Alkohol und Drogen

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Alkohol und Drogen
Drägerheft spezial
392
Drägerheft 392 spezial
Technik für das Leben
Alkohol und Drogen
Riskante Schönheit:
Weiße Zinfandeltraube
unter dem Mikroskop
Alkohol und Drogen
Wirkungen, Gefahren, Schutz
IN H ALT
60 Milliarden Euro
K AUEN
PUSTEN
4 R AU S C HM I T T E L
Verbreitung: Schon früh zeigte sich,
dass manche Substanzen das Gefühl
verändern – einige Meilensteine.
14 P IO NIER
Dräger-Alcotest: Seit 1953 wird
bei Alkoholkontrollen gepustet – nicht
nur auf Deutschlands Straßen.
6 DR OGE N
Geschichte: Rauschmittel wirken
nicht nur auf Geist und Körper, sondern
auch auf Wirtschaft und Gesellschaft.
20 A LKO HO LME S SU N G
Neue Verfahren: Fußfesseln geben
Kontrolle und Bewegungsfreiheit.
10 A L KOHOL
Geschichte: Ethanol berauscht die
Menschheit schon seit der Steinzeit.
12 KON SU M
Verhalten: Ist der Mensch überhaupt
vorstellbar ohne Alkohol und Drogen?
2
14
DRÄGERWERK AG & CO. KGA A
12
CARLOS VILLALON / REDUX/LAIF
TITELFOTO : BEVSHOTS-EUROPE.COM / ACTION PRESS
Auf rund
belaufen sich
die wirtschaftlichen Schäden, die alkoholisierte Mitarbeiter jedes Jahr in der EU verursachen – mehr ab Seite 32.
22 W IR KUN G
Ethanol: Wie und wo Alkohol
Menschen beeinflusst.
23 L EG AL H IG HS
Badesalze: Sie spielen eine immer
größere Rolle im Drogenmarkt.
24 D RO GEN T E S T
Speichelprobe: In Belgien fischt man
benebelte Autofahrer mithilfe moderner
Speicheltests aus dem Verkehr.
28 R ISIKO FAK TO R
Mensch: Berauscht im Job? Das führt
immer wieder zu verheerenden Unfällen.
32 AR BEI T S W ELT
Sucht: Wenn Mitarbeiter mit Fahne
zur Arbeit kommen, oder sich mit
Medikamenten aufputschen, wird es
brenzlig.
38 SU C H T
Hilfe: Alkohol- oder Drogenabhängigkeit
ist eine Krankheit, die auch Dritte
in Mitleidenschaft zieht. Für den Entzug
gibt es verschiedene Ansätze.
42 S T R A S SE N V ER K EHR
Alkoholgrenzwerte: Wie sie sich
zum Schutz der Verkehrsteilnehmer
entwickelt haben.
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
SCHLUCKEN
62
RAUCHEN
46 V E R K E HR S SIC H E R H E I T
Alkohol-Interlocks: Als „Zündschlüssel“
dient der Atem. Nur ein nüchterner
Fahrer kann sein Fahrzeug starten.
58 G E S ELL SC H AF T
Hirndoping: Die eigene Leistung
gezielt durch Medikamente zu steigern
bleibt meist nicht ohne Folgen.
50 G E S U N DHE I T
Mythen und Legenden: Verdunstet
Alkohol beim Kochen? Kaum, und
es gibt noch weitere Überraschungen!
61 R AN G LIS T E
Drogen: Die 20 gefährlichsten
Rauschmittel.
52 S C HR I F T S T E L L E R
Im Rausch: Viele Werke der
Weltliteratur verdanken sich „Drogen
und Rausch“ (Ernst Jünger, 1970).
56 E N DS TAT ION
Notaufnahme: Vor allem am
Wochenende ist hier für manchen
Partygänger Schluss.
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
PICTURE ALLIANCE / AP PHOTO
58
DRÄGERWERK AG & CO. KGAA
Titelbild: Weißer Zinfandel, eine
Rebsorte, zeigt unter dem Mikroskop
verborgene Ästhetik. Michael W.
Davidson, von der Florida State University
in den USA, hat seit 1992 mit dieser
Technik verschiedene Rauschmittel
fotografiert. Darunter, von links nach
rechts: Bier, Tequila Sunrise und
Methcathinon, ein Psychostimulans
62 D RO GEN
Politik: Die US-Bundesstaaten
Colorado und Washington legalisieren
Anbau und Besitz von Marihuana.
66 J U S T I Z
Gesellschaft: Gibt es ein Recht
auf Rausch?
68 MI NI - LE X IKO N
Rauschmittel: Wirkstoffe,
Konsum, Risiken
3
Globaler Drogenkonsum
Schon früh zeigte sich: Manche Substanzen verändern das Gefühl. Gezielt sucht und produziert der Mensch
sie seitdem: erst als Tor zur Götterwelt, dann als Genussmittel. Das Glas Wein kann guttun, die Flasche
zur Gefahr werden – für einen selbst und andere. Einige MEILENSTEINE aus der Welt des Rauschs.
Atlanta/Georgia, USA:
Coca-Cola (1887)
Der Arzt und Apotheker John
Stith Pemberton entwickelt
„Coca-Cola“, das
anfangs „peruanische Kokablätter, Wein und
Kolanuss“ enthält.
Kincardine O’Neil,
Schottland: Eisbock (2012)
65 Prozent Alkoholgehalt
bietet das stärkste Bier der
Welt. Das „Armageddon“ von
Brewmeister (Typ: „Eisbock“).
Akron/Ohio, USA: trocken (1935)
William Griffith Wilson und
Robert Holbrook Smith gründen
am Muttertag die Selbsthilfegruppe „Anonyme Alkoholiker“, die
heute etwa zwei Millionen Mitglieder in über 180 Ländern hat.
FOTOS: PICTURE ALLIANCE, ACTION PRESS, MAURITIUS IMAGES / ALAMY, WME, IMAGO / FRIEDRICH STARK, ARCHIV,
SHUT TERSTOCK, IRYNA RASKO/DDP IMAGES, IMAGO/MCPHOTO / WOLF-FEIX, ACTION PRESS / BRAUN, MAT THIAS V
B
Bethel/New
York, USA:
M
My Generation (1969)
O
Ohne Drogen auf,
hi
hinter und vor der Bühne
wä
wäre das legendäre
un
und verregnete Woodsto
stock-Festival wohl
gan
ganz ins Wasser gefallen.
4
Südpazifik:
Kava
Aus Rauschpfeffer (Piper
methysticum)
wird hier ein
euphorisierendes Getränk
gewonnen.
Mixeteco Mountains, Mexiko:
magische Pilze (1955)
Mit dem US-amerikanischen
Bankier R. Gordon Wasson
nimmt erstmals ein Außenstehender am zeremoniellen Genuss von psychoaktiven Pilzen teil. Seine
Veröffentlichung in „LIFE“
löst 1957 einen Boom aus.
Lima, Peru: Mitbringsel (1859)
Das österreichische Expeditionsschiff „Novara“ bunkert einen
60 Pfund schweren Ballen Kokablätter. Aus ihnen wird ein
Jahr später Albert Niemann in
Göttingen „Kokain“ isolieren.
Wien, Österreich:
Drogenreport (2012)
Laut „World Drug Report“
(www.unodc.org) haben 230 Millionen Menschen, rund 3 Prozent
der Weltbevölkerung, schon
mal illegale Drogen konsumiert.
Heroin, Kokain & Co. führen zu
200.000 Drogentoten – jährlich.
Ouagadougou/Burkina
Faso, Westafrika:
Menschwerdung des
Affen (ca. 2.000 v. Chr.)
Die Ureinwohner der
Subsahara bauten Hirse
an, aus der sie auch
Bier brauten. Erst damit
wurden sie der Legende
nach wahre Menschen –
sie verloren Fell und
Schweif.
Feuerland und Patagonien: Minimalismus
Hier wachsen keine Pflanzen, die sich fermentieren lassen. Die Menschen konnten daher
keine alkoholischen Getränke herstellen.
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
V E RBREI T UNG
Darmstadt,
Deutschland::
1912)
Partydroge (1912)
Der Pharma-Konzern
Merck synthetisiert
MDMA, das später
als „Ecstasy“
Karriere macht.
Çatal Höyük, Türkei: alter
Jahrgang (ca. 5.500 v. Chr.)
Bei Ausgrabungen findet
James Mellaart 1961
in einem Gefäß Rückstände
von Wein als frühestes
Zeugnis dieses Getränks.
Alamut, Iran: Haschisch
(ca. 1.000 n. Chr.)
Der Geheimbund der
Assassinen („Haschischraucher“) bedroht
umliegende Fürsten
durch Meuchelmord.
Ungeklärt ist, ob die
Krieger Haschisch zur
Aufstachelung oder als
Belohnung erhielten.
Hochland/Äthiopien, Ost-Afrika:
Ursprung des Kath
Alltagsdroge dieser
Region. Das Cathin in den
Blättern des Kathstrauchs
wirkt psycho-stimulierend.
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
R AU S C HMI T T EL
Nowaja Semlya, Russland:
sland:
halber Geist (1924)
Für die Schamanen verrkörpert jeder Fliegenpilz jee einen
Pilzgeist. Sie essen zweieinhalb
weieinhalb Pilze,
da der halbe Pilzgeist sich immer nach
seiner anderen Hälfte dreht, langsamer läuft
und der Schamane ihm nur so folgen kann.
Kanton, China: Erster Opiumkrieg (1839–42)
Die Engländer schmuggeln Opium aus Indien
nach China. Als die Mandschus das verbieten,
kommt es zum Opiumkrieg, den China verliert.
Daraufhin u. a.: Abtretung Hongkongs.
Neu-Delhi, Indien: Betel
Die Blätter dieser Palme
sind Bestandteil des „Betelbisses“. Sie wirken euphorisierend, werden bereits
in alten Sanskrit-Texten
erwähnt und zählen damit
zu den ältesten Drogen.
Saigon, Vietnam:
Kurier (1970)
Ein Pilot des
US-Botschafters
wird mit Heroin
im Wert von acht
Millionen US-$
festgenommen.
Vietnam: Apocalypse Now (1971)
Im „Goldenen Dreieck“ (Laos, Thailand,
Myanmar) wird Heroin Nr. 4 produziert.
Amerikanische Armee-Ärzte schätzen, dass
10 bis 15 Prozent aller US-Soldaten
in Vietnam Heroin konsumieren.
Java, Indonesien: Monopol
(19. Jahrhundert)
Bis zu 15 Prozent der Einnahmen aus ihrer Kolonie erhalten
die Niederländer allein durch
den Verkauf von Opium.
5
D ROGEN
GESCH I CH T E
Zwischen Traum und Albtraum
Mit dem ewigen Wunsch des Menschen nach Transzendenz, nach Rausch und Befreiung
von den Beschränkungen des Daseins lassen sich Kriege anzetteln, Gesellschaften verändern
und Wirtschaftsimperien aufbauen – ILLEGALE WIE LEGALE.
A
ngefangen hat alles mit Pflanzen,
die sich gegen ihre Fressfeinde
zur Wehr setzten. Im Laufe der
Evolution entwickelten viele ein chemisches Schutzschild, um nicht gefressen
zu werden: Inhaltsstoffe, die für Tiere giftig oder unbekömmlich sind. Bereits in
grauer Vorzeit entdeckten die ersten Menschen, dass diese Pf lanzen auch für sie
giftig sind. Und sie entdeckten noch etwas
anderes: Viele Blätter, Wurzeln, Pilze und
Kakteen hatten – richtig dosiert – erstaunliche Wirkungen. Sie konnten Schmerzen
lindern, Krankheiten heilen und – mitunter – denKontakt zu Geistern, Göttern und
Ahnen herstellen. Dazu waren Heilkundige und Schamanen nötig, denn nur sie
kannten sich auf dem schmalen Grat zwischen Trance und Vergiftung aus.
Rausch seit der Antike
Bewusstseinsverändernde Pflanzen begleiten seither die Menschheit. Das Alte Testament erwähnt die halluzinatorisch wirkende Mandragorawurzel (Alraune) – und
Myrrhe: ein tropisches Harz, das in hoher
Dosierung ähnlich schmerzstillend wie
Opium wirkt. Seit Jahrtausenden lassen
sich Menschen vom Hanf und dem dar aus hergestellten Haschisch berauschen.
Herodot berichtet von den Skythen, einem
Reitervolk, das im 7. Jahrhundert v. Chr.
die Steppen Osteuropas besiedelte und
Hanfsamen im Dampfbad auf glühende
Steine streute und dabei „so fr oh wurde,
dass es begeistert heulte“.
Mit dem Islam und seinen verbindlichen Lebensregeln seit dem 8. Jahr hundert fanden im Orient gesellschaftliche
Veränderungen statt. Durch die Ächtung
6
Was lässt sich von der Natur lernen, wie kann sie der Mensch zu seinem
Nutzen neu zusammensetzen? Schon der Alchemist suchte danach
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
FOTOS: AKG-IMAGES (2), THINKSTOCK
Auf dem Weg
zur Zigarette:
Kinder in den
USA bei der
Tabakernte und
Verarbeitung
der Blätter (1916)
Schreckliche Schönheit:
Schlafmohn – Quelle des Opiums
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
des Alkohols gewannen Drogen wie Opium, Haschisch, Stechapfel und Kath an
Bedeutung. Die exotischen Geschichten
der Scheherazade aus 1001 Nacht scheinen einem f arbigen Haschischrausch
entsprungen zu sein. Aller dings war
Haschisch in den islamisc hen Gesellschaften des Altertums eher das Kraut der
Armen; die wohlhabenderen Schichten
rauchten Opium. Auch in China und Indien war Haschisch schon seit der Jungsteinzeit bekannt. In Indien war der Gebrauch
strengen Ritualen unter worfen – und ist
es teilweise im K ult um den vedisc hen
Fruchtbarkeitsgott Shiva noch heute.
