage, die sich einer Physiologie der Genexpression vor dem Hintergrund der multiplen Bedingung der Merkmale stellte, war nicht mehr einfach, wie Gene Merkmale bewirken, sondern, wie „die Erbfaktoren zur Erzeugung der Konstitution des Einzelwesens“ zusammenwirken.131 Als Kühn die Vorgehensweise der entwicklungsphysiologischen Forschung beschrieb, verschwieg er die entscheidende Neuerung, durch die sich das neue Experimentalsystem vom alten mendelgenetischen unterschied. „Wie die einzelnen Erbanlagen in die Entwicklungsabläufe eingreifen, läßt sich nur dadurch ermitteln, daß bestimmte Anlagen durch andere ersetzt werden, während der übrige Anlagenbestand gleich bleibt. Dies geschieht entweder durch Einkreuzung oder durch Abänderung von Erbanlagen. Solche ‚Genmutationen’ treten ohne erkennbare Ursache ‚spontan’ auf und können durch Außeneinflüsse, vor allem Röntgenstrahlen, in ihrer Häufigkeit sehr gesteigert werden. Dadurch wird der entwicklungsphysiologischen Erbforschung ein wichtiges Hilfsmittel geboten.“132 So weit konnte es sich noch um ein konventionelles experimentelles Arrangement handeln. Bei der Analyse der Erblichkeit und der Modi der Vererbung wurden aber klar voneinander abgrenzbare Merkmale bevorzugt. Demzufolge waren in den transmissionsgenetischen Experimenten „gute“ und „schlechte“ Mutationen unterschieden worden. Diese Einteilung drehte sich nun unter dem genphysiologischen Interesse um. „In der experimentellen Genetik werden für Versuche über Erbgang, Lokalisation der Gene und andere Studien über den Mechanismus der Vererbung meistens nur die sogenannten ‚guten’, also deutlich und konstant sich manifestierenden Mutationen benutzt. Diejenigen dagegen, die schwer faßbare, variable Merkmale erzeugen und sich ‚schlecht’ manifestieren, werden sehr oft nicht weitergeführt und in der Arbeit 129 Timoféeff-Ressovsky 1934a: 176 – Timoféeff-Ressovsky vertrat die Auffassung, dass der Selektionswert der subtilen Unterschiede in der Lebenseignung relativ ist. Der Wert einer ‚Vitalitäts-Mutation’ hing vom genotypischen Milieu ab. T. zeigte, dass dieselbe Mutation abhängig von der Umgebungstemperatur ganz verschiedene Überlebensvorteile bedingte (vgl. Stubbe 1935b: 89). – Kühn betonte in gleicher Weise die Bedeutung der Vitalitätsmutationen und der experimentellen Genetik. Durch die geeignete Kombination physiologischer Mutationen könnten „Kombinationsrassen“ entstehen, deren Lebenseignung größer ist, als die der Ausgangsrassen. Experimentell-genetische Modellversuche zur Art- und Rassenprägung wären möglich (vgl. 3.9.1940, Kühn an DFG, in: BA Ko, R 73, 11227). 130 Kühn formulierte die „genetische Entwicklungsphysiologie“ als Forschungsprogramm (vgl. Rheinberger 2001: 542-44; Harwood 1993: 49ff. u. 229ff.). 131 Kühn 1935b: 39 132 Kühn 1936: 617 189 nicht berücksichtigt. [...] Die ‚schlechten’, variabel sich manifestierenden Mutationen sind für die Studie über den Mechanismus des Erbganges unbequem, für phänogenetische Zwecke bilden sie aber das interessanteste Material.“133 „Kleine oder schwach und variabel sich manifestierende Mutationen“ (Timoféeff-Ressovsky) und die entwicklungsphysiologische Fragestellung verknüpften sich im Neuarrangieren des genetischen Experimentalsystems. Ein klares Determinationsverhältnis zwischen Erbanlage und Merkmal ist uninteressant, wenn man herausfinden will, was passiert, wenn sich eine Erbanlage in einem Merkmal manifestiert. „Um die Gesetze der Genverteilung und der Genlokalisation festzustellen, wählte man natürliche Fälle aus, in denen in ‚klassischer Weise’ ein bestimmtes, leicht feststellbares Merkmal möglichst für sich allein durch ein einziges Gen bestimmt wird. Heute sind uns die verwickelteren Fälle viel wichtiger, weil sie in die Frage des Wirkungsgetriebes der Gene hineinführen.“134 Die fugenlosen Beziehung zwischen der idealen mendelschen Erbanlage und dem von ihr determinierten Merkmal fehlte jeder Hinweis auf ein ‚Dazwischen’. Die variablen und undeterminierten Beziehungen zwischen Gen und Merkmal und die Kenntnis ihrer „Phänomenologie“ (Timoféeff) sollten hingegen einen Spalt öffnen. Sie waren die Bedingung für die Öffnung des entwicklungsphysiologischen Repräsentationsraums. Der erste wichtige Schritt war also, die mannigfaltigen, variablen Beziehungen zu extrahieren, zu notieren und zu klassifizieren, um sie kontrollieren und schließlich als Instrumente einzusetzen zu können. Die Unregelmäßigkeiten und Lücken im mendelschen Erbgeschehen sagten dem mendelschen Genetiker, dass es einiger Anstrengung bedürfen würde, den Phänotyp in mehrere Erbgänge aufzulösen. Anders der Entwicklungsbiologe: Die Unregelmäßigkeiten lenkten seine Aufmerksamkeit auf den Punkt, an dem die sonst so hermetisch und notwendig wirkende Reaktionskette vom Gen zum Merkmal aufgebrochen wurde: ‚Vielleicht gelingt es, experimentell die Ursache der Unregelmäßigkeit zu simulieren!’ Kühn versicherte, dass Einzelvorgänge der Entwicklung nur aufgespürt werden könnten, wenn der Experimentator in der Lage sei, durch manipulierende Einflüsse die die opake Verfugung herstellenden determinierenden oder determinierten Vorgänge auszuschalten oder zu ersetzen.135 Der experimentelle Eingriff ist der Beginn, den Entwicklungsvorgang einzukreisen und festzulegen, das heißt, ihn in ein eigenes experimentelles Korsett zu bringen. An Kühns Institut wurde in verschiedener Weise an der Entwicklung solcher Eingriffe gearbeitet. Kühn und seine Mitarbeiter kombinierten die Analyse der genetischen Variation mit der Charakterisierung physiologischer Prozesse und untersuchten die Variabilität der Pigmentierung bei verschiedenen Objekten.136 Entweder schuf der Experimentator die Bedingungen für eine abweichende 133 Timoféeff-Ressovsky 1935b: 101-02 – Die variablen Verhältnisse waren zum Beispiel ‚unbequem’, weil in ihnen Erbe und Umweltwirkung verschwammen: „Aufgabe des Züchters ist es, die für ihn brauchbaren Mutationen zu erfassen [...] Die Kleinmutationen sind auch deshalb so schwer zu erfassen, weil die Veränderungen sehr oft im Rahmen der milieubedingten Modifikationen liegen“ (Nachtsheim 1936d: 21). 134 Diskussionsbeitrag Kühns zit. in Timoféeff-Ressovsky 1935b: 117-18. 135 Vgl. Kühn 1935b: 46. 190 Entwicklung oder ihm kamen Mutationen ‚zur Hand’.137 Der kleine physiologische Eingriff der Mutation, die die Embryonalentwicklung an einem bestimmten Zeitpunkt störte, führte zu einer Irregularität in dem sonst durch seine Regelmäßigkeit opaken Ablauf. Das irreguläre Sterben war ein Signal aus einer – ehemaligen – Black Box, aus dem Inneren des Organismus. Die Irregularität war Differenz. Kühn war deshalb die Entdeckung von außerordentlicher Wichtigkeit, dass seine Mehlmottenmutanten, die zunächst nur als „rotäugig“ aufgefallen waren, auch eine veränderte Vitalität hatten. „By means of such statistically significant, but fairley unspecific pleiotropic effects, he hoped to get an experimental grasp on some features of the developmental physiology of the mutant, in the hope that this knowledge would be instrumental in his efforts to ‘integrate’ transmission genetic analysis and developmental physiology.”138 Jede Mutation, die die Überlebenserwartung der Fliegen senkte, repräsentierte ein physiologisches Geheimnis: ein Riss im undifferenzierten ‚Dazwischen’. „Eine genaue Untersuchung der Entwicklung des Baues und der Leistungen der auf bestimmten Entwicklungsstufen absterbenden Embryonen mit Letalgenen und auch der Träger von Genen, welche die Vitalität herabsetzen, verspricht Aufschlüsse über die Vorgänge, welche die betreffenden Gene in der Entwicklung bewirken.“139 Mutationen erzeugten auf einer fließenden Skala der Beeinflussung der Vitalität ‚natürliche’ Irregularitäten in der Entwicklung, indem sie auf die Natur der Entwicklung verwiesen; sie waren „Naturexperimente“ – wie es auch hieß. 4.2.3.3 Experimentelle Bestimmung der Vitalität und Vitalitätsforschung an Kühns Göttinger Institut Das Interesse an den verborgenen Mutationswirkungen hatte seinen Preis, da es neue und mühsamere Wege der Untersuchung erforderlich machte.140 „Welche Einzelvorgänge und Zustände die Gesamtkonstitution eines Lebewesens im Einzelvorgang von der Keimzelle an herstellen und seine Erhaltungs- und Leistungsfähigkeit in einer bestimmten Umwelt sichern, kann nur das Zusammenwirken genetischer und entwicklungsphysiologischer, leistungsphysiologischer und medizinischer Forschung ermitteln.“141 Der Preis dieser mühsamen Untersuchungen konnte aber auch ‚ko-finanziert’ werden: durch die Verschrän136 Vgl. Rheinberger 2001: 549, nach Harwood 1984 (zum Beispiel Kühn 1927, Henke 1924). Zum einen wurden systematisch Individuen mit veränderten Flügelmustern selektiert und die Varianten anschließend genetisch im Züchtungsversuch charakterisiert. Zum anderen wurde versucht, die genetisch determinierte Expression einfacher mendelscher Merkmale durch eine systematische Variation der experimentellen Wachstumsbedingungen (zum Beispiel Temperatur und Nahrung) zu beeinflussen (vgl. Rheinberger 2001: 544). Durch Hitzeeinwirkung auf entwickelnde Mehlmotten wurde die Musterbildung auf den Flügeln beeinflusst. Die Art der Beeinflussbarkeit, die Bestimmung von unterschiedlichen sensiblen Perioden für bestimmte Muster und Bildungsorte auf dem Flügel führte zur Annahme, dass die Ausbreitung des Flügelmusters durch die Diffusion eines Stoffes bedingt sein könnte. Kreuzungsversuche wiederum deuteten darauf hin, dass verschiedene Gene die einzelnen Modi dieser Ausbreitung beeinflussten (vgl. Kühn 1935b: 46). Die Temperaturmodifikation erwies sich also als eine Lücke in der Opazität, die Annahmen über die ‚Natur’ des Dazwischen erlaubte. 138 Rheinberger 2001: 545 139 Kühn 1935b: 48 140 Vgl. Hertwig 1932b: 662. 141 Kühn 1935b: 48 137 191 kung der Versuchstierzucht mit dem Experimentalsystem entwicklungsphysiologischer Frageansätze. Um die Lebenseignung zu untersuchen, musste sie erkannt und gemessen werden können. Die Vitalität bestimmte Kühn als Ausdruck für den biologischen Wert einer Mutation. Insofern konnte sie nur relativ zu einer bestimmten Umwelt und den Lebensaussichten gegenüber der Ausgangsrasse bestimmt werden. Die Lebensaussichten eines Individuums indes wurde durch zahlreiche Einzelleistungen bedingt: harmonische Entwicklung der Teile, Entwicklungsgeschwindigkeit, Widerstandsfähigkeit gegen Außeneinflüsse, Anpassungsfähigkeit an wechselnde Bedingungen, Fähigkeit, Nahrungsstoffe auszunutzen, und so weiter.142 Die Einzelleistungen ließen sich umwandeln in Kriterien und Prozeduren, um die Lebenseignung messbar und vergleichbar zu machen.143 Die operationale Bestimmung der Vitalität bedingte sogleich weitere Bestimmungen des Experimentalsystems. Zweckmäßig waren konstante Versuchsbedingungen und Versuchstiere von geringer Größe.144 Zweckmäßig war insbesondere, um auch feinste Unterschiede in den Überlebensraten zu erfassen, der Einsatz von großen Mengen an Versuchstieren – 200.000 Fruchtfliegen in einem Versuch – und ein homogenes „genotypisches Milieu“.145 Kühns Mitarbeiter und Leiter der Versuchstierzucht, Friedrich Kröning, berichtete auf jener Sitzung der Strahlenkommission in Göttingen über Strahlenexperimente an Meerschweinchen und die Vorversuche dazu, die gemeinsam mit der Göttinger Frauenklinik durchgeführt wurden.146 Der Gynäkologe Heinrich Martius war einer der engagiertesten – eugenischen – Kritiker der Verwendung von Röntgenstrahlen in der Gynäkologie. Bereits 1932 kam es zur Verabredung einer Zusammenarbeit.147 Martius und Kröning untersuchten die Nachkommen 142 Vgl. Kühn 1935a: 73. Kühn prüfte die Vitalität der rotäugigen Mottenvariante, indem er sie sich mit der Ausgangsrasse in einer Mischzucht entwickeln ließ und verglich, wie viel Prozent der Individuen der beiden Rassen fortpflanzungsfähig geworden waren (vgl. Kühn 1935b: 47). 144 Die operationalen Bestimmungen erfassten nicht nur die Wirkungen der interessanten Mutation. Schon die Zusammensetzung des Futters konnte die Konstitution verändern und damit die Vergleichbarkeit oder Wiederholbarkeit eines Experimentes zunichte machen (vgl. Kühn 1935a: 13). Deshalb mussten die Versuchstiere unter den gleichen konstanten Bedingungen gezüchtet werden, was nur in verhältnismäßig kleinen Räumen zu schaffen sei, weshalb sich kleine Versuchstiere anbieten (vgl. Kühn 1935a: 10). 145 Timoféeff-Ressovsky 1934a: 166. Der Veröffentlichung liegt der Vortrag zu Grunde, den T. auf der Kommissionssitzung in Göttingen hielt (vgl. auch die Wiedergabe des Vortrags durch Kühn in: o.D., [Kühn]: „Entwurf [...]“ (BA Ko, R 73, 12475: Seite 3-4 v. 12; s. Anm. 43). Timoféeff hatte Bestrahlungsexperimente an Drosophila und anschließende Kreuzungen so angelegt, dass Vitalitätsmutationen einem bestimmten Chromosom, dem X-Chromosom, zugeordnet werden konnten! Das setzte die Ausschaltung störender Einflüsse durch andere Gene voraus. Dies gelang, indem T. das spezielle Marker-Chromosom in einen „ingezüchteten, reinen, normalen Stamm“ hineinkreuzte. Zudem wurden einzelne Außenbedingungen verschärft. Die Fliegen wurden so bspw. in „stark übervölkerten“ Futtergläsern aufgezogen, damit „die evtl. auftretenden Vitalitätsunterschiede sich noch krasser zeigen“ (ebd.). 146 Der Vortragstitel lautete: „Biologische Konstanten bei den Göttinger Inzuchtmeerschweinchenstämmen und über Vorversuche über die Wirkung der Röntgenbestrahlung der Ovarien des Meerscheinchens auf den Brunfcyclus und auf die Nachkommenschaft“ (o.D., [Kühn]: „Entwurf [...]“, in: BA Ko, R 73, 12475: Seite 7-8 v. 12; s. Anm. 43). Ebenso vorgetragen vor der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaft und in den Nachrichten der Gesellschaft veröffentlicht (vgl. Kröning 1934a). 147 Vgl. 14.3.1932, Prof. Martius an Schmidt-Ott, unterz. Martius u. Kühn (BA Ko, R 73, 16079). 143 192 bestrahlter Meerschweinchen auf äußerliche Defekte und stellten ihre „Vitalität“ fest, indem sie die Überlebensraten und Fruchtbarkeit maßen.148 Besondere Aufmerksamkeit galt dem Auftreten überzähliger Zehen bei den Meerschweinchen. Die Überzehen galten zum einen als pathologisch, was sie für die Röntgenfrage relevant machte. Zum anderen schienen sie mit anderen – physiologischen – Mutationswirkungen zusammenzuhängen. Nicht zuletzt waren sie phänotypisch so auffällig, dass sie sich als „Marker“ für die verborgenen Vorgänge anboten.149 Das Forschungsinteresse am Zoologischen Institut und die Fragen der Röntgendebatte überschnitten sich, da das Vorkommen variabler Mutationswirkungen und schlecht feststellbarer Vitalitätsmutationen hochrelevant für die Frage der Röntgenschädigungen war.150 Neben dem Versuch, die Überzehenmutation als Teil eines multifaktoriell bedingten, variablen Merkmalskomplexes zu begreifen, untersuchte Kröning bereits seit 1928/29 die Vitalität der Meerschweinchenstämme. Stamm XXII, der Inzuchtstamm mit dem Überzehenmerkmal, gehörte zu den zwei Stämmen, deren Nachwuchs die geringste Überlebenswahrscheinlichkeit hatte.151 Auch die Resistenz gegenüber Tuberkulose schien bei den Meerschweinchen des „Überzehen-Stamms“ besonders gering und von der Manifestation der Überzehen abzuhängen.152 Die Überzehen standen damit zwischen allen Milieus der Forschung. Sie waren gut zu detektieren und Marker der Lebenskraft der Meerschweinchen. Kröning schwärmte, dass solche Erbfaktoren „größeres Interesse beanspruchen“ müssten, weil sie „sichtbare körperliche Merkmale determinieren, deren Wirkung außerdem aber an physiologischen zu erkennen sind“.153 Diese abrissartigen Hervorhebungen zeigen den permanenten Bezug auf Kriterien der Vitalität der Versuchstiere und die Fokussierung auf variable und physiologische Merkmale. Die Zielrichtung aber – die Interpretations- und Einbettungsmöglichkeit der Experimente – war multipler angelegt. Die multiple Aufhängung der Experimente, so meine These, erwuchs aus den spezifischen Bedingungen der Göttinger Institutssituation – mithin aus den Möglichkeiten, die aus der Einrichtung und den Erfordernissen der Versuchstierzucht entstanden. Leicht kann wegen der Involvierung des Instituts in die Röntgenkommission seit 1932 der Eindruck entstehen, dass sich alles um die Entstehung von Mutationen gruppierte. Tatsächlich aber waren die Untersuchungen zu variablen Merkmalen bereits Ende der zwanziger Jahre am Göttinger Institut begonnen worden. Friedrich Kolle hatte mit den 1929 initiierten Tuberkuloseprojekt den wesentlichen Anstoß dazu gegeben, die variablen Merkmale der Meerschwein148 1936 waren 129 Weibchen bestrahlt und 1.500 Nachkommen untersucht worden. Es seien auffällig mehr neue Merkmale aufgetreten. Eine abschließende Aussage über das Auftreten von Mutationen war aber nicht möglich. Die Versuche sollten fortgesetzt werden, doch es erschien keine weitere Veröffentlichung. (Vgl. Martius & Kröning 1936; Kröning 1936.) 149 Vgl. Martius & Kröning 1936: 1054; 4.12.1934, Kühn an Notgemeinschaft (BA Ko, R 73, 12475: Seite 4 v. 9). 150 Kröning hatte bereits 1929 damit begonnen, das Überzehenmerkmal zu beforschen – drei Jahre vor dem Beginn der Zusammenarbeit mit Martius (vgl. Kröning & Engelmann 1934: 112122). 151 Vgl. Kröning 1934b: 46. 152 Vgl. Küster & Kröning 1938: 59-60. 193 chen ins Zentrum der Säugetierversuche zu stellen: „Art und Rasse, Milieu (= Lebensführung), Alter, Geschlecht, Alter der Eltern, Geburtenfolge“ wurden auf ihren Einfluss auf die Resistenz untersucht.154 Die Tuberkuloseresistenz bewegte sich im Reich der schlecht zu fassenden – physiologischen und variablen – Merkmale und war eine Eigenschaft, die die Lebenseignung eines Lebewesens beeinflusste. Die Unterscheidung zwischen bloß äußerlichen und kontingenten Merkmalen und den inneren und lebensbegründenden war überholt. Die pathologischen Merkmale und die vitalen Abweichungen bildeten einen Raum der Differenz, der durch Koppelung an äußere Merkmale experimentell ohne großen Detektionsaufwand zugänglich wurde. Die Ressourcen der Versuchstierzucht, um die es sogleich gehen wird, waren die ideale materielle Voraussetzung zur Realisierung dieses Raumes. Es sei aber zuvor angemerkt, dass der Ausbau des experimentellen Systems aus Versuchstierzuchtanlage, mendelscher Zuchtmethoden und Merkmalsscreening nicht half, die Phänomenologie der Genmanifestierung zu überschreiten. Mit den ‚phänomenologischen’ Differenzierungen konnte keine Differenzierung experimentell ins Innere des Körpers der Versuchsobjekte getragen werden. Was Rheinberger über Kühns Experimente an Insekten schreibt, trifft auch auf die Situation der Säugetierabteilung zu: „The wing experiments of the preceding years had ‚disappointed’ Kühn, at least‚ ‚in some respects,’ especially because the underlying physiology remained a black box. [...] Neither did the observed correlation between eye pigment reduction, viability and the length of the breeding cycle lend itself as an experimental tool to expose the secrets of the connection between gene action, development and physiology.”155 Kühn verließ schließlich nicht nur Göttingen, sondern ließ auch den experimentellen Ansatz, über variable Merkmale in die Physiologie der Entwicklung einzudringen, hinter sich.156 Der vitalitätssenkende Nebeneffekt mancher Mutationen bei der Mehlmotte Ephestia trat hinter der Pigmentierung von Augen und inneren Organen, einfachen mendelschen Merkmal, zurück. Es gelang Kühn und einigen seiner Doktoranden, die Pigmentausprägung als ein enzymatisches Wirksystem darzustellen – der Beginn der biochemischen Genetik.157 153 Küster & Kröning 1938: 61 Küster & Kröning 1938: 38 155 Rheinberger 2001: 545 156 Bis dahin stand für Kühn und seine Mitarbeiter der pleiotrope Effekt der rotäugigen Ephestiamutante auf die Entwicklungsdauer der Mutanten im Vordergrund. Es wurde zum Beispiel die kombinatorische Wirkung der Augenfarbenmutation mit einer anderen sich äußerlich manifestierenden und die Widerstandsfähigkeit senkenden Mutation (Schwarzschuppigkeit) untersucht (vgl. Kühn & Henke 1930). Dass der pleiotrope Effekt auch die Pigmentierung von inneren Organen betraf, eröffnete die Möglichkeit von Transplantationsexperimenten (Siehe Fußn. 157). 157 Vgl. Rheinberger 2001: 562. – Der entscheidende Schritt war die Überschreitung des experimentellen Systems aus mendelscher In- und Kreuzungszucht sowie differenzieller und quantitativer Merkmalsanalyse durch die Einbindung einer entwicklungsbiologischen Methode. Die Einführung von Transplantationsexperimenten leistete eine Binnendifferenzierung im sich entwickelnden Organismus, die den Schluss erlaubte, dass ein Gen über das Sezernieren eines humoralen Stoffs in einer Reaktionskette auch über weite Distanzen auf die Ausprägung des phänotypischen Merkmals einwirkt. Die ‚Vitalitätsstoffe’ jedoch und die Stoffe, die das Milieu der Merkmalsausprägung darstellten und seine Variabilität bedingten, blieben im physiologischen „Wirkgetriebe“ (Kühn) verborgen. (Vgl. Rheinberger 2001: 549.) Die Aufklärung der biochemischen Abläufe durch die Arbeiten am Kühnschen Institut – dann KWI für Biologie – in Zusam154 194 4.3 Varianten generieren: die differenzielle Verwendung der Züchtungsanlage reiner Tierstämme (vom Experimentalsystem zum Konzept) 158 „’Nature’ is harsh, answering the questions put and only those [...].“ Nachdem systematisch von den Ansätzen einer integrierten Gentheorie, beginnend mit den Konzepten und ‚hinunter’ zu den Experimentalsystemen am Rande der Tierversuchsanstalt erzählt wurde, soll nun – gerade entgegengesetzt – das Einwirken der Versuchstierzuchten auf die Konzeptbildungen thematisiert werden. Die Versuchstierzucht im Auftrag der Notgemeinschaft verband sich fast auf ‚natürliche’ Weise mit dem Forschungsinteresse am Göttinger Institut. Die Versuchstierzuchten erweiterten den Möglichkeitsraum der Experimente am Institut genau in dem Moment, als am Göttinger Zoologischen Institut nach experimentellen Ansätzen für eine genetische Entwicklungsphysiologie gesucht wurden.159 Der Versuchstierzucht fiel in diesem Moment eine Rolle zu, für die sie gar nicht vorgesehen war. Die massenhafte Aufzucht von Versuchstieren und ihre professionelle Erfassung produzierte – trotz des entgegengesetzten Auftrag oder gerade – beständig Inhomogenität.160 Die Zuchtanstalt erwies sich als eine Einrichtung zur Generation von Mutanten, Merkmalsvarianten, Abweichungen, Differenzen. Ihr Angebot an die Göttinger Säugetiergenetik war, den Merkmalsraum der kleinen, physiologischen und variablen Varianten zu öffnen. 4.3.1 Der Mangel an „schlechten“ Merkmalen und seine Behebung in den Versuchstierzuchtanstalten Die Handhabung der unter der Maßgabe entwicklungsphysiologischer Fragestellungen interessanten Merkmale war problematisch. Je gefügiger ein solcher flüchtiger Beobachtungsgegenstand, wie Flügelmuster oder Entwicklungsgeschwindigkeit, dem Milieu gegenüber war, desto geringer war der Aussagewert eines einzelnen Falls. Deshalb waren große Versuchsserien erforderlich.161 Die Flüchtigkeit machte auch die Beobachtung schwer. Kühn empfahl deshalb, den pleiotropen Effekt der Mutationen zur Detektion auszunutzen. „Zahlreiche Erbfaktoren haben also offenbar Einfluß auf die Entwicklungsgeschwindigkeit. Ihre Wirkung ist aber nur dann im Erbgang zu erfassen, wenn sie auch ein phänotypisch am Einzelindividuum erkennbares Merkmal, wie Geschlecht, Schwarzmenarbeit mit dem Biochemiker Adolf Butenandt wurden nach Deutschlands Kriegsbeginn international nicht mehr wahrgenommen. In den USA bauten hingegen Beadle und Tatum an einem neuen Versuchsobjekt, dem Schimmelpilz Neurospora, die Analyse des Gen-Enzym-Zusammenhangs aus. Von dort konnte sich die molekulare Genetik weiterentwickeln. (Vgl. zum Beispiel Morange 1998: chapter 2.) 158 Der englische experimentelle Epidemiologe Greenwood Amsterdamska 2001: 167. 159 Zur Lage der Entwicklungsphysiologie, vgl. Rheinberger 2001: 544. 160 Dieser Effekt, der in Göttingen auf Grund der noch beschränkten Tieranzahl effektiv nicht zum Tragen kam, stellte sich aber ab den fünfziger Jahre am Jackson Memorial Laboratory ein, das im Jahr bis zu einer Million Mäuse verkaufte (vgl. Gaudillière 2001a: 190-91). 161 Um den Einfluss der Temperatur auf die Expression des Flügelmusters zu untersuchen, zog Kühn 100.000 Mehlmotten in speziellen Massenkulturen auf (vgl. Rheinberger 2001: 542). 195 schuppigkeit oder Rotäugigkeit, gleichzeitig bedingen.“162 Und schließlich waren variable Merkmale noch nicht ‚domestiziert’. Auf „schlechte“ Mutationen wurde nicht nur nicht geachtet, sie wurden auch nicht „mitgeführt“ (Timoféeff-Ressovsky). In der Säugetiergenetik waren mutative Varianten Mangelware. Nachtsheim pflegte, um diesen Mangel auszugleichen, seine Beziehungen zur landwirtschaftlichen Tierzucht, ähnlich wie amerikanische Genetiker, in deren Augen die Myriaden von Tierställen und -verschlägen ein unendliches Reservoir an Varianten darstellte.163 Diesen Schatz zu heben, war aber nur bedingt von Nutzen, da die Tierzüchter, zumal gerade die Hobby- und Sportzüchter allerlei modische Lebensformen ansammelten und das für die Forschung Interessante eliminierten.164 Die Züchter konnten die versteckten und nicht besonders auffälligen Varianten, die die Genetiker jetzt zu interessieren begannen, gar nicht erfassen. Ihnen fehlte für genauere Untersuchungen die nötige Kompetenz. Sie verfügten weder über die Instrumente noch über eine Ausbildung, um standardmäßige und feine Messungen durchzuführen, und: ihnen fehlte auch das Wissen, „gute“ Formen von „schlechten“ zu unterscheiden. Kühn fasste die Erfahrungen, die die Wissenschaft mit den privaten Züchtern gemacht hatte, und die Misere der experimentellen Genetik zusammen: „Die bisher in den Versuchstierzuchten der Kleintierzüchter aufgetretenen erblichen Missbildungen sind bis jetzt fast immer verloren gegangen, teils weil sie von dem nicht sachkundigen Züchtern nicht erkannt wurden, teils weil sie beseitigt wurden, da sie als krankhaft und die Zucht verschlechternd höchst unerwünscht erschienen. Da sie aber für die Erbpathologie besonders wertvoll sind, ist anzustreben, dass alle solche gelegentlich auftretenden Tiere der wissenschaftlichen Züchtungsanstalt zugehen. Diese ist in der Lage zu beurteilen, ob sich die Fortzucht einer Erbabweichung lohnt oder nicht.”165 Es sei ein besseres Verfahren, so riet Kühn, dem „Material”, das die Natur dem indolenten und inkompetenten Züchter bescherte, die wissenschaftliche Expertise angedeihen zu lassen. Der Ort dafür war die sachkundig geführte Versuchstierzuchtanstalt. Die Bewahrung der ‚richtigen’ Merkmale setzte auch eine darauf ausgelegte Laborkultur voraus. Die Sammlung von Hunderten Mutationen von Drosophila war nicht dem Eifer vieler Drosophilagenetiker geschuldet, die in Feld, Flur und Küche Fallen aufgestellt und allabendlich ihre Funde ins Labor getragen hatten. Drosophila war zu einem Labortier geworden, und erst das Labor machte die Varianten möglich. Der Inaugurator der Drosophilagenetik, Thomas H. Morgan, 162 Kühn & Henke 1930: 211 Vgl. Rader 1998: 339. 1925 waren nur 19 verschiedene Mausmutanten bekannt (und in wissenschaftlichen Zuchten ‚konserviert’). 164 Vgl. Nachtsheim 1937e: 463. – Der Medizin wiederum war zu verdanken, dass der Mensch „neben vielen Nachteilen, als Objekt, auch einen großen Vorteil“ habe: „kein einziger anderer Organismus ist morphophysiologisch, bis in die feinsten Details, so gründlich durchforscht, wie der Mensch“. Die menschliche Erbpathologie könne deshalb „bei richtiger Fragestellung und Arbeitsmethodik“ noch sehr viel Wichtiges für die genetische Entwicklungsphysiologie leisten. (Vgl. Timoféeff-Ressovsky 1935b: 114.) 165 o.D., Kühn: „Zoologisches Institut der Universität Göttingen“ [Über den Ausbau der Einrichtungen für die Zucht reiner Versuchstierstämme] (BA Ko, R 73, 12475: Seite 4 v. 5) 163 196 schilderte die Beziehung zwischen den Fruchtfliegen und dem Labor folgendermaßen: „The great majority of mutant types of Drosophila that appeared could never establish themselves outside the laboratory under present conditions. [...] It is only under the favourable conditions of confinement, and the absence even there of competition, that these mutants can perpetuate themselves.“166 Was nicht im technischen Kosmos der Laborkultur bewahrt wurde, existierte nicht, so kann die Episteme der Mutationsmerkmale zugespitzt werden. Drei Aspekte spielten zusammen, dass auch die Brandenburger und Göttinger Versuchstierzuchten zu einem geeigneten Mittel wurde, erbliche Varianten zur Existenz zu bringen und sie in das experimentelle Arrangement der Genetik einzubringen. Zum einen war dies, wie bereits angeklungen, die Sachkundigkeit des Personals, des Weiteren die Massenzucht und schließlich die Anbindung und Einbettung der Tierzucht in einen speziellen Forschungszusammenhang. Professionalisierung – Schon die Zuchten in den Laboren unterschieden sich von den landwirtschaftlichen oder Hobbyzuchten dadurch, dass auf spezielle Merkmale geachtet werden konnte. Für die Versuchstierzuchtanlagen war aber eine Infrastruktur angestrebt, die die Möglichkeiten der Detektion von Merkmalsvarianten erheblich steigerte. Während für die „reine Vermehrungsanstalt“ (Kühn) Plauerhof lediglich ein Zuchtleiter abgestellt war, wurden die Zuchtarbeiten in der „genetischen Versuchstier-Zuchtanstalt“ in Göttingen von einem ganzen Team begleitet.167 Kühn machte unmissverständlich deutlich, dass nur die speziellen genetischen Züchtungsanstalten diese Arbeit bewältigen konnten. Die wesentlichen konstitutionellen Merkmale könnten nur erfasst werden, wenn die Inzuchtstämme dauernd messend kontrolliert würden. Die Kontrolle mancher Eigenschaften erfordere die Durchführung medizinisch-physiologischer Experimente. „Hierfür ist die Zusammenarbeit der Züchtungsanstalt mit physiologischen, klinischen und anderen medizinischen Instituten notwendig. Auch besondere Fragen, wie etwa der Erblichkeit einer bestimmten Disposition für eine Erkrankung werden in Gemeinschaft mit bestimmten medizinischen Anstalten in Angriff genommen.“168 Die Tiervarianten sollten je von den entsprechenden Experten des Gebiets, in das eine Abweichung fallen konnte, selektiert werden. Entsprechend dieser Forderung unterhielt Göttingen verschiedene Verbindungen zu medizinischen Institutionen.169 Anschließend konnten die aufgefunden Abweichungen 166 Morgan 1924: 396; zu Drosophila als „first true breeder reactor” und der Schwierigkeit, die Varianten experimentell zu kontrollieren, siehe auch Kohler 1994: 47 (46-48) u. 73. Siehe auch Seite 94, Fußn. 112. 167 Mit Friedrich Kröning war ein Genetiker mit der Leitung der Zuchten betraut. Ihm assistierten zwei voll ausgebildete technische Assistentinnen, eine nicht voll ausgebildete technische Ass., ein Tierpfleger und verschiedene Hilfskräfte. Es ist darauf hingewiesen worden, dass der Rolle der Angestellten ‚im Hintergrund’ in der Historiographie der Wissenschaften zu wenig Beachtung geschenkt worden ist. So war es eine Mitarbeiterin Kühns, die in den Mehlmottenzuchten eine Mutante fand, ein „Ausnahmetier“ (Kühn), das bald im Zentrum Kühns Experimentalsystems stand (vgl. Kühn & Henke 1930: 204). – Kühn wusste um die Kompetenzen seiner Mitarbeiter für die Auffindung neuer Mutationen und setzte Prämien für die Auffindung von Ephestiamutanten aus (vgl. Rheinberger 2001: 545). 168 o.D., Kühn: „Zoologisches Institut...“ (BA Ko, R 73, 12475: Seite 3 v. 5) (s. Anm. 165) 169 Kooperationen bestanden mit dem Inst. für experimentelle Therapie in Frankfurt (serologische und immunologische Untersuchungen aller Art), mit der Göttinger Frauenklinik (klinische, 197 und Varianten in der Tierzuchtanstalt auf die Eignung für die „medizinisch-biologischen Arbeitsziele” geprüft und für die Massenzucht vorbereitet, das heißt, durch die genetischen Reinzucht-Experten aus einer einzelnen schwachen Abweichung ein Stamm geformt werden.170 Das Detektions-, Selektions- und Zuchtsystem konnte zwar nicht in der Weise ausgebaut und örtlich konzentriert werden, wie es Kühn vor Augen geschwebt hatte; doch das Prinzip einer integrierten Struktur zur Versuchstierzucht war entwickelt. Es bestand in einer gleichzeitigen Ausdehnung und Einbeziehung von Kompetenzen. Arbeitsschritte, die zuvor unabhängig voneinander stattfanden, wurden miteinander verschaltet und in einem Ort konzentriert. Hinzugefügte, aber ausgelagerte Kompetenzen blieben in einer geplanten Abfolge von Arbeitsschritten integriert. Ein solches System arbeitsteiliger Kompetenz, als das es in Kühns Modell der „Zuchtanstalt” gedacht und teilweise verwirklicht war, hatte die Potenz, auch die zartesten Abweichungen als „genetische Varianten“ aufzufinden, zu klassifizieren und der Forschung verfügbar zu machen. Massenzucht – Die leichte Züchtbarkeit der Fruchtfliege Drosophila machte sie zu dem richtigen Werkzeug für bestimmte genetische Fragestellungen.171 Die Fähigkeit, ohne Probleme in Massen gezüchtet werden zu können, machte Drosophila und ähnliche Spezies auch interessant für die Gemeinschaftsarbeiten über die erbschädigende Wirkung von Röntgenstrahlen. Die Fragen spitzten sich darauf zu, ob auch noch kleinste Strahlendosen Mutationen bewirken konnten. Kühn gab als Vorteil der Mehlmotte in seinen Untersuchungen „Über Mutationsauslösung und Mutationswirkungen an Insekten als ‚Modellversuchstieren’” an, dass sie in großer Zahl in rasch aufeinander folgenden Generationen zu züchten waren.172 Die große Zahl machte es möglich, die statistische Beweisführung über den Zusammenhang zur Bestrahlung und das heißt das Detektionsniveau für Mutationen zu steigern. Dieser Logik folgten die Strahlenexperimente, die mit Säugetieren durchgeführt werden sollten. Das Berliner Institut für Vererbungsforschung und die Versuchstieranstalt in Göttingen wurden bestimmt, mit solchen Experimente an kleinen Versuchstieren zu beginnen.173 Paula Hertwig war damit beschäftigt, die histologische und zytologische Untersuchungen), zu dem Physiologischen Inst. von Emil Abderhalden (biochemische Physiologe, neueste Methoden der Protein- und Kolloidchemie, insbesondere die Abwehrfermentmethode). 170 Auch diese Zuchtarbeit setzte spezielles Fachwissen voraus (siehe auch 3.3.1). Zum Beispiel musste, wenn sich die Abweichung zu schwach und variabel manifestierte, ein genetisches Milieu gefunden werden, dass sie gegenüber ihrer Umgebung und für die Detektionsmethoden diskreter und konturierter werden ließ. Dann musste die Abweichung aber auch in möglich homogenes Milieu eingebettet werden, um die Gleichförmigkeit des Merkmals maximal zu erhöhen. – Ein mikrohistoriographischer Blick auf die konkrete und situierte Arbeit, um eine bestimmte, diffuse Abweichung als ein forschungstaugliches Merkmal verwirklichen, könnte die Betrachtung der ‚Generierung’ von Merkmalsvarianten noch zuspitzen, inwieweit die Gegenstände der Forschung – die Merkmale, Mutationen, reingezüchteten Symptome – durch die differenzielle Arbeit in den und mit den experimentellen Systemen hervorgebracht wurden in dem Sinn, dass sie keine einfache Repräsentation eines natürlichen Gegenstandes darstellen. 171 Vgl. Kohler 1994: 46-48. 172 Vgl. 4.12.1934, Kühn an die Notgemeinschaft (BA Ko, R 73, 12475: Seite 5 v. 9). 173 Vgl. Martius 1934: 790. 198 Wirkung von niederen Strahlendosen zu erforschen. Sie arbeitete einen Versuchsplan aus, der so konzipiert war, dass sie unter der Annahme einer bestimmten Mutationsrate 99 Prozent der Mutationen erfassen müsste. Das Ergebnis war, dass das Experiment zwischen 50.000 und 80.000 Mäuse umfassen musste.174 Auch Nachtsheim rechnete mit großen Zahlen, um Mutationen aufzuspüren. Er selbst könne nur 1.200 bis 1.500 Kaninchen im Jahr züchten, in ganz Deutschland würden aber jährlich mindestens 60 Millionen Kaninchen geboren. Nachtsheim setzte weiter auf das gut organisierte Vereinswesen der deutschen Kaninchenzüchter und startete Aufrufe in den Verbandsblättern.175 Das Kalkül ging auf, denn in drei Jahren hatte er 20 „mutativ entstandene und herausspaltende Erbleiden“ nachweisen können.176 Ein solches Massenscreening, das Nachtsheim privat organisierte, war der Vorteil, den auch die Versuchstierzuchtanstalten boten. Die Sensitivität der Massenzucht für seltene Mutationen, die als Indikator für die Wirkmächtigkeit der Röntgenstrahlen benutzt wurde, konnte ebenso dazu dienen, das Variantenspektrum der Versuchstiere zu erweitern.177 Was bislang für die Säugetiergenetik als Ausnahme, Anomalie oder nur anekdotenhafter Bericht einer singulären Beobachtung ohne Zeugen existierte, konnte nun zu Präsenz gelangen. Einbindung in den Kontext von Forschung – Die Anbindung der Versuchstierzucht an die medizinischen Forschungsbedürfnisse kam in ihrem Titel zum Ausdruck: „Vererbungsversuche und Gemeinschaftsarbeiten zum Zweck der Züchtung von Versuchstieren mit besonderen konstitutionellen Merkmalen und ihre Anwendung auf verschiedene Forschungsgebiete einschließlich der Krebsforschung und Erbschädigung durch Röntgenstrahlen“.178 Als Beispiel für die planhafte Indienstnahme der Zuchten ist die Zusammenarbeit mit dem Institut für experimentelle Therapie besprochen worden (3.3). Die Einbindung der Meerschweinchenzuchten in die Tuberkuloseforschung entsprach auf wunderbare Weise dem Interesse an physiologischen, feinen und variablen Abweichungen, welches sich unter der entwicklungsphysiologischen Fragestellung herauskristallisierte. Die Aufgabe Göttingens war nicht zu homogenisieren, sondern zu differenzieren, feine physiologische Unterschiede, die einer Disposition zur Tuberkuloseerkrankung entsprechen konnten, und ihre Verknüpfung mit anderen Merkmalen zu detektieren. Die Gemeinschaftsarbeiten zur Röntgenfrage steuerten ebenfalls Anregungen bei. Die Genetiker argumentierten gegenüber den Medizinern, dass klini174 Vgl. 5.1.1932, Hertwig an Stubbe (BBAdW, Stubbe-Fonds, 83); Hertwig 1932b: 676; Hertwig 1933a: 1402 (erster Bericht über die Ergebnisse: Hertwig 1935). 175 Vgl. Nachtsheim 1935b: 188. 176 Nachtsheim 1937e: 463 177 Die Gemeinschaftsarbeiten zur Röntgenfrage förderte die Variantensuche auch durch den Ausbau der Tierzucht. Gleich nach Kühns Eintritt in die Gemeinschaftsarbeit wurde eine Erweiterung der Brandenburger Anlage in die Wege geleitet (vgl. 29.12.1933, Notgemeinschaft an Kühn; 29.12.1933, Kühn an Notgemeinschaft, in: BA Ko, R 73, 159). Die Tierställe waren als bewegliche Einzelkästen konzipiert, sodass die Innenausstattung jederzeit an eine andere Stelle überführt werden konnte, „wenn sich später eine große Zuchtanstalt auf eigenem Gelände ermöglichen läßt“. Die Erweiterungen ermöglichten eine Verdreifachung der gehaltenen Zuchttiere auf 1.220 Mäuse, 146 Ratten, 238 Kaninchen. (Vgl. 5.9.1936, Kühn an DFG, in: BA Ko, R 73, 12475: Seite 1 v. 3.) 178 10.12.1935, Kühn an Forschungsgemeinschaft (BA Ko, R 73, 12475: Seite 1 v. 9) 199 sche Untersuchungen völlig unzureichend seien. Die Mutationsforschung habe gezeigt, dass die meisten Mutationen rezessiv sind und somit Veränderungen frühestens in der Enkelgeneration der bestrahlten Mütter zu erwarten waren und dass die meisten Mutationen nur feine Abweichungen bewirkten oder sich vor allem in physiologischen Änderungen äußerten. Kühn schlug deshalb der Strahlenkommission vor, die pleiotrope Eigenschaft und die Vernetzung der Genwirkungen im „Genwirkgetriebe“ auszunutzen und die äußerlichen Merkmale als Detektoren für die physiologischen Eigenschaften zu benutzen. So wurden die erwähnten Überzehen der Meerschweinchen als Röntgendetektor – und Instrument der Entwicklungsphysiologie genutzt. „Das Merkmal der Überzehigkeit ist besonders bedeutsam“, so Kühn, weil es „sehr fein auf die Wirkung anderer ‚modifizierender’ Erbanlagen und auf Außeneinflüsse anspricht, die von der Mutter ausgehen. Es ist zu erwarten, dass die von uns gezüchtete Überzehenstämme empfindliche Indikatoren für künstlich erzeugte Änderungen von Erbanlagen sein werden. Sie sollen daher in größerem Maße in die Versuche über Mutationsauslösung durch Röntgenstrahlen eingesetzt werden.“179 4.3.2 Varianten generieren Die Charakteristik der Versuchstierzuchtanstalt bündelte sich zu einer Detektionsmaschine, die sich besonders eignete, seltene, physiologische und schwer zu erkennende Merkmale und damit vitalitätsverändernde Mutationen zu ‚detektieren’. Waren die neuen Mutationen und phänotypischen Varianten tatsächlich natürliche Gegenstände, die nur ‚entdeckt’ werden brauchten? Viele jener Merkmale waren mit dem Leben ‚in der Natur’ oder den einfachen Haltungsbedingungen konventioneller Zuchteinrichtungen unvereinbar. Nur im ausgeklügelten Tierhaus der Zuchtanstalt konnten die Bedingungen so eingestellt werden, dass auch die gebrechlichsten Tiergeburten am Leben blieben. Die Fortzucht dieser Formen war oftmals nur in einer solchen Zuchtanlage möglich, „weil die geringe Vitalität der erbgeschädigten Tiere eine besondere Pflege erfordert”.180 Die klimatischen Verhältnisse in den Zuchträumen, spezielle Nahrungszusammensetzung, Medikamente oder der fütternde Pfleger machten es möglich, bestimmte Tiere und Lebenszustände – buchstäblich – an das Licht der Welt zu bringen und zu erhalten.181 In der Natur oder in den Verschlägen der Sport- oder Nutzzüchter hätten sie nie existieren können. Sie bildeten dort 179 4.12.1934, Kühn an Notgemeinschaft (BA Ko, R 73, 12475: Seite 4 v. 9) – Oscar Vogt betonte die eugenische und nosologische Bedeutung solcher „Indikatoren“: „Die sozial wichtigste und deshalb auch von einem verarmten Volk nach Kräften zu unterstützende Aufgabe [...] ist die Aufdeckung der in den einzelnen Individuen vorhanden sozial wertvollen und schädlichen Dispositionen. Ist doch diese Kenntnis die Voraussetzung einer richtigen Ausnutzung und Förderung des Wertvollen und einer Hemmung des Schädlichen! [...] Noch wesentlich erleichtert würde aber die Klassifikation der Konstitutionen, wenn es sich herausstellen sollte, dass wenigstens eine grosse Zahl von Konstitutionen auf correlativer Basis äusserer Stigmata hätte, [...]“ (12.2.1930, Vogt, Denkschrift, in: BA Ko, R 73, 169). So wurde der Gedanke der Konstitutionstypen auf mendelgenetischer Grundlage reformuliert (siehe 2.2.3, Seite 378). 180 o.D., Kühn: „Zoologisches Institut...“ (BA Ko, R 73, 12475: Seite 4 v. 5) (s. Anm. 165) 181 Zur besonderen Einrichtung der Zuchtanlagen, vgl. 3.3.2.1 und 3.2.3.2. 200 keine ‚natürlichen Gegenstände’, und als bloßes Vermögen blieben sie ungedacht.182 Paula Hertwig sah die Bedeutung der Röntgenstrahlen für die Vererbungswissenschaft in ihrer Eigenschaft, Mutationen bei der Fruchtfliege Drosophila und möglicherweise auch in anderen Organismen hervorzurufen. „Die Röntgenröhre ist für den Genetiker gleichsam zum Zauberstab geworden, mit Hilfe dessen er sich neue bisher noch nicht beobachtete Lebensformen hervorzaubern kann.“183 Man könnte daran anschließen und formulieren, dass auch die Versuchstierzuchtanstalten ein Instrument waren, neue Formen für die Genetik „hervorzuzaubern“. Ein „Zauber“stab allerdings war die Röntgenröhre natürlich nicht. Die Röntgenröhre ist ein technisches Gerät, das Röntgenstrahlen hervorbringt. Als solche ist die Röntgenröhre zwar ein zentrales Element, aber auch nur Teil einer größeren Apparatur: des Röntgengenerators. Der Röntgengenerator eignet sich sehr viel eher, die Versuchstierzuchtanlage zu charakterisieren. Als Röntgengenerator wird „die Gesamtheit aller elektrischen und elektronischen Einrichtungen, um eine Röntgenröhre betreiben u. Röntgenstrahlung erzeugen zu können“, bezeichnet.184 Die Gesamtheit der technischen und infrastrukturellen Einrichtungen sowie ihre Verkopplung mit medizinischen Einrichtungen erlaubte es, einen Detektionsapparat betreiben und erbliche Varianten erzeugen zu können. Analog zu einem Röntgengenerator war die Versuchstierzuchtanstalt ein Variantengenerator. Etwas „generieren“ heißt, etwas hervorbringen. Ein „Generator“ erzeugt Strom. Die Bedeutungen der lateinischen Wortableitung „generare“ changieren zwischen Erzeugen und Hervorbringen; doch ist es etwas anderes, etwas „hervorzubringen“, das im Verborgenen auf seine Entdeckung gewartet hat, oder, etwas zu erzeugen, das zuvor nicht existierte. Brachte die Versuchstierzucht Varianten zum Vorschein, die schon vorhanden, aber aus verschiedenen Gründen bislang nicht entdeckt worden waren? Das Kalkül der großen Zahl spricht für diese Interpretation. Oder erzeugte der Komplex der Versuchstierzuchtanstalt, der Teil verschiedener experimenteller Systeme war und selbst experimentell arbeitete, die erblichen Varianten in dem Sinn, dass etwas zur Welt 182 Für den Genetiker war hingegen klar, dass sie immer schon vorhanden waren! Die technischen Tricks brachten nur zum Vorschein, was schon in der Natur war, und sei es nur dem Vermögen nach. Die Vorstellung, es gäbe das Vermögen, bestimmte Formen ausbilden zu können, ist allerdings voraussetzungsreich. Annahmen über die Natur der Formenvielfalt und das Verhältnis von Sichtbaren zu Unsichtbarem in der Natur werden vorausgesetzt. So musste angenommen werden, dass in den Erbanlagen alle möglichen Formen des Lebens versteckt waren, sie nur richtig „kombiniert“ werden oder „mutieren“ mussten. Oder es konnte angenommen werden, dass die Natur einem kontinuierlichen Pantheon der Formen entspricht. Die Lücken im realen Kontinuum erklärten sich dann durch die eingeschränkte Lebensfähigkeit einiger Formen. 183 Hertwig 1933a: 1401. Dass dieser Weg „lohnend ist und zu wichtigen Fragestellungen führen“ konnte, verdeutlichte Hertwig an den Bestrahlungsexperimenten E. Steins, die nach der Bestrahlung von Pflanzenembryonen vage Farb- und Formdefekte an den Pflanzen feststellte sowie Gewebewucherungen, die sie als Phytocarcinome bezeichnete (vgl. Hertwig 1932b: 662). Es wurde auch diskutiert, ob die Mutationsfähigkeit eines Organismus als solche mutativ gesteigert werden könne. Alle Versuche, durch Röntgenstrahlen oder anders bei Säugetieren systematisch die Formvielfalt zu erhöhen, schlugen fehl (vgl. Nachtsheim 1937e: 463). 184 Wörterbuchredaktion d. Verl. unter der Ltg. von Christoph Zink, Bearb.: Pschyrembel. Klinisches Wörterbuch, 256. Auflage, Berlin: de Gruyter 1990: 1459 201 kam? Für diese Interpretation spricht zum einen der Umstand, dass erst die speziellen Einrichtungen der Versuchstieranstalt das Leben bestimmter Lebensformen ermöglichten; zum anderen, dass die Züchtungstechniken nicht nur neue Lebensformen detektierten, sondern diese auch formten und in die ‚richtige’ Form brachten. Die planerische, die explorative und die glückliche Trennung und Kombination von „Hauptgenen“, „Nebengenen“ und „Milieu“ brachten eine Abweichung erst als das eindeutige und typische Merkmal eines Tierstamms hervor. Das heißt, erst mit der Einrichtung und Organisation der Zuchtanstalten kamen die neue Formen ‚in die Natur’. 4.3.3 Das Zusammenspiel von hervorgebrachten Varianten und Forschungsfragen Die Versuchstierzucht hat sich in den Händen genetischer Experten als eine Verbindung erwiesen, deren Wert nicht nur in der Versorgung der experimentellen Forschung mit standardisierten Versuchstieren bestand. Eine als „Massenzucht“ geplante Produktion von Versuchstieren konnte nicht die statistischen Vorzüge erreichen, wie sie in der Pflanzen-, Drosophilagenetik oder auch in Kühns Mehlmottenexperimenten üblich waren. Der Vorteil der „wissenschaftlich überwachten reinen Vermehrungsanstalten und genetischen Züchtungsanstalten” bestand nach Kühn in der Möglichkeit, auf seltene, kleine und physiologische Abweichungen zu stoßen,185 also Variationen vom Homogenen abzusetzen. Ein Beispiel dafür, wie das Auftauchen erblicher Abweichungen den Forschungsfortgang beeinflusst, ist die Beschreibung der white-eye Mutante bei Drosophila 1910 durch Morgan. Von dem entwicklungsbiologischen Problem, an dem er bis dahin gearbeitet hatte, wandte sich Morgen ab, um nun an der Farbmutante die Transmissionsverhältnisse von Merkmalen genauer zu untersuchen.186 Für Kühn war die Generierung von Varianten zu einem zentralen Inhalt der Versuchstierzuchtanstalten geworden. Die funktionelle Auftrennung der Versuchstierzucht in eine „reine Vermehrungsanstalten“ und die „genetische Zuchtanstalten“ folgte genau diesem Interesse und den daraus erwachsenen Ansprüchen an die Expertise und methodische Differenzierung. Diese Aufsplitterung versinnbildlicht die Verschiebung der Aufgaben der Versuchstierzucht innerhalb weniger Jahre. Nach anfänglicher Ablehnung genetischer Zuchtmethoden wurde die In- und Reinzucht zur zentralen Zuchttechnik, um die Homogenität der Versuchstiere zu erhöhen. Die Kooperation des Frankfurter Instituts für experimentelle Therapie mit der Göttinger Zuchtzentrale machte es aber erforderlich, wieder die Unterschiedlichkeit der Zuchttiere zu beachten und zu spezifizieren. Das spezielle Interesse an erblich-konstitutionellen Merkmalen trieb die Verfeinerung der angesetzten Werkzeuge, Detektionsmittel und -techniken an und eröffnete in der Versuchstierzucht einen neuen Raum: ein Raum der leichten, nur statistisch erfassbaren Unterschiede in der Gesamtkonstitution eines Versuchstieres. 185 186 o.D., Kühn: „Zoologisches Institut ...“ (BA Ko, R 73, 12475: Seite 4 v. 5) (s. Anm. 165) Vgl. Allen 1984: 726; Kohler 1994: 44. 202 Welche Rolle spielte also die Versuchstierzucht im Zusammenspiel von neuen genetischen Konzepten und entwicklungsphysiologischen Fragestellungen? Im Rückblick erscheint es schnell, als seien die neuen Merkmale in Gefolge der neuen Konzepte aufgetaucht. Die Betrachtung der praktischen Zusammenhänge hat nun aber die subtile ungerichtete Beteiligung der Versuchstierzucht an der Karriere neuer Gegenstandsformen der deutschen Genetik gezeigt. Das Nutzungskonzept für die Göttinger Versuchstierzucht entstammte den Planungen von 1927. Die vitalitätsverändernde Wirkung von Mutationen wurde in Göttingen erstmals 1930 bei der Mehlmotte bemerkt.187 Von da aus wurden sie untrennbarer Teil der Versuchstierzucht und diese ebenso untrennbarer Teil der konzeptuellen Zuspitzung bis 1934. Der Zeitpunkt der Einrichtung der Versuchstierzuchtanstalt in Göttingen, die Anbindung an medizinische Fragestellungen und die strukturellen, experimentellen und methodischen Eigenschaften einer solchen ausdifferenzierten Versuchstierzuchtanlage schufen in idealer Weise die experimentellen Möglichkeiten, das seltene, schwache und verborgene Ereignis hervorzubringen. Dies war die Voraussetzung, solche diffuse Eigenschaften als Erbveränderungen zu verstehen. Die ‚Mendelisierung’ der Physiologie wurde dadurch durchführbarer und unhinterfragbarer. In ähnlicher Weise wurde durch schwache Röntgenbestrahlung die Existenz der vitalitätssenkenden Mutationen stabilisiert. Jene Merkmale wurden für die konzeptuelle Überlegungen dadurch zu immer ernsthafteren ‚Partnern’. Die Vitalitätsmutationen waren zugleich Chance und Gefahr. Eine Gefahr waren sie, da sie die Effektivität der auf Massenzucht ausgelegten Zuchtanstalt senkten oder als experimentelles Rauschen das statistische Signal in Versuchen irritierten. „Die neuen Mutationsversuche haben gelehrt, dass auch in den Inzuchtstämmen nicht selten äußerlich nicht auffallende Erbgutveränderungen auftreten, durch welche ein ursprünglich einheitlicher Stamm unvermerkt in mehrere Linien mit verschiedener Reaktionsweise zerfallen kann.