Erika Steinbach MdB Präsidentin des Bundes der Vertriebenen 8
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Erika Steinbach MdB Präsidentin des Bundes der Vertriebenen 8
Erika Steinbach MdB Präsidentin des Bundes der Vertriebenen 8. Mai 1945 Die Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa – integraler Bestandteil der deutschen Geschichte? In diesen Monaten blicken wir aus unterschiedlichen Perspektiven 60 Jahre zurück. Im Mittelpunkt steht mit Recht das offizielle Kriegsende am 8. Mai 1945. Gedenkveranstaltungen und „Jubiläen“ dieser Art lassen in aller Regel entweder den Blick erleichtert zurückschweifen oder sie erzwingen eine beklemmende Rückschau. Das Ende des Zweiten Weltkrieges ist für uns Deutsche eine Symbiose beider Gefühle. Theodor Heuss, der erste deutsche Bundespräsident unserer jungen Demokratie formulierte sehr treffend: „Erlöst und vernichtet in einem.“ Mit Ende dieses mörderischen Zweiten Weltkrieges atmeten nicht nur die Menschen in unseren Nachbarländern auf, sondern auch für Deutsche war es die Erlösung von allgegenwärtiger Angst um Brüder, Väter oder Söhne im Krieg, Angst vor Bombardements, Angst vor den feindlichen Truppen, Angst vor Bespitzelung und Denunziation. Das Grauen der nationalsozialistischen Diktatur, für die Auschwitz zum Synonym wurde, hat grenzenloses Leid in Europa erzeugt und die eigenen Bürger in den Abgrund gerissen. All das hat tiefe Brüche und Risse in den Herzen und Seelen der Menschen hinterlassen. Mit dem 8. Mai 1945 aber hatten Unmenschlichkeit und Grausamkeit in Europa noch immer kein Ende. Stalins harte Faust lag über Mittel- und Osteuropa und raffte Millionen Menschen vieler Völker dahin. Und über viele Jahre hinweg, bis fast in die fünfziger Jahre, wurden Deutsche aus ganz Mittel- und Osteuropa aus ihrer Heimat vertrieben oder waren in Zwangsarbeit geknechtet. Es gab keine Fragen nach individueller Schuld oder Verantwortung. Es reichte aus, deutscher Volksangehöriger zu sein, ob Säugling oder Greis, Mann oder Frau. Alle wurden in eine Kollektivhaftung genommen, wenn sie nicht im Westen Deutschlands ihre Heimat hatten. Von den Ursachen her war dies auch eine Folge der NS-Diktatur. Im Ergebnis aber waren diese Menschenrechtsverletzungen gleichermaßen unentschuldbar. Ein Historikerstreit darüber ist müßig. Es reicht, die Zeitzeugen zu Wort kommen zu lassen. Jeder forsche Satz von "gerechter Strafe" für die Verbrechen Hitlers bleibt dann im Halse stecken. Jürgen Thorwald berichtet in dem Sammelband "Die große Flucht", auch wiedergegeben im Schwarzbuch der Vertreibung von Heinz Nawratil, folgendes. Der deutsche Pfarrer Karl Seifert stand am Abend des 20. Mai 1945 in der Gegend des sächsischen Pirna mit einigen Männern seiner Gemeinde am Ufer der Elbe. Er hatte dem sowjetischen Kommandanten die Erlaubnis abgerungen, tote Deutsche zu bestatten, die Tag für Tag an dieses Ufer getrieben wurden. Sie kamen elbabwärts aus der Tschechoslowakei. Und es waren Frauen und Kinder und Säuglinge, Greise und Greisinnen und deutsche Soldaten. Und es waren Tausende und Abertausende, von denen der Strom nur wenige an jenen Teil des Ufers spülte, an welchem der Pfarrer und seine Männer die Toten in die Erde senkten und ein Gebet über ihren Gräbern sprachen. An diesem 20. Mai geschah es, dass der Strom nicht nur solche Deutsche von sich gab, die zusammengebunden ins Wasser gestürzt und ertränkt worden waren und nicht nur die Erdrosselten und Erstochenen und Erschlagenen, ihrer Zungen, ihrer Augen, ihrer Brüste Beraubten, sondern auf ihm trieb, wie ein Schiff, eine hölzerne Bettstelle, auf der eine ganze deutsche Familie mit ihren Kindern mit Hilfe langer Nägel angenagelt war. Als die Männer die Nägel aus den Händen der Kinder zogen, da konnte der Pfarrer nicht mehr die Worte denken, die er in den letzten Tagen oft gedacht hatte, wenn er sich mit den