Mit der Neuzeit begann nach einer
düsteren Zeit des Hexenwahns, in dem
halluzinatorische Rauschdrogen wie Bilsenkraut und Tollkirsche eine Rolle spielten, eine Phase der räumlichen und geistigen Horizonterweiterung, die direkte
Auswirkungen auf den Gebrauc h von
Drogen hatte. Christoph Columbus entdeckte 1492 Amerika. Mit den spanischen
Eroberern kam die Tabakpflanze nach
Europa, von wo aus Entdeckungsreisende und Händler sie über die ganze W elt
trugen. Zunächst wegen ihrer stimulierenden Wirkung als Heil- und Medizinalpflanze vor allem in höf ischen Kreisen
und unter Mediziner n sowie Biologen
weitergereicht, begann man Ende des
16. Jahrhunderts, die Blätter nach indianischem Vorbild zu rauchen. Die neue
Mode breitete sich schnell aus, doch es
gab schon früh intensive Bemühungen
seitens der Obrigkeit und des Klerus, diese neue Sitte zu verbieten. Nachdem die
vielen Versuche, den Tabakkonsum einzudämmen, keinen Erfolg hatten, wollten
die Landesherren wenigstens daran mitverdienen. So wurde Tabak besteuert –
bis heute: Steuereinnahmen von jährlich
mehr als vierzehn Milliarden Euro (2011
allein in Deutschland) tragen „erheblich
dazu bei, die damit verbundenen sozialen
und medizinischen Probleme aufrechtzuerhalten“, so Dr . Henrik Jungaberle,
Suchtpräventions- und Drogenforscher
an der Universität Heidelberg.
Geist aus der Flasche
Die Kulturgeschichte des Tabaks, den
noch heute einige Völker des Amazonas
als Heil- und Religionspflanze nutzen, ist
auch ein Beispiel dafür, welchen Bedeutungswandel viele psychoaktive Substanzen im Laufe der Geschichte vollzogen
– vom ritualisiert eingenommenen Sakrament zur weitgehend individualisier ten Genusshandlung.
Am Beispiel des Opiums lässt sich das
gut nachverfolgen – wie auch der Weg von
der Pflanze zum isolierten, Rausch erzeugenden Wirkstoff. Der Arzt und Naturforscher Paracelsus (1493–1541) machte mit Laudanum („das Lobenswer te“),
einer alkoholhaltigen Opiumtinktur, das
Opium für weite Be völkerungskreise zu
einem alltäglichen Medikament gegen
die Beschwerden des Alltags, wie heute
etwa Aspirin. Es wurde für 400 Jahre das
wohl am meisten ange wendete Medikament der westlichen Welt und war vermutlich auch deshalb die erste Droge, die
naturwissenschaftlich analysiert wurde.
Dem Apotheker F. W. Sertürner gelang
es 1804, den „Schlaf bringenden Stoff“ im
Opium zu isolieren, das Morphin. Damit
war zum ersten Mal in einem pflanzlichen >
7
D ROGEN
GESCH I CH T E
Jedes Verbot von Drogen und Alkohol setzt
enorme kriminelle Energien frei
> Produkt das Wirksame vom Unwirksamen
getrennt. Schon 1827 begann die Dar mstädter Firma Merck mit der Massenproduktion von Morphin. Als 1841 die Hohlnadel zur Injektion erfunden wurde, war
aus medizinischer Sicht das Lazarett für
die Verwundeten im Deutsch-Französischen Krieg (1870/71) bereitet. Morphin
wurde zur „Soldatenmedizin“. Unzählige
Soldaten kehrten als Süchtige heim.
Um den sc hmerzlindernden Effekt
beizubehalten, die Suchtgefahr aber auszuschließen, wurde 1898 das „Heroin“
(im Andenken an verwundete Heroen oder
Kriegshelden) aus Morphin und Essigsäure hergestellt und massenhaft vermarktet.
Damit war der Geist endgültig aus der Flasche. Heroin ist bis heute eine der gefährlichsten Suchtdrogen. Nach dem EU-Jahresbericht 2012 ist in den vergangenen
zehn Jahren in der EU im Dur chschnitt
ein Mensch pro Stunde an einer Überdosis Opioiden gestorben. Meistens handelte es sich dabei um Heroin.
Krieg gegen die Drogen
Die moderne Chemie und die beginnende
Industrialisierung waren die Motoren für
einen grundlegenden Wandel: Aus rituell
vorbereiteten Trance-Reisen wurden mit
den isolierten Einzelsubstanzen endgültig pharmakologische Konsumgüter – je
nach Seelenlage zum Aufputschen oder
Vergessen geeignet. 1860 gelang Albert
Niemann die Isolierung von Kokain aus
der Kokapflanze. Damit w ar es nic ht
mehr weit zu den „R oaring Twenties“,
als sich Boheme und Halb welt in Paris
und Berlin mit dem „Schnee“ in ein hysterisches Nachtleben stürzten.
Im Laufe des 20. Jahr hunderts entstanden mehrere internationale Abkom-
Weißes Gold: Ein Drogenhändler in Kolumbien
bereitet Kokain für den Straßenverkauf vor
8
men, die weltweit die Pr oduktion von
Morphin und Kokain einschränken sollten. Mit dem Inter nationalen Opiumabkommen von 1912 wollten die Länder des
Völkerbunds erstmals weltweit die Pr oduktion von Mor phin und Kokain kontrollieren. Bis dato legale, weit verbreitete und auch als Arzneimittel verwendete
Substanzen wurden für illegal er klärt.
Mehrere Verträge folgten, bis 1961 mit
dem Einheitsabkommen über die Betäubungsmittel (Single Convention on Narcotic Drugs) ein völkerrechtlich bindender Vertrag für über 180 Staaten entstand,
der namentlich Mohn-, Koka- und Cannabispflanzen – sowie daraus hergestellte
Rohstoffe und einige Derivate – stark kontrolliert und jeden nicht medizinischen
Gebrauch verbietet.
Doch die Einteilung in legale und illegale Drogen ist umstritten. Wie bereits
Kleiner Aufwand, großer Ertrag: Bauern mischen Natron unter die Kokablätter, die so unter der Sonne besser Kokain ausschwitzen können
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
FOTOS: ALVARO YBARRA ZAVALA / EDIT BY GET T Y IMAGES, TIM GRAHAM / PHOTONICA WORLD / GET T Y IMAGES, EYE UBIQUITOUS / HUTCHINSON / GLOW IMAGES
bei den früheren Prohibitionsbestrebungen (Alkohol: USA, 1919–1933; Opium:
China, 19. Jahrhundert) werden enorme
wirtschaftliche und kriminelle Energien
freigesetzt, um die Verbote zu umgehen.
Mit dem Schmuggel von Drogen lässt sich
glänzend Geld verdienen, wie im 19. Jahrhundert bereits die britische East-India
Company in Indien und China er fahren
hatte. Mit dem Opiumschmuggel in das
abgeschottete China versuchte die Handelsgesellschaft, das britische Außenhandelsdefizit aus dem Teehandel mit China auszugleichen. China, das sich gegen
diese Überschwemmung mit Rauschgift
nicht wehren konnte, wurde in den beiden Opiumkriegen (1839–1842 und 1856–
1860) zur Öffnung seiner Märkte und zur
Duldung des Opiumhandels gezwungen.
Bis heute verdienen viele Menschen
sehr viel Geld mit illegalem Dr ogenanbau und -handel. Die Politik der weltweiten Drogenprohibition, der „War on
Drugs“, den der ehemalige US-Präsident
Richard Nixon einst ausrief, ist gescheitert. Das gibt die W eltkommission für
Drogenpolitik in ihrem Bericht 2011 zu.
Drogenkartelle sind Teil der weltweit
organisierten Kriminalität: mit Geldwäsche, Waffen- und Menschenhandel. Und
erfolgreicher als je zuvor.
Hase-und-Igel-Spiel
Das Drogenrad dreht sich immer schneller. Jede Woche wird in der EU eine neue
Droge auf den Mar kt gebracht, sagt die
EU-Drogenbeobachtungsstelle in ihrem
Jahresbericht 2011. Es ist ein Hase-undIgel-Spiel, das sich hauptsächlich um die
„Legal Drugs“ dreht – psychoaktiv wirken-
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
Zeremonie: Hindus in Rajasthan/Nordindien bereiten sich auf eine virtuelle
Reise vor. Alles ist angerichtet für die Fahrt mit dem „Opium-Vehikel“
de Designer-Substanzen, die als Fertigprodukte verkauft werden. Sie enthalten synthetische Cannabinoide und Cat hinone
(Abkömmlinge aus Cannabis- und K athInhaltsstoffen). Damit unterlaufen sie das
Betäubungsmittelgesetz (BTM), weil sie
nicht explizit verboten sind. Sobald sie mit
einer Verzögerung ins BTM aufgenommen und dadurch verboten werden, entstehen neue Abwandlungen, für die das
BTM (noch) nicht gilt. Unter diesen Substanzen befinden sich „Badesalze“ (siehe
auch S. 23), amphetaminartige Stoffe wie
Mephedron und Bupropion, aber auch die
Cathinone in Kräutermischungen wie Spice und K2. Cecilia Malmstr öm, Mitglied
der EU-Kommission, sagt: „Stimulanzien
und synthetische Drogen spielen für die
europäische Drogensituation eine zentrale Rolle, da sie einen sic h schnell verän-
dernden, unbeständigen und schwer zu
kontrollierenden Markt schaffen.“
Dazu kommen die sc hon länger
bekannten Aufputscher und Halluzinogene Ecstasy, LSD, GHB (K.-O.-Tropfen),
Crack Cocaine, Crystal Meth, Desomorphin (Krok) – eine Hydra, der mit jedem
abgeschlagenen Kopf zwei neue w achsen. Immer mehr setzt sich deshalb bei
Drogenexperten die Erkenntnis durch,
dass diese Entwicklung mit strafrechtlichen Maßnahmen allein nicht zu stoppen ist. N eben Aufklärung über W irkung und aktive Beschäftigung mit den
am stärksten durch Drogenmissbrauch
gefährdeten Gruppen sehen viele heute einen Ausweg aus dem Elend und der
Kriminalität in einer Loc kerung der
strengen Verbote – etwa für Drogen wie
Cannabis.
Regina Naumann
9
AL KOHOL
GESCH I CH T E
Arbeit im Weinberg, Straßburg,
Frankreich (1519): Von der
Lese bis zum Fass war Weinherstellung Handarbeit
I
m jungsteinzeitlichen China steht ein
Cocktail aus Wein, Met und Reisbier
auf der Speisekarte. Die Menschen,
die ab 7.000 v. Chr. am Gelben Fluss siedeln, vergären dafür Säfte von Weinbeeren und Weißdorn mit Honig und Reis.
Dieses Gebräu, mit seinen zehn Prozent
Alkoholgehalt, gilt derzeit als das älteste von Menschen hergestellte alkoholische Getränk.
Rekonstruiert hat den neolithischen
Cocktail der amerikanische Molekulararchäologe Patrick McGovern. Er untersuchte Spuren in keramischen Getränkebehältern, die bei Ausg rabungen in
Jiahu, einer steinzeitlic hen Ausgrabungsstätte in der chinesischen Provinz
Henan, entdeckt wurden. Durch komplexe Nachweisverfahren entschlüsselte er die Zusammensetzung des vorzeitlichen Tranks: „Uncorking the Past“,
wie er sein Buch nennt.
Verfeinerung der Rohstoffe
Vom biblischen
Weinstock zur
Branntweinplage
Menschen stellen seit vorgeschichtlicher Zeit Getränke
her, die den TRINKALKOHOL ETHANOL enthalten.
Dabei gibt es immer wieder Wechselwirkungen zwischen
sozialer, ökonomischer und technischer Entwicklung.
10
Zur Vorbereitung des Gär prozesses
brachen die Menschen die Stärke der
Getreidekörner durch Zerkauen auf.
Dabei spalten Amylasen des Speichels
die langkettigen Polysaccharide in kurzkettigen Zucker. Aus heutiger Sicht ein
rohes Verfahren, doch wichtig für die
Kulturgeschichte alkoholischer Getränke. Denn nicht der Konsum von Ethanol war vor 9.000 Jahren das Phänomen,
sondern seine gezielte Her stellung. Als
natürlich vorkommendes Rauschmittel
ist Alkohol älter als die Gesc hichte des
modernen Menschen: Bis heute schätzen viele Tiere die berauschende Wirkung von überreifem, vergorenem Obst,
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
FOTOS: ACTION PRESS/ULLSTEIN, AKG / SCIENCE PHOTO LIBRARY, J. ZHANG UND Z. ZHANG, INSTITUTE OF CULTURAL RELICS AND ARCHAEOLOGY OF HENAN
dessen Zucker von wilden Hefen umgewandelt worden ist.
Die gezielte Her stellung alkoholischer Getränke fällt mit der Entwicklung
der Landwirtschaft in der neolithischen
Revolution zusammen. Insbesondere die
frühen Hochkulturen verbesserten stetig die Methoden von Acker-, Obst- und
Weinbau, wodurch mehr Ausgangsmaterial für Alkoholika zur Verfügung stand.
Gleichzeitig verfeinerten Winzer und
Brauer die Auswahl der Rohstoffe, Gärverfahren und nac hgeschalteten Prozesse wie Brennen und Lagerung. Die
alkoholische Gärung dürfte zufällig
und durch Beobachtung entdeckt worden sein. Aus fermentiertem Getreidebrei entstand ein Vorläufer des Bieres,
aus gärenden Früchten wurden weinartige Produkte. Damit ließ sich die physiologische und psychologische Wirkung des
Rauschmittels Alkohol jederzeit abrufen.