“188 Die gleichen Erbgutveränderungen waren aber auch eine Chance: für die medizinische Forschung, da „die konstitutionellen Eigenschaften der reinen Stämme (Lebenseignung, Widerstandskraft gegen Außenbedingungen, Infektionen u.a.) und die Erblichkeitsweise dieser Eigenschaften“ geprüft werden und in möglichst vielseitiger Weise der medizinischen Forschung nutzbar gemacht werden sollte.189 Und für die Genetik, da die vitalen Mutationen in die integrative Konzeption der Konstitution und in die Frage eingebunden waren, wie erbliche Anlagen und andere Einflüsse in der Herstellung der Konstitution zusammenwirken.190 In der Praxis war die Suche nach den konstitutionellen Eigenschaften nicht als medizinisches oder genetisches Ziel klar unterschieden. Die genaue Kenntnis der physiologischen Eigenschaften der Lebenstüchtigkeit sei „sowohl allgemeinbiologisch als auch als Voraussetzung für die medizinische Arbeit mit den 187 Vgl. Kühn & Henke 1930: 206. o.D., Kühn: „Zoologisches Institut...“ (BA Ko, R 73, 12475: Seite 4 v. 5) (s. Anm. 165) 189 4.12.1934, Kühn an die Notgemeinschaft (BA Ko, R 73, 12475: Seite 6 v. 9) 190 Kühns Dank an die Notgemeinschaft galt ausdrücklich der Unterstützung für den „Aufbau der Gemeinschaftsarbeiten über die Wirkung der Erbanlagen auf die Konstitution“ (vgl. 4.12.1934, Kühn an Notgemeinschaft, in: BA Ko, R 73, 12475: Seite 9 v. 9). 188 203 Versuchstieren“ wichtig.191 Der eigentliche Nutzen einer aufgespürten Auffälligkeit erwies sich erst im Nachhinein. Deshalb changierte das Interesse Krönings an der Wurfgröße und Überlebensfähigkeit seiner Meerschweinchenstämme zwischen Screening für die Mediziner und der genetischen Untersuchung der Konstitution.192 Wie die entwicklungsphysiologischen Fragen durch die Infrastruktur und Screeningeigenschaften der Versuchstierzucht vorangetrieben wurden, illustriert auch die Zusammenarbeit Kühns mit Emil Abderhalden. „Um die Konstitutionsunterschiede mit allen Mitteln zu erfassen, habe ich eine Gemeinschaftsarbeit mit Prof. Abderhalden begonnen.“193 Das „überraschende Hauptresultat“ der Prüfung der Meerschweinchen mit der Abwehrfermentmethode war, dass „alle übersendeten Meerschweinchengruppen streng spezifische Reaktionen ergeben haben“, das heißt die Unterschiede im Bluteiweiß schienen „erblicher Natur“ zu sein.194 Die weiteren Versuche wurden darauf hin unter eine genetische Fragestellung gestellt, die Mendelgenetik und Physiologie miteinander verknüpfte. Es sollten planmäßige Kreuzungen zwischen den Stämmen vorgenommen werden, da es „ein sehr wichtiges, ganz neu auftauchendes Problem [ist], ob diese Eiweißverschiedenheiten reiner Stämme durch mendelsche Erbanlagen bestimmt sind“.195 Die Versuchstierzucht bildete einen institutionalisierten Ort von Konjunkturen verschiedener biomedizinischer Forschungszusammenhänge. Die „reiner Erkenntnis zustrebende Genetik“, Züchtungskunde, medizinische Konstitutionsforschung, Vererbungspathologie und Rassenhygiene trafen sich in den „Fragen der Genwirkung und der Genveränderung gleichermaßen“.196 Die Versuchstierzucht erwies sich als ein ‚Durchlauferhitzer’ für Forschungsprobleme und ermöglichte das gemeinsame Forschungsfeld der physiologischen und variablen Mutationen. Kleine physiologische Mutationen – mal Werkzeug, mal Gegenstand – tauchten an zentraler Stelle der Fragestellungen und experimentellen Arrangements der Strahlenbiologie, Mutationsforschung und Phänogenetik auf. Es ist jetzt verständlich, was einen avancierten Vererbungswissenschaftler wie Alfred Kühn zu einem aufwendigen Engagement in den Angelegenheiten der Versuchstierzucht motivierte. Aus den vorhandenen Inzuchtstämmen des Göttinger Instituts eingerichtet, spannte sich die Versuchstierzuchtanlage sofort in Kühns und Krönings experimentelles Arrangement der Säugetiergenetik ein. Im Gegensatz aber zu Nachtsheims Versuchstieren, die Medizin und Genetik durch ihre einfache Existenz zusammenbrachten, resultierte die Vielseitigkeit der Göttinger Versuchstiere aus der Überschneidung der züchtungstechnischen Anforderungen medizinischer und strahlengenetischer Probleme mit denen der Göttinger Entwicklungsphysiologie. Die „Mutabilität“ der Versuchstiere war zugleich im Interesse der Frankfurter experimentellen Immunologie, Gegen191 4.12.1934, Kühn an Notgemeinschaft (BA Ko, R 73, 12475: Seite 4 v. 9) Vgl. o.D., Kühn: „Zoologisches Institut...“ (BA Ko, R 73, 12475: Seite 3 v. 5) (s. Anm. 165); Kröning 1934b. 193 4.12.1934, Kühn an Notgemeinschaft (BA Ko, R 73, 12475: Seite 4 v. 9) 194 18.6.1935, Kühn an Forschungsgemeinschaft (BA Ko, R 73, 12475: Seite 2 v. 6) 195 10.12.1935, Kühn an Forschungsgemeinschaft (BA Ko, R 73, 12475: Seite 5 v. 9) 196 Kühn 1934: 218 192 204 stand der Forschungsplanung der Strahlenkommission, evolutionstheoretischer Fragenstellungen und Instrument für die Zwecke Kühns Institut. Die „Fülle der Mutationen“ boten ihm „das Material für die Erforschung der Genwirkung“.197 Für Alfred Kühn und die Genetiker, die auf eine „genetische Entwicklungsphysiologie“ aus-, aber ohne ein funktionierendes experimentelles System waren, wies die Versuchstierzuchtanlage einen Weg zur Umgestaltung des konzeptuellen Gebäudes der Genetik. Die Bemühungen um eine genetische Entwicklungsphysiologie fanden in der Dienstleistung der Versuchstierzucht („genetische Homogenisierung und Suche nach medizinisch relevante Varianten“) einen Weg, experimentelle Differenz und konzeptuelle Innovation zu erreichen. Die institutionelle und strukturelle Einbettung und die Bedingungen ihres experimentellen Betriebs machten das Versuchstiermanagement zu einem unverhofften Raum, der Neues in der Genetik ermöglichte. 197 Kühn 1934: 218 205 5 Genetik und Medizin – Eine Kontroverse um Tiermodelle „Ich betone vom Standpunkt der Eugenik aus, daß es sich nicht um Schädigungen der Frau und ihres Kindes handelt, sondern um die künstliche Erzeugung krankhafter 1 Erbanlagen in einem ganzen Volk.“ „Es handelt sich bei diesem Widerstreit der Meinungen nicht darum, daß etwa von Gynäkologenseite die prinzipielle Bedeutung des experimentellen Versuchsausfalls am Objekt Drosophila geleugnet werden sollte, sondern darum, daß die Gynäkologen in Zweifel ziehen, daß die grundlegenden Voraussetzungen bei der Drosophila und den 2 Säugern die gleichen seien.“ In Kapitel 3 wurde die Vermittlung von medizinischen und vererbungswissenschaftlichen Konzepten bzw. immunbiologischem und mendelgenetischem Experimentalsystem als eine dynamische Verbindung und Überschneidung von materiellen und methodischen Interessen vorgestellt. Die Verbindung, um die es im Folgenden geht, ähnelt darin, dass die Verteilung von Kompetenzen strukturbildend wirkte – nun aber nicht in kooperativer Weise als Auflösung disziplinärer Grenzen, sondern in der konfligären Stärkung disziplinärer Diversifikation. Der Konflikt zwischen Genetikern und Medizinern drehte sich um die Anwendung von Röntgenstrahlen in der Gynäkologie. In den zwanziger Jahren wurden Röntgenstrahlen immer häufiger für therapeutische und diagnostische Zwecke in der Frauenheilkunde eingesetzt. Über die möglichen schädigenden Nebenwirkungen der Strahlen entwickelte sich dort ein schwelender Disput. Gegenstand der Auseinandersetzung zwischen Röntgenologen und Gynäkologen war die temporäre Sterilisation, also die therapeutische und befristete Ausschaltung der weiblichen Regelblutungen durch Bestrahlung der Keimdrüsen. Als die medizinische Diskussion in eine Sackgasse geraten zu sein schien, mischten sich Genetiker und Eugeniker in den medizinischen Diskurs ein. 1931 verabschiedete die Deutsche Gesellschaft für Vererbungswissenschaft eine Entschließung, in der die „deutsche Ärzteschaft“ eindringlich auf die Gefahr hingewiesen wurde, die der „Nachkommenschaft durch Röntgenbestrahlung der Keimdrüsen, insbesondere bei der sogenannten temporären Sterilisation“ drohe. Die Vererbungswissenschaftler gingen davon aus, dass dieser Umstand durch eine große Zahl exakter Experimente belegt sei und warnten, dass die Schädigungen „unter Umständen erst nach Generationen in die Erscheinung treten“ würden.3 Die kurz gefasste Entschließung der deutschen Vererbungswissenschaftler löste unter Gynäkologen und Röntgenärzten Verärgerung über die Behauptung der Genetiker aus, Gynäkologie, Strahlenheilkunde und klinischen Medizin verfügten nicht über die notwendige Kompetenz. Sie unterstellten ihrerseits den Genetikern einer bloß „gefühlsmäßigen Antipathie gegen die temporäre Sterilisierung Ausdruck gegeben“ zu haben.4 Auf den verschiedensten Ebenen des wissenschaftlichen Dispositivs – Fachzeitschriften, Vortragsveranstaltungen, Kongresse, Fachgesellschaften und For1 Fischer 1930c Dyroff 1932: 711 3 Muckermann 1932: 107 4 Nürnberger 1932: 710 2 206 schungsförderung – bemühten sich die Genetiker, eine neue Sicht auf das Strahlenproblem durchzusetzen. Das genetische Wissen trat als eine ‚imperiale Wissensform’ auf. Die Genetiker erreichten, dass die temporäre Sterilisation als therapeutische Methode in der Gynäkologie weitgehend aufgegeben wurde. Dies war aber nicht das Resultat der Klärung ‚rein’ wissenschaftlicher Fragen.5 In welcher Weise die schleichende Genetisierung des medizinischen Diskurses erfolgte, soll entlang der Diskussion um die temporäre Sterilisation nachgezeichnet werden. Der Konflikt spielte sich auf zwei Ebenen ab. Zum einen waren die Methoden für den richtigen Zugang zum Problem umstritten. Zum anderen ging es um den richtigen Maßstab medizinischen Handelns: Wann hat der medizinische Erfolg am Einzelindividuum zugunsten des „Intaktbleiben des Keimgutes eines Volkes“ zurückzutreten? Die sukzessive Verschiebung des wissenschaftlichen Problems im gynäkologischen-röntgenologischen Diskurs schuf die Vorraussetzung für eine eugenische Umdeutung des Handlungsmaßstabs. Es ist deshalb erforderlich, den Konflikt entlang des wissenschaftlichen Streitgegenstands zu verfolgen und zu zeigen, wie der klinische Blick auf den Körper der schwangeren Frau und ihre Frucht bzw. das Kind verschoben wurde. Die Transformation zum mendelgenetischen Blick beinhaltet eine doppelte Bewegung: 1. von der Morphologie und Histologie des Köpers ‚hinab’ zur Phänomenologie der Erbsubstanz und, 2., von der individuellen Integrität der Patientin und ihres Kindes zum ‚Körper’ einer Population bzw. des „Volkes, dessen Integrität der ‚Genpool’ oder der „Bestand an gesunden Erblinien“ (Fischer) darstellt. Von dieser Warte aus stellt sich für die genetische Problematisierung der Röntgentherapie als die zentrale Voraussetzung der Anspruch der Genetiker heraus, dass die an Fruchtfliegen, Mäusen und Meerschweinchen gewonnenen strahlengenetischen Erfahrungen auf den Menschen übertragbar waren. Die Genetiker sahen in den Röntgenexperimenten an Tieren Modellversuche, die durch die Allgemeingültigkeit der „Vererbungsgesetze“ legitimiert waren. Die Mediziner setzten die Spezifität der menschlichen Physiologie, Morphologie und Entwicklungsbiologie dem entgegen. Meine These ist, dass die Argumentation der Genetiker und Eugeniker auf einem Komplex ideologisierter Vorannahmen beruhte. Das Selbstverständnis der Genetik als ‚exakte Naturwissenschaft’, der evolutionstheoretische Diskurs in den Biowissenschaften sowie seine Verankerung als Alltagswissen in maßgeblichen Teilen der Weimarer Gesellschaft bildeten die Basis für diesen Komplex, der sich an ein biologisierendes Gesellschaftsbild anknüpfen ließ. Er verlieh der Verwendung von Tieren als Modelle für die Medizin die Aura einer Selbstverständlichkeit, die die Mediziner vergeblich in Frage zu stellen versuchten. 5 In den fünfziger Jahren wurden die Fragen nach der Strahlengefahr wieder aufgegriffen (vgl. Kröner 1997). 207 5.1 Gynäkologie und temporäre Sterilisation Zunächst wird auf die Methode der temporären Sterilisierung, ihre Anwendung und Entwicklung eingegangen, um dann auf die medizinische Diskussion um die Methode und schließlich die Intervention der Genetiker einzugehen. Die Röntgentherapie begann mit Beginn des Jahrhunderts in der Gynäkologie Fuß zu fassen. Nach ersten Versuchen zur Kastration 1903 erhielt die Röntgenkastration schnell einen festen Platz in der Behandlung von Myomen und Dauerblutungen.6 Im Wesentlichen wurden Röntgenstrahlen aber zunächst nur bei Krebsleiden eingesetzt, die nicht operabel waren. In den zwanziger Jahren wurde die Strahlenbehandlung in der Gynäkologie auf viele gutartige Erkrankungen ausgedehnt: Blutungen und entzündlichen Unterleibserkrankungen, insbesondere Entzündungen bei Gonorrhoe7, bei Genitaltuberkulose oder auch Osteomalzie8. Bis Anfang der zwanziger Jahre war die gynäkologische Strahlentherapie meist mit der Zerstörung der endokrinen und reproduktiven Funktion verbunden – entweder als Ziel oder als unvermeidliche Nebenwirkung therapeutisch hoher Strahlendosen.9 Der Ausfall der endokrinen Funktionen war insbesondere bei niedrigeren Strahlendosen nicht immer endgültig. Die Regelblutungen setzten dann nach einiger Zeit, nach Monaten oder auch Jahren, wieder ein. Carl Gauß und Manfred Fraenkel beschrieben 1911 erstmals unabhängig von einander die zeitweilige Amenorrhoe.10 Gauß begann sogleich damit, die temporäre Sterilisation als therapeutisches Mittel zu propagieren. Ihr Vorteil war natürlich, dass der endgültige Verlust der Fruchtbarkeit und allerlei nachfolgende Beschwerden vermieden wurden. Dies wiederum schien es vertretbar zu machen, die gynäkologische Strahlenbehandlung auf Krankheiten auszuweiten, die nicht originär „gynäkologisch“ war, deren Verlauf aber möglicherweise durch die Röntgenbestrahlung der Ovarien beeinflusst werden konnte.11 Dennoch wurde der temporären Sterilisierung zunächst keine besondere Beachtung geschenkt. Erst als die Universitäts-Frauenkliniken in Freiburg unter Ludwig Seitz und Erlangen unter Hermann Wintz niedrigere Strahlendosen empfahlen (1917/18), wurde die temporäre Sterilisation vermehrt in der klinischen Praxis eingesetzt12 und gegen Mitte der zwanziger Jahre fast von allen Seiten „aufs Wärmste empfohlen“.13 Die Frage, welche Strahlendosis angesetzt werden musste, um tatsächlich eine temporäre Sterilisation zu erreichen und nicht den unwiederbringlichen Verlust der Menstruation – auch euphemistisch als „verfrühter Eintritt der Menopause“ oder „Röntgenklimakterium“ umschrieben – zu riskieren, blieb umstrit6 Hier und nachfolgend, vgl. Flaskamp 1930: 216. Gonorrhoe = sog. Tripper. 8 Osteomalzie = Erhöhte Weichheit und Verbiegungstendenz der Knochen durch mangelhaften Einbau von Mineralstoffen. 9 Vgl. Martius 1922. – Nach und nach wurde aber ab dann auch die „reizende und stimulierende Wirkung“ von niedrig dosierten Röntgenstrahlen entdeckt, mit denen Sterilität, „Infantilismus“ oder „Hypersexualität“ behandelt wurden (vgl. Seisser 1930: 682-83). 10 Vgl. Wintz 1930: 407. 11 Gauß und Fraenkel bestrahlten Frauen mit Lungentuberkulose in der Annahme, dass die Menstruation den Krankheitsverlauf dieser Infektionskrankheit negativ beeinflusste. 12 Vgl. Behrendt 1925: 2488-89. 13 Driessen 1924: 656 7 208 ten. Die Wirkung der Strahlendosen auf das Befinden, die Physiologie und Fruchtbarkeit der Frauen war von Fall zu Fall unterschiedlich.14 Eine Erklärung war, dass die unterschiedliche Empfindlichkeit des ovariellen und innersekretorischen Gewebes, mithin die „nervöse und somatische Konstitution“ der Frau dafür verantwortlich sei.15 Auf diese Weise wurde mit der Variabilität der Strahlenwirkung auf den weiblichen Körper die Strahlenempfindlichkeit des „Follikelapparates“ als Forschungsfeld entdeckt. Die ovariellen Veränderungen nach Röntgenbestrahlung wurden zu einem Hauptinteresse der klinischen Forschung und der experimentellen Röntgenologie in der Gynäkologie.16 5.1.1 Die Frage nach der Keimschädigung Was war die biologische Wirkung der Strahlen im Ovar, und was hieß es, wenn die reproduktiven Funktionen nach einer Zeit sich wieder regenerierten: Blieben wirklich keine Schäden? Die unterschiedliche Wirkung der Bestrahlung wurde mit der unterschiedlichen zerstörenden Wirkung der Strahlen auf Zellen und Gewebe des Ovars erklärt. Die Mehrheit der Gynäkologen vertrat die Ansicht, dass geringe Strahlendosen selektiv nur die ausgereiften Follikel zerstörten, während die Primordialfollikel erhalten blieben. Dies erklärte, dass nach einiger Zeit mit den nachreifenden Eiern die Menstruation wieder einsetzte. Bei einer sukzessiven Erhöhung der Strahlendosis wurden hingegen auch unausgereiftere Follikel, dann alle Eier des Ovars und schließlich auch das besonders strahlenresistente innersekretorische Gewebe zerstört.17 Die Frage blieb, ob das alles war. Schon kurz nach der „Entdeckung“ (Flaskamp) der temporären Sterilisation wurden erste Überlegungen angestellt, ob unzerstört gebliebene Zellen oder solches Gewebe verborgene Schäden davon tragen konnten. Die Befürchtung war, dass nach wiedererlangter Fruchtbarkeit ein Kind noch durch die lang zurückliegende Strahlenwirkung geschädigt werden könnte.18 Die Frage schien im Lichte von an Hodengewebe gemachten Erfahrungen allerdings zunächst nicht dringlich.19 14 Die Variabilität der Strahlenwirkung war zuallererst ein Problem der exakten biologischen Dosimetrie, also der technischen Frage, wie unabhängig von den körperlichen Besonderheiten ein bestimmtes, tiefer gelegenes und nicht genau lokalisierbares Gewebe mit einer berechenbaren Strahlenmenge erreicht werden konnte. Als Gründe wurden aber auch die Art des behandelten Leidens, das Alter der Frauen und die „konstitutionelle Minderwertigkeit des Organismus“ genannt (v. Schubert nach Kauffmann 1932: 999). 15 Vgl. Flaskamp 1930: 223. 16 Histologische und zelluläre Veränderungen der Ovarien nach Röntgenbestrahlung waren erstmals 1907 – nach vorhergehenden tierexperimentellen Untersuchungen – beschrieben worden (vgl. Flaskamp 1930: 216-21). 17 Vgl. Flaskamp 1930: 222. 18 Vgl. Martius 1931: 47. 19 Die Strahlenwirkung auf die Generationsorgane war – bevor die temporäre Sterilisation bei Frauen beschrieben worden war – bereits 1903 tierexperimentell untersucht worden (an Kaninchen und Meerschweinchen durch Albers-Schönberg, dann an Ratten durch Bergonié und Tribondeau). Die festgestellten Veränderungen an den Hoden der Tiere waren zugleich die ersten bekannt gewordenen biologischen Strahlenwirkungen auf tiefer liegendes Gewebe (vgl. Flaskamp 1930: 200). Eine mögliche Schädigung der Kinder, die in kurzem zeitlichem Abstand nach einer Bestrahlung gezeugt wurden, wurde ausgeschlossen. Die Vorstellung war, dass die Bestrahlung zu einer Zerstörung von Samenzellen führt und damit auch zu einer kurzzeitigen Sterilität des Mannes. Mit der Zeit würde sich aber das Hodengewebe morphologisch und funktionell vollständig regenerieren. Eine Gefahr für die Nachkommen konnte somit ausge- 209 Den Überlegungen zur Schädigung unbefruchteter Eizellen war gemeinsam, dass sie als völlig äquivalentes Problem zur Strahlenschädigung von befruchteten Eizellen betrachtet wurde. Diese Annahme strukturierte den Diskurs über die Strahlenwirkung entscheidend, wie gleich noch zu sehen ist. Aus der Sicht der Pathologie war es kein wesentlicher Unterschied, ob die Schädigung einer Frucht aus der vorhergehenden Schädigung der Keimzellen oder der direkten Schädigung des Embryos und Fötus resultierte; denn beide Male beruhte sie auf zellularpathologischen Mechanismen. Diese Interpretation entsprach allgemeinen Überlegungen zu Strahlenschäden, die Anfang der zwanziger Jahre zu einem wichtigen Thema in der Röntgenologie wurden. Nach einer euphorischen Aufschwungphase der Röntgentherapie zwischen 1910 und 1920 war nämlich die Ernüchterung im „Rausch der ersten Erfolge“ erfolgt; in der Öffentlichkeit wurde die Röntgentherapie nachhaltig diskreditiert, als sich die schädliche Wirkung der Bestrahlung herumsprach.20 Das Misstrauen wurde dadurch verstärkt, dass die Ärzte „gewissermaßen nur hinter verschlossen Türen diskutierten“.21 Die Diskussion um die „Nachkommenschaftsschädigung“ erfuhr aber eine Wende mit dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie 1925 in Wien, auf dem in zwei Diskussionsbeiträgen über strahlengeschädigte Kinder berichtet wurde.22 Die vehemente Kritik darauf wiegelte die Funde als Zufallsfunde ab.23 Der Bonner Gynäkologe Heinrich Martius schloss sich aber der Auffassung über die Keimschädigungsgefahr an,24 und der verdiente Gynäkologe Hugo Sellheim bezeichnete nun die Bestrahlung zur temporären Sterilisation als ein verwerfliches Experimentieren mit menschlichen Nachkommen.25 Die Unsicherheit in der Frage der Fruchtschädigung durch die temporäre Sterilisation war zu einem legitimen Problem im gynäkologisch-röntgenologischen Diskurs geworden. schlossen werden, da die nachreifenden Samenzellen ungeschädigt waren bzw. sich von der Bestrahlung erholt hatten. (Den Patienten wurde „verboten“, bis zur vollständigen Regeneration des Hodens sich sexuell zu betätigen.) Die histologischen und zellularpathologischen Untersuchungen im Tierexperiment bestätigten diese Annahmen. Statistische Untersuchungen an Familien von Röntgenologen und Röntgenarbeiter, die eine Phase der Sterilität durchgemacht hatten, ergaben darüber hinaus, dass – nach Angaben der Väter – die Kinder geistig und körperlich gesund und normal waren. Erwähnenswert ist, dass solche systematischen Erhebungen zunächst nur bei Ärzten und dem Personal von Bestrahlungseinrichtungen angestellt wurden, nicht bei den bestrahlten Patienten. Bis Mitte der zwanziger Jahre blieb die These, dass eine „Schädigung der Deszendenz infolge Bestrahlung der väterlichen Keimdrüsen nicht möglich ist“, unerschüttert (Flaskamp 1930: 209). 20 Flaskamp 1930: 1-2 21 Flaskamp 1930: 2. Das Schweigen der Sachverständigen, so der Röntgenologe Flaskamp entschuldigend, sei von dem Wunsch diktiert gewesen, „zunächst einmal restlos die Ursachen der Schädigungsmöglichkeiten zu klären und Mittel und Wege ihrer Verhütung zu finden“ (vgl. ebd.: 1-2). Flaskamps Habilitationsschrift von 1929 war die erste Monographie zum Thema der Strahlen- und Röntgenschäden. 22 An Kindern röntgenologisch tätiger Männer seien „mongoloide Anzeichen“ beobachtet worden, bzw. sie waren „imbezill“. Zudem sei ein röntgengeschädigtes Kind („ausgesprochener Mongolismus“) geboren worden, dessen Mutter eine temporäre Sterilisation erlitten hatte (vgl. Gummert nach v.Mikulicz-Radecki 1925: 1708 bzw. Seynsche 1926). 23 Vgl. Martius 1927a: 102; Flaskamp 1930: 244. 24 Vgl. Martius nach v.Mikulicz-Radecki 1925: 1708. 25 Vgl. Flaskamp 1930: 211. 210 Die aufbrechenden konträren Auffassungen brachten schnell die umkämpften Gegenstände zum Vorschein. Diese waren das Ei und die Regenerationsfähigkeit der reproduktiven weiblichen Funktionen. Was hieß es, wenn nach einiger Zeit das Ovar funktionell und morphologisch „vollständig wieder hergestellt“ war? Bedeutete die funktionelle Regeneration zugleich, dass die nachgereifte Generation befruchtungsfähiger Eier bzw. Eifollikel völlig unbeschädigt und „biologisch vollwertig“ war?26 Es war denkbar, dass die Bestrahlung eine Veränderung der Zellbiologie bewirkte, „die bei dem Ei zu einer makroskopisch und mikroskopisch gar nicht in Erscheinung tretenden Schädigung zu führen braucht, die die Konzeptionsfähigkeit nicht stört und sich gegebenenfalls im späteren Leben in irgendeiner Abnormität, in einer krankhaften Anlage oder einer konstitutionellen Minderwertigkeit äußert, also Individuen entstehen läßt die sich ihren nicht strahlengeschädigten Altersgenossen gegenüber als minderwertig erweisen“.27 Zugleich wurden die bisherigen histologischen und zellulären Untersuchungen in Frage gestellt. Der Maßstab für die Vollwertigkeit der Eier konnte nicht mehr die Befruchtungsfähigkeit sein, da die Strahlenwirkung nun von ihr entkoppelt war, sondern die Fähigkeit, gesunde Früchte hervorzubringen. Über die Frage aber, ob befruchtungsfähige Eier geschädigt sein konnten, kam es nun in der deutschen Gynäkologie zu einer Lagerbildung.28 5.1.2 Die Zeichen der „Vollwertigkeit“ einer Eizelle und der verschobene Blick in das Innere der Eizelle Mitte der zwanziger Jahre fand der Hallenser Gynäkologe Ludwig Nürnberger, ein Befürworter der Strahlenpraxis, in Bestrahlungsversuchen mit Mäusen zwar keine Anzeichen dafür, dass die Mäusenachkommen geschädigt worden waren, wohl musste er einräumen, dass schwache Bestrahlung reife Eizellen schädigen konnte, ohne sie zu zerstören und ihre Befruchtungsfähigkeit zu beeinträchtigen.29 Dies bestätigte die Infragestellung der Gleichsetzung von Befruchtungsfähigkeit und Unversehrtheit der Eizellen. Nürnberger führte darauf eine Unterscheidung ein, die die Annahme der Unbedenklichkeit der temporären Sterilisation weiterhin ermöglichte.30 Mit „Frühbefruchtung“ bezeichnete er die Konzeption kurz nach einer Bestrahlung und vor dem Versiegen der Regelblutung, bei der die reifsten und empfindlicheren Eizellen zur Befruchtung kämen. Die ungefährliche „Spätbefruchtung“ meinte dann die Konzeption nach Ablauf der temporären Sterilität. Die Unterscheidung stützte sich im Prinzip weiterhin 26 Flaskamp 1930: 222 u. vgl. 226. Schönholz 1925 28 Die Kliniken von Carl Gauß in Würzburg, Hermann Wintz in Erlangen, Georg Winter in Königsberg, Ludwig Seitz in Frankfurt und Albert Döderlein in München wie auch die Gynäkologen Hermann Stieve und Hans Naujoks vertraten weitestgehend die Auffassung, dass eine Schädigung von Nachkommen durch bestimmte Strahlendosen nicht zu erwarten war. Zeitweise empfahlen sie aus Gründen der Vorsicht vorerst eine mäßigende Verwendung der Methode. Sie waren aber vor allem von dem ungeheuren therapeutischen Nutzen überzeugt, der sich durch die temporäre Sterilisation in der Gynäkologie und über sie hinaus eröffnen würde („Der temporären Sterilisation gehört die Zukunft.“; Winter zit. n. Behrendt 1925: 2505). Dies wurde wiederum von anderer Seite bestritten. Einen deutlich kritischen Standpunkt gegenüber der Anwendung der temporären Sterilisation vertrat unter anderen Hugo Sellheim in Leipzig. 29 Vgl. Nürnberger 1926. 30 Vgl. Nürnberger nach Geppert 1926: 1093. 27 211 auf die Vorstellung von der unterschiedlichen Angreifbarkeit der Eizellen je nach ihrem Reifegrad, nur war sie nun an die neuen Unterscheidungserfordernisse angepasst. Die Unterscheidung von Früh- und Spätbefruchtung erlaubte es, das Konzept der „vollwertigen“ Eizellen zu retten. Zwar war nicht jede überlebende Eizelle nach einer Bestrahlung vollwertig, aber die jüngsten Entwicklungsstadien, genau die, die nach der Phase der Sterilität ausreiften, konnten nach Nürnberger als vollwertig gelten. Die Parallelität von Befruchtung und Gesundheit blieb gewahrt. Und die makroskopischen und mikroskopischen Gewebebefunde und die endokrine Physiologie galten weiterhin als Zeichen für die zellulären Zustände der Eizellen; nur hatte sich ihre Repräsentationsmöglichkeit auf die Zeit nach Eintritt der Phase der Sterilität verschoben. Diese Unterscheidung wurde zu einer der am härtesten umkämpften Markierung in der Diskussion um die Keimschädigung durch Röntgenstrahlen. Sie war vom Konzept der abgestuften Strahlenwirkung hervorgebracht worden, und jetzt hing dieses an ihr. Nichtsdestotrotz stellten Nürnbergers Untersuchungen einen Einschnitt dar, da nun nicht mehr bestritten werden konnte, dass die Bestrahlung der Ovarien prinzipiell Schädigungen der Nachkommen herbeiführen konnte.31 Frauen wurden nach Bestrahlung mit schwachen und mittleren Strahlendosen nun empfohlen, eine Konzeption unter allen Umständen zu vermeiden.32 Ein Teil der Ärzte machte aber weiterhin geltend, dass noch nie ein Kind nachweislich mit Schäden geboren worden war, die auf eine Bestrahlung vor der Befruchtung zurückgeführt werden konnten. Geschädigte Keime aus geschädigten Eizellen würden, so argumentierten sie, in frühen Entwicklungsstadien noch vor der Einnistung in der Uterusschleimhaut oder kurz danach zugrunde gehen.33 Mit dieser Argumentation wurde das Interesse von den Eizellen auf die Keime und Früchte verlagert. Die Unterscheidungen verschoben unmerklich das Problem der Debatte. Die Argumentation implizierte zuletzt, dass Schädigungen effektiv keine Rolle spielten, solange die bestrahlten Frauen gesunde Kinder zur Welt brachten. Ließ man sich darauf ein, verschwanden die Furchungen des Keims, die embryonalen Verwicklungen und die fötale Entwicklung als Bezugpunkte eigenen Rechts im praktischen Diskurs und der wissenschaftlichen Befragungen; die normative Kraft ging nun von der fertigen Erscheinung des Kindes aus. Diese Verschiebung des Blicks war ähnlich und passend zu der, die später die Genetiker bewirkten. In der Strahlengenetik der Fruchtfliege interessierte auch nur die geschlüpfte Larve als Indikator für unsichtbare Erbfaktoren. Alles dazwischen, die gesamte generative Physiologie, zelluläre und embryonale Entwicklung, konnte ausgeklammert werden. Entgegengesetzt, aber ebenso auf die Intervention der Genetik vorbereitend, verschob die „Spätbefruchtung“ den gynäkologischen Diskurs. Mit der Spätbefruchtung richtete sich das Interesse auf den Zeitpunkt nach der von einer Frau erlittenen Amenorrhoe. Denn Nürnberger hatte die Befürchtung nicht widerle31 Vgl. Martius & Franken 1926: 25. Von einzelnen Ärzten wurde gefordert, eine Schwangerschaft nach einer solchen Bestrahlung als Indikation zur Schwangerschaftsunterbrechung zuzulassen. 33 Vgl. Nürnberger nach v.Mikulicz-Radecki 1925: 1713. 32 212 gen können, dass auch die jüngsten und unempfindlichsten Eizellstadien unmerklich durch die Bestrahlung geschädigt würden. Die Befürworter der Strahlentherapie und temporären Sterilisation argumentierten nach bekanntem Muster dagegen, indem sie anhand histologischer Untersuchungen immer weiter spezielle Zellen, bestimmte Zellstadien und Gewebe nach der Strahlenwirkung differenzierten, immer weitere Binnendifferenzierungen des materiellen Substrats vornahmen, die immer neue unempfindliche Bereiche in den Keimdrüsen schufen oder anzweifeln ließen, dass mutierte Eizellen zur Befruchtung gelangen konnten.34 Durch diese Differenzierungen wurde umgekehrt das Augenmerk der Skeptiker immer weiter auf frühere Stadien der Eizellengenealogie, tiefer liegende Orte der weiblichen Keimbahn und unzugänglichere Mechanismen der reproduktiven Physiologie gerichtet. Sollte der gesamte keimfähige Körper – also auch frühe Eifollikel, unreife Eizellen und Primordialzellen – so strahlenempfindlich sein, dass mit Schäden zu rechnen war, dann konnte von einer vollständigen Restitution der generativen Organe nach einer temporären Sterilisation nicht mehr die Rede sein. Das medizinische Dilemma, bei einer zerstörenden therapeutischen Methode zwischen Nutzen und Schaden abwägen zu müssen, würde sich zuspitzen. Ab Mitte der zwanziger Jahre waren diese Fragen im gynäkologischen Diskurs explizit. Die organische und zelluläre Vertiefung der Frage nach der Schädigung von Keim, Frucht und Kind verschärfte das Problem und öffnete vererbungswissenschaftlichen Fragestellungen, die sich auf ähnliche Tiefendimensionen bezogen, einen Raum. 5.1.3 Genotypische Keimschädigungen und die Rezeption der Strahlengenetik Die Frage, ob Strahlen Schäden in der Erbsubstanz bewirken könnten, spielte in der gynäkologischen Diskussion lange keine besondere Rolle. Erstmals wurden auf der Versammlung Deutscher Naturforscher 1926 in Düsseldorf explizit die genetischen Schädigungsmöglichkeiten von anderen unterschieden. Der Gynäkologe Heinrich Martius belehrte seine Kollegen: „Wir müssen uns daran gewöhnen, die jetzt geltenden klaren Begriffe der Vererbungslehre zu übernehmen, da wir sonst Gefahr laufen, an einander vorbeizureden.“35 Erstmals wurde die vererbungswissenschaftliche Unterscheidung von Phänotyp und Genotyp eingeführt, die eine unberücksichtigte Gefahr artikulierbar machte. Ist es möglich, dass die „phänotypisch gesunden bzw. gesund erscheinenden Nachkommen genotypisch krank sind“?36 34 Der Berliner Gynäkologe Manfred Fraenkel war der Auffassung, dass jedes Eistadium gefährdet sei, dass die Schädigungen aber so gering sind, dass die Früchte ungeschädigt bleiben (vgl. Fraenkel 1924). Seitz (Frankfurt): Die geschädigten Primärfollikel würden sich restlos erholen, ähnlich wie nach Infektionen oder Intoxikationen (vgl. Seitz nach v.Mikulicz-Radecki 1925: 1713). 35 Martius Ausspracheprotokoll zit. n. Ottow 1926. – Martius grenzte parakinetische – nichterbliche – Keimschäden von echten Erbschädigungen durch Mutationen ab und unterschied dem entsprechend „Phänohygiene“ von der „Genohygiene“, musste aber eingestehen, dass sich die genetischen Zusammenhänge noch lange einer Beurteilung entziehen würden (vgl. Martius 1927a: 121-23). Martius bezog sich bei der Annahme, dass Röntgenstrahlen Mutationen auslösen können, auf Vermutungen von Fritz Lenz im Baur-Fischer-Lenz. 36 Martius 1927a: 105 213 Im Begriff der Keimschädigung war bislang die Schädigung des Follikels und der reifenden Eizelle von der der Frucht getrennt worden, ohne besondere Qualitäten der Schädigung zu unterschieden. Die Experimente hatten dazu geschwiegen.37 Dies änderte sich mit den „aufsehenerregenden“ strahlengenetischen Experimenten der amerikanischen Genetiker Clarence Little und Halsey J. Bagg am Jackson Memorial Laboratory, die das „Vorkommen von Schädigungen in späteren Generationen in den Bereich des Möglichen“ rückten.38 Sie berichteten von diversen Missbildungen in der Urenkelgeneration von bestrahlten Mäusen. Tierexperimente hatten bislang in der deutschen Diskussion kaum eine Rolle gespielt. Die vereinzelten ‚Gelegenheitsexperimente’ wurden nun aber einer verschärften Kritik unterzogen, wie auch die Verlässlichkeit und Übertragbarkeit der Versuchsergebnisse Little und Baggs sogleich angezweifelt wurden.39 Heinrich Martius begann in von Franqués Bonner Klinik als erster (deutscher) Gynäkologe mit systematischen Tierexperimente zur Röntgenfrage.40 Er wurde zugleich einer der vehementesten Warner vor möglichen Gefahren der Strahlentherapie in der Gynäkologie. Als Sohn des Konstitutionspathologen Friedrich Martius war er mit der Vererbungsproblematik vertraut, ebenso mit der modernen Erblichkeitslehre. Martius stellte sich hinter die Versuche Little und Baggs und versuchte zunächst dem Einwand entgegen zu treten, dass die Missbildungen Wirkungen der Inzucht seien.41 Die Welle von Untersuchungen, die Mitte der zwanziger Jahre durch vereinzelte Verdachtsberichte über geschädigte Kinder und durch die Säugetierversuche angeschoben wurden, führten zu keinem abschließenden Ergebnis. Die Diskussion befand sich auf einem „toten Punkt“, da sich die Ansichten „schroff und unvermittelt“ gegenüber standen.42 Unübersehbar war allerdings, dass sich jetzt die erbbiologische Schädigungsmöglichkeit als gesonderte Frage absetz37 Vgl. Martius 1927a: 118. Dyroff 1927: 305 (Bezug auf: Little u. Bagg: The occurrence of the heritable types of abnormality among the descendants of x-rayed mice, Americ. journ. of rontg. a. rad. therapy, 10, 1923) – Die amerikanischen Arbeiten wurden in Deutschland erst 1926 diskutiert (vgl. Flaskamp 1930: 234). 39 Vgl. zum Beispiel Nürnberger 1927: 143ff.. – Die aufgetretenen Auffälligkeiten oder Missbildungen am Nachwuchs könnten durch nicht kontrollierte Milieueinflüsse verursacht worden sein (vgl. Dyroff 1927). Rudolf Dyroff, Assistent an Wintz’ Erlanger Frauenklinik, bestrahlte Meerschweinchenweibchen und konnte bis in die 6. Generation „keinerlei Schädigungen der Nachkommen“ beobachten (vgl. Flaskamp 1930: 236). Nürnberger begann eigene Strahlenexperimente und kritisierte zugleich die Amerikaner (vgl. Nürnberger 1930: 448). – Little und Bagg selbst konnten, als sie unter Ausschluss des Inzuchtfaktors ihre Experimente wiederholten, unter mehreren Tausend Mäusenachkommen keine Schäden finden – zur Genugtuung der Mediziner in Deutschland (vgl. Martius 1927b: 2603). 40 1922 hatte der Amerikaner Mavor Versuche an der Obstfliege Drosophila publiziert, bei denen an den geschlüpften Fliegen morphologische Veränderungen auftraten, die er als genetisch bedingte Keimschädigungen interpretierte. Martius, der zu dieser Zeit noch bestritt, dass nach einer temporären Sterilisation Missbildungen auftreten könnten (vgl. Martius 1922), begann darauf mit eigenen Strahlungsversuchen an Mäusen. 41 Vgl. Martius & Franken 1926: 27. 42 Nürnberger 1927: 125 – Die Schwierigkeiten lagen unter anderem in der Vergleichbarkeit unterschiedlicher experimenteller Vorgehensweisen (vgl. Flaskamp 1930: 236-37). Flaskamp kritisiert an dieser Stelle, dass meist eine exakte Formulierung der Fragestellung fehlte. Die Ergebnisse würden so oft entsprechend einem „Gefühlsmoment“ gedeutet. Die zu lösende Aufgabe enthielte zahllose Unbekannte, da die Kenntnis der Natur der Röntgenstrahlen und ihrer biologischen Wirkung lückenhaft sei. 38 214 te.43 Mit zunehmender Bedeutung tierexperimenteller Arbeiten baute sich zudem ein Gegensatz zwischen tierexperimentell arbeitenden Medizinern und solchen auf, die als Röntgenologen oder Gynäkologen die Röntgentherapie als probates therapeutisches Mittel in der Klinik einsetzten. Der Gegensatz in den Auffassungen wurde zunehmend als Gegensatz unterschiedlicher wissenschaftlicher Provenienz abgebildet: „Erbforscher“ und Gynäkologen standen sich gegenüber, auch wenn die ‚echten’ Erbforscher noch gar nicht aufgetreten waren.44 Die Unterscheidung von Erbforschern und Gynäkologen verdeutlichte, wie weit die Strahlengefährdung mittlerweile als genetisches Problem verstanden wurde: „Die Mehrzahl der röntgentherapeutisch erfahrenen Gynäkologen sind unter dem Eindruck von Hunderten von Beobachtungen an der Frau mehr und mehr zur Einigung im Sinne der Ablehnung der Gefahr der Nachkommenschaftsschädigung gekommen. Bei den Erbforschern ist die Übereinstimmung nicht derartig groß.“45 Wenn die vererbungswissenschaftlich arbeitenden Mediziner sich noch uneins waren, so traf das auf die Vererbungswissenschaftler außerhalb der Medizin nicht zu. Unter dem Eindruck des 1927 in Berlin abgehaltenen Internationalen Kongress für Genetik waren sie sich einig in der Einschätzung der Gefahr, die von den Röntgenstrahlen ausging. Der amerikanische Genetiker Hermann Muller hatte in einem bahnbrechenden Vortrag über seine Strahlenexperimente mit der Fruchtfliege Drosophila die Mutationswirkung von Röntgenstrahlen nachgewiesen. Dieses Ergebnis erfasste auch die Debatte in der Gynäkologie. „Die Verquickung des Problems der Strahlenschädigung des Eierstocks mit Fragen der Nachkommenschaftsschädigung durch röntgenogene Störungen der Erbmasse ist eins der brennendsten Probleme der Gynäkologie geworden und hat zu einem lebhaften Gedankenaustausch geführt.“46 Erstmals wurde 1929 auf der Jahrestagung der Gynäkologen die Frage nach der Keimschädigungsgefahr im Lichte der Mullerschen Versuche diskutiert. Die Redner und Diskutanten waren sich einig, dass, wenn auch die prinzipielle mutative Wirkung von Röntgenstrahlen nicht zu bestreiten war, die Übertragung der Drosophilaexperimente auf die medizinische Strahlenanwendung nicht ohne weiteres möglich war. Unterschiede machten sich in der Bewertung der Ergebnisse für die medizinische Praxis fest. Insbesondere die süddeutschen Gynäkologen vertraten mehrheitlich die Auffassung, dass die theoretische Gefahr, die aus den Mullerschen Experimenten folgte, einen Verzicht auf die therapeutische Verwendung der temporären Sterilisation nicht rechtfertigte.47 43 Die Kenntnis der mendelschen Genetik war aber oft so unklar, dass der Unterschied der Schädigungswege nicht immer verstanden wurde. So wurde bspw. die Erbschädigung in Begriffen der „Vererbung erworbener Eigenschaften” gefasst (vgl. Dyroff 1927: 306). 44 Heim nach Vogt 1927: 1078-79 45 Flaskamp 1930: 230 46 Flaskamp 1930: 229 47 1930 gestaltete sich die Tagung der Bayerischen Gesellschaft für Geburtshilfe und Frauenheilkunde in München als eine konzertierte Mobilmachung gegen die Welle von tierexperimentellen Röntgenversuchen und Mutationstheorien. Der engere Kreis, zumeist Schüler des Münchener Gynäkologen Albert Döderlein, bildete sich aus den Kliniken in Würzburg (C. J. Gauß), Erlangen (H. Wintz) und München, sowie Halle (L. Nürnberger u. H. Stieve) und Marburg (H. Naujoks u. E. Kehrer) (vgl. Festband: Strahlentherapie, 37, 1930 u. Tagungsbericht nach Dyroff 1930). 215 Gegen die genetischen Experimente wurde eingewendet, dass den Versuchen an der Fruchtfliege alle Voraussetzungen fehlten, das spezifische gynäkologische Problem der Spätbefruchtung zu klären. Bei Schmetterlingen könne zwischen reiferen und unreiferen Eizellen nicht differenziert werden, da sich die Eier in mehreren Eischläuchen gleichzeitig in verschiedenen Stadien der Reife befänden.48 Das Fazit der Gynäkologen: „Wir vermissen aber die Beziehung zu unserer Kardinalfrage, [...].“49 Zahlreiche klinische Kasuistiken wurden angeführt, nach denen Frauen, die nach einer temporären Sterilisation schwanger geworden waren, normale und gesunde Kinder zur Welt gebracht hatten.50 Die Entgegensetzung der Meinungen lief demnach auf eine methodische Frontstellung von klinischer und tierexperimenteller Medizin bzw. Genetik hinaus. 5.2 Von der Individualmedizin zur Eugenik: Die Intervention der Genetik 51 „Man muß entweder die Keimdrüse ganz zerstören oder sie vor Strahlen schützen.“ Als sich die Genetiker in den Diskurs um die „Nachkommenschädigung“ einschalteten, befand sich die gynäkologische Diskussion noch in jener Pattsituation, in der das Festhalten an den jeweiligen Standpunkt „zu einer Glaubensfrage geworden“ war.52 Schon kurz nach dem internationalen Genetikerkongress meldeten sich Genetiker und Humangenetiker zu Wort – allen voran der Mediziner und Direktor des Münchener Instituts für Rassenhygiene, Fritz Lenz. Mullers Vortrag sei der „wissenschaftliche Höhepunkt der Tagung“ gewesen.53 Seine eigenen Vorhersagen, die er in der „Menschlichen Erblichkeitslehre“ über die Bedeutung der Strahlen für die „Entartungsfrage gemacht“ hatte, seien bestätigt worden. Unzulänglichkeiten in der Methodik und biologischen Fragestellung hätten bis jetzt aber die Einsicht verhindert, dass Röntgenbestrahlung ziellos ungerichtete Mutationen auslösen. An die röntgentherapeutisch arbeitenden Ärzte richtete Lenz deutliche Warnungen.54 Ihm folgte Eugen Fischer, der sich über die Berliner Gesellschaft für Rassenhygiene (Eugenik) an ein breiteres akademisches Publikum sowie an Eugeniker und Ärzte wandte. Fischer initiierte zugleich epidemiologische Erhebungen an seinem Institut, dem Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, 48 Vgl. Flaskamp 1930: 230. – Andere Argumente waren, dass die Befruchtung der Drosophilaweibchen bald nach der Bestrahlung erfolgt war, was bei einer Analogisierung der Versuche einer Frühbefruchtung beim Menschen entsprach. Und: Von temporärer Sterilisation könne bei den meisten genetischen Versuchsobjekten nicht gesprochen werden, da eine Röntgenamenorhoe – Ausfall der Regelblutungen – bei Fliegen unmöglich sei. 49 Flaskamp 1930: 231 50 Ende der zwanziger Jahre wurden bereits mehr als 300 solcher Beobachtungen aufgelistet. 51 Diskussionsanmerkung E. Fischers nach Schultze 1930: 2038 52 Aussprachebemerkung von Nürnberger nach Ottow 1929: 1920 53 Hier und nachfolgend: Lenz 1927a: 1731. Gemeint ist das einflussreiche humangenetische Lehrbuch von Erwin Baur, Eugen Fischer und Lenz (1. Auflage 1921), in dem Lenz die Teile „Krankhafte Erbanlagen“ und „Menschliche Auslese und Rassenhygiene“ verfasste (vgl. Lenz 1923: 313-15). 54 Vgl. Lenz 1927b: 2136. 216 menschliche Erblehre und Eugenik. Polemisch wandte er sich gegen den Münchener Gynäkologen Albert Döderlein und bemerkte, dass das Prinzip „primum non nocere“ nicht nur für die individuelle Behandlung, sondern „auch für die Erblinie“ gelten müsse.55 Fischers eugenische Position fand aktive und vehemente Unterstützung durch die Vererbungswissenschaft. Den Berliner Eugenikern und Genetikern gelang es, gegen die mächtige Opposition im süddeutschen Raum eine große Zahl von Gynäkologen und Röntgenologen für ihre Sache einzunehmen. Sie mobilisierten von Berlin aus – in den Worten von Latour – ein „center of calculation“56, ein durchsetzungsfähiges Konglomerat aus experimenteller Unterstützung, konzeptueller Verknüpfung, Loyalität und Geltungsansprüchen. In einem Netz von begrifflichen Gleichungen („calculations“) wandelte sich die klinische Strahlengefahr für Leib und Leben ungeborener Kinder in die eugenische von ‚ungeborenen’ Mutationen rezessiver Gene. 5.2.1 Von der Keimschädigung zur Schädigung der Keimbahn Den Auftakt zur offenen Konfrontation zwischen Genetik und Gynäkologie gab die Tagung der Deutschen Röntgenologischen Gesellschaft in Berlin im April 1930. Die Verhandlungen unter dem Themenschwerpunkt „Erbschädigung durch Bestrahlung“, resümierte der Referent, „nahmen in der Aussprache einen geradezu sensationellen Verlauf“.57 Von verschiedenen Seiten wäre festgestellt worden, dass – bei Übertragung der tierexperimentellen Ergebnisse auf den Menschen – konsequenterweise „jede Anwendung von Röntgenstrahlen zum mindesten zunächst bis zur Klärung dieser Frage unterbunden werden müßte“. Zum Thema referierten keine Röntgenologen, sondern eingeladene Genetiker. Hans Stubbe, Assistent am Kaiser-Wilhelm-Institut für Züchtungsforschung, berichtete über Radium- und Röntgenstrahlen als mutationsauslösende Faktoren anhand eigener Versuche am Löwenmäulchen und Emmy Stein über ihre Experimente, die sie seit Anfang der zwanziger Jahre am Institut für Vererbungsforschung der Landwirtschaftliche Hochschule über die Wirkung der Strahlen auf das Pflanzengewebe ausführte. Stubbe stellte die Wirkung von Strahlenmutationen dar. Sie würden fast immer zu pathologisch veränderten Formen führen, deren Lebensfähigkeit stark herabgesetzt ist. Die bestrahlten Pflanzen seien mit normalen Pflanzen deshalb nicht mehr konkurrenzfähig. Für den Mediziner wären diese Ergebnisse von Interesse, hob Stubbe mit ausdrücklichem Hinweis auf die temporäre Sterilisation hervor, da „mit Sicherheit“ anzunehmen sei, dass „diese Ergebnisse auch für den Menschen Geltung haben“.58 Von entscheidender Bedeutung in der Argumentation war die Methodik. Die Überprüfung der Pflanzen in der Enkelgeneration hatte ergeben, dass geschädigte und fortentwicklungsfähige Zellen zunächst zwar zu ganz gesunden Individuen führen, dass sich die krankhaften – rezessiven – Erbfaktoren dann aber in den nächsten Generationen manifestierten. Auch nach Stein war dieser 55 Fischer 1930a: 373 – Zu Döderlein, vgl. Fußn. 47. Latour 1987: 239 57 Hier und nachfolgend: Schultze 1930: 2036 58 Stubbe nach Schultze 1930: 2036-37 56 217 Schritt, die F2- und Urenkelgenerationen in die Betrachtung einzubeziehen, entscheidend. „Die Kreuzung kranker Pflanzen mit gesunden ergibt in der ersten Generation Pflanzen, die zum größten Teil äußerlich nur schwer von gesunden zu unterschieden sind [...] Die zweite Generation enthält wieder die ganz kranken und ganz gesunden Großelterntypen.“59 Wirklich Neues zu den bereits unter den Röntgenologen und Gynäkologen bekannten Drosophilaversuchen und zum Problem der temporären Sterilisation konnten Stubbe und Stein nicht berichten, doch mit diesen Referaten waren die Orientierungspflöcke der Genetik für der Anwendung von Röntgenstrahlen eingeschlagen. Erwin Baur, unter dessen Leitung die Pflanzenversuche Stubbes und Steins standen, konnte nun in einer Art Koreferat die Eckpunkte der botanischen Bestrahlungs- und Vererbungsversuche zu einem Orientierungsrahmen für die Frage der medizinischen Anwendung der Röntgenstrahlen verbinden. Die rezessiven Mutationen seien die eigentliche Bedrohung. Die Kulturmenschheit schleppe „schon einige hundert mehr oder weniger unangenehmer pathologischer Erbfaktoren mit herum“.60 Diese Anlagen würden sich ungehemmt verbreiten und durch Strahlen und andere Keimgifte – eventuell auch Arzneimittel – ständig vermehrt. Über eine untere schädliche Dosis der Bestrahlung sei bislang nichts bekannt. Die strahlengenetische Sichtweise der Röntgenanwendung lenkte die Aufmerksamkeit auf eine einfache, aber zwingende Kaskade von Aussagen: Strahlen erzeugen Mutationen. Mutationen führen zu (rezessiven) pathologischen Erbfaktoren. Pathologische Faktoren sind unauslöschlich und bewirken irgendwann mit Sicherheit Schädigungen am Menschen. Die temporäre Sterilisation und der Einsatz von Röntgenstrahlen überhaupt wurden damit in Frage gestellt. Das Problem war allerdings zunächst, den Medizinern zu verdeutlichen, dass die genetischen Strahlenschäden in den klinischen Untersuchungen auf Grund der geringen Fallzahlen unentdeckt bleiben mussten.61 Deswegen die Betonung der Methode. Am einfachen botanischen Objekt ließ sich den Medizinern auf dem Berliner Kongress vorführen, dass solche Mutationen unvermeidlich und in einem bedrohlichen Ausmaß stattfanden, dass sie alle Zellen eines Organismus betrafen und dass sie sich unsichtbar und unkontrollierbar ständig vermehrten, um von Generation zu Generation immer zerstörerischer zu Tage zu treten. 59 Stein zit. n. Schultze 1930: 2037. Stein besprach in ihrem Vortrag die Entstehung von pflanzlichen Carcinomen durch somatische Mutationen. Sie behauptete, dass durch die Bestrahlung von embryonalem Gewebe mit Radium oder Röntgen Störungen in der Erbsubstanz und in der Folge Entartungen der wachsenden Gewebe ausgelöst werden könnten. Die Entartungen wären erblich und „unauslöschlich“, wenn die Störungen die Keimzellen betrafen. Die „Erbbiologie ist [...] imstande, erbliche Entartung gesunder Stämme auszulösen“ (ebd.: 2038). Siehe zur Mutationstheorie der Krebserkrankungen: Seite 162. 