- Schwulenreferat Mainz

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Gender, Queer und Fetisch –
Konstruktion von Identität und
Begehren
Ringkolloquium
Vorlesung am 8.11.2010
Prof. Dr. Andrea Geier,
Universität Trier
Schöne Seele und Tomboy
Vom Wandel der Geschlechterbilder
in der Literatur vom 18. Jahrhundert
bis zur Gegenwart
Struktur
1) Literaturwissenschaftliche
Geschlechterforschung – Einführendes
2) Geschlechterbilder in der Literatur
3) Geschlechts(rollen)wechsel als literarisches
Motiv und Thema seit dem 18. Jahrhundert
Zu 1) ‚Geschlecht‘ als Analysekategorie
• “I argue that sexual categories are as important to narrative
meaning as person, level, order and reliability, and indeed
that they interact with these other elements in crucial
ways. At the same time, the exploration of sexual codes in
specific narratives calls into question the separation of text
from context and grammar from culture and challenges the
stability not only of sexual categories but of narratological
ones as well.”
Lanser, Susan Sniader: „Sexing narratology“. In:
Grenzüberschreitungen: Narratologie im Kontext.
Transcending Boundaries: Narratology in Context. Hg. von
Walter Grünzweig und Andreas Solbach. Tübingen, S. 169183, hier S. 169
Zu 1) Codierungen von ‚Weiblichkeit‘
„Die Frau repräsentiert die Grenzen, Ränder oder Extreme der
Norm – das extrem Gute, Reine und Hilflose oder das extrem
Gefährliche, Chaotische und Verführerische. Die Heilige oder
die Hure, Jungfrau Maria oder Eva. Als Außenseiterin per se
kann die Frau auch für eine komplette Negation der
herrschenden Norm einstehen, für jenes Element, das die
Bindungen normaler Konventionen sprengt, und für den
Vorgang, durch den diese Gefährdung der Norm sich
artikuliert.“
Bronfen, Elisabeth: Weiblichkeit und Repräsentation – aus der
Perspektive von Ästhetik, Semiotik und Psychoanalyse. In:
Bußmann, Hadumod und Renate Hof (Hg.): Genus. Zur
Geschlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften. Stuttgart
1995, S. 408-445, hier S. 418 f.
Zu 1) Das Literarische als „Differenzkategorie“?
„In der Literatur können in wendigen Weisen Geschlechtsmarkierungen inszeniert und die Inszenierungen auch wieder
parodiert und zurückgenommen werden. Geschlechtermasken
aus verschiedenen Majoritäten- und Minoritätenkulturen,
Masken aus Texten früherer historischer Epochen und fremder
ethnischer Herkunft werden aufgesetzt, aufeinandergesetzt und
wieder ausgetauscht. Metaphorische und metonymische
Verschiebungen und Verwandlungen spielen dabei eine kaum zu
überschätzende Rolle. Literatur ist aufgrund ihrer
Gestaltungsfreiheit prädestiniert für die textuelle Produktion von
queerness, von third sexes, für den Entwurf von
Traumgeschlechtern und von Wahlverwandtschaften.“
Schabert, Ina: Das Literarische als Differenzkategorie. In: Differenzen in
der Geschlechterdifferenz – Differences within Gender Studies –
Aktuelle Perspektiven der Geschlechterforschung. Hg. von Kati Röttger
und Heike Paul. Berlin 1999, S. 333-346, hier S. 340 ff.
Zu 2) Geschlechterbilder...
„Und drinnen waltet/ Die züchtige Hausfrau“:
Schillers „Das Lied von der Glocke“
(1799/1800) und „Die Würde der Frauen“
Romantische Passion und ambivalente
„Harmonie“: Friedrich Schlegels Roman
„Lucinde“ (1799)
3) „Maskeraden“:
Geschlechtertausch/Geschlechts(rollen)wechsel
Zentrale Facetten des Geschlechtertausch-Motivs:
Geschlechtsrollenwechsel und Geschlechtswechsel
Die Geschlechtsspezifik des Motivs: Als Männer
verkleidete Frauen in der Literatur
Der literarische Diskurs als Experimentierfeld – Die
inszenierte Überschreitung von Geschlechtergrenzen
zielt keineswegs notwendig auf eine Kritik der
Geschlechterordnung
Literatur: Gertrud Lehnert: Maskeraden und
Metamorphosen. Als Männer verkleidete Frauen in der
Literatur. Würzburg 1994.
Körperlichkeit und Wahrnehmung
„Vermittels Kleidung und Habitus stellen wir dar,
welchem Geschlecht wir angehören. D.h. wir stellen
auch dar, welche geschlechtlich signifikanten Regionen
des Körpers jemand sähe, wenn die darstellende
Person nackt wäre.“
Lindemann, Gesa: Geschlecht und Gestalt – Der Körper
als konventionelles Zeichen der Geschlechterdifferenz.