Eine der Wurzeln der Bierherstellung
liegt in Mesopotamien, wo sich im zweiten vorchristlichen Jahrtausend ein großes Angebot an Biersorten etabliert hatte. In weiten Teilen Mitteleuropas war
Bier bis zum 17. Jahrhundert eines der
wichtigsten Nahrungsmittel. Der Kulturwissenschaftler Wolfgang Schivelbusch verbindet sogar die massigen Körper nordeuropäischer Gemälde des 17.
Jahrhunderts mit der von Bier und Biersuppen geprägten Küche. Zu dieser Zeit
galt bereits die Bayerische Landesordnung von 1516, die ausschließlich Wasser,
Malz, Hefe und Hopfen als Rohstoffe für
die Bierproduktion zuließ. Bekannt wurde die Vorschrift als „Reinheitsgebot“
(siehe auch Drägerheft 391; S. 18–21).
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
Feste-Reste: In steinzeitlichen Keramikkrügen aus China entdeckte der
amerikanische Molekulararchäologe Patrick McGovern Spuren, anhand derer
er die Herstellung von alkoholischen Getränken rekonstruieren konnte
Auch die Gewinnung von Wein aus Trauben entwickelte sich früh zu einer komplexen Kulturtechnik. Der br itische
Weinexperte Oz Clar ke schreibt, dass
sich im dritten Jahrtausend vor Christus der Weinbau in Ägypten so weit ausgedehnt hatte, dass K enner ähnliche
Unterschiede zwischen den Qualitäten
machten, wie es heute der F all ist. Von
der frühen Bedeutung des W einbaus
zeugt nicht zuletzt die Weinmetaphorik
in biblischen Texten.
Alkohol im Tank
Um höher konzentrierte Alkoholika herzustellen, muss das Et hanol aus dem
Ausgangsprodukt destilliert werden.
Das wurde um das Jahr 1000 durch den
Alambic, ein Gefäß zur Trennung von
Stoffen, möglich, nach dessen Prinzip
bis heute Brennblasen für hochwertige
Branntweine arbeiten. Neben Maischen
aus Getreide und Früchten kommen seit
der Neuzeit auch Kartoffeln (Wodka)
und Zuckerrohr (Rum) zum Einsatz.
Mit dem Alambic begann eine Reihe
technischer Innovationen rund um alkoholische Getränke, zu der auc h die
Flaschengärung von Champagner (17.
Jahrhundert), der Weinkorken (18. Jahrhundert), Kältemaschinen für die
Bierbrauerei und kontinuierliche Brennverfahren für Spirituosen (beide 19. Jahrhundert) gehören. 1889 trug Johann
Heinrich Dräger mit seinem LubecaVentil für das sic here Zapfen von Bier
aus einer Kohlensäure-Hochdruckanlage ebenfalls zu dieser Entwicklung bei.
Die Industrialisierung der Herstellung, Lagerung und Distr ibution von
alkoholischen Getränken sorgte für
gleichbleibende Qualität und geringere
Preise. Gerade der billige (aus Kartoffeln
gewonnene) Branntwein wurde allerdings für den „Elendsalk oholismus“
verantwortlich gemacht. Der Beg riff
be schreibt den Alk oholmissbrauch
insbesondere durch Gruppen unterer
Bevölkerungsschichten.
Heute spielt in industr iellem Maßstab hergestelltes Et hanol aus landwirtschaftlichen Produkten als Ener gieträger eine immer wichtigere Rolle,
etwa in den Kraf tfahrzeugtreibstoffen
E10 (zehn Prozent Ethanol) und E85
(85 Prozent Ethanol). Der Biotreibstoff
der zweiten Generation wird dabei nicht
mehr aus denselben Quellen gewonnen
wie Trinkalkohol, sondern vor allem aus
Zellulosefasern.
Peter Thomas
Buchtipp:
„Uncorking the Past –
The Quest for Wine,
Beer, and Other
Alcoholic Beverages“ /
University of California
Press, 348 Seiten
11
KON SUM
V ERH ALT EN
Flügel der Seele
W
enn mittags die Kids in Los
Angeles nach einer heißen
Ecstasy-Nacht nach Hause
gehen, beginnt der neue T ag in China
mit koffeinhaltigen Getränken. Millionen Tassen Kaffee, Tee und Cola, aber
auch Zigaretten und Am phetaminpillen begleiten die Menschen auf der ganzen Welt durch ihren Alltag. In WestAfrika diskutiert man in Schwaden aus
Haschischrauch die T agesereignisse,
und in Europa werden zum Feierabend
Millionen Bierflaschen geöffnet.
Wenige Kulturen kommen ohne die
berauschenden, bewusstseinserweiternden oder stimulier enden Erfahrungen
von Drogen aus: „Der Rausch gehört wie
Essen, Trinken und Sex zu den fundamentalen Bedürfnissen des Menschen.“ Wolfgang Nešković, ein ehemalige Richter am
Bundesgerichtshof, sagte das, als er sic h
für einen liberaleren Umgang mit Cannabis einsetzte (siehe auch S. 66 –67). „Ein
menschliches Phänomen ist auc h, den
Konsum von Rausch- und Genussmitteln
zu ritualisieren, ihm eine sichtbare Bedeu-
New York City, USA: Für Lara ist Ecstasy
das Mittel der Wahl, unter großer Auswahl
12
tung zu verleihen und damit die eigene
Identität und soziale Stellung zu kommunizieren“, weiß Dr. Henrik Jungaberle,
Suchtpräventions- und Dr ogenforscher
an der Universität Heidelberg.
Rituale strukturieren
den Drogenkonsum
Hochritualisierte, religiöse Formen des
Drogenkonsums finden sich vor allem
in Mittel- und Südamer ika, Südostasien
und Ozeanien. Dort spielen Pflanzen mit
psychoaktiven Substanzen bei Schamanen und spirituellen Heilern eine wichtige Rolle (siehe auch S. 6–9). Teonanacatl-Pilze, Peyote-Kakteen oder Stechapfel
sind nur einige „Flügel der Seele“, mit
denen die Indianer Mittel- und Südamerikas in spir ituellen Sitzungen ver suchen, in das Reich der Götter, Geister und
Ahnen vorzudringen.
Viele Drogen sind Teil des Alltags, wie
etwa das Trinken von Kawa (Rauschpfeffer) in vielen K ulturen des Südpazifiks
und das Kauen von Kokablättern, etwa in
Bolivien. Der Kawatrunk ist ein Ritual,
Lake Eyasi, Tansania, Afrika: Junge Männer
lassen eine Haschischpfeife kreisen
um freundschaftliche Beziehungen herzustellen, und die Kokablätter erleichtern
den Coqueros, den Koka-Kauern, ihren
Alltag. Diese Art des Drogenkonsums ist
fest in der jeweiligen Kultur verwurzelt.
Stimulierende Drogen wie K affee,
Tee oder Tabak sind rituelle Begleiter von
Geselligkeit, Muße und Gastfreundschaft.
Vor allem in den islamisch geprägten Ländern spielen sie wegen der weitgehenden
Abstinenz von Alkohol – zusammen mit
Cannabis und Kathblättern – eine wichtige Rolle im sozialen Aust ausch. Doch
Rituale können sich ändern, vor allem in
den Industriestaaten. „In unserer pluralistischen Gesellschaft entstehen immer
neue Rituale – solche, die schützen oder
zum Konsum animieren. Oft werden
sie in den Medien vorgelebt“, hat Dr ogenforscher Jungaberle beobachtet. Wie
der Sonnenuntergang am S trand, der
mit bestimmten alkoholischen Getränken genossen wird, oder stark ritualisierte Technopartys in Industrietempeln mit
eigenem Jargon, eigener Musik und Drogenkonsum. Auf der ander en Seite ent-
Nuku‘alofa, Tonga-Inseln: Aus Wurzeln
bereiten Frauen euphorisierenden Kawa
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
FOTOS: CARLOS VILLALON / REDUX / LAIF, CHINAFOTOPRESS / LAIF, ULLSTEIN BILD-IMAGEBROKER.NET /
ULRICH DOERING, PICTURE ALLIANCE, SCOT T HOUSTON / SYGMA / CORBIS
Ist der Mensch überhaupt vorstellbar ohne Drogen? Fast immer begleiten ihn zu jeder Zeit
und in jedem Land SUBSTANZEN, die sein Denken, Fühlen und Handeln verändern.
El Alto, Bolivien:
Ein alter Mann stärkt
sich mit den Blättern
des Kokastrauchs –
wie seine Vorfahren
stehen neue Rituale des Fastens und der
Drogenabstinenz, nicht nur in christlich
geprägten Kreisen.
Alkohol hat seit r und 9.000 Jahr en
einen beispiellosen Siegeszug dur ch die
ganze Welt hinter sich. Abstinente Kulturen haben es angesichts der Globalisierung
schwer, sich gegen das Eindr ingen des
Alkohols zu behaupten. Und eine Kultur,
in der Alkohol einmal etabliert war, kann
ihn erfahrungsgemäß nicht wieder restlos
Linhuan, China: Bangbangcha-Tee ist eine
der beliebtesten Alltagsdrogen in Asien
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
abschaffen. Spektakuläre Verbote wie die
Prohibition in den USA von 1 919 bis 1933
konnten nicht durchgehalten werden und
waren ein wichtiger Baustein beim Aufbau
der organisierten Drogenkriminalität.
Von verboten bis freizügig:
Begründen lässt sich beides
In weiten Teilen der islamischen Welt gilt
ein aus dem Koran abgeleitetes Alkoholverbot. Zwar steht in den entsprechenden
Versen nicht der Begriff „haram“ (verboten) – und eine Minderheit der muslimischen Geistlichen ist der Auffassung, nur
ein Übermaß an Wein sei verboten –, doch
hat sich diese liberaler e Ansicht nicht
durchgesetzt.
Genetisch bedingt vertragen Ostasiaten, Aborigines und die indigenen Völker
Amerikas Alkohol schlechter als die meisten Europäer. Sie ver fügen häufig nur
über geringe Mengen des Enzyms Alk oholdehydrogenase, mit dem Alkohol in der
Leber abgebaut wird, und spüren deshalb
die Wirkungen schneller. Auch deshalb
hatten die Eroberer in Amerika und Ozeanien leichtes Spiel, mit dem F euerwasser die indigenen Kulturen zu zerstören.
Als uraltes Rausch- und Genussmittel
ist Alkohol in den meisten K ulturen ein
zentrales Element von Zer emonien, mit
denen große und kleine Ü bergänge im
Leben begangen werden. Das geht vom
Ende des Arbeitstags, an dem die „Happy
Hour“ lockt, bis zum Ende der Schulzeit
mit dem Trinkgelage unter Abiturienten.
Bei den Mestizen in Peru ist Maisbier ein
ständiger Begleiter zu unterschiedlichen
Ereignissen wie der T aufe, dem ersten
Haarschnitt bei Jungen oder Ohrlochstechen bei Mädchen. In anderen Kulturen
wiederum stärkt man sich mit Alkohol
für den Arbeitstag: in der Normandie, wo
man auf einen Cal vados in die Bar einkehrt, oder in Peru, wo Alkohol vor körperlich schweren Arbeiten konsumiert wird.
In einem Punkt sind sic h allerdings
alle Kulturen einig: Der einsame Alkoholgenuss zu Hause ist ver dächtig und entsprechend verpönt.
Regina Naumann
13
Jahrzehntelanger
Fortschritt: 1953
kam der erste
Dräger Alcotest
mit Prüfröhrchen
auf den Markt.
Heute sind schnelle und präzise
Messgeräte Stand
der Technik, die
mit elektrochemischen Sensoren
arbeiten
Puste, wer solle
Alkohol im Straßenverkehr ist gefährlich. Jahrzehntelang fehlte ein Messverfahren, um den
GRAD DER INTOXIKATION schnell und sicher zu bestimmen. 1953 setzte Dräger mit dem „Alcotest“Röhrchen Maßstäbe. Heute werden Atemalkoholmessungen sogar vor Gericht anerkannt.
P
usten, ablesen, fertig: Als Dräger
1953 das Alco test-Röhrchen auf
den Markt bringt, lässt sich erstmals mit einem einfachen Atemtest feststellen, ob ein Kraftfahrer unter Einfluss
von Alkohol steht. Durch die kontinuierliche Forschung zur Atemalkoholmessung hat das Lübec ker Unternehmen
seither verschiedene andere Methoden
auf dem Markt etabliert, die auf elektronischen Sensorsystemen basieren – bis
hin zum gerichtsverwertbaren Messer-
14
gebnis, um etwa in Deutschland eine
Ordnungswidrigkeit nach Paragraf 24a
Straßenverkehrsgesetz zu belegen. „Hierfür besitzt derzeit ausschließlich das Dräger Alcotest 7110 Evidential MK III eine
Bauartzulassung durch die PhysikalischTechnische Bundesanstalt“, sagt Dr. Jürgen Sohège, Produktmanager bei Dräger.
Dahingegen dient der er ste Alcotest
mit Dräger-Röhrchen (und Volumenkontrolle durch einen Folienbeutel) bis heute
vor allem als Vortest, um bei Verkehrskon-
trollen festzustellen, ob eine Int oxikation vorliegt. In den Röhrchen befinden
sich Schwefelsäure und gelbes K aliumdichromat. Diese Grundstoffe reagieren
zu Acetaldehyd und dreiwertigem grünem
Chrom, wenn beim Test der Trinkalkohol
Ethanol mit der ausgeatmeten Luft durch
das Röhrchen strömt. An der Intensit ät
und Ausdehnung der Verfärbung lässt sich
die Ethanolkonzentration ablesen. Wenn
der Vortest eine Ordnungswidrigkeit oder
Straftat (absolute Fahruntüchtigkeit am
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
P IO NIER
FOTOS: DRÄGERWERK AG & CO. KGAA
D R ÄGE R- A LCOT EST
Steuer) erwarten lässt, wird eine weitere
Bestätigungsanalyse angefordert.