Tschechen beschäftigte und Seite 1 von 8 wenn Schmerz und Zorn und Empörung ihn übermannen wollten: "Herr was haben wir getan, dass sie so sündigen müssen." Dies konnte er nicht mehr ... Ortswechsel: Im jugoslawischen Vernichtungslager Gakowo kamen innerhalb weniger Monate 8500 Donauschwaben zu Tode. Ab Mai 1947 betreute Kaplan Paul Pfuhl die Sterbenden. In seinem späteren Bericht darüber heißt es unter anderem: „Diese Häuser waren Stätten des Grauens. Wie oft habe ich Beichte gehört und die letzte Ölung gespendet. Ein Fall steht mir noch ganz lebendig vor Augen. Da lag eine Frau im Hausgang, ich fragte sie, ob sie nicht beichten wolle. Schroff wies sie mich ab. Sie hätte nichts zu beichten. Als ich ihr zuredete, dass wir doch alle Sünden hätten und die Verzeihung Gottes brauchten, kam es hart über ihre Lippen: Mir hat Gott nichts zu verzeihen, höchstens habe ich ihm zu verzeihen.“ Für die meisten der deutschen Vertreibungs-, Deportations- und Lageropfer aber war Gott die einzige Zuflucht, ja der Rettungsanker in ihrem fast unerträglichen Leben, in ihrem entwurzelten Dasein. Bis zum Jahre 1950 fanden acht Millionen Heimatvertriebene und Flüchtlinge in den westlichen Besatzungszonen Aufnahme. Vier Millionen in Mitteldeutschland. Die Eingliederung so vieler seelisch und teils auch körperlich verwundeter und erschöpfter Menschen schien nach 1945 schier unmöglich. Das Land lag in Trümmern. Ein fünf Jahre währendes Bombardement hatte mehr als tausend Städte und Ortschaften durch nahezu eine Millionen Tonnen Spreng- und Brandbomben überwiegend dem Erdboden gleichgemacht. Aus den öden Fensterhöhlen schaute das Grauen. Diesen „mörderischen Verheerungen“, wie der Spiegel am 6. Januar 2003 schrieb, fielen mehr als eine halbe Million Menschen zum Opfer. Die seit dem Mittelalter gewachsene deutsche Städtelandschaft war weitgehend vernichtet. Hinzu kam der moralische Schock mit den Bildern aus den geöffneten Konzentrationslagern, die niemanden kalt lassen konnten. Es war kaum vorstellbar, dass aus dieser Wüstenei ein geordnetes Miteinander und eine stabile Demokratie erwachsen konnte. Zu den obdachlosen, verarmten und hungernden Einheimischen strömten schon ab 1944 Millionen und Abermillionen deutsche Flüchtlinge und Vertriebene aus ganz Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Sie kamen aus den baltischen Ländern, aus Rumänien, Jugoslawien, Ungarn, Polen, der Sowjetunion und der Tschechoslowakei, aus den Ländern, in denen sie seit Jahrhunderten siedelten. Einige aus den Gebieten, in die sie von Hitler umgesiedelt worden waren. Und sie kamen aus dem Osten Deutschlands, der heute zu Polen und Russland gehört. Ohne jede Habe, heimatlos, verzweifelt und mit der festen Hoffnung im Herzen auf Rückkehr. Wie sollte, wie konnte dieses kumulierte menschliche Elend zu einer stabilen Demokratie führen? Das war völlig unvorstellbar. Stalin hatte gehofft, dass die Millionen Vertriebenen das ohnehin daniederliegende Deutschland destabilisieren würden und auch Westdeutschland unweigerlich in die Arme des Kommunismus treiben würde. Konrad Adenauer, der erste deutsche Bundeskanzler, war sich dessen bewusst. Zu Beginn seiner Kanzlerschaft 1949 stellte er fest: „Ehe es nicht gelingt, den Treibsand der Millionen von Flüchtlingen durch ausreichenden Wohnungsbau und Schaffung entsprechender Arbeitsmöglichkeiten in festen Grund zu verwandeln, ist eine stabile innere Ordnung in Deutschland nicht gewährleistet“. In der Aufnahme und Eingliederung dieser riesigen Menschenmasse sah er eines der drängendsten Probleme der jungen westdeutschen Demokratie, in der die ersten Früchte des Marshall-Plans erst langsam wuchsen. Er schuf ein eigenes Ministerium für Flüchtlinge und Vertriebene mit dem Schlesier Hans Lukaschek an der Spitze. Und in einer ganzen Reihe von Gesetzen wurde in dieser ersten Legislaturperiode unserer jungen