60 Baur zit. in Schultze 1930: 2038-39 61 Vgl. Lenz 1923: 314. – Das gleiche statistische Argument wurde auf die Tierexperimente der Gynäkologen angewandt: „Die paar Kaninchenversuche, auf Grund derer gewisse Autoren auf Unschädlichkeit der Ovarienbehandlung schließen zu können meinten, sind genetisch durchaus unzulänglich, um derart verantwortungsvolle Eingriffe verantworten zu können“ (Lenz 1927b: 2136-37). – Ein Problem der klinischen Untersuchungen war oft, dass sie sehr oberflächlich erfolgten. In einzelnen Fällen allerdings führten sie zur völligen Ablehnung der temporären Sterilisation, so zum Beispiel in der Klinik von Naujoks (Königsberg, dann Marburg), nachdem bei Kindern von Mitarbeiterinnen Auffälligkeiten aufgetreten waren (vgl. Naujoks 1930). 218 „[W]as wir befürchten, ist die Durchsetzung der Population mit krankhaft rezessiven Erbfaktoren.“62 Die anwesenden Mediziner in Berlin waren gefangen in dieser erbbiologischen Logik und gaben den Eugenikern weitere Steilvorlagen.63 Wenn Strahlen immer gefährlich seien, könnte dann nicht auch die äußerst niedrig dosierte „Reizbestrahlung oder länger dauernde Durchleuchtung gefährliche Dosen“ verabreichen (v. Schubert) und werde nicht „bei jeder Bestrahlung und Durchleuchtung eine indirekte Keimbestrahlung mit kleinsten Dosen ausgeführt“ (Flaskamp)?64 Zunächst hatten die Gynäkologen die Mullerschen Fliegenergebnisse durch das erdrückende klinische Material, das für die Ungefährlichkeit der Röntgenbestrahlung sprach, abfangen können. Spätere Generationen wurden nur vereinzelt einbezogen.65 Die Logik der Strahlengenetik aber erzwang die Berücksichtigung der generationsüberschreitenden Wirkung von Mutationen in der Keimbahn als sine qua non der Klärung des Strahlenproblems. Mit der Untersuchung der Kinder bestrahlter Frauen war nichts zu beweisen. „Ja, eine sichtbare Schädigung an den Kindern solcher Frauen ist theoretisch ganz außerordentlich unwahrscheinlich. Frühestens Enkel, mit größerer Wahrscheinlichkeit Ur- und Ururenkel können die Schädigung aufweisen.“66 Mutation und Rezessivität – Strahlenversuch und genetisches Konzept – ließen theoretisch keinen anderen Blickwinkel zu. Was für die Mediziner, Gynäkologen und Röntgenologen bislang eine Frage nach der Strahlenschädigung des Keims gewesen war, wurde in den Augen der Genetiker eine Frage nach der Abänderung mendelnder Erbanlagen. Unter Einsatz von Histologie und gewebs- und zellpathologischen Betrachtungen hatten die Röntgenärzte und Gynäkologen die Auffassung von der abgestuften Empfindlichkeit der Eizellen gegenüber Bestrahlung begründet. Die Erfahrungen auf Grund dieser Methodenwahl legitimierten die Unterscheidung in Früh- und Spätbefruchtung. Die Anwendung der Röntgenstrahlen war für die Vererbungswissenschaftler nicht ein Problem der Entwicklungsbiologie und Embryologie, sondern ein rein strahlengenetisches Problem innerhalb der Mutationsbiologie. Mikroskopische Untersuchungen zur Reproduktionsphysiologie, der Entwicklung und Reifung der Eier im Ovar oder der Entwicklungsmechanik des befruchteten Eis und der Leibesfrucht waren in dieser Herangehensweise von vornherein ausgeblendet.67 Die Botschaft der Genetiker war, dass die Methoden zur Erforschung des Keims und seiner Entwicklung die falschen Methoden waren, um die Strahlenschädigung zu erforschen, weil nicht der Keim sondern die Keimbahn das Problem war. Dieses radikal andere Verständnis des Röntgenproblems war selbst für die Kritiker der Strahlentherapie in der Gynäkologie nicht selbstverständlich. Mar62 Hertwig 1932b: 677; vgl. auch Martius 1934: 788. Es wurde lediglich allgemein problematisiert, dass es in der Medizin kaum gänzlich unschädliche Methoden gäbe und immer Gefahren und Nutzen im richtigen Maßstab gegeneinander abgewogen werden müssten (vgl. Holzknecht zit. in Schultze 1930: 2038). 64 Schultze 1930: 2038 65 Vgl. Flaskamp 1930: 246. 66 Fischer 1930d: 14 67 Der Rückgriff die Genetiker auf klinische Befunde oder die phänotypische Untersuchung der geborenen Versuchstiere hatte einen anderen Stellenwert. Er war ein Instrument, um an die Erbanlagen heranzukommen. 63 219 tius sah noch 1927 in der Entstehung von pathologischen rezessiven Anlagen durch Röntgenstrahlen keine Gefahr.68 Martius ging es um die direkte Wirkung der Röntgenstrahlen auf den Nachwuchs, weshalb er in seinen Versuchen bloß die F1-Generation der bestrahlten Mäuse untersucht hatte. Damit mussten ihm die rezessiven, pathologisch mutierten Erbanlagen entkommen. 1931 schrieb er aber mit dem neuen Weitblick der Genetik seinen Kollegen ins Gewissen: Der „Röntgenarzt sollte sich hüten, den Bestand der schon vorhandenen heterozygoten und damit zunächst noch latenten pathologischen Erbmerkmale im Keimgut des Menschen zu vergrößern.“69 5.2.2 Die eugenische Dynamik der Röntgenmutation Mit Anwendung der strahlengenetisch gewendeten Mendelgenetik auf das Problem der Röntgentherapie, so kann festgehalten werden, wurde das Problem in die opake körperliche Tiefe verlegt und an den Genotyp gebunden. Der Genotyp wurde aber nur in der Erscheinung der Generationen transparent. Der neue Weitblick unterschied sich vom bisherigen Nahblick der Gynäkologen und Röntgenärzte nicht nur methodisch, sondern auch grundsätzlich in seiner Richtung. Mit der methodischen Einführung der Generation als Untersuchungseinheit wurde zugleich ein eugenisches Erkenntnisinteresse eingeführt, das einen Handlungsmaßstab transportierte, der dem medizinischen diametral entgegengesetzt war. Der Zusammenhang von Methode und Handlungsbezug wird bei Eugen Fischer überdeutlich. Im Mai 1930 veranstaltete die Berliner Gesellschaft für Eugenik einen Vortragsabend über das Thema „Erbschädigung beim Menschen“ mit Fischer als Hauptredner.70 Gleich einleitend machte Fischer deutlich, dass das Gebiet der Neuentstehung mendelnder Erbfaktoren durch Röntgenstrahlen nicht nur von ärztlichem Interesse, sondern für die Eugenik von grundlegender Bedeutung sei. Sein Vortrag sei als ernste an die Allgemeinheit gerichtete Warnung zu verstehen.71 Fischer griff die alte gynäkologische Diskussion um die Wertigkeit der Eizellen auf. Die „schicksalsschwere Frage“ sei: „Können diese Röntgenstrahlen nur Eier töten und andere am Leben lassen, oder können sie auch zwischen Tod und völligem Gesundbleiben die Mitte halten?“72 Die Gynäkologen Nürnberger, Wintz und Döderlein könnten den ersten Standpunkt nur vertreten, weil sie die „tausendfältigen Erfahrungen der Mendelvererbung“ in ihrem klinischen Horizont ausblendeten.73 In der Erzeugung von „krankhaften Erbanlagen“ aber hielten die Röntgenstrahlen die „Mitte“. Und bedrohlich waren sie, weil sich diese einmal entstandenen Erbanlagen, entgegen einiger Annahmen und anders als die reproduktive Funktion der Ovarien, nicht irgendwann regenerieren würden. „Von Veränderung, ‚Erschöpfung’ ist keine Rede!“; die Erb68 Vgl. Martius 1927b: 2603. Martius 1931: 51 70 Über den Vortrag, der auf die Ablehnung der temporären Sterilisation hinauslief, wurde in der Medizinischen Welt berichtet, veröffentlicht in Das kommende Geschlecht („Zeitschrift für Eugenik. Ergebnisse der Forschung“, sozusagen die Hausschrift des KWI für Anthropologie. Herausgeber waren Fischer, Herman Muckermann und Otmar Frhr. v. Verschuer). 71 Vgl. Fischer 1930d: 2. 72 Fischer 1930d: 11. 73 Hier und nachfolgend: Fischer 1930d: 15 69 220 anlagen vererbten sich weiter; „sie sind vorhanden, sie erlöschen nicht mehr wieder!“74 Die eugenische Umdeutung des Problems der Keimschädigung vermittelte sich über die Methode. Die medizinische Methode war auf die Frage ausgelegt, ob ein Kind mit einer Schädigung zur Welt kam. Die Wirkung der Strahlen auf die Eizellen, Follikel, Keime und Früchte lag in der medizinische Debatte nahe, insofern die daraus resultierenden Schädigungen in einer Schädigung des geborenen Kindes kumulierten. Für die Transmissionsgenetik stellte der Organismus eine Black Box dar, da in der idealen mendelgenetischen Verschaltung von Phänotyp und Erbfaktor eine determinierende Beziehung zwischen beiden bestand. Die genetische Konzeptualisierung der Mutationen und die genetische Methode der Erbanalyse bedingten den genealogischen Weitblick. Weil die Vererbung bloß als ein Problem der Weitergabe von Erbfaktoren und ihrer verschiedenen Ausführungsversionen dargestellt wurde, war es ihr unmittelbarster Zugang, die Strahlenanwendung als ein Problem der Erzeugung von Mutationen und nicht der Entwicklung und Ausprägung eines physiologischen oder organischen Schadens zu sehen.75 Aus der genealogischen Darstellung der Mutationen erklärt sich auch, dass die Genetiker nicht zwischen verschiedenen Strahlenanwendungen unterschieden. Die temporäre Sterilisation war aus der Sicht der Genetik kein prinzipiell anderes Problem als alle anderen Strahlenanwendungen, solange die Keimdrüse in den Fokus der Bestrahlung geriet und es nicht zum Eintritt einer bleibenden Sterilität kam. Sterilisierte Frauen waren nur „von rein ärztlichem Interesse“, weil von der „Entstehung krankhafter Erbanlagen nicht die Rede“ sein konnte.76 Die Argumentation der Genetiker ging also nicht umsonst immer von einer methodischen Kritik aus. Mit der methodischen Umorientierung wurde das individualmedizinische Problem der Gynäkologen implizit zu einem illegitimen Problem – implizit, da die Genetiker nicht auf die Frage der unmittelbaren Wirkung der Strahlen auf den Keim und Embryo eingingen und diese Wirkung durch die genetische Methode gar nicht einzuholen war.77 Der genetischen Formulierung des Röntgenproblems entsprachen einerseits biologische Fragestellungen; denn mit den Röntgenversuchen eröffnete sich der Genetik ein Zugang zum Problem der Mutation.78 Im Diskurs mit den Medizinern transportierten die Mutationen andererseits die praktische Wendung der strahlengenetischen Fragestellung in ein eugenisches Problem. Die methodisch angeleitete Ausdehnung des Interesses auf die zukünftigen Generationen repräsentierte ein originär eugenisches Anliegen: Wie kann der „Bestand der gesunden Erblinien als solcher in einem Volk“ gepflegt und geschützt werden?79 74 Fischer 1930d: 15 Wie im Kapitel 4 dargestellt, war die Transmissionsgenetik in Deutschland entwicklungsphysiologischen Fragestellung gegenüber offen. Diese Verbindung eignete sich aber nicht schon für die normative Anwendung auf einen fachfremden Kontext. 76 Fischer 1930d: 10 77 Versuche, die Strahlenschädigung der Keimzellen oder Frucht wieder zu einem legitimen Gegenstand des Diskurses um Röntgenstrahlen in der Gynäkologie zu machen, blieben erfolglos (vgl. Nürnberger 1932: 709). 78 Zur Verbindung von Strahlengenetik und genetischer Konzeptbildung, siehe 4.2.1. 79 Fischer 1930d: 19 75 221 Die implizite Delegitimierung der medizinischen Fragestellung durch die genetische Methode und eugenische Wendung erklärt, warum die medizinischen Einwände gegenüber den Genetikern nicht mehr funktionierten. So wurde eingewendet, dass die mögliche Gefahr einer Strahlenschädigung gegen die heilende Wirkung der Strahlen im einzelnen Fall abgewogen werden müsse. Der Freiburger Gynäkologe Pankow dagegen wendete im Sinne der Eugeniker ein, dass dies eine falsche Fragestellung sei. Man müsse jedes Risiko ausschließen, „da wir am wertvollen Menschenmaterial arbeiten“.80 Nicht das Individuum war wertvoll, sondern sein Erbbestand, der Maßstab medizinischen Handelns sein sollte. Fischer, der den einsichtigen „erfahrenen Geburtshelfer und Frauenarzt“ lobte,81 brachte es auf den Punkt: Die ethische Verantwortung, die ein Arzt dem kranken Menschen gegenüber habe, müsse erst recht sein Handeln gegenüber dem Erbgut der gesamten Bevölkerung beeinflussen. Da es um die Erbanlagen „als solche“ ginge, blieben nur zwei Alternativen übrig: Sterilisation und Therapie oder der Verzicht auf beides. „Von diesem Standpunkt aus kann ich eigentlich nur das Entweder-Oder vertreten, entweder eine derartige Bestrahlung, daß jede künftige Eireifung ausgeschlossen ist, oder überhaupt keine.“82 Eine Abwägung der Risiken war damit obsolet. In der Akzeptanz des eugenischen Maßstabs bestand der eigentliche „sensationelle Verlauf“83 der Berliner Tagung. Die eugenische Seite der Strahlenwirkung war in der Gynäkologie bisher nur vereinzelt und vor dem Hintergrund sehr uneinheitlicher und diffuser Vorstellungen über die Veränderung der Keimbahn thematisiert worden.84 Im diskursiven Sog der Genetik und menschlichen Vererbungsforschung gefangen, musste sich Heinrich Martius, der zwar als Erster genetische Fragestellungen aufgegriffen hatte, aber zunächst keine generell eugenische Sicht entwickelt hatte,85 schließlich fragen, „ob wir nicht die therapeutischen Erfolge am Einzelindividuum durch Schädigungen im Bestand des Erbgutes der Menschheit erkaufen, Schädigungen, die erst nach Generationen bemerkbar werden können“.86 Da er die temporäre Sterilisation und die Schwachbestrahlung der Eierstöcke für nicht so erfolgreich hielt, kam er schließlich zur Entscheidung, dass „wir doch der Rücksicht auf das Keimgut der uns anvertrauten Menschen das Übergewicht zuerkennen“87 müssen – oder, weiter zugespitzt: „hat der Erfolg am Einzelindividuum zurückzutreten hinter der Achtung vor dem Intaktbleiben des Keimgutes“88. 80 Pankow nach Ottow 1929: 1915-17. Herv. Verf. Fischer 1930d: 18 82 Fischer 1930c. Siehe auch das Eingangszitat Seite 205. 83 Schultze 1930: 2038. Siehe auch das Eingangszitat Seite 215. 84 Max Hirsch hatte 1914 vor dem Einsatz der temporären Sterilisation gewarnt, da Röntgenstrahlen genauso ein Keimgift seien wie bspw. Blei, Quecksilber, das Virus syphilitcum, Bakterientoxine, Alkohol und Nikotin (vgl. Hirsch 1914). Arnold Hirsch, der Neffe, forderte 1925, dass „endlich mit diesen gefährlichen Experimenten sowohl aus medizinischen als aus eugenetischen Gründen Schluß gemacht“ werde (Hirsch 1925: 394). 85 Martius hatte zunächst nur generell den Einsatz der Röntgenkastration aus eugenischen und sozialen Gründen abgelehnt (vgl. Martius 1922: 1539). 86 Martius 1930: 169 87 Martius 1930: 176 88 Martius 1931: 66 81 222 5.3 Die ‚feindliche Übernahme’ des Problems der Röntgenschäden durch die Genetik Mit der provokativen Argumentation, dass die bisherigen Anstrengungen in der Gynäkologie in die falsche Richtung gelaufen wären, drohte die Vererbungswissenschaft, das methodische Gefüge des röntgenologischen und gynäkologischen Diskurses umzuwerfen, und war mit diesem Paukenschlag in die medizinische Diskussion um die temporäre Sterilisation eingetreten. Die methodische Umdeutung des Problems der Röntgenbestrahlung in der Gynäkologie wurde von den Gynäkologen aber nicht ohne weiteres akzeptiert. Um gegenüber den Medizinern ihren Kompetenzanspruch durchzusetzen und die Entscheidung über die Anwendung von Röntgenstrahlen an erbbiologische Experimente zu binden, mussten die Genetiker den Druck auf die widerständigen Gynäkologen erhöhen. 1932 kam es schließlich zu einer Vereinbarung zwischen Genetikern und Gynäkologen, welche das Ende der temporären Sterilisation einleitete. In den Händen der Genetik verwandelte sich die Frage nach der Gefahr der Nachkommenschaftsschädigung bei der temporären Sterilisation zugleich in die nach Erbschädigungen durch Röntgenstrahlen ganz allgemein. Die weiteren Vorgänge spielten sich auf zwei Ebenen ab. Zum einen wurden die jeweiligen Fachgesellschaften mobilisiert, um den je eigenen prinzipiellen Kompetenzansprüchen Nachdruck zu verleihen. Zum anderen wurden quer zu den Fachgrenzen Forschungsarbeiten ins Rollen gebracht. Es wurden Strukturen – zum Teil kooperativ zwischen Gynäkologen und Genetikern – zur Koordinierung von Forschungsarbeiten gebildet. Der Übersicht halber sollen beide Entwicklungsstränge getrennt verfolgt werden. 5.3.1 Die Gynäkologie in die Enge gedrängt. Die Entschließung der Vererbungswissenschaftler Das Jahr 1931 führte die Konfrontation der Fachgesellschaften auf ihren Höhepunkt. Auf der Röntgenologentagung nahm der Gynäkologe Carl Gauß Stellung für die temporäre Sterilisation. Sie leiste zu wertvolle Dienste, als dass man auf sie verzichten sollte. Gauß gab bekannt, dass unter Billigung der Deutschen Röntgengesellschaft eine Zentralstelle eingerichtet werden sollte, die dauerhaft weitgehend alle Kinder und Kindeskinder von temporär strahlensterilisierten Frauen erfassen sollte, um festzustellen, „ob und inwieweit die theoretisch gefürchtete Keimschädigung praktisch vorkommt oder nicht“.89 Gauß begrüßte zwar die Initiative zu Tierexperimenten an Erwin Baurs Kaiser-Wilhelm-Institut für Züchtungsforschung, doch nur unter der Voraussetzung einer mit „anderen Mitteln arbeitenden Förderung dieser so wichtigen Frage“.90 Die medizinische Sicht des Problems sollte durch das klinische Register gestärkt werden. Konsequenterweise schwebte Gauß die Einrichtung der Zentralstelle an seiner eige- 89 90 Gauß zit. in Philipp 1931: 2386 Gauß zit. in Philipp 1931: 2386 223 nen Klinik vor.91 Das klinische Register repräsentierte somit die ablehnende Haltung der Gynäkologen gegenüber der Übertragung der tierexperimentellen Ergebnisse auf die Verhältnisse der Klinik.92 Auf der kurze Zeit später stattfindenden Tagung der Gynäkologen blieb eine Diskussion über die temporäre Sterilisation aus und eugenische Ansinnen, Sterilisation und Konzeptionsverhütung für die Verhinderung der Zunahme der „Minderwertigen“ einzusetzen, wurden zurückgewiesen.93 Im September 1931 tagte die Deutsche Gesellschaft für Vererbungswissenschaft in München. Paula Hertwig, Assistentin am Institut für Vererbungsforschung der Landwirtschaftlichen Hochschule in Berlin, erstattete Bericht über „Die künstliche Erzeugung von Mutationen und ihre theoretischen und praktischen Auswirkungen”. Die theoretischen Ausführungen mündeten im frontalen Angriff auf die Erlanger Schule um Wintz, die auf der Bedeutung der Unterscheidung von Früh- und Spätbefruchtung beharrte. Vom „Standpunkt der Eugenetik“, kritisierte Hertwig, sei Wintz’ Artikel in der neuesten Ausgabe des Handbuches der gesamten Strahlenheilkunde von Lazarus bedenklich, da er dort weiterhin die Ungefährlichkeit der temporären Sterilisation behaupte.94 Nach dieser stimmungsvollen Vorbereitung wurde eine vom Vorstand der Gesellschaft eingebrachte Entschließung über die temporäre Sterilisation bei einer Gegenstimme angenommen, in der eindringlich vor den Gefahren gewarnt wurde, die der „Nachkommenschaft durch Röntgenbestrahlung der Keimdrüsen, insbesondere bei der sogenannten temporären Sterilisation“ drohten. Die Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene (Eugenik) schloss sich sofort an.95 Die Entschließung war an die gesamte „deutsche Ärzteschaft“ adressiert. Damit wurde die Ebene der Konfrontation der beiden Disziplinen verlassen und der Druck auf die Gynäkologen erhöht. Nicht nur die temporäre Sterilisation wurde 91 An Gauß’ Klinik in Würzburg wurden bereits seit längerem Daten erhoben. Dieses Projekt stand also in Konkurrenz zu dem Register am KWI Anthropologie. Lothar Loeffler kündigte unabhängig von Gauß auf der Tagung die Fortsetzung der Erhebung am KWI für Anthropologie (vgl. Fußn. 92) auf möglichst breiter Basis an. 92 Vgl. Maurer 1932: 698. – Von der genetischen Seite (E. Fischer) wurde dagegen ein eigenes Register angestrengt, mit dem bereits 1927 begonnen worden war. Lothar Loeffler, Mediziner und Ass. am KWI Anthropologie, veröffentlichte 1929 eine Erhebung unter Röntgenärzten und Röntgentechnikern über mögliche Schädigungen bei ihren Kindern (vgl. Loeffler 1929). Solche Erhebungen waren von gynäkologischer und röntgenärztlicher Seite mehrfach durchgeführt worden, aber noch nie unter einem spezifischen genetischen Interesse. Hans Naujoks, Gynäkologe und Röntgenologe in Marburg, hatte 1930 in Bezug auf die Untersuchungen von Loeffler die Einrichtung eines Registers am KWI für Anthropologie vorgeschlagen (vgl. Naujoks 1930: 580). Mit der Einrichtung eines umfassenden Erbregisters am KWI für Anthropologie zur rassenbiologischen und erbpathologischer Erfassung bestimmter „Erblinien“ im deutschen Volk war 1929 begonnen worden. Die Arbeiten wurden von der Notgemeinschaft unterstützt und im dortigen Fachausschuss für Gemeinschaftsarbeiten zur Anthropologie und Rassenbiologie koordiniert (vgl. Lösch 1997: 199ff.; GStAP, Rep. 92, C 42). 93 Der Humangenetiker Loeffler u. der Gynäkologe Stoeckel nach Ottow 1931: 2902-03. – Der Eindruck entsteht, dass die Gynäkologen allgemein der Eugenik distanziert gegenüberstanden. 1933 allerdings wurde das gerade verabschiedete GVeN begrüßt, wenn auch zumeist nicht überschwänglich (vgl. Stoeckel, Martin 1933). 94 Hertwig 1932a: 33 95 Abgedruckt unter anderem im Zentralblatt für Gynäkologie, 55, 1931: 3171, da nach Stoeckel die „folgende ‚Entschließung’ [sic: Anführungszeichen] so wichtig“ sei. 224 als eine Gefahr benannt, sondern es ging um die „Frage der Erbschädigung durch Röntgenstrahlen“ im Allgemeinen. Im Februar des folgenden Jahres antworteten die Bayerischen Gynäkologen und Röntgenologen auf die Entschließung der Genetiker. Den „billigen Schlagworten“96 der Genetiker begegneten sie mit einer dreifachen Strategie. Zum einen wurde der unverzichtbare Nutzen der gynäkologischen Strahlenanwendung bekräftigt und die Nebenwirkungen relativiert; es wurde bestritten, dass die Strahlendosierung nicht genau kontrollierbar wäre; vor allem wurde aber vehement die Übertragbarkeit der Ergebnisse aus den Tierexperimenten auf die Verhältnisse in der Gynäkologie bezweifelt.97 Wintz warf den Genetikern vor, die Seelenruhe tausender Frauen, die bestrahlt worden waren, zu gefährden, ihre Kinder als erbgeschädigt zu stigmatisieren und willkürlich die temporäre Sterilisation in Misskredit zu bringen, ohne die Tragweite für die medizinische Diagnostik und Therapie überhaupt überblicken zu können.98 Der Tenor, dass die Genetiker aus rein theoretischen Erwägungen eine unverantwortliche Entscheidung getroffen hätten, die Patientinnen beunruhigte und die Ärzteschaft therapeutisch beschnitt, weil mit Schadensersatzklagen zu rechnen war, prägte die Beiträge der Mediziner. Nürnberger verzichtete fast ganz, auf inhaltliche Fragen einzugehen, um die „weittragenden und folgenschweren“ juristischen Konsequenzen der „einschneidenden“ Entschließung der Genetiker und Eugeniker und die „allgemeinen menschlichen Auswirkungen“ für Mütter und Eltern drastisch auszuführen.99 Carl Gauß empörte sich zudem über die „unnötige Beunruhigung des Publikums“, die durch unverständliche Stellungnahmen von Kollegen und sensationelle Berichte in Tageszeitungen verstärkt worden wäre, und forderte, mit der Indikation fortzufahren wie bisher.100 Paula Hertwig und Hans Luxenburger waren von Wintz zu der Tagung als Redner für die Genetik und menschliche Erbbiologie eingeladen worden.101 Hertwig entgegnete, dass die allgemeine Beunruhigung in der Natur der Sache läge, da die Größe der Gefahr eben noch unbekannt sei, weswegen gerade jetzt die Tätigkeit der Genetiker gefragt sei.102 Luxenburger103 versuchte in einem rhetorischen Kraftakt, weit auf die Gynäkologen zuzugehen. Als Erbforscher könne er nicht über den Nutzen und Notwendigkeit der „temporären Strahlenamenorrhöe“104 befinden; doch aus Sicht der Eugenik rechtfertige ihre 96 Gauß nach Dyroff 1933: 826 Vgl. den Bericht über die Wortbeiträge in Dyroff 1933 und den Abdruck der Vorträge in der Strahlentherapie, 45, 1932: 653ff.. 98 Vgl. Wintz 1932: 655-56. 99 Nürnberger 1932 100 Gauß nach Dyroff 1933: 826 101 Vgl. 21.1.1933, Stubbe an Lachmann (BBAW, Stubbe-Fonds, 119). 102 Vgl. Hertwig 1932b: 677. 103 Hans Luxenburger war Erbstatistiker an Ernst Rüdins Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München und Mitglied in der Gesellschaft für Rassenhygiene. Schon auf der Tagung der Bayerischen Gynäkologen 1930 hatte er die Gelegenheit, den Gynäkologen Erbbiologie und Eugenik nahe zu bringen (vgl. Luxenburger 1930). 104 Der Begriff der „temporären Amenorrhöe“ im Gegensatz zu „temporärer Sterilisation“ war 1930 von Albert Döderlein eingeführt worden und wurde allgemein von den Befürwortern der Methode benutzt, um den therapeutischen Charakter der Maßnahme zu unterstreichen (vgl. Döderlein in: Dyroff 1930: 2855). 97 225 Anwendung nur die Rettung „unmittelbar bedrohten wertvollen Lebens“.105 Natürlich gäbe es schwarze Schafe unter den Erbbiologen, die vor „einem vorzeitigen Analogieschluß auf den Menschen“ nicht zurückschreckten. Die Verantwortung unterläge „selbstverständlich“ in der Praxis ganz allein dem Gewissen des „verantwortungsbewußten und röntgenologisch wie eugenisch sachkundigen Arztes“ – allerdings sollte es „heute keinen Arzt mehr geben, der nicht auch Eugeniker ist“. Die wirklich sachkundigen Röntgentherapeuten, wie Wintz!, seien sich der Gefahr ja bewusst, sodass sich eine Brücke über die „betrübliche“ Kluft zwischen Erbforschern und Röntgenologen schlagen ließe; schließlich nähmen die Erbforscher an dem Bau von Brücken „großen inneren Anteil“; „glauben wir einander“!, und so weiter. Bei „einigermaßen gutem Willen“ werde man sich einigen. Die Voraussetzung sei jedoch, dass „Sie unsere Entschließung vom September 1931 so nehmen, wie sie gedacht ist: als eine aus bester Absicht und tiefster Überzeugung heraus ausgesprochene Mahnung“.106 Die erbbiologischen Beknieungen konnten nicht verhindern, dass die bayerischen Gynäkologen gemeinsam mit der Bayerischen Gesellschaft für Röntgenologie und Radiologie in einer eigenen Entschließung den Appell der Genetiker zurückwiesen. Der klinische Erfolg würde die Anwendung der Röntgenstrahlen im Bereiche des männlichen und weiblichen Unterleibs legitimieren.107 Während sich in München und Süddeutschland der Widerstand gegen die Zudringlichkeiten der Eugeniker und Erbforscher versteifte, waren im Berliner lokalen medizinischen Diskurs, wie dargestellt, Gynäkologen und Röntgenologen in das Netz des eugenischen centre of calculation verstrickt und konnten an dem moralisch-wissenschaftlichen Hybrid „Erbschädigung durch temporäre Sterilisation“ nicht mehr vorbei.108 Ende 1931 wurde die Konfrontation der Fachvertreter auf Einladung der Berliner Gesellschaft für Geburtshilfe und Gynäkologie unter Beteiligung der Ärztlichen Gesellschaft für Strahlenkunde und der Berliner Röntgengesellschaft „lebhaft und lehrreich“, wie Luxenburger den bayerischen Gynäkologen vorhielt,109 fortgesetzt. Eugen Fischer und sein Institutskollege v. Verschuer vertraten die Vererbungslehre und erhielten Unterstützung von Max Hirsch, ebenfalls Mitglied in der Berliner Gesellschaft für Eugenik, und dem Berliner Gynäkologen Erich von Schubert. Die Resolution der Genetiker und die sich daraus ergebenden Konsequenzen hatten die Mediziner mit „Erschütterung“ zur Kenntnis genommen.110 Wenn auch die Berliner Gynäkologen und Röntgenologen den Genetikern folgten, blieb doch der Zweifel, wie weit die Tierexperimente auf menschliche Verhältnisse zutrafen. Das Problem spitzte sich auf die Frage zu, welche Mutationsraten menschliche Zellen haben und ob es eine Schwellendosis bei der Mutationsgefährlichkeit von Strahlen gibt. Das hieß aber zugleich, dass es nicht nur mehr um die temporäre Sterilisation ging, sondern auch um die Verwendung kleinerer Strah105 Hier und nachfolgend: Luxenburger 1932b: 689-90 Luxenburger 1932b: 690 107 Vgl. Nachtsheim 1957a: 1285. Die Entschließung war von Albert Döderlein verfasst. 108 Zum „epistemisch-moralischen Hybrid“, vgl. Potthast 2001: 93-94. 109 Luxenburger 1932b: 687 110 Wagner zit. in Kauffmann 1932: 1007-08 106 226 lendosen und die diagnostische Strahlenanwendung im Bereich des weiblichen Beckens. Die schädigende Wirkung der Strahlen war in der temporären Sterilisation sinnfällig; doch der „grauenhafte Vorgang, daß künstlich neue schwere krankhafte Erbanlagen entstehen“ war nicht an diese Sinnfälligkeit gebunden.111 „Nun weiß ich aber, daß die Vererbungsforscher noch viel weiter gehen, daß sie auch die ganz kleinen Strahlendosen für gefährlich halten“.112 Der Berliner Gynäkologe traf den Punkt. Die temporäre Sterilisation war als eine beabsichtigte Bestrahlung der Keimdrüsen mit erheblichem Dosen nur das nahe liegendste Problem. Die Humangenetiker und Genetiker zielten auf das gesamte Gebiet der (gynäkologischen) Röntgenanwendung. Von den Gynäkologen wurden sie nun aufgefordert, „unverzüglich an die Arbeit zu gehen und uns zu beweisen, daß sie berechtigt waren, aus ihren Versuchen an der Essigfliege ihre schwerwiegenden Schlüsse zu ziehen“.113 Ganz in diesem Sinne plädierte der einflussreiche Münchener Botaniker und Genetiker Fritz von Wettstein in Reaktion auf die Bayerische Entschließung, jetzt zum „ruhigen wissenschaftlichen Arbeiten“ überzugehen.114 Der neue Vorsitzende der Gesellschaft für Vererbungswissenschaft, Richard Goldschmidt, der einerseits ein zweites München auf dem baldigen Röntgenologenkongress in Dresden durch eine sofortige neue Resolution der Genetik zu verhindern suchte,115 bemühte sich zugleich um ein Entgegenkommen und schlug den Gynäkologen die gemeinsame Klärung der Frage vor.116 Bald darauf kam es zu einer Einigung zwischen dem Vorstand der Bayerischen Gynäkologen, Albert Döderlein, und Goldschmidt.117 Auf der Dresdener Tagung der Deutschen Röntgengesellschaft im April 1932 wurde nun ebenfalls einer gemeinsamen Kommission zugestimmt, die einen Arbeitsplan für die zu klärenden und noch offenen Fragen entwerfen sollte. Die Kommission trat im März 1933 (sic) zusammen.118 Die Zusammensetzung garantierte eine Beschlussfassung im Sinne der Genetiker: Eine Gefahr durch Radium- und Röntgenstrahlen ist nicht zu leugnen und ist in ihrer Größe für das „Volksganze“ nicht abzuschätzen. Deshalb seien Säugetierexperimente dringlich erforderlich, ebenso wie die Einhaltung der strengsten medizinischen Indikation bei jeder Art von Bestrahlung des Unterleibs.119 111 Fischer 1930d: 17 Wagner zit. in Kauffmann 1932: 1007 113 Wagner zit. in Kauffmann 1932: 1008 114 29.3.1932, v. Wettstein an Baur (BBAW, NL Hans Stubbe, 1) 115 Vgl. 4.4.1932, Goldschmidt an Baur, Just, Kronacher, Lehmann, Lenz, Oehler, Ossent, Plate, Renner, Schwemmle, Stubbe, v. Wettstein, Winkler (BBAW, NL Hans Stubbe, 1). 116 Vgl. Nachtsheim 1957a: 1285. 117 Vgl. 13.5.1932, Eugen Fischer an H. Stubbe (BBAW, Stubbe-Fonds, 49). 118 Vgl. Martius 1934: 787. Anwesend waren für die Gesellschaft für Vererbungswissenschaft E. Fischer, P. Hertwig, H. Luxenburger, H. Stubbe, für die Deutsche Röntgengesellschaft Hans Holfelder, Hermann Holthusen, H. Martius u. C. Gauß. Nicht anwesend waren die Genetiker Victor Jollos (Berlin) u. Fritz Lenz (München) sowie die Röntgenologen Dr. Kaestle u. Prof. Voltz (beide München). 119 Vgl. Martius 1934: 787. – In den Röntgenologen hatten die Genetiker einen wichtigen Verbündeten gefunden, der dafür garantieren (vgl. 3.4.1933, Stubbe an E. Lachmann, in: BBAW, Stubbe-Fonds, 119). – Es ist möglich, dass aus der Sicht der Röntgenologen das Zusammengehen mit den Genetikern ihre Forderung nach Absicherung der röntgenologischen Methode stützen sollte. 1924 war bereits der Facharzt für Röntgen- und Lichtheilkunde eingeführt wor112 227 Vor dem Hintergrund dieser Erklärung wurde auf der nächsten Hauptversammlung der Vererbungswissenschaftler im September 1933 in Göttingen eine weitere vom Vorstand bis dahin geheim gehaltene Resolution beschlossen, die die Position der Genetiker nicht nur bekräftigen sollte, sondern sämtliche Röntgenanwendungen zu diagnostischen und therapeutischen Zwecken unter Verdacht stellte.120 Noch im September 1933 wurde die Planung von experimentellen Arbeiten im Rahmen der Forschungsförderung der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft unter Beteiligung von Röntgenologen aufgenommen. Damit hatten die Vererbungswissenschaftler die wissenschaftliche Klärung der Gefährlichkeit der Röntgenstrahlen in eigene Regie genommen.121 1934 wurde schließlich von der Deutschen Gesellschaft für Vererbungswissenschaft ein Bericht zur Frage der Erbschädigung durch Röntgenstrahlen vorgelegt. Auf Initiative von Martius gaben die Gynäkologen die temporäre Sterilisation und die Röntgenreizbestrahlung der Ovarien (zur Beseitigung von Sterilität) auf.122 Die temporäre Sterilisation hatte sich als das diskursive Einfallstor für die eugenische Fragestellung in die medizinische Bestrahlungspraxis bewährt.123 Der aufgekommene Generalverdacht auf die Röntgenstrahlen und die Beunruhigung über das unbekannte Ausmaß der Gefahr waren das genetische Faustpfand und wurden durch erste Ergebnisse der veranlassten genetischen Forschungsvorhaben weiter genährt.124 den. Gegen Entwicklungen in der Anwendung der Röntgentherapie, die die Tendenz hatten, den Röntgenfacharzt und damit die Strahlenheilkunde als geschlossenes Spezialfach aufzulösen und an die jeweiligen Disziplinen anzubinden, wurden vermehrt Stimmen aus den Reihen der Röntgenologen laut, die – im Gegenteil – eine Stärkung der röntgenologischen Spezialausbildung forderten (vgl. Schneider 1932). 120 Vgl. Blümel 1933: 1364. Es sollten umgehend weitere experimentelle Untersuchungen initiiert werden, um den Röntgenologen für ihre Arbeit begründete Richtlinien in die Hand zu geben. 121 Keinen Monat später, im Oktober 1933, lenkten die Gynäkologen endgültig ein. Auf der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie in Berlin (Vorsitz: Walter Stoeckel) wurden gemeinsame Beratungen mit den Vererbungswissenschaftlern angekündigt, die Wintz, Nürnberger und Martius führen sollten (vgl. Stoeckel 1933b: LVII). Dies entsprach, dass sie gelobt hatten, „an der Gesundung und an der Gesunderhaltung des deutschen Volkes ist aller Kraft mitarbeiten“ zu wollen und zuvor „in begeisterter Verehrung“ unter „langanhaltendem lebhaften“ Beifall dem Mann, „der Deutschland gerettet, neugestaltet und zusammengeschmiedet“ hatte, gehuldigt hatten (vgl. Stoeckel 1933a: XLVII). 122 Vgl. Nachtsheim 1957a: 1285. Deutschland war nach Nachtsheim Vorreiter in dieser Frage, da in Japan und in den USA nach wie vor die temporäre Sterilisation angewandt würden. 123 Stubbe erläuterte, dass die Genetiker sich über die weitreichenden Konsequenzen ihrer Intervention im Klaren waren, aber zunächst „aus Rücksicht auf die Mediziner“ die weiterführenden Fragen zurückgestellt hätten (vgl. 21.3.1933, Stubbe an Lachmann, in: BBAW, StubbeFonds, 119). Auf der Münchener Tagung machte Luxenburger den Medizinern klar, dass die temporäre Sterilisation (t. S.) nicht das eigentliche Problem sei, sondern die Röntgendiagnostik (vgl. Luxenburger 1932b: 688). – Nicht verworfen, aber in Diskussion blieb die Anwendung der Röntgenstrahlen in der Diagnostik, die nach der Intervention der Genetik prinzipiell unter Verdacht bleiben musste. Insofern hatte die Eugenik aber nur einen Teilsieg errungen, zumal die t. S. bereits Anfang der zwanziger Jahre auf Grund ihrer schwierigen technischen Handhabung, der geringen klinischen Erfolgssicherheit u. der Nebenwirkungen letztlich nur von eingeschränkter Bedeutung in der gynäkologischen Praxis war (vgl. 2.12.1931, Martius an Stubbe, in: BBAW, Stubbe-Fonds, 132). 124 Siehe auch Seite 178. 228 5.3.2 Gemeinschaftsarbeiten zur Frage der Erbschädigung durch Röntgenstrahlen Die Gynäkologen hatten nicht zuletzt den Vererbungswissenschaftlern das Feld überlassen müssen, weil die Durchführung von Bestrahlungsexperimenten an Tieren so voraussetzungsreich war, wie schon Paula Hertwig den Bayerischen Gynäkologen vermittelt hatte, dass sie nur in den Händen der Genetiker erfolgreich durchgeführt werden konnten.125 Bereits auf der Berliner Tagung der Röntgenologen 1930 hatten Eugen Fischer und Erwin Baur umfangreiche Versuche über die Wirkung der Röntgenstrahlen an Tieren gefordert und für die Unterstützung eines Versuchsplans geworben, den sie mit dem Berliner Physiker und Röntgenologen Walter Friedrich, Direktor des 1929 eingerichteten Institut für Strahlenforschung, ausgearbeitet hatten.126 Baur plante umfangreiche Versuche an Schweinen, die jedoch an der Finanzierung scheiterten.127 Im Ausgleich für diese Versuche, die im „größtem Umfange“ geplant waren, sollten Experimente am Zoologischen Institut Alfred Kühns in Göttingen in Kooperation mit Heinrich Martius, mittlerweile Chef der Göttinger Frauenklinik, durchgeführt werden.128 Es sei durch die Kooperation gewährleistet, so der Röntgenologe Hermann Holthusen, dass „die geplanten Arbeiten vom Standpunkte der Genetiker methodisch einwandfrei durchgeführt werden“.129 Göttingen entwickelte sich schnell zum Knotenpunkt der Koordinierung der Röntgenstrahlenforschung, wie schon in 4.2.1 gesehen werden konnte. Martius und Kühn waren sich darin einig, die Behandlung der Frage der Röntgenmutationen nicht auf die temporäre Sterilisation zu begrenzen. Die Versuche „werden von uns deshalb für besonders wichtig erachtet, da die Frage der Mutationserzeugung“ von erheblicher Bedeutung für die Anwendung von Röntgenstrahlen in der Gynäkologie „als therapeutisches Mittel an den Eierstöcken der Frau und in der Röntgendiagnostik“ sei.130 Kurz nach dem Kongress der Vererbungswissenschaftler und nun auf Veranlassung der Deutschen Forschungsgemeinschaft und Schmidt-Otts wurde im September 1932 die Arbeitsgemeinschaft zur Frage der Erbschädigung durch Röntgenstrahlen ins Leben gerufen.131 Die Gynäkologie stand Außen vor. Im Gremium saß nur ein – 125 Vgl. Hertwig 1932b: 674-77. Vgl. Schultze 1930: 2039. Der Vorschlag wurde allgemein begrüßt. 127 Vgl. Martius 1931: 63, Fußn.; vgl. auch Baur zit. n. Grashey 1930: 131; Wagner zit. n. Kauffmann 1932: 1008. 80.000 RM waren notwendig. Das Projekt blieb im „Aktenstadium“. 128 Mit den Versuchen wurde 1931 begonnen. Auch dazu, siehe 4.2. 129 23.3.1932, Notgemeinschaft, Apparate-Ausschuss, an den Fachausschuss für Strahlenkunde (Vors. W. Friedrich, Berlin): Stellungnahme durch Holthusen, Hamburg (BA Ko, R 73, 16079). 130 Vgl. 14.3.1932, Martius an Schmidt-Ott, unterz. Martius u. Kühn (BA Ko, R 73, 16079). – Die Versuchsreihen an Meerschweinchen würden sich über Jahre erstrecken, wobei die Bestrahlung mit der Röntgenapparatur der Frauenklinik durchgeführt und das Tiermaterial vom Zoologischen Institut über das Zuchthaus Brandenburg gestellt werden sollten. 131 Schon in den ersten Planungen in der Notgemeinschaft zur medizinischen Forschungsförderung (4.1.3) hatte 1926 die Kommission für praktische und theoretische Medizin innerhalb eines Memorandum unter „G. Biologische Strahlenforschung” die Wichtigkeit der heilenden Eigenschaften der Strahlen inklusive Sonnenstrahlen betont und gefordert, dass das physikalische Verständnis der Ärzte für eine exaktere Herangehensweise an das Problem unbedingt zu steigern sei (vgl. Anonymus 1928a: 92). Eine Denkschrift beschäftigte sich ein Jahr später eigens mit der Strahlenkunde. Dies war sicher zurückzuführen auf die rasch wachsenden Bedeutung 126 229 genetisch eingestellter – Gynäkologe.132 Die nachfolgenden Beratungen in Göttingen wurden fachlich wesentlich breiter angelegt – ohne Gynäkologen. Zudem wurden das Reichsministerium des Innern und das Reichsgesundheitsamt in die Beratungen mit einbezogen.133 Die Forschungspläne waren bereits im September unter Genetikern und Röntgenologen festgeklopft worden.134 Danach sollten zunächst wichtige Vorfragen der Mutationsentstehung allgemeinerer Natur geklärt werden. Kühns Institut sollte zu diesem Zweck die Experimente mit der Mehlmotte Ephestia und Timoféeff-Ressovsky seine mit Drosophila fortsetzen. Um die medizinische Seite, „also die Beweisführung für die Übertragbarkeit der Tierversuche auf den Menschen“ und die quantitativen Probleme an Säugetieren weiter zu untersuchen, sollten schon laufende Versuche von Kühn und Martius an Meerschweinchen in die Gemeinschaftsarbeiten einbezogen, sowie Paula Hertwigs Plan zum Aufbau umfangreicher Mäuseversuche umgesetzt werden.135 Die Genetiker hatten gegenüber den Gynäkologen behauptet, dass die Gefahr vor allem von Mutationen ausging, die rezessiv vererbt wurden und die sich nur von geringer Wirkung auf den Organismus waren. Ihre vergleichsweise Harmlosigkeit machte sie gerade zum Gegenstand des eugenischen Alarmis- der Strahlenkunde innerhalb der therapeutischen Medizin, deren Nutzen u. mögliche schädlichen Wirkungen zum Streitpunkt geworden waren (hier u. nachfolgend, vgl. ebd.: 109-10). Die Denkschrift untergliederte diese Bedenken in Fragen des Strahlenschutzes für medizinisches Personal und Patienten, Ursachen der „Strahlenempfindlichkeit”, womit alle möglichen Schäden durch Strahlen auf körperliches Gewebe und Zellen gemeint waren, nach der körperlichen Allgemeinwirkung der Strahlen (zum Beispiel „Röntgenkater“) und nach „der Möglichkeit einer Schädigung der Nachkommenschaft als Folge therapeutischer Röntgenbestrahlung”. Die Kommission stellte fest, dass eine Entscheidung letztlich nur durch die am Menschen gemachten Erfahrungen getroffen werden könnten, aber „durch umfassende Tierversuche weitere Gesichtspunkte für die Beurteilung des ganzen Fragenkomplexes” anzustreben seien. – Die Frage nach möglichen Schädigungen der Nachkommenschaft scheint aber in der Forschungsförderung erst mit Einrichtung der Notgemeinschaftskommission 1932 aufgenommen worden zu sein. 132 Vgl. Martius 1934: 789-90. – Teilnehmer waren die Genetiker E. Baur, P. Hertwig, A. Kühn, Timoféeff-Ressovsky, E. Fischer, der Gynäkologe H. Martius, die Röntgenologen W. Friedrich u. H. Holthusen, sowie MinRat Dr. Donnervert [Max, RMI], Frick (Berlin), Schwoerer [Victor Fr., Geh. O.Reg.Rat, ehem. stellv. Präs. der Notgemeinschaft], Stuchtey (Notgemeinschaft), Dr. Fischer. 133 Die Kommissionsmitglieder waren für die Gynäkologie: Heinrich Martius und zwei seiner Mitarbeiter, für die Röntgenologie Hermann Holthusen, für die Genetik Nikolaj Timoféeff-Ressovsky, Alfred Kühn, Friedrich Kröning, Lothar Loeffler u. Paula Hertwig; darüber hinaus: der Serummediziner Wilhelm Kolle (Institut für experimentelle Therapie, Frankfurt), der Prof. Frick (Berlin), der Hygieniker Erismann (Berlin), der Prof. Glocker (Stuttgart [Richard, Röntgentechniker]), Vertreter des RGA (Geh.Rat Prof. Haendel, Drr. Buchmann und Hagen), des RMI (Dr. Hinden [sic!, gemeint ist wohl Dr. Linden]) und der Notgemeinschaft (Dr. Wildhagen, Prof. Stuchtey). (Vgl. o.D., [Kühn]: „Entwurf Niederschrift über die Sitzung der Notgemeinschafts-Kommission für Gemeinschaftsarbeiten zur Klärung der Fragen auf dem Gebiet der Erbschädigung durch Strahlenwirkung”; Anlage zu: 26.7.1934, Kühn an Notgemeinschaft, in: BA Ko, R 73, 12475: Seite 1 v. 12.) 134 Vgl. 29.12.1933, Kühn an Dr. Stuchtey, Notgemeinschaft (BA Ko, R 73, 159: Seite 2 v. 3) 135 Martius 1934: 790 – Paula Hertwig hatte Anfang 1932 einen Forschungsplan über Mutationsauslösung an Mäusen ausgearbeitet, den sie vor den Bayerischen Gynäkologen vorstellte (vgl. 5.1.1932, Hertwig an Stubbe, in: BBAW, Stubbe-Fonds, 83; vgl. auch Hertwig 1932b: 675) und der in einer erste koordinierenden Besprechung der Genetiker wenig später einhellige Unterstützung fand (vgl. o.D., Stubbe an E. Fischer, in: BBAW, Stubbe-Fonds, 49). 230 mus, weil ihre Träger mit ihnen leben und sich vermehren konnten.136 Das Problem war, dass die „kleinen“ Mutationen schwer festzustellen waren, zumal dann, wenn sie sich auf die Physiologie und nicht auf das Äußere auswirkten oder „phänotypisch unterschwellig“ waren.137 Die Probleme der Genetiker vervielfachten sich noch dadurch, dass sie davon überzeugt waren, dass schon die geringste Strahlendosis ausreichte, eine Mutation zu erzeugen. Die Mutationsrate verhielt sich zur Strahlendosis direkt proportional, meinten sie. Die Gynäkologen dagegen gingen von Schwellen aus, unter denen die Strahlen zumindest für bestimmte Zellen des Organismus ungefährlich waren. Die Aufgabe, mit der sich die Genetiker konfrontiert sahen, war, kleinste und seltenste Veränderungen als Indikatoren von Röntgenmutationen herauszufiltern und von den ‚natürlichen’ Unterschieden der Tiere abzugrenzen.138 Das Problem der schwellenlosen Proportionalität von Strahlendosis und Mutationsrate wurde zu einer harten Bewährungsprobe des Feinschliffs der strahlengenetischen experimentellen Arrangements. Stubbe stöhnte schon bei seinen Experimenten mit experimentierfreundlicheren Bohnen und Löwenmäulern, dass die „genetisch bedingte Variabilität“ zu großen Fehlern führte.139 In den bisherigen Studien der Gynäkologen und Röntgenologen war hingegen diese Objektbedingung nicht beachtet worden, was den Genetikern wieder nur bewies, dass es ein methodisches Problem war, weshalb bislang nicht die zu erwartende Mutationswirkung bei Säugetieren nachgewiesen werden konnten.140 Die Versuchstierzuchten, die die Notgemeinschaft in Göttingen und in Brandenburg betrieb, kamen den Erfordernissen der Röntgenversuche genau entgegen.141 Es war deshalb kein Zufall, dass in Göttingen schon lange vor Gründung der Arbeitsgemeinschaft der Notgemeinschaft ein Forschungszusammenschluss entstand. Zufällig war zwar, dass sich 1927 mit Martius als Chef der Göttinger Frauenklinik der engagierteste Strahlenskeptiker in Göttingen einfand.142 Die Kooperation der Klinik mit Kühns Institut war aber nicht zufällig, da das Institut über die Erfahrungen und die Ressourcen zu größeren Zuchtvorhaben verfügte. 136 Vgl. Loeffler nach Ottow 1931: 2902-03. Hertwig 1932b: 662 u. 677; vgl. auch Martius 1934: 788. 138 Schon den Drosophilagenetikern war es äußerst schwer gefallen, eine mutative Wirkung der Strahlen nachzuweisen. Erst Muller war dies durch den Einsatz großer Mengen von Drosophilafliegen gelungen. Allerdings handelte es sich um letale Mutationen, die er nachwies. 139 Lachmann & Stubbe 1932: 497 140 Vgl. Lachmann & Stubbe 1932: 499; Timoféeff-Ressovsky 1937: 12. 141 Zur Bedeutung der Versuchstierzucht, die Variabilität zu reduzieren und kleinste phänotypische Veränderungen zu detektieren, siehe 3.3.3 u. 4.2.3.3. 142 Martius stand der Vererbungslehre nahe, was seinen Grund darin haben mag, dass sein Vater, Friedrich, Pathologe in Rostock, seit Anfang des Jahrhunderts einer der führenden Programmatiker der Konstitutionspathologie war, also eines pathogenetischen Konzepts, das entgegen der Bakteriologie und Zellularpathologie die unterschiedlichen Anfälligkeiten (Dispositionen) der Organismen gegenüber Krankheiten herausstellte, die nicht zuletzt auf erblichen Eigenarten beruhen sollten. Während allerdings der Vater nur noch „spekulative Pathologie“ betrieb und die mendelschen Erbgesetze – nach Fritz Lenz – nicht richtig verstanden hatte (vgl. Krügel 1984: 34 u. 79), war Heinrich auf der Höhe der Zeit, rezipierte die neuere genetische Literatur und war bemüht, sich am Methodenkanon der experimentellen Genetik zu orientieren. Martius beschäftigte sich darüber hinaus mit therapeutischen Strahlenbehandlungen zum Beispiel beim Gebärmutterkarzinom und der Entwicklung direkterer Bestrahlungsmethoden (intravaginale Röntgenbestrahlungsröhre). 137 231 Die experimentellen Bedingungen mussten zunächst so gefasst werden, dass die physiologische Wirkung der Strahlen dem entsprach, was die Kliniker in der Gynäkologie unter temporärer Sterilisation verstanden.143 Es gelang dennoch nicht, – nach 120 Bestrahlungen und 1.000 Meerschweinchen – Röntgenmutationen zu identifizieren. Das „Tiermaterial“ sollte deshalb, der Logik des seltenen und kleinen Ereignis folgend, noch „sehr erheblich vergrößert“ werden.144 Zum Zeitpunkt der Kooperation von Kühn und Martius war deutlich geworden, dass die ‚klinischen Gynäkologen’ in der Frage der temporären Sterilisation nicht einlenken würden, bevor nicht an Säugetieren Strahlenversuche zu überzeugenden Ergebnissen geführt hätten. Die Genetiker sahen die Experimente an Säugetieren deshalb als ein taktisches Entgegenkommen.145 Andererseits passten sie sich ideal in die genetische Forschung ein. Auf Kühns Institut traf das in besonderer Weise zu.146 Im vierten Kapitel wurde gezeigt, dass die Einrichtung der Versuchstierzucht in der Lage war, verschiedene experimentelle Kontexte miteinander zu verbinden und Fragestellungen und Konzeptbildung zu katalysieren. Diese Katalysatorwirkung wirft nun auf den Diskurs um die Röntgenstrahlen ein differenziertes Licht. Als Kühn die Arbeitsgemeinschaft mit Martius einging, war er in keiner Weise in die Auseinandersetzung zwischen Genetikern und Gynäkologen involviert, sein Interesse galt vielmehr der Entwicklung eines experimentellen Systems, um Fragen der Entwicklungsphysiologie zu bearbeiten. Die Versuchstierzuchtanlage war ein Mittel unter anderen, in dieser Frage voran zu kommen. Als er den gesamten Apparat der Versuchstierzucht für die Röntgenfrage zur Verfügung stellte, konnte Kühn erwarten, dass die forschungspolitische Bedeutung der Versuchstierzucht aufgewertet und die ersehnte Erweiterung möglich gemacht würde. Dies geschah tatsächlich, was den Wert der Versuchstierzucht als Variantengenerator steigerte. Gleiches war von der Kooperation mit Martius zu erhoffen, da die notwendige Feinjustierung der Experimentalordnung einen Repräsentationsraum für Röntgenmutationen und Varianten der Säugetiere öffnen sollte. Der Vorteil lag also ganz auf der Seite der Genetik, die hoffen konnte, allerlei genetische aber auch allgemeinbiologische Fragen voranzubringen. Die Erweiterung des Mutationsbegriffs auf „kleine“, physiologische Mutationen machte die Mutationsforschung Anfang der dreißiger Jahre zu dem innovativsten Bereich innerhalb der Genetik.147 Unter diesen Umständen mussten alle – experimentellen oder institutionellen – Anordnungen, die zu einer Vermehrung jener kleinen Mutationen führten, mögliche Schlüssel der Mutationsforschung darstellen. Die 143 Vgl. Martius & Kröning 1936: 1049-50. – Die Vorarbeiten wurden veröffentlicht als: Vgl. Kröning 1934a Da die Versuche schon in den Vorarbeiten äußerst anspruchsvoll waren, projektierte Kühn die Einbindung seines „Inzuchtmaterials“ auf mindestens drei Jahre (vgl. 28.5.1932, Kühn an Notgemeinschaft, auszugsweise Abschrift, in: BA Ko, R 73, 16079). 144 Martius & Kröning 1936: 1054 145 Vgl. Hertwig 1932a: 33. 146 Zur Verbindung der Röntgenexperimente und genetischer Fragestellungen, siehe 4.2.2. 147 Siehe 4.2.2.1. Die experimentelle Mutationsforschung war „mit fast allen Hauptfragen der Genetik verbunden und eröffnet neue Forschungsmöglichkeiten auf verschiedensten genetischen Arbeitsgebieten“ (Timoféeff-Ressovsky 1937: 147). Darüber hinaus entstand eine Verbindung zwischen Genetik und dem Evolutionsproblem (vgl. Hertwig 1932a: 27). 