Die Entwicklung des Röhrchens ist
ein klassisches Beispiel für weitsic htigen Wissenstransfer aus einer ander en
Anwendung. Denn das Know-how stammt
aus der Gasmesstechnik, in der Dräger
seit den 1930er-Jahren weltweit Maßstäbe setzt, sagt der promovierte Elektrochemiker Sohège. Die Idee zu dem neuen
Nachweisverfahren hatten die Dräger Inge nieure am Morgen nac h einer
Betriebsfeier. Das Messver fahren kam
zur rechten Zeit, denn mit der Massenmotorisierung stieg nach dem Zweiten
Weltkrieg auch die Zahl der unter Alk oholeinfluss verursachten Verkehrsunfälle
drastisch. Das spiegelt sich in der Rechtsprechung wider. So wird ebenfalls 1953
für die Bundesrepublik Deutschland eine
Blutalkoholkonzentration von 1,5 Promil-
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
le als Grenzwert für die absolute F ahruntüchtigkeit festgelegt. Ähnliche Grenzwerte etablierten sich auch andernorts.
Das Problem des Fahrens unter Alkoholeinfluss ist inter national – ebenso wie
der Markt für Drägers Alcotest. In vielen
Ländern wird der Name zum Synonym für
Alkoholnachweisverfahren.
Von Intoxikation und
Dampfmaschinen
Das Problem mit Alkoholsündern im Straßenverkehr ist Mitte des 20. Jahr hunderts nicht neu, und es hängt auch nicht
ursächlich mit dem Aut omobilverkehr
zusammen. So ist das Aut omobil noch
gar nicht erfunden, als das britische Parlament Alkohol am Steuer erstmals unter
Strafe stellt. 1872 wird in Westminster
ein „Licensing Act“ verabschiedet, mit
dem die Gefährdung der Allgemeinheit
durch alkoholisierte Fahrzeugführer
eingedämmt werden soll. Bis das er ste
Exemplar des 1886 von Daimler und Benz
erfundenen Motorwagens nach England
kommt, dauert es zwar noch bis ins Jahr
1894, doch schon um 1870 gibt der dichte
Verkehr im industrialisierten Großbritannien Anlass genug für ein Verbot, „betrunken auf einer Straße oder im öffentlichen
Raum ein Fuhrwerk, ein Pferd, Rind oder
eine Dampfmaschine zu führen“. Durchschlagenden Erfolg hat der „Licensing
Act“ von 1872 nicht. Das Problem begleitet seither die Mobilitätsgeschichte und
wird überall auf der W elt durch Verbote, Kontrollen und Prävention bekämpft.
Aber was genau heißt eigentlic h
„betrunken“? Bis in die Mitte des 20.
Jahrhunderts fehlt den Or dnungshütern ein schnelles und zuverlässiges Verfahren, um bei einer V erkehrskontrolle >
15
1938
1953
1953
Das amerikanische „Drunkometer“ arbeitet mit Der Klassiker: Drägers
einem nasschemischen Nachweisverfahren
Alcotest-Prüfröhrchen
Seit den 1920er- und
1930er-Jahren ist
der Zusammenhang
von Blut- und Atemalkoholgehalt belegt
Borkenstein (links) und
sein „Breathalyzer“
des Alkohols mit der Exspirationsluf t“).
Liljestrand und Linde belegen den Zusammenhang zwischen Exspirationsluft und
Blutalkoholkonzentration. Sie gehen noch
davon aus, dass der Grund ausschließlich
im Gasaustausch zwischen Luft und Blut
in der Lunge liegt. Später wir d jedoch
die Diffusion von Alkohol im gesamten
Atemtrakt als Basis für das Verhältnis von
BAC und der A temalkoholkonzentration
(Breath Alcohol Content, BrAC) erkannt.
Dräger-Röhrchen bieten
ersten Schnelltest
> den Grad der Intoxikation eines Fahrers
bestimmen zu können. Die tatsächliche
Einschränkung des Reaktionsvermögens
durch die Wirkung von Alkohol ist nur
schwer zu messen, st attdessen kann die
Blutalkoholkonzentration (Blood Alcohol
Content, BAC) oder die Alkoholmenge im
Urin bestimmt werden. Doch bei alltäglichen Verkehrskontrollen lassen sich diese
mitunter aufwendigen Verfahren kaum in
großem Maßstab durchführen.
„In den 1920er- und 1930er-Jahren
wurde dann wissensc haftlich belegt,
dass sich die Blut alkoholkonzentration
über den A tem bestimmen lässt“, sagt
Dr. Sohège. Der amerikanische Arzt Emil
Bogen schlägt 1927 vor, die exspiratorische Atmung zum Nachweis der BAC zu
nutzen. Als maßgeblich gelten die Studien
der schwedischen Pharmakologen Göran
Liljestrand und Paul Linde, die sie 1930
veröffentlichen („Über die Ausscheidung
16
1978
Die schwedischen Wissenschaftler
schlussfolgern, dass „zwei Liter Ausatemluft (bei 34 Grad Celsius) etwa so
viel Alkohol enthalten wie ein Kubikzentimeter Blut“. Als durchschnittliches Verhältnis der gemessenen Werte von Blutund Atemalkoholkonzentration (Blood
Breath Ratio, BBR) wird in den meisten
Ländern der Faktor 2.100 verwendet. Weil
die Streubreite der BBR abhängig von verschiedenen Rahmenbedingungen aber
zwischen 2.000 und 2.300 liegt, ist eine
direkte Konvertierung von gemessenen
Werten in die jeweils andere Einheit bei
einem gerichtsverwertbaren Test nicht
üblich. Vielmehr haben sich eigenständige Grenzwerte für Atem- und Blutalkoholtests etabliert, die unabhängig voneinander gelten. So heißt es in Deutschland
im Paragraf 24a des Straßenverkehrsgesetzes: „Ordnungswidrig handelt, wer im
Straßenverkehr ein Kraftfahrzeug führt,
obwohl er 0,25 mg/l oder mehr Alkohol in
der Atemluft oder 0,5 Promille oder mehr
Alkohol im Blut oder eine Alkoholmenge
im Körper hat, die zu einer solchen Atem-
Prototyp „Alcytron“: erstes Messgerät mit infrarot-optischem Sensor
oder Blutalkoholkonzentration führt.“
Die BAC wird in den meisten Ländern in
Milligramm Ethanol je Kilogramm Blut
oder je Liter Blut angegeben („Pr omille“), die BrAC in Milligramm Ethanol je
Liter ausgeatmeter Luft.
Der erste Ansatz, die Er kenntnisse über den Zusammenhang von B AC
und BrAC für die Kontrolle von Verkehrsteilnehmern zu nutzen, ist das 1 938 in
den USA von Rolla N. Harger entwickelte „Drunkometer“, das mit einem nasschemischen Verfahren arbeitet. „Das
war eher ein transpor tables Chemielabor als ein mobiles T estgerät“, sagt
Dr. Sohège. Als Dräger seine Alco testRöhrchen 1953 auf den Markt bringt, folgt
in Nordamerika der von R obert F. Borkenstein entwickelte „Breathalyzer“, der
die BrAC mit einer chemischen Reaktion
misst, die elektrisch ausgewertet wird.
Später übernimmt Dräger Herstellung
und Vertrieb des Breathalyzers.
Doch die Dräger-Röhrchen sind der
erste Alkoholtest, der regelmäßig operativ im Straßenverkehr eingesetzt wird, um
eine objektive Einschätzung der BrAC zu
erhalten. „Polizei und Verkehrsbehörden
wissen seit den 1950er-Jahren, dass für
eine zuverlässige Prävention eine möglichst schnelle Messung vor Or t notwendig ist“, sagt Dr. Sohège. Entsprechend
schnell setzen sich die T eströhrchen
durch. Und sie werden nicht nur von den
Ordnungshütern akzeptiert, sondern
wegen der gut nachvollziehbaren Anzeige auch von den kontrollierten Kraftfahrern. Neben Deutschland gehören Großbritannien, Schweden und Australien zu
den Märkten der ersten Stunde.
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
D R ÄGE R- A LCOT EST
P IO NIER
1980
Dräger übernahm von Smith & Wesson
die Produktion des „Breathalyzer“
Auf diesem Er folg ruht man sic h in
Lübeck aber nicht aus. Denn die DrägerExperten wissen, dass die Ansprüc he an
die Alkoholanalytik kontinuierlich steigen. „Es gab bald eine F orderung nach
schnelleren, genaueren – und damit auch
gerichtsverwertbaren – Ergebnissen“, sagt
Dr. Sohège. Aus kriminologischer Sicht sei
der Atemtest sowieso das direktere Verfahren. Denn der von der Diffusion aus arteriellem Blut abhängige Atemalkohol gibt
die Konzentration des auf die Arterien des
Gehirns wirkenden Alkohols direkter wieder als der Blutalkohol, der aus venösem
Vollblut oder dessen Serum mit Verfahren
wie der Gaschromatografie oder Alkoholdehydrogenase bestimmt wird.
INFRAROT-OPTISCHER SENSOR
Schematisches Messprinzip
Lampe
Fenster
Fenster
Spektrallinien Gas
Interferenzfilter
Detektor
Infrarotspektrum
Die Messtechnik der Zukunft
basiert auf Elektronik
Messsystem
Kolben
Elektrochemischer Sensor
Elektro-Pumpenmotor
Probenahme-Kammer
Infrarot oder elektrochemischer Sensor: Die beiden gängigen Messverfahren
zur Bestimmung der Atemalkoholkonzentration beruhen auf unterschiedlichen
Prinzipien. Während der infrarot-optische Sensor die Absorption von Licht
durch Ethanol misst, entsteht das Signal des elektrochemischen Sensors durch
die Oxidation der Moleküle an einer Katalysatorschicht
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
FOTOS: DRÄGERWERK AG & CO. KGAA, CORBIS (1), INDIANA UNIVERSIT Y (1)
ELEKTROCHEMISCHER SENSOR
Die neuen Geräte für den A temalkoholtest, die Dräger in den 1 970er- und
1980er-Jahren entwickelt, arbeiten mit
elektrischen und elektronischen Systemen. „Bei der Entwicklung dieser neuen Technik nutzen wir konsequent die
Möglichkeiten, die miniaturisierte Sensoren der jeweils aktuellen Genera tion
bieten“, sagt Dr . Sohège. T echnische
Impulse kommen dabei wieder aus dem
Bereich der Messung gefährlicher Gase.
Wohin der Weg geht, zeigt Dräger
bereits 1978 mit dem „Alcytron“, einem
Prototyp mit infrar ot-optischem Sensor. Bei diesem Verfahren sendet eine
Lichtquelle infrarote Strahlung einer
bestimmten Wellenlänge aus, die durch
eine Messkammer geleitet und anschließend von einer Fotozelle gemessen wird.
Befindet sich das zu detektierende Gas >
17
1982
1988
Alcotest 7010 mit infrarotoptischem Sensor
Elektrochemischer Sensor:
Alcotest 7410
Moderne Elektrotechnik ist der Schlüssel
zur gerichtsverwertbaren Messung
von Atemalkohol
> in der Kammer, absorbiert es einen Teil
der Strahlung, was die Signalstärke der
Fotozelle reduziert. Daraus lässt sich die
Gaskonzentration errechnen. Vier Jahre
später kommt der Alcotest 7010 auf den
Markt, der ausschließlich stationär eingesetzt wird.
Parallel zur Infrarottechnik führt Dräger einen Halbleitersensor auf Basis von
Zinndioxid ein. Mit dieser Messzelle wird
der mobile Alcotest 7310 ausgerüstet, der
1980 auf den Mar kt kommt. Nun lässt
sich bei Kontrollen der gemessene Wert
wenige Sekunden nach der Probenahme
von der digitalen Anzeige ablesen. Bald
setzen elektrochemische Sensoren neue
Maßstäbe für schnelle und exakte BrACKontrollen. In diesen Geräten wir d die
Messkammer mit einem genau definierten Luftvolumen beschickt. In der K ammer oxidiert das in der Luf t enthaltene
Ethanol elektrochemisch an der k ataly-
18
1998
2003
Gerichtsverwertbare Messung mit
dem Alcotest 7110 Evidential
tisch wirksamen Schicht der Messelektrode und erzeugt dabei einen Strom, der
als Signal für die Ber echnung des Messwerts dient. Dieser elektrochemische Sensor reagiert sehr spezifisch auf Alkohol,
sodass ebenfalls in der Atemluft vorkommende Ketone wie Aceton das Ergebnis
nicht verfälschen können. Seine Premiere erlebt der Sensor 1988 im Alcotest 7410.
Mit elektrochemischem Sensor und
Infrarottechnik hat Dräger um 1990 die
beiden Verfahren etabliert, die in den
kommenden Jahren den Grundstein für
eine Innovationsgeschichte legen. Aus
dem ersten Alcotest 7410 entwickelt man
eine ganze Familie von Geräten bis hin
zum 7410 Plus com mit digit aler Volltextanzeige und elektronischem Datenaustausch. „Die in der jeweiligen Landessprache ausgegebenen Ergebnisse mac hen
die Messung für alle Be teiligten intuitiv
nachvollziehbar“, sagt Dr. Jürgen Sohège.