Demokratie der Grundstein für eine friedliche Zukunft gelegt. Stalins Rechnung ging nicht auf. Wie aber fand die Aufnahme dieses Teils deutscher Geschichte in unsere Gesetze, Lehrbücher und Köpfe der Menschen statt? Was ist bis heute geblieben an Folgen für die Praxis und an Anteilnahme im Bewusstsein der Vertriebenen und der Nicht-Vertriebenen? Die „integralen Bestandteile der deutschen Geschichte“ spiegeln sich auch, aber nicht nur Seite 2 von 8 am Niedergeschriebenen in Geschichtsbüchern wieder. Im folgenden wird daher der Reihe nach eingegangen auf die Gesetzgebung unmittelbar nach Kriegsende, auf die Integration der Menschen, ihres Kulturgutes und der landsmannschaftlichen Zusammenschlüsse, auf die politische und insbesondere wissenschaftliche Aufbereitung- und Erinnerungskultur und damit auf das öffentliche Bewusstsein in Deutschland. Eines der ersten überhaupt vom Deutschen Bundestag verabschiedeten Gesetze war das Soforthilfegesetz vom September 1949. Von Gewicht war auch das Lastenausgleichsgesetz von 1952. Mit dem Bundes-Vertriebenen- und Flüchtlingsgesetz vom 19. Mai 1953 war die so genannte Kriegsfolgengesetzgebung vorläufig abgeschlossen. Dieses Gesetz ging über die sozialen Aspekte weit hinaus. Es hatte und hat den Sinn, den Deutschen aus dem Osten einen angemessenen Platz in der hier heimischen Gesellschaft zu gewährleisten und per Legaldefinition festzuschreiben, wer Heimatvertriebener, wer Vertriebener, wer Flüchtling ist. Der wirtschaftlichen Eingliederung zu Beginn der 50er Jahre und der ersten Sicherung wenigstens elementarster Grundbedürfnisse sollte nun die gesellschaftliche Eingliederung folgen. Integration, nicht Assimilation war und ist das Ziel dieses Gesetzes. Das sind die ideellen Grundgedanken von Eingliederungspolitik, die den Vertriebenen nicht mit bloßer Caritas, sondern mit Solidarität und Gleichberechtigung begegnen will. Den grausamen Kriegs- und Nachkriegsverlusten Deutschlands stehen auf der anderen Seite unschätzbare Gewinne der Aufnahmegesellschaft gegenüber, auch wenn diese das zunächst überhaupt nicht so gesehen hat: Das „unsichtbare Fluchtgepäck“ der Vertriebenen, ihr technisches, handwerkliches oder akademisches know how, ihre sieben-, achthundertjährige kulturelle Erfahrung im Neben- und Miteinander mit ihren slawischen, madjarischen, baltischen oder rumänischen Nachbarn hat Deutschland nachhaltig geprägt – Erfahrungen, die in Verbindung mit vielfacher Mehrsprachigkeit in keinem anderen westlichen Industriestaat so verdichtet sind wie in Deutschland! Die Heimatvertriebenen haben interkulturelle Kompetenz mitgebracht. Und sie haben als unsichtbares Fluchtgepäck ihre kulturelle Identität eingebracht. Es war nichts, was sofort sichtbar gewesen wäre, sondern das, was in Kopf und Herzen mitgetragen wurde aus der Heimat hierher. Es war allerdings hörbar in den Klangfarben der regionalen Mundarten. Das Bundesvertriebenengesetz macht deutlich, dass das Kulturgut der Vertriebenen gesamtdeutsche Aufgabe ist. Unverzichtbarer Teil der Identität des ganzen deutschen Volkes. Das Erbe der Karlsuniversität in Prag hat unser Volk genauso geprägt wie das der Universitäten Königsberg, Breslau, Dorpat, Czernowitz oder Heidelberg, Tübingen, Marburg, München, Leipzig oder Berlin. Das zu ignorieren hieße, geistige Wurzeln kappen. So war es weise, dass Bund und Länder der jungen Bundesrepublik Deutschland 1953 mit diesem Gesetz die Verantwortung für das gesamte kulturelle Erbe unabhängig von Grenzen und von staatlicher Zugehörigkeit hervorhoben. So heißt es in § 96 BVFG: „Bund und Länder haben das Kulturgut der Vertreibungsgebiete in dem Bewusstsein der Vertriebenen und Flüchtlinge, des gesamten deutschen Volkes und des Auslandes zu erhalten, Archive, Museen und Bibliotheken zu sichern, zu ergänzen und auszuwerten, sowie Einrichtungen des Kunstschaffens und der Ausbildung