232 Versuche waren eben vom „größtem theoretischen Interesse“.148 Dieses Interesse fand mit den Gemeinschaftsarbeiten zur Röntgenfrage zugleich die notwendige fachliche Erweiterung, da sie das ersehnte „Zusammenwirken genetischer und entwicklungsphysiologischer, leistungsphysiologischer und medizinischer Forschung“ gleich mitlieferte.149 Es zeigt sich einmal mehr, dass die Versuchstierzucht Einzelforschungsinteressen und -mittel zu einer Konstellation verband, die ständig darauf drängte, ihre eigentlichen Aufgaben zu überschreiten. Auch Baurs Müncheberger Institut beteiligte sich weiterhin mit Forschung zum Mutationsproblem.150 So verdeutlichen auch die Forschungspläne Hans Stubbes, der mit Ernst Lachmann, Mitarbeiter in G. Buckys Röntgenabteilung des Berliner Rudolf Virchow-Krankenhauses, zusammenarbeitete,151 auf welche Weise das Röntgenthema als Vehikel dienen konnte, eigene – genetische – Forschungsambitionen auszudehnen oder auf neue, prestigeträchtige Objekte umzustellen. Stubbe und Lachmann überlegten, ihre Versuche auf Drosophila auszuweiten.152 Es war aber Eile angezeigt, „weil das Problem in den nächsten Jahren wahrscheinlich schon bedeutend an Interesse“ verlieren würde.153 Zum anderen war Timoféeff-Ressovsky drauf und dran, sich ähnlicher Probleme anzunehmen, und da er lange schon mit Drosophila arbeitete, schien es heikel, in sein Refugium einzudringen.154 Im Eingeständnis Stubbes, dass bei der Röntgendiagnostik die Strahlendosen in Wahrheit so niedrig seien, dass eine Wahrscheinlichkeit der Keimensschädigung äußerst gering sei,155 kommt zum Ausdruck, dass die Röntgendebatte finanzielle und strukturelle Ambitionen der Genetik transportierte. Die Genetik war an ihrer Belebung und Aufrechterhaltung interessiert, da sich neben dem eugenisch-normativen Geltungsanspruch in ihr eine instrumentelle Funktion verwirklichte. 5.3.3 Paula Hertwig, Mutationsraten bei Mäusen und die vergleichende Erbpathologie Auch das Forschungsengagement Paula Hertwigs156 führte diese geradewegs von der Strahlengenetik auf ein anderes Forschungsfeld – das der vergleichen148 14.3.1932, Martius an Schmidt-Ott, unterz. Martius u. Kühn (BA Ko, R 73, 16079) Kühn 1935b: 48 150 Schon kurz nach Mullers Veröffentlichungen hatte Baur mit weitgefächerten Versuchen zur Mutationsauslösung an seinem Institut begonnen, Chemikalien und physikalische Reize wurden in einer vielfältigen Skala ausprobiert (vgl. zum Beispiel Baur 1932b; Baur 1932a; Stubbe 1930a; Stubbe 1930b; Stubbe 1932; Stubbe 1933; Stubbe 1935a). Im Vordergrund standen Experimente mit Pflanzen, Baurs Versuchsobjekt, dem Löwenmäulchen Antirrhinum majus, sowie mit der Bohne Vicia faba. 151 Vgl. Lachmann & Stubbe 1932; Lachmann & Stubbe 1933. 152 Vgl. 18.12.1931, Lachmann an Stubbe (BBAW, Stubbe-Fonds, 119). 153 4.12.1931, Stubbe an Lachmann (BBAW, Stubbe-Fonds, 119) 154 Vgl. 23.12.1931, Stubbe an Lachmann (BBAW, Stubbe-Fonds, 119). – Stubbe konnte die Strahlenarbeiten nicht in der geplanten Intensität durchführen – nicht zuletzt, da er 1936 das KWI verlassen musste. Er verfolgte das Thema dennoch intensiv (vgl. Stubbe 1935a; Stubbe 1937b; Stubbe 1938). 155 Vgl. 8.1.1932, Stubbe an P. Hertwig (BBAW, Stubbe-Fonds, 119). 156 Paula Hertwig, geb. 1889 in Berlin, gest. 1983 in Villingen-Schwenningen. Studium der Zoologie, Botanik u. Chemie in Berlin. 1916, Dr. med.. 1919, Volontär-Ass. am Anat.-Biol. Inst., 1919, PD für Zoologie an der Phil. Fak.. 1921, Ass. am Inst. für Vererbungsforschung (Oberass. 149 233 den Erbpathologie. Hertwigs Beteiligung an der Debatte um die Strahlenschäden war von Anfang an die Frage gebunden, inwieweit die genetischen Versuche für die Medizin modellhaft waren. Sie stellte ihre Forschung auf dieses Problemfeld um und bewahrte, nachdem das Interesse daran abgenommen hatte, die medizinische Verknüpfung ihrer Experimente. Die Auseinandersetzung zwischen Genetikern und Gynäkologen wirkte über das medizinisch-praktische Problem der Strahlenanwendung auf die Strukturierung der Forschung in der Genetik zurück. Wenn die strahlengenetischen Versuche Hertwigs auch für die medizinisch-praktischen Fragen keine Lösung erbrachten, produzierten die Strahlenversuche doch Differenzen unter den Tieren, an denen unter der Annahme der Modellhaftigkeit der entstandenen Fehl- und Missbildungen vergleichende Erbpathologie betrieben werden konnte. Nach Nachtsheim war es Hertwigs Verdienst, die Öffentlichkeit auf die Gefahren der Röntgenanwendung aufmerksam gemacht zu haben.157 Paula Hertwig, Schriftführerin der Deutschen Gesellschaft für Vererbungswissenschaft, legte, wie bereits berichtet, auf der Versammlung der Gesellschaft im Herbst 1931 mit ihrem Vortrag die Grundlage für die Resolution der Genetiker. Sie nutzte das Forum der Vererbungswissenschaftler, um gesundheitspolitische Forderungen zu formulieren und die Genetiker auf diese zu verpflichten.158 Wie ist dieses plötzliche und vehemente Auftreten Hertwigs zu verstehen? In vielerlei Hinsicht war Hertwig die richtige Frau zum richtigen Zeitpunkt. Schon während des Studiums der Naturwissenschaften nahm sie zwischen 1910 bis zu ihrem Wechsel an Baurs Institut (ca. 1921) an der Forschung ihres Vaters, des Anatom und Entwicklungsbiologen Oscar Hertwig, und ihres Bruders Günther am Berliner biologisch-anatomischen Institut teil. Erforscht wurde die Wirkung von Radium auf die Keimzellen von Amphibien. Zusammen mit Günther unternahm sie eigene Versuche zu der Beeinflussung männlicher Keimzellen durch chemische Stoffe.159 Die Radiumversuche fanden zu einer Zeit statt, als die Radiumtherapie in der medizinischen Literatur eine so große Rolle spielte, dass „auch politische Zeitungen sich häufig mit ihr beschäftigen und sie zu einer Tagesfrage“ machten.160 Oscar Hertwig sah sich deshalb aufgerufen, auf die Möglichkeiten der Gefährdung bei der Strahlentherapie hinzuweisen.161 1941). 1927, a.o. Prof., dann Prof. an der Med. Fak. der FWU. 2/1933, Abgeordnete der Demokratischen Staatspartei im Preuß. Landtag. 1946, Prof. für Biologie. 1948, o. Prof. und Dir. des Inst. für Biologie der Med. Fak. in Halle. Für ihre erbpathologischen Studien erhielt sie 1944 den Theobald-Christ-Preis der Senkenbergischen Stiftung. (Vgl. UHUB, Landw. Fak., PA P. Hertwig; BA B, BDC (keine Akte vorhanden); Jahn 1998: 853.) 157 Vgl. Nachtsheim 1957a: 1284. 158 In ihrer Geschichte seit 1921 war dies die erste politische Positionierung innerhalb der Genetikergesellschaft (vgl. die Berichte der Sitzungen in der ZIAV). 159 Oscar Hertwig führte seit 1908 Radiumversuche an Seeigeleiern, Frosch- und Axolotl-Eiern und Rana-Arten durch (vgl. O. Hertwig 1910). 160 O. Hertwig 1914: 894 161 Vgl. O. Hertwig 1914: 902-03. Hertwig nahm Bezug auf Warnungen, die bereits in der Berliner Medizinischen Gesellschaft durch den Gynäkologen Ernst Bumm geäußert geworden waren. Dieser hatte auf Beobachtung hingewiesen, nach denen durch Radium- oder Röntgenbestrahlung Tumore induziert werden konnten. 234 In den Versuchen Hertwigs und seiner Kinder ging es allerdings nicht um die Erzeugung von erblichen Veränderungen in den Keimzellen.162 Ihr Interesse galt der Einwirkung der Strahlen auf die Entwicklung der Keimzellen und der Embryonen, also ihrer „physiologischen Wirkung“ in der embryonalen Entwicklung.163 Dass die Frage der Keimschädigung von Oscar Hertwig nicht in eugenischen Dimensionen gesehen wurde, erklärt sich zum einen aus seinen konzeptuellen Überzeugungen und der Ablehnung des Darwinismus.164 Wie die organizistische Sozialtheorie Oscar Hertwigs eine Nähe zum Sozialliberalismus und auch christlichen Nationalismus eines Friedrich Naumanns hatte, so verortete sich die Tochter in der Weimarer Republik in liberalen, mäßig nationalen Strömungen und war seit 1918 in der „Staatspartei“ aktiv.165 Dass sie neben ihrer 162 O. Hertwig nahm den Gedanken der gynäkologischen Diskussion – in der man sich zum Teil auf seine Ergebnisse berief – vorweg, dass unterschiedliche Körperzellen mit verschiedener Empfindlichkeit auf die Bestrahlung reagierten. Die Bestrahlung der Keimzellen führe zur Schädigung der Kernsubstanzen und früher oder später zum Zerfall der Embryonalzellen. Sein Forschungsinteresse betraf das Entstehen und Überleben von Geschwulstzellen (und nicht das Entstehen von Mutationen) (vgl. O. Hertwig 1914: 896). H. warf 1912 ebenfalls kritisch die Frage nach der Wirkung von chemischen Substanzen in der Chemotherapie auf (vgl. P. Hertwig 1918: 79). 163 P. Hertwig 1917: 254; vgl. O. Hertwig 1913. – Die Experimente passten sich insofern gut in die Tradition der experimentellen Embryologie ein, in der Oscar Hertwigs Institut stand.(vgl. Weindling 1991: 109ff.). Es ging auch um das Verhältnis von Kernsubstanz zum Protoplasma, die „Umwelt der Erbsubstanz“. Später wurden die Experimente im Licht der Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften gesehen (vgl. P. Hertwig 1918: 79). Unter der Annahme, dass die Beeinflussung der Keimzellen zwar noch die Erzeugung eines neuen Organismus erlaube, dieser „jedoch in seiner Entwicklung die Schädigung des väterlichen oder mütterlichen Idioplasma deutlich erkennen“ ließe, waren diese Versuche von vererbungstheoretischer Bedeutung. 164 O. Hertwig stand der Keimplasmatheorie von August Weismann ablehnend gegenüber und vertrat eher Nägelis Konzept des Idioplasmas, nach dem sich die Keimsubstanz über den ganzen Organismus verteilte und seinen Kräften ausgesetzt war (vgl. Weindling 1991: 138ff.). – In den Radium und Röntgenversuchen Hertwigs wurde auch der Nachweis der Idioplasmanatur der Erbsubstanz versucht (vgl. Hertwig 1927: 16). Diese vererbungstheoretische Auffassung war darüber hinaus in eine eigene theoretische Vorstellung über biologisches und gesellschaftliches Leben eingebunden. O.s eugenische Zurückhaltung resultierte auch aus seiner feindlichen Haltung gegenüber der rassenhygienischen Bewegung. Im Gegensatz zu seinem Bruder Richard (vgl. 1.1) und vielen seiner Kollegen war O. nicht Mitglied der 1905 gegründeten Gesellschaft für Rassenhygiene. O. wendete sich schon kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs in mehreren allgemein verständlichen Schriften der Verknüpfung von Biologie und Staatswesen zu und formulierte eine demokratische und liberale Gesellschafts- und Staatsauffassung auf der Grundlage organischer Analogien und Metaphern, von einer naturalistisch begründeten Ethik getragen (vgl. Weindling 1991: 265ff.). Damit einhergehend wendete er sich zugleich vehement gegen alle Formen des Sozialdarwinismus. O. stand an der Seite einer Allianz gegen die durch die im Krieg aufgekommene Diskussion um den Abfall der Geburtenrate erstarkte eugenische Bewegung (zus. m. dem Rektor der Berliner Univ., Ernst Bumm, u. Friedrich Naumann) (vgl. Weindling 1991: 277). Es ging O. um die Widerlegung „Darwins Zufallstheorie“, also der Auffassung, dass die natürliche Selektion das entscheidende Prinzip in der Gesellschaft, wie im Organismus sei (vgl. ebd.: 270-71). O. warnte vor der Anwendung der „unhaltbaren biologischen Lehre auf das ethische, soziale und politische Gebiet“ und vor den „kulturfeindlichen Folgerungen“ (Hertwig 1921: III-IV). 165 Vgl. UHUB, Landw. Fak. vor 1945, PA Paula Hertwig. Nach den Angaben im Lebenslauf war sie bis 1932 in der Staatspartei aktiv und in der Deutschen Volkspartei (DVP) vom 5.3.27.6.1933. Es unwahrscheinlich, dass sie in der DVP tätig war, da sie nachweisbar seit Februar 1933 für die Staatspartei Mitglied im Preußischen Landtag war (vgl. 26.1.1953, Stubbe: Frau Prof. Dr. Paula Hertwig [Empfehlung für die Wahl in die Akademie der Wissenschaften], in: BBAW, NL H. Stubbe, 44; Bracher, Matthias, Morsey 1980: 765). Die Deutsche Staatspartei wurde im Juli 1930 gegründet als ein Produkt der Auflösung der Deutschen Demokratischen 235 Forschungstätigkeit noch parteipolitisch aktiv war, zeigt ein ausgeprägtes gesellschaftliches Verantwortungsbewusstsein. Damit war sie auch richtig in Baurs Institut für Vererbungsforschung gelandet, in dem der praktische Bezug der Wissenschaft immer zu vorderst stand. Zugleich repräsentierte Erwin Baur als wichtigster Vertreter der Rassenhygiene in der Genetik das unbedingte Interesse an der Anwendung des biologischen Wissens auf sozialpolitische Angelegenheiten. Im Baurschen Institut war der Blick immer auf „die Grenzgebiete zwischen biologischer und medizinischer Forschung“ gerichtet, ganz nach Baurs Motto: „Das eigentliche Studium der Menschheit ist der Mensch“.166 Seine Schüler und Schülerinnen waren somit mit der Dringlichkeit eugenischmedizinischer Probleme vertraut, und sein Beispiel zeigte, wie Forschung, mit Nachdruck öffentlich vertreten, ihre praktische Relevanz entfalten und ihre Förderung auf diese Weise gesichert werden konnte.167 Als Hertwig 1927 einen Handbuchbeitrag zur Keimschädigung durch Strahlen schrieb, brannte ihr das Thema der Erbschädigung immer noch nicht auf der Feder. Im Gegenteil, sie unterstützte sogar Nürnberger in seiner Skepsis gegenüber den Säugetierexperimenten von Little und Bagg. Die vorläufigen Versuchsergebnisse von Hermann Muller platzen förmlich in die Drucklegung des Artikels und wurden noch in letzter Minute angehängt.168 Mit Mullers Experimenten „sprangen verschlossene Türen“ auf in der Frage der „Vererbung“, die schon Oscar Hertwig aufgeworfen hatte.169 Doch der Raum, in den die Türen führten, war nicht der ihres Vaters, sondern der der Mendelgenetik. Die Diskussion erhielt mit einem Schlag eine neue Dimension, da nun Mutationen den Raum der Schädigungswirkungen besetzten.170 Es kam Hertwig darauf an, dass auch dieser neue Wissensraum, wie zuvor der des Vaters, auf die Medizin angewandt wurde. Ganz mit dem Engagement einer Gesundheitspolitikerin sprach Hertwig von einer „Kampagne“ gegenüber den Gynäkologen.171 Im Institut für Vererbungsforschung beschäftigte sich Paula Hertwig zunächst mit der Vererbungsanalyse landwirtschaftlich interessanter Eigenschaften bei Hühnern. Zuvor hatte sie sich 1919 mit einer experimentell-zytologischen Untersuchung über Parthogenese habilitiert – die erste Habilitation in Vererbungswissenschaft an einer Medizinischen Fakultät. Das Thema teilte sie mit Nachtsheim. Über seinen Lehrer und ihren Onkel, Richard, kamen sie in Kontakt, und der gleichaltrige Nachtsheim, der die Leitung der zoologischen Abteilung an Baurs Institut angenommen hatte, bot ihr die Mitarbeit an. Dies eröffnete ihr nach der Emeritierung ihres Vaters die Möglichkeit zu weiteren genetischen Arbeiten – mit der Auflage aber, einen landwirtschaftlichen Bezug zu wahren.172 Das Verhältnis von Nachtsheim und Hertwig war gleichberechtigt, jeder bearPartei (DDP) und in der Intention, dem Abwandern des liberalen Klientels zu den Nationalsozialisten entgegen zu steuern. Am 28.6.1933 löste sich die Staatspartei selbst auf. (Vgl. Albertin 1980: LI u. 765, Fußn. 4.) 166 Nachtsheim 1959b 167 Vgl. Harwood 1993: 214ff. u. 227ff.; 1.1.4. 168 Vgl. Hertwig 1927: 43-44. 169 Hertwig 1932a: 2 170 Zur Bedeutung Mullers Nachweis von Genmutationen für die Genetik, siehe Seite 95f. 171 5.1.1932, Hertwig an Stubbe (BBAW, Stubbe-Fonds, 83) 172 Vgl. Nachtsheim 1959b. 236 beitete sein eigenes Gebiet, und zusammen organisierten sie die Versuchstierzucht für die Notgemeinschaft.173 Mit Mullers Berliner Vortrag kam die Strahlengenetik auch nach Dahlem. Als Baur ganz an sein Müncheberger Institut gewechselt war, blieb die langjährige Assistentin und ältere Biologin Emmy Stein in Dahlem und setzte ihre Bestrahlungsexperimente an Pflanzen über die Induktion von Gewebsentartungen fort. Nun wurden aber auch in der zoologischen Abteilung, deren Aufgabe bislang ausschließlich die landwirtschaftliche Nutzzucht gewesen war, die Fragen der Mutationsgenetik aufgegriffen. Der junge Mediziner Hans Grüneberg174, der nach seinem Physikum 1928 in Bonn mit dem Interesse an menschlicher Erblehre an das Berliner Institut gekommen war, unternahm Strahlenversuchen an Drosophila.175 Grüneberg konnte sich in Dahlem auf Nachtsheims frische Erfahrungen mit der Fruchtfliege an Morgans Labor stützen und auf Hertwigs Überblick in der strahlengenetischen Forschung.176 Grüneberg bewegte sich in den richtigen Kreisen, um die brisante Bedeutung seiner strahlengenetischen Experimente und der Mutationsforschung zu chemischen Reagenzien am Institut präzise einzuschätzen. In der Zeitschrift des Deutschen Bundes für Volksaufartung wies er auf die möglichen Gefahren von Strahlen und möglicherweise von Rausch- und Genussmitteln und Medikamenten hin, die „in ihren Folgen nicht nur eine Generation treffen, sondern ganze Volksteile mit krankhaften Erbanlagen dauernd verseuchen“ könnten.177 173 Neben dem praktischen Interesse sah Hertwig ihre Hühnerversuche im Zusammenhang der Domestikationserscheinungen, von Rassen- u. Artbildung und von evolutionstheoretischen Fragestellungen (Hühner waren ein beliebtes Forschungsobjekt der amerikanischen Genetiker) (vgl. Hertwig 1923: 184). In der Verbindung von mendelscher Faktorenanalyse und Haustierwerdung interessierte sich H. für eine Annäherung von Evolutionsbiologie und Genetik. H. vertrat 1923 die Ansicht, dass Genkombination und -mutation die Rassenbildung bestimmen (vgl. Hertwig 1923: 243). Den Selektionsbegriff gebrauchte sie erst später (vgl. Hertwig 1933a: 1403). Zunächst war sie aber damit beschäftigt, als Grundlage die bisher „noch rätselhaften und unbestimmten ‚Erbfaktoren’ genauer“ zu analysieren (vgl. Hertwig 1923: 246). 174 Hans Grüneberg, geb. 1907, gest. 1982 in London. Studium der Medizin in Bonn. Ass. in Freiburg, 1933 entlassen u. Emigration nach London. 1933-46, Ass. am University College. 1956-74, Prof. für Genetics. (Vgl. Deichmann 1995: 411.) 175 Zuvor hatte er Kontakt mit Berliner Humangenetikern u. Anthropologen aufgenommen und sich mit der Statistik der Zwillingsmethode u. verschiedensten anderen Themen der menschlichen Erblehre auseinander gesetzt (vgl. Grüneberg 1930, Vortrag auf der Versammlung der Deutschen Naturforscher und Ärzte, Vererbungswissenschaftliche Sektion, in Hamburg). – Grüneberg veröffentlichte in dichter Folge kleinere Aufsätze, Berichte und Besprechung in Volksaufartung, Erbkunde, Eheberatung: unter anderen Grüneberg 1928b; Grüneberg 1929a. G. war Doktorand Nachtsheims, von dem das Thema der Arbeit stammte. Grüneberg konnte als einer der Ersten Mullers Ergebnisse bestätigen. Es traten zahlreiche neue Varianten unter seinen Fruchtfliegen auf, die er nach den Methoden der Morgan-Schule kartierte (vgl. Grüneberg 1929c; Diss. an der Philos. Fak., Univ. Berlin, in: StaBi Po: Ah 7856 (1930, Bd. 7)). 176 Nachtsheim selbst setzte seine Versuche an Drosophila (vgl. 1.1.4) in Deutschland nicht fort. – Nachtsheim riet Grüneberg erst ab, sein Medizinstudium zu unterbrechen und für eine naturwissenschaftliche Doktorarbeit nur zwei Semester einzuplanen. G. war aber bereits 1929 mit seinen Experimenten fertig und zurück in Bonn und arbeitete weiter experimentell-genetisch unter der Betreuung der Dahlemer (vgl. WIHM, PP/Gru, box 12). Bereits zwei Jahre später legte er eine medizinische Dissertation nach, in der es um die für die Mutationsratenbestimmung „prinzipiell wichtige Frage“ (Timoféeff-Ressovsky) ging, ob Strahlen auf direkten oder indirekten Weg Mutationen auslösen. Die Arbeit fand allgemein Anerkennung (vgl. Grüneberg 1931; zugleich: Diss. an der Hohen Med. Fak. der Rhein. Friedrich-Wilhelms-Univ., Bonn (Hautklinik von E. Hoffmann), in: StaBi Po: Ja 4125 (1934, Bd. 3, G)). 177 Grüneberg 1928a; vgl. Grüneberg 1929b 237 Hertwig übernahm Grünebergs Drosophilazuchten und züchtete sie über 60 Generationen weiter. In Hitzeexperimenten erhielt sie Ergebnisse, die sie als neue Beweise dafür ansah, dass auch unreife Eizellen mutationsfähig waren.178 Die Frage nach der Mutationsfähigkeit unreifer Eizellen war eines der grundlegenden Probleme in der Diskussion um die temporäre Sterilisation. Von dieser Frage aus hatte die Transformation des gynäkologischen Problems in eine allgemeine strahlengenetische Kernfrage, wie gesehen, ihren Anfang genommen. Die Frage nach der Mutabilität von Zellen, also der allgemeinen Fähigkeit zur Mutation und ihrer Modi, und ihre vergleichenden Unterschiede waren für die Genetik von größerem Interesse als die auf die gynäkologische Praxis beengte Frage. Interessanter war, wie sich die Dosis der Bestrahlung und die Strahlenwirkung in lebenden Zellen zu einander verhielt. Schon 1928 war eine direkte Proportionalität der Mutationsrate zur Bestrahlungsdosis von dem Pflanzengenetiker Stadler postuliert worden.179 Die Frage fächerte sich schnell in zahlreiche Folgeprobleme auf. Gilt die Linearität der Wirkung für alle Strahlenarten und -wellenlängen? Können auch kleinste Dosen eine Mutation bewirken? Treten bestimmte Mutationen unter bestimmten Bedingungen häufiger auf? Und so weiter. In diesen Raum der dynamischen Beziehung zwischen Strahlen und ihrer Wirkung ließen sich die Strahlenexperimente zur Bedeutung der medizinischen Strahlenanwendung einordnen. Die Bestimmung der Mutationsrate unter unterschiedlichsten Bedingungen war zugleich die entscheidende Frage im genetischen Diskurs um die Strahlenanwendung. „Bei der Überlegung möglicher Gefahren der Erbschädigung darf dabei nicht die oft benutzte Berechnung der Wahrscheinlichkeit des Herausspaltens induzierter Mutationen in der unmittelbaren Nachkommenschaft der der Strahlung ausgesetzten Personen erwogen werden. Es muß dagegen einfach die mögliche Erhöhung der Mutationsrate, und dadurch die Erhöhung des schon vorhandenen ‚Vorrats’ krankhafter Erbanlagen in der menschlichen Population in Betracht gezogen werden.“180 Paula Hertwig hatte schon früh die Vermutung geäußert, dass es keine ungefährlichen Strahlendosen gäbe. Sie mobilisierte vor den Gynäkologen die suggestive Kraft der Extrapolation mathematischer Ausdrücke. Das Argument der linearen Proportionalität setzte über die temporäre Sterilisation hinaus die gesamte Strahlentherapie und -diagnostik unter Generalverdacht. Durch die Verlagerung der experimentellen Fragestellung wurde die temporäre Sterilisation zu einem sekundären Problem. Die „richtige Beantwortung“ der Frage der Proportionalität und Mutationsrate war die Frage „von großer praktischer Tragweite“.181 So setzte Hans Stubbe, Hertwigs ehemaliger Institutskollege, den Baur Ende der zwanziger Jahre mit an das Kaiser-Wilhelm-Institut für Züchtungsforschung genommen hatte, seine Mutationsexperimente als Experimente über Mutationsraten fort.182 Die Mutationsratenbestimmung beschäftigte die 178 Vgl. Hertwig 1932b: 671-72. Vgl. Kappert 1978: 106. 180 Timoféeff-Ressovsky 1937: 149 181 Hertwig 1937: 176 182 Stubbe bestätigte an Antirrhinum, dass durch Strahlen die Mutationsrate bedeutend steigt (vgl. Stubbe 1932). 179 238 Genetiker intensiv und lange.183 Wie sich theoretische Folgefragen stellten, ergaben sich auch in Bezug auf die Röntgenfrage neue Probleme, da sich die Mutationsraten zwischen Arten, zwischen einzelnen Allelen und offenbar – und das erinnerte fatal an das seit Jahren von den Medizinern heruntergebetete Argument – auch zwischen verschiedenen Zellstadien und -arten eines Organismus unterschieden.184 Die Aufgabe war damit auch innerhalb der Röntgendebatte, zu prüfen, wie weit aus den Zahlen über die Mutationsrate bei Drosophila Rückschlüsse auf Säugetiere und den Menschen erlaubt waren.185 5.3.4 Der eigentliche Erfolg der strahlengenetischen Experimente Paula Hertwig errechnete, dass, um Mutationsraten bei Säugetieren mit einer 99-prozentigen Sicherheit zu bestimmen, mindestens 20.000 Mäuse erforderlich waren. Sie plante viereinhalb Jahre für die Durchführung der Versuche ein. Im Rahmen der Gemeinschaftsarbeiten war vorgesehen, dass Hertwig die Versuchsstämme vorbereiten und eine geeignete Auswahl treffen sollte; TimoféeffRessovsky sollte dann „bei den großen Strahlenversuche“ dazustoßen.186 Mit den Bestrahlungen wurde im Frühjahr 1934 begonnen. Sie wurden am Berliner Institut für Strahlenforschung von Walter Friedrich, das auch anderen Berlinern Genetikern bei Strahlenversuchen assistierte, durchgeführt wurden.187 183 Stubbe vermutete nach Bestrahlungsexperimenten an Pollen des Löwenmauls, dass es auch bei der Bestrahlung der genitalen Zonen des Menschen keine ungefährlichen Dosen gäbe, im Gegenteil, dass bestimmte Strahlenintensitäten besonders stark mutationserzeugend sein könnten und gerade solche rezessive Mutationen auslösen, die bereits in einer Population vorhanden sind (vgl. Lachmann & Stubbe 1933: 85). Dem widersprach Timoféeff-Ressovsky. Bei Drosophila sei die direkte und lineare Proportionalität unabhängig von Dauer und Härte der Bestrahlung, die Qualität der Mutationen verändere sich nicht (vgl. Timoféeff-Ressovsky 1934b: 473 u. 477; vgl. auch Timoféeff-Ressovsky & Delbrück 1936). In einem Handbuchartikel von 1938 erwähnte St. zwar die widersprechenden Ergebnisse, stufte sie aber als „eher zufällig“ ein (vgl. Stubbe 1935a: 301). T. wiederum beschränkte sich auf ein Diagramm, das drei Versuchsserien widerspiegelte, ohne St.s abweichende Ergebnisse zu erwähnen. Die „Dosisproportionalität“ sei bei allen geprüften Pflanzen und Tieren direkt proportional (vgl. Timoféeff-Ressovsky 1940: 216). (Nach Ludwik Fleck ist das Handbuchwissen diejenige Form, bei der im Prozess der Wissensverallgemeinerung alle Zweifel und möglichen Unregelmäßigkeiten als zufällige Anomalien außer Kraft gesetzt sind (vgl. Fleck 1994: 158f.).) 184 Vgl. Timoféeff-Ressovsky 1937: 91. 185 Vgl. Hertwig 1932b: 664-65 u. 674. 186 Vgl. 30.10.1932 [sic? 1933!], Timoféeff-Ressovsky an Notgemeinschaft (BA Ko, R 73, 15215); Stubbe 1935a: 247ff.. – Zur konkreten Beteiligung T.s ist es meines Erachtens nie gekommen. – Die Arbeiten Hertwigs erfuhren auch durch den Nachfolger Baurs am Dahlemer Institut, den gleichaltrigen Hans Kappert, der als eingefleischter Pflanzengenetiker kein besonderes Interesse an erbpathologischen Experimenten haben konnte, beste Unterstützung (vgl. Hertwig 1955: 194). – Dennoch reichte der Institutsetat für einen Versuchsumfang von verplanten 50.000 Mäusen und Ratten. Alle in die Röntgenfrage involvierten Fachgesellschaften befürworteten die Versuche dringend. Die Notgemeinschaft sagte Ende 1934 ihre Unterstützung zu, auch die medizinische Fakultät der Universität beteiligte sich, unklar ist, ob die Preußische Akademie der Wissenschaften Unterstützung zusagte. Ende der dreißiger Jahre wurden Hertwigs Forschungen von einer Stiftung der Münchener medizinischen Wochenschrift regelmäßig gefördert. (Vgl. UHUB, Landw. Fak. vor 1945, PA Paula Hertwig: Bl. 105 u. Hefter III (med. Fak., Dekanat), Bl. 9; 6.3.1935, Hans Kappert an Verwaltungsdirektor der FWU, in: BA B, R 4901, 1526.) 187 Hertwigs Experimente wurden bis in die vierziger Jahre hinein von der DFG u. einer Stiftung der Münchener Medizinischen Wochenschrift unterstützt (vgl. 27.05.1945, Hertwig an Kurator der FWU, in: UHUB, Rektorat nach 1945, 312). Zu bisherigen genetischen Strahlenexperimenten an Säugern – Little und Bagg – unterschieden sich diese Versuche dadurch, dass nur „In- 239 Zunächst wurden weibliche Mäuse bestrahlt.188 Hertwig folgte damit dem Versuchsplan, wie sie ihn den Bayerischen Gynäkologen vorgestellt hatte, um die Mutationsfähigkeit reifer und unreifer Keimzellen zu unterscheiden.189 Zu diesen ersten Versuchen erfolgte aber keine Veröffentlichung; stattdessen ging Hertwig dazu über, Mäusehoden zu bestrahlen. Sie verließ damit den unmittelbaren Kontext, in dem die Versuche initiiert worden waren. Dies korrespondierte mit der Ansicht der Genetiker über die allgemeine Gefahr, die von der Strahlentherapie und -diagnostik ausging, und der letztlich geringen Rolle, die die temporäre Sterilisation in der medizinischen Praxis spielte.190 Zum anderen hatte der Wechsel im experimentellen Arrangement praktische Gründe. Der Nachweis von Mutationen bei Säugetieren war am weiblichen Organismus ungleich schwieriger als bei Männchen.191 Hertwig musste feststellen, dass sich die Angleichung des Mutationsversuchs am Säugetier an die Bedingungen bei der Bestrahlung am Menschen und der temporären Sterilisation nicht realisieren ließ. Stattdessen wolle sie zunächst die Strahlenmenge bestimmen, die tatsächlich die Keimzellen treffen.192 Die temporäre Sterilisation erwies sich so auch experimentell als ein zu spezielles Problem, solange nicht schon grundlegendere Fragen beantwortet waren. Die bisherige Erfolglosigkeit der Mutationsforschung bei Säugetieren, so Hertwig, lag daran, dass die Zahl von ausschlaggebender Bedeutung war. Sie war das umso mehr, da anders als in den Mullerschen Versuchen nicht einfache Mutationsmerkmale festgestellt werden sollten. Es kam nicht darauf an, zu zeigen, dass Strahlen überhaupt Mutationen bewirken konnten, sondern dass sie kleinste physiologische Veränderungen bewirkten, die zumeist nur rezessiv auftraten.193 Die Versuche konnten deshalb nicht umfangreich genug angelegt werden.194 Die ursprünglich geplante ‚Materialschlacht’, die auch das seltene Mutationsereignis ‚zu Tage fördern’ sollte, fand allerdings nie statt. Vier Jahre nach Einsetzung der Kommission zur Frage der Erbschädigung durch Röntgenstrahlen musste Hertwig feststellen, dass die Experimente – auch zuchtstämme“ benutzt und weitere Generationen mit einbezogen wurden (Hertwig 1937: 181). International waren dies die einzigen derartigen Versuche an Säugetieren neben denen von George Snell (Jackson Memorial Institute), 1935 veröffentlicht. – Zahlreiche Versuche lagen zwar darüber hinaus vor, die aber Hertwig für „genetisch wertlos“ hielt, da sie nicht unter biologischen und erbkundlichen Voraussetzungen gemacht worden waren (Hertwig 1940: 254). – Der verwendete Inzuchtstamm war wahrscheinlich der delute-Stamm von Clarence Little (Jackson Memorial Institute) (vgl. Hertwig 1938: 274). 188 Vgl. o.D., (vermutl. Kühn): „Entwurf [...]” (BA Ko, R 73, 12475: Seite 9 v. 12, siehe Fußn. 133). 189 Vgl. Hertwig 1932b: 671-73. 190 Vgl. 2.12.1931, Martius an Stubbe (BBAW, Stubbe-Fonds, 132). 191 Von bestrahlten Weibchen war es zu aufwendig, genügend Nachkommen zu züchten. – Die ersten Versuchsserien bestätigten dann auch eher die Position der Mediziner und Gynäkologen, dass bestimmte Keimzellstadien strahlenunempfindlicher sind. Andererseits zeigte sich in histologischen Untersuchungen Hertwigs Schülerin Hildegard Brenneke, dass auch bei geringer Strahlendosis die Keimzellen geschädigt werden konnten, dass aber in diesem Fall die Zygoten zerfielen (vgl. Hertwig 1935: 522). 192 Vgl. Hertwig 1933b: 11. 193 Siehe Seite 94 u. 185. 194 1938 waren von 197 bestrahlten männlichen Mäusen 2.683 Nachkommen und ebenso viele Kontrollen gezogen worden (vgl. Hertwig 1938: 288). 240 international gesehen – letztlich nicht besonders umfangreich waren.195 Über die Mutationsraten anderer „Objekte“ als den Fruchtfliegen „wissen wir so gut wie gar nichts“.196 Sie kam zum Schluss, dass es fast aussichtslos sei, die untere Grenze der mutationsauslösenden Strahlendosis an Säugetieren zu erforschen.197 Die für die Keimschädigungsgefahr der medizinischen Strahlenanwendung entscheidende Frage fiel außerhalb der experimentellen Erfassbarkeit. Hertwig gab die weiteren Bemühungen um die Mutationsrate auf, wenn sie auch weiter von der großen „Bedeutung der Mutationsforschung für unser praktisches, rassenhygienisches Handeln“ ausging.198 Nichtsdestotrotz gilt Hertwig als Pionieren der Strahlengenetik an Säugetieren, die die experimentelle Mutationsforschung an Säugern mit Erfolg eingeführt habe und galt damit manchem als „eine der wenigen Frauen, die in der Wissenschaft wirklich Hervorragendes leisten“ (v. Verschuer).199 Die speziellen Mutationsraten – nicht nur – bei Säugetieren blieben ein ungeklärtes Problem.200 Die Säugetiergenetik verlor das Interesse; erst in den fünfziger Jahren wurde sie erneut „zur Kardinalfrage“.201 Nachdem der gynäkologische Kontext der Strahlenversuche sehr bald in den Hintergrund getreten war, wandelte sich der Charakter Hertwigs Versuche gegen Ende der dreißiger Jahre erneut. Fließend verlagerte sich ihre Forschung auf die mendelsche Genanalyse und entwicklungsphysiologische Fragen. Den Ausgangspunkt bildete der lang ersehnte Nachweis einzelner rezessiver Mutationen. So, wie Kühn als Nebeneffekt von der Versuchstierzucht Varianten erwartete, so machten die Versuche zur Mutationsratenbestimmung schließlich das Seltene möglich und bescherten phänotypisch abweichende Mäuse. Die Ähnlichkeit der Mausmutanten mit klinischen Bildern der Humanmedizin weckte Hertwigs Interesse. Die eine Maus hatte eine Extremitätenfehlbildung (Oligodaktylie), die andere erschien anämisch und „kümmerwüchsig“.202 Fragen nach Vererbungsmodi, Kopplung von Genen und „das entwicklungsphysiologische Verhalten der neuen Mutation“ traten jetzt schnell an die Stelle der Mutations- 195 Vgl. Hertwig 1937: 178. – Die Gültigkeit der Ergebnisse zur Dosisproportionalität der Mutationsrate bei Drosophila melanogaster war für Drosophila funebris durch Keller und H. Lüers (Mitarbeiter Timoféeff-Ressovskys in Buch), für den Mais durch Stadler und für Antirrhinum majus durch Stubbe gezeigt worden (vgl. Timoféeff-Ressovsky 1940: 216). In TimoféeffRessovsky 1940: 209-10 findet sich ein Liste der Tier- und Pflanzenarten, die bis dahin als Objekt in strahlengenetischen Versuchen benutzt worden waren, darunter Maus, Meerschweinchen, Hase und Schaf als einzige Säugetiere von 61 Arten bzw. Rassen insgesamt. 196 Hertwig 1937: 180 197 Vgl. Hertwig 1940: 245. – Andere berichteten von ähnlichen Schwierigkeiten. Weil viele Mutationen phänotypisch nicht zu detektieren waren, sei es nahezu unmöglich die Gesamtmutationsrate einzelner Gene zu bestimmen (vgl. Timoféeff-Ressovsky 1937: 86). 198 In ihrem Handbuchartikel von 1940 ist von eigenen Experimenten zur Mutationsratenbestimmung nicht mehr die Rede (vgl. Hertwig 1940): 245). – Bestrahlungen wurden aber – mindestens – bis 1940 weitergeführt, unter Umständen, um gezielt Mutanten zu erzeugen (vgl. Hertwig 1955: 194). 199 29.2.1944, v. Verschuer an de Rudder (UAM, NL v. Verschuer, 8); vgl. Nachtsheim 1957a: 1286; Vogel 1992: 127. 200 Vgl. Hertwig 1932b: 675; Hertwig 1940: 32. 201 Nachtsheim 1957a: 1286 202 Hertwig 1939 241 rate, und Hertwig übertrug ihre Befunde auf die humangenetische Forschung über Extremitätenfehlbildungen.203 Hertwig betrat mit ihrer Mitteilung über die Entdeckung der rezessiven Mutationen in der humangenetischen Zeitschrift Der Erbarzt das Gebiet der vergleichenden Erbpathologie, das sie von nun an sukzessive ausbaute.204 Zu den ersten Mutationen kamen weitere Zuchtstämme mit Fehlbildungen und Erkrankungen hinzu, die in enger Beziehung zur Humanmedizin standen. Ihr Dahlemer Kollege und Humangenetiker v. Verschuer war voll des Lobes über ihren Forschungsweg und die Bedeutung ihrer Arbeit für den „Humangenetiker“, insbesondere, da sie sich dem „neuesten Gebiet der Verbindung der Genetik und Entwicklungsgeschichte (Phänogenetik)” zugewandt hatte.205 Die Beschäftigung mit medizinischen und entwicklungsphysiologischen Fragen musste Hertwig allerdings auch deshalb leicht fallen, da sie bereits auf einschlägige Erfahrungen zurückgreifen konnte.206 Nicht zuletzt arbeiteten ihre Institutskollegen Nachtsheim und Stein bereits seit Jahren zu erbpathologischen Fragestellungen. Hertwigs Wechsel zur vergleichenden Erbpathologie und Entwicklungsphysiologie war nicht zwangsläufig. Eine Reihe von Voraussetzungen erwies sich als Ermöglichungsbedingungen für eine reibungslose Umstellung. Als entscheidend kann allerdings gelten, dass Hertwig schon früh von der Bedeutung der Genetik überzeugt war, die sie gegenüber der Medizin einnehmen müsse. Anfang der dreißiger Jahre befasste sie sich im Organ des Deutschen Bundes für Volksaufartung und Erbkunde e.V. mit der Vererbung der Rotgrün-Blindheit, ein Thema, das ihren eigentlichen experimentellen Arbeiten zu dieser Zeit völlig fern lag. Ihr Ziel war es, an diesem klassischen Beispiel deutlich zu machen, dass ohne das Experiment und ohne Analogieschlüsse aus dem „tierischen und pflanzlichen Material“ bindende Schlüsse über menschliche Vererbungsfragen problematisch seien – so verständlich auch die eigenen Unternehmungen der 203 Hertwig 1939: 42 – Der Nachweis der neuen Merkmale und ihre Bearbeitung gelang deshalb so unproblematisch, da durch die Strahlenversuche bereits eine Voraussetzung der neuen experimentellen Arbeitsweise gegeben war. Die Mausstämme waren genetisch rein gezüchtet und genetisch analysiert, um mit Markierungsgenen möglichst einfach nach verborgenen Merkmalen fahnden zu können (vgl. ebd.; Hertwig 1940: 255 u. 266-68). 204 Vgl. Hertwig 1942. – Ähnlich wie die norwegische Genetikerin Kristine Bonnevie untersuchte Hertwig in den vierziger Jahren mit Hilfe von Serienschnittuntersuchungen an Embryonen ihrer Röntgenmutanten, welche Störungen das mutierte Gen in der Entwicklung hervorruft (vgl. Hertwig 1944; 29.2.1944, v. Verschuer an de Rudder, in: UAM, NL v. Verschuer, 8). 205 29.2.1944, v. Verschuer an de Rudder (UAM, NL v. Verschuer, 8). In diesem Brief unterstützte er „wärmstens“ R.s Ansinnen, Hertwig für den Theobald-Christ-Preis der Senckenbergsche Stiftung vorzuschlagen. 206 Es ist zwar richtig, dass Hertwigs Hauptinteresse zunächst nicht den neueren Entwicklungen in der Genetik galt (vgl. Harwood 1993: 201). Dennoch war sie gut darauf vorbereitet, ihre Mäusemutanten als Objekte der genetischen Entwicklungsphysiologie zu betrachten (Über ihren Bruder, Anatom an der Charité, blieb sie in entwicklungsphysiologische Fragestellungen eingebunden. Sie verfasste zwei Handbuchartikel über die neuesten Entwicklungen in der entwicklungsphysiologischen Forschung (vgl. Hertwig & Hertwig 1930 u. Hertwig 1937)). In ihren Arbeiten zur Vererbung bei Hühnern, die neben den Mäuseversuchen im Institut für Vererbungsforschung weitergeführt wurden, stellte sie die Verbindung zu Entwicklungsfragen schon 1934 her. Das Interesse an medizinischen Fragen der Genetik hatte sie ebenfalls in den erbanalytischen Versuchen mit Hühnern bereits entwickelt und „anormale und pathologische Merkmale“ in den Mittelpunkt der Experimente gestellt (vgl. Hertwig 1934). 242 „Menschen-Genetiker“ seien.207 Hertwig war bereits Anfang der dreißiger Jahre klar, dass die vergleichende Genetik eine wichtige Hilfe für die Humangenetik sein würde. Die entscheidende Frage war dann natürlich erneut, ob die Experimente am Tier Gültigkeit für die Verhältnisse beim Menschen haben. Davon waren Paula Hertwig und ausnahmslos alle Genetiker überzeugt. Doch in diesem Punkt stießen sie auf den hartnäckigsten Widerspruch bei den Gynäkologen. 5.4 Kompetenzgerangel um die Allgemeingültigkeit der Vererbungsgesetze „Für Mediziner muß es außerordentlich schwierig sein, die Grundlagen der Genetik zu 208 verstehen.“ Es ist bis hierhin gezeigt worden, wie sich die Strahlenproblematik in der Gynäkologie zu einem genetischen Problem gewandelt hat und damit zu einem Regulationsgegenstand der Eugenik wurde. Jetzt soll die entscheidende Konfliktlinie aufgezeigt werden, an der entlang diese Verschiebung stattfand. In der Diskussion zwischen Gynäkologen und Genetikern ging es um Definitionsmacht, denn von ihr hing ab, als was das eigentliche Problem zu verstehen war. Die Zulässigkeit genetischer Analogieschlüsse aus tierexperimentellen Modellversuchen war der diskursive Kern in der Auseinandersetzung um die Definitionsmacht über das Problem, welches die Genetik sich erfolgreich aneignete. Der Diskurs um die temporäre Sterilisation war ein Kampf darum, wessen Wort Priorität hatte und damit die Situation angemessen beschrieb – das Problem folgte erst hinterher. Die Konfliktlinien traten sofort nach Auftritt der Eugeniker und Genetiker offen zutage. Das Problem war die Gefahr, die von der Strahlenanwendung ausging; der Konflikt wurde aber über die Aussagekraft vererbungswissenschaftlicher Aussagen geführt. Es ging letztlich nicht um die Richtigkeit von Befunden und experimentellen Ergebnissen der einen oder anderen Seite, sondern darum, ob die Genetik beanspruchen konnte, die Ergebnisse ihrer Forschung auf die medizinische Problemsituation übertragen zu können. Zur Debatte stand die Frage, ob Experimente der Genetik ein gutes Modell für die Strahlentherapie in der Gynäkologie waren. Die Diskussion um diese Frage wurde auf zwei Ebenen geführt – auf einer theoretisch-allgemeinen und einer konkret-experimentellen. Die Genetik musste sich zunächst auf eine konkrete Debatte um die Bedingungen ihrer Experimente einlassen, obwohl ihr Anspruch von sehr viel allgemeinerer Art war. Doch dieser Teilerfolg des ‚klinischen Lagers’ in der Gynäkologie – der experimentelle Nachweis der Erbschädigung an Säugetieren konnte nicht erbracht werden – konnte nicht verhindern, dass die Zahl derjenigen stieg, die den prinzipiellen Anspruch der Genetik akzeptierten. Der Geltungsanspruch der genetischen Rede war so 207 Hertwig 1930a – Ganz genauso versuchte sie den „Humangenetikern“ ihre schwierige Lage anhand ihrer erbpathologischen Experimente an Hühnern darzulegen (vgl. Hertwig 1934: 41). Zu den Schwierigkeiten der Humangenetik, siehe Kapitel 7. 208 4.12.1931, Stubbe an Lachmann (BBAW, Stubbe-Fonds, 119) 243 stark, dass er die Gynäkologen nach und nach zum Einlenken zwang.209 Dieser Geltungsanspruch fußte im besonderen Selbstverständnis der Genetik. 5.4.1 Die Rhetorik der Genetik, und die Gynäkologen im „tribunal of reason“ In den ausgetauschten Resolutionen der Fachgesellschaften kam der eigentliche Grundkonflikt bereits ans Licht. Während die Genetiker auf Grund ihrer „exakten“ Experimente die Schädigung der Erbmasse durch Röntgenstrahlen als unbestreitbar ansahen, lehnten die Gynäkologen die Entschließung der Genetiker ab, da sie sich „ausschließlich auf experimentelle Untersuchungen an Insekten und Pflanzen“ stützten und die Versuchsbedingungen bei diesen Experimenten nicht mit den Bestrahlungsbedingungen am Menschen qualitativ und quantitativ verglichen werden dürften.210 Die Reaktion der Gynäkologen erklärten die Genetiker mit der fehlenden genetischen Kompetenz der Mediziner. Sie sahen sich in der Rolle der Aufklärer, die in geschickter Weise die zur Skepsis neigenden Schüler an die Wahrheit heranführen mussten. Richard Goldschmidt, der amtierende Vorsitzende der Gesellschaft für Vererbungswissenschaft, antwortete den Gynäkologen: „Wir können auch nicht verhehlen, daß die uns vorliegende Entschließung wenig geeignet ist, [unseren] Standpunkt zu erschüttern. Basiert doch die Entschließung in der Hauptsache auf dem Argument, daß Versuche an Pflanzen und Insekten nicht für den Menschen gültig seien, ein Argument, das heutzutage jedem, der mit der Vererbungslehre vertraut ist, nicht mehr verständlich ist.“211 Hans Stubbe bestätigte klagend das Unverständnis der Mediziner und war schließlich „sehr böse“, dass sie „die einfachsten Dinge nicht verstehen wollen“.212 Die Diagnose über das defizitäre genetische Wissen in der Medizin provozierte bildungspolitische Ansprüche. Es wäre unmöglich, dass „über Versuche, die an Klarheit der Beweisführung nichts zu wünschen übrig lassen und deren Methodik sich mit der Exaktheit chemisch-physikalischer Versuche messen kann, auf diese Weise geurteilt würde, wenn der Vererbungslehre endlich im biologischen und medizinischen Unterricht die Stelle eingeräumt würde, die ihr zukommt!“213 Die Auseinandersetzung der Genetiker mit den Gynäkologen fiel mit dem Streben der Vererbungswissenschaft nach disziplinärer Eigenständigkeit innerhalb der Biologie und als Lehrfach in der Medizin zusammen. Das Gewicht, das die Genetiker dabei auf ‚ihre’ „Vererbungsgesetze“ legten, ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich. Zum einen wurde dadurch ein besonders starkes Argument mobilisiert, wie noch zu sehen ist; zum anderen drückte sich in der Auffassung der Genetiker, die von ihnen festgestellten empirischen Regelmäßigkeiten hätten gesetzesähnlichen Charakter, so etwas wie eine „spontane Philosophie“ des Genetikers aus.214 Diese Begrifflichkeit war Ausdruck des 209 Dieser Geltungsanspruch und Autorität der Eugenik und des rassenhygienischen Denkens als ‚Leitrationalität’ gewann nicht zuletzt nach 1933 an Gewicht. 210 Dyroff 1933: 826 211 Richard Goldschmidt zit. in Nachtsheim 1957a: 1285 212 Vgl. 13.2.1933 bzw. 4.12.1931, Stubbe an Lachmann (BBAW, Stubbe-Fonds, 119); vgl. auch das Eingangszitat: Seite 242. 213 Hertwig 1932a: 33 214 Zum Begriff der „spontanen Philosophie des Wissenschaftlers“ (SPW): Althusser 1985: 102: „Die SPW bezieht sich allein auf die (‚bewussten’ und ‚unbewussten’) Vorstellungen, die sich 244 Anspruchs, in der biomedizinischen Episteme die Vorreiterrolle als exakte Wissenschaft inne zu haben. Die Genetiker sahen sich und ihre experimentelle Arbeit als biologisches Pendant zur experimentellen Genauigkeit und Mathematisierbarkeit von Physik und Chemie.215 Die Anbindung an diese Vorbilder begründete auch den Anspruch der Genetik auf die Zuständigkeit in der Frage der Röntgenschädigung. Die experimentelle Exaktheit stand für die Kompetenz und die Legitimität, die Mediziner belehren zu können. Die Mediziner konnten hingegen auf keine vergleichbare Argumentation rekurrieren. Die Resolution der Genetiker lässt sich von daher auch als der aggressive Geltungsanspruch einer noch randständigen akademischen Disziplin lesen, die ihren Gegenstand von grundlegender Bedeutung für Biologie, menschliche Erblehre und Pathologie ansah. Dieser Anspruch bestand schon vor der politischen Wende und der Installierung der Erblehre als Leitwissenschaft für die biomedizinischen Wissenschaften im Nationalsozialismus. Ausdruck dieses Etablierungsbestrebens waren wiederholte Resolutionen der Gesellschaft für Vererbungswissenschaft, in der die Ausdehnung der allgemeinen Kenntnisse über Erbkunde und die Schaffung eigener Institute und Professuren für Genetik und „menschliche Genetik“ (Lenz) an jeder Universität gefordert wurden.216 Die Erkenntnisse der Genetik müssten, so die Lehre aus der Zurückhaltung der Gynäkologen, Allgemeingut der Ärzteschaft werden.217 Paula Hertwig sah die Einladung, vor den bayerischen Gynäkologen zu sprechen, ganz in diesem Sinne als eine rhetorische Aufgabe. Sie wolle sich „ziemlich sorgfältig auf die Kampagne vorbereiten“.218 Ihr Vortrag wurde eine Art Einführungsvorlesung in die Grundlagen der (Strahlen-)Genetik. Für Hertwig stand es apodiktisch fest, dass „Mutationen in allen Zellen des tierischen und pflanzlichen Organismus“ durch Strahlen ausgelöst werden und dass die Erfahrungen an niederen Tieren und Pflanzen auch für Säuger Gültigkeit hatten.219 Der Schluss auf den Menschen musste jedoch den Medizinern noch erleichtert werden. „Für uns Genetiker erwächst aber die Pflicht, es nicht genug sein zu lassen mit der eigenen Überzeugung, sondern unsere Erkenntnis Allgemeingut der Ärzteschaft werden zu lassen. Es gilt, die an niedern Tieren gewonnenen Resultate weiter auszubauen und für den Nichtgenetiker durch Versuche an Säugetieren überzeugender zu gestalten.“220 Die Genetiker traten den Gynäkologen mit der Verve von strahlenden Vertretern einer neuen Wissenschaftlichkeit in der biomedizinischen Forschung gedie Wissenschaftler von der wissenschaftlichen Praxis der Wissenschaft und von ‚der’ Wissenschaft schlechthin macht.“ 215 Die Chemie und ihr synthetische Potenz, die sich auf die Strenge von Formeln und Gleichungen gründete, wurden insbesondre gern als Vorbild genannt (vgl. Seite 41-42 u. 112). 216 Lenz 1927a: 1732; vgl. Blümel 1933: 1364. – Es muss allerdings hinzugefügt werden, dass unter den neuen politischen Verhältnissen die Forderungen der Genetiker nach dem disziplinären Ausbau der Genetik durch einen Aspekt ergänzt wurde. Es ging zunehmend auch darum, die ‚richtige’ Vererbungswissenschaft gestärkt zu sehen. Es wurde die Sorge geäußert, dass unter dem neuen Boom des erbbiologischen Diskurses „mystische“ Strömungen der Erbbiologie Oberhand gewinnen könnten (Nachtsheim 1934a: Seite 3; vgl. v.Verschuer 1934: 765). 217 Vgl. Hertwig 1932a: 32-33. 218 5.1.1932, Hertwig an Stubbe (BBAW, Stubbe-Fonds, 83) 219 Hertwig 1932a: 32 bzw. vgl. Hertwig 1932b: 673. 220 Hertwig 1932a: 33. 245 genüber, die sie in der Exaktheit der experimentellen und statistischen Arbeitsweise sahen. Die Gynäkologen ihrerseits bezweifelten zunächst vor allem die Bedeutung dieser Exaktheit für die medizinische Forschung. Ebenso generell, wie die Genetiker die Übertragung der Tierexperimente auf die Situation in der Gynäkologie für gerechtfertigt hielten, wiesen die Gynäkologen dies zurück. Am vehementesten vertrat der führende Münchener Gynäkologe Albert Döderlein diese Position: „Man darf nicht Tierexperimente an Fliegen, Schmetterlingen und anderen niederen extrakorporeal sich entwickelnden Tieren gegen eine so ungeheuer bedeutungsvolle Therapiefrage beim Menschen immer wieder als Gespenst vorführen.“221 Schnell aber begannen die Gynäkologen, die Verteidigung ihres Standpunktes von der allgemein-theoretischen Ebene auf die konkrete Ebene der einzelnen Experimente und Versuchsobjekte zu verlagern. Statt auf die beanspruchte Allgemeingültigkeit der genetischen Konzepte einzugehen, konfrontierten die Mediziner die Genetiker mit Zweifeln an der Exaktheit der Planung und Durchführung der konkreten Modellversuche – nicht ohne generelle Schlüsse über die Wissenschaftlichkeit der Genetiker zu versäumen. „Gerade ein erfahrener Forscher wie Lenz weist darauf hin, daß die Deutung manches biologischen Experimentes den Stempel des Gefühlsmäßigen trägt. Besonders häufig – möchten wir hinzufügen – nach unserer Auffassung in der Vererbungswissenschaft, da hier die exakte experimentelle Klärung gewisser Phänomene schlechterdings unmöglich ist. Wir können uns des Eindrucks nicht erwehren, daß gelegentlich die ‚vorgefaßte Meinung’ die Auswertung der Experimente [...] beeinflußte.“222 Die Gegenargumentation der Gynäkologen, die zum Teil auf eigenen Experimenten beruhte, zielte im Wesentlichen darauf ab, zu bezweifeln, dass die genetischen Experimente gute Modelle für die Situation der temporären Sterilisation abgaben. Wintz gab auf der Münchener Gynäkologentagung die Marschrichtung vor: „Wir behaupten nicht, daß die Versuchsergebnisse an der Bananenfliege zweifelhaft sind, wir bestreiten auch nicht, daß man an Fliegen und Pflanzen gewonnene Gesetze der Vererbung auf den Menschen übertragen könne: wir lehnen es aber ab, in den bisher vorliegenden Untersuchungen gleichwertige Maßnahmen zu sehen, wie wir sie bei der temporären Sterilisation an der Frau vornehmen.