Längst sind Messgeräte mit elektrochemischem Sensor Standard für Vortests geworden. In Deutschland hat heute so gut wie
jeder Streifenwagen der Polizei ein elektronisches Alkoholmessgerät an Bord. Den
aktuellen Stand der Dräger-Vortestgeräte
markieren der 2004 vorgestellte Alco test
6510, der Alco test 6810 (aus dem Jahr
2005) sowie der Alcotest 7510 (2008).
Aber auch mit der Infrar ottechnik
geht es voran: 1 985 erscheint der Dräger Alcotest 7110 mit einem besonder s
selektiv auf Alkohol ansprechenden Infrarotsensor. Die dr itte Generation dieses
Geräts (1994) bietet auf Wunsch die Kombination mit einem elektr ochemischen
Sensor. Dieses Doppelsensorsystem wird
vier Jahre später im Alcotest 7110 Eviden-
Atemalkoholbasierte
Wegfahrsperre: Interlock
tial zur Serienausstattung und schafft die
Basis für eine ger ichtsverwertbare Atemalkoholkontrolle. „Das ist ein absoluter
Meilenstein, denn das Gerät liefert durch
seine redundante Auslegung besonders
sichere Ergebnisse, die in ihr er Evidenz
der Blutprobe gleichgestellt werden“, sagt
Dr. Sohège. Die Leistungsf ähigkeit der
Technik bestätigt die Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB), die den Alcotest
7110 Evidential MK III als er stes Atemalkoholmessgerät mit ger ichtsverwertbaren Ergebnissen zulässt. Mit einem ähnlichen Doppelsensorsystem arbeitet auch
das 2007 vorgestellte Evidential-Messgerät Alcotest 9510, das gleichermaßen stationär wie mobil eingesetzt werden kann.
Paradigmenwechsel in der
Messstrategie
Nach der Präsentation der ersten AlcotestRöhrchen im Jahre 1953 arbeitet man
heute an Geräten mit weiter op timierten Reaktionszeiten für umfangreiche
und hochfrequente Verkehrsprüfungen.
„Das ist weltweit ein T rend für die nahe
Zukunft“, sagt Dräger -Produktmanager Sohège. Außerdem soll die optische
Filtertechnik weiter verbessert werden,
um noch genauere Infrarotsensoren zu
erhalten. Eine ganz neue Op tion könnten künftig transdermale Messungen
sein, bei denen die Alk oholkonzentration des Bluts dur ch die Haut festgestellt
wird (siehe auch S. 20–21). Die entsprechende Technik bietet im Gegensatz zum
Atemtest und gegenüber der Blutpr obe
den Vorteil einer komplett kooperationsfreien Messung. Davon würden auch Alkoholtestgeräte profitieren, die in Szenar i-
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
D R ÄGE R- A LCOT EST
P IO NIER
2007
Mit Touchscreen: EvidentialMessgerät Alcotest 9510
WIE SICH ALKOHOL IM KÖRPER MESSEN LÄSST
Alkohol im MagenDarm-Trakt
Blut / Herz
Kapillarblut in den
Lungenbläschen
Herz
Arterien der Arme
Venen der Arme
1 x Entnahme von
venösem Vollblut
Arterien des
Gehirns
Lungenluft
(Henry-Gesetz)
2 x Entnahme einer
Atemprobe mit Lungenluft
Jeweils direkte AlkoholKonzentrationsbestimmung (mg/l) in Lungenluft (Gaskonzentration)
Transport
Abtrennung der festen
Bestandteile
Blutserum
Direkter Vergleich mit Grenzwert
Rückrechnung von
Blutserum auf Vollblut (‰)
mit mittlerem Divisor 1,2
Vergleich mit Grenzwert
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
Beim Trinken geht Alkohol in verschiedene Teile des Körpers über – beispielsweise Blut, Atemluft, Urin und Schweiß.
Die Grafik zeigt generell die Bestimmung
des maßgeblichen Alkoholwerts aus
dem Blut (links) sowie der Atemluft
FOTOS: DRÄGERWERK AG & CO. KGAA
4 x Alkohol-Konzentrationsbestimmung (‰) im
Blutserum (Flüssigkeitskonzentration)
en abseits des Straßenverkehrs eingesetzt
werden – etwa in der Notfallmedizin, um
Patienten auf Alkoholeinfluss zu untersuchen (siehe auch S. 56–57).
Doch die Exper ten für Alkoholmessung denken über die Verbesserung bestehender Lösungen hinaus. Dabei geht es
um einen Paradigmenwechsel – weg von
der nachträglichen Kontrolle hin zur
präventiven Messung, um das Bedienen
von Fahrzeugen oder kr itischen Anlagen unter Alkoholeinfluss zu unterbinden. Dazu dient das Dräger Interlock XT.
Es wird in Transportmitteln wie Bussen,
Taxen und Lokomotiven eingebaut, um
den Passagieren mehr Sicherheit zu bieten. Aber auch in Personenwagen, deren
Fahrer durch Alkohol am Steuer auffällig geworden sind, kommen Alkohol-Interlocks zum Einsatz, um den F ahrern so
die erneute Teilnahme am Straßenverkehr unter strengen Auflagen zu ermöglichen (siehe auch S. 46–49). Das er ste
Dräger Interlock, das die Zündung er st
nach einer negativ verlaufenen Atemkontrolle freigibt, kam 1994 auf den Markt.
Ob Verkehrskontrolle, Alkohol-Interlock oder Langzeitüberwachung, ob elektrochemischer Sensor oder Infrarottechnik
– jede neue Generation der Alkoholtestgeräte von Dräger setzt neue Schwerpunkte in einem Markt, der mehr Sicherheit
ins Leben bringt. Dafür steht der Dräger
Alcotest seit 1953, als die ersten Autofahrer
eine Atemprobe in das Dräger -Röhrchen
mit Messbeutel abgaben. Peter Thomas
Information:
Präzise Alkoholmessungen
mit Dräger-Geräten
www.draeger.com/392/diagnostik
19
AL KOHOLM E S SU N G
NEUE V E RFAHREN
Durch die Haut
W
enn der Alkoholgehalt dauerhaft und lüc kenlos überwacht werden soll, scheiden
Zufallstests (Blut-, Atem- oder Urintests)
aus. Sie sind kostspielig, benötigen mitunter medizinisches Personal und bewirken
keine Verhaltensänderung bei den Delinquenten. Da bietet die Alkoholmessung
in Schweiß und Hautausdünstung große
Vorteile. Ein kleiner Teil von etwa fünf bis
zehn Prozent des getrunkenen Alkohols
wird nicht in der Leber abgebaut, sondern
direkt über die Atemluft, die Haut sowie
den Urin und Hautschweiß ausgeschieden. Mit nur einem Pr ozent erscheint
die Ausscheidung über die Haut zw ar
sehr gering, hat aber einen g roßen Vorteil: Die darüber abgegebene Alkoholmenge ist, mit einer V erzögerung von einer
halben bis zu zwei S tunden, ein Abbild
der Alkoholkonzentration im Körper – und
damit ein leicht zugänglicher Marker für
den Alkoholkonsum.
Mit einem kleinen Gerät, dem
SCRAM® der Firma Alcohol Monitoring
Systems, das manipulationssic her am
Fußgelenk befestigt wird, können die
Messungen automatisch rund um die Uhr
durchgeführt und die Ergebnisse über
einen Sender an eine Zentrale zur Auswer-
20
tung geschickt werden. Der Delinquent
hat keine Chance: Jeder Verstoß gegen
die Auflagen wird sofort geahndet. Das
Innenleben der Fußfessel ist technisch
anspruchsvoll. „Die Alkoholmessung über
die Haut funktioniert im Prinzip wie ein
Atemalkoholtest – elek trochemisch mit
einer Brennstoffzelle“, erklärt Dr. Jürgen Sohège, Pr oduktmanager bei Dräger. „Das Gerät nimmt halbstündlich Proben aus dem ‚Luftkissen‘ über der Haut.
Im elektrochemischen Sensor wird der
Alkohol in ein Stromsignal umgewandelt,
das ausgewertet werden kann.“ Mehrere
10.000 dieser Geräte sind mittlerweile in
den USA im Einsatz, und die Er fahrungen sind positiv: Drei von vier Verurteilten halten sich an die Bewährungsauflagen. Und es geht noch strenger: Wenn die
Delinquenten in einer verschärften Version Hausarrest verordnet bekommen, der
mithilfe eines GPS-Senders im Messgerät
überprüft wird, halten sich sogar bis zu
90 Prozent an die Auflagen.
Mit Licht in die Haut
Nicht immer dient die Alk oholmessung
der Verfolgung und Sanktion von alkoholbedingten Straftaten. Ein großer Bedarf
könnte sich auch im Bereich der Präven-
tion ergeben. Das k ann im Autoverkehr
sein, wenn aus Sicherheitsgründen generell jegliche Alkoholfahrten verhindert
werden sollen, aber auch im beruflichen
Umfeld, wenn die Bedienung bestimmter
Geräte völlige Nüchternheit erfordert. In
all diesen Fällen kann man nicht unbescholtene Menschen durch das Tragen
eines Alkoholdetektors stigmatisieren
und einschränken.
Für diesen Zwec k ist die A temalkoholkontrolle vor dem S tarten eines
Fahrzeugs mit dem Inter lock-System
bereits Realität (siehe auch S. 46–49).
Aber auch optische Messmethoden sind
denkbar, die den Alkoholgehalt durch die
Haut hindurch messen, zum Beispiel am
Finger. In einem br eit angelegten Forschungsverbund in den USA (Driver Alcohol Detection System for Safety; DADSS)
werden optische Methoden mit Nah-Infrarotlicht (NIR) für Messgeräte in Autos
erforscht. Diese elektr omagnetischen
Wellen im Frequenzbereich von 0,7 bis
2,5 µm dr ingen beim Berühr en eines
Sensors mit dem Finger bis zu fünf Millimeter tief in die Haut ein. Die Lic htstrahlen werden vom Gewebe reflektiert
und analysiert. Aus der Lic htreflexion
lässt sich die Gewebealkoholkonzentra-
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
FOTOS: JFX IMAGES / COLOURPRESS.COM, ACTION PRESS / BAUER-GRIFFIN, BARTEE PHOTOGRAPHY / SCRAM (2)
In den USA, wo es eine hohe alkoholbedingte Kriminalitätsrate gibt, sind die Vollzugsbehörden
daran interessiert, Bewährungsauflagen von ALKOHOLSTRAFTÄTERN besser überwachen zu können.
Dabei kommen sogar elektronische Fußfesseln zum Einsatz.
Di debitem
autem ipsam
harciis alicipsus exeruptaqui
nestrum assedic tem eos
eic tem id mo
diandebisque
sit quam que
volupta illist
isitibus
„Gefesselte“ US-Schauspieler: Lindsay Lohan
wurde betrunken am Steuer erwischt – und
musste eine Fußfessel tragen. Rechts: Andy Dick
bei einer Filmpremiere in Los Angeles (2009)
Die Fußfessel
SCRAM überwacht
kontinuierlich den
Alkoholspiegel eines
Delinquenten
tion ermitteln – und notfalls das Starten
des Autos elektronisch verhindern. Ein
Tischgerät auf Basis dieser Technologie,
das TruTouch® 2500 von TruTouch Technologies, steht bereits zur Verfügung. Es
soll präventiv in Hochrisiko-Arbeitsbereichen eingesetzt werden, um so sicherzustellen, dass auch jeder Mitarbeiter vor
Beginn der Arbeit absolut nüchtern ist.
„Noch ist die N ah-Infrarot-Technologie nicht völlig ausger eift, aber sie
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
zeigt interessante Möglichkeiten für
die Zukunft auf“, sagt Dr. Sohège. Auch
in Deutschland beschäftigt sich ein
Unternehmen in Hamburg (Der malog
Identification Systems GmbH) mit der
Entwicklung der transder malen Alkoholmessung auf Basis der N ah-InfrarotTechnologie. In ersten Versuchen konnte
die Physikerin Clarissa Hengfoss zeigen,
dass eine spektroskopische Messung des
Gewebealkohols im Finger möglich ist.
Fesselnde Idee
Wer sündigt, wird bestraft. Doch es geht auch
sanfter: mit einer Rechtsprechung, die auf
Einsicht und Änderung des Verhaltens setzt.
Ein Mittel dazu ist die kontinuierliche (24/7)
Überwachung konformen Verhaltens durch eine
Fußfessel wie dieser SCRAM (Secure Continuous Remote Alcohol Monitor). Sie misst alle
30 Minuten transdermal den über die Haut
abgegebenen Alkohol und sendet diese Werte
plus die der Temperaturkontrolle an einen
Zentralserver – entweder direkt via integriertem
Handy-Chip oder über eine Basisstation.
Allerdings ist die Methode in der Praxis
durch technische Probleme – wie Lichtstreuungen im Gewebe, Überschneidungen der Spektrallinien von Alk ohol mit
denen von Eiweißen und F etten sowie
eine unbefriedigende Kalibrierung –
noch sehr aufwendig. „Wir sind in der
Entwicklung schon weit gekommen, aber
bis zu einem allt agstauglichen Gerät
dauert es noch“, sagt Geschäftsführer
Günther Mull.