In: Konstruktion von Geschlecht. Hg. von Ursula Pasero
und Friederike Braun. Pfaffenweiler 1995, S. 115-142,
hier S.117.
Maskerade/ ‚doing gender‘
„Wäre es nicht besser, da ich größer als normal bin,
mich völlig wie einen Mann auszustatten, ein
prächtiges Hackmesser am Oberschenkel, einen
Wildschweinspeer in der Hand, und in meinem Herzen
mag soviel frauliche Angst verborgen liegen wie sie
will, wir haben ein ebenso prahlerisches und
martialisches Äußeres wie viele männliche Feiglinge,
die ihr Trotz bieten mit ihrem Äußeren.”
William Shakespeare: As You Like it/Wie es euch gefällt.
Englisch/Deutsch. Übersetzt und hg. von Herbert
Geisen und Dieter Wessels, Stuttgart 1981, S. 42.
Voraussetzungen
1. Das kulturelle Wissen, dass das Geschlecht
einer Person an ihrem Erscheinungsbild
‚ablesen‘ sei,
2. die Existenz einer geschlechtsspezifischen
Rollenhaftigkeit in einer Gesellschaft, die
eindeutige Zuordnungen ebenso erlaubt wie
verlangt,
3. die Klugheit und Geschicklichkeit einer
Person, welche diese Regeln kennt und für
eine eigene Inszenierung zu nutzen vermag.
Exemplarische Stationen im Wandel der
Motivgeschichte
– Als komödiantisches Motiv: Shakespeares „As you like it“
(1599/1623) und Lessings „Der Misogyn“ (1748/1755)
– Als ernsthaft-tragisches Motiv: Identitätsproblematik in Wielands
„Novelle ohne Titel“ (1805)
– Spielerische Inszenierung mit gesellschaftspolitischer
Dimension(Günter de Bruyn u.a.:„Blitz aus heiterm Himmel“.
Rostock 1975; Wolf, Christa: Selbstversuch. Traktat zu einem
Protokoll. In: Kirsch, Sarah, Irmtraud Morgner und Christa Wolf:
Geschlechtertausch – Drei Geschichten über die Umwandlung der
Verhältnisse. Mit einem Nachwort von Wolfgang Emmerich.
Darmstadt/Neuwied 21984, S. 65-100.)
– Thomas Meineckes Romane seit den 1990er Jahren:‚Praxistest‘;
Theorie und lebensweltliche Bedeutung der Gender Studies in den
Romanen „Tomboy“ (1998), „Hellblau“ (2000) und „Musik“ (2004)
Der getäuschte, aber nicht aufgeklärte Weiberfeind:
Gotthold Ephraim Lessings Jugendkömödie „Der
Misogyn“
• Dramatischer Zweck auf der Handlungsebene
• Strukturell bedingtes Scheitern der Vorurteilskritik
• „Valer. wenn es wahr ist, *...+ daß schon aus dem Äußeren des Herrn
Lelio, [...] alle die Eigenschaften, die Sie an ihm schätzen, zu
schließen wären; bedenken Sie einmal, sage ich, ob man bei seiner
liebenswürdigen Schwester aus eben dem Äußerlichen, aus eben
der Gesichtsbildung, aus eben den Mienen, aus eben den Augen,
aus eben dem Gange, einen andern Schluß zu machen habe? Gewiß
nicht.
• Wumshäter. Gewiß ja! Damit du mich aber nicht zwingen kannst, dir
dieses weitläuftig zu beweisen, so darf ich es nur platterdings für
unmöglich erklären, daß seine Schwester ihm so ähnlich sehen
kann, als ihr sagt. (Lessing: Der Misogyn, 437f.)
„Legen Sie immer diesen zweiten Habit wieder ab, mein
Guter – (Indem er sie auf die Achsel klopfen will) Himmel,
was seh ich? O weh, meine arme Augen! Wo geraten die
hin. Es ist ein Weibsbild! Es ist wirklich ein Weibsbild!
Und das listigste, verschlagenste, das gefährlichste
vielleicht von allen, die in der Welt sind. Ich bin betrogen!
Ich bin verraten! Mein Sohn, mein Sohn, wie hast du das
tun können!“
Lessing, Gotthold Ephraim: Der Misogyn. In: Ders.: Werke.
Erster Band: Gedichte, Fabeln, Lustspiele. Hg. von
Herbert G. Göpfert in Zusammenarbeit mit Karl Eibl et
al., Darmstadt 1996, S. 423-472, hier S. 471.