sicherzustellen und zu fördern. Sie haben Wissenschaft und Forschung bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus der Vertreibung und der Eingliederung der Vertriebenen und Flüchtlinge ergeben, sowie die Weiterentwicklung der Kulturleistungen der Vertriebenen und Flüchtlinge zu fördern“. Dieser gesetzliche Auftrag ist geboren aus der Erkenntnis, dass es ein einheitliches, ein gemeinsames kulturelles Fundament gibt. Hier liegt heute in der Umsetzung des Gesetzesauftrages manches im Argen. Die schönsten Seiten unseres Vaterlandes sind in seinem kulturellen Reichtum mit vielen unterschiedlichen Facetten zu finden. In schöpferischem Geist erwuchsen über die Jahrhunderte Musik, Literatur, Philosophie, Baukunst und Malerei. Neugier an Wissenschaft und Forschung hatten Heimstatt an den Hochschulen. Studenten aus aller Welt pilgerten deshalb zu deutsch geprägten Universitäten in und außerhalb Deutschlands. Bedeutende Frauen und Männer hatten ihre Wurzeln in den Vertreibungsgebieten: Seite 3 von 8 • Gregor Mendel, Ferdinand Porsche, Bertha von Suttner, Adalbert Stifter, Marie von Ebner Eschenbach, Rainer Maria Rilke, Franz Kafka oder Franz Werfel in Böhmen und Mähren, • Andreas Schlüter, Arthur Schopenhauer oder Franz Halbe in Danzig, • Nikolaus Kopernikus oder Emil von Behring in Westpreußen, • Immanuel Kant, Johann Gottfried Herder, E.T.A. Hoffmann, Lovis Corinth, Käthe Kollwitz, Agnes Miegel, Ernst Wiechert oder Hannah Arendt in Ostpreußen, • Angelus Silesius, Friedrich Schleiermacher, Joseph von Eichendorff, Adolf von Menzel, Gustav Freytag, Gerhart Hauptmann oder Edith Stein in Schlesien, • Ernst Moritz Arndt, Caspar David Friedrich, Philipp Otto Runge, Rudolf Virchow oder Otto Lilienthal in Pommern, • Werner Bergengruen im Baltikum und • Gregor von Rezzori und Rose Ausländer in der Bukowina oder • die Familie unseres derzeitigen Bundespräsidenten Horst Köhler in Bessarabien. Und das ist nur eine kleine Auswahl. Eine andere, ebenso wichtige Wegmarkierung enthält dieses Gesetz. Es legt fest, wer als deutscher Vertriebener oder Flüchtling gilt und dauerhaft hier Aufnahme finden durfte und darf. Das hat Auswirkungen bis heute. Seit dem Abschluss der so genannten allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen 1950 sind auf der Grundlage dieses Gesetzes über vier Millionen Deutsche und Familienzugehörige als Aussiedler aus den Vertreibungsgebieten in die Bundesrepublik Deutschland gekommen, die meisten seit 1988/89. Hunderttausende warten noch auf ihre Aufnahmebescheide, weil sie es in den jetzigen Wohnsitzstaaten nicht mehr aushalten. Das trifft insbesondere auf die Deutschen aus Russland zu. Die gesamte deutsche Volksgruppe in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion war seit 1941 über Jahrzehnte von kollektiven Strafmaßnahmen betroffen. Die Auswirkungen reichen bis heute. Die jahrzehntelange zwangsweise Verbannung mit den Einweisungen in Sondersiedlungen, der jahrelange Dienst als Zwangsarbeiter in der Trudarmee, der Verlust der Bürgerrechte und aller kulturellen Einrichtungen haben nicht nur die Existenz des Einzelnen und seiner Familie, sondern auch die Grundlagen der nationalen Identität der Volksgruppe erschüttert und vielfach zu einer dauerhaften Entwurzelung geführt, unter der die Deutschen aus Russland noch immer zu leiden haben. Die Härte des Lebens in der Verbannung, der Mangel an einfachen Unterrichtsmaterialien, strikte Verbote oder administrative Hürden haben dazu geführt, dass 16 Jahre lang ein großer Teil der Kinder und Jugendlichen keine Möglichkeit hatte, eine Schule zu besuchen. Damit war eine ganze Generation der partiellen oft sogar der totalen Analphabetisierung Preis gegeben. Eine Rehabilitierung der Deutschen hat es nie gegeben. Mit dem Aufkommen nationalistischer Tendenzen in den mittelasiatischen Republiken, den Verbannungsgebieten, in