“223 Entsprechend dieser Leitlinie konfrontierten die Gynäkologen die Genetiker mit einer Reihe experimenteller Ergebnisse und Argumente, die die Vergleichbarkeit in Frage stellte.224 Von genetischer Seite wurde sogleich auch einge221 Döderlein zit. in Dyroff 1930: 2856 Flaskamp 1930: 237 223 Wintz 1932: 655 224 Es wurde eingewendet, dass die Häufigkeit, mit der Mutationen nach Bestrahlung in verschiedenen Organismen und Geweben auftreten enorm sei, bei Drosophila besonders hoch – und das zu erklären, sei die eigentliche Frage –, dass hingegen das Keimplasma des Menschen „von Hause aus“ stabiler sei (vgl. Borak 1932: 758), dass beim Menschen sicher eine Reizschwelle bestände (vgl. Caffier nach Unterberger 1932: 3036). Es wurde bestritten, dass bei „der schnelllebigen Bananenfliege eine temporäre Sterilisation wie beim menschlichen Weibe überhaupt möglich ist“ (vgl. Wintz 1932: 655) und eingewendet, dass die Genetik sich bisher immer nur mit männlichen Fortpflanzungszellen beschäftigt hätte (vgl. Dyroff 1932: 733), dass ruhende und insbesondere unausgereifte Keimzellen besonders strahlenresistent seien, wie Strahlenexperimente an Pflanzensamen zeigten (vgl. Dyroff 1932: 731), dass Fälle von aufgetretenen Mutationen bei Säugetieren der Frühbefruchtung beim Menschen entsprächen, 222 246 standen, dass sich die Begriffe aus der menschlichen Gynäkologie nicht ohne Zwang auf die Verhältnisse bei Drosophila anwenden ließen und deshalb die experimentellen Bedingungen eine vergleichbare physiologische Wirkung, wie bei der temporären Sterilisation, gewährleisten müssten.225 Das Fazit dieser Versuche war fast ein Jahrzehnt später offen nüchtern. Die grundsätzliche Gleichartigkeit der Lebensprozesse könne nicht darüber hinweg täuschen, dass die Säugetierversuche nur wenig zur Erweiterung der grundlegenden Ansichten hatten beitragen können; deshalb müssten die Säugetierversuche noch „näher an die Verhältnisse beim Menschen“ herangeführt werden.226 Von einem Königsweg der Erforschung der Mutabilität beim Menschen war nicht mehr die Rede. Durch die gynäkologische Kritik verzweigte sich die konkret-experimentelle Diskussion zunehmend und das Forschungsproblem wurde aufgefächert. Gleichzeitig wurde aber dadurch der erwähnte Raum für weiterführende strahlengenetische Fragestellungen geschaffen. Fragen, die sich schon gleich nach den Mullerschen Versuchen in der Genetik über die spezifische Qualität und Quantität der Strahlenwirkung in verschiedenen Organismen und Zellen gestellt hatten, erhielten mit der Diskussion um die Strahlengefährdung eine Plattform. Insbesondere die Vorarbeiten zur Einrichtung von Modellsystemen führten die Genetik in allgemeine strahlengenetische Fragen zur Bestimmung der Mutationsrate und der Strahlenwirkung hinein.227 Die Experimente zur Feststellung der Strahlengefahr boten der Genetik, wie oben erläutert, die Möglichkeit, die strahlengenetische Forschung auszubauen. Der Diskurs um die konkrete Modellhaftigkeit der genetischen Forschung, der zunächst die temporäre Sterilisation im Visier hatte, führte die Genetiker – und das ist das Entscheidende in diesem Zusammenhang – zurück auf eine generelle Ebene. Mit anderen Worten, die Allgemeingültigkeit der Gesetze der Vererbung, dem sich die Kliniker ihnen also die Phase der Sterilität fehlte (vgl. v.Krehninger-Guggenberger 1932: 747), dass das Sexualleben des Menschen völlig verschieden sei (vgl. Maurer 1932: 691), dass die anatomische Analogie zwischen dem Eiträger bei Drosophila zum Säugerovar nicht hergestellt werden könne (vgl. Dyroff 1932: 721), dass sich beim Säugetier die mutationsauslösende Wirkung der Röntgenstrahlen nach der Bestrahlung der Ovarien auf Grund der Eigenarten der Eireifung in der Frucht überhaupt nicht geltend machen (vgl. Borak 1931: 340) oder dass eine verminderte Zahl der Nachkommen oder ihr geringeres Gewicht nicht als mutative Keimschädigung interpretiert werden könne (vgl. Nürnberger 1930: 450). 225 Vgl. Hertwig 1932b: 673 bzw. Martius & Kröning 1936: 1049-50. In der Zusammenarbeit zwischen Kühns Institut und Heinrich Martius ging es zunächst genau darum, durch die Einstellung des experimentellen Arrangements und der Objekte die Modelltauglichkeit der Experimente überhaupt erst herzustellen. (vgl. ebd.) – Stubbe zählte acht Bedingungen auf, um die Experimente eindeutig, reproduzierbar und vergleichbar zu machen (Objekt muss erhältlich sein, empfindlich gegenüber kleinen Dosen, hohe Reaktionsschärfe haben, homogen sein, große und schnelle Reproduktivität, klein, mittlere Empfindlichkeit konstant, Empfindlichkeit von äußeren Faktoren unabhängig) (vgl. Lachmann & Stubbe 1932: 497-98). Die Umweltbedingungen mussten unbedingt gleich gehalten werden (vgl. Timoféeff-Ressovsky & Zimmer 1938: 276). Man darf nur mit „genetisch reinem Material“ arbeiten, braucht eine Kontrollzucht, müsse bei Säugetierversuche mit einem Ammensystem arbeiten (vgl. Hertwig 1933b: 10-11). 226 Hertwig 1940: 245-46 227 Gerade die medizinischen Einwände, die die Genetik zur Konkretisierung ihres Modellsystems zwangen, führten weg von der thematischen Fixierung auf die temporäre Sterilisation zu allgemeinen Erscheinungen der Mutabilität. Paula Hertwigs – gescheiterter – Versuch, ihre Experimente als überzeugendes Modellsystem einzurichten, sind dafür ein Beispiel (Siehe S. 239). 247 durch die Einführung des konkret-experimentellen Diskurses entzogen, wurden gerade durch diesen wieder eingeholt. Die Gynäkologen waren mit der Argumentation innerhalb der experimentellen Konkretisierung also durchaus erfolgreich gewesen; dennoch konnten sie sich diskursiv nicht durchsetzen. Mit Latour könnte von einem „tribunal of reason“228 gesprochen werden: Die Genetiker verstanden es, ihre Argumente stärker zu machen, als es die der Gynäkologen waren. Die Strategie der Genetiker, die Gynäkologen mit einer allgemeinen modelltheoretischen Ebene zu konfrontieren, erwies sich als ein Hindernis, das die Gynäkologen weder ignorieren noch überwinden konnten, für das sie aber auch keine Umgehung fanden. Der Gynäkologe Paul Caffier erfasste nicht nur ganz richtig, was auf dem Spiel stand, sondern auch, woran alles hing: „Es geht bei der ganzen Frage um viel wichtigeres [als nur die temporäre Sterilisation], nämlich um die Anwendung des Röntgenverfahrens in jeder Richtung, sowohl in therapeutischer wie in diagnostischer. Es unterliegt keinem Zweifel, daß, wenn die Erbforscher alle so konsequent dächten wie Herr Timoféeff z.B., sie uns damit das ganze Röntgenverfahren diskreditieren, vorausgesetzt, daß wir geneigt sind, die Parallele Drosophila – Mensch anzuerkennen.“229 5.4.2 Die diskursive ‚Härte’ der Allgemeingültigkeit und das Ideologische der Analogie Die Parallele Drosophila – Mensch war ‚hart’ in dem Sinne, dass sie sich gegen die Gegenannahme durchsetzte. Die ‚Härte’ resultierte daraus, dass sie sich auf die allgemeinen „Vererbungsgesetze“ stützte. Diese bildeten die Grundlage für die Parallelisierung von Drosophila und Mensch. Die Mehrzahl der Gynäkologen räumte bald ein, dass die Vererbungsgesetze selbstverständlich auch für den Menschen gälten. Bevor noch die Berechtigung der Analogisierung im Einzelnen thematisiert wurde, war ihre Möglichkeit bereits vorausgesetzt. Die Prämissen der Analogisierung wurden nicht thematisiert oder gar diskutiert, sondern blieben voraussetzungsreiches Hintergrundwissen. Da, wo sie anklangen, wurden sie von Genetikern eingestreut, um ihre Kompetenz in der Frage der Strahlenschäden zu stärken. Die Wirksamkeit dieses Vorgehens deutet auf die Autorität oder intellegible Unzugänglichkeit der entsprechend mobilisierten Wissensformation. Die angesprochenen hintergründigen Diskurselemente sollen nun transparent gemacht werden. Ihre Untransparenz und implizite Wirkmächtigkeit einerseits, ihre tiefe Verankerung im Denkgebäude der modernen Biologie andererseits machten sie zu einer ideologischen Komponente im Diskurs um die Röntgenanwendung in der Medizin.230 Zugleich waren sie in die Konstruktion 228 Latour 1987: 179ff. Caffier zit. in Unterberger 1932: 3035-36. Herv. Verf. – Ähnlich warnend und eindringlich äußerte sich Wintz 1932: 656. 230 Mit den „ideologischen Komponenten“ ist ein vortheoretischer, das Bewusstsein strukturierender Inhalt gemeint. Dieser Inhalt stammt, wie unten zu sehen ist, selbst aus bestimmten Formen des biowissenschaftlichen Diskurses und seiner gesellschaftlichen hegemonialen Adaptation. Ideologische Elemente greifen im Bereich der Wissenschaft bei der Verteilung von Kompetenzen ein (vgl. Haug 1993: 70). Diese Funktion trifft genau die kontroverse Situation zwischen Genetik und Gynäkologie. Dies besagt, dass die Kontroverse auch durch ein außerwissen229 248 der Strahlenmodelle als ihre Voraussetzung verwoben. Wie wurden also die genetischen Tierexperimente ‚gehärtet’? Was waren die Bedingungen ihrer Überzeugungsmächtigkeit? Sechs Argumente können idealtypisch von einander unterschieden werden, mit denen die Analogien im Vorfeld konkreter experimenteller Kognition legitimiert wurden. 1. Das logische Argument: Wer A sagt, muss auch B sagen. Das logische Argument ist das schwächste, zumal es auch von den Gynäkologen gebraucht werden konnte. Mit diesem Argument wurde versucht, die genetischen Experimente unter die Verwendung von Tierexperimenten in der Medizin im allgemeinen zu subsumieren. Luxenburger präsentierte das Argument auf dem Bayerischen Gynäkologentag in aggressiver Form, indem er den Ärzten ihre eigene Praxis vorhielt. „Daß aber gerade Ärzte, die sehr leicht geneigt sind, aus den Ergebnissen gelegentlich viel weniger exakt angeordneter pharmakologischer und physiologischer Tierexperimente – und zwar durchaus nicht nur beim Säugetier! – ihre Folgerungen für die menschliche Physiologie, Pathologie und Therapie abzuleiten, nun der Anerkennung genetischer Tierversuche äußerste Skepsis entgegensetzen, bedeutet eine Differenzierung der analogistischen Schlußbereitschaft, die psychologisch begreifbar, vom Standpunkt eines vorurteilsfreien naturwissenschaftlichen Denkens aus aber doch wohl nur schwer zu billigen ist.“231 2. Das Analogie-analytische Argument Auch dieses Argument wurde von beiden Seiten benutzt. So erschien die Analogisierung einmal als eine „zwingende Deduktion“, auf Grund derer mit Keimschädigungen auch beim Menschen unbedingt zu rechnen war.232 Die Gynäkologen aber warnten vor der Verallgemeinerung biologischer Befunde, denn „mit schaftliches Alltagsbewusstsein strukturiert wurde. – Der hier verwendete Ideologiebegriff ist kein kritischer Begriff, insofern er auf ein „falsches Bewusstsein“ hinaus will und damit hier implizit auf eine wissenschaftliche ‚wahre’ Position drängte. Er meint eine „historisch gewachsene, auf gesellschaftlichen Praxen gewachsene Erkenntnisform, in denen die Menschen ihre Erfahrungen verarbeiten und die ihre Lebensbewältigung zu orientieren vermögen“ (Elfferding & Volker 1986: 63-64). Damit kommt den ideologischen Feldern, auf denen das Selbstverständnis einer Gesellschaft geprägt wird, eine eigene Realität und Wirksamkeit zu, das heißt, sie sind nicht nur der passive Überbau ökonomischer Verhältnisse (vgl. ebd.: 66). Mit Althussers Anknüpfung an Gramsci wird die Tradition aufgebrochen, Ideologie als eine eindeutige Formation in einer Gesellschaft zu verstehen, die sich unmittelbar aus ihrer Funktion der Stabilisierung herrschender Verhältnisse ergibt. Stattdessen werden verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen eigene ‚regionale’ Formungen der sie reproduzierenden Ideologie eingeräumt (vgl. Bosch & Rehmann 1986: 110-12). Ideologie wird im Weiteren nicht als losgelöste Weltanschauung o.Ä. verstanden, sondern ist von den sie (re-)produzierenden Praxisformen untrennbar (vgl. Turchetto 1994: 52). Das Ideologische ist dann eher das das Bewusstsein Konstituierende als der schon zum Begriff gebrachte Bewusstseinsinhalt. Durch die Einbeziehung von Praxisformen wird die wissenssoziologische Bestimmungen von Weltanschauung (oder Denkstil) als Bewusstseinsinhalte erweitert. Der praktisch gewendete Begriff des Stils bei Fleck 1994: 126 wiederum hat dagegen den Nachteil, dass gesellschaftliche Machtverhältnisse ungedacht bleiben. 231 Luxenburger 1932b: 682; vgl. auch das Gegenargument: Borak 1932: 754. – Das Problem des Arguments war, dass Tierexperimente jeder Art ihrer Aussagekraft nach gleichgesetzt wurden. Es machte nur Sinn, wenn weitere Prämissen impliziert wurden („an Pflanzen gewonnene Gesetze“ (Luxenburger)) und damit eine der nächsten Argumenttypen mobilisiert wurde. 232 Luxenburger 1932b: 686 – Diese Bestimmung der Analogie, die auch eine Bewertung der Strenge ihrer Aussage implizierte, indem sie dem „induktiven Beweis“ gegenüber gestellt wurde, war streng genommen unvollständig, solange nicht die Prämissen und das Kalkül des deduktiven Schlusses offenbart wurden. 249 Recht kann eingewendet werden, daß so verbreitet und unvermeidlich das Denken per analogiam auch sei, die Resultate dieses Verfahrens doch zu keinen Erkenntnissen, sondern nur zu Annahmen führen, die nicht immer richtig sein müssen“.233 Diese Feststellung reduzierte die Analogie auf eine heuristische Funktion und rechtfertigte die Erwartung konkreter experimenteller Ergebnisse von Seite der Genetik. 3. Das empirisch-psychologische Argument Die Analogisierung von Drosophila, Pflanzen und höheren Säugetieren sollte sich natürlich auch durch die experimentelle Arbeit gestützt sehen.234 Über den unmittelbaren empirischen Gehalt der Argumentation und seine mögliche statistisch-induktive Verallgemeinerung hinaus konnte dann der strikten Rationalität induktiver Schlüsse noch eine ‚psychologische’ Komponente zur Seite stehen. Diese drückte sich als die appellative Überzeugung aus, die Ergebnisse seien schon verallgemeinerbar. Beispiel: Die „glänzende Bestätigung“ der Gültigkeit der mendelschen Gesetze in der menschlichen Erbforschung, so Luxenburger, müsse „indirekt auch der Lehre von den Erbschädigungen zugute“ kommen; und schließlich sprächen keine Ergebnisse dafür, dass dem Menschen genetisch eine „Sonderstellung“ eingeräumt werden müsse.235 4. Das Argument der Gleichartigkeit Die nächsten drei Argumente sind solche, die bestimmte Vorstellungen oder Theorien über das Leben mobilisieren. Sie bilden im engeren Sinne jene ideologisch aufgeladenen diskursiven Elemente. Das erste Argument in dieser Reihe behauptet eine gemeinsame Struktur o.Ä., die unabhängig von der je speziellen Art der Organismen vorausgesetzt wurde. „Da es sich bei der Mutationsauslösung um zelluläre Vorgänge handelt, für die die Grundbedingungen bei Pflanzen, niedren Tieren und Säugern gleichartig sind, dürfte es auch für jeden, der erbbiologisch geschult ist, klar sein, daß ein qualitativer Rückschluß auf höhere Tiere und natürlich auch auf den Menschen erlaubt ist.“236 Im eigentlichen Sinne geht es nun nicht mehr um Analogien, da „die Gleichartigkeit der grundlegenden Lebens- und Vererbungserscheinungen für alle Organismen anzunehmen“ ist.237 Es geht darum, das richtige Gegenstandsfeld zu identifizieren. Je grundlegender die Fragen und je ähnlicher die umrahmenden Grundvorgänge (zelluläre Vorgänge) waren, desto eher könnten Rückschlüsse auf 233 Borak 1932: 755 Vgl. Baur zit. in Grashey, R. 1930: 132. 235 Luxenburger 1932b: 682 236 Hertwig 1933b: 1 – Diese Argumentation ist keineswegs singulär und lässt sich auf einen rationalen Kern reduzieren, der dem gesamten Projekt der vergleichenden Genetik und insbesondere dem Nachtsheims zugrunde liegt (siehe Kapitel 6). Im Zusammenhang der Besprechung der Tierexperimente zur Strahlenschädigung heißt es an anderer Stelle: „Es handelt sich aber auch gar nicht um den differenten Bau dieses oder jenes Organs oder die ungleiche Art der Entwicklung oder vielleicht eine abweichende Zahl von Chromosomen oder sonstige biologische Verschiedenheiten [...] Es handelt sich vielmehr um Reaktionen der Zelle selbst, für die die Grundbedingungen im ganzen Reich der Lebewesen grundsätzlich gleichartig sind. Die Parallelität der zellulären Vorgänge bei Pflanze, Tier und Mensch gibt uns ein Recht, die qualitativen Ergebnisse der genannten Forschungen auch auf den Menschen zu übertragen“ (Schubert & Pickhan 1938: 122). 237 Hertwig 1940: 245. Herv. Verf. 234 250 den Menschen gezogen werden (eher vom Säugerovar als von der Fliege und eher auf qualitative als quantitative Vorgänge).238 5. Das Argument der Gesetzhaftigkeit... ... geht über die spezielle Formung des Organismus hinaus und rekurriert auf den allgemeinen Stellenwert der Aussagen der Genetik. Es wird angenommen, dass in der Genetik „Gesetze“ oder doch zumindest „Gesetzmäßigkeiten“ aufgetan werden.239 Gesetze haben eine universale Geltung. Die Regeln und Gesetzmäßigkeiten der Vererbung gelten „für das gesamte Organismenreich, mit Sicherheit also auch für den Menschen“.240 Alles, was über die Vererbung beim Menschen bekannt sei, so Fischer, füge sich restlos denselben Gesetzen. „Es ist überall ein und dasselbe Gesetz. Kein wirklicher Kenner der Vererbungserscheinungen wird den leisesten Zweifel haben, [...] daß [...] dieselben Wirkungen auf die anderen Tierformen und damit auf den Menschen zu erwarten sind, [...].“241 Da also die Genetik offenbar einen privilegierten Zugang zu den Regelmäßigkeiten des Lebens für sich in Anspruch nehmen konnte, mussten die Einwände der Mediziner als zufällige Ausnahmen der notwendigen Regelmäßigkeit erscheinen. 6. Das evolutionstheoretische Argument Die meisten der bislang aufgeführten Argumentationstypen überzeugten im ersten Moment, stützten sich im Kern aber auf weitere – nicht ausgesprochene – Annahmen. Der Rekurs auf die Evolutionstheorie ist eine solche verborgene Prämisse. Nur an wenigen Stellen wird explizit im Diskurs um die Übertragbarkeit der experimentell-genetischen Ergebnisse auf diese starke theoretische Rückversicherung eingegangen. Hans Luxenburger benutzte gegenüber den Gynäkologen gerade dieses Argument, um zu verdeutlichen, warum die Kluft zwischen Fliege, Säugetier und Mensch überbrückbar sei. In der Frage, ob der Genetiker berechtigt sei, die Ergebnisse an Tieren, die phylogenetisch weit hinter dem Menschen ständen, auf unsere Gattung zu übertragen, gab er schon die argumentative Richtung vor: „Die Anerkennung der Phylogenese und der Kontinuität der Keimbahn verleiht im die dazu notwendige Sicherheit.“242 Der Erbbiologe werde den Sprung über das Säugetier hinweg ohne all zu große grundsätzliche Bedenken wagen können. Mit der Evolutionstheorie war ein diskursives Element mobilisiert, dass die Fliege-Mensch-Analogie tief im vorherrschenden naturwissenschaftlichen Konzeptgebäude verankern konnte. Die Evolutionstheorie war längst der Bezugspunkt vieler biologischer Teildisziplinen geworden. Und die Evolutionstheorie war in den grundsätzlichen Annahmen bereits Teil eines allgemeinen Wissens, also von Aussagen, die zu den ‚normalen’ oder selbstverständlichen Sichtweisen des Diskurses über Leben gehörten. Diese Sichtweisen galten nicht nur in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung als gut abgesichert und gehörten in der Diskurspraxis der biologischen Wissenschaft zum Fundus akkumulierter Wahrheiten, dessen Gültigkeit nicht mehr ständig legitimiert werden musste, 238 Vgl. Hertwig 1932b: 673. Siehe auch 6.3.2. 240 Stubbe 1937a: 152 241 Fischer 1930d: 11-12 242 Luxenburger 1932b: 682 239 251 sondern hatten auch im Alltagsbewusstsein Einzug gehalten.243 Die Stellung des Konzepts der phylogenetischen Verwandtschaft aller Arten als kultureller Allgemeinplatz machte das evolutionstheoretische Argument zu einem starken Argument. Im analogisierenden Denken dürfte demnach der evolutionstheoretischen Argumentation eine Schlüsselfunktion bei der ‚spontanen’ Rechtfertigung und Plausibilität der Übertragungsoperation zugefallen sein. Festzuhalten ist aber darüber hinaus, erstens, dass die anderen Diskurselemente logisch nicht auf diese Rückendeckung angewiesen waren. So war das Argument der Gleichartigkeit, das Paula Hertwig favorisierte, unabhängig vom Grad der phylogenetischen Verwandtschaft der verglichenen Körperorgane. Ihr Argument stützte sich allein auf den konkreten empirischen Vergleich der Reproduktionsorgane der Maus und des Menschen, der Zellstrukturen und der hormonellen Physiologie. Nichtsdestotrotz konnte ihr Argument vom phylogenetischen Argument, das schon vorweg die Gleichartigkeit der Organe (Homologie) behauptete, profitieren. Zweitens ist zu bemerken, dass die Wirksamkeit der phylogenetischen Annahmen keine stringente Argumentationskette voraussetzte. Es zeigt sich vielmehr, dass im Diskurs der bloße Hinweis ausreichte. Die provisorische Verwendung dieser Denkstruktur kann als Ausdruck ihrer Dominanz und ihrer spontanen ‚Evidenz’ gedeutet werden. In ihrer provisorischen Form trugen die starken diskursiven Elemente ideologische Züge. Das Gesetzes- und das Phylogeneseargument als die härtesten Elemente im „tribunal of reason“ betteten die Tier-Mensch-Analogie in den Anspruch der aufstrebenden biologischen Wissenschaften ein. Mit der Evolutionstheorie war das Projekt verbunden, die unterschiedlichen methodischen und konzeptuellen Strömungen innerhalb der Biologie unter ein gemeinsames theoretisches Dach zu bringen. Zugleich waren Biologie und Gesellschaft über die Evolutionstheorie in ein enges Austauschverhältnis getreten. Der undifferenzierte strahlengenetische Rekurs bewegte sich ungewollt oder gewollt innerhalb eines machtvollen Diskurses, in dem Gesellschaft in evolutionstheoretischen Begriffen aufgefasst und biologisch legitimierte Politik entworfen wurde.244 Die phylogenetische Absicherung der Tier-Mensch- bzw. Natur-Gesellschafts-Analogie war eine der Grundlagen dieses Diskurses. Der verallgemeinerte Anspruch auf die Gültigkeit der Analogisierung, von dem die strahlengenetische Position aktiv partizipierte, war automatisch Bestandteil jener ideologischen Formation, in der das Wissen vom Leben Steuerung und Regulierung von Gesellschaft absicherte.245 243 Gemeint ist die Form des Wissens, die in der Wissenssoziologie zum Beispiel als lebensweltliches Wissen von dem wissenschaftlichen Wissen unterschieden wird (vgl. Böhme 1980: 30f.; Meja & Stehr 1982: 13). 244 Vgl. Schmuhl 1987: 29-105; Weindling 1989: 320ff.; Weingart et al. 1992: Teil 3+4; Bowler, Falk u. Weingart in Maasen, Mendelsohn, Weingart 1995. 245 Es lässt sich fragen, ob das Wissen vom Leben bloß ideologisch war in dem Sinne, dass bestimmte Herrschaftsinteresses verdeckt wurde, oder ob es über die Funktion der Legitimierung hinaus gesellschaftliche Prozesse selbst strukturierte. Dies entspräche eher der „Bio-Macht“ Foucaults (vgl. Foucault 1999a: 280ff.). 252 5.4.3 Fragen der Kompetenz und Modelle (Fazit: Genetik und Eugenik) „Wer erbbiologisch geschult ist“ – oder sich schulen lässt – und die grundsätzlichen Prinzipien der Genetik verstanden hat, wird automatisch dazu kommen, den genetischen Standpunkt zu teilen. Das war die Vorstellung der Genetiker von der Allgemeingültigkeit der Vererbungsregeln und der exakten Durchdringung ihres Gegenstandes.246 Den Medizinern hingegen blieb immer nur der Verweis auf konkrete und wenig verallgemeinerbare Umstände. Dies machte sie in der Debatte schwach. Trotz der experimentellen Schwäche der Genetiker und der Lückenhaftigkeit ihrer Schlussfolgerungen war ihre Argumentation von hoher diskursiver Verbindlichkeit. Die Kraft oder Härte ihrer Argumente beruhte auf der erfolgreichen Mobilisierung von fremden Wissensbeständen für ihre Zwecke. Diese Wissensbestände stellten nicht nur in den Spezialdiskursen der biologischen Wissenschaft ‚evidentes’ Wissen dar, sondern gehörten zur selbstverständlichen Vorstellungswelt wichtiger gesellschaftlicher Gruppen der Weimarer Republik. Den Genetikern gelang es, im „tribunal of reason“, um die machtökonomische Betrachtungsweise Latours wieder aufzugreifen, ihre Behauptungen durch den wiederholte Rekurs auf andere Wissensfelder – „cycles of accumulation“ – mit diesen zu verknüpfen, das heißt, Assoziationen herzustellen.247 Die genetische Betrachtungsweise auf die Anwendung von Röntgenstrahlen in der Gynäkologie und Medizin und die der Genetik entsprechende experimentelle Bearbeitung des Problems wurde zu der zentralen und nicht umgehbaren Rationalität der Strahlentherapie. Das ist gemeint, wenn es der Genetik gelang, ihre Fakten zu ‚härten’. Durch die unterschiedlichen Assoziationen der genetischen Fakten wurden sie, ihre konzeptuelle Interpretation und die dazugehörige experimentelle Methodik zum zentralen methodisch-konzeptuellen Komplex, nach dem das Problem der Strahlengefahr zu kalkulieren war, kurz: zum „center of calculation“248. Als eine jener Assoziationen ist die ideologische Verankerung der Gültigkeit der genetischen Modelle und der Verallgemeinerbarkeit des genetischen Wissens angesprochen worden. Dabei wurde auf internalisierte und geteilte Überzeugungsmuster zurückgegriffen. Diese selbstverständliche Vorstellungswelt war aber nicht ohne weiteres identisch mit eugenischen Denkmustern, sondern war grundlegender an die Voraussetzungen der neueren Biologie gebunden. Der diskursive Erfolg der Genetik gegenüber der Gynäkologie lag also nicht zuerst in der Akzeptanz eugenischer Prämissen, denn in dieser Klarheit kann nicht behauptet werden, dass Eugenik ein „accepted part of medical science“ war.249 Die Gynäkologen wurden über die Allgemeingültigkeit der Vererbungsgesetze zur Aufgabe der temporären Sterilisation gezwungen. Es ist in ähnlicher Weise schon angeklungen, und Mendelsohn hat in einem anderen Zusammenhang darauf hingewiesen, dass die Medizin die genetische Sicht der Dinge 246 Vgl. Hertwig 1933b: 1. Latour 1987: 208-09 u. 220. 248 Latour 1987: 239 249 Weindling 1985: 309 247 253 nicht einfach wegen eugenischer Ambitionen annahm, oftmals sogar diesen entgegen, sondern im Sog der neuen Naturwissenschaftlichkeit der Biologie.250 Die Mediziner verstanden unter Strahlenschäden zu allererst organische Schädigungen der Frucht und des nach einer Bestrahlung gezeugten Kindes. Die Genetiker sahen von Beginn an die Schädigung in der Anhäufung von Mutationen. Die genetische Perspektive verbündete sich automatisch mit einem eugenischen Interesse. Dabei mag es eine Rolle gespielt haben, dass sich in der Biologie eine Entwicklung abzeichnete, in deren Verlauf sich die Tradition des Experiments und die der Naturgeschichte miteinander verbanden – der evolutionstheoretische Begriff vom historischen Zusammenhang der Lebewesen und der reduktionistische Begriff vom hierarchischen Aufbau der Organismen in der mendelschen Genetik. Wenn auch die genetische Logik nicht notwendig eine eugenische Perspektive zum Vorschein bringt, ebenso wenig, wie sie automatisch reduktionistisch veranlagt sein muss,251 so teilten Genetik und Eugenik aber ein Interesse und einen bestimmten Blick. Sie interessierten sich für die Zusammensetzung des Erbguts und blickten auf die künftigen Generationen. Die Genetik fragte nach der Ausbreitung von rezessiven Mutationen in den Folgegenerationen. Der Eugenik ging es nicht um die Individuen, sondern um die „Schädigung“ des Bestands „gesunder Gene“ einer Population, das heißt des Volks. Über die rezessiven Mutationen konnte sich Anfang der dreißiger Jahre eine eigene Verbindung von Eugenik und Genetik herausbilden.252 Diese Bindung war vor allem historisch. Die eugenisch gewendete Diskussion um die Gefahr der Strahlenanwendung wurde neben führenden Eugenikern und Humangenetikern von jüngeren und ausgezeichneten Genetikern und Genetikerinnen geführt, die bislang kein solches Forschungsinteresse hatten erkennen lassen. Die meisten dieser Genetiker waren vom Pflanzengenetiker und Mediziner Erwin Baur beeinflusst, der zur eugenischen ‚Avantgarde’ der Weimarer Republik gehörte. Dass mit ihnen die Mehrheit der Vererbungswissenschaftler der Weimarer Republik die eugenischen Befürchtungen teilten, zeigt die Rolle der Gesellschaft für Vererbungswissenschaft im Konflikt mit den Gynäkologen. An ihrer Spitze stand zu dieser Zeit Richard Goldschmidt, ebenfalls Genetiker ohne eigenes eugenisches Forschungsinteresse.253 Wohl aber – und das stützt die hier vertretene Auffassung von der historischen Bindung von mendelscher Genetik und Eugenik – warnte auch Goldschmidt vor den rezessiven Mutationen und ihrer eugenischen Bedeutung.254 Die Genetik müsse zur Vorbereitung auf „eugenische Maßnahmen“ sorgfältig „die erbarmungslos arbeitende Vererbung“ von dem „heilbaren sozialen Übel“ unterscheiden lernen.255 Die mendelsche Genetik war auch für Goldschmidt der Garant der Wissenschaftlichkeit. Wissenschaftlichkeit und Eugenik fanden historisch zusammen 250 Vgl. Mendelsohn 2001: 61. Siehe auch Kapitel 3 u. Seite 132. Vgl. Lemke 2000: 234. 252 Vgl. Roth 1986: 26 u. 38-39 253 In Goldschmidts Lehrbuch „Einführung in die Vererbungswissenschaft“, das auf seinen Vorlesungen beruhte, fehlt ein Abschnitt zur Eugenik, das hingegen in Erwin Baurs Vorlesungen obligatorisch war (vgl. Goldschmidt 1923; Goldschmidt 1928 bzw. Baur 1922; Baur 1930b). 254 Vgl. Goldschmidt 1920a: 75. 251 254 im Anerkennungsanspruch der Genetik. Um Anerkennung zu finden – und praktische Fragen, wie die der Eugenik sind dazu bestens geeignet –, war es zunächst notwendig, im Diskurs die eigene Definitionsmacht und die exklusive Zuständigkeit der eigenen Wissenschaft unabweisbar zu machen. Goldschmidt: „Die Mendelschen Gesetze haben sich uns als Lichtträger für alle Vererbungsfragen bei Tier- und Pflanzenarten erwiesen. So müssen sie uns auch den Weg weisen bei allen Problemen, die sich auf die Kreuzung der menschlichen Rassen beziehen.“256 Mendelsche Vererbungslehre und die sozialtechnischen Bestrebungen zur Regelung des Bestandes an gesunden, das heißt gesellschaftlich nutzfähigen Körpern und Geistesvermögen, zeigten sich im Diskurs um Vererbung eng miteinander verbunden. Dies spezifiziert nun aber Weindlings These, dass die Weimarer Genetik „indistinguishable from scientific eugenics” war und die Institutionalisierung der Eugenik nicht ohne die „professional expectations of geneticists“ zu verstehen ist.257 Nicht nur direkte Ambitionen der Genetiker, biologisches Wissen als Wissen von der Gesellschaft zu implementieren, brachte diese Verbindung hervor. In der Kontroverse zwischen Genetikern und Gynäkologen zeigt sich, dass Eugenik und Genetik als eine historische und diskursive Einheit auftraten.258 Die Kontroverse verdeutlicht noch ein Weiteres. Die Rivalitäten um Methoden, Kompetenz und Wahrheit spannten sich indirekt in den außerwissenschaftlichen Ausbau der Macht über Bevölkerung und Körper ein. Der Einsatz der Genetik in der Röntgenkontroverse bedeutete zugleich einen Eingriff in die medizinische Ordnung der Krankheit.259 In der Sicht der Genetik wurde die Strahlenschädigung vom lebenden Individuum entkoppelt und in die Allgemeintheit der Population bzw. des Volkes und in die „krankhaften“ Gene verlegt.260 Diese Verlegung entspricht den Beobachtungen Foucaults über neu aufgekommene Machtformen, die die Bevölkerung zum Ziel haben. In der „Bio-Politik“ wird nach Foucault der Fokus von dem Körper als Organismus verschoben auf den Körper, insofern er Teil des „multiplen Körpers“ der Bevölkerung ist, welche durch biologische Gesamtprozesse (zum Beispiel Geburtenrate) charakterisiert werden kann. Damit einhergehend entwickeln sich neue Machttechnologien, die die Regulation der Lebensphänomene zum Ziel haben. Da sie es mit Masseneffekten und Zufallsereignissen zu tun haben, geht es darum, das Gleichgewicht des Ganzen aufrecht zu erhalten, indem (empirische) Normen auf die Masse ange255 Goldschmidt 1920a: 76 Goldschmidt 1920a: 76 (In diesem speziellen Zusammenhang wendet Goldschmidt sich gegen die Auffassung von der Rassenverschlechterung durch Rassenmischung). 257 Weindling 1985: 306-07. Herv. Verf. 258 Als eine solche Einheit wurde Genetik und Eugenik im Diskurs der menschlichen Vererbungslehre wahrgenommen (vgl. zum Beispiel Luxenburger 1932a: 44). 259 Zur Rückwirkungen der Genetik auf den Krankheitsbegriff und die Nosologie, siehe auch 2.2.3. 260 Die Verlegung nach „Unten“ in den Körper folgt einer typische Bewegung der Verkörperlichung von Krankheit.(vgl. Magiros 1995: 54). – Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, dass die Gynäkologen mehrfach die Auswirkung der ‚Mendelisierung“ der Strahlenschäden auf die betroffenen Frauen und Kinder kritisch thematisierten. Sie würden der gesellschaftlichen Stigmatisierung ausgesetzt (vgl. zum Beispiel Nürnberger 1932: 706-08). Die Genetiker ignorierten die Eingebundenheit der Person und des individuellen Körpers in einen sozialen Kontext konsequent. 256 255 wendet werden.261 Genau solchen regulativen Machttechnologien kam die Neuordnung der medizinischen Röntgenanwendungen nach genetischen Zufallsvarianten (rezessive Mutationen), die erst auf der Ebene von Populationen oder der Bevölkerung beschreibbar wurden, entgegen. Die Normen sind Teil eines Vergesellschaftungs-, Disziplinierungs- und Regulationsinstrumentariums. Als solche erstrecken sie sich aber vom Organischen bis zur Bevölkerung. Die „Normalisierungsgesellschaft“ erfordert auch die Disziplinierung des einzelnen Körpers.262 Dementsprechend – und nun gar nicht mehr indirekt – stellten sich die Genetiker die Intervention, die die Gefährdung des gesellschaftlichen Körpers durch die Akkumulation einzelner Mutationen in den biologischen Körpern abwehren sollte, als eine konkrete medizinische Praxis vor: Die Intervention bestand in einer Ökonomie der Röntgenanwendung, die primär nicht an der therapeutischen Wirkung orientiert war. Bei Fischer drückte sich diese Ökonomie in der extremen Forderung aus, dass das Röntgengerät nur um den Preis der endgültigen Unfruchtbarkeit den Frauen zugute kommen durfte.263 Auch, wenn man nicht dem Machtbegriff Foucaults folgt, so geht doch die aufgezeigte Verbindung zwischen Genetik und Eugenik über einen wissenssoziologischen Ideologiebegriff hinaus. Es scheint nicht angebracht, vorrangig Sozialisations- und Ausbildungserfahrungen als diskriminatives Instrument in Anschlag zu bringen, um die Affinität der Genetiker zur eugenischen Interpretation ihrer Probleme zu erklären.264 Die Verbindung erklärt sich eher durch die Eigenarten der mendelschen Genetik, die historisch zur deutschen medizinisch und negativ ausgerichteten Eugenik passte.265 An dieser Stelle greift auch nicht die Unterscheidung von Harwood. Harwood bringt Ausbildungsfaktoren, Forschungsrichtungen und das gesellschaftliche Selbstverständnis der Wissenschaftler in einen Zusammenhang und unterteilt die deutsche Genetik entlang ihrer Denkstile in strikt mendelgenetisch orientierte Vererbungswissenschaftler, die zugleich zur Politisierung und Anwendungsorientiertheit neigten, und solche, die einer ganzheitlichen Sichtweise auf die wissenschaftliche Arbeit und der Trennung von Wissenschaft und Politik verpflichtet waren.266 Diese Unterscheidung steht im Widerspruch zum Verhalten Alfred Kühns in der Röntgendebatte. Zwar sah er die Gemeinschaftsarbeiten vor allem zum Nutzen der Genetik. All die Aktivitäten um Versuchstierzucht und Gemeinschaftsarbeiten zeigten ihn aber als einen klugen Taktiker, der es verstand, seine wissenschaftliche Autorität einzusetzen, um die Forschungspolitik für die Anliegen der Genetik einzunehmen, der darüber hinaus ein hohes Bewusstsein davon hatte, von welcher Relevanz die Genetik für die Gesundheitspolitik war, und der schließlich sich 261 Vgl. Foucault 1999b: 288-96. Foucault 1993: 40; vgl. Foucault 1999b: 292-93; Link 1999: 132ff.. 263 Vgl. Zitat Seite 221, Fußn. 82. 264 So zum Beispiel in der Analyse der Kontroverse zwischen biometrisch und mendelisch orientierten Vererbungswissenschaftlern in MacKenzie & Barnes 1975. 265 Dies stimmt mit der Tatsache überein, dass sowohl die engagierten Genetiker, wie die verbündeten Mediziner (insbesondere H. Martius) in klarer Weise Vertreter der mendelschen Genetik waren. – Zur medizinischen Ausrichtung der deutschen Eugenik, vgl. Weindling 1989: 317-19 u. 576-79. 266 Vgl. Harwood 1993: Kap.7. Siehe auch 1.1. 262 256 nicht scheute, eine anwendungsbezogene Forschung mit eugenischen Hintergrund an seinem Institut zu installieren. Kühn zeigte sich, wenn auch sein Vorgehen bei der Etablierung der Versuchstierzuchten mit einbezogen wird, durchaus als Modernisierer der wissenschaftlichen Arbeitsweise und ihrer gesellschaftlichen Funktion.267 Kühn wusste um die Förderung, die der genetischen Forschung durch die Einbindung in die Röntgenkontroverse zuteil wurde. Die Gemeinschaftsarbeiten zur Frage erblicher Röntgenschädigungen brachten zum einen finanzielle Unterstützung und den Ausbau der Göttinger Versuchstierzuchtanstalt mit sich. Zum anderen förderten sie die Strahlengenetik der Säugetiere. Der besondere Vorteil kam dadurch zustande, wie Kühn erkannte, dass unterschiedliche strahlengenetische Experimentalsysteme über unterschiedliche Forschungsobjekte, die in der Gemeinschaftsarbeit zusammengebracht wurden, zu einer Kaskade von Modellbeziehungen verschaltet werden konnten. Kühns und Timoféeff-Ressovskys „’Modellversuche’ an Insekten“ ergänzten sich gegenseitig und gaben wiederum „für die Experimente an Säugetieren wichtige Hinweise”.268 Die Aufdeckung von subtilen Änderungen in der Vitalität der Fliegen ließ zunächst auch bei den Säugetieren ein experimentelles Arrangement erforderlich erscheinen, das eine höhere Detektionssensitivität ermöglichte. Die vitalitätssenkenden Mutationen waren aber in genetische Probleme eingebunden, die mit der Anwendung von Röntgenstrahlen in der Gynäkologie nichts zu tun hatten.269 So führten die Untersuchungen an „ganz verschiedenen Objekten“ zu „ganz gleichartigen neuen Ergebnisse[n] über die Mutationswirkung“.270 Kühns „Modellversuche“ – in Anführungszeichen – waren nicht zuerst fertige Modellverhältnisse von Fliege und Maus und Maus und Mensch für die Röntgenfrage, sondern Arbeit an Modellen für die Genetik. Die Gemeinschaftsarbeiten waren für die Genetik die Möglichkeit, experimentelle und theoretische Modelle zu entwickeln. Die Entfernung von der eigentlichen Frage und dem Zweck der Gemeinschaftsarbeiten führte, wie das Beispiel Paula Hertwigs zeigte, auf der anderen Seite zur Ausweitung des in der Röntgenfrage umstrittenen Analogieverfahrens auf allgemeine Fragen der Erbpathologie. Die Konzeption von Mäusen und Fliegen als Modelle für die Medizin und speziell für die Humangenetik stand im Zusammenhang mit dem Programm einer vergleichenden Erbpathologie, in der es weniger um theoretische Modelle als die Modellierung menschlicher Verhältnis267 Zur Entgegensetzung von Mandarinen und Modernisierern, vgl. Harwood 1993: 269-73 u. 305. – Allerdings, und das spricht für eine Signifikanz Harwoods Analyse, blieb das ‚politische Geschäft’ den pragmatischen Mendelianern um Baur überlassen. 268 o.D., [Kühn]: „Entwurf [...]” (BA Ko, R 73, 12475: Seite 9 v. 12, siehe Fußn. 133) 269 Zu dieser Verbindung, siehe 4.2.3; zur innovativen Funktion der Gemeinschaftsarbeit für die Genetik, siehe Seite 178. 270 o.D., [Kühn]: „Entwurf [...]” (BA Ko, R 73, 12475: Seite 9 v. 12, siehe Fußn. 133) Herv. Verf. 257 se im Tierversuch ging. Hertwigs Arbeiten müssen deshalb im Zusammenhang mit den Veränderungen im Institut für Vererbungsforschung gesehen werden, an dem zeitgleich Hans Nachtsheim am systematischen Ausbau der vergleichenden Erbpathologie arbeitete. Diese Entwicklung am Dahlemer Institut ist das Thema des nächsten Kapitels. 258 6 Erbpathologie des Tieres, menschliche Erblehre und Eugenik „Es gehört zur Frömmigkeit nordischer Artung, sich in das Wissen eines solchen Buches [Nachtsheims „Vom Wildtier zum Haustier“] gern zu vertiefen und der Naturgesetzlichkeit Schritt für Schritt zu folgen, ohne für seine Menschenwürde zu fürchten, wenn man das 1 nun mal am Beispiel des Kaninchen besorgt, ... .“ „Bezahlt wird die Identität von allem mit allem damit, daß nichts zugleich mit sich selber 2 identisch sein darf.“ Die letzten ‚Gefechte’ um die Erbschädigungsgefahr durch Röntgenstrahlen müssen im Zusammenhang mit einer zu dieser Zeit schon in der Entwicklung begriffenen humangenetischen Forschungsstrategie in der Genetik gelesen werden. Die ersten gesundheitspolitischen Signale des Nationalsozialismus verstärkten sofort die Annäherungen von Genetik und Medizin. In der Genetik befanden sich Themen, die Genetik und Pathologie verbanden, im Aufschwung. Im Forschungsprogramm einer vergleichenden und experimentellen Erbpathologie sollten an Tiermodellen Probleme der medizinischen Genetik bearbeitet werden. Die vergleichende Erbpathologie verstand sich als Ersatz für methodisch kaum lösbare Probleme bei der genetischen Erforschung des Menschen. Nach dem Erlass der so genannten Erbgesundheitsgesetze war im Prinzip die ganze Medizin mit ähnlichen methodischen Schwierigkeiten konfrontiert. Hans Nachtsheim ist ein Beispiel und der Ausgangspunkt, um den Zusammenhang zwischen vergleichender Genetik, medizinischer Forschung und Gesundheitspolitik zu thematisieren. In diesem dritten Anlauf zur Verhältnisbestimmung von Genetik und Medizin ist deshalb zunächst die Frage, wie sich der erbpathologische Gegenstand in Nachtsheims Experimentalsystem durchsetzte. Die Frage, die sich anschließt, betrifft die Weise, in der er ohne Scheu Genetik auf gesellschaftliche Verhältnisse übertrug. Die Untersuchung wird zur Beschreibung eines technokratischen Verhältnisses führen, das Genetiker bzw. Mediziner in der Reduzierung von Gesellschaft auf Biologie und Genetik gegenüber Gesellschaft einnahmen. Die These ist, dass ein technokratisches von einem ideologischen Verhältnis unterschieden werden muss. Diese Unterscheidung ist die Voraussetzung dafür, in der Performanz des Objektivitätsdiskurses der Wissenschaft die (diskursive) Bedingung von Macht zu erkennen. Die Genetik half auf diese Weise den Prioritätsanspruch einer genetisch fundierten menschlichen Erblehre in der Erbbiologie des Menschen sowie den der Erbpathologie gegenüber der Medizin zu begründen. Am Beispiel von Epilepsie und Zwangssterilisation lassen sich die Abgrenzung von Struktur und Intention und darüber hinaus die Praxis der vergleichenden Genetik verdeutlichen. Deutlich wird, dass mit der nationalsozialistischen Herrschaft kein Bruch in den Konzepten der genetischen (und medizinischen) Wissenschaft erfolgte. 1 2 Stengel-v.Rutkowski 1937 Horkheimer & Adorno 1988: 18 259 Nachdem im letzten Kapitel die eugenische wie epistemologische Wurzel der vergleichenden Erbpathologie in der Weimarer Republik untersucht worden ist, wird hier ihrer Entwicklung und ihrer Einsatz umrissen, um abschließend erneut den zu Grunde liegenden Modellbegriff zu untersuchen. Es wird zu sehen seien, inwiefern die Modelle der vergleichenden Erbpathologie produziert sind und, was es heißt, die Epistemologie der Modellsysteme als eine Zeichenrelation zu fassen. 6.1 Von der Tierzucht zur „experimentellen und vergleichenden Erbpathologie“ im technokratischen Bewusstsein „Der Vorsitzende der Gesellschaft... sprach den hübschen Gedanken aus, die kleine Schar der älteren Genetiker käme sich vor wie die Anhänger einer bisher nur kleinen 3 Sekte, deren Bekenntnis plötzlich zur Staatsreligion geworden sei.“ Der Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft war in weiten Bereichen der Wissenschaften mit einer Aufbruchsstimmung verbunden. Sie signalisierte Hoffnung und Bereitschaft, eigene Interessen in der politischen Programmatik der Nationalsozialisten gewahrt zu sehen. Insbesondere Erbbiologie und Humangenetik konnten größere Aufmerksamkeit durch die neuen Machthaber erwarten.4 Gleich in den ersten Jahren entfaltete sich eine reichhaltige Aktivität um die Einflussnahme auf die neue Forschungs- und Gesundheitspolitik. Die Frage stellt sich, inwiefern Wissenschaft, hier: die Genetik, sich nicht nur ideologisch anpasste oder von Seiten des NS-Apparats indienstgenommen wurde, sondern ko-laborierte, ohne ihre eigenen Konturen zu verlieren.5 Hans Nachtsheim stellt ein akzentuiertes Beispiel für die Einstellung der Wissenschaft auf die neuen Verhältnisse und ihre Bemühungen dar, eigene Interessen einzubringen und neue Möglichkeiten zu nutzen. Das Jahr 1934 markiert den Beginn Nachtsheims Engagement für die Eugenik und die Umstellung seines Experimentalsystems auf die Forschungsprogrammatik der vergleichenden Erbpathologie. Die Teilhabe der wissenschaftlichen Genetik an der NS-Gesundheitspolitik wird sich als eine besondere Form der Verwissenschaftlichung gesellschaftlicher Verhältnisse erweisen. Mit der Entwicklung Nachtsheims zum engagierten Eugeniker wird zugleich die Frage aufgeworfen, welche Bedeutung das Jahr 1933 hatte, in welchem Verhältnis also Bruch und Kontinuität in Nachtsheims Handeln zu einander stehen. In der Literatur ist sein Engagement als die Entfaltung von Ambitionen dargestellt worden, die er schon lange vor 1933 hegte.6 Dieser Lesart steht die Auffassung gegenüber, nach der eine Opposition von Anthropologie, Rassenbiologie und Erbgesundheitspolitik des Nationalsozialismus auf der einen und 3 O. Renner zit. in Just 1935: 138 Nach neuerer Forschung muss davon ausgegangen werden, dass im Nationalsozialismus eine grundsätzlich wissenschaftsfreundlich ausgerichtete Politik dominierte (vgl. Macrakis 1993; Lundgreen 1994: 123; Mehrtens 1994b: 249-50; Grüttner 2000: 576). 5 Vgl. Mehrtens 1980: 53-55. 6 Vgl. Deichmann 1995: 307; Paul & Falk 1999: 272. 4 260 einer ‚sauberen’, durch ‚reine’ Wissenschaftlichkeit geprägte Tradition in Verbindung aus Genetik, medizinischer Genetik (Erbpathologie) und ‚humaner’ eugenischer Gesundheitspolitik auf der anderen Seite konstruiert wird.7 Das Beispiel Nachtsheims macht es notwendig, die Betrachtung ideengeschichtlicher und ideologischer Aspekte durch die der Forschungspraxis zu ergänzen. Es ergibt sich dann eine verwickeltere Beziehung zwischen Forschung und ihrem gesellschaftlichem Kontext. Nachtsheims Entscheidung, seine genetische Forschung in den Dienst der Eugenik zu stellen, brach mit den Inhalten seines bisherigen Engagements als Forscher und Experte und war nicht das zwangsläufige Resultat seiner eugenischen Überzeugungen. Sie gründete zunächst in den Gelegenheiten, die die neue Regierung eröffnete. Nachtsheim handelte jedoch nicht opportunistisch, da die Entscheidung in der formalen Kontinuität seines technokratischen Wissenschaftsverständnisses stand und durch die experimentelle Praxis bereits präfiguriert war. 6.1.1 Nachtsheims Situation an der Landwirtschaftlichen Hochschule Der tiefgreifende Wandel in Nachtsheims Forschungszielen war eine Option, die ihren Anlass in seiner verschlechterten beruflichen Situation an der Landwirtschaftlichen Hochschule hatte. Ende der zwanziger Jahre geriet Nachtsheim mit Erwin Baur in einen Konflikt, aus dem Nachtsheim persönlich schwer beschädigt hervorging. Obwohl er als Abteilungsvorsteher von Baur für das Institut geworben worden war und als solcher im Institut die zoologische Abteilung leitete, wurde diese Stelle formal nie realisiert.8 Umso mehr konzentrierten sich Nachtsheims Hoffnungen darauf, Nachfolger von Baur als Institutschef zu werden, als dieser 1928 Direktor des KWI für Züchtungsforschung in Münchenberg wurde. So glatt die Karriere Nachtsheims bislang verlaufen war – 1923 war er zum außerordentlichen Professor ernannt worden, 1928 zum Oberassistenten – und so großes Ansehen er als viel versprechender junger Forscher in der Vererbungswissenschaft genoss, so schwierig war sein Stand in der Landwirtschaft und die Interessensituation an der Landwirtschaftlichen Hochschule. 1930 wurde Carl Kronacher9, der als größte Kapazität auf dem Gebiet der Tierzucht galt,10 für die Landwirtschaftliche Hochschule als Leiter des Instituts 7 Vgl. Paul & Falk 1999: 272. Vgl. 21.5.1928, Nachtsheim an Rektor der Landw. Fakultät, Abschrift (UHUB, Landw. Fak. v. 1945, PA Nachtsheim, Akte 3: Bl. 49+50). – Die Abteilungsleiterstelle war Baur von ministerieller Seite 1920 zugesagt worden, wurde aber letztlich nicht realisiert. Baur stellte seine Interessen vor diejenigen von Nachtsheim und ließ ihn im Unklaren. Nachtsheim sah sich von Baur auf übelste Weise betrogen. 9 Carl Kronacher, geb. 8.3.1871 in Landshut – gest. 11.4.1938 in München. Studium der Veterinärmedizin, 1894 Approbation. Tätigkeit als Bezirkstierarzt und Tierzuchtinspektor. 1907 Leiter der Tierzuchtabteilung an der Königlich Bayerischen Akademie für Landw., Weihenstephan, und Prof. für Tierzucht. Freiwilliger Kriegsdienst 1914. 1916 o. Prof. für Tierzucht und Vererbungslehre und Direktor des Instituts für Tierzucht und Vererbungsforschung der Tierärztlichen Hochschule Hannover. 1924 Gründung der Zeitschrift für Tierzüchtung und Züchtungsbiologie. 1929 Berufung zum o. Prof. an die LHB. 1936 Emeritierung. 1936 Gründer der Deutschen Gesellschaft für Tierpsychologie und Vorsitz (Begründer der Z. f. Tierpsychologie mit K. Lorenz und O. Koehler). NSDAP-Mitglied 1.5.1933. Zweifach Dr. h.c. der Landwirtschaft. (Vgl. Kronacher 1929; BA B, BDC-Akte Carl Kronacher; Nachrufe in Z. f. Tierpsychologie, 2, 1938: I-IV; Dt. Tierärztliche Wschrf., 1.12.1968: 596ff..) 8 261 für Tierzüchtung gewonnen. Das Institut erhielt auf seinen Wunsch den Zusatz „Haustiergenetik“, was mit Nachtsheims Anspruch kollidierte, ein Vorrecht in Forschung und Lehre für Haustiergenetik zu haben.11 Kronacher war Vorkämpfer einer landwirtschaftlichen Genetik und stellte in der Weise, wie er sich dafür einsetzte, einen ähnlichen Wissenschaftlertyp, wie Baur und Nachtsheim, dar.12 Nun zweifelte er jedoch mit der Macht des honorierten Hochschulprofessors die Leistungen des jüngeren Kollegen und seine Kompetenz an – Nachtsheim sei Genetiker und kein Tierzüchter.13 Der Freund Baur unterstützte Kronachers Bestrebungen, seine Forschungsstätte in Berlin als Gegenstück zu Baurs Müncheberger Institut für Pflanzenforschung in großem Stil auszubauen.14 Kronachers neues Institut trat also in Konkurrenz zu Nachtsheims Zoologischer Abteilung. 1931 wurde zugunsten Kronachers die Vorlesung über „Tierzüchterische Konsequenzen aus der Vererbungslehre“, die Nachtsheim seit 1925 hielt, gestrichen, da Kronachers Ordinariat mit dem Auftrag versehen war, die „moderne Tierzuchtlehre“ auf „neuzeitliche biologische und vor allem vererbungsbiologische Grundlage“ zu stellen.15 Der Erfolg war aber – nicht zuletzt durch Baurs Einsatz –, dass die Genetik nun mit zwei Instituten an der Landwirtschaftlichen Hochschule vertreten war. Die genetische Zuständigkeit für Landwirtschaftswissenschaft war mit Kronachers Forschung an großem Nutzvieh komplettiert 10 Vgl. 11.12.1930, Min.Dir. Arnoldi an Rönneburg (GStA, I. HA, Rep. 87 B, Nr. 20284, Bl. 29192). 