Regina Naumann
21
E T H AN OL
Haut:
teigig, aufgedunsen
Nase:
knollenartige
Verdickung
Herz:
Bluthochdruck,
Herzrhythmusstörungen,
Herzmuskelentzündungen
Bauch:
Übergewicht
Nerven:
Störungen, Krämpfe,
Zittern, Kribbeln
Magen und Darm:
Schleimhautentzündung (Gastritis), Funktionsstörung, Krebs
Wie Alkohol schadet
Mögliche Folgen eines überhöhten Konsums
Gehirn: durch Absterben
von Gehirnzellen abnehmend:
Gedächtnis, Konzentration,
Urteilsvermögen, Intelligenz – bis
zum völligen geistigen Abbau
Mundraum, Rachen,
Speiseröhre: Krebs
Leber: Verfettung,
Schwellung, Leberzirrhose
(Schrumpfleber), Krebs
Bauchspeicheldrüse:
Funktionsstörung, Entzündung
(Pankreatitis)
Geschlechtsorgane:
Nachlassen der Libido,
Impotenz
Persönlichkeit:
Unzuverlässigkeit, Reizbarkeit,
Unruhe, übertriebene Eifersucht,
vielfältige Ängste, Depression,
Selbstmordgedanken
Reine Nervensache
Kleine Ursache, große Wirkung: Selbst geringe Mengen Alkohol können
das KOORDINATIONS- UND REAKTIONSVERMÖGEN einschränken.
A
lkohol gehört für viele Menschen einfach dazu. Ein Glas
Wein beflügelt die Gedank en,
eine Runde Bier sorgt für Heiterkeit. Der
leicht enthemmende Effekt eines alkoholischen Getränks (ein internationaler
„Standard-Drink“ enthält zehn Gramm
Ethanol) ist dabei nichts anderes als die
erste Stufe eines komplexen Wirkprozesses auf das zentrale Nervensystem (ZNS):
Ethanol-Moleküle lagern sich in die Proteine der Nervenzellen ein und verändern deren Funktion. Insbesondere die
Ionenkanäle – zuständig für die Signalübertragung im Transmittersystem der
Nerven- und Muskelzellen – werden vom
Ethanol beeinflusst. Bestimmte Wege
22
der Reizübertragung werden verstärkt,
die meisten jedoch gedämpft. Beispielsweise verliert das Gehirn so die Fähigkeit,
gefährliche Situationen zu erkennen und
richtig einzuschätzen. Eine Studie des
National Institute on Alcohol A buse and
Alcoholism in Maryland, USA, hat den entsprechenden Effekt auf das Gehir n mittels Magnetresonanztomografie gezeigt.
Der Effekt setzt etwa zwei Minuten
nach Aufnahme des er sten Getränks ein
und steigert sich bei weiterem Konsum
proportional zur Alkoholkonzentration im
Blut – bis hin zu sc hweren Ausfallerscheinungen. Subjektiv wirkt Ethanol zunächst
stimulierend, betäubend und wärmend.
Höhere Dosen können zu Selbstüberschät-
zung, Aggressivität sowie Minderung der
Denk-, Sprach- und Sehfähigkeit führen.
Schließlich treten Benommenheit und
Bewusstlosigkeit auf. Die Sc hwelle zur
Beeinträchtigung des Koordinations- und
Reaktionsvermögens kann beim einzelnen Menschen vergleichsweise gering sein.
So stellt das Institut für Arbeitssc hutz der
Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung in der GESTIS-Stoffdatenbank fest:
„Die ZNS-Leistung kann bereits bei Ethanol-Blutkonzentrationen von 200 bis 300
mg/l (0,2 bis 0,3 Pr omille) beeinträchtigt
sein, ab 0,6 bis 0,7 Pr omille ist sie bei der
Mehrzahl der Menschen erheblich beeinflusst.“
Karussell der Sinne
Manche Effekte setzen sich aus verschiedenen Symptomen zusammen. So wir d
das mit der Intoxikation einhergehende
Schwindelgefühl einerseits durch den
neurologisch gestörten Abgleich der für
das Gleichgewichtsempfinden notwendigen Sinne verursacht. Der alkoholische
Lageschwindel entsteht dagegen dur ch
die Diffusion von Ethanol in die sogenannte „Ampullenkuppel“ oder Cupula des
Drehsinnorgans. Normalerweise haben
Cupula und die sie umgebende L ymphe
dasselbe spezifische Gewicht. Bei einem
Alkoholspiegel von mehr als 0,3 Pr omille
sinkt das spezifische Gewicht der Cupula
so deutlich im Vergleich zur Lymphe, dass
sie nicht nur auf Dr ehbewegungen, sondern auch auf Lageveränderungen des
Kopfes reagiert. So entsteht ein Sc hwindelgefühl, das mit umgekehrtem Verhältnis auch beim Abbau des Ethanols auftreten kann.
Peter Thomas
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
ILLUSTRATION: PICFOUR
W IR K UN G
BADESAL Z E
LEG A L H IG HS
Kunst-Stoffe
Die Rauschgiftszene ist ständig in Bewegung – vor allem bei den SYNTHETISCHEN DROGEN
kommen immer neue Stoffe auf den Markt. Rauschmittel, die als „Badesalz“ verkauft werden, breiten
sich rasant aus. Ihre Wirkung erschüttert selbst erfahrene Mediziner.
B
adesalz, Spice, Pflanzennährstoff:
Was harmlos klingt, kann lebensgefährlich sein. Neben den klassischen Rauschgiften spielen die unter
Fantasienamen verkauften „Legal Highs“
eine immer g rößere Rolle im Dr ogenmarkt. Legal ist diese Gr uppe synthetischer Stoffe nur insofern, als dass es noch
keine Verbote für sie gibt. In zahlreichen
Ländern wird aber genau daran gearbeitet. Allerdings erinnert die Verfolgung
der Kunst-Drogen an das W ettrennen
zwischen Hase und Igel: Denn die Produzenten bringen neue Stoffe schneller auf
den Markt, als bestehende Mischungen
verboten werden. In Deutschland können Vertrieb und Konsum einer Droge
erst verboten werden, wenn der entsprechende Stoff im Betäubungsmittelgesetz
aufgeführt wird. Außerdem werden die
als Badezusatz oder Räuc hermischung
deklarierten Stoffe auf den P ackungen
ausdrücklich nicht für den menschlichen
Konsum angeboten – das macht schnelle
Verbote auch in den USA schwierig.
zeigt ein ausgesprochen heterogenes Bild
auf. Denn auch wenn ihre Wirkung oft
jener von bekannten Rauschgiften ähnelt,
unterscheiden sich die synthetischen Substanzen chemisch meist g rundsätzlich
von diesen. Das gilt e twa für die synt hetischen Cannabinoide, die an die Cannabis-Rezeptoren im Gehirn andocken und
die vor allem in Kräuter -Rauchmischungen enthalten sind. Synthetische Cathinone hingegen werden in sogenannten Badesalzen verkauft. Toxizität und Intensität
der „Legal Highs“ betragen oft ein Vielfaches herkömmlicher Drogen, weshalb
ihre psychischen und körperlichen Risi-
ken die bekannten Wirkungen etablierter
Rauschgifte erheblich übertreffen, mitunter sogar potenzieren können – etwa wenn
die im Markt angebotenen Produkte miteinander kombiniert werden.
Über die Wirkung der im „Badesalz“
enthaltenen Substanzen wie Mephedron
oder Methylendioxypyrovaleron kursiert
manche Horrorgeschichte. In den USA
ist ein Mann laut „N ew York Times“
auf einen Mast am S traßenrand geklettert und in den Verkehr gesprungen, ein
anderer sei im Rausc h in ein Kloster
eingedrungen und habe einen Pr iester
erstochen.
Peter Thomas
Die Problematik wird immer drängender: Allein im Jahr 20 12 wurden 57 neue
Varianten synthetischer Drogen entdeckt,
wie die europäische Beobachtungsstelle
für Drogen und Drogensucht (EBDD) in
ihrem Jahresbericht feststellt. Drei Jahre zuvor waren es noch 24 neue Substanzen. EBDD-Präsident Wolfgang Götz warnt
deshalb vor der Konjunktur dieser Stoffe.
Ein internationales Register sei dringend
notwendig, um die Verbreitung psychoaktiver Substanzen besser eindämmen zu können. Ein Überblick der neuen Kunst-Stoffe
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
FOTOS: PICTURE ALLIANCE, STAR-MEDIA
Regionale Trends
Unter falscher Flagge: Mit immer neuen Substanzen versuchen Drogenproduzenten,
staatliche Verbote zu umgehen. Dazu gehört auch diese mit Drogen versetzte
Kräutermischung, die weder Speisen würzen soll, noch der Zubereitung einer Art
von Kamillentee dient. Es geht um den Rausch – weshalb diese Proben auch
im Dezernat Chemie des Landeskriminalamts in Frankfurt am Main gelandet sind
23
Die Spur des Speichels
R
oss Rebagliati hat im doppelten
Sinn Sportgeschichte geschrieben.
Der kanadische Snowboarder surfte sich bei den Ol ympischen Winterspielen 1998 im japanisc hen Nagano mit
einem Sieg im Riesenslalom zum er sten
olympischen Goldmedaillengewinner
in dieser Disziplin. Gleic hzeitig wurde
er als erster Olympionike des CannabisKonsums überführt. Er hatte Glück, da
Kiffen vor dem Wettkampf damals noch
nicht geahndet wurde. Rebagliati steht
nach wie vor in der ewigen Siegerliste.
Heute steht das Hanfge wächs Cannabis, egal ob es als gepr esstes Harz
(Haschisch) oder ge trocknetes Gras
(Marihuana) geraucht wird, auf der
Schwarzen Liste verbotener Dopingmittel.
Nicht, weil es die Leistungsg renzen des
menschlichen Körpers ins Grenzenlose
verschiebt, sondern weil sein W irkstoff
Tetrahydrocannabinol (THC) die Risikobereitschaft der Athleten erhöht. Gerade
auf steilen Pisten k ann das sehr gef ährlich werden. „Wer kifft, surft riskanter!“,
warnte die Schweizerische Fachstelle für
Alkohol- und ander e Drogenprobleme
bereits im Jahr 2002 vor den berauschenden Pfeifchen. Gleichwohl, frotzeln Fans,
darf eine der attraktivsten Snowboard-Disziplinen nach wie vor „Halfpipe“ heißen.
Grenzwerte auch für Drogen
Frisch aus
dem Blister:
der poröse
Probensammler, bereit für
den Drogentest
24
Cannabis ist die meist konsumierte „illegale“ Droge der Welt. Nach Schätzungen
des United Nations Office on Drugs and
Crime (UNODC) haben im Jahr 2010 bis
zu fünf Prozent aller Menschen zwischen
15 und 64 Jahr en, das entspricht jedem
25. Erdenbürger, mindestens einmal an
einem Joint gezogen. Har te Drogen wie
Heroin, Kokain oder Ecstasy wurden sehr
viel seltener genommen (Tabelle 1).
Auch im Straßenverkehr ist, abgesehen von Alkohol, keine andere Droge so
häufig anzutreffen wie Cannabis, wie die
2011 vorgestellte Studie DRUID (Driving
Under Influence of Drugs, Alcohol and
Medicines) der deutschen Bundesanstalt
für Straßenwesen zeigte. Europaweit wurden dafür fast 50.000 Autofahrer auf freier Strecke gestoppt und auf den Einf luss
von Alkohol, illegalen Drogen oder Medikamenten getestet. Die Autoren der Studie empfahlen anschließend, Grenzwerte
für die drogenbedingte Fahruntüchtigkeit
einzuführen. So wie beim Alkohol.
Doch das ist leichter gesagt als getan.
Denn beim Alkohol gibt es nic ht nur
etablierte Grenzwerte, sondern auch
mo bile und einf ach anzuwendende
Atem alkoholkontrollen, die ger ichtlich verwertbare Analysen direkt vor
Ort ermöglichen (siehe auch S. 14–19).
Bei Drogenkontrollen hingegen werden
zum Beispiel von deutschen Polizisten –
im Fall von verdächtigen Autofahrern –
aufwendige Blutproben angeordnet.
Im Vergleich dazu sind Urinproben nur
„bedingt aussagekräftig“.
In den USA wir d indes der Ruf nach
neuen Testverfahren lauter. „Unsere Polizisten brauchen eine Technologie, die es
ähnlich wie atembasierte Kontrollgeräte
beim Alkohol erlauben, die Fahruntüchtigkeit bei Drogenkonsum direkt vor Ort festzustellen“, mahnte US- Senator Charles
Schumer im Januar 20 12. „Also bevor
diese Fahrer und Fahrerinnen einen irreparablen Schaden verursachen können.“
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
FOTOS: DRÄGERWERK AG & CO. KGAA
Herkömmliche Blut- und Urintests sind aufwendig, mitunter irreführend, wenn es darum geht,
Drogensündern im Straßenverkehr auf die Schliche zu kommen. In Belgien fischt die Polizei
benebelte Autofahrer seit einigen Jahren mithilfe MODERNER SPEICHELTESTS aus dem Verkehr –
und in Australien muss man sogar am Arbeitsplatz mit einem Schnell-Screening rechnen.
SP E I C H E L P ROBE
DRO G EN T E S T
Hygienisch
ins Labor: mit
dem DCD
5000 – unten
der Probensammler, oben
der Haltegriff
Obwohl Drogen und Medik amente im
menschlichen Körper viele eindeutige
Spuren hinterlassen, eignen sich die meisten Körpersubstanzen nicht für einen
mobilen Schnelltest. In Haaren und Nägeln
beispielsweise sind die Subst anzen über
Monate nachzuweisen. Eine Aussage über
den genauen Zeitpunkt, w ann eine Substanz geschluckt, inhaliert oder gespritzt
wurde, liefern sie allerdings ebenso wenig
wie Schweißpflaster, die über Tage hinweg
auf der Haut einwirken müssen.
Ganz anders dagegen das menschliche Blut: Es liefert schnelle Ergebnisse,
Tabelle 1: Weltweiter
Konsum illegaler Drogen
Droge
Es reicht: Ein
Farbumschlag
markiert die
zur Analyse
ausreichende
Speichelmenge
Konsum
[in Prozent: 1.), 2.)]