denen sie überwiegend nach wie vor leben, waren sie in den 90er Jahren einem verstärkten Aussiedlungsdruck ausgesetzt. Rechtlich und moralisch trägt Deutschland eine besondere Verantwortung für diese Menschen, die länger und schmerzhafter als andere darunter leiden mussten, dass sie als Deutsche geboren und Opfer einer unmenschlichen Nationalitätenpolitik Stalins wurden. Hannah Arendt, in Königsberg aufgewachsen, gehörte zu den vielen Vertriebenen der Hitlerdiktatur. Für sie gab es keinen Determinismus, der in die Barbarei führen muss. Ihr Werk ist bis heute eine Schatzkammer für politisches Denken. Mit ihrem scharfen Intellekt Seite 4 von 8 erkannte sie als eines der brisantesten Probleme der modernen Zivilisation das Phänomen der Flüchtlinge. Das erste Menschenrecht ist nach Hannah Arendt das Heimatrecht, denn „der erste Verlust, den die Rechtlosen erlitten, war der Verlust der Heimat. Die Heimat verlieren heißt die Umwelt verlieren, in die man hineingeboren ist und innerhalb der man sich einen Platz geschaffen hat, der einem sowohl Stand und Raum gibt“. Wie ähnlich klingt es doch in der Charta der deutschen Heimatvertriebenen: „Heimatlose sind Fremdlinge auf dieser Erde. Gott hat die Menschen in ihre Heimat hineingestellt. Den Menschen mit Zwang von seiner Heimat zu trennen bedeutet, ihn im Geiste zu töten“. Heute, 60 Jahre nach Beginn der gezielten Massenvertreibungen kann man von einer alles in allem gelungenen Eingliederung von weit über zwölf Millionen Vertriebenen und vier Millionen Aussiedlern in die deutsche Gesellschaft sprechen, wenn wir von den Spätaussiedlern dieser Tage absehen. Vieles, was in den 50er Jahren noch dringend und drängend war, ist es eben heute nicht mehr – dank der Eingliederungsleistung, die die Vertriebenen, die Aussiedler und die Einheimischen gemeinsam erbracht haben. Diese großartige Gemeinschaftsleistung war und ist nahezu ein Wunder. Erst daraus konnten Frieden und Wohlstand in Deutschland erwachsen. Der französische Politikwissenschaftler Alfred Grosser hat die Integration der Vertriebenen und Flüchtlinge als die größte sozial- und wirtschaftspolitische Aufgabe bezeichnet, die von der Bundesrepublik gemeistert worden sei. Dennoch wird in der Darstellung der Nachkriegsgeschichte Deutschlands diese grandiose Leistung praktisch nicht benannt, sondern überwiegend ignoriert. Warum aber konnte diese Herkulesaufgabe gelingen? Die Aufnahme einer solch großen Zahl von Menschen in so kurzer Zeit hätte schon ein intaktes Staatswesen vor kaum lösbare Probleme gestellt. Zweierlei hat dazu beigetragen. Der erste Grund: Die Heimatvertriebenen haben nicht Rachegedanken kultiviert, sondern immer und immer wieder manifestiert, dass sie Versöhnung wollen mit den Staaten und den Menschen, die sie vertrieben haben. Und in der schon legendären Charta von 1950 zudem artikuliert: „Wir werden durch harte, unermüdliche Arbeit teilnehmen am Wiederaufbau Deutschlands und Europas“. Aber auch in der DDR haben die Vertriebenen unter ganz anderen, viel schwierigeren Bedingungen ihren Beitrag zum Aufbau geleistet. Obwohl sie sich nicht zusammenschließen durften, keine Not- und Trostgemeinschaften bilden konnten wie die Vertriebenen im Westen Deutschlands. Der zweite Grund, warum unsere Demokratie eine Chance hatte, zu wachsen und stabil zu werden: Die Parteien der Bundesrepublik Deutschland unterstützten über zwei Jahrzehnte einmütig die Anliegen der Vertriebenen und waren sich ihrer Verantwortung sehr bewusst. Nicht nur Bundeskanzler Adenauer, sondern auch der Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokratischen Opposition, Kurt Schumacher, und Erich Ollenhauer als Parteivorsitzender standen an der Seite der Heimatvertriebenen und mit ihnen der freidemokratische Bundespräsident Theodor Heuss. Doch Ende der 60er Jahre wandelte sich das Klima. Es kam zu einem Prozess der