11 Vgl. 28.1.1929, Nachtsheim: Auszug aus meinen Verhandlungen mit Professor Baur (UHUB, Landw. Fak. v. 1945, PA Nachtsheim, Akte 3: Bl. 55). Nicht zuletzt reklamierte Nachtsheim, als Erster die Bezeichnung „Haustiergenetik“ geprägt zu haben. 12 Kronacher hatte nach Baur das zweite vererbungsbiologische Institut im Deutschen Reich gegründet. Noch im Verlauf des ersten Weltkrieg hatte er sich vehement für eine wissenschaftlich effektivierte Landwirtschaft zur ökonomischen Kräftigung des Deutschen Reichs eingesetzt und den Ausbau der Vererbungswissenschaft zu diesem Zweck gefordert (vgl. Kronacher 1916a: 30-31; Kronacher 1916b: 149). K. war Gründungsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Vererbungswissenschaft (vgl. ZIAV, 27, 1922: 277). Er setzte sich gegenüber den Tierzüchtern für die konsequente Beachtung der „modernen Naturwissenschaften“ u. speziell der mendelschen Vererbungslehre ein. Bspw. propagierte er die Inzucht als Zuchtmethode – freilich nur in Betrieben mit kenntnisreicher Leitung (vgl. Kronacher 1924: 48). Es war konsequent, dass K. den Artikel in Baurs und Max Hartmanns Handbuch der Vererbungswissenschaft über „Genetik und Tierzüchtung“ übernahm, in dem er entsprechend dem Credo der genetischen Erneuerung der Tierzucht die kontrollierte und geplante Leistungssteigerung durch die Genetik beschwor (vgl. Kronacher 1934: 185-86). – K.s Antrittsvorlesung im Mai 1929 trug den Titel: „Selbstversorgung Deutschlands mit animalischen Nahrungsmitteln, Tierzucht und Tierzuchtforschung“. 13 Vgl. 12.3.1931, Dr. Dr. h.c. C. Kronacher an PML (UHUB, Landw. Fak. v. 1945, PA Nachtsheim, Akte 3: Bl. 125-26). – Während an Baurs Institut vor allem kleine Nutztiere beforscht wurden, beschäftigte sich Kronacher mit Rindern, seiner Meinung nach wirtschaftlich wirklich relevanten Nutztieren (vgl. Kronacher 1932; Kronacher 1934: 103-04). In der Anwendung experimenteller vererbungswissenschaftlicher Methoden war er dadurch beschränkt, weshalb er versuchte, die Zwillingsmethode anzuwenden. 14 Vgl. o.D., [ca. Mitte 1930, Denkschrift Baurs zum Institut für Züchtungsforschung], Anlage in: 9.7.1930, Hans Schlange [MdR] an MdR Rönneburg (GStA, I. HA, Rep. 87 B, 20270: Bl. 27476); Nachruf in Zeitschrift für Tierpsychologie, 2, 1938: II. 15 29.1.1931, ?, Aktennotiz zu Brief von Kronacher (UHUB, Landw. Fak. v. 1945, PA Nachtsheim, Akte 3: Bl. 133); vgl. 6.5.1931, Kronacher an Rektor (ebd.: Bl. 227). – Nachtsheim blieben Übungen in allgemeiner Vererbungslehre und Vorlesungen über die spezielle Pelztierzucht und zum Domestikationsproblem. 262 worden, während das Institut für Vererbungsforschung durch Kleintierzucht und vor allem pflanzengenetisch profiliert war.16 Die Berufung eines neuen Direktors an das Institut für Vererbungsforschung verzögerte sich um drei Jahre.17 In dieser Zeit sah sich Nachtsheim ohne Unterlass zu Konflikten um Lehrveranstaltungen, seinen Aufstieg, die Genehmigung von Notstandsbeihilfen oder Kuraufenthalten für seine junge Familie genötigt. Ende 1930, als Nachtsheims Ambitionen auf den Direktorentitel des Instituts verflogen waren, sah er keinen Ausweg mehr. „Haben Sie noch ein Weihnachtsgeschenk in der Gestalt einiger Kugeln? Nicht für den Tannenbaum, sondern ein kleineres Kaliber.“18 Nachtsheim ließ an der Landwirtschaftlichen Hochschule eine von ihm verfasste „Anklageschrift“ gegen Baur kursieren und unterstellte dem „unmoralischsten Senat, der je an einer deutschen Hochschule existiert habe“, ihn „kalt machen“ zu wollen, woraufhin der Konflikt eskalierte.19 Von Nachtsheims Angriffen war auch der Pflanzengenetiker Hans Kappert20 betroffen, ein gleichaltriger Vererbungswissenschaftler, der Anfang 1931 als neuer Chef des Instituts für Vererbungsforschung eingesetzt wurde.21 16 Es existierte ein vielfältiges Lehrangebot zu Genetik an der Hochschule. Im Vorlesungsverzeichnis vom WS 1932/33 werden z.B. 13 Unterrichtsangebote im Bereich der Genetik aufgeführt: Kappert: Allg. Vererbungs- und Züchtungslehre; Diskussion über vererbungswiss. und züchterische Fragen; Schiemann: Samenkunde und Übungen; Spezielle Genetik der landwirtschaftlichen Kulturpflanzen; Kronacher: Allgemeine Tierzucht; Vererbungslehre und Tierzucht; Seminar für Tierzucht und Haustiergenetik; Übungen für Fortgeschrittene; Freiherr Dr. v. Patow: Einführung in die Biometrik; Genetische Betrachtungen der Milchviehzucht und ihre praktische Auswertung; Nachtsheim: Das Domestikationsproblem; Erbkundliche Übungen; Leitung zoologisch-genetischer Arbeiten von Fortgeschrittenen. (Vgl. Vorlesungsverzeichnis in: UHUB.) 17 Alle relevanten Entscheidungen wurden mit Rücksicht auf den Nachfolger zurückgestellt, was zur Schließung der Versuchstierzuchtstation der Notgemeinschaft führte (vgl. 3.1.2). 18 Vgl. 14.12.1930, Nachtsheim, privat, an Min.Dir. Arnoldi (GStA, I. HA, Rep. 87 B, 20284: Bl. 35). 19 24.1.1931, Nachtsheim an Rektor, Abschrift (UHUB, Landw. Fak. v. 1945, PA Kronacher: Bl. 22). Siehe zu weiteren Hintergründen Fußn. 8. Baur strengte eine Beleidigungsklage an (vgl. 13.1.1931, Baur an PML, Abschrift, in: ebd., PA Nachtsheim, Akte 3: Bl. 112). Die Klage führte zu einer Verurteilung Nachtsheims (vgl. 4.11.1931, Baur an Rektor, in: ebd.: Bl. 277). Nachtsheim wurde indes mit schweren Depressionen in einem Privatsanatorium bei Dresden behandelt, wo er mehrere Suizidversuche unternahm (vgl. 4.2.1931, Dr. Keinburg, leitender Arzt vom Sanatorium Goldberg, an Rektor, in: ebd.: Bl. 143). Die behandelnden Ärzte stuften Nachtsheim als unzurechnungsfähig ein, was ihn letztlich nach geläuterten Entschuldigungen vor disziplinarischen und strafrechtlichen Maßnahmen bewahrte (vgl. 20.2.1931. Der preuß. Min., i.A. Dr. Arnoldi, an Rektor der LHB, in: ebd.: Bl. 114; 14.4.1931, Nachtsheim: Erklärung vor Min.Rat Rohde und O.Reg.Rat Dr. Staab, Abschrift, ebd.: Bl. 187; 30.4.1931, Rektor Mangold an Nachtsheim, in: ebd. Bl. 194-97). 20 Hans Kappert, geb. 24.8.1890 in Münster, gest. 15.2.1976 in Münster. Studium der Naturwissenschaften in Münster und Graz. Promoviert 1914. 1914-20, Ass. bei Correns am KWI für Biologie. 1921 Habil. an der LHB. Abt.leiter am Forschungsinstitut des Verbandes Deutscher Leinen-Industrieller, Sorau. 1924-30, Saatzuchtleiter in der Saatzuchtfirma Gebr. Dippe A.G., Quedlinburg, u. wiss. Arbeiter. 1.1.1931 Nachfolger auf dem Lehrstuhl E. Baurs bis zur Emeritierung (1951 kam das Inst. an die TU Berlin, 1974 als „Angewandte Genetik“ an die FU Berlin). Keine Mitgliedschaft in der NSDAP. (Vgl. Kappert 1978; BA B, BDC-Akte; UHUB, Math.-Nat. Fak. v. 1945, PA Kappert.) 21 Der Gang der Berufungsverhandlungen ist nicht genau nachzuvollziehen. Nach den ersten Konflikten mit Baur 1929 und von Seiten der Universitätsleitung scheint Nachtsheim nicht mehr in Frage gekommen zu sein. Es wurde zudem hoch gepokert und versucht, Richard Goldschmidt, Max Hartmann oder Fritz v. Wettstein zu gewinnen. Vor allem die Universität wollte das Institut als genetisches Forschungsinstitut profilieren, war aber gegen Nachtsheim eingestellt. Der 28-jährige Drosophilagenetiker Curt Stern wiederum war zu jung. Von Seiten des 263 Nachtsheim hatte als Zoologe das Nachsehen, zumal die Vertretung der Genetik an der Landwirtschaftlichen Hochschule wegen finanzieller Engpässe nicht ausgebaut werden sollte.22 Alle der genetischen Forschung im engeren Sinne verpflichteten Wissenschaftler hatten den Ruf an die Landwirtschaftliche Hochschule abgesagt.23 Baur hatte Nachtsheim schon 1920 gewarnt, dass die angewandte Genetik eine Sackgasse sein könnte.24 Nachtsheims Fähigkeiten als experimenteller Genetiker wurden zwar hoch eingeschätzt,25 doch die strikte und konventionelle Festlegung auf die Anwendung konnte in der deutschen biologischen Wissenschaft, die eine solche Festlegung nicht kannte,26 keine Türe öffnen. Diese Situation bildete den Hintergrund für den Umbau Nachtsheims experimentellen Regimes. 6.1.2 Von der Haustiergenetik der Pigmente zur Erbpathologie der Pigmentierung Nachtsheim konnte sich im Umbau seines experimentellen Regimes zum einen an seiner Kollegin Paula Hertwig orientieren, die 1932 mit Mutationsversuchen an Mäusen begonnen hatte. Zum anderen hatte Nachtsheims Kaninchengenetik bereits enge Berührungen mit pathologischen Themen gemacht. In Kapitel 2 wurde gezeigt, wie die Beschäftigung mit dem Gebrauchswert des Rexkaninchenfells es erforderlich machte, den Status des Krankhaften in der Vererbung zu klären, wodurch das experimentellen Arrangement zur Analyse der Pigmentund Pelzeigenschaften der Kaninchen unmerklich pathologisiert wurde. Bereits 1929 hatte Nachtsheim Kontakt zu Pathologen aufgenommen. Über Rudolf Jaffé, Direktor des Pathologischen Instituts des Städtischen Rudolf Virchow-Krankenhauses, hatte er Kontakt zu Berthold Ostertag27, Neuropathologe an der Heil- und Pflegeanstalt Berlin-Buch, erhalten.28 Unter den Nachkommen des französischen Rexrammlers 744 traten immer wieder LähmungserscheiKultusministerium, das Nachtsheim unterstützte, wurde darauf gedrängt, einen Pflanzengenetiker zu favorisieren (vgl. 18.2.1929, Rohde: Vermerk über Besprechung im Kultusministerium zur Angelegenheit Baur, in: GStA, I. HA, Rep. 87 B, 20267: Bl. 208-11; 3.4.1930, Rohde: Vermerk für den Preuss. Minister für Landw., in: ebd.: Bl. 289-90; 22.10.30, Minister: Vermerk, in: ebd.: Bl. 319-20; 15.12.1930, Arnoldi an Nachtsheim, in: ebd., 20284: Bl. 36; 22.12.1930, Arnoldi an Rektor Aerobe, in: ebd.: Bl. 38) 22 Vgl. 5.4.27, Baur an PML (GStA, I. HA, Rep. 87 B, 20283: Bl. 39). 23 Vgl. 9.11.1930, Dr. Ludwig Brühl an Nachtsheim, Abschrift (UHUB, Landw. Fak. v. 1945, PA Nachtsheim, Akte 3: Bl. 49+50). 24 Vgl. 29.1.1920, Baur an Nachtsheim, in: Nachtsheim: Auszug aus meinen Verhandlungen mit Professor Baur (UHUB, Landw. Fak. v. 1945, PA Nachtsheim, Akte 2: Bl. 54). 25 Vgl. 8.4.1927, Richard Hertwig an Baur, hands.; 12.4.1927, Correns an Baur (GStA, I. HA, Rep. 87 B, 20283: Bl. 41-43). 26 Vgl. Harwood 1993: 161. 27 Berthold Ostertag, geb. 28.2.1895 in Berlin. 1.8.1935 NSDAP-Mitglied, SA-Mitglied. Von 1925 bis 1933 Leiter des Pathologischen Instituts der Städt. Heil- und Pflegeanstalt Berlin-Buch, betrieb dann seinen Wechsel an das Krankenhaus Moabit (bis dahin Rudolf Jaffé), wurde aber schließlich Leiter der Pathologie im Virchow-Krankenhaus (und der größten Prosektur Berlins). 11.5.1940 apl. Professor. Ostertag erforschte erbbiologische Fragen unter sozialen Gesichtspunkt und suchte nach intra-uterinen Schädigungen als Ursachen von Missbildungen (!). (Vgl. BA B, BDC-Akte Ostertag; Nowak 1980: 87; Peiffer 1997.) Siehe auch Seote 405, Fußn. 28 Vgl. 1.8.1947, Nachtsheim an Ostertag, Durchschlag (AMPG, Abt. III, Rep. 20A, Nr. 52) bzw. der Originalbrief in Privatarchiv Peiffer/Schröpfer, NL B. Ostertag. – Diese Verbindung war nicht zufällig, da Rudolf Jaffé und Ostertag befreundet waren und umfassend zur Pathologie der Laboratoriumstiere arbeiteten (vgl. Ostertag 1931). 264 nungen der Extremitäten auf. Ostertag stellte verschiedenartige Störungen im Rückenmark der Tiere fest.29 Auf dem Pathologentag 1930 bezeichnete er bereits das Syndrom in Analogie zur menschlichen Pathologie als Syringomyelie und stützte damit frühere Behauptungen, nach denen die Syringomyelie ein familiäres Leiden sei.30 Dies war das erste Mal, dass Nachtsheims Kaninchen als Modell für eine medizinische Fragestellung fungierten. Das Kaninchenmodell der Syringomyelie sollte in der weiteren Zusammenarbeit helfen, spezifische Fragen der Ätiologie zu klären.31 Während Ostertag die Kaninchen als Modelltiere pathologisch bearbeitete und sie als Ergänzung in seine neuropathologische Forschung integrierte,32 waren für Nachtsheim die Lähmungserscheinungen zunächst ein Problem der Wertigkeit des Rexkaninchenfells.33 Nachtsheims Vermutung war, dass die Felleigenschaften und die diversen pathologischen Erscheinungen der Rexkaninchen – Rachitis, verminderte Vitalität und Lähmungserscheinungen – die Wirkungen desselben Erbfaktors waren. Diese Vermutung schloss an die verbreitete Annahme an, dass bestimmte äußerliche Merkmale Anzeichen von Degeneration seien.34 Als sich aber schließlich herausstellte, dass der Zusammenhang zwischen Rexkaninchenfell und Lähmungserscheinungen nur zufällig war, dass die Syringomyelie also ihre Ursache nicht im Rexfaktor hatte, nahm die Verbindung zu Ostertag einen anderen Charakter an. Pathologische Eigenschaften waren bis dahin in Nachtsheims Experimentalsystem Eigenschaften der Rasse „Rexkaninchen“ gewesen. Das Rexkaninchen galt als „pathologische Mutationsrasse“. Seine Pathologie ging aus der künstlichen landwirtschaftlichen Ordnung der Sorten und Rassen unter den Lebewesen, der Nachtsheims Forschung folgte, hervor. Mit der Abkopplung der Lähmungen der Kaninchen von der Rexkaninchenrasse blieb ein Krankheitsbild zurück, das quer zur Rasse flottierte und von der landwirtschaftlichen Ökonomie des Rexkaninchens entbunden war. Die Lähmungserscheinungen fielen nun einer rein medizinischen Ordnung der pathologischen Erscheinungen zu. Es ging nicht mehr darum, die Genetik des Rexkaninchens weiter aufzudifferenzieren. Die Kaninchen stellten in Dahlem jetzt den genetisch-züchterischen Teil einer Zusammenarbeit dar, deren Gegenstand die Erblichkeit einer spezifischen erblichen Nervenkrankheit war.35 1930 war so bereits aus dem Experimentalsystem zur Erforschung der Rexkaninchen die Möglichkeit eines neuen Forschungsansatzes erwachsen. 29 Vgl. Nachtsheim 1933d: 770. Vgl. Ostertag 1930a: 173-74. 31 Die Ätiologie bearbeiten, hieß, zu klären, ob neben einem einfach mendelnden Erbfaktor noch andere Gene an der Ausprägung der Syringomyelie beteiligt waren bzw. ob bestimmte Gene eine pleiotrope Wirkungen hatten (vgl. Ostertag 1930a: 174). 32 Vgl. Ostertag 1930b; Ostertag 1934. 33 Vgl. Nachtsheim 1931c: 76. Siehe auch 2.1.3 u. 2.1.4. 34 Vgl. Nachtsheim 1932e: 261; Nachtsheim 1933c: 107. 35 Vgl. Nachtsheim 1931f: 255. Das Experimentalsystem des Rexkaninchenfells hatte diesen Gegenstand insofern hervorgebracht, als die Ökonomie der Edelpelztierzucht die intensive Vermehrung und pflegeaufwendige Haltung der Rexkaninchen in Gang gebracht, das Interesse an Lähmungserscheinungen geweckt und die Lebensform weitgehend gelähmter Kaninchen möglich gemacht hatte. Das Überleben der gelähmten Rexkaninchen erforderte besondere Haltungsbedingungen und ihre Vermehrung die geschickte Assistenz des Tierpflegepersonals. Dazu, vgl. 2.1.4; zur Frage der Hervorbringung, siehe 4.3.2. 30 265 Die Syringomyelie blieb zwar zunächst der einzige erbpathologische Gegenstand in Nachtsheims Forschung; doch nach den Ereignissen an der Hochschule und seiner Rückkehr in den Hochschulbetrieb im Sommer 1931 schien sich für Nachtsheim der Zusammenhang seiner Arbeiten leicht verschoben zu haben. Im September hielt er einen Vortrag vor der Gesellschaft für Hundeforschung über den Zusammenhang von Pigmentmangel und nachlassender Konstitutionshärte sowie geringer körperlicher Leistungsfähigkeit.36 Er benutzte seine Pigmentstudien nun, um die erbpathologische Seite der Pigmente aufzugreifen. In dem gewohnten aufklärerischen Gestus belehrte er die Hundezüchter, dass es einen generellen Zusammenhang zwischen Konstitution und Pigmentierung nicht gäbe.37 Das schloss einzelne Fälle aber nicht aus. Ein bestimmter Scheckungstyp bei Kaninchen und Hunden sei in verschiedener Hinsicht „abnorm“. Die Tiere waren oft taub und schienen weniger widerstandsfähig zu sein. Mit Nachdruck forderte Nachtsheim, „derartige schädliche Erbfaktoren aus der Zucht zu eliminieren“.38 In seinem Bericht über den Internationalen Kongress für Genetik, der im Herbst 1932 in Ithaca (USA) stattfand und auf dem Nachtsheim seine Pigmentierungsstudien vorstellte, ging er nur am Rande auf die allgemeine Genetik ein. Stattdessen konzentrierte er sich auf die erblichen Pathologie der Haustiere – Inzucht, Infektionsdisposition, Vitalitätsunterschiede und Widerstandsfähigkeit – und vor allem auf die ausgedehnten Untersuchungen von Charles Rupert Stockard an der medizinischen Fakultät der Cornell-Universität in New York über Wachstumsanomalien und „interessante Vergleiche zwischen seinen Beobachtungen an Hunden und den Verhältnissen beim Menschen“.39 Diese Untersuchungen verknüpfte Nachtsheim mit der Syringomyelieforschung und den Pigmentstudien, um ihre Übertragbarkeit auf „Schwärzlinge, Neger mit blauen Augen und Individuen mit tiefdunklen Augen“ herauszustellen. Erstmals stellte er die Bedeutung seiner Forschung für den Vergleich mit menschlichen Verhältnissen heraus. Die Verknüpfung von Pigmenten und Pathologie war allerdings zu schwach: Sie eignete sich weder als erbhygienisches Thema für die Tierzucht,40 noch ließ sie sich zum Gegenstand einer mendelschen Erbanalyse machen. Die pathologischen Merkmale, die mit auffälliger Pigmentierung assoziiert wurden, waren entweder zu variabel oder zu unspezifisch.41 Die Syringomyelie eröffnete Nachtsheim den Weg zum Menschen.42 36 Das Thema entsprach einer von mehreren Fragen, die die Gesellschaft als dringend zu klärende Fragen vorgelegt hatte (vgl. Nachtsheim 1932d: 3). 37 Schon 1905 hatte der Wiener Haustierforscher Leopold Adametz den stufenweisen Pigmentverlust bei Haustieren in Verbindung mit einer sukzessiven Schwächung der Tiere gebracht. Seit 1924 ging Nachtsheim der Adametz’schen These zum Pigmentierungsverlust und zeigte, dass bspw. Scheckung und der Pigmentverlust bei Weißen Wiener Kaninchen bzw. der Albinismus nichts mit einander zu tun hatten (vgl. Nachtsheim 1932d: 10-11). – Nachtsheim ließ sich in diesem Forschungszusammenhang über pleiotrope Genwirkung von Pigmentierungsfaktoren die Gelegenheit nicht entgehen, eine Studie aus Baurs KWI über den Zusammenhang von Wildfarbigkeit bei Hausschweinen und ihrer Seuchenresistenz als bloße „vorgefasste Meinung“ zu bezeichnen (vgl. Nachtsheim 1933f: 202; Nachtsheim 1933g). 38 Nachtsheim 1932d: 11 39 Hier und nachfolgend: Nachtsheim 1933f: 205 40 Vgl. Nachtsheim 1934j bzw. Nachtsheim 1935a: 210. 41 In den nächsten Jahren blieb die Assoziation von Pigmenten und Krankheitserscheinungen bzw. -anfälligkeiten weiterhin im Gespräch (Siehe die Übersicht in Nachtsheim 1938d: 95-97). 42 Vgl. Nachtsheim 1933d: 770. 266 Die Entwicklung, in der im experimentellen System der Pelzkaninchenzucht neue Fragen und der pathologische Gegenstand auftauchten, folgte, wie ich gezeigt habe, einem ökonomischen Forschungsinteresse und der Mendelisierung der Pelzwirtschaft. Als das pelzzüchterische Interesse aber mit der Loslösung der Lähmungen vom Fellcharakter der Rexkaninchen abflaute, bedurfte es eines neuen Interesses, damit die Lähmungen oder der pathologische Gegenstand nun dauerhaft ins Zentrum Nachtsheims Experimentalkomplexes rücken konnten. Dieses neue Forschungsinteresse war die Eugenik. Dies macht deutlich, dass der erbpathologische Gegenstand der Eugenik vorausging. Er bildete eine Kontinuität in Nachtsheims Forschung vor und nach 1933. Die Pigmente und das Kaninchenfell der Rexkaninchen waren die unbeachteten ‚Akteure’, die ihn hervorgebracht und damit die Möglichkeit zum Bruch in Nachtsheims Erkenntnisinteresse eröffnet hatten. Mit der eugenischen Neuausrichtung des Experimentalsystems brach Nachtsheim mit dem erkenntnisleitenden Interesse der Pelztierzucht. Ermöglicht wurde dies durch die innovative Konstellation des Experimentalsystems, dessen erbpathologische Hervorbringungen sich anboten, als vergleichendes Experimentalsystem fortgeführt zu werden. 6.1.3 Die Kaninchengesellschaft als Abbild des neuen erbhygienischen Staats Das Interesse an der Erbpathologie, das die Diskussion mit den Kaninchenzüchtern freigesetzt hatte, wurde nun auch durch die prekäre Situation Nachtsheims an der Landwirtschaftlichen Hochschule gefördert. Seine Verwirklichung ermöglichte der neue Institutschef, der seinen gleichaltrigen Kollegen darin nachhaltig unterstützte. Alles war vorbereitet; es fehlte nur noch die Entscheidung, alle experimentellen Ressourcen auf das neue Ziel umzustellen und sich dem Diskurs und der Sozietät einer neuen Forschungsgemeinschaft anzuschließen. Zwei Ereignisse bewirkten, dass Nachtsheim die Möglichkeit ergriff, die vergleichende Erbpathologie 1934 zu seinem Forschungsprogramm zu machen. Zum einen wurde Nachtsheim aus seinem bisherigen Engagement in der Pelztierzucht gedrängt. Im Zuge der Gleichschaltung der Tierzuchtverbände wurde er im Mai 1933 als Vorsitzender des Reichsbundes deutscher Kaninchenzüchter (RDK) abgesetzt. Dem gingen erneute Streitigkeiten mit dem nun sich nationalsozialistisch gerierenden Bund deutscher Kaninchenzüchter (BDK) voraus.43 Obwohl der industrienahe RDK sich zur Gleichschaltung bereit zeigte, geriet er, da der NSDAP fernstehend, ins Hintertreffen.44 Zum anderen wurde 43 Vgl. Jokisch 1933: 4. Die Auseinandersetzung machte vor Denunziation nicht Halt. Nachtsheim wurde eine „‚jüdische Abstammung’ angedichtet“, dem BDK-Vorsitzenden umgekehrt eine Klassenkampfmentalität. N.s RDK bekannte sich zur Vernichtung von Klassenkampf, Liberalismus und Demokratie zugunsten der alleinigen Herrschaft der Volksgemeinschaft (vgl. Jokisch 1933: 2 u. 4; siehe auch 1.2.5). Nachtsheim geriet aber in Konflikt mit dem Reichsfachbearbeiter für Geflügelzucht und Kleintierzucht, Karl Vetter (siehe Seite 69). Dieser drohte N. „einen Erholungsurlaub im Konzentrationslager“ an und setzte sich selbst als neuer Präsident aller deutschen Kaninchenzüchter ein (vgl. 20.3.1946, N.: Stellungnahme für die Amerikanische Besatzungsbehörde, Intelligence Service, in: AMPG, Abt. III, Rep. 20B, Nr. 2). Es erscheint glaubwürdig, dass es zu dem Streit mit Vetter kam. Angesichts der Erklärung des RDK hatte der Streit aber wohl nicht die Widersetzung gegen die Gleichschaltung aus politischen Gründen, wie es N. 1946 darstellte, zum Inhalt, sondern eher konkretere Fragen der Organisation und Inhalte der Pelz44 267 im Juli 1933 das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GVeN), das die Zwangssterilisierung von Menschen mit bestimmten Krankheiten und Anomalien regelte, beschlossen.45 Die NS-Regierung zeigte damit, dass sie Eugenik und Erbbiologie zu einem wichtigen Betätigungsfeld ihrer Politik machte. Dies ließ einen erhöhten Forschungsbedarf erwarten.46 Hans Kappert argumentierte, um die wackelige Stelle seines inzwischen überalterten Oberassistenten zu verlängern, dass Nachtsheims Forschungen „im Hinblick auf die Bestrebungen zur Bekämpfung der menschlichen Erbkrankheiten gerade jetzt von besonderer Bedeutung“ seien, da bei den Kaninchen experimentell der Erbgang von Erbkrankheiten effektiver aufgeklärt werden könnte als jemals beim Menschen.47 In aller Deutlichkeit markierte Nachtsheim Ende 1934 in einer Reihe inhaltlich nahezu identischer Artikel die Wende in seiner Forschung und ihren neuen Bezugspunkt. „Es gehört zu den Großtaten unserer nationalen Regierung, daß sie in der klaren Erkenntnis der Bedeutung einer zielbewußten Rassenpflege für Volk und Staat Maßnahmen [das heißt, das GVeN] getroffen hat, die Ausbreitung krankhafter Erbanlagen zu verhindern oder doch wenigstens möglichst einzudämmen.”48 Nachtsheim wendete sich in dem Artikel an ein breites wissenschaftlich vorgebildetes Publikum sowie an Tierzüchter und an Mediziner. Anhand seiner Kooperation mit Ostertag, die inzwischen auf ein weiteres Nervenleiden ausgedehnt worden war, und von Ausbreitungsszenarien von Erbleiden zeigte er die Notwendigkeit eugenischer Maßnahmen auf. Die Population der Kaninchen und ihre idealisierte Beschreibung im Schema der mendelschen Vererbung diente als Matrix für den Rahmentext, in dem ein Szenario der „Ausschüttung“ krankhafter Erbanlagen und die „Verseuchung des kostbaren Erbgutes des Volkes“ skizziert wurde. Die Fragen, die daraus folgten, waren: „Wie erkennt man diese Krankheiten, wie werden sie vererbt, und was haben wir zu tun, um die Erbkrankheiten restlos auszumerzen?“49 Diese Fragen waren als Auftrag an die Forschung zu verstehen, Entstehung und Verlauf sowie Art und Weise der Vererbung von Krankheitsbildern beim Menschen zu studieren.50 Nachtsheim formulierte in diesen Artikel das Programm einer experimentellen und vergleichenden Genetik. Dadurch, dass er in eindringlicher Weise die Beschränktheit der menschlichen Erbforschung schilderte, musste der methodi- tierzucht. So sprach sich N. an anderer Stelle durchaus für Gleichschaltungsmaßnahmen aus (vgl. Nachtsheim: Jahrbuch für wissenschaftliche und praktische Tierzucht [...] (Besprechung), Landw. Pelztierzucht, 5, 1934: 30-31). 45 Am 14.7.1933 wurde das GVeN erlassen, am 1.1.1934 trat es in Kraft. 46 Nachtsheim: „Seit dem Jahre 1934 habe ich, angeregt durch das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, ein neues Forschungsgebiet zu begründen versucht, die vergleichende und experimentelle Erbpathologie“ (7.12.1940, Nachtsheim an Dekan der Math.-Nat. Fak., in: BA D, RME, ZB II 1869, Akte 2: Bl. 14). Ganz ähnlich äußerte sich N. gegenüber E. Fischer nach 1945 (vgl. 12.4.1948, Nachtsheim an Fischer, in: AMPG, Abt. III, Rep. 20A, Nr. 25). 47 Vgl. 6.3.1935, Kappert an Verwaltungsdirektor der FWU (BA B, R 4901, 1526: Bl. 3) Ähnlich: 20.1.1937, Kappert an Dekan (UHUB, Univ.kurator, Nr. 1067: Bl. 143). Diesem Urteil schloss sich die Führung der Dozentenschaft an. (vgl. 10.2.1937, Die Dozentenschaft der FWU an Rektor, in: ebd.: Bl. 124) 48 Nachtsheim 1934k: 525. 49 Hier und nachfolgend: Nachtsheim 1934k: 525 50 Vgl. Nachtsheim 1934l: 823. 268 schen Rückgriff auf die vergleichende Genetik und experimentelle Analyse als unausweichlich erscheinen. Notwendigkeit, Voraussetzung und Leistungsfähigkeit dieses Forschungsprojekts explizierte Nachtsheim am Kaninchen, ebenso wie er an ihm die „Ausschüttung“ der Erbkrankheiten veranschaulichte. In der Beilage Der Erbarzt des Deutschen Ärzteblatts, die von Otmar Freiherr von Verschuer, Abteilungsleiter am Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik, herausgegeben wurde, wendete sich Nachtsheim an Ärzte und Gesundheitspolitiker.51 Anfang des Jahres hätte er von einem Kaninchenzüchter den Rammler „Fritz“ erhalten, an dem Ostertag Symptome der Schüttellähmung oder Parkinsonschen Krankheit erkannt hatte. Nachtsheims Erbanalyse ergab ein einfach mendelndes rezessives Leiden. Da der Rammler ein prämiertes Zuchttier für Deutsche Widderkaninchen war, überlief es Nachtsheim „heiß und kalt“: Es bestand die Gefahr, dass „unsere beste Wirtschaftsrasse“ durch eine „durchaus krankhafte Erbanlage weitgehend verseucht wird“.52 In einem mendelschen Kreuzungsschema, das die Verbreitung der Erbanlage bis in die dritte Generation zeigte, verdeutlichte er die „Verseuchung“. Mit Mühe, aber letztlich mit den rationalen Argumenten der Wissenschaft war es Nachtsheim gelungen, den Züchter von der Notwendigkeit zu überzeugen, „Fritz“ für die Allgemeinheit zu opfern. Darauf wurden auch die Mutter „Erika“ und der Bruder „Ludwig“ von der Fortpflanzung ausgeschlossen; denn es galt, alle erbkranken Tiere „auszumerzen“, um die „erbkranke Erbanlage in kürzester Zeit restlos zu vernichten“.53 Auf der Ebene der Erbanlagen unterschied diese martialische Ausdrucksweise schon nicht mehr zwischen Mensch und Tier. Der gezielte erbhygienische Eingriff in das Fortpflanzungsverhältnis der Kaninchenfamilien setzte indes die genaue Kenntnis der Erbverhältnisse der Schüttellähmung voraus. Diese Voraussetzung stellte aber für das erbhygienische Szenario beim Menschen wegen der „Unmöglichkeit experimenteller Prüfung“ ein schweres Problem dar, sodass es bei schwierigeren Fällen als „ein fast hoffnungsloses Unterfangen“ gelten musste.54 Die experimentelle Genetik versprach, das Manko zu beheben. Die Welt der Kaninchen und die Ordnung der Tierzucht war für Nachtsheim in selbstverständlicher Weise Vorbild für die menschlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse. „[W]enn man jetzt durch rassenhygienische Maßnahmen die Zukunft des Volkes zu sichern sucht, so bedeutet das die Anwendung jener allgemeinen züchterischen Grundsätze auf den Menschen, von denen hier die Rede sein wird.“55 Genau genommen, traten aber Medizin und Tierzucht in ein wechselseitiges Ergänzungsverhältnis. Je nach Perspektive war die vergleichende Methode für die Tierzucht oder die Medizin gedeihlich. Der Mensch und die menschliche Pathologie konnten als „durchforscht“ gelten, die Haustierpathologie jedoch lag im Dunkeln. Die all zu scharfe Zuchtauswahl der Züchter machte die Haustierpathologie vom Formenreichtum der Medizin abhängig, während das Tier klinisch und pathologisch „durchforscht“ werden konnte, um 51 Vgl. Nachtsheim 1934h. Der Artikel erschien im Nov./Dez.-Heft 1934 von Der Erbarzt. Nachtsheim 1934h: 37 u. vgl. Nachtsheim 1934k: 526. 53 Nachtsheim 1934h: 38 54 Nachtsheim 1934h: 38 bzw. Nachtsheim 1934e: 102 55 Nachtsheim 1936d: VIII 52 269 die Ätiologie pathologischer menschlicher Erscheinungsformen genetisch zu fundieren.56 In dieser Weise konnte Nachtsheim auch im Kaninchenzüchter die Bedeutung einer wissenschaftlich fundierten Erbpflege für die Welt des Kaninchens anhand des GVeN erklären. Beides stand für einander: Die Welt des Kaninchens und des Menschen bildeten je ein Supplement für die andere. Nachtsheim rechtfertigte dies mit der bisherigen „Erfahrung“, dass die Gesetzmäßigkeiten für Mensch und Tier in ganz der gleichen Weise gelten und insbesondere „in der Zusammensetzung der Erbmasse und dem Zusammenwirken der Erbfaktoren bei Mensch und Tier, zum mindesten dem Säugetier, weitgehende Parallelen bestehen“.57 So mobilisierte Nachtsheim die Kaninchenzüchter zum Dienst an der Allgemeinheit, indem sie ihre strenge Zuchtwahl zur Selektion von Tieren für die Wissenschaft nutzen sollten.58 Kaninchenzucht und Eugenik als Forschungs- und Staatsaufgabe erschienen nun untrennbar. 6.1.4 Indienststellung der Genetik für die „Erbpflege“: Verwissenschaftlichung als Szientokratie In der konsequenten Parallelisierung von Tierzucht und Gesundheitspolitik knüpfte Nachtsheim an der von ihm bis dahin in der Landwirtschaft ausgeübten Funktion des Experten an. So, wie die Tierzucht in den zwanziger Jahren zu mendelisieren war, so war auch der Diskurs über Gesundheit noch in die Begriffe der Mendelgenetik zu bringen und der genetische Spezialdiskurs der Öffentlichkeit zu vermitteln. Die lebensweltliche Verankerung erst würde die Anwendung des genetischen Wissens selbstverständlich werden lassen und zusammen mit seiner technischen Implementierung die Genetik festigen. „Dank der Maßnahmen unserer nationalen Regierung steht die Vererbungslehre, die vorher mehr oder weniger im Verborgenen geblüht hat, im Mittelpunkt des Interesses. Man hat die Bedeutung dieses jungen Zweiges der Lehre vom Leben für Volk und Staat erkannt, und es soll heute nach dem Willen der Staatsführung kein junger Deutscher mehr die Schule verlassen ohne mit den Grundtatsachen der Erblehre, Rassenkunde und Rassenpflege vertraut worden zu sein.“59 Nachtsheim stellte sich ohne Umschweife hinter die „nationale Regierung“. Für ihn bedeutete sie die Chance, dass der Genetik endlich die gebührende Stellung als leitende Zuchttechnologie in der Landwirtschaft und als Sozialtechnologie an der Schnittstelle von Gesundheits- und Bevölkerungspolitik eingeräumt würde – die Genetik als wissenschaftliches und disziplinäres centre of calculations des Vererbungsdiskurses. Dies zu erreichen, erforderte die Karthasis der experimentellen Rationalität. Das Medizinalwesens und überhaupt die ganze neue Erziehung mussten sie auf sich nehmen, so, wie sie die Tier- und Kaninchenzüchter schon auf sich genommen hatten: „Die Vererbungslehre ist nun aber, darüber müssen wir uns klar sein, keine leichte Wissenschaft, und ihre Ergebnisse weichen vielfach von den alten Vorstellungen über Vererbung ab, [...]. 56 Nachtsheim 1934h: 36; vgl. Nachtsheim 1939d: 1; Nachtsheim 1937c. Nachtsheim 1934h: 36; vgl. Nachtsheim 1934d: 814. 58 Vgl. Nachtsheim 1934l: 823. 59 Nachtsheim 1934i: 265 57 270 Es darf nur wirklich neuzeitliche Erkenntnis sein, die dem Volke vermittelt wird, [...].“60 Nachtsheim führte genau das fort, was er bislang in der Landwirtschaft getan hatte: die Stellung der experimentellen Vererbungslehre gegenüber ‚unwissenschaftlichen’ Positionen – „Aberglauben“ – auszubauen. Damit wurde sogleich gegenüber den neuen Machthabern der Anspruch erhoben, alleiniger Sachverwalter in Fragen der Vererbung zu sein. Nachtsheim – und die Vererbungswissenschaftler insgesamt – versuchten in aggressiver Weise, die Gunst der Stunde zur Festigung ihrer Definitionshoheit zu nutzen, indem sie ihre Methode, ihr Vererbungskonzept und ihr Bild vom Leben des Organismus bzw. von der Dynamik einer Gesamtheit von Individuen als verbindlich durchzusetzen suchten. Dies bedeutete keineswegs eine Zügelung der nationalsozialistischen „Erbgesundheitspflege“. Nachtsheim wandte sich mit diesem Impetus an das spezifische Fachpublikum und die interessierte Öffentlichkeit. Den Tierzüchtern und wissenschaftlich Interessierten vermittelte er in aller Ausführlichkeit Sinn und Zweck des GVeN, setzte seine Kampagne „Alte züchterische Vorstellungen in neuzeitlicher Beleuchtung“ fort und übertrug die Inhalte geradewegs auf die Humangenetik.61 Über Tageszeitungen wandte er sich an ein breiteres Publikum. Immer wieder wurde deutlich, dass die Erbpathologie der Tier- und Humanmedizin – entsprechend dem wechselseitigen Verweisungsverhältnis – ausgebaut werden musste.62 Nachtsheim war nicht der einzige Genetiker, dem die nationalsozialistischen Bekenntnisse zur Erbgesundheitspflege entgegenkamen. Indem die Genetiker ihre Wissenschaft aktiv in die gesellschaftliche Diskussion hineintrugen, übernahmen sie bewusst Verantwortung. Im Interdiskurs der Genetik waren Erbbiologie und Eugenik untrennbar verbunden, wie das Beispiel der Röntgendiskussion gezeigt hatte. Mit verstärktem Engagement ging es nun daran, andere Spezialdiskurse und den Alltagsdiskurs in der Einheit aus Erbbiologie und Erbhygiene umzuschreiben. Die Deutsche Heilpädagogische Gesellschaft veranstaltete 1933 für das Gesundheits- und Erziehungswesen eine „Erbbiologische Vortragsreihe“. In 17 Vorträgen wurde von der germanischen Urgeschichte bis zur „Wirtschaftsgesundung“ und künstlerischen Erziehung die Bedeutung der Erbbiologie und Eugenik besprochen. Leben, Geschichte, Gesellschaft, Alltag, Erziehung, Gesundheit – alles wurde unter dem rassenhygienischen Paradigma und dem Primat der Vererbung neu geordnet. Neben den Vertretern des KWI für Anthropologie, Otmar v. Verschuer, Hans Weinert und Heinrich Kranz, sprachen die Genetiker Max Hartmann vom KWI für Biologie, Hans Stubbe vom 60 Nachtsheim 1934i: 265 Vgl. Nachtsheim 1934k: 525. Die Beispiele kamen geradewegs aus der Kaninchenzucht. So zeigte Nachtsheim anhand der „Kreuzung eines Negers mit einer Weißen“, dass – wie beim Englischen Scheckenkaninchen – konstante Bastarde nach der mendelschen Vererbungslehre nicht möglich sind (vgl. Nachtsheim 1934a: S. 3; Nachtsheim 1934j). Vgl. auch Nachtsheim 1934d; Nachtsheim 1935c; Nachtsheim 1935d; Nachtsheim 1935e; Nachtsheim 1936e. 62 Vgl. Nachtsheim 1937b; Nachtsheim 1937c; Nachtsheim 1937a; Nachtsheim 1938e; Nachtsheim 1938f; Nachtsheim 1938b; Nachtsheim 1939c; Nachtsheim 1939h; Nachtsheim 1939i; Nachtsheim 1939f; Nachtsheim 1940c. 61 271 KWI für Züchtungsforschung sowie Paula Hertwig.63 Nachtsheim hatte sein Debüt als Eugeniker und stellte klar, dass das ganze Volk mit Kenntnissen der „neuzeitlichen“ Vererbungsforschung „gesättigt werden“ müsse, zumal sie immer wieder durch die „mystischen Vorstellungen der vormendelistischen Zeit“ gefährdet würden.64 Die Genetiker und Genetikerinnen, die wie Nachtsheim, Hertwig und Stubbe angewandt im landwirtschaftlichen Kontext forschten, waren nicht zufällig bereit, ihren Spezialdiskurs zu verlassen. Diejenigen, die sich, wie Max Hartmann oder Alfred Kühn, im engeren Rahmen der scientific community bewegten, sahen ihre Aufgabe nicht in der Propagierung der Anwendung ihrer Ergebnisse. Sie zeigten aber auch keine Berührungsängste und keinen Widerspruch. Kühn beispielsweise sorgte sich darum, dass die rassenhygienische Bedeutung der unscheinbaren vitalitätssenkenden Mutationen genug beachtet wurde.65 Ein anderes Beispiel ist der Königsberger Sinnesphysiologe Otto Koehler, gleichaltrig mit Nachtsheim und ebenfalls Schüler von Richard Hertwig, der auf die neue Verantwortung der Erbforscher aufmerksam machte. Philosophen und Staatsmänner hätten bislang den Rat des Genetikers verschmäht.66 Die Genetik sei aber Grundlage für das „volkspolitische Handeln unseres Staates“. Der Erbforscher wolle die Verantwortung unter der Bedingung tragen, dass „man auf uns hört und zu verstehen trachtet“. Die unter dem Dach der genetischen Leitidentifikation vereinten Rassenhygieniker, Humangenetiker und Genetiker gaben ein Bild der Einheit ab. Dieses Bild vermittelte zum Beispiel die Tagung der Deutschen Gesellschaft für Vererbungswissenschaft 1935 in Jena. Wie schon 1931 in München befassten sich die Redner besonders mit den humangenetischen und landwirtschaftlichen Anwendungsbezügen. Vererbungswissenschaftler verschiedener Provenienz vereinten sich unter dem disziplinären Dach der Genetik und sahen sich im Aufwind:67 die botanischen und zoologischen Genetiker gegen Morphologen und Paläontologen, die Züchtungsgenetik gegen die etablierte Zucht, die genetische Ätiologie gegen Anatomie und Infektions- und Zellularpathologie. Der Botaniker und Vorsitzende Otto Renner „sprach den hübschen Gedanken aus, die kleine Schar der älteren Genetiker käme sich vor wie die Anhänger einer bisher nur kleinen Sekte, deren Bekenntnis plötzlich zur Staatsreligion geworden sei. ‚Unser Glaube’, so etwa sagte er, ‚daß ein Volk außer dem, was es an Ewigkeitswerten bereits geschaffen hat, nichts Kostbareres besitzt als die lebendigen Blutströme, aus denen ihm auch in der Zukunft die Kraft erwächst, weitere Ewigkeitswerte zu schaffen, dieser Glaube ist zum Glauben des ganzen Volkes und seiner Führer geworden.’”68 Auch auf der Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte im September unter der Devise „Im Dienste am Volk für deutsche Wissenschaft in der Welt!“ stand die Vererbung im Mittelpunkt, und 63 Vgl. Elternberatungsstunde – Ärztlich-Pädagogischer Ratgeber für die deutsche Familie, 2, 1933. Im wiss. Beirat der Zeitschrift saßen u.a. O. v. Verschuer, P. Hertwig und H. Stubbe. 64 Nachtsheim 1933a; Nachtsheim 1934a: Seite 3 65 Vgl. Nachtsheim 1934b: 1170; vgl. auch Kühn 1935a: 73-78. 66 Hier und nachfolgend: Koehler 1935: 1260 67 Vgl. Roth 1986: 31. 68 O. Renner nach Just 1935: 138. 272 zentral war immer wieder ihre Anwendung in Medizin bzw. Landwirtschaft.69 Die andienende Performanz dieses Kongresses zeigt, dass es keineswegs notwendig war, am politischen Diskurs teilzunehmen, um die kooperative Bereitstellung der Wissenschaft für den „völkischen Staat“ zu versichern. Es reichte, nüchtern die praktische Relevanz der Forschung anzudeuten und zum Rest zu schweigen. Die Genetiker nahmen dadurch eine durchaus politische Positionierung vor und stellten sich selbst in den Dienst des neuen Staates.70 Die meisten Genetiker kehrten, nachdem sie ihre Ansprüche laut vorgebracht hatten, ins Verborgene der Forschung und Wissenschaftsorganisation zurück. Nachtsheim führte seine Kampagne weiter und behielt die Rhetorik „der großen Tat“, um die konzertierte Aktion aus Wissenschaft und Politik zu beschwören, bis in die vierziger Jahre aufrecht.71 Die Indienststellung der Wissenschaft gründete sich in Kontinuität. Seit den zwanziger Jahren war die gesellschaftliche Implementierung von naturwissenschaftlichem Wissen als Monopolwissen das Anliegen von Nachtsheim. Für Nachtsheim und die Genetik öffnete der „nationale Staat“ die Möglichkeit, dieses Ziel umzusetzen. Die Ratschläge der Experten und die Bereitstellung des genetischen Wissens für eine biologisierte Politik drängten darauf, die Ausübung von politischer Macht durch Wissenschaft zu lenken: Herrschaft als der direkte Ausfluss von Wissenschaftswissen. Der Wahrheitsanspruch der Wissenschaft begründete unmittelbar politische Handlungsimperative. Dieser Wahrheitsanspruch war ‚szientokratisch’, da jede praktische Vermittlung zwischen wissenschaftlicher Wissensproduktion und gesellschaftlichen Handeln ausgespart wurde. Die Verwissenschaftlichung gesellschaftlicher Praxen und Lebenszusammenhänge, welche von den Genetikern angestrebt wurde, gründete sich insofern in einer spezifischen und spontanen Ideologie der Wissenschaft.72 Die Praxis der Wahrheit (naturwissenschaftliche 69 Vgl. Nachtsheim 1934b: 1170. Fragen der Genetik waren Thema in acht Vorträgen in der Hauptversammlung und in weiteren in einzelnen Fachsitzungen. 70 Diese Bereitschaft wurde in der Ministerialbürokratie sehr wohl registriert – und sie wurde gebraucht. Der im RMI mit der Gesundheitspolitik führend beauftragte Min.Rat Arthur Gütt betonte die Bedeutung der Erforschung der Erbkrankheiten und bat gezielt um die Mitarbeit der Humangenetiker bei der Erbgesundheitspolitik (vgl. 5.7.1933, Sitzung des Kuratoriums des KWI für Anthropologie, Sitzungsprotokoll, in: AMPG, Abt. I, Rep. 1A, Nr. 2404: Bl. 11). – Als Beispiel einer expliziten Indienststellung kann das KWI gelten, dessen Direktor Eugen Fischer mitteilte: „Die sämtlichen Mitarbeiter des Betriebes stellen sich selbstverständlich [...] zahlreichen allgemeinen Aufgaben restlos zur Verfügung, die der neue Staat für seine biologische Bevölkerungspolitik erforderlich hält“ (o.D., Fischer: Tätigkeitsbericht, 1.4.1935-31.3.1936, in: ebd., Nr. 3999). 71 In den vierziger Jahren behandelte Nachtsheim eher indirekt aktuelle Fragen zur Vererbungsbiologie. Auch in den Übersichtsartikeln für Spezialzeitschriften trat der Bezug auf das GVeN und Gesundheitspolitik zugunsten nüchterneren Darstellungen seines Forschungsprogramms zurück (vgl. Nachtsheim 1941a; Nachtsheim 1942a; Nachtsheim 1942d; Nachtsheim 1943a; Nachtsheim 1944a bzw. Nachtsheim 1941b; Nachtsheim 1942b; Nachtsheim 1943c; Nachtsheim 1944c; Nachtsheim 1944b). 72 Der praktische Diskurs wurde dadurch delegitimiert, dass seine Aussagen als ‚unwahr’ galten. Diese Begründung ist (unbewusst/spontan) ideologisch, da sie verschleiert, dass die Ableitung von Handlungsmaximen (Sollen) aus „Wahrheit“ (Sein) a priori eine praktische Entscheidung (Richtigkeit) voraussetzt. Die eugenische Sterilisation setzte nicht voraus, dass die Konsequenzen der Verhinderung „erbkranke“ Menschen als wahr, sondern als gut und richtig galten. Der wissenschaftliche Diskurs bleibt also unvermeidlich an den gesellschaftlichen rückgekoppelt. 273 Methode) ließ alle praktischen Diskurse (Politik, Ethik, Moral, Sitte) ins Leere laufen.73 6.1.5 Eugenisches Ikon, genetisches Krankheitskonzept und kühle Radikalisierung Wenn die Genetik den Anspruch formulierte, allein legitimiert zu sein, in Vererbungsfragen zu sprechen, so stellt sich die Frage, wie sie sich zur staatlichen praktischen Umsetzung der Vererbungsbiologie stellte. Der Prüfstein war die erste erbhygienische Maßnahme der neuen Regierung, das GVeN. Moralische Bedenken seitens der Genetiker waren nicht wahrzunehmen, obwohl das Gesetz von 1934 durch die Möglichkeit von Zwangsmaßnahmen einschneidender ausfiel, als das unter Beteiligung von Vererbungsforschern im Preußischen Landesgesundheitsrat entworfene Sterilisationsgesetz von 1932.74 Hingegen ließ sich am GVeN eine spezifisch genetische Kritik formulieren, die sich konsequent aus der (populations-)genetischen Rationalisierung von Gesellschaft ergab: Aus den genetischen Grundlagen leitete sich eine mendelistisch gefasste Degenerationslehre und Maßnahmen ab, an denen sich die „Gesundheitspolitik“ messen lassen musste.75 Die Maßnahmen mussten die Ausmerzung von Erbkrankheiten oder wenigstens die „Eindämmung der Verseuchung des kostbaren Erbgutes des Volkes“ gewährleisten.76 Die genetische Spezifität bestand in der Forderung, dass auch die „Träger krankhafter Erbanlagen“ an der Fortpflanzung gehindert werden sollten.77 Diese Schlussfolgerung, die den Kurzschluss von Wissenschaft und Politik exemplifiziert, verweist auf ein geschlossenes biologisches Weltbild, in dem sich die Konzipierung von Vererbung und Bevölkerung zu bewegen vermochte.78 Die genetische Rationalisierung gesellschaftlicher Praxis brachte im Übrigen eigene Problemfelder hervor, die das Wissen um medizinisch definierte Normalität und Abweichung strukturierten.79 Beides bestimmte die Haltung der Genetiker und Nachtsheims gegenüber eugenischen Fragen, wie sie jetzt genauer charakterisiert werden soll. Die mendelsche Genetik trug Anfang der dreißiger Jahre zu einer Verschärfung der eugenischen Bedrohungsszenarien bei. Die richtige Metapher für den Vorgang der Ausbreitung von Erbkrankheiten war deshalb die der „Verseuchung“, die im Unterschied zur „Epidemie“ die Unsichtbarkeit des Vorgangs ausdrückte.80 Die Konzepte der mendelschen Genetik, ihre evolutionstheoreti73 Vgl. Weingart et al. 1992: 534 sprechen von „Entmoralisierung durch Professionalisierung“. Das Mitglied, der Genetiker R. Goldschmidt, lobte später noch die Beratungen im Gesundheitsrat (vgl. Goldschmidt 1960: 230-31; zum Gesetzentwurf: Schleiermacher 1986: 80-82; Weindling 1989: 454ff.; BA B, R 1501, 26243). – Fritz Lenz nahm für sich in Anspruch, sich gegen die Zwangssterilisation gewendet zu haben. Er tat dies allerdings ausschließlich aus taktischen Gründen in der Annahme, die Bevölkerung sei so nicht für die Eugenik zu gewinnen (vgl. Lenz 1934b; vgl. auch Bock 1986: 111-12). 75 Die erste Prämisse einer solchen Gesundheitspolitik war die ständige Ausbreitung „krankhafter“ Erbanlagen unter den Bedingungen der antiselektionistischen Zivilisation (Nachtsheim 1934k: 525). Die zweite Voraussetzung war, dass Erbkrankheiten „nicht heilbar“ waren (ebd.). 76 Nachtsheim 1934k: 525 77 Nachtsheim 1934k: 525. Herv. Verf. 78 Vgl. Roth 1986: 55. 79 Vgl. Kaufmann 1998: 363. 80 Nachtsheim 1934k: 526. In diese Richtung argumentiert auch Loeffler 1933: 200. 74 274 sche Interpretation und ihre Anwendung auf die Ebene der Population ermöglichten, die degenerative Bedrohung im geschlossenen Raum des Mendelismus herzuleiten und zugleich ihre Steigerung. Die präzisierte Aufgabe der Rassenhygiene war es, „den Volkskörper nach Möglichkeit von den vitalitätssenkenden Genen frei zu halten oder doch deren Vermehrung und Ausbreitung einzudämmen".81 Die neue zentrale Rolle der Mutation für die Genetik und ihre Verbindung zu variablen, vitalitätssenkenden und zumeist rezessiven Merkmalen bildete den Knotenpunkt des mendelgenetischen Bedrohungsszenarios.82 Die Trias aus Mutation, Vitalität und Entlarvung trügerischer Gesundheit war der Motor seiner Formierung. Die ‚trügerische Gesundheit’ war eine Gesundheit, die in der Rezessivität, also der momentanen Unwirksamkeit der bedrohlichen Mutationen gründete. Die Verborgenheit der Mutationen war der Angelpunkt der Kritik am GVeN. Die Verborgenheit des Erblichen ist aber auch als konstitutive Leistung des Mendelismus zu verstehen da sie auf der Trennung von Genotyp und Phänotyp beruhte. Das rezessive Gen – die Erbanlage ohne äußere Entsprechung – wurde zum Symbol einer mendelisch gewendeten Eugenik.83 Roth hat am Beispiel des Genetikers Timoféeff-Ressovsky diesen Zusammenhang aufgezeigt. Die genetische Reformulierung des degenerativen Katastrophenszenarios bezeichnete er mit Blick auf die Internationalität dieser Entwicklung als „Neo-Eugenik“.84 Die Wirkung der Verborgenheitsrhetorik zeigte sich zum Beispiel in der Diskussion zwischen Genetikern und Medizinern um die Gefahr durch Röntgenstrahlen. Die Entlarvung der heimtückisch verschleierten Mutationen verwandelte eine begrenzte Bedrohung in das scheinbar zwingende theoretische Szenario einer an sich selbst gescheiterten Zivilisation. Die konzeptualisierte Unsichtbarkeit wurde zum Ausgangspunkt für Ansprüche an die Politik. Aus ihr folgte Forschungsbedarf und Kritik an den rassenhygienischen Maßnahmen. In der amerikanischen Genetik hieß es schon 1930, dass es eine der größten Entdeckungen der Biologie wäre, wenn die Träger rezessiver Gene erkannte werden könnten.85 Auf diesem Gemisch aus wissenschaftlicher Generierung eines Problems und praktisch-politischem Diskurs basierte Nachtsheims Position als Experte: „Wenn wir die menschlichen Erbleiden mit Erfolg bekämpfen wollen, so müssen wir sie vor allem genau kennen.“86 Das – als Edelpelz untaugliche – Rexkaninchen gerann Nachtsheim nun zum Musterbeispiel gegenüber Medizinern für die Bedrohung durch die Undurchsichtigkeit des Erbgeschehens und die Verschleierung subtiler Konstitutionsschwächen.87 Das Erkenntnisinteresse des „Kennen“ hieß deshalb ‚Erkennen’: Mittel und Wege zu finden, „die Anlage- 81 Kühn nach Nachtsheim 1934b: 1170 Vgl. Schubert & Pickhan 1938: 115-16 u. 136. Vgl. auch 2.2. 83 Die Bedeutung des Nicht-Sichtbaren wurde zudem durch die Beschreibung von Mutationen, die unauffällige, physiologische Merkmale beeinflussen, sowie durch Konzepte ungeheuer gesteigert, die den Umfang der verborgenen Erbbeeinflussung erhöhten (Haupt-, Nebengene und Genmilieu). 84 Roth 1986: 23-27 (bzw. Roth 1999: 351 u. 384) 85 Vgl. Kevles 1995: 197-98. 86 Nachtsheim 1941b: 261 87 Vgl. Nachtsheim 1934e: 102. 82 275 träger von den Erbgesunden auch phänotypisch zu unterscheiden“.88 Die Benutzung der vergleichenden Erbpathologie als diagnostisches Instrument zur Identifikation von heterozygoten Erbträgern beruhte auf den feinen Differenzen, die das mutationsgenetische Dispositiv möglich machte. Die Unsichtbarkeit der Vererbung war eng mit dem Begriff von Krankheit und der Klassifikation von Krankheit in der Medizin und schließlich auch der (lebensweltlichen) Wahrnehmung des Körpers verbunden. Beides manifestiert sich in der Darstellung des Deutschen Widder-Rammler „Fritz“, der „mit 94 und 95 Punkten bewertet, aber Träger der krankhaften Erbanlage für Schüttellähmung“ war (vgl. Abb. 1). Der Kaninchenzüchter musste unter dem Objektivitätsregime der Genetik lernen, seinen Blick über die körperliche Erscheinung des Kaninchens hinaus auf die unsichtbare materielle Resonanz seiner Genealogie zu lenken.89 Abb. 1: Foto des phänotypisch gesunden Kaninchen „Fritz“, das nach Nachtsheim im Genotyp rezessiv eine „krankhafte Erbanlage“ trägt. Der prämierte Rammler wurde auf der Kaninchenschau, so die eugenische Logik, falsch bewertet, weil dieser Umstand nicht beachtet worden ist. Quelle: Zallen 1993b: 526. Die „krankhafte Erbanlage“ war der Angelpunkt, über den die mendelgenetische Transformation des rassenhygienischen Paradigmas lief. Wie in der Infektionsmedizin der Erreger vom Körper zu einem unabhängigen Dasein kam, so konnte die Erbanlage der „neuzeitlichen Erblehre“ (Nachtsheim) als Keim von Krankheit vom Körper getrennt werden. In den Wegen der Übertragung der Erbanlagen erschien der Körper als bloßer Träger und Übermittler des Keims. Die Erbanlage wurde zum ‚Pathogen’, da sie ein krankmachendes Potenzial in sich barg. Doch im Gegensatz zum Infektionskeim waren die Erbanlage und ihr pathogenes Potenzial fest an den Körper gebunden. „[S]ie erlöschen nicht mehr 88 Nachtsheim 1934h: 38 276 wieder!