Untitled - Tapete Records

Transcrição

Untitled - Tapete Records
Zwischen meinem 13. und 16. Lebensjahr waren
die Gebrüder Breese (Kai und Jan) aus HamburgSasel meine besten Freunde.
Mit diesen 50er-Jahre-Rock’n’Roll-Freaks gründete
ich 1979 meine erste Band, „Jay Bee and his
Jupitors“. An den Wochenenden zogen wir über
sämtliche Flohmärkte im Norden Hamburgs, um
nach raren 50er-Jahre-Vinyl-Singles zu suchen: Gus
Backus, Freddy Quinn, Conny Froboess, Ralf Bendix etc. (und falls mal eine Bill Haley dabei abfiel,
umso besser!). Für mich, gerade mit meinen Eltern
von New Jersey nach Hamburg umgezogen, waren diese Stimmen und Sounds wie seltsam gestörte
Zaubernachrichten aus einem mir noch sehr, sehr
fremden Land. Und doch zogen sie mich magisch
an. Definitiv das Coolste und Schrägste, was ich
bis dato aus Deutschland gehört hatte!
Während die meisten meiner Klassenkameraden
also zu Kiss-Songs vor dem Spiegel Luftgitarre
übten, nahm ich tage- (und nächte-)lang zuhause
Songs wie „Straße der Sehnsucht“ oder „Little Linda“ auf meiner ersten Vier-Spur-Bandmaschine,
einer Akai GX-4000 D, auf.
Seit vielen Jahren haben Bernd und ich auf Partys
und gemeinsamen Konzerten immer wieder gern
Song-Perlen wie „So geht das jede Nacht“ zur
allgemeinen Belustigung/zum allgemeinen Kopfschütteln angestimmt. So war es dann eigentlich
nur eine Frage der Zeit, bis wir uns dem Berg
verstaubter Vinyl-Singles in meiner Dachstube
gänzlich hingaben. Viel Freude damit!
Dirk Darmstaedter im Juni 2010
„Das ist das Schreckliche an dieser Welt – jeder hat
seine Gründe.“ So fasste es der Dichter zusammen
(in diesem Fall war es Jean Renoir in seinem Film
„Die Spielregel“).
Für Dirk liegen die Gründe, diese CD aufzunehmen, offen auf dem Tisch. Es ist die Musik zweier
Welten, aus denen er zu gleichen Teilen stammt.
Es ist die Musik, die dafür gesorgt hat, dass er
sich zu Hause fühlen durfte, obwohl er neu im
Land, auf dem Kontinent war, gerade erst ein
Teen-ager. Es ist seine Ursuppe, sein Ausgangspunkt. Gut.
Aber was ist meine Entschuldigung? Wie rechtfertige ich es, von diesen albernen („Sputnik Rock“),
konsumistischen („Waren-haus Rock“), sexistischen
(„Little Linda“) Liedern fasziniert zu sein? Ich
glaube, wir haben es hier mit der dunklen DNA
Deutschlands zu tun, mit musikalischer Flaschenpost, durch die Ozeane der Jahrzehnte geirrt, die
uns warnt, die uns Schätze anzeigt.
Stellen wir uns die 50er Jahre in Deutschland einmal vor. Den Muff, die Enge, das Verschweigen,
den Optimismus. Du hast Händchen mit dieser
Frau gehalten. Doch, doch, streite es nicht ab.
Alle Nachbarn haben euch gesehen. Na, dann
seid ihr ja praktisch verlobt. Kondome kann man
sowieso nirgendwo bekommen. Ja ja, das Haus
am Ende der Straße hat mal einem reichen Juden
gehört, aber mehr weiß ich darüber nicht. Das
geht uns auch nichts an. Pack die Badehose ein.
In den Fünfzigern wurden die Künstler dafür
bezahlt, Dinge NICHT auszusprechen. Dafür,
eine Ordnung zu beschwören, die dringend
gebraucht wurde in immer noch halb zerstörten
Städten. „Alles musste ordentlich sein“, erinnert
sich Conny Froboess in ihrer Biografie.
Nun gibt es da aber diese extrem unordentliche Musik, nämlich Rock‘n‘Roll, und auch die
„ordentlichen“ Menschen wollen was davon
abhaben. Weil sie dringend diese Lebendigkeit
brauchen, weil sie nicht schon wieder alles verpassen wollen.
Und jetzt wird es richtig spannend, meiner Meinung nach. Wie vereinbart sich das US-amerikanische „Dringend-Wollen“ und das erst-seitkurzem-bundesdeutsche „Noch-nicht-ganz-dürfenkönnen“? In der unperfekten, unpassenden Übertragung schlummert mehr Wahrheit, als den damaligen Autoren und Interpreten bewusst oder
lieb war.
Und die Gemeinheit und die Panik, die nicht artikuliert werden durften, das unerfüllbare Verlangen,
das im Wirtschaftswunderalltag keinen Platz hatte.