Cannabis
2,5 – 5,0
Opioide
(z. B. Heroin)
0,6 – 0,8
Opiate
0,3 – 0,5
Kokain
0,3 – 0,4
Amphetaminähnliche
Stimulanzien
0,3 – 1,2
Ecstasy
0,2 – 0,4
Andere Drogen
3,4 – 6,6
Quelle: UNODC 2012; 1.) = Leitfrage:
Welcher Anteil der Menschen zwischen
15 und 64 Jahren hat diese Droge in
den letzten zwölf Monaten konsumiert?;
2.) = minimale und maximale Schätzungen
Cannabis ist die meist konsumierte
„illegale“ Droge der Welt. Je nach
Schätzung haben weltweit bis zu fünf
Prozent aller Erwachsenen mindestens einen Joint geraucht. Harte Drogen
wie Heroin, Kokain oder Ecstasy
wurden deutlich seltener konsumiert
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
da es den Suchtstoff sofort nach der Verabreichung aufnimmt und im gesamten
Körper verteilt. Weil es in seiner c hemischen Zusammensetzung bei allen Menschen sehr einheitlich ist und w ährend
der Entnahme nicht manipuliert werden kann, sind die Analysen zudem sehr
zuverlässig. Schließlich lässt sich aus der
Konzentration eines Wirkstoffs im Blut
unmittelbar die berauschende Wirkung
der Droge im zentralen N ervensystem
ableiten. Dennoch gibt es ein K.o.-Kr iterium für spontane Verkehrskontrollen:
Die Blutentnahme ist inv asiv und kann
nur durch medizinisches Fachpersonal
vorgenommen werden.
Effizienter Speicheltest
Auch die Urinprobe, die häufig als Vortest für eine Blutpr obe dient, hilf t bei
der Suche nach einem zuverlässigen und
schnellen Drogen-Screening nur bedingt
weiter. Um die Intimsphäre der getesteten Person zu wahren, muss sie verdeckt
erfolgen, und kann so leicht manipuliert
werden. Ein weiteres Problem stellen die
vielen falsch-positiven Ergebnisse dar,
die unnötige Bluttests nach sich ziehen.
Der Grund: Das Abbauprodukt des Cannabis-Wirkstoffs THC schlägt bei einem
Urintest viel länger an als der W irkstoff
selbst. Damit steigt das Risik o, dass der
anschließende Bluttest r echtlich ins
Leere läuft, denn die Gerichte erkennen
lediglich den direkten THC-Nachweis als
Beweis für eine Fahruntüchtigkeit an.
Der Nachweis des Abbauprodukts hingegen ist rechtlich irrelevant.
In Belgien stieg die dur ch Urintests
verursachte Falsch-Positiv-Rate zuletzt >
25
1.
2.
Hygienische Handhabung Probennahme mit vorbedes DrugTest 5000:
reiteter Testkassette
> auf 15 Prozent. Jede siebte Blutpr obe
hätten sich die Verkehrshüter streng
genommen also spar en können. Ein
Ärgernis – für Autofahrer wie Polizisten.
Viele Jahre lang gab es k eine Alternative zu dieser Praxis. Mit der gesetzlichen
Verankerung der Speicheltests im Jahr
2010 aber geht das Land nun neue Wege.
Seitdem folgen die Verkehrskontrollen in
Belgien bei Verdacht auf Drogenkonsum
einem straffen Plan: Verhält sich ein
Autofahrer auffällig, wird ein Speicheltest vor Ort durchgeführt. Überschreitet
die Konzentration je nach Substanz eine
bestimmte Schwelle (siehe Tabelle 2),
wird eine zweite Speic helprobe entnommen und zur Best ätigungsanalyse
in ein Labor geschickt. Verweigert sich
der Autofahrer generell oder kann er sie
nicht durchführen, wird eine Blutprobe
im nächsten Krankenhaus entnommen.
Studien zeigen, dass die Zahl der Fahrer,
denen eine Fahruntüchtigkeit nachgewiesen werden konnte, seit Einführung
der Speicheltests gestiegen ist. Auc h
in Frankreich wurde der Speicheltest
inzwischen gesetzlich verankert. Ebenso in Spanien, wo es jedoch bislang keine
verbindlichen Grenzwerte gibt.
3.
4.
Farbanzeige markiert das Einschieben in das
Ende der Probennahme
Analysegerät
5.
Analyse und Ergebnis
in wenigen Minuten
0,28 Milliliter Speichel reichen aus, um verschiedene Drogen mit dem Dräger
DrugTest 5000 (s.u.) in kurzer Zeit nachzuweisen – wie hier in Australien
Speichel bietet ähnlich gute Eigenschaften für einen Dr ogentest wie Blut. Er
besteht zu rund 99 Prozent aus Wasser,
das aus den Blutgefäßen in die Speicheldrüsen gelangt und dadurch viele gelöste
Stoffe in den Mund- und Rac henraum
spült – dar unter auch Wirkstoffe von
Drogen. Ähnlich wie beim Blut lassen
sich zudem eindeutige Aussagen über den
26
FOTOS: DRÄGERWERK AG & CO. KGAA
Auf den Punkt
Das Gerät ist für eine einfache wie hygienische Bedienung konzipiert,
und arbeitet autonom – auch unter harten Einsatzbedingungen
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
SP E I C H E L P ROBE
DRO G EN T E S T
THC lässt sich genauso lange im Speichel
nachweisen, wie die Wirkung anhält
Zeitpunkt des Drogenkonsums sowie die
berauschende Wirkung treffen. Schließlich kann die Probe einfach, schnell und
zuverlässig entnommen werden. Selbst
für den Wirkstoff THC, der nur in sehr
geringem Maß aus dem Blut in den Speichel gelangt, ist das V erfahren geeignet,
da sich die Wirkstoffspuren, die sich beim
Rauchen in der Schleimhaut ansammeln,
genauso lange nachweisen lassen, wie die
Wirkung der Droge im Körper anhält.
Fast wie am Fließband
Hinzu kommt, dass Speicheltest-Geräte
nach dem Stand der Technik sehr belastbare Ergebnisse liefern, wie etwa der 2008
eingeführte Dräger DrugTest 5000. Das
Gerät spürt schon kleine Wirkstoffmengen
(THC: fünf Nanogramm pro Milliliter) auf
und bestimmt den Zeitpunkt des Drogenkonsums in einem Zeitfenster von bis zu
acht Stunden, wofür es ein Pr obenvolumen von lediglich 0,28 Milliliter Speichel
benötigt. „Auf diese Weise lässt sich sehr
genau ermitteln, ob ein Mensch kürzlich
eine oder mehrere Drogen zu sich genommen hat und davon noch beeinflusst ist“,
sagt Dr. Stefan Steinmeyer, verantwortlich
für das Thema „Drogentest“ bei Dräger.
Neben der Technik muss allerdings
auch die gesetzliche Grundlage stimmen.
Massenhaft finden Speicheltests daher
bislang lediglich in Australien statt. Dort
werden Drogenkontrollen seit 2004 per
Gesetz so forciert wie in k einem anderen Land. Aller dings ist auch nirgendwo sonst der Cannabis-Konsum so hoch
wie hier. Laut UNODC hat in Australien
und Neuseeland mindestens jeder neunte Erwachsene im Jahre 2012 Cannabis
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
konsumiert (siehe Tabelle 3). Die Kontrollen beginnen in Australien im Straßenverkehr. Anders als in Belgien wir d hier
nicht auf Verdacht geprüft, sondern systematisch zur Abschreckung. Zwischen
2004 und 2009 wur den allein im Bundesstaat Victoria mehr als 100.000 Autofahrer auf Drogen getestet. Die SpeichelSchnelltests am Straßenrand laufen hier
fast wie am Fließband (siehe auc h Drägerheft 389; S. 16 ff.).
Auch am Arbeitsplatz nehmen die
Stichproben zu, wie Michael Wheeldon,
Managing Director des Drogentest-Dienstleisters Integrity Sampling Pty Ltd., erklärt.
Das Unternehmen wurde 2001 mit der
Geschäftsidee gegründet, Mitarbeiter im
Auftrag ihrer Arbeitgeber zu überprüfen.
Ähnlich wie im Straßenverkehr liegt der
Anteil der positiv getesteten Personen bei
rund zwei Prozent. „In den letzten zehn
Jahren ist die Zahl der Tests stetig gestiegen“, sagt Wheeldon. „In 20 12 haben
wir mit Dräger -Geräten rund 35.000
Alkohol- und Drogentests durchgeführt.“
Am Anfang waren es vor allem Minenbetreiber, die die Aufträge vergaben. Heute
kommen die Anfragen aus allen sic herheitsrelevanten Industrien.
Eine sinkende Nachfrage befürchtet der Manager nic ht. „Australische
Arbeitgeber sind gesetzlich verpflichtet, für die Sic herheit ihrer Angestellten am Arbeitsplatz zu sorgen.“ Dazu
zählt eben auch, dass alle im Team tatsächlich nüchtern sind. Frank Grünberg
EU-Programm „DRUID“:
Drogen-Schnelltest-Geräte für mehr
Sicherheit im Straßenverkehr
www.draeger.com/392/ddt5000
Tabelle 2: Drogenkontrollen in Belgien:
Nachweisgrenzen (sog. „Cutoffs“); in
ng / ml der Substanzen
Substanz
Vortest
Bestätigung
Speichel
Speichel
Blut
THC
(Cannabis)
25
10
1
Amphetamine, Ecstasy
50
25
25
Opiate
10
5
10
Kokain, Benzoylecgonin
20
10
25
(Plasma)
Quelle: DRUID: Oral fluid and blood confirmation compared
in Belgium. Van der Linden T, Legrand SA, Silverans P,
Verstraete AG. J Anal Toxicol. 2012 Jul; 36(6): 418-21
Verkehrskontrollen in Belgien folgen bei
Verdacht auf Drogenkonsum einem straffen
Plan. Zeigen Autofahrer ein auffälliges
Verhalten, wird ihnen eine Speichelprobe
entnommen. Überschreitet die Konzentration eine bestimmte Schwelle, folgt ein
zweiter, strengerer Speicheltest. Verweigert sich der Autofahrer, wird eine Blutprobe
im nächsten Krankenhaus angeordnet
Tabelle 3: Cannabis-Konsum
nach Regionen
Region
Konsum (%)
Ozeanien
9,1–14,6
Nordamerika
10,8
West-/Zentral-Afrika
5,2–13,5
West-/Zentral-Europa
7,0
Asien
2,2
Quelle: UNODC 2012; Leitfrage: Wie viele Menschen
zwischen 15 und 64 Jahren haben diese Droge in den letzten
zwölf Monaten konsumiert?
Laut UNODC hat in Australien und Neuseeland mindestens jeder neunte Erwachsene im
Jahre 2012 Cannabis konsumiert
27
R ISIKOFAK TOR
MENSCH
Risiken und
Nebenwirkungen
T
raut man sich nach dem Genuss
einer Flasche Wein noch zu, in luftiger Höhe die Landebahn von der
Landstraße einwandfrei zu unterscheiden? Oder würde man sich noch hinter
das Steuer seines Autos setzen? Jeder vernünftige Mensch würde heute „Nein!“
antworten. Aber noch 1968 reagierte die
deutsche Wochenzeitung „Die Zeit“ mit
Entsetzen auf den Gesetzentwurf des Bundesrats, in Deutschland die Promillegrenze im Straßenverkehr von 1,3 auf 0,8 Promille zu senken (siehe auch S. 42–45).
„Ein Muster der Sinnlosigkeit“, schrieb
das Blatt und besc hwerte sich darüber,
dass dem Bürger damit seine Urteilskraft
über die Fahrtüchtigkeit aberkannt und
jeder bestraft werde, der zwar eine Menge Alkohol im Blut habe, dennoch korrekt
fahre. Die subjektive Einsc hätzung der
Gefahr zählte damals viel.
Haschisch in der
Fahrerkanzel
Heute weiß man: Jede persönliche Bewertung, ob e twa nach einer bestimmten
Dosis Alkohol die Fahrtüchtigkeit noch
vorliege, gleicht einem Würfelspiel. Mal
gewinnt man, mal ver liert man. Mancher Pilot mag seine Maschine wie Denzel Washington in „Flight“ jahrelang auch
nach mehreren Gläsern Wodka und Lines
Kokain noch sicher landen können. Andere verfehlen schon mit einem K ater vom
Vortag die Landebahn. Autopiloten können
einen aufmerksamen Piloten nicht ersetzen, Autos vollgestopft mit Airbags keinen
Frontalzusammenstoß verhindern.
Kurz vor dem Ziel stür zte 2008 eine
russische Passagiermaschine auf die Glei-
28
se der transsibir ischen Eisenbahn. Die
Trunkenheit des Piloten kostete 88 Menschen das Leben. Die verheerende Ölpest
vor der Küste Alaskas ist dem Kapitän des
Tankers Exxon Valdez, der 1989 auf ein
Riff lief, indes k aum in die Sc huhe zu
schieben: Er lag betrunken in der Kajüte,
während seine Besatzung eine der g rößten Umweltkatastrophen der Schifffahrtsgeschichte verursachte. Zwei Jahre zuvor
krachte in Maryland, USA, ein Amtrak-Zug
mit 174 km/h in eine Reihe Conrail-Lokomotiven. 16 Menschen starben, 170 wurden verletzt. Die Crew des Conrail-Konvois hatte 18 Minuten zuvor einen Joint
geraucht und ein Signal über sehen. Ein
alkohol- und drogensüchtiger Ingenieur
wurde später als Hauptverantwortlicher
des Unfalls ausgemacht.