“90 Der Körper musste also auch, wenn er nur potenziell der Ausdruck der krankmachenden Erbanlage war, zum Ziel der Hygiene werden. Diese Pathologisierung des Körpers blieb logisch vom Subjekt getrennt, woraus ein inhärenter Drang der Neo-Eugenik auf ein Neuarrangement des Gesundheitsbegriffs folgte. Ein mendelgenetischer verstandener Krankheitsbegriff kam ohne alle phänomenologischen, klinischen oder Patienten-gebundenen Kriterien aus. Nachtsheim etwa unterschied genotypische von phänotypischer Gesundheit. Der komplexe medizinische Gesundheitsbegriff wurde zur „phänotypischen Gesundheit“ relativiert und bezeichnete nun nur noch die Abwesenheit von Leiden. Ein „äußerlich gesundes“ Individuum konnte hingegen „erbkrank“ sein oder umgekehrt.91 Die Begrifflichkeit der Gesundheit wurde zweigeteilt, allerdings nicht symmetrisch, da die ‚Erbgesundheit’ die phänotypische Gesundheit affiziieren konnte und nicht umgekehrt. Diese Hierarchisierung ging einerseits mit dem Gesamtprojekt einer genetisierten Ätiologie einher und andererseits mit einem neuen ‚medizinischen’ Handlungsbegriff konform. Gesundheitsbegriff und Ätiologie (und Nosologie) konvergierten in der „krankhaften Erbanlage“. Dies führte Nachtsheim wiederum am Rexkaninchen vor, an dem er zeigte, wie verschiedene Symptome über eine Mutation im Zusammenhang stehen können oder, anders herum, sich äußerlich ähnliche Krankheitsbilder als genetisch unterschiedlich erweisen. Außerdem sei das äußerlich erkennbare Merkmal oft nicht das eigentliche, durch den Erbfaktor hervorgerufene Merkmal.92 Gleiches gälte, so Nachtsheim, für die Medizin.93 Die Konsequenz, die sich aus der Rückführung von Krankheit auf Genwirkung ergab, war die Neubewertung von Symptomen und die Umwälzung der Ordnung von Krankheiten.94 Der Umstand, dass „wir in Zukunft selbst Gesunde nicht ohne weiteres mehr für erbgesund halten dürfen“, hatte, wie der Physiologie Otto Koehler erkannte, eine „äußerst folgenschwere praktische Bedeutung“.95 Der mendelgenetische Gesundheitsbegriff kristallisierte sich in der Kritik am GVeN. Er wurde zu einem ‚gesundheits’politischen Begriff, dem zufolge die Erbanlage das eigentliche Subjekt im Gesundheitsdiskurs war. Nachtsheim kritisierte im Erbarzt die Begriffsbestimmung im GVeN, nach der nur an einer Erbkrankheit leidende Menschen als „erbkrank“ galten.96 Die Stoßrichtung war klar: Ein Erbgesundheitsgesetz, das sich darauf beschränkt, nur erkrankte Individuen zu ste89 Genau diese Lehre machten die Gynäkologen, als nicht mehr die Unversehrtheit der geborenen Kinder oder die Histologie des Ovars, sondern die nur über die Kreuzungsanalyse erweisbare Materialität der Erbfaktoren das Zentrum des bestrahlten Körpers bildete (siehe Kapitel 5). 90 Vgl. Fischer 1930d: 15. 91 Vgl. Nachtsheim 1934k: 527; Nachtsheim 1934h: 38; Nachtsheim 1938c: 2. 92 Vgl. Nachtsheim 1934a: Seite 1. 93 Vgl. Nachtsheim 1934e: 97. 94 Zur Genetifizierung der Ätiologie und Nosologie: siehe 2.2.3. – Ein entsprechendes Problembewusstsein scheint sich in den dreißiger Jahren entwickelt zu haben (vgl. Timoféeff-Ressovsky 1935b: 113). Lenz erklärte die klinische Klassifikation für überflüssig und naturwidrig (vgl. Lenz 1934a: 251). Nachtsheim führte die Schwierigkeit seiner Epilepsieforschung auf die medizinischen Klassifikation zurück (vgl. Nachtsheim 1942e: 59). Um eine „primär genetisch gesehenen klinischen Ordnung“ ging es Panse 1939: 108. 95 Koehler 1935: 1297 96 Vgl. Nachtsheim 1934h: 38; Gütt et al. 1936: 109 bzw. Kaiser et al. 1992:126. 277 rilisieren, wird keinen Erfolg haben. Nachtsheims eugenische Mission war eine unmittelbar aus der Reformulierung der Eugenik in Termini der Mendelgenetik abgeleitete politische Programmatik. Das Ikon des rezessiven Gens – in der Silhouette des Widder-Rammlers „Fritz“ und seiner Nachkommen eingebrannt (vgl. Abb. 2) – wurde zum Kristallisationspunkt Nachtsheims Gesundheitsforschung und Popularisierungen. Der durch die Deutsche Gesellschaft für wissenschaftliche Filme m.b.H. (Degewi-Filme) 1934 produzierte Film „Erbkranke Kaninchen“, der mehrmals neuaufgelegt wurde, war ein effektiver Multiplikator dieses Ikons.97 Die Kernaussage des Films war, dass auch die äußerlich gesunden Träger einer „krankhaften Erbanlage“ – in der Tierzucht – von der Fortpflanzung ausgeschlossen werden müssten. Der Verweis auf das GVeN fehlte nicht.98 Fehler! Keine gültige Verknüpfung. Abb. 2: Ikon der mendelgenetischen Eugenik. Zwei schematische Darstellungen eines rezessiven Erbganges und des Unterschieds zwischen gesunden einerseits und äußerlich gesunden, aber erbkranken Tieren andererseits. Letztere sind Träger einer „krankhaften“ – rezessiven –Erbanlage (Allel). Das heißt, einzeln manifestiert sie sich nicht im Phänotyp, erst beim Zusammentreffen mit einem zweiten „krankhaften“ Allel (links). Das Schema der Kaninchensilhouette, in deren Zentrum sich das heterozygote Allelenpaar befindet, versinnbildlicht den Kern des Degenerationsszenarios der mendelgenetisch gewendeten Eugenik (rechts): die Konstruktion von „erbkranken, aber äusserlich gesunden“ Individuen. Quelle: Weindling 1987: 37 bzw. 38. Die Anwendung genetischer Konzepte auf die Eugenik beschränkte sich nicht auf den engeren genetischen Diskurs, sondern beschäftigte seit Anfang der dreißiger Jahre maßgebliche Kreise der Humangenetik und Rassenhygiene. Sie interessierten sich für die mendelsche Sicht auf Manifestationsschwankungen erblicher Krankheiten und ihre Bedeutung für die „Aufdeckung der in den einzelnen Individuen vorhandenen sozial wertvollen und schädlichen Dispositionen“.99 Den Rassenhygienikern war damit das ‚Problem’ der Träger rezessiver Gene völlig bewusst. Der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene, 97 Vgl. 16.9.1935, Schw/Pr., Aktennotiz, Fernmdl. Nachtsheim (BA B, R 169, 15: Bl. 90-91). 1935 geriet die Gesell. unter Verdacht, sich unter der Vortäuschung eines Hochschulinstituts (Medizinisch-Kinomatographisches Institut, in Räumen der Charité untergebracht) die freientgeltliche Mitarbeit von Univ.-mitarbeitern und staatliche Unterstützung erschlichen, die Filme aber kommerziell vertrieben zu haben. Daraus wurde die Affäre um die „bösartige Geschicklichkeit des Juden Liebermann“. 1936 wird die Gesell. in die Reichsstelle für den Unterrichtsfilm umgewandelt. (Vgl. BA B, R 169, 15.) 98 Nachtsheim 1938c: Seite 1-2 v. 4 (in: IGMH, SDNL Nachtsheim, Kasten Hered. N). Eine Kopie des Films im AMPG (Abt. VII, F 116) ist „nicht mehr auffindbar“, eine weitere ist im Bundesfilmarchiv vorhanden. In einem eigens entwickelten Trickfilmteil, durch den der Film als Lehrfilm tauglich wurde, erschien das Ikon „Fritz“ mit seiner fürchterlichen Brut (vgl. 17.5.1934, Nachtsheim an PML, in: GStA, I. HA, Rep. 87B, 20283: Bl. 383; zur Lehrfilmeignung: 25.8.1934, Nachtsheim an PML, ebd.: Bl. 385). 99 Luxenburger 1932a: 44: „Die menschliche Erbforschung, auf deren Ergebnisse die Eugenik aufbaut, kann nur bestehen in enger Verbindung mit der experimentellen Genetik“. Vgl. auch 12.2.1930, O. Vogt, Denks., Abzug (BA Ko, R 73, 169); Just 1934b (zu multipler Allelie); Just 1934a: 81; Lenz 1934b: 295; Luxenburger 1936: 36 (zu Manifestationsschwankungen); Satzinger & Vogt 2001: 458. Siehe auch 7.1.2 u. 7.3.1. 278 der „Kampftruppe für die Förderung der Rassenhygiene“,100 Ernst Rüdin, betonte die Bedeutung der Forschung zur Verbesserung der Diagnose von Erbkrankheiten, da der Kampf nicht der „einzelnen Krankheit, sondern dem, was hinter der Krankheit steckt, der krankhaften Anlage“, gelte.101 Ganz in diesem Sinne äußerte sich v. Verschuer mit kritischem Blick auf das GVeN.102 In Abstimmung mit staatlichen Stellen gehörte die Erkennung der „latenten Träger von krankhaften Erbanlagen“ und der „Teilerbträger einer polymer erblichen Krankheit“ zu den Forschungsaufgaben des KWI für Anthropologie.103 Die Ausweitungs- und Radikalisierungstendenz in der genetischen Konzeptualisierung der „Degeneration“ ist unübersehbar. Nachtsheims eugenisches Szenario, bei dem die gesamte Verwandtschaft eines erbkranken Kaninchens, unangesehen seiner erblichen Konstitution, von der Fortpflanzung ausgemerzt wurde, war ein Weg, „den wir freilich beim Menschen nicht gehen können“.104 Um auch latente Erbträger erbhygienisch erfassen zu können, musste zunächst der Weg der Forschung eingeschlagen werden. „Gelingt uns mit der Zeit auch bei rezessiven Erbleiden die phänotypische Unterscheidung der verschiedenen Genotypen, so lassen sich die rassenhygienischen Maßnahmen weit erfolgreicher gestalten.”105 Von diesem Forschungsinteresse geleitet, gelang es Nachtsheim in den vierziger Jahren, eine Blutauffälligkeit zum effektiven Instrument zu entwickeln, um rezessive Träger aufzuspüren, zu pathologisieren und der verstümmelnden Körperdisziplin auszuliefern.106 Es wäre verfehlt, diese durch die Genetik begründete Radikalisierung als ideologisch motivierte Pseudolegitimation des eugenischen Programms abzutun, der nur „pseudowissenschaftliche“ Erkenntnisse zu Grunde lägen. Das Gegenteil ist der Fall; denn die Radikalisierung war nicht der Kern der NeoEugenik. Mit dem gleichen Gestus des empirisch-analytischen ‚Rasiermessers’ und der gleichen Rhetorik einer Subjekt-losen, rein rationalen Objektivität konnte die Kritik deshalb auch einen milden Anschein annehmen, wenn aus jener Rationalität die Begrenzung der Sterilisierung folgte und Nachtsheim beispielsweise im Fall der „erblichen Blindheit“ vor voreiligen Sterilisierungen warnte.107 In der szientistischen Logik ging es aber nicht um Milde oder Härte 100 22.6.1934, H. Linden (RMI) an Rüdin (BA B, R 1501, 26245: Bl. 177-78) Rüdin 1934: 230-31 102 Vgl. von Verschuer 1941: 201. – Der Statistiker Siegfried Koller empfahl ergänzende Maßnahmen zum Ausschluss der „gesunde Überträger“ und betonte die Bedeutung der Forschung zum Erkennen von Heterozygoten (Koller 1935: 320-23). Zur weiteren Kritik am GVeN: siehe Fußn. 128. 103 1935, Fischer: Tätigkeitsbericht Juli 1933-1.4.1935 (AMPG, Abt. I, Rep. 1A, Nr. 2404: Bl. 49c). Vgl. auch von Verschuer 1941: 201. – „Das gemeinsame Ziel aller dieser Arbeiten [Promotionen zu Erbkrankheiten wie Diabetes, Säuglings-Dystrophie, Rachitis] geht auf die Klärung der Umwelteinflüsse und die Möglichkeit, auch verdeckte Krankheitsanlagen zu erkennen“ (22.6.1936, Fischer: Tätigkeitsbericht, 1.4.35-31.3.36, in: ebd., Nr. 3999: Bl. 75). 104 Nachtsheim 1934h: 37 105 Nachtsheim 1934h: 38 106 Siehe hierzu 7.4.2, Seite 358. 107 Nachtsheim berief sich auf Beobachtungen beim Tier, die zeigen würden, dass dieselben klinischen Bilder auch durch Umweltwirkungen bewirkt sein konnten (vgl. Nachtsheim 1939e; Nachtsheim 1939f). Der Hintergrund dieser Kritik war die Kontextualisierung der Gene in den Konzepten der avancierten Genetik (Genmilieu und das Verständnis von Merkmalen als Produkte einer mehrschichtigen Phänogenese), die einfache Vererbungsverhältnisse desavou101 279 einer Ideologie, sondern um die praktischen Konsequenzen, die aus der atomistisch-mechanistischen Zerlegung des Menschen in Genbausteine zu folgern waren. Den Radikalisierungsforderungen haftete deshalb eine gewisse Kühle an – die Kühle technokratischer Schlussfolgerungen. 6.1.6 Technokratisches Bewusstsein und rassenhygienisches Paradigma Die Problematik der gesunden Träger „krankhafter Erbanlagen“ war in den kurz angesetzten Beratungen zum GVeN sehr wohl mitbedacht worden. Die radikalen Schlussfolgerungen der Wissenschaft mussten allerdings – 1934 zunächst noch – durch die Politik gezügelt werden. Die Anlageträger blieben aus politisch-taktischen Gründen ausgeklammert, da die Sterilisierung äußerlich gesunder Menschen der Bevölkerung nicht vermittelbar schien.108 Das Gesetz gehorchte darüber hinaus einer eigenen Logik sozialtechnischer Regulierungsziele der Gesetzgeber. Die Kommentierung des Gesetzes und die Gesetzespraxis zeigen, dass sozial unterprivilegierte und ‚kostenintensive’ Bevölkerungsgruppen das vorrangige Ziel der Sterilisationen waren.109 Das durch die Wissenschaft zur Verfügung gestellte Wissen floss also nicht ungefiltert in die Politik oder andere gesellschaftliche Bereiche. Im Prozess seiner Implementierung unterlag das Expertenwissen Modifikationen, Anpassungen und Deformationen. Die Spannung zwischen wissenschaftlicher Legitimierung und sozialpolitischer Pragmatik löste sich aber darüber hinaus, wie die Gesetzeskommentatoren feststellten, in der Festigung des „Primat und [der] Autorität des Staates, die er sich auf dem Gebiet des Lebens, der Ehe und der Familie endgültig gesichert hat“, auf.110 Das Gesetz erweiterte insofern das staatliche biopolitische Regulierungs- und Disziplinierungsregime, dessen Legitimierung grundsätzlich an das wissenschaftlich inaugurierte rassenhygienische Paradigma gebunden war.111 Medizin und Biologie stellten Konzepte von Gesundheit – wie im Beispiel des „Erbkranken“ – und damit ein Normalisierungswissen bereit, das in den Diskurs um die sozialtechnische Regulierung der Bevölkerung einfloss.112 Die Macht der Regierung und der Verwaltung unter den Bedingungen der „Biomacht“ stützt sich nach Foucault auf den legitimen und monopolisierten Anspruch der Wisierten. Auf dem „festen Boden der Genetik“ ließen sich letztlich keine „einzelnen an sich wertvollen oder schädlichen Erbfaktoren“ bestimmen (vgl. Hagedoorn 1935: 512; siehe auch 4.2.2.1). 108 Vgl. Gütt et al. 1934: 60 u. 109; Bock 1986: 93. – Im Gegensatz dazu ermöglichte die Regelung im Gesetzentwurf des Preuss. Landesgesundheitsrates von 1932 ausdrücklich die Sterilisierung von „Anlageträgern“ (Abschrift in: Nachtsheim 1952b: 61). – 1933 wurden – der genetischen Erkenntnis über die Gefahr durch subtile Mutationen folgend – gerade die leichteren Fälle als sterilisierungsbedürftig eingestuft (vgl. Gütt et al. 1934: 117). – Die Zwangssterilisation stieß in der Bevölkerung (außerhalb der Anstalten) auf Widerspruch (vgl. Rothmaler 1991: 166 u. 177ff.; Anm. 138). Besonders heikel war die Sterilisierung bei Körperbehinderungen, wenn Therapiemöglichkeiten bestanden (vgl. Thomann 1994: 213). „Das Volk“ verstehe nicht die genetische Logik hinter solchen Maßnahmen (2.7.1941, Fischer an v. Verschuer, in: UAM, NL v. Verschuer, Nr. 9). 109 Vgl. Schmuhl 1987: 157; Rothmaler 1991: 130. 110 Vgl. Gütt et al. 1934: 5. 111 Vgl. Schmuhl 1987: 46 u. 70-71; zu Nationalsozialismus und Biopolitik, vgl. Foucault 1999a: 300-01. 280 senschaften auf Wahrheit.113 Die „Biomacht“ stützt sich auf wissenschaftlich legitimierte Normen.114 Auf die Wissenschaft gewendet, bedeutet das, dass die Produktion von (techno-sozialen) Normen und ihr Transfer zu einer wesentlichen Tätigkeit des Wissenschaftsbetriebs werden. Der – bruchlose – Transfer des wissenschaftlichen Wissens und der aus ihm entwickelten Techniken in andere gesellschaftliche Bereiche ist auch als Technokratie gefasst worden.115 Technokratie meinte insbesondere die Ausrichtung politischen Handelns an den Zwängen der Logik des wissenschaftlich-technischen Fortschritts.116 Sozialdarwinismus und Rassenhygiene sind in diesem Sinne als die Anwendung der instrumentell-objektivierenden Vernunft auf soziale Bereiche, sprich als Sozialtechnik, gedeutet worden.117 Das heißt, an die Stelle des intersubjektiven Bezugs auf Normen und Werte tritt der ‚objektive’ Sachzwang des Fortschritts der technischen Verfügungsgewalt. An die Stelle von Richtigkeit tritt ‚Wahrheit’ bzw. Objektivität. Der neuen Legitimationsform von Machtpraktiken entspricht ein „technokratisches Bewusstsein“, dessen Kern die Eliminierung des Unterschieds von Praxis und Technik ist.118 Ohne über die Manifestierung einer technisch-operativen verwaltenden Herrschaftsform in der Bildung und Ausführung des GVeN hier befinden zu wollen, lässt sich doch zumindest die Performanz der wissenschaftlichen Rede als „technokratisches Bewusstsein“ genauer charakterisieren. Weiter oben ist darauf hingewiesen worden, dass sich in den Forderungen der Genetiker die gesellschaftliche Praxis als direkter Ausfluss wissenschaftlichen Wissens darstellte und die Elimination des praktischen Diskurses widerspiegelte. Moralische Fragen stellten sich nicht. Die widerspruchslose und selbstverständliche Akzeptanz des GVeN in der scientific community der Genetik – auch über Deutschland hinaus – steht damit in Einklang.119 Widerspruch wurde innerhalb der Dichotomie von wissenschaftlicher Rationalität und Pseudowissenschaft als 112 Zur Charakterisierung der medizinischen und biologischen Leitdiskurse, vgl. Link 1999: 80, 227 u. 277ff.; zum Zusammenhang von Normalisierung u. Gesundheit, vgl. Hess 1997; Sohn, Mehrtens 1999; Hess 1999; zu „Medizin als Macht-Wissen“, vgl. Lemke 1997: 138 u. 234ff.. 113 Foucault 1992: 122 u. 42; vgl. Lemke 1997: 328-31. – Mit „Biomacht“ bezeichnet Foucault die Form der Machtausübung, die auf die Kontrolle von „Bevölkerung“ abzielt (vgl. ebd.: 134). 114 Wissenschaftliches Wissen ermöglicht Machttechnologien zur Disziplinierung des Körpers und Regulierung der Bevölkerung, welche die Machtausübung durch das Gesetz tendenziell durch die Regierung der Norm ersetzen. Disziplin und Regulation sind durch die Norm verknüpft (vgl. Foucault 1999a: 289 u. 292-93). Der Weg für diesen technologischen Szientismus wurde durch die Trennung von Normalität und Normativität im 19. Jahrhundert frei gemacht (vgl. Schuller 1999: 124). 115 Der Begriff steht in einer Traditionslinie soziologischer und gesellschaftstheoretischer Entwürfe, welche die wachsende strukturierende und konstitutive Rolle wissenschaftlicher Rationalität für die gesellschaftliche Praxis, Ordnung und Herrschaftsform in modernen Gesellschaften thematisieren. Gemeinsam ist ihnen die Beobachtung, dass seit Ende des 19. Jahrhundert die wissenschaftlich-technische Zweckrationalität, angefangen mit der Verwissenschaftlichung der Technik, alle gesellschaftlichen Bereiche erfasst (vgl. Habermas 1968: 79-80; vgl. auch Marcuse 1970: 169-70; Stehr 1994: 420ff.). 116 Vgl. Schelsky 1965: 453. 117 Vgl. Weingart et al. 1992: 161ff.. 118 Habermas 1968: 88 u. 91. 119 Der Wiener Vererbungswissenschaftler Julius Bauer ist meinem Wissen nach die einzige kategorisch ablehnende Stimme. Er berief sich auf interne wissenschaftliche Gründe und kritisierte die deutsche Wissenschaft im Ganzen (vgl. Bauer 1934; Bauer 1935). 281 irrational abklassifiziert. Irritationen traten nur an den Stellen auf, wo die politische Umsetzung nicht aus der wissenschaftlichen Erkenntnis herleitbar erschien. Diese technokratische Struktur offenbarte sich in Aussagen, wie der, dass „alle politischen, weltanschaulichen und religiösen Dogmen, welche [den] von Pflanze und Tier abgeleiteten Grundsätzen der Natur widersprechen, falsch und schädlich sind".120 Das Beispiel Nachtsheim zeigt, dass zur Rolle des Experten ein unpolitisches Selbstverständnis gehörte.121 An die Stelle der Politik trat im technokratischen Bewusstsein Verwissenschaftlichung. In diesem typischen Selbstverständnis von der ‚Wertfreiheit’ der eigenen Tätigkeit gründete die Selbstverständlichkeit im Anspruch auf unmittelbar politischen Zugang.122 Hinter dem technokratischen Selbstverständnis und der Performanz des Wissenschaftlers als bloß unpolitischer Treuhänder ‚wahren Wissens’ kann sich die Verschleierung der Funktion von Wissen in modernen Gesellschaften vollziehen.123 Auf diese Weise erschienen die sozialtechnischen Handlungsimperative der Eugeniker als interessenloser und wertneutraler Ausfluss wissenschaftlicher Erkenntnis. Die opake Verknüpfung von Rechtfertigung und Wahrheit (resp. Objektivität) ereignete sich mit der Benennung des epistemologischen Status der mendelschen Erbregeln. Alle Maßnahmen für die „Erbgesundheit und Rassereinheit“ basierten nach Fischer auf der absoluten Sicherheit der Erkenntnisse der naturwissenschaftlich-medizinischen Forschung; ihre Gültigkeit sei so groß, dass „wir (im biologischen Sinne des Wortes) von Gesetzen sprechen müssen“.124 Dennoch hatte die Rede Otto Renners vom „Glauben“125 der Genetik ihre Berechtigung. Gemeinsam ist der Unterscheidung einer technokratischen und einer ideologischen Teilhabe an der gesellschaftlichen Praxis, dass sie mit der Annahme vereinbar sind, bei der Wissenschaft handele es sich tatsächlich um eine eigene gesellschaftliche Sphäre objektiven Wissens. Diese Arbeit teilt die Auffassung, dass der „Schein des Objektivismus“126 nicht nur auf die Interessen- und Wertfreiheit von Theorie zutrifft, sondern umfassender auf die wissenschaftliche Praxis angewendet werden muss. Die empirische Geltung von Aussagen wird beispielsweise innerhalb eines sozialen Raums wissenschaftlicher Aktion und Kommunikation hergestellt.127 Die deutschen Spezialwissenschaften 120 Rüdin nach Nachtsheim 1934b: 1173 Vgl. 1.1. Dies widerspricht in gewissem Sinne der Harwoodschen Unterscheidung zweier Denkstile in der deutschen Genetik, nach der sich die Gruppe pragmatischer Genetiker durch die Bereitschaft zur Politisierung auszeichnete (vgl. Harwood 1993: 189, 269-70 u. 306). Die Politiknähe scheint unter der Kategorie des technokratischen Bewusstseins nur von beschränktem diskriminatorischen Wert. Vielmehr ähnelten sich Pragmatiker und Mandarine in dem Verständnis, dass die Anwendung der Wissenschaft auf Gesellschaft fundamental unpolitisch war. Dies zeigte auch das Beispiel der ‚anwendungsfernen’ Forschung Kühns, der durchaus eine Instrumentalität inhärent war, auch wenn Kühn nicht so sehr zur Rolle des Experten neigte (vgl. 4.2.1). 122 Vgl. Mehrtens 1990: 41, 47 u. 53; Szöllösi-Janze 2000: 49. 123 Insofern in der Fetischisierung der Wissenschaft ein allgemeines, emanzipatives Interesse verschleiert wird, kann das technokratische Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft auch als ideologisch begriffen werden (vgl. Habermas 1968: 88-89). 124 Fischer 1940: 247-48 125 Vgl. Zitat auf Seite 271, Fußn. 68. 126 Habermas 1968: 149 127 Vgl. zum Beispiel Fleck 1994: 54. 121 282 entschieden demnach kollektiv gemäß ihrem Denkstil über die Erblichkeit bestimmter Krankheiten und die Wissenschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit des GVeN.128 Nachtsheim repräsentiert den Prototyp eines „technokratischen Bewusstseins“ und des unpolitischen Forschers, dessen Verpflichtung und einziger Glaube die Wissenschaft war. Neben dieser technokratischen Form der Verwissenschaftlichung koexistierte die ‚traditionelle’ Verankerung des rassenhygienischen Paradigmas. Der Humangenetiker v. Verschuer zum Beispiel verwechselte nicht den kategorialen Unterschied zwischen eugenischer Sozialtechnologie129 und Legitimität von Handlung. Er begründete seine eugenische Sicht nicht allein im nomologischen Selbstverständnis der empirisch-analytischen Wissenschaft, sondern in letzter Instanz ethisch und ideologisch.130 Während Nachtsheim 1952 bereits wieder eugenische Sterilisationen forderte und ungebrochen auf das Problem der rezessiven Erbträger hinwies, verfiel v. Verschuer in Sinnfragen.131 128 Kritik zur praktischen Nutzlosigkeit der eugenischen Sterilisierung stellte keinen innerwissenschaftlichen Widerspruch dar. Die Eigenschaft einer solchen immanenten Kritik war es eher, dass sie schnell in ihr Gegenteil umschlug. Bspw. Kritisierte der amerikanische Genetiker Reginald C. Punnet die eugenische Sterilisation wegen ihrer geringen Wirksamkeit. Populationsgenetischen Berechnungen nach brauchte es Hunderte von Generationen, bis Krankheitsinzidenzen deutlich gesenkt wären (vgl. Punnet 1917; Weingart et al. 1992: 340; Kevles 1995: 165). Die Rechnung wurde aber ‚erfolgreicher’, wenn die „verdeckten Erbanlageträger“ rechnerisch in die Sterilisation mit einbezogen wurden. Nach Kroll erwies sich gerade darin die Schwierigkeit der Kritiken an der Rassenhygiene, dass sie dieselben szientistischen Überzeugungen teilten (vgl. Weingart et al. 1992: 315 u. 535). – Den deutschen Genetikern war bewusst, dass das GVeN unzureichend war. Ihre Zustimmung war ein ‚wissenschaftlicher’ Kompromiss mit den staatlichen sozialtechnischen Interessen. Aus der Kritik, das GVeN sei „ein Schlag ins Wasser“, ergab sich für Luxenburger zum Beispiel bloß weiterer Forschungsbedarf zur Erfassung der rezessiven Erbträger (vgl. Luxenburger 1936: 33 u. 36; vgl. auch Koller 1935: 320-23). 129 Vgl. Weingart et al. 1992: 143. 130 Als praktizierender Christ war v. Verschuer von anderen Sinnhorizonten berührt und in moralische Diskurse eingebunden. Ärztliches Handeln betrachtete V. unter der Perspektive der Individualethik. In der ärztlichen Heilkunst solle der Gegensatz von Individuum und Allgemeinem vereinigt werden. Diese Nivellierung ergab sich daraus, dass die Eugenik für mehr individuelle Menschen die Verantwortung übernehme und ihr damit die Priorität zufalle. Folglich konnte das Wohl des lebenden Menschen“ unter das „kommende[r] Geschlechter“ gestellt werden (von Verschuer 1931a: 935). V. fand nach 1933 den Anschluss an ein organizistisches Staatsverständnis und die nationalsozialistische Ideologie, nach der der Gegensatz vom Einzelnen und Allgemeinen in der kompromisslosen Unterwerfung des Einzelnen als Glied übergeordneter Ganzheiten – „Familie, Rasse und Volk“ – aufgelöst wurde (von Verschuer 1934). Im theologischen Diskurs wurde Erbkrankheit als Ausdruck des Bösen oder einer gestörten Naturordnung konnotiert (vgl. Schleiermacher 1986: 79; Schleiermacher 1998: 235, 265 u. 281). 131 Vgl. Nachtsheim 1950c bzw. Nachtsheim 1952b: 51. Nachtsheim betonte, dass das GVeN frei von jeder Ideologie sei und entrüstete sich über Bundestagsabgeordnete, die seiner Meinung nach nicht sachlich urteilen konnten, weil sie (partei-)politisch oder konfessionell dachten (vgl. Nachtsheim 1963b: 115-16). – Verschuer besann sich nach 1945 zunächst auf den Glauben. Bemerkenswert ist, wie zielsicher V. den Widerspruch zwischen Individual- und Ethik der „Ganzheiten“ benannte und seine Ursache in der technokratischen Rationalität eines rein naturwissenschaftlichen Menschenbildes erkannte. (v. Verschuer: „Aber wir müssen Ernst machen der rationalen Betrachtung des Lebens. [...] Als Darwinist würde man sofort die Erklärung bei der Hand haben; [...] Was dann für die verstandesmäßige Betrachtung übrig bleibt, ist eben ein Haufen von kränklichen, mißgestalteten, körperlich und geistig defekten Menschen, [...] Wie ganz anders ist demgegenüber die Betrachtung des Menschen, wie sie uns Christus gelehrt hat. [...] So hat sie aus dem „Sauhaufen“ eine Gemeinde von seligen und gläubigen Menschen gebildet, die über alle Mängel des Lebens hinwegsehen und auch in der tiefsten Not 283 Abschließend kann festgestellt werden, dass Nachtsheim – und die Genetiker insgesamt – sich am biopolitischen Interdiskurs rege beteiligten und die Möglichkeiten der Forschungspolitik nach 1933 ohne Zögern wahrnahmen. Ihre Zustimmung zur Erbgesundheitspolitik manifestierte sich nicht zuletzt im selbstzufriedenen Schweigen über die Anerkennung der Relevanz des genetischen Wissens. Die restriktive Selbstdefinition der Disziplin und die szientistische Haltung vieler ihrer Protagonisten bedingte eine Interessenpolitik, die politische und moralische Erwägungen ausblendete. Die avancierte Genetik hatte es geschafft, den rassenhygienischen Diskurs zu dominieren.132 Die Folge davon war, dass sie zu seiner Radikalisierung beitrug. 6.2 Die Genetifizierung der Epilepsie und die vergleichende Erbpathologie in der Praxis „Niemals zuvor in der deutschen Geschichte waren wissenschaftliche Funktionseliten 133 dem Zentrum der Macht so nahe...“ Nachdem die Selbst-Indienststellung der Genetik dargestellt worden ist, soll es darum gehen, wie dem durch die „Erbgesundheitsgesetze“ geweckten Bedarf an vererbungsbiologischer Expertise entsprochen werden konnte. Nachtsheim, dessen Experimentalkomplex von nun an zwischen allgemeiner Erbpathologie und erbbiologischer Anwendungstechnik oszillierte, orientierte sich bei der Auswahl seiner Forschungsgegenstände am Indikationskatalog des GVeN.134 Insbesondere wurde die Epilepsie zum geeigneten Testfall der vergleichenden Kaninchengenetik. Es zeigt sich aber, dass Nachtsheims Experimentalkomplex erst Ende der dreißiger Jahre auf die Probleme der „vergleichenden Erbpathologie“ festgezurrt wurde. Wissenschaft und Medizin hatten eine entscheidende Rolle in der inhaltlichen Ausgestaltung des GVeN gespielt. Die Gesetzespraxis war nun auf die Möglichkeit angewiesen, „Erbkrankheiten“ zu diagnostizieren. Eine verlässliche Diagnostik setzt prinzipiell die richtige Klassifikation von Krankheitszeichen und Befunden voraus. Es muss also ein Reglement entwickelt werden, wie Zeichen gesammelt und Testergebnisse erstellt und bewertet werden, um einen „Fall“ einer spezifischen Krankheit zuordnen zu können. Die medizinische Wissenschaft nahm den unausgesprochenen Auftrag des Gesetzes an. Am Beispiel der Diskussion um die Epilepsie lässt sich dies exemplarisch zeigen. Bei genauerem Hinsehen enthüllt sich darüber hinaus, dass sich die Klassifikation der Epilepsie in einem diffusen, noch flüssigen Zustand befand, nicht geeignet, den formalen Anforderungen eines solchen Gesetzes gerecht zu werden. und im größten Leid glücklich sind [...].“) Verschuer ermunterte de Rudder zu grundsätzlichen Gedanken über „Besinnung auf Grenzen des Rationalen“, da „die Grundmauern unseres Lebens insgesamt erschüttert sind“. Trotz „Bankerott der Eugenik“ sei ihr aber noch ein bescheidener Platz in der Medizin gesichert. (4.12.1945, v. Verschuer an de Rudder, in: UAM, NL Otmar v. Verschuer, Nr. 8: S. 2-3 v. 4 ) 132 Vgl. Weingart et al. 1992: 556. 133 Schmuhl 2001b: 188 134 Vgl. Nachtsheim 1939c: 413; Nachtsheim 1941b: 261. 284 Jenseits der Praxis des GVeN und der Interessenidentität zwischen Psychiatern und Gesundheitspolitik entwickelte der psychiatrische Diskurs eine eigene Dynamik. Zwischen staatlichen Erwartungen, Forschungsstand, eigenen Forschungsinteressen, ärztlichem Ethos und den Anforderungen des wissenschaftlichen Betriebs konstituierten sich die Handlungsmöglichkeiten. Die epistemologische Frage, wie die „erbliche Fallsucht“ überhaupt hergestellt wurde, ist nicht eindeutig vom moralisch-politischen Diskurs zu trennen. 6.2.1 Genetifizierung der („)Epilepsie(“) Für Menschen, die an Epilepsie litten, bedeutete das GVeN, dass ihre Krankheit sie in die Gefahr brachte, zwangsweise operativ sterilisiert zu werden. „Erbliche Fallsucht“ war nach §1(2) eine der acht Bestimmungen, nach denen eine Person „nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft“ (§1(1)) als „erbkrank“ einzustufen war. Eine Besonderheit der Gesetzeskonstruktion war, dass Ärzte Richter, Ankläger und Sachverständige in einem waren. Als Wissenschaftlern stellte sich ihnen umso mehr die praktische Frage, wie erbliche und nichterbliche Formen einer Krankheit „einwandfrei“ unterschieden werden konnten. Ein aussagekräftiges Diagnoseverfahren musste zwischen Ansprüchen des akademischen Reglements und der praktischen Durchführbarkeit vermitteln. Die psychiatrische Wissenschaft war Vorreiterin in der Anwendung von Vererbungskonzepten in der Medizin. Anfang der dreißiger Jahre war zum Beispiel die Auffassung weitgehend Konsens, dass die Schizophrenie eine erbliche Krankheit sei.135 Die Diskussionen über die ökonomische wie degenerative Bedrohung durch Geisteskranke, Epileptiker oder Schwachsinnige, war einer der Katalysatoren in der Weimarer Republik, die die Hegemonie rassenhygienischer Interpretationsmuster im politischen und kulturellen Diskurs und die Ausbreitung sozialtechnischer Handlungskonzepte beförderten.136 Das Bild, das die Fachdiskussion um die „erbliche Fallsucht“ indes bot, steht im krassen Gegensatz zu der Feststellung der Gesetzeskommentatoren: „Der erbwissenschaftlichen Erforschung der Krankheit gelang es, aus der großen Anzahl von Krankheiten, bei denen der epileptische Anfall als Gelegenheitsereignis betrachtet wird, ein geschlossenes Krankheitsbild [der erblichen Epilepsie] herauszuheben [...] Diese Form der Epilepsie, gleichgültig, ob sie als genuine, essenzielle usw. Epilepsie bezeichnet werden mag, zeichnet sich dadurch aus, daß sie erblich ist. Sie soll durch das Gesetz erfasst werden.“137 Dieser optimistischen Ansicht widerspricht die Feststellung, dass die Diagnosestellung oftmals spekulativ war oder anderen Interessen folgte.138 Tatsächlich war noch 135 Vgl. Roelcke 2002: im Erscheinen. Die Psychiatrie war es auch, die insgesamt unter der Belastung von Verbrechen an Geisteskranken steht (vgl. Baader 2002: 218-19). 136 Vgl. Siemen 1991: 196-99. 137 Gütt et al. 1936: 140 138 Auf die Durchführungspraxis des Gesetzes kann nicht näher eingegangen werden. Wichtige Aspekte seien aber kurz aufgezählt: Rothmaler (1991) zeigt am Beispiel der Erbgesundheitsrechtssprechung in Hamburg, dass der größte Teil der Indikationen „Schwachsinn“ aufführte. „Erbliche Epilepsie“ dagegen spielte wie andere Diagnosen auch eine deutlich untergeordnete Rolle (12 % der Beschlüsse der Erbgesundheitsgerichte (EEG)). Die Untersuchung der Begründungen der Diagnosen und der sozialen Merkmale der verurteilten Personen zeigt die spekulative Basis der Diagnosen. Zum Beispiel beurteilten verschiedene EEGs denselben „Fall“ völlig 285 nicht einmal das Krankheitsbild der Epilepsie gegenüber anderen psychiatrischen oder neurologischen Erkrankungen klar abgrenzbar. Psychiater und Kliniker sprachen von den „Anfallsleiden“ und „Krampfleiden“, die alle Krankheitsbilder umfassten, denen als besonderes Symptom der „Krampfanfall“ zukam. Krampfanfälle waren aber nicht im Geringsten ein einheitliches Gebilde.139 Bei der Diagnose kam es auf subtile Feinheiten an; doch die zur Verfügung stehenden Methoden waren alles andere, als was von ihnen erwartet werden musste: „[...] mit größter Genauigkeit [zu] funktionieren, da der Arzt bei ihrer Anwendung und Auslegung in vielen Fällen vor der heiklen Situation steht, einen sich bisher vielleicht vollkommen gesund fühlenden Menschen zum Epileptiker [...] zu stempeln, in anderen Fällen vielleicht einen sich krank Fühlenden aber als gesund erklären zu müssen.“140 Ein sicherer Test, der die Diagnose Epilepsie bei einer ambulanten Untersuchung gestattete, war deshalb schon länger gesucht. Er sei für die neurologische Gutachterpraxis und auch „in Bezug auf Ersparnis an öffentlichen Mitteln [...] von größter Bedeutung“. Das Gleiche galt für die Unterscheidung von „erblicher“ und nichterblicher Epilepsie, die mit Verabschiedung des GVeN zur vorrangigen Aufgabe der Forschung wurde. Die Unterscheidung und ihre Geschichte spiegelt sich in dem Begriffspaar „genuine“ und „symptomatische“ Epilepsie wider. Die Geschichte der Bedeutung und diskursiven Verwendung dieser Begriffe ist wechselvoll. Sie kann hier nur so weit skizziert werden, um ein Schlaglicht auf den gewandelten Stellenwert der Vererbung in der Epilepsieforschung zu werfen. Die Unterscheidung in symptomatische und genuine Epilepsie wurde von dem Anatom Nothnagel in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts eingeführt. „Genuin“ bezeichnete demnach noch Anfang der zwanziger Jahre solche Fälle, denen keine äußere Ursache zuzuordnen war. Die Auffassungen gingen dahin, dass die Epilepsie durch äußere Irritationen oder Traumen ausgelöst werde und es für alle epileptischen Krampfanfälle auch eine anatomische Ursache gäbe. Die Kategorie „genuine Epilepsie“ war insofern ein temporäres Aufunterschiedlich (vgl. ebd.: 127). Die EEGs bemühten nur zu einem Drittel medizinisch-naturwissenschaftliche Argumente. Die Mehrzahl der Beschlüsse stützte sich auf Mischbegründungen, in die über die engeren Kriterien hinaus soziale, rassistische, strafrechtliche, moralische und diffuse Sippenkriterien einflossen (vgl. ebd.: 134-37). Das GVeN stellt sich als sozialtechnisches Werkzeug das. Die EEGs bestätigten bei Personen aus der „Unterschicht“ zu 95,1 % die Anträge auf Sterilisation, bei solchen aus der „unteren Mittelschicht“ nur zu 84 % (vgl. ebd.: 130). Der weitaus größte Teil der Sterilisationsanträge betraf Personen, die sich im unmittelbaren Zugriffsbereich der Sterilisationsmaschine befanden: in Anstalten, Fürsorgeeinrichtungen etc. Aber auch der tüchtige ‚Volksgenosse‘ von Nebenan wurde zum Ziel der gerichtlichen Untersuchungen. Dass ihm ein Klinikaufenthalt zur Diagnosefindung zugemutet werden musste, der sich im Nachhinein wohl möglich als ungerechtfertigt herausstellte, war ein ökonomisches (Krankenkassen sollte zahlen) und politisches Problem, da nicht zuletzt solche Maßnahmen in der Bevölkerung Unruhe hervorriefen. Diese Problematik betraf besonders die „erbliche Epilepsie“. 139 Krampfanfälle unterschieden sich im Ablauf, Umfang, in der Stärke und den begleitenden Zeichen. Sie konnten durch Traumen oder platzfordernde Prozesse im Gehirn, wie Tumorwachstum, verursacht sein oder traten im Zusammenhang mit einer anderen psychiatrischen Erkrankung auf. Die klinische Diagnose wurde dadurch erschwert, dass ein Krampfanfall oftmals lange zurücklag und über ihn nur aus zweiter oder dritter Hand berichtet wurde. ‚Patienten’ wurden deshalb vielfältige Untersuchungen und zweifelhafte Klinikaufenthalte zugemutet, um einen erneuten Anfall abzuwarten; doch nicht selten blieben sie die einmalige Ausnahme im ganzen Leben. 140 Hier und nachfolgend : Hoyer 1937: 541 286 fangbecken für Epilepsiediagnosen, die noch nicht als „symptomatisch“ spezifiziert werden konnten; denn die mangelnde Sensitivität und das geringe Auflösungsvermögen der Methoden und Techniken, so hieß es, verhinderten, dass auch die kleinsten anatomischen Veränderungen aufgespürt werden konnten.141 Im Laufe der zwanziger Jahre unterlag der Begriff „genuine Epilepsie“ einer schleichenden Veränderung. Die Diskussion um die Epilepsie geriet unter den Einfluss des Erbparadigmas.142 Die „genuine Epilepsie“ verlor ihre Vorläufigkeit im Bezug auf die pathoanatomische Lokalisation und stand nun für den starken Anspruch einer erblichen Ätiologie. Um überhaupt die Vererbung der Epilepsie nach mendelgenetischem Muster vertreten zu können, mussten mehrere beteiligte Gene angenommen werden.143 Vor allem aber dominierten statistische und genealogische Untersuchungen die Erblichkeitsforschung. Die Unmöglichkeit, eine einfache mendelsche Vererbungsanalyse durchzuführen, wurde immer wieder mit der Verwirrung in der klinischen Klassifikation der Krampfleiden in Zusammenhang gebracht. Es ist bemerkenswert, wie trotz oder gerade durch das Eingeständnis des „Noch-nicht-Wissens“ und den Verweis auf weiteren Forschungsbedarf die Annahme eigenständiger biologischer und erblicher Entitäten sich zum unbestrittenen Axiom verfestigte – ein wiederkehrendes Muster in der psychiatrischen Forschung gegen Ende der zwanziger Jahre.144 Als Einschnitt in der Debatte erwies sich 1935 ein Vortrag über Zwillingsuntersuchungen von Klaus Conrad aus dem Rüdinschen Institut auf der Jahrestagung der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater.145 Seine Zwillingsstudien schienen alle Zweifel an der Erblichkeit der Epilepsie auszuräumen.146 Die Theorie der pathoanatomischen Lokalisation geriet zusätzlich unter Druck, da nun vermehrt angezweifelt wurde, dass die hirnanatomischen Befunde die Ursache der Krampfanfälle und nicht vielmehr ihre Wirkung widerspiegelten.147 Nach 1935 wurde in der deutschen Psychiatrie nicht mehr bestritten, dass es erbliche Epilepsien gibt. Doch welche Formen der Epilepsie darunter zu 141 Diese Theorie der pathoanatomischen Lokalisation erfuhr durch die zahllosen Kopf- und Hirnverletzten des ersten Weltkriegs Auftrieb. (Zur Wechselwirkung von Krieg und Psychiatrie, vgl. Kaufmann 1999: 132.) 142 Vgl. Koch 1955: 2-3. Binswanger hatte schon 1913 vom wesentlichen Einfluss einer „neuropathischen Konstitution“ bei der Epilepsie gesprochen. Erst spätere Arbeiten gaben den Impuls zu neuer Orientierung. Reichardt wies 1923 vom klinischen Standpunkt auf „dispositionelle Faktoren“ beim Krampfgeschehen hin. Foerster stellte vier kooperierende Faktoren zusammen: irritative Noxen (Krampfreize, darunter heredodegenerative Faktoren), erhöhte Krampfbereitschaft, akzidentelle Faktoren, durch den Anfall selbst geschaffene (iktogene) Faktoren (in: „Pathogenese des epileptischen Anfalls“, Z. Neur., 94, 1926: 15-53). Auch die Konstitutionsforschung der Kretschmerschen Schule deutete die Epilepsie als Erbkrankheit (Friedrich Mauz 1927 u. 1930). 143 Ernst Rüdins Auffassung wendete sich 1924 gegen Ansichten, dass die Epilepsie ein einfaches rezessives Erbleiden sei (Davenport) (vgl. Rüdin 1924: 369). Er forderte, Art und Grad der erblichen Bedingtheit der Epilepsie auf statistischem Wege festzustellen. 144 Vgl. Kaufmann 1998: 354-55. 145 Vgl. Conrad 1936. Weitere Berichte erschienen in Z. Neur., 153, 1935, 155 u. 1936, 159, 1937. Auf diese Arbeit stützte sich maßgeblich der Kommentar des GVeN in der 2. Auflage (vgl. Gütt et al. 1936: 140). 146 Vgl. z.B. Ewald 1936: 1131. 147 Braunmühl aus Eglfing-Haar meinte z.B., dass alles, was am Gehirn gefunden werden könne, „nichts, aber auch weiter nichts, als eine Anatomie von Krampfschäden“ sei (v.Braunmühl 1938: 308). 287 zählen waren, blieb die große Frage. Einerseits wurde angenommen, dass die erbliche Form streng von allen anderen Krampfkrankheiten zu unterscheiden war.148 Andererseits wurde der innere Zusammenhang zwischen den „Spielarten“ der Epilepsie so weit gefasst, dass kein Unterschied mehr zwischen erblicher und nicht-erblicher Epilepsie gemacht wurde.149 Diese Auffassung wurde durch einen neuen Begriff vermittelt, der das antiessenzialistische Broussaissche Prinzip auf die Epilepsie anwandte. Demnach lagen der Epilepsie eine allgemeine Krampffähigkeit und eine spezifische Krampfbereitschaft des Organismus zu Grunde. Die Epilepsie konnte dann als ein Kontinuum verstanden werden – von einer anfänglich nicht existierenden Krampfbereitschaft bis zu einer sehr starkem am Ende. „Die Konstitution am Ende aber, die von sich aus, ohne besondere von außen kommende Reize, gesetzmäßig epileptische Zustände erzeugt, nennen wir genuine Epilepsie.“150 Das Konzept der Krampfbereitschaft weichte den essenziellen Unterschied zwischen „gesund“ und „krank“ sowie symptomatischer und genuiner Epilepsie auf. Aus einer Melange von Konzepten und Empirie ging die Vorstellung hervor, dass jede Art von epileptischer Erkrankung einen erblichen Anteil besaß.151 Die Entwicklung ging so weit, dass nun „symptomatische Epilepsie“ zum Chiffre der Vorläufigkeit wurde. Die verschiedenen klinischen „Phänotypen“ der Epilepsie wurden über die erbliche Ätiologie mit einander verbunden, indem die klinischen Abweichungen als akzidentielle Unterschiede in der Manifestation oder im Grad der Ausprägung auf hinzukommende erbliche Faktoren zurückgeführt wurden. Hinter einer „symptomatischen Epilepsie“ lauerte bereits der „erbliche Anteil“. „Epilepsie“ wandelte sich von der Bezeichnung für ein Symptom zu einer vermeintlich eng gefassten Krankheitsentität: „Erbliche Fallsucht“. Mit dieser Annahme nahm die Auffassung zu, dass die Epilepsie ein „eugenisches Problem“ sei.152 148 Vgl. Pohlisch 1940: 9-10. Der Bonner Psychiater Kurt Pohlisch benutzte die Bezeichnung „Epilepsie“ nur noch für erbliche Anfallsleiden (vgl. Pohlisch 1938: 271). – Einige Autoren gingen von verschiedenen „Spielarten“ der erblichen Epilepsie aus. Klaus Conrad beschrieb die Epilepsie unter dem Begriff des „Erbkreises“ (Conrad 1939a: 1009-11). – Luxenburger fasste den „Erbkreis“ als „familienpathologischen“ Begriff. Da die Mitglieder einer „Sippe“ sich im Genotypus mehr oder weniger von einander unterschieden und die Gene in Wechselwirkung mit einander standen, mussten sich auch die Bilder der Krankheit in der Familie von einander unterscheiden; trotzdem hingen sie genotypisch mit einander zusammen, bildeten sozusagen einen genotypischen Kreis (vgl. Luxenburger 1939: 850). 149 Das Verhältnis von erblichen und nichterblichen Formen der Epilepsie stellte sich Rüdin als ein Kontinuum vor, auf dessen einem „Pole die stark erblich bedingten, am anderen die schwach oder nicht erblich bedingten Epilepsien sich befinden, mit allen Gradabstufungen auf der zwischen den Polen befindlichen Verbindungslinie“ (Rüdin 1924: 377). 150 Oswald Bumke (Univ.-Nervenklinik, München) 1936 zit. in Geyer 1937: 79. – Dem entgegen standen Auffassungen, wie sie Friedrich Mauz (Univ.-Nervenklinik, Königsberg) vertrat, die von einer festen „iktaffinen Konstitution“ der Epilepsie ausgingen. – Siehe auch 8.1.2. 151 Vgl. Stauder 1938b: 341: „Die Pathogeneseforschung kann immer nur Teilaufgaben aus der Problematik der Krampfkrankheiten lösen. Immer bedarf sie der Annahme weiterer, konstitutioneller Faktoren, m.a.W. einer genischen Unterbauung. Das wird von vielen, vor allem ausländischen Autoren übersehen, die nur die symptomatische Einmaligkeit des Einzelfalles gelten las“ sen wollen. [...]. 152 Stauder 1938a: 332. Demgegenüber hätte im Ausland die Frage nach der Erblichkeit der Epilepsie keine vergleichbare Bedeutung erlangt. Ausländische Forscher sähen nur die symptomatische Epilepsie und hätten das eugenische Problem aus den Augen verloren. 288 6.2.2 Diagnose der „erblichen Fallsucht“ Im Diskurs um die Epilepsie waren bis 1934 differenzielle Symptomatologien im Hinblick auf diagnostische Tests wenig beachtet worden. Kaum war das GVeN in Kraft getreten, fielen aber erste bedenkliche Bemerkungen bezüglich der Diagnose der „genuinen Epilepsie“. Auf einer Königsberger Psychiatertagung 1934 berichtete einer der Vortragenden, dass er mehrfach Patienten, die schon „jahrelang als genuine Epileptiker gingen“, eine symptomatische Epilepsie hatte bescheinigen müssen. Im „Hinblick auf das Sterilisierungsgesetz“ sei es deshalb angebracht, Röntgenstrahlen einzusetzen, um besser neurologische Ursachen enthüllen zu können.153 Was für diesen Neurologen die Röntgenstrahlen waren, war für andere das Elektrokardiogramm, die Encephalographie oder verschiedenste, oftmals anderen diagnostischen oder therapeutischen Zusammenhängen entlehnte physiologische Tests. Die Herausforderung bestand aber nun darin, dass es nicht reichte, Auffälligkeiten aufzufinden und Erblichkeit nur auszuschließen. Das Gesetz bedingte, dass das Instrumentarium eine Differenzialdiagnose der Erblichkeit ermöglichen musste. Dies setzte notwendige oder spezifische Zeichen voraus. Auf der Tagung der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater 1935 in Dresden, auf der Conrad den erwähnten Vortrag hielt, standen erbpathologische Themen im Vordergrund. Der Epilepsie galt das Hauptaugenmerk. Immer wieder wurde die differenzialdiagnostische Absicherung der Diagnose „erbliche Epilepsie“ problematisiert. Der Zusammenhang zwischen GVeN und dem Druck, einwandfreie Diagnosen gewährleisten zu können, war unüberhörbar.154 Eine gewisse Beunruhigung machte sich in Anbetracht der angelaufenen Praxis des Gesetzes bemerkbar. Zwei Jahre später, im September 1937, stand in München die 3. Jahresversammlung der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater abermals im Zeichen des „Epilepsieproblems“. Der Reichsinnenminister, vertreten durch den Ministerialrat Dr. Linden, betonte die Wichtigkeit der behandelten Themen für sein Ministerium.155 Und in der Tat setzten die zweitägigen intensiven Verhandlungen über differenzialdiagnostische Methoden „einen Markstein auf dem Weg der Epilepsieforschung“.156 Dennoch bestanden die Bedenken gegenüber der Aussagekraft der Diagnose „erbliche Fallsucht“ fort.157 Kurt Pohlisch, der bald schon zentral an der „Euthanasie“ mitwirkte, kritisierte in München die „chaotische Klassifikation und Nomenklatur“.158 Einer seiner Mitarbeiter präsentierte die Auswertung der Akten eines rheinischen „Erbgesundheitsobergerichtsbezirkes“, um zu zeigen, dass, auch wenn „an der Existenz einer Gruppe erblicher Krampfkranker, die das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses erfassen will, [...] ein Zweifel nicht möglich“ wäre, die Probleme in der Praxis doch groß seien.159 Der Mün153 Vgl. Moser 1935. – Eine „positive Epilepsiediagnose“ gab es nicht, nur eine „per exclusionem“ (Enge 1936: 923; vgl. von der Heydt 1937: 384). 154 Vgl. Nitsche 1936: 18-22, 83 u. 92, 155 Vgl. Nitsche 1938: 316. 156 Ziegelroth 1937: 584. Die Verhandlungsergebnisse wurden unmittelbar in neue Empfehlungen des RMI zur Handhabe der Diagnose der „erblichen Epilepsie” umgemünzt (Linden 1938). 157 Vgl. Weeren 1937: 759; Linden 1938: 885-86. 158 Vgl. Pohlisch 1938: 335. 159 Laubenthal 1938: 196 289 chener Bevölkerungsstatistiker und Vererbungsforscher Hans Luxenburger, Abteilungsleiter in der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie und früher Vertreter der Rassenhygiene, charakterisierte die Lage der Forschung in Bezug auf die „erbliche Epilepsie“ mit einem Vergleich. Die Erbbiologie befände sich gegenüber der Epilepsie in der Rolle der Polizei, die einen Verbrecher in einem Haus sucht. Die ungünstige Situation der Polizei sei, dass sie nicht wisse, in welchem Zimmer der Verbrecher sich versteckt halte.160 Der eigentliche ‚Ort’, der Sitz der Epilepsie im Gehirn also, war für Neurologie und Psychiatrie ein Rätsel. Aber nicht das Gehirn allein verbarg sich in der Metapher des „Hauses“. Denn das Problem war die Jagd des Verbrechers, die Erkennung derjenigen mit einer erblichen Veranlagung zur Epilepsie. Luxenburger, der „verborgene Anlagen zur Epilepsie unter den verschiedenartigsten Anomalien“ vermutete, gestand ein, dass die „eugenische Situation“ unbefriedigend war, weil die Indikation zur Sterilisation sehr weit gefasst sei und – wieder in seinem Bild – die Polizei deshalb gezwungen sei, das ganze Haus zu zerstören.161 Die Priorität des eugenischen Programms zwang dazu, neben den Menschen, die vermeintlich Träger der Anlagen zu „erblicher Epilepsie“ waren – die „Verbrecher“ im Bild -, auch ‚Unschuldige’ zu treffen. Dies geschah im Bewusstsein, dass die genuine Epilepsie wissenschaftlich noch nicht eng eingrenzbar war. Daraus ergab sich dringender Forschungsbedarf. Die Botschaft war klar: Die Sterilisierung ist nicht die „Kulthandlung einer Weltanschauung“, sondern dient der „Erbgesundheit des Volkes“.162 „Die Ausführungen des bekannten Erbforschers [Luxenburger] wurden von der Versammlung mit größtem Beifall aufgenommen.