Die Natur der Geschlechter und der tragische Einfluß
der Erziehung in Christoph Martin Wielands Die Novelle
ohne Titel
„*...+ ich bin durch der Meinigen und meine eigne Schuld
unglücklich [...]. [...]. Sie können mich nicht lieben [...]. Die
Gewohnheit von früher Jugend an mein Geschlecht zu
verleugnen, hat mir jede seiner Reizungen geraubt. Die
Gewalt, die meine Natur erlitten hat, ist nie wieder gut zu
machen. Die unglückliche Fertigkeit den Mann zu spielen,
würde mich nie verlassen. Ich bin für alle zarten weiblichen
Verhältnisse und Gefühle unwiederbringlich verloren. Ich
würde Sie unglücklich machen *...+.“
Wieland, Christoph Martin: Die Novelle ohne Titel. In: Ders.:
Werke. Zweiter Band. Romane, Erzählungen. Hg. von Fritz
Martini und Hans Werner Seiffert. München 1966, S. 705726, hier S. 721.
Experiment Geschlechtswechsel: Virginia Woolfs
Orlando
• Die sprachliche Inszenierung des Geschlechtertausches in
literarischen Texten
• Das Spiel mit Namen und Pronomina und deren Funktionen
„Orlando had become a woman - there is no denying it. But in very
other respect, Orlando remained precisely as he had been. The
change of sex, though it altered their future, did nothing whatever
to alter their identity. [...] His memory - but in future we must, for
convention’s sake, say ‚her’ for ‚his’, and ‚she’ for ‚he’ - her [!]
memory then, went back through all the events of her past life
without encountering any obstacle.”
Woolf, Virginia: Orlando. A Biography. London 2000, S. 98.
Experiment Geschlechtswechsel in der
Literatur der DDR
„Valeska fiel in unmäßiges Gelächter. Angesichts des Gewächses,
worauf Legionen von Mythen und Machttheorien gründeten.
Beweisstück für Auserwähltsein, Schlüssel für privilegiertes Leben,
Herrschaftszepter. [...] Jetzt war sie nicht in der Lage, sich der ihr jäh
zugefallenen Privilegien mit dem Komfort des guten Gewissens zu
bedienen. [...] Die ihr zugekommene [Art] konnte sie bestenfalls als
privilegierende Uniform empfinden. Weshalb die Botschaft
weitererzählt wird ohne Namensänderung. Auch ohne
grammatikalische Geschlechtsänderung.“
Morgner, Irmtraud: Gute Botschaft der Valeska in 73 Strophen. In:
Kirsch, Sarah, Irmtraud Morgner und Christa Wolf:
Geschlechtertausch – Drei Geschichten über die Umwandlung der
Verhältnisse. Mit einem Nachwort von Wolfgang Emmerich.
Darmstadt/Neuwied 21984, S. 25-63, hier S. 39.
Verbergen/Enthüllen: Das Motiv des Geschlechtswechsels als
erotische Inszenierung
„Guten Abend, meine Damen und Herren, Sie sehen hier diesen
gewöhnlichen Holzstuhl, ja? Dieser gewöhnliche Holzstuhl ist das einzige
Requisit für den wohl letzten klassischen Striptease auf deutschem Boden,
den anzusagen man sich nicht genieren muß; uns alle erwartet eine
Person, die es weder nötig hat, das Datum ihrer Geburt, noch den eigenen
Namen zu ändern, die Sie getrost so nennen können, wie ihr Taufschein es
vorsieht, nämlich Andrea, wobei ich mir, als ständiger Begleiter, auch
erlaube, Andreas zu sagen.“
Kirchhoff, Bodo: Der Ansager einer Striptease-Nummer gibt nicht auf.
Frankfurt a.M. 1994, S. 7.
• Redeinszenierungen: Aufschub/Stellvertretung; Auratisierung und
Normalisierung
• Legenden um den eigenen Körper – Die Selbsterschaffung des Ansagers als
erotisches Objekt über die verborgen bleibenden Körper-Doubles
Meineckes ‚Praxistest‘
„Yolanda beginnt die Beantwortung meines Schreibens mit zwei
signifikanten Zitaten aus der öffentlichen Berichterstattung über
eine afrikanisch-amerikanische Drag Queen namens Joan Jett Blakk,
die sich 1991 um den Posten des Bürgermeisters von Chicago
bewarb, und bewegt sich dann, über die so beiläufige wie virtuose
Erledigung nach wie vor heftig kursierender Begriffe wie Querness
und Realness, auf meine Bemerkungen über Mae West zu. Ich läge
nicht falsch, schreibt Yolanda, wenn ich in dem darstellenden Spiel
dieser so souveränen wie komplizierten Komödiantin die quasi
doppelte Travestie eines weißen Mannes, der eine schwarze Frau
spielt, die eine weiße Frau spielt, zu erkennen glaubte. Oder auch,
fügt sie hinzu, einer schwarzen Frau, die einen weißen Mann spielt,
der eine weiße Frau spielt. Vertrackt.“
Thomas Meinecke: Hellblau. Roman. Frankfurt a.M. 2001, S. 168.