„Wir erfüllen unser Soll bei Rock‘n‘Roll“ –
diese Zeile aus dem Song „Bei der Firma
Rock‘n‘Roll“ bringt Deutschland mindestens genauso auf den Punkt wie Wolfgang Koeppens
Roman „Tauben im Gras“. Nur halt fetziger.
Die Gleichsetzung von Konsum und Romantik im
„Warenhaus Rock“ verblüfft und lässt tief blicken.
Die Haltung des Sängers beim Song „Little Linda“ macht uns schaudern – er verachtet das
Mädchen, will in ihren Schlüpfer und sagt ihr den
baldigen Niedergang voraus. Wirklich, wirklich
böse.
„Straße der Vergessenen“ sollte wahrscheinlich
so etwas werden wie die deutsche Version von Elvis‘ „Heartbreak Hotel“, aber dann ... geht es gar
nicht unbedingt um einen einsamen, verlassenen
Mann. Dirk fand, dass ich es etwas übertreibe,
aber ich glaube, in diesem Song geht es um die
Kriegsgefangenen in Russland, die Gefallenen,
diejenigen, die nicht zurück kamen, um den großen, kollektiven Verlust.
Oder dieser durchgedrehte Typ aus „Sputnik
Rock“! Empfängt Signale aus dem All, hält es fast
nicht mehr aus in seinem Reihenhaus, träumt von
der Apokalypse, die er mit der freiwilligen Feuerwehr bekämpfen will. Meine Güte.
Es gibt viel zu entdecken hier, und nur ein Narr
würde glauben, dass die 50er Jahre aufgehört
hätten.
Bernd Begemann im Juni 2010
Bei der Firma Rock‘n‘Roll
Komponist: Hans Bradtke
Textdichter: Fred Oldoerp
Verlag: Rolf Budde
Susi sagt es Gaby
Komponist: Erwin Halletz
Textdichter: Hans Bradtke
Verlag: Hermann Schneider BühnenMusikalienverlag
Ich bin kein schöner Mann
Komponist: Paul Kuhn
Textdichter: Wolfgang Neukirchner
Verlag: EMI Music Publishing
Ich denk‘ an Dich
Komponist: Werner Scharfenberger
Textdichter: Fini Busch, Aldo von Pinelli
Verlag: Europaton
So geht das jede Nacht
Komponist: Lotar Olias
Textdichter: Peter Moesser
Verlag: Tempoton
Espresso Rock
Komponist: Hans Arno Simon
Textdichter: Mario Marini, Hans Arno Simon
Verlag: Edition Simon Musik
Jeder Traum hat ein Ende
Komponist: Jimmy Krondes
Textdichter: Sid Jacobson, Deutsch: Bert Reisfeld
Verlag: Criterion Music
Little Linda
Komponist: Doc Pomus, Mort Shuman
Textdichter: Doc Pomus, Mort Shuman Verlag: Cherry River Music, Elvis Presley Music
Warenhaus Rock
Komponist: Bernd Bertie
Textdichter: Heinz Kueck
Verlag: Schacht Musikverlage
StraSSe der Sehnsucht
Komponist: Werner Scharfenberger
Textdichter: Fini Busch
Verlag: Edition Corona
Dein kleiner Bruder
Komponist: Felice Bryant
Textdichter: Felice Bryant, Jean Nicolas
Verlag: Acuff Rose Music
Die StraSSe der Vergessenen
Komponist: Peter Schoell
Textdichter: Fini Busch
Verlag: Musikus, Edition Tanzmelodie
Sputnik Rock
Komponist: Eckhard Jung
Textdichter: Wolfgang Neukirchner
Verlag: West Ton Verlag
Dirk Darmstaedter – Gesang, Mundharmonika, Akustik- + E-Gitarre
Bernd Begemann – Gesang + E-Gitarre
Folke Jensen – Bariton, Lapsteel + E-Gitarre
Ben Schadow – Bass
Lars Plogschties – Schlagzeug
Produziert von Dirk Darmstaedter + Bernd Begemann
Aufgenommen und gemischt von Gregor Hennig im ,Le Chatelet‘, Hamburg
„So geht das jede Nacht“: Produziert und aufgenommen von Dirk Darmstaedter,
Schlagzeugaufnahme: Karsten Böttcher
„Straße der Sehnsucht (1980)“: Gespielt und aufgenommen 1980 von Dirk
Darmstaedter auf einer AKAI GX-4000D Bandmaschine
Gemastert von Chris v. Rautenkranz im Soundgarden, Hamburg
Fotos von Stefan Dürr · Artwork von Kerstin Holzwarth
Dank an: Gunther und alle bei Tapete, Carsten Friedrichs, Gregor Hennig,
Rüdiger Ladwig und all die tapferen Flohmarkt-Verkäufer.
www.dirkdarmstaedter.com
www.bernd-begemann.de
www.tapeterecords.com
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