Entsolidarisierung großer Teile der politischen Klasse, insbesondere der politisch links Stehenden, gegenüber den Vertriebenen. Ein Mantel des Schweigens und Verschweigens begann sich über Deutschland zu legen. Selbstkritisch stellte Bundesinnenminister Otto Schily 1999 in seiner Rede im Berliner Dom fest: „Die politische Linke hat in der Vergangenheit, das lässt sich leider nicht bestreiten, zeitweise über die Vertreibungsverbrechen, über das millionenfache Leid, das den Vertriebenen zugefügt wurde, hinweggesehen, sei es aus Desinteresse, sei es aus Ängstlichkeit vor dem Vorwurf, als Revanchist gescholten zu werden, oder sei es in dem Irrglauben, durch Verschweigen und Verdrängen eher den Weg zu einem Ausgleich mit unseren Nachbarn im Osten zu erreichen. Dieses Verhalten war Ausdruck von Mutlosigkeit und Zaghaftigkeit. Inzwischen wissen wir, dass wir nur dann, wenn wir den Mut zu einer klaren Sprache aufbringen und der Wahrheit ins Gesicht sehen, die Grundlage für ein gutes und friedliches Miteinander finden können“. Das hat sich auf das Gesamtklima unseres Seite 5 von 8 Landes positiv ausgewirkt. Auch wenn bis heute noch nicht jeder davon zu überzeugen war, so gibt es immerhin eine lebendige Diskussion, der sich kein Medium verschließt. Dem objektiven Sachverhalt der völligen gewaltsamen Umformung der beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften BRD und DDR durch die Aufnahme soziokulturell, religiös oder dialektal teilweise total von den Aufnahmeregionen unterschiedenen Vertriebenen und „Flüchtlingen“ stand über sehr lange Zeit eine subjektive Wahrnehmungsverweigerung dieser ganz Deutschland und das gesamte deutsche Volk betreffenden einschneidenden Katastrophe gegenüber. Das Thema Vertreibung wurde primär als soziales Problem gesehen und nicht als deutsche Identitätsfrage. In jüngster Zeit hat sich das deutlich geändert. War es während des Kalten Krieges noch wenig opportun und „nicht politisch korrekt“, sich mit Völkermord, Vertreibung und ethnischer Säuberung zu beschäftigen, wenn Deutsche eben nicht Täter, sondern unschuldige Opfer waren, so änderte sich dies spätestens in der Zeit der grausigen Balkankriege 1991-95 und endgültig 1999, als deutsche Bundeswehrsoldaten mit ihren NATO-Kameraden dem Gemetzel auf dem Amselfeld (Kosovo) ein Ende bereiteten. Doch selbst damals vor sechs Jahren kamen führende bundesdeutsche Außenpolitiker nicht ohne eine Rechtfertigung der NATO-Intervention unter Beteiligung der Bundeswehr durch eine Parallelisierung der serbischen Verbrechen mit „Auschwitz“ aus, obwohl eine solche mit dem Grauen im Deutschen Osten oder auf dem Balkan 1944/48 doch sehr viel näher gelegen hätte: Vukovar, Ossijek (Esseg) oder Slavonski Brod waren nicht erst 1991/92, sondern schon 1944/48 Orte schrecklicher „ethnischer Säuberungen“, doch waren damals die Opfer nicht Kroaten, sondern deutsche Donauschwaben. Der Vertreibung der Donauschwaben aus Jugoslawien, die nur von zwei Dritteln der nicht zuvor bereits Geflüchteten überlebt wurde, hat der Würzburger Völkerrechtler Dieter Blumenwitz in einem wissenschaftlichen Gutachten Völkermordcharakter attestiert. Nur wenige begriffen bereits in den 50er Jahren, was die Vertreibung und die Aufnahme Millionen ost- und sudeten- und südostdeutscher Heimatvertriebener in West- und dem damaligen Mitteldeutschland bedeutete. Der bedeutende Soziologe Eugen Lemberg beschrieb schon 1950 den unter tumultartigen, von Not und Mangel bestimmten Nachkriegsverhältnissen verlaufenden und oft auch konfliktreichen Prozeß wissenschaftlich kühl-distanziert als die „Entstehung eines neuen Volkes aus Binnendeutschen und Ostvertriebenen“, also gewissermaßen als intraethnische Ethnomorphose. Niemals seit dem Augsburger Religionsfrieden 1555 oder seit dem Dreißigjährigen Krieg waren die demographischen und konfessionellen Verhältnisse in Deutschland