“163 Das allgemeine Wissen und Unbehagen darüber, wie prekär die zwangsweise Sterilisation auf Grundlage des „Stand der Wissenschaft“ – so der Gesetzestext – war, drückte sich in dieser Beifallsszene aus. Luxenburgers maximale ‚Polizeistrategie‘ entsprach den klaren Verfahrensvorstellungen des Gesetzgebers.164 Auch im Fall des Zweifels, wenn eine Ausschlussdiagnose „erbliche Epilepsie“ nicht gestellt werden konnte, sollte sterilisiert werden: „In dubio pro populo“.165 Damit wurde entsprechend der nationalsozialistischen Ideologie die Tradition des ärztlichen „nil nocere“ und des juristischen „in dubio pro reo“ auf den Kopf gestellt.166 Die deutschen Neurologen und Psychiater waren entschlossen, diese gesundheitspolitischen Vorgaben mit zu tragen,167 – eine Entscheidung, die nicht die Wissenschaftlichkeit ihrer Arbeit tangierte, sondern ihr Selbstverständnis als Ärzte. Die Konstruktion der Epilep160 Vgl. Luxenburger 1938: 367. Luxenburger 1938: 367-68 162 Luxenburger 1938: 368 163 Ziegelroth 1937: 584 164 „Der Zweck des Gesetzes schreibt hier [bei diagnostisch zweifelhaften Fälle] folgende Stellungnahme vor: Alle ins Symptombild der Epilepsie fallenden Zustände, bei denen eine äußere Ursache nicht nachgewiesen werden kann, haben wir der erblichen Fallsucht zuzuzählen“ (Gütt et al. 1936: 143; vgl. auch ebd.: 133 u. 141). Diese Regelung zeigt dramatisch – neben aller Kaltblütigkeit –, welche Konsequenzen die völlige Umkehrung der Bedeutung „genuine Epilepsie“ und die Erwartung, im Grunde habe jede Epilepsie einen erblichen Anteil, zeitigten. 165 Zum Beispiel der Hamburger Psychiater Lienau 1937. 166 Vgl. auch Bock 1986: 195ff.; Rothmaler 1991: 174f.. 167 „[D]ie Mehrzahl der Autoren [Ewald, Demme, Villinger, Conrad ...] hält eine erwiesene Erblichkeit nicht für erforderlich“ (Langelüddeke 1940: 18). 161 290 sie als erbliche Krankheit unterschied sich in der Form und Stabilität nicht von dem, was für wissenschaftliche Konzepte üblich war. Entscheidend ist insofern nicht, dass die Diagnose „erbliche Epilepsie“ prekär war, sondern, dass die Ärzte kein Problem hatten, sie im Sinne des GVeN zu nutzen. Der sachlich geprägte Diskurs um die Differenzialdiagnostik der Epilepsie bewegte sich im Rahmen des rassenhygienischen Paradigmas. Das Prekäre war für die Ärzte bloß eine Sachfrage und Aufgabe der Forschung.168 Wie erklärt sich aber die Vehemenz der Diskussion um die Diagnostik? Spricht sie nicht doch für ein Bewusstsein von ärztlicher Grenzüberschreitung? Festzuhalten ist, dass die Diskussion in verschiedenen Kontexten Sinn machte. Zunächst erfüllte sie die Erwartungen der staatlichen ‚Gesundheits’politik. Sie bediente darüber hinaus die Standes- und Wissenschaftspolitik der Psychiatrie gegen „die Untergrabung des Ansehens unseres Standes“.169 Dieser Aspekt, dass die psychiatrische Wissenschaft ihre Integrität bewahren musste, kann auch nach Innen gewendet werden. Der Umstand, dass die wissenschaftlich prekäre Diagnostik der Epilepsie innerhalb der Psychiatrie angesprochen wurde, war dann gewissermaßen eine Zwangsläufigkeit des psychiatrischen Diskurses. Ohne den epistemologischen Implikationen einer Wissenschaftsbetrachtung in der Nachfolge Mertons anzuknüpfen, die Wissenschaft als einen sozialen Raum eigener unverrückbarer Normativität auffasst,170 so ist es unbestreitbar, dass es Regeln des wissenschaftlichen Handelns gibt, die zumindest rhetorisch erfüllt werden und die historisch sowie an einen technischen und sozialen Kontext gebunden sind.171 Über das zu reden, was offensichtlich der Fall war, folgte dann einer solchen Regel. Die Integrität des Wissenschaftlers als strategische Position stand in dem Moment auf dem Spiel, als der Widerspruch zwischen dem Stand der Wissenschaft und dem Anspruch medizinischer Praxis sichtbar wurde. Insofern diese ‚Regeln’ in die Praxis der Klassifikation und der pathogenetischen Konzeptualisierung der Krampfphänomene eingebunden waren, waren sie Teil der Episteme der „erblichen Fallsucht“. Die moralische Frage indes, ob die Diagnostik der „erblichen Epilepsie“ im Rahmen 168 Normativ begründete Kritik war die Ausnahme (zum Beispiel Stoltenhoff (Dresden): „Schließlich sind von der Richtigkeit der psychiatrischen Diagnose auch noch eine Reihe anderer, mit der Individualgesundheit nur in loserem Zusammenhang stehende sehr einschneidende das bürgerliche Leben des Pat. und seine bürgerliche Existenz betreffende Maßnahmen abhängig“ (zit. in Nitsche 1936: 83).) – Kritik an der Sterilisation äußerte auch der Wiener Psychiater Felix Frisch, die er mit den Schwierigkeiten der Klassifikation begründete. Das heißt, unter anderen Umständen gab es auch für ihn keine Bedenken (vgl. Frisch 1937: 137-38). Frischs Buch wurde im Deutschen Reich 1938 aus dem Verkehr gezogen (vgl. Koch 1993: 83). – Es kann hier nicht diskutiert werden, wie weit Zensur und Ähnliches Kritik behinderten. Albrecht Langelüddecke (Landesheilanstalt Marburg) wandte sich kritisch (unter Berufung auf Karl Bonhoeffer) bspw. gegen die „in dubio“-Regelung und riet, „das Durchschlüpfenlassen eines erblich Fallsüchtigen“ in Kauf zu nehmen. War seine Begründung („jeden Erbgesunden dem Volke zu erhalten“; Geburten erhöhen (Langelüddeke 1940: 11 u. 19)) authentisch oder vorgeschoben? Vgl. auch Fußn. 128. 169 Rüdin 1940: 166-167 – Luxenburger kritisierte eine Buchveröffentlichung scharf, weil sie „Lehrern und Erziehern eugenische Versprechungen mache“ („dominante Erbleiden in einer Generation ausgemerzt“!), welche das Ansehen und Erbforschung schadeten (vgl. Luxenburger 1935). 170 Vgl. Merton 1996b: 267-68; vgl. auch Merton 1968 (1937): 597 (hier mit Bezug auf Wissenschaft im Nationalsozialismus); dazu, vgl. auch Sapp 1990: 8ff.. 171 Vgl. Sapp 1990: 23; Fuller 1992: 391. 291 des GVeN ärztlicherseits vertretbar war, verschwand in dem Gemisch aus wissenschaftlicher Praxis und normativ-politischem Diskurs über die Diagnostik. 6.2.3 Nachtsheims Förderpolitik: zwischen Landwirtschaft und Erbpathologie Das Problem der Differenzialdiagnostik eignete sich, die Nützlichkeit der vergleichenden Genetik unter Beweis zu stellen. Speziell das damit verbundene Problem der Diagnostik verborgener „Erbträger“ schien nach den neuesten Erkenntnissen der Genetik lösbar. Dies hing damit zusammen, dass die strenge Unterscheidung in rezessive und dominante Gene zur Disposition stand.172 Die entwicklungsphysiologische Genetik hatte den Blick der Genetiker weg von deutlich abgrenzbaren Merkmalen auf feine Unterschiede und subtile Genwirkungen verschoben. Die konzeptuelle Dichotomie von Dominanz und Rezessivität wurde zum Idealfall oder besser: zur Ausnahme, da auch rezessiven Genen eine – schwache – Wirkung nachgewiesen werden konnte. Damit eröffnete sich ein Weg, den homozygoten und heterozygoten Genotyp am Phänotyp, das heißt klinisch, von einander zu unterscheiden.173 Die Voraussetzung war ein Tiermodell, an dem ein diagnostisches Verfahren entwickelt und auf die Klinik übertragen werden konnte.174 Nachtsheim begann 1936 mit gezielten Experimenten zum Problem der Differenzialdiagnostik der Epilepsie. Zwar hatte er schon 1925 unter seinen Kaninchen welche beobachtet, die unter „Krampfanfällen litten“, doch erst jetzt startete er systematische Züchtungsversuche über die „erbliche Epilepsie“ beim Weißen Wiener Kaninchen. 1937 begann er mit einer vierjährigen Experimentalserie über die Wirkung von Cardiazol. Cardiazol, eine zentral wirkende Substanz, mit der künstlich Krampfanfälle provoziert werden konnten, wurde in der Psychiatrie als mögliches Mittel für einen differenzialdiagnostischen Test gehandelt. Kaum hatte Nachtsheim seinen ersten Bericht über die Cardiazolmethode an die Deutsche Medizinische Wochenschrift losgeschickt,175 beantragte er beim Reichsforschungsrat Fördermittel. Am Rande erwähnte er bedeutungsvoll, dass die „Arbeiten über die Kaninchen-Epilepsie und die für die Rassenhygiene wichtige Frage der Bedeutung des Cardiazolkrampfes für die Diagnose der erblichen Epilepsie [...] im Druck [sind ...]“.176 Die Bemerkung verfehlte nicht seine Wirkung. Gezielt nahm sich nun die Fachgliederung Bevölkerungspolitik, Erb- und Rassenpflege der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) seiner an.177 In den folgenden Anträgen wies Nachtsheim gezielt auf Untersuchungen zu erblichen Nervenkrankheiten und „vor allem die über erbliche Augenleiden (Blindheit)“ hin oder sprach schon bald von seinen „staatswichtigen“ Augenuntersuchungen.178 172 Vgl. zum Beispiel Baur 1930b: 73-74. Vgl. Nachtsheim 1934h: 38. 174 Vgl. Fischer 1939: 57. 175 Vgl. Nachtsheim 1939a, Ausgabe vom 3.2.1939. Ein weiterer Bericht erschien als Nachtsheim 1939g, eingegangen am 30.11.1938. 176 28.11.1938, Nachtsheim an RFR (BA Ko, R 73, 13328) 177 Vgl. 29.4.1940, DFG an Nachtsheim (BA Ko, R 73, 13328). 178 Vgl. 2.2.1940, Nachtsheim an DFG (BA Ko, R 73, 13328) bzw. 25.5.1940, Nachtsheim an Dr. Breuer (ebd.). – „Erbliche Blindheit“ war eine der ‚Indikationen‘ des GVeN. 173 292 Die Abfolge von Förderanträgen an die DFG scheint die zielstrebige Umsetzung Nachtsheims Forschungsprogramm widerzuspiegeln. Doch bei genauer Betrachtung ist das ein Eindruck, den das Ergebnis der Entwicklung fälschlich nahe legt. Die Umstellung Nachtsheims Fragestellung und Forschungsgegenstandes war ein Prozess, der 1929 seinen Anfang genommen hatte und der die längste Zeit nicht zielgerichtet und zu keinem Zeitpunkt unumkehrbar war. Auch nach den programmatischen Äußerungen 1934, so ist nun zu präzisieren, war dieser Transformationsprozess von der Landwirtschaft zur Medizin nicht abgeschlossen. Noch 1938 wurde Nachtsheim von der DFG-Fachgliederung „Landbauwissenschaft und allg. Biologie“ betreut. Er konnte sich zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht sicher sein, ob sein Experimentalkomplex einem Programm der vergleichenden Erbpathologie genügen würde.179 Die Förderanträge Nachtsheims können als Ausdruck der allmählichen Festlegung seines Experimentalkomplexes gelesen werden. Der Forscher lässt in ihnen zunächst eine vorsichtige Anpassungsbereitschaft erkennen. Er ist elastisch, und es gibt einen Spielraum der Rückholbarkeit in der Interpretation dessen, was er macht.180 Lange changierte Nachtsheim so zwischen medizinischen und landwirtschaftlichen Problemstellungen. Nach Außen galt es, das Laboratorium unentbehrlich zu machen, das heißt, die „vergleichende Erbpathologie“ als einen obligatory passage point der Erbgesundheitspolitik erscheinen zu lassen. 1935 stellte Nachtsheim seinen ersten Förderantrag bei der DFG. Bislang hatte er sich auf die Unterstützung durch das Preußische Ministerium für Ernährung und Landwirtschaft verlassen. Entsprechend der neuen Schwerpunktsetzungen, die eine verstärkte Förderung für die Genetik verhießen,181 stellt er heraus, dass seine „neuesten Arbeiten vor allem dem Studium der Erbkrankheiten“ dienten.182 Er eröffnete den Geldgebern einen interessanten Ausblick, denn die Kaninchenforschung erschien als die natürlichste Weise, sich den menschlichen Erbkrankheiten zu nähern. Sie hatte aber eine Preis: „Auf breitester Grundlage“ musste das Unternehmen durchgeführt werden, wenn es erfolgreich sein sollte. Nachtsheim wies in die Zukunft eines langfristigen, weit über den Antrag hinausgehenden Forschungsprogramms. Er bot eine gemeinschaftliche Arbeit an, die Verbindlichkeiten und die Eröffnung gegenseitiger Perspektiven voraussetzte. Das Angebot orientierte sich aber nach wie vor an dem übergreifenden Ziel der bisherigen und noch im Gang befindlichen Forschung: der genetischen Analyse des Kaninchens. Nach den Rassenmerkmalen des Kaninchens waren jetzt die pathologischen Erbmerkmale an der Reihe. Die Landwirtschaft war aber an potenten „Leistungsmerkmalen“ und an der Verbesserung 179 Zum Beispiel waren die Untersuchungen zur Syringomyelie und Schüttellähmung, die Nachtsheim Anfang der dreißiger Jahre mit Ostertag begonnen hatte, am Ende des Jahrzehnts noch nicht abgeschlossen – und wurden nie abgeschlossen bzw. erwiesen sich als trügerisches Modell. 180 Forschungspolitische Problemvorgaben und die Kenntnisse und Ziele des Wissenschaftlers stellen in dieser explorativen Phase einen wechselseitigen Anpassungsprozess dar (vgl. van den Daele et al. 1979: 34 u. 42). Das eigene Forschungsziel kann in einem gewissen Maße unbeschadet der politischen Rahmenbedingungen angepasst werden; Alternativen können gewahrt bleiben, um auf geänderte Förderkonstellationen reagieren zu können. 181 Vgl. Otto Renner zit. in Just 1935: 138. 182 Hier und nachfolgend: 8.6.1935, Nachtsheim an DFG (BA Ko, R 73, 13328) 293 der Haustierrassen interessiert – und die Medizin nicht an Merkmalen des Hauskaninchens. Das Angebot Nachtsheims wurde abgelehnt. Im nächsten Antrag zwei Jahre später blickte Nachtsheim bereits auf drei Jahre „erbpathologische Untersuchungen am Kaninchen“ zurück.183 Er bot jetzt nicht nur eine Idee an, sondern präsentierte ein Forschungsprogramm, das auf ein eigenes Forschungsgebiet verwies. Er hätte damit „ein neues, auch für die menschliche Rassenhygiene wichtiges Gebiet, das der vergleichenden Erbpathologie, bereits erfolgreich – wie ich glaube sagen zu dürfen – in Angriff genommen“. Der nicht weiter erklärte Rückgriff auf die Bezeichnung „vergleichende Erbpathologie“ war selbst schon Referenz für ein etabliertes Forschungsgebiet. Andererseits verblieb mit dem Wörtchen „auch“ Raum zur Interpretation. Der Nutzen („Rassenhygiene“) war nicht endgültig festgelegt. Nachtsheim sprach von „meinen Arbeiten auf dem Gebiete der Erbpathologie und Rassenforschung“.184 Erst ab 1940 war nur noch von „vergleichender Erbpathologie“ die Rede.185 Von Seiten der Förderinstitutionen gestaltete sich die gegenseitige Annäherung folgendermaßen. Nachtsheims Forschung wurde der biologisch-landwirtschaftlichen Forschung zugeordnet. Angesichts von Geldknappheit musste die Unterstützung in den dreißiger Jahren zurückgeschraubt werden. Selbst als Kühn die Fortsetzung aller Arbeiten als „hocherwünscht“ empfahl, da sie „in der von mir wiederholt gezeichneten Richtung: Herauszüchtung von Versuchstieren mit bestimmten konstitutionellen Merkmalen“ lagen, wurden die – 1923 von der DFG eingerichteten – Kaninchenställe, bei denen inzwischen „der Urin aus den oberen Etagen der Ställe in die unteren tropfte“, nicht renoviert.186 Kühns Stoßrichtung war keine geeignete Grundlage für ein Arrangement mit der herrschenden Forschungspolitik. Die Situation änderte sich 1937/38. Auf die geänderte Strategie („vergleichende Erbpathologie“) sprang die Fachgliederung Medizin trotz weiterhin angespannter Haushaltslage an.187 Nachtsheims Förderung lief jetzt über den Reichsforschungsrat, der zur Zusammenfassung der wissenschaftlichen Kräfte für kriegs- und reichswichtige Aufgaben installiert worden war, unter dem Kennwort „Na 1/04/2 erbanalytische Versuche“.188 Damit war Nachtsheims Einbindung in den Prioritätsrahmen der nationalsozialistischen Forschungspolitik vollzogen.189 Die Fördergeldbeschaffung kann, so will es scheinen, besser als „Akquisition“ beschrieben werden.190 Nachtsheim hatte ein Produkt anzubieten: „Forschung“. Seine Werbetaktik balancierte zwischen dem Nutzungsinteresse des 183 Hier und nachfolgend: 14.5.1937, Nachtsheim an DFG (BA Ko, R 73, 13328) Herv. Verf. 28.2.1938, Nachtsheim an DFG (BA Ko, R 73, 13328) Herv. Verf. 185 2.2.1940, Nachtsheim an DFG (BA Ko, R 73, 13328) 186 8.6.1935, Nachtsheim an DFG; o.D., Kühn: Gutachten; 30.8.1935, Notgemeinschaft an Nachtsheim (BA Ko, R 73, 13328) 187 Vgl. 25.8.1937, Sauerbruch an Nachtsheim (BA Ko, R 73, 13328). 188 30.8.1937, Mentzel an Nachtsheim (BA Ko, R 73, 13328) 189 Während 1938 die Fachgliederung „Landbauwissenschaft und allg. Biologie“ noch 2/3 der Unterstützungen (2.000 RM) Nachtsheims Forschung trug, investierte 1939 die Fachsparte Medizin 23.000 RM in die Zuchtanlage in Dahlem (vgl. 28.7.1939, Sauerbruch an Nachtsheim, in: BA Ko, R 73, 13328). Nach Kriegsbeginn beschlossen, RFR und die „Reichsgesundheitsführung“, die Arbeiten weiter zu unterstützen (vgl. 2.2.1940, Nachtsheim an DFG, in: ebd.). 190 ... bzw. als die Realisierung von Assoziationen (vgl. Latour 1987: 175 u. 202). 184 294 Kunden und den Möglichkeiten und Strategien des Produktmanagements. Mitte der dreißiger Jahre umfasste die Produktpalette 20 nach einer bestimmten „erblichen Anomalie“ getrennte Kaninchenstämme. Die Unwägbarkeiten der Eigenschaften dieser ‚Produkte’ im Experiment ließ die Zuordnung des Gesamtsortiments zur vergleichenden Genetik gegenüber der landwirtschaftlicher Genetik ambivalent. Die doppelte Zuordnungsmöglichkeit stärkte aber den Kern der Experimentalkultur Nachtsheims (mendelsche Haustiergenetik). Im Rahmen der wissenschaftspolitischen Konjunktur der Erbbiologie konnte der Wissenschaftler diesen Kern festigen, indem er ihn als Forschungsprogramm einer „vergleichenden und experimentellen Erbpathologie“ mit der Forschungsförderung strukturell verband. Der Raum möglicher Schritte des Wissenschaftlers war durch soziale ebenso wie technische Bedingungen gleichermaßen strukturiert. Die forschungspolitische Etablierung („im Reichsinteresse“) schränkte dann aber die Bewegungsmöglichkeiten zunehmend ein, da die Dahlemer Zuchtanlage auf eine systematisierte vergleichende Erbpathologie verpflichtet wurde. Ende 1940 erschien es Hans Kappert deshalb, als ob Nachtsheims Experimentalkomplex immer schon auf die Erbpathologie zugestrebt wäre.191 6.2.4 Kaninchengenetik und Experimentalkomplex im Test: Cardiazolexperimente Zur medizinisch-psychiatrischen Forschung über Krampfphänomene gehörte das physiologische Experiment an Tieren. An so genannten „Rindentieren“ und „Kleinhirntieren“ – Tieren mit ausgeschnittenen Hirnteilen – wurde die Wirksamkeit krampfauslösender Substanzen untersucht. Der Einsatz genetischer Modelltiere hingegen war neu. Die Kaninchenzüchter hatten immer wieder von krampfartigen Erscheinungen berichtet; doch erst Nachtsheim verband die vereinzelten Beschreibungen zu einem Phänomen, das er umstandslos als „Epilepsie“ bezeichnete.192 Auffällig war, dass die „eleptiformen Anfälle“ ausschließlich bei Weißen Wiener Kaninchen auftraten. Nachtsheim hatte diese Kaninchen, deren Besonderheit blaue (leuzistische) Augen waren, benutzt, um den Zusammenhang von Augen- und Fellpigmentierung zu studieren. Das Ziel der Kreuzungsversuche zur Epilepsie war es zunächst, die Beziehung zwischen dem „Epilepsiefaktor“ und den für das Wiener Kaninchen typischen Pigmentgenen zu eruieren. Und tatsächlich schienen Leuzismus und Epilepsie durch das gleiche Gen bedingt zu sein. „Die Epilepsie ist beim Kaninchen streng rassegebunden“, folgerte Nachtsheim, als er 1938 vor Psychiatern und Nervenärzten auf einem „Internationalen Fortbildungskursus“ über die laufenden Versuche berichtete.193 Anders aber als die blauen Augen trat die Epilepsie nicht immer auf: Sie war zwar „rassegebunden“, wurde aber, so vermutete er, durch eine bestimmte Variante (Allel) des Erbfaktors bedingt.194 Nachts191 Vgl. 16.12.1940, Kappert an Dekan der Landw. Fak. (BA D, RME, ZB II 1869, Akte 2: Bl. 14). Vgl. Ordel 1920: 25 bzw. Nachtsheim 1938a. 193 Vgl. Nachtsheim 1939b: 130. – Die Veranstaltung war hochkarätig besetzt. Vortragende waren: Walter Betzendahl, Karl Bonhoeffer, Aug. Bostroem, E. Fünfgeld, V.E. Frhr. v. Gebsattel, Karl Kleist, H. Luxenburger, Hans K. Müller, Paul Nitsche, Fr. Panse, Kurt Pohlisch, Chr. Roggenbau, Max Rosenfeld, F. Sauerbruch, Fritz Hartmann, H. Scheller, Hugo Spatz, Klaus Vogel. 194 Nachtsheim postulierte eine Allelenserie, das heißt der Epilepsiefaktor entspräche einem Allel von einer ganzen Reihe von Allelen eines Pigmentgens (multiple Allelie). Möglich war aber 192 295 heim erkannte sofort das eugenische Potenzial in diesem Ergebnis, nämlich die Möglichkeit, die Epilepsie aus den Kaninchenzuchten herauszuzüchten.195 Wichtiger an dem Ergebnis war aber, dass die erbliche Veranlagung zur Epilepsie nun kontrollierbar und damit die Voraussetzung gegeben war, das Weiße Wiener Kaninchen zum Modellsystem der Epilepsie weiter zu entwickeln.196 Obwohl Nachtsheim sich zunächst in zahlreichen Fragestellungen über Genotypen und ihre Manifestation verlor, dürfte den lauschenden Nervenärzten gegen Ende des Vortrags der praktische Zusammenhang der genetischen Überlegungen deutlich geworden sein. Sie spitzten sich auf die Frage zu: „Gibt es Provokationsmittel, die es gestatten, den Epilepsie-Genotypus vermittels induzierter Anfälle zu erkennen?“197 Die Daten, die er zu präsentieren hatte, kamen „frisch“ aus dem Labor. Im Herbst 1937 hatte er rund 250 Kaninchen Cardiazol198 injiziert. Die Frage war, ob die Reaktion auf Cardiazol vom Genotyp der Kaninchen abhing, sodass auf diese Weise rezessive Anlageträger herausgefiltert werden könnten. Die Versuche wurden bis 1940 fortgesetzt und umfassten am Ende über 600 Kaninchen. In der Psychiatrie war seit 1933 der Cardiazolschock als therapeutisches Verfahren bei Schizophrenie im Gespräch; nach ersten Tierversuchen wurde 1936 die Frage der differenzialdiagnostischen Bedeutung des Cardiazols bei Epilepsie aufgeworfen. Schnell folgten erste klinische Versuchsdaten.199 Eine Welle von Cardiazolexperimenten an Tieren und Menschen – wohlgemerkt, handelte es sich nicht um therapeutische Experimente – und eine lebhafte Debatte entwickelte sich.200 Dazu passte, dass Nachtsheim 1937 systematische Versuche mit Cardiazol aufnahm.201 Ende des Jahres allerdings kristallisierte sich auf der Jahresversammlung der Neurologen und Psychiater ein Konsens heraus, nach dem die diagnostische Krampfprovokation mit Cardiazol nicht spezifisch genug und deshalb abzulehnen war.202 Die sich abzeichnende Lösung der Frage nach der Tauglichkeit des Cardiazols hielt Nachtsheim nicht davon ab, sein experimentelles Modellsystem weiter auch eine enge Kombination zweier verschiedener Gene auf einem Chromosom (vgl. Nachtsheim 1939b: 130; Nachtsheim 1939g: 807). 195 Vgl. Nachtsheim 1938a. 196 Vgl. Nachtsheim 1938a: 592. – Der genetische Zusammenhang mit Pigmenterscheinungen stellte zudem eine Anbindung an die Lehre der Degenerationszeichen her, nach der bestimmte äußere Merkmale Anzeichen von Krankheiten oder Konstitutionsschwächen waren. Der Berliner Pathologe Friedrich Curtius befand, dass „Schielen, abnorme Behaarungsverhältnisse, Henkelohren, Anomalien der Irispigmentierung“ und so weiter bei Epilepsie auffällig häufig vorkämen (F. Curtius zit. in Nachtsheim 1939g: 802). 197 Hier und nachfolgend: Nachtsheim 1939g: 791-92 198 Cardiazol: Pentamethylentetrazol, dem Campher in der pharmakologischen Wirkung ähnlich. In den USA unter dem Präparatnamen Metrazol (siehe auch Seite 291). 199 Vgl. von Meduna 1937: 333 bzw. Schönmehl 1936; Hoyer 1937. 200 Vgl. zum Beispiel Stern 1937Stern 1936; Stern 1937; Schilling 1937; Grubel 1937; Janz 1937; Stender 1937; Horn 1938; Langelüddeke 1938b; Langelüddeke 1938a; Langelüddeke 1938c; von Steinau-Steinrück 1938; Anonymus 1938; Langelüddeke 1940. Zur Frage der Menschenversuche, vgl. 8.2.5. 201 Vgl. Nachtsheim 1937d: 28. 202 Vgl. Anonymus 1938; Nachtsheim 1942e: 66. – Nachtsheim blieb es überlassen, am Tiermodell die Gründe zu konkretisieren, warum Cardiazol nicht als differenzialdiagnostisches Mittel taugte. Die Reaktionen auf Cardiazol überschnitten sich so, dass nur statistische, aber keine spezifischen diagnostischen Aussagen möglich waren (vgl. Nachtsheim 1941d: 12 u. 17). 296 zu verfolgen. Zur entscheidenden Frage wurde nun die nach der Tauglichkeit des Modellsystems. Die Cardiazoltests am Kaninchen setzten eine Kaskade von Vergleichbarkeitsbeziehungen voraus, die deutlich machten, wie voraussetzungsreich es war, die experimentellen Ergebnisse am Kaninchen mit den menschlichen Verhältnissen zu analogisieren. War beispielsweise das Erscheinungsbild des Cardiazolkrampfes des Kaninchens wirklich vergleichbar mit dem epileptischen Anfall? Zeitlupenaufnahmen enthüllten unterhalb der Ebene klinischer Ähnlichkeit zwischen Tier und Mensch subtile Unterschiede in der Phänomenologie des Krampfgeschehens.203 Zwar wurde das Kaninchenmodell von Seite der Psychiater nicht in Frage gestellt;204 doch war es weit davon entfernt, ein obligatory passage point in der medizinischen Forschung zur Epilepsie zu sein.205 Das Programm der vergleichenden Erbpathologie hatte jedoch den ersten Testlauf in Konfrontation mit der Medizin bestanden, da Nachtsheims Förderung durch den Reichsforschungsrat gesichert war und das experimentelle Arrangement sich als robust, zirkulationsfähig und weiterführend erwiesen hatte. 6.3 Strukturelemente und die verschleierte Praxis der vergleichenden Erbpathologie „Der Lebenslauf der Einzelwesen, Rassen und Arten der niedersten einzelligen Lebewesen, der Pflanzen, der Tiere und des Menschen wird beherrscht von denselben 206 Naturgesetzen. Nur der Mensch, der sie erkennt, vermag sie zu nützen.“ Nachdem die Vorraussetzungen der Herausbildung des Programms der vergleichenden und experimentellen Erbpathologie und die Einbindung in den soziopolitischen Kontext untersucht worden sind und nachdem die Praxis und das Anwendungsfeld der vergleichenden Erbpathologie am Beispiel der Epilepsie vorgestellt wurde, kann unter Einbeziehung der Ergebnisse aus Kapitel 5 die Konzeption der vergleichenden Erbpathologie systematisch präzisiert und die Epistemologie der Modelltiere ergänzt werden. Jene offene Konfrontation zwischen Genetikern und Gynäkologen (Kapitel 5) fand in den feinen Mechanismen der science in action, wie sie sich in der Entwicklung der vergleichenden Erbpathologie präsentiert, ihre Fortsetzung. Es wird deutlich, dass die vergleichende Erbpathologie ein Projekt der Genetiker war. Sie war eng an den Repräsentationsraum, die Forschungspraxis und die Konzepte der Genetik und Biologie in den dreißiger Jahren gebunden. Sie war insbesondere an die Herausbildung einer bestimmten Experimentalkultur in der (Säugetier-)Genetik und 203 Vgl. Biehler 1940: 325. – Verschiedene – widersprüchliche – Ebenen der phänomenologischen Genauigkeit standen nebeneinander, deren Aussagewert unklar war. Die Frage der Analogisierbarkeit war dadurch mit dem Problem der Klassifikation der klinischen Zeichen der Krampferscheinungen verknüpft. 204 Vgl. Biehler 1940: 325 (die „genuine Epilepsie des Kaninchens“); Pohlisch 1940: 8 („weitgehende Analogie zum Menschen“); vgl. auch Geyer 1939: 264. Zu den Diskrepanzen zwischen der Vererbungsforschung zur Epilepsie des Menschen gegenüber dem Ein-GenModell des Kaninchens, vgl. Conrad 1939a: 965ff. u. 978ff.. 205 Zum Fortgang der Epilepsieexperimente u. zu Nachtsheims Bemühungen, ihre Modellhaftigkeit überzeugend zu gestalten, siehe 8.1. 206 Kühn 1935a: 92 297 an komplementäre Stile wissenschaftlichen Denkens gebunden.207 Es wird aber darauf zu achten sein, ob sich Konzeption und Verwendung von Modelltieren in der vergleichenden Erbpathologie dennoch von der in der vergleichenden Genetik unterschieden. Die Überzeugungskraft des Stils, nach dem Tiermodelle beurteilt und mit ihnen experimentell kalkuliert wurde, profitierte vom Zusammenwachsen der Genetik und Evolutionstheorie in dieser Zeit. Die Stabilisierung dieses Stils erfolgte – dem Modell der Akkumulation208 folgend – als eine Vernetzung der Experimentalkultur mit dem biowissenschaftlichen Leitdiskurs. Nachtsheims prinzipielleren Bemerkungen zur theoretischen und methodischen Grundlage der vergleichenden Erbpathologie bieten sich an, an ihnen die Rationalität der Experimentalkultur des Tiermodells für menschliche Erbkrankheiten zu untersuchen. Die Legitimation der Modellkonstruktionen zielte darauf ab, die Tiermodelle als centre of calculations in einem biomedizinischen Diskurs zu stabilisieren. Die – tendenziell zirkuläre – Rationalität der Tiermodelle legitimierte so auch das gesundheitspolitische Engagement der vergleichenden Genetik. 6.3.1 Vergleichende Erbpathologie in Dahlem – eine Frage des Stils/der Kultur Paula Hertwigs Röntgenexperimente an Mäusen, die als Modellversuche für die Strahlengenetik des Menschen konzipiert wurden, markieren den Beginn der Experimentalkultur einer vergleichenden Erbpathologie in Berlin-Dahlem. Jene Experimente unterschieden sich von anderen Modellversuchen dadurch, dass das experimentelle Modellsystem als Surrogat konstruiert wurde, um Fragen der Humanmedizin zu lösen. Ihr Vorbild hatten diese Experimente in den noch andauernden Alkoholversuchen von Agnes Bluhm, der ‚grande dame’ der vergleichenden Erbpathologie.209 Die Situation Anfang der dreißiger Jahre zeichnete sich aber dadurch aus, dass an verschiedenen Stellen zugleich solche vergleichenden Experimentalsysteme entwickelt wurden, sodass sie eine experimentelle Kultur herausbilden konnte. Experimentelle vergleichende Erbpathologie hatte Konjunktur.210 Das Institut für Vererbungsforschung wirkte wie ein produktiver Kern, in dem sich Anfang der dreißiger Jahre pathologische Fragestellungen zu einer kritischen Masse verdichteten. Der entstehende Pool an Modelltieren erschien wie „die Anfangsgründe einer neuen wissenschaftlichen Disziplin, [der] vergleichenden Erbpathologie“.211 Etwa zeitgleich zu Hertwig begann Nachtsheim mit seinen vergleichenden Untersuchungen. Anders als diese systematisierte er sie zu 207 Zu „Experimentalkultur“, vgl. Rheinberger 1997: 137-38; zu „style of scientific reasoning“, vgl. Hacking 1992 50; vgl. auch Fleck 1994: 111 u. 122. 208 Vgl. Latour 1987: 220. 209 Vgl. die Widmung in Nachtsheim 1942e: 79. – Die Medizinerin Agnes Bluhm (1862-1943), befreundet mit Alfred Ploetz und aktive Rassenhygienikerin, züchtete, unterstützt durch die Notgemeinschaft und Carl Correns, am KWI für Biologie in Berlin-Dahlem seit dem 1. Weltkrieg 100.000 Mäuse für Experimente mit Alkohol und anderen „Keimgiften“ (z.B. Bluhm 1922; Bluhm 1932; Bluhm 1935). Ihre Versuchstierzuchten waren die Grundlage von verschiedenen anderen Versuchstierzuchten in Berliner Laboratorien (siehe unten). 210 Diese Konjunktur war auch in der forschungspolitischen Schwerpunktsetzung durch die NSRegierung bedingt und hatte eine Voraussetzung in der experimentell-konzeptuellen Situation der Genetik, wie Kapitel 4 und 7 zeigen. 211 Thums 1937: 397 298 einem Forschungsprogramm, das mit der sukzessiven Umstellung seines Experimentalkomplexes und der Propagierung der Genetik verbunden war. Die Pflanzengenetik des neuen Institutschefs, Kappert, schien an den Rand gedrängt. Hertwig, Emmy Stein212 und Nachtsheim behandelten jeweils eigenständig Fragen der vergleichenden Erbpathologie. Hans Grüneberg, der mit dem Institut bis zu seiner Emigration 1933 in enger Verbindung stand, entwickelte ähnlich systematisch wie Nachtsheim die vergleichende Mausgenetik am University College in London.213 Pathologische Themen und der Bezug auf die Humanmedizin waren seit Anfang der dreißiger Jahre in der Genetik nichts Ungewöhnliches mehr.214 Die Verbindung von Medizin und Vererbungsforschung auf der Plattform der Gesellschaft für Vererbungswissenschaft und der Konzeption und Experimentalkultur der mendelschen Genetik fand schließlich ihren Niederschlag im ersten humangenetischen Kompendium in deutscher Sprache, dem Handbuch der Erbbiologie des Menschen, das die gesamte Breite der experimentellen Genetik abgedeckte und die vergleichende Erbpathologie ausgedehnt berücksichtigte.215 Der Herausgeber des Handbuchs, Günther Just,216 war Biologe, gleichaltrig mit Hertwig und Nachtsheim und wie dieser Assistent bei Richard Goldschmidt gewesen. Im 1933 neu gegründeten Greifswalder Institut für menschliche Erblehre und Eugenik bildete die vergleichende Forschung neben Drosophilagenetik und Humangenetik einen Schwerpunkt, den Just ab 1937 zusätzlich im Dahlemer Reichsgesundheitsamt verfolgte. Die Themen waren „Entwicklungs- und Erbpathologie des Säugetiers als Modell menschlicher Erbpathologie“ und von Dro- 212 Emmy Stein war ebenfalls ehem. Ass. Baurs, übernahm 1931 die Stelle Elisabeth Schiemanns, die Baur nach Müncheberg folgte. S. arbeitete zu Fragen der Mutationserzeugung und Erbpathologie. Zu dem Kreis könnte noch Hans Stubbe gerechnet werden, der als Ass. von Baur in Müncheberg eine Zeit lang ebenfalls vergleichende Themen der Erbpathologie behandelte. 213 Hans Grüneberg (1907-82) war entwicklungsgenetisch und embryologisch orientiert. In diesem Zusammenhang entwickelte er entwicklungsgenetische Fließdiagramme für die Pathogenese mannigfaltiger Syndrome und problematisierte das Konzept der Pleiotropie. Er unterschied „echte“ und „falsche“ Pleiotropie (vgl. Nachtsheim 1940d: 49-50 u. 83). Er verfasste während des Kriegs ein Standardwerk zur Mausgenetik (Grüneberg 1943). 214 Auf der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Vererbungswissenschaft von 1931 war, den Themen der Vorträge folgend, die Zusammenarbeit von menschlicher Erbforschung und experimenteller Genetik erstmals ein Schwerpunkt (vgl. ZIAV, 62, 1932). Das Interesse der Genetiker an Erbpathologie und menschlicher Erblehre zeigte sich auch in ihrer Mitarbeit in Der Erbarzt (Von ihren Ergebnissen berichteten: Nachtsheim, P. Hertwig, H. Stubbe, E. Stein, K. Zimmermann, N. W. Timoféeff-Ressovsky, B. Patzig, E. Knapp). 215 Autoren zu allgemeiner Genetik waren Gerhard Heberer, Kristine Bonnevie, N. TimoféeffRessovsky, Paula Hertwig, Ernst Hanhart, Günther Just, H. Zwicky, Nachtsheim. Die vergleichende Genetik bzw. Erbpathologie behandelten Nachtsheim (Nachtsheim 1939d; Nachtsheim 1940d, Nachtsheim 1940b), F. Steiniger 1940, F. Kröning 1940, mit Einschränkungen: K.-H. Bauer 1940, Patzig 1939). 216 Günther Just, geb. 3.1.1892 in Cottbus, gest. 30.7.1950 in Heidelberg, ev.. Studium der Naturwiss. in Berlin, Prom. 1919. 1921, Ass. bei R. Goldschmidt. 1923, Doz. in Greifswald am Inst. für Zoologie, Abt. Vererbungswiss. 1928, a.o. Prof.. 1.5.1933 NSDAP-Mitglied. 1933, Dir. des Inst. für menschliche Erblehre u. Eugenik (ab 1936: Inst. für Vererbungswiss.). 1937, zusätzlich Ltr. des Erbwiss. Forschungsinst. als U.Abt. IV in der Abt. L „Erb- und Rassenpflege“ des RGA. 1.12.1942, Direktor des Rassenbiolog. Inst., Univ. Würzburg. (Vgl. Weingart et al. 1992: 557f.; Deichmann 1995: 122-24; {Felbor 1995}; BA Ko, R 73, 11998 u. 16602; BA B, BDC-Akte Just; BA B, R018, 3308.) 299 sophila und Fischen als Modell „für analoge Vorgänge beim Menschen“.217 Justs Mitarbeiter Fritz Steiniger und Archibald Kaven gehörten zum hoffnungsvollen Nachwuchs der vergleichenden Erbpathologie.218 Ganz in der Nähe des Reichsgesundheitsamtes befand sich die „Tumorfarm“ Friedrich Krönings.219 Am KWI für Hirnforschung in Berlin-Buch benutzten Klaus Zimmermann und Bernhard Patzig Mäuse, um neuroanatomische und neurologische Probleme genetisch zu bearbeiten.220 Zwischen Buch und Dahlem bestand ein reger Austausch. Die Besonderheit der Berliner Situation darf nicht nur darin gesehen werden, dass Gelegenheit bestand, gemeinsame Forschungsprobleme und -kooperationen zu entwickeln. Über den engsten Kreis der vergleichenden Erbpathologen in Dahlem hinaus bildete sich ein informelles Netz, in dem Versuchs- und Zuchttiere hin- und her verschoben wurden.221 Die Vernetzung der Laborressourcen hatte unterschiedlichen Charakter. Während die einen ein geeignetes Versuchstier für einen physiologischen Test benötigten, suchten die anderen ein Tier mit bestimmten Merkmalen aus einer ganz speziellen Zucht für eine bestimmte erbpathologische Fragestellung. Die Findung, Zucht, der Erhalt und der Austausch von solchen Versuchstieren mit bestimmten Eigenschaften (erblichen Anomalien und Krankheiten) bildete die Voraussetzung für die experimentelle Erbpathologie als einer eigenen Forschungsrichtung. Wie problembehaftet es beispielsweise war, solche Tiere zu entdecken und zu einem Modell217 o.D. [ca. 1939], Anonymus: Arbeitsgebiete des Reichsgesundheitsamts (BA B, R018, 3308) Fritz Hermann Steiniger, geb. 23.2.1908, Aschbuden, Kr. Elbing (Ostpreußen), ev.. Studium der Naturwiss., 7/1932, Prom. bei Just; 1932-37, Ass. ebd.. 1.8.1935 NSDAP-Mitglied, 1933-36 SA. 1936, Aufnahme ins Rassenpolitische Amt der NSDAP (Sachbearbeiter f. Nürnberger Gesetze und GVeN). 12/1937, Habil.; 1938-41, wiss. Angestellter, 1940 Reg.Rat im RGA. 1941, Einberufung zur Wehrmacht ins Zentralarchiv für Wehrmedizin, Berlin. Seit 1942 Ref. für Schädlingsbekämpfung u. Ref. für Rassenpolitik beim Reichskommissar für das Ostland in Riga, Ltg. des von ihm eingerichteten Inst. für med. Zoologie in Riga-Kleistenhof, sowie Ltg. des Anthropologischen Laboratoriums der Abt. Politik des Reichskommissariats (u.a. Überprüfung der Maßnahmen bei der Fleckfieberbekämpfung). 1943, zusätzlich Doz. für Vererbungswiss. in Greifswald. – Forschungen zu Erb- und Rassenbiologie (Steiniger 1938; Steiniger 1940) und zur praktischen Entomologie. (Vgl. BA B, BDC-Akte Steiniger; {Aly, Heim 1993}, S. 427) Archibald Kaven, geb. 14.11.1908, Berlin, verunfallt 21.2.1945, ev.. Studium der Naturwiss.. 15.5.1937, SS-Mitglied. Prom. am Inst. f. Vererbungsforschung, Dahlem (bei P. Hertwig). Ca. 1939, wiss. Mitarbeiter im RGA. 1940, Einwandererzentralstelle, Litzmannstadt; 1941, Eignungsprüfer in Stabsabt. des SS-Führungshauptamtes (Ltg. von Außenstellen im „Protektorat“). 1944, SS-Junkerschule, Tölz. – Forschung: Bestrahlungsexp. mit Mäusen u. Skelettanomalien (Mäusestamm von Agnes Bluhm) (Kaven 1938b; Kaven 1938a; Kaven 1943). (Vgl. BA B, BDCAkte Kaven.) 219 Zu F. Kröning und seiner vergleichende Erbpathologie, siehe 3.3. 220 Vgl. Zimmermann 1933; Zimmermann 1935; Patzig 1935; Patzig 1936. 221 Zum Beispiel: Nachtsheim bekam von Kröning für seinen Doktoranden eine Meerschweinchenmutante; Hertwig baute ihre Zuchten mit den Alkoholmäusen von Bluhm auf; diese wanderten mit Hertwigs Schüler Kaven ins RGA; im KWI für Biochemie benutzte Hans FriedrichFreska Mäuse von Bluhm, Hertwig und Kaven; der Luftfahrtmediziner Hubertus Strugholdt und die Militärärztliche Akademie erhielten Mäuse von Hertwig; am KWI für Hirnforschung züchtete Klaus Zimmermann Mäuse mit Chondrodystrophie, die er mit Nachtsheims Kaninchen austauschte; Alois Kornmüller fragte wegen „epileptischen Kaninchen“ bei Nachtsheim an; dieser gab auch Kaninchen an Gerhard Schramm am KWI für Biochemie, zwergwüchsige Kaninchen an Rolf Danneel im KWI für Biologie und solche mit Spinalparalyse an die BRA; und so weiter. Allein 1940 gab Nachtsheim 1.000 Kaninchen „an die Wissenschaft“ ab. (Vgl. 2.2.1940, Nachtsheim an DFG, in: BA Ko, R 73, 13328.) 218 300 stamm zu züchten, verdeutlicht der Weg, in dem sich Nachtsheim zu helfen wusste. Es scheint viel, wenn Nachtsheim in kurzer Zeit 20 Kaninchenstämme mit verschiedenen Erbkrankheiten etablierte; doch bedurfte es dazu der Mobilisierung das Reservoirs von 60 Millionen jährlich im Deutschen Reich aufgezogener Kaninchen über Aufrufe in der „Fachpresse“.222 Die Modelle für Erbkrankheiten, so kann festgehalten werden, wurden in den Zuchten und Laboratorien der Genetiker ‚entwickelt’, und die vergleichende Erbpathologie war ihr Projekt.223 Als Teil von Experimentalsystemen bzw. einer Experimentalkultur konnten die Versuchstiere verschiedene Forschungskontexte mit einander verbinden und die Experimentalkultur ihrerseits proliferieren.224 Das informelle, lokale Netzwerk von Wissenschaftlern ermöglichte die Herausbildung der neuen Forschungsrichtung.225 Solche Netze können gerade in der Etablierungsphase einer Forschungsrichtung diese Vermittlungsrolle einnehmen.226 Die integrativen Funktion der lokalen Kommunikations- und Austauchrelationen einerseits und die Zirkulation von Versuchstieren und Techniken andererseits gibt einen Erklärungsansatz dafür, wie die situativen und kontingenten Details der Laborpraxis zu einer gemeinsamen Praxis und Gegenstandsauffassung vermittelt wurden. 6.3.2 Die Rationalität und Strukturelemente der vergleichenden Erbpathologie – revisited Das Programm der vergleichenden Genetik war einerseits an die kollektive Ausbildung einer Experimentalkultur des vergleichenden Experiments und einen Stil des wissenschaftlichen Überlegens und Kalkulierens gebunden. Darüber hinaus folgte diese Forschungsrichtung mehr oder weniger explizit konzeptuellen Annahmen, mit denen diskursiv ihr wissenschaftlicher und biologischer Anspruch verankert wurde. In 5.4 ist der Diskurs über die Übertragbarkeit der Ergebnisse der experimentellen Genetik auf medizinische Zusammenhänge darauf untersucht worden, welche explizite und implizite Rationalität in der Argumentation der Genetiker wirksam war. Die extrahierten Diskurselemente können, insofern 222 Vgl. Nachtsheim 1937e: 463. – Es ist auch am Beispiel Kühns Versuchstierzuchtprojekt deutlich geworden, dass nicht nur die Zucht und der dauerhafte Erhalt eines Versuchstierstamms, sondern schon die ‚Entdeckung’ und Einordnung eines krankhaften Zustands ein hohes Maß an Spezialwissen erforderte (vgl. 3.3). 223 Zwischen Problemen der Genetik und solchen der Medizin pendelnd, verstanden die Genetiker, nach was zu suchen war und was sich für eine experimentelle Bearbeitung eignete. 224 Die Versuchstiere waren einerseits als Instrumente selbst eine Black Box, andererseits wurde mit ihnen das technische Wissen darüber mittransportiert, wie die Tiere in einem experimentellen Arrangement einzuspannen waren, damit ein Experiment funktionierte. Dieses Know-how, das sich in keinem Fachartikel wieder findet, ist aber Teil der transdisziplinären Ermöglichung einer Forschungsgemeinschaft (vgl. Rheinberger 1997: 138; vgl. auch Fujimura 1999: 73-74). 225 Die kleine Gemeinschaft vergleichender Erbpathologen verständigte sich nicht nur literarisch und bei Kongressen auf Probleme, Fragestellungen und Methoden. Die Nachbarschaft der Labore, der Versuchstiertransfer, das Auftauchen neuer Mutanten in einem Labor, der verbindliche Hinweis in einem gemeinsamen Colloquium, die Beratung über Zuchtergebnisse (zum Beispiel das klinische Bild eines Modelltiers) – diese ‚graue Literatur der Praxis’ formte die Forschungspraxis und bildete einen Stil heraus in der Konstruktion von Modellsystemen, ihrer Standardisierung und ihrer Bewertung. 226 Ein noch engeres und intensiveres Austauschsystem ist für die Anfänge der amerikanischen und englischen Säugetiergenetik beschrieben worden. (vgl. zu Mausgenetik: Rader 1995: 316ff.; Löwy & Gaudillière 1998: 222; vgl. auch zu Drosophila: Kohler 1994: 168-69) 301 sie im biologischen Repräsentationsraum einer repräsentativen Ordnung folgten, als Strukturelemente der vergleichenden Erbpathologie bezeichnet werden. Die drei Hauptargumente, die die Praxis des Vergleichs in Voraussetzungen und Konzepten der biologischen Wissenschaft fundierten, waren das Argument der Gleichartigkeit, das auf die Ähnlichkeit der Grundstrukturen des Lebens rekurrierte, das Argument der Gesetzhaftigkeit, welches die Allgemeingültigkeit mendelgenetischer Aussagen begründete, und das evolutionstheoretische Argument, das die Gleichartigkeit und Vergleichbarkeit bestimmter Spezies erklärte. Im Laufe der dreißiger Jahre nun wurden diese Diskurselemente Modifikationen unterzogen, die ihre Mobilisierung zur Bekräftigung des autoritativen Geltungsanspruchs der genetischen Forschung effektivierte. Bevor hierauf gleich zurückzukommen ist, werden im Folgenden die allgemeinen Schwierigkeiten des Anspruchs der vergleichenden Erbpathologie, mit denen sie zu tun bekam, im Abriss verdeutlicht. Mit den Konzepten des „höheren Mendelismus“ (Just), die zwar den Geltungsbereich der mendelschen Genetik erweiterten, verkomplizierte sich die Lage der vergleichenden Genetik. Diese Konzepte zwangen dazu, grundsätzlich ein flexibilisiertes Verhältnis zwischen Genen und Erscheinungsbild anzunehmen. An die Stelle der 1:1-Beziehung traten heterogene Beziehungen: Der gleiche Genotyp konnte mit verschiedenen Erscheinungen zusammengebracht werden (phänotypische Variabilität) oder, umgekehrt, konnte dem gleichen Phänotyp unterschiedliche Entstehungsbedingungen zu Grunde liegen (‚genetische Heterogenität’). Die grundsätzliche Schwierigkeit, die daraus erwuchs, lag auf der Hand: Die Gleichheit der Erscheinungen bedeutete „noch nicht die Abhängigkeit von ein und demselben Erbfaktor, wissen wir doch, daß auch innerhalb der Spezies das gleiche Merkmal, ja ein ganzer Erscheinungskomplex durch verschiedene Gene in derselben Weise hervorgerufen werden kann“.227 Und nicht nur genetisch, auch durch äußere Faktoren konnten Erscheinungen entstehen, die dem Phänotypus einer Mutation glichen. Richard Goldschmidt bezeichnete die ‚Abbilder’ der Mutationen 1935 als Phänokopien.228 Für die vergleichende Genetik war es nun komplizierter zu begründen, warum die Ähnlichkeit von Krankheitsbildern zwischen Tier und Mensch als Grund für die Annahme reichte, dass das Tier als pathogenetisches Modell für die Humanmedizin dienen konnte. Diese Frage fand sich umgewandelt in der Frage nach dem ‚gewöhnlichen’ Charakter einer Krankheit wieder. Der Ausdruck Phänokopie suggerierte bereits eine Ordnung von Original und Imitat. So tendierten die Genetiker dahin, die genetische Ätiologie als die ‚normale’ Ursache einer Krankheit anzunehmen. Der darin verborgene Anspruch auf die allgemeine Erklärungspotenz der Genetik resultierte zum einen aus der sukzessiven Ausweitung des genetischen Geltungsbereichs auf physiologische und Krankheitsmerkmale.229 Zum anderen 227 Nachtsheim 1936b: 742 Vgl. Goldschmidt 1935: 127. Die zu Grunde liegenden Modifikationsexperimente waren zum Teil schon 1929 veröffentlicht worden. 229 Zur Ausweitung des mendelgenetischen Merkmalraums, vgl. 2.2.2 u. 4.2.2.2. Zudem ist zu beachten, dass auch die Wandlung im Krankheitsverständnis die Zuständigkeit der Genetik diskursiv stützte. Das Prinzip von Broussais, das Biologie und Pathologie miteinander verknüpfte, 228 302 gründete er im Argument der Gesetzhaftigkeit genetischer Konzepte. Otto Koehler präzisierte, was unter dieser Gesetzmäßigkeit zu verstehen war. Erstmals sei es mit der mendelschen Genetik möglich geworden „mathematische Gesetzmäßigkeit“ auf Leben erfolgreich anzuwenden; erfolgreich, denn die mathematische Logik erlaube die Voraussagbarkeit, ähnlich wie in der Astronomie.230 Etwas vorsichtiger drückte sich Eugen Fischer aus. Die genetischen Regeln entsprächen einer Gesetzmäßigkeit im „biologischen Sinne“.231 Diese Eingrenzung hinderte aber nicht daran, das Primat der Erblichkeit als ein kausaltheoretisches und ätiologisches Primat aufrecht zu erhalten. Neben der Mathematisierbarkeit begründete die Gesetzmäßigkeit der mendelschen Erbregeln ihre Nützlichkeit für die vergleichende Erbpathologie. Ihnen war, so könnte man auch sagen, der Anwendungscharakter und die instrumentelle Vernünftigkeit der empirisch-analytischen Methode der Naturwissenschaft schon eingeschrieben. Die Allgemeingültigkeit der Erbregeln begründete diskursiv den Raum für eine Experimentalkultur der vergleichenden Erbpathologie. Alfred Kühn, auf den sich Koehler maßgeblich bezog, drückte dies in der griffigen Baconischen Gleichung über den Zusammenhang von Wissen und Nutzen resp. Macht aus: „Der Lebenslauf der Einzelwesen, Rassen und Arten der niedersten einzelligen Lebewesen, der Pflanzen, der Tiere und des Menschen wird beherrscht von denselben Naturgesetzen. Nur der Mensch, der sie erkennt, vermag sie zu nützen.“232 6.3.3 Synthetische Modelle: Homologie – Domestikation – Art- und Rassebildung Die diskursive Rationalität der vergleichenden Genetik wurde durch die neuen Konzepte der mendelschen Genetik nicht nur verkompliziert. Diese und die Entleistete der Grundauffassung Vorschub, dass nicht nur äußerliche und unwichtige Merkmale, sondern auch Krankheitsveranlagungen den mendelschen Erbgesetzen gehorchten (vgl. 2.2.1). 230 Koehler 1935: 1260 – Es ist wissenschaftstheoretisch umstritten, ob in der Biologie vergleichbar zu Physik oder Chemie von Gesetzen gesprochen werden kann (vgl. Schaffner 1993: 67-73 u. 119-23). Im zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskurs wurde der Gesetzesbegriff meines Erachtens nicht problematisiert. 231 Fischer 1940: 247. Herv. Verf. Die Verlässlichkeit der Erbregeln zum Beispiel in der Diagnostik sei so groß, dass „wir (im biologischen Sinne des Wortes) von G e s e t z e n sprechen müssen“ (ebd.) – Erbliche Bedingtheit sei deshalb „nicht physikalischer Gesetzlichkeit gleichzusetzen“, sekundierte v. Verschuer: „Erbbedingtheit ist Reaktionsmöglichkeit. Welche der gegebenen Möglichkeiten verwirklicht wird, bestimmt die Umwelt“ (v.Verschuer 1936: 18; v.Verschuer 1944b: 24). In Verschuers Aussage reflektierte sich die Annäherung zwischen Entwicklungsphysiologie und Genetik (vgl. 4.2.2) Mit der Reaktionsnorm war ein neues Leitkonzept im naturwissenschaftlichen Verständnis des Organismus angesprochen. Eine Position, die mit den atomistischen Genen einen strengen (physikalisch-reduktionistischen) Determinismus begründen suchte, war damit nicht mehr möglich. Das hinderte Verschuer nicht daran, gegen „mythische Vorstellungen und naturphilosophische Hypothesen“ von Vererbung argumentierend, die „naturgesetzlichen Vorgänge“ des „Grundgesetzes der Vererbung“ zu bemühen (vgl. v.Verschuer 1934: 765). – Auch der Schüler v. Verschuers und Mediziner F. Claussen begründete die Analogisierbarkeit zwischen Mensch, Tier und Pflanze mit der Rückführung organischer Störungen im Tierexperiment auf fundamentale Lebensprozesse (vgl. Claussen 1939: 42). 232 Kühn 1935a: 92 bzw. zit. in Koehler 1935: 1299 – Zu Francis Bacons (1560-1626, Theoretiker der wissenschaftlichen und experimentellen Methode) Identifizierung von Wahrheit und Fortschritt (vgl. Hacking 1996: 407; Poser 2001: 136). Diese frühe Identifizierung von mathematisierter Wissenschaft, Technik und Macht ist der motivische Ausgangspunkt der Gesellschaftskritik von Horkheimer & Adorno 1988: 9ff.. 303 wicklung der synthetischen, populationsgenetischen Theorie schufen auch die Vorausset