Jedes mögliche technische Sicherheitsrisiko wird heute bedacht. Maschinen werden auf die optimale Interaktion
mit dem Menschen abgestimmt, Situationen und Varianten durchgespielt und
Szenarien entwickelt, um das Unkalkulierbare so kalkulierbar wie möglich zu
machen: den Menschen. Mittlerweile
gilt im Straßenverkehr aus diesem Grund
nicht nur in Deutschland eine Grenze
von 0,5 Promille. In vielen slawisc hen
und baltischen Ländern müssen Autofahrer sogar komplett nüchtern bleiben.
Zu Recht, findet Michael Klein, Professor am Deutschen Institut für Sucht- und
Präventionsforschung an der K atholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen:
„Das Problem des Alkohols ist, dass man
seine Wirkung noch nicht spürt, während sich die Wahrnehmung schon verschoben hat.“ Das sei deutlic h vor dem >
FOTO : ULLSTEIN BILD – STILL PICTURES/AL GRILLO
Eine Kette ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied, und jede
SICHERHEITSVORKEHRUNG nur so gut, wie es der Mensch zulässt.
Betäubt der seine Sinne, gefährdet er nicht nur die eigene Sicherheit.
DRÄGERHEFT
D
DRÄ
DR
DRÄG
RÄG
R
RÄ
ÄGERHE
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G ER
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T 392
3 92
92 | S
SPE
SP
SPEZIAL
PE
PE Z
ZIAL
ZIA
ZI
IA
AL
A
L
Zahlen und Fakten
u Bei mehr als jeder zehnten Person, die im Straßenverkehr
getötet wurde, ist in Deutschland Alkohol im Spiel
u Bei rund 14 bis 17 Prozent aller weltweiten Verkehrsunfälle mit
Toten und Verletzten spielen Medikamente und Drogen eine Rolle
u In Nordamerika übertrifft die Anzahl der Autofahrer unter
Einfluss illegaler Drogen die Anzahl alkoholisierter Fahrer
u Die Kombination von Drogen und Medikamenten mit Alkohol
steigert signifikant das Risiko, verletzt oder getötet zu werden
Ölpest: Der betrunkene
Kapitän des Tankers
„Exxon Valdez“ verursachte
eine der größten Umweltkatastrophen aller Zeiten
Gegenspieler im Nervensystem
> offensichtlichen Rausch und mitunter
schon ab 0,3 Promille der Fall.
Das Problem, das den Menschen im
Straßenverkehr und in jeg lichen sicherheitsrelevanten Bereichen zum Risik o
mache, sei zudem der Ent hemmungseffekt. Dinge, die normalerweise gehemmt
seien, würden durch psychotrope Substanzen freigesetzt. So entfalle etwa die Scheu
vor riskanten Überholmanövern, da die
Angst blockiert sei. „Menschliches Verhalten ist eine Balance aus Anbahnung und
Hemmung“, sagt Mic hael Klein. „Gut
sozialisierte Menschen haben ein hohes
Maß an Aggressionskontrolle erworben.
Zentrales
Nervensystem:
Antrieb
Aufmerksamkeit
Bronchien:
Erweiterung
Diese wird beim Genuss von Alkohol und
anderen Drogen gehemmt. Daraus ergibt
sich die Freisetzung bestimmter Aggressionen.“
Wenn sich Emotionen nicht
mehr deuten lassen
Eine Studie des National Institute on
Alcohol Abuse and Alcoholism (NIAAA) in
Maryland zeigt, wie Alkohol das Gehirn
manipulieren kann. Mithilfe der Magnetresonanztomografie untersuchten
die Forscher die Verarbeitung von Emotionen. Eine Gr uppe der S tudienteilnehmer erhielt per Infusion Alk ohol,
Augen:
Pupillenerweiterung
Speichel:
wenig, zähflüssig
Herz:
Frequenz 
Kraft 
Blutdruck 
Magen und Darm:
Peristaltik 
Sphinktertonus 
Durchblutung 
Sympathikus
Angriff/Flucht
30
Leber:
Glykogen-Abbau
Glukose-Freisetzung
Blase:
Sphinktertonus 
Tonus des Wandmuskels 
Skelettmuskel:
Sphinktertonus 
Tonus des Wandmuskels 
eine andere eine Salzlösung. Anschließend wurden beiden Gruppen verschiedene Gesichtsausdrücke gezeigt und
ihr Gehirn immer wieder gescannt. Es
zeigte sich in bestimmten Hir narealen
der nüchternen Probanden ein deutlicher Unterschied in der R eaktion auf
neutrale Mimik und angsteinf lößende
Gesichtsausdrücke. Bei den alkoholisierten Teilnehmern ließ sich kein Unterschied ausmachen. Alkoholisierte Menschen verkennen die Gef ahr, die von
einer anderen Person ausgeht – und sie
können keine Konfliktvermeidungsstrategie entwickeln.
Ähnliche Ergebnisse brac hte eine
Studie der Universität Granada, Spanien, ans Licht, wonach Menschen unter
Drogeneinfluss Probleme haben, Emotionen im Gesicht des Gegenübers zu deuten. Je intensiver der Konsum in der Vergangenheit war, desto schwieriger wurde
es, Zorn, Wut oder Angst zu er kennen.
Eine weitere Studie der Spanier of fenbarte bei 70 Pr ozent der Drogenabhängigen neuropsychologische Beeinträchtigungen von Gedächtnis, Verarbeitung
von Gefühlen und der Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen – unabhängig davon, ob
sie Alkohol, Cannabis, Amphetamine oder
Kokain konsumiert hatten.
Die Konsequenzen daraus sind nicht
nur für Hoc hrisikoberufe absehbar.
Vor allem die dr ohende Fehleinschätzung bestimmter Situationen mac ht
den Drogen oder Alkohol konsumierenden Menschen bei Fußballspielen, auf
Demonstrationen und im täglichen Miteinander zum Risiko. Hinzu kommt die
vor allem auf grund von Alkohol einset-
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
FOTOS: SHUT TERSTOCK, ISTOCKPHOTO
Sie sind Teil des vegetativen Nervensystems mit ganz unterschiedlichen
Funktionen: Sympathikus und Parasympathikus. Als Gegenspieler steuern
sie wichtige Körperfunktionen. Alkohol und Drogen stören ihre Arbeit
MENSCH
R IS IKO FA K TO R
Augen:
Naheinstellung
Pupillenverengung
Bronchien:
Engstellung
Sekretion 
Speichel:
viel, dünnflüssig
Herz:
Frequenz 
Blutdruck 
zende Wesensveränderung und Gewaltbereitschaft. „Die F rage, ob jemand
gewalttätig wird oder nicht, ist eine Frage der Wahrscheinlichkeit. Das Problem
ist, dass sich viele Menschen grundsätzlich das Recht zugestehen, unter Alkoholeinfluss aggressiv werden zu k önnen“, sagt Suchtforscher Klein. Das sei
nicht überall der Fall: So entschuldige
man in Deutschland unter Alkoholkonsum begangene Delikte schneller als in
anderen Ländern. „Die Amerikaner nennen das auch ,German Discount‘: Wer
stark betrunken ist, wird für nicht voll
zurechnungsfähig gehalten – und gilt als
vermindert schuldfähig.“
In vielen Bereichen wird dem Sicherheitsrisiko, das von Menschen unter Einfluss von psychotropen Substanzen ausgeht, mittlerweile mit strikten Verboten
sowie Alkohol- und Dr ogentests begegnet. In der Luf tfahrt etwa gilt ein weltweites Alkoholverbot für das Boden- und
Flugpersonal, dem inter national auch
durch unangekündigte T ests versucht
wird, Rechnung zu tragen. Je nach Land
und Dienstvereinbarung sind Piloten verpflichtet, eine bestimmte Stundenzahl vor
Dienstantritt keinen Alkohol zu konsumieren. Getestet wird in der Realität allerdings selten. Selbst die jähr lichen ärztlichen Untersuchungen geben nur bedingt
Aufschluss über eine Sucht.
Noch entscheidender scheint da das
generelle Verständnis der Gef ahr, wie
Markus Wahl von der deutschen Pilotenvereinigung Cockpit bestätigt: „Wir alle
haben den Anspruch, sicher zu operieren. Das ist ober ste Maxime.“ Wichtiger
als unregelmäßige Tests schätzt er die
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
Magen und Darm:
Sekretion 
Peristaltik 
Sphinktertonus 
Parasympathikus
Blase:
Sphinktertonus 
Tonus des Wandmuskels 
Ruhe/Entspannung
zwischenmenschliche Ebene ein: „Man
ist natürlich irritiert, wenn der Pilot auf
dem Sitz nebenan lallt oder nach Alkohol
riecht. Schon bei seltsamen Entscheidungen, ohne weiteren Verdacht, wird man
stutzig.“ Es sei T eil der Ausbildung, so
etwas zu erkennen, anzusprechen und
nicht aus falsch verstandener Scham totzuschweigen. Auch junge Piloten müssten
erfahrene Kollegen ansprechen und handeln. „Mit allen Konsequenzen – bis hin
zur Annullierung des Flugs!“
Viele Regularien,
wenige Standards
Die Gesetzeslage ist ink onsistent – in
Deutschland, aber auch international.
Aus der potenziellen Gefahr, die von dem
Betrieb ausgeht, einer Chemiefabrik zum
Beispiel, der ausgeübten Tätigk eit, ein
Baggerführer etwa, oder schlichtweg aus
Arbeitsschutz- und Unfallverhütungsvorschriften, resultiert ein diffuses Verbot,
Drogen oder Alkohol während der Arbeitszeit zu konsumieren. Das gilt auc h für
Fahrer von Gefahrguttransportern und
Menschen, die Personen befördern, ebenso Polizisten, Feuerwehrleute oder Rettungssanitäter. Für die meisten Hoc hsi-
cherheitsberufe gibt es länderspezifische
Regelungen, aber wenige inter nationale
Standards. Auf Drängen von Deutschland
hat die Inter nationale SeeschifffahrtsOrganisation (IMO) 20 10 immerhin
eine Grenze von 0,5 Pr omille beschlossen, für alle Personen, die auf Schiffen
Verantwortung tragen. Weniger eindeutig sind viele ander e Bereiche, in denen
einzig individuelle Betriebsvereinbarungen Regelungen vorgeben. Die machen
zwar Drogenscreenings und Alkoholtests
zum Vertragsgegenstand, lassen den Menschen damit aber keineswegs kalkulierbarer werden.
Isabell Spilker
Literatur
u Dr. Rolf Breitstadt, Prof. Dr. Gerold
Kauert: „Der Mensch als Risiko
und Sicherheitsreserve“, Shaker Verlag
u Barbara Brokate, Armin Scheurich:
„Neuropsychologie der Alkoholabhängigkeit“,
Hogrefe-Verlag
Film- & Fernsehtipp
u Film „Flight“ mit Denzel Washington
u Sendung „Quarks & Co“ – „Wie wirkt Alkohol
im Gehirn“: http://www.wdr.de/tv/quarks/
sendungsbeitraege/2004/0210/003_alkohol.jsp
Links
u Deutsches Institut für Sucht- und
Präventionsforschung: http://www.katho-nrw.de/
katho-nrw/forschung-entwicklung/instituteder-katho-nrw/disup/
31
Auch im Beruf kann
Alkoholabhängigkeit wie
ein Gefängnis sein –
als Wirklichkeitsverlust,
der einsam macht
32
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
FOTO : BLIND
Blau
im
Job
SU C H T
AR BEI T S W ELT
Ob Hochprozentiges vor dem Dienst, ein Glas Prosecco am Mittag, der Joint zum „Tatort“ oder
die tägliche Nase Koks auf der Firmentoilette: Arbeit, Alkohol und Drogen sind nur schwer
miteinander vereinbar – erst recht, wenn SICHERHEIT UND QUALITÄT DER ARBEIT leiden. Eine
schwierige Situation: für Vorgesetzte, Kollegen und Betroffene.
M
ontags machten die Färber blau.
Auf den Leinen hingen die mit
Indigo gefärbten Stoffe und warteten darauf, dass die Sonne den Farbstoff
in ein leuchtendes Blau verwandelte. Ein
paar Meter weiter lagen die Lohn werker im Gras und arbeite ten am Ruf des
Sprichworts. Da für den chemischen Prozess, der aus Indigo Blau werden ließ, viel
Urin benötigt wurde, kippten sie Unmengen Alkohol in sich hinein. Als es r und
400 Jahre später mittags auf der Straße
kracht, hat Ludwig Eickemeyer * 1,8 Promille im Blut. Er kommt von der Nachtschicht. Nein, er färbt keine Stoffe, und
er hat an diesem Morgen auc h nichts
getrunken, sondern Restalkohol in einer
Höhe, die andere umhaut. Für den Elektriker im Bergbau eine Ar t Normalzustand, nicht nur montags. 18 Jahre lang.
FOTO : HENRIK SORENSEN / GET T Y IMAGES
Tausche Führerschein
gegen ein neues Leben
Dass es in dieser Zeit keinen durch ihn
verursachten Unfall gab, grenzt an ein
Wunder. Bis zu 30 Prozent aller Arbeitsunfälle ereignen sich unter Einf luss
von Alkohol und anderen Drogen. Mindestens fünf Prozent aller Beschäftigten in Deutsc hland sind nac h Schätzungen der Deutschen Hauptstelle für
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
Suchtfragen e.V. (DHS) alkoholkrank.
Die International Labour Organisation
(ILO) vermutet, dass weltweit bis zu
25 Prozent aller Arbeitnehmer so viel
Alkohol trinken, dass sie als gef ährdet
einzustufen sind.
Beachtlich sind auch die wirtschaftlichen Folgen für die U nternehmen:
Die deutschen Arbeitgeberverbände
errechnen den volk swirtschaftlichen
Schaden durch den Konsum von Alkohol am Arbeitsplatz auf 15 Milliarden
Euro – pessimistisc