dermaßen umgestürzt worden. Jeder zweite Deutsche lebte schon 1945 nicht mehr dort, wo er 1939 seinen Lebensmittelpunkt gehabt hatte. Nicht nur die Vertriebenen, auch die Ausgebombten, Evakuierten oder Kriegsgefangenen. Jedoch: Außer den Vertriebenen konnten alle in ihre Heimatorte zurückkehren, wenn sie denn wollten. Nicht so die Vertriebenen. Hunderttausende zogen es deshalb vor, aus dem zertrümmerten Deutschland nach Übersee auszuwandern. Wie hat sich die Wissenschaft zur Vertreibung der Deutschen verhalten? Unverzichtbares Standardwerk ist nach wie vor die Dokumentation der Vertreibung, die so genannte Schieder-Dokumentation, hat Karl Schlögel sehr richtig festgestellt. Er selbst hat im letzten Jahrzehnt bemerkenswerte Beiträge geliefert. Die bedeutendsten Beiträge zur Aufarbeitung der Vertreibung und ihrer Vorgeschichte in den späten 60er und den 70er Jahren kamen von Ausländern; beispielhaft seien genannt der Amerikaner Alfred de Zayas mit seinem bis heute nicht überholten Standardwerk „Die Anglo-Amerikaner und die Vertreibung der Deutschen“ (1978) und der Niederländer Hiddo M. Jolles „Zur Soziologie der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge“, 1965. Natürlich gab es über die ganzen Jahrzehnte unzählige wissenschaftliche Veröffentlichungen und wichtige Bücher zum Geschehen. Eine breite Rezeption fand jedoch nicht statt. Die ganze Thematik galt offen-kundig bis weit in die 80er Jahre der mittlerweile etablierten „68er“ ´scientific community´ als anachronistisch, wenn nicht gar als suspekt und anrüchig. Erst gegen Ende der 80er Jahre begann man im Zuge einer theoretisch hoch Seite 6 von 8 aufgeladenen und alimentierten Welle zur „Migrationsforschung“, sich auch wieder für die ost- und sudetendeutschen Migranten zu interessieren. Zahllose und oft verdienstvolle Lokalund Regionalstudien zur Aufnahme und Eingliederung der Vertriebenen sind seither erschienen. Die Vertreibung selber als historisches prae kam aber erst in den 90er Jahren wieder ins Blickfeld der akademischen Öffentlichkeit. Dies hatte wohl zwei Gründe: Zum einen die „ethnischen Säuberungen“ im zerfallenen Jugoslawien 1991-95, die man jeden Abend per TV dokumentiert bekam und ganz andere Einstellungen evozierte als irgendwelche vielleicht viel schlimmeren Massenmorde in Vorderasien, Zentralafrika oder anderswo. Zum anderen die Tatsache, dass sich seit dem Zusammenbruch des Kommunismus in Ostmittel- und Südosteuropa dort junge Historiker, Germanisten, Sozialwissenschaftler etc. nach der teilweisen – und inzwischen zum Teil auch wieder zurückgenommenen – Öffnung der Archive offen und unbefangen mit den Nachkriegsgeschehnissen in den früheren Ostprovinzen und anderen Herkunftsgebieten der deutschen Vertriebenen befassten. In der jüngsten Zeit sind sehr viele gediegene und wissenschaftlich wertvolle Arbeiten nicht mehr nur zu Aufnahme und Eingliederung der Vertriebenen, sondern zur Vertreibung und ihrer Vorgeschichte selber erschienen. In Polen, in Ungarn, in Tschechien, mit einiger Verzögerung in Deutschland und inzwischen z.B. sogar in Serbien – und das sogar noch zu Zeiten eines Milośević. Im Falle der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert haben wir es mit dem einzigartigen Fall zu tun, dass seit eineinhalb Generationen dutzende Schülerjahrgänge – ausdrücklich, oft unausdrücklich - die Geschichte ihres Heimatlandes nur in Fragmenten kennengelernt haben. Glücklicherweise ändert sich das zur Zeit. Deutsche Vertriebene hatten keinen Platz in einem häufig ideologisiertem Bildungsprogramm. Wer diese Feststellung für überspitzt hält, lese die luzide und im Ergebnis äußerst ernüchternden Analyse von Richtlinien und Schulbüchern im Fach Geschichte von 1945 bis zur Gegenwart „Der historische deutsche Osten im Unterricht“ von Jörg-Dieter Gauger (2001). Der Verfasser resümiert. „ Das beruhigende, pazifizierte und stillgelegte Europa, in dem wir heute leben, ist in Wahrheit aus einem ungeheuren Tumult von Flucht- und Umsiedlungsbewegungen hervorgegangen. Dieser Tumult hatte so ziemlich alles erfasst: die Grenzen, die einmal anders verliefen, die Städte, in denen einmal andere Bevölkerungen und Bevölkerungsgruppen lebten, die Regionen, in denen andere Sprachen gesprochen wurden. Wer heute über Europa sprechen will, muß ... von den Säuberungen und Entmischungen, denen es unterworfen war, sprechen.“ Die überwältigende Mehrheit der 15 Mio. deutschen Vertriebenen stammte nicht aus irgendwelchen Mischzonen, Gemengelagen oder Minderheitengebieten, sondern aus seit Jahrhunderten kompakt deutsch besiedelten Gebieten, über 70 Prozent davon überdies aus deutschem und Danziger Staatsgebiet. So etwas hatte es seit biblischen Zeiten nicht mehr gegeben. Das macht einen enormen qualitativen Unterschied etwa zu den „ethnischen“ Säuberungen in Kroatien und Bosnien-Herzegovina 1991-95 aus, wo es sich tatsächlich um eine freilich gleichfalls verbrecherische menschenrechtswidrige gewaltsame „Entmischung“ handelte. Darüber sollte nicht vergessen werden, dass auch hunderttausende Deutscher über zum Teil abenteuerliche Odysseen aus Gegenden nach Deutschland gelangten, von denen außer Fachleuten heute kaum jemand mehr etwas weiß. Wer weiß denn, dass in der heute serbischen Vojvodina die donauschwäbischen Siedlungsgebiete Batschka sowie Teile des Banats und Syrmiens liegen? Wer weiß, dass die Sathmarer Schwaben nicht aus dem Allgäu stammen, sondern aus dem Nordwesten Rumäniens – oder dem Südosten Ungarns, wie mans nimmt. Die weitverbreitete Unkenntnis über die Vielfalt der Herkunftsgebiete der deutschen Vertriebenen wird beispielhaft deutlich an der allgemeinen Verwirrung über die Herkunft unseres jetzigen Bundespräsidenten. Die Köhlers waren eine deutsche Familie in Bessarabien – also dem heutigen Moldawien – wo deutsche Kolonisten seit Beginn des 19. Jahrhunderts auf den Ruf der damaligen russischen Zaren hin siedelten. Nach der Seite 7 von 8 Umsiedlung 1940 infolge des Hitler-Stalin-Pakts und der erzwungenen Abtretung Bessarabiens durch Rumänien an die UdSSR landete die Familie zwischenzeitlich in Siebenbürgen und nach einiger Zeit im – heutigen – Südosten Polens, also in West-Galizien, wo Horst Köhler 1943 zur Welt kam. Man mag diesen prominenten „Fall“ als Beispiel für die Irrungen und Wirrungen der Geschichte der Deutschen in und außerhalb Deutschlands in den 40er Jahren des vergangenen „Jahrhunderts der Vertreibungen“ nehmen; eine anekdotische Ausnahme war er nicht. Für die außerhalb der Reichsgrenzen lebenden Volksdeutschen – aus Bessarabien und dem Buchenland, aus den baltischen Ländern und Wolhynien, aus Ost-Galizien und der Dobrudscha zwischen Unterlauf der Donau und Schwarzem Meer - war es eher der Regelfall, aufgrund von ihnen nicht oder kaum zu beeinflussenden politischen Entwicklungen und Entscheidungen umgesiedelt, „eingedeutscht“, angesiedelt und schlussendlich vertrieben zu werden wie auch die neun Millionen Reichsdeutschen. All diese Facetten deutscher Geschichte gehören zur gesamtdeutschen Identität. Hier ist heute nach wie vor ein riesiger weißer Fleck zu sehen. Wer sind wir? Wie haben wir im heutigen Deutschland zueinander gefunden? Das ist für die meisten Deutschen Terra incognita. Die Stiftung ZENTRUM GEGEN VERTREIBUNGEN will diesen Mangel beheben helfen. Die Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa – integraler Bestandteil der deutschen Geschichte? Unbedingt. Aber eben zugleich ein noch im kollektiven Bewusstsein zu integrierender. Dieser Teil deutscher und europäischer Geschichte und Schicksale geht nicht nur die Opfer an, sondern alle Deutschen. Im Bewusstsein ist das bis heute nicht. Weitere Informationen sind zu finden unter: www.bund-der-vertriebenen.de www.z-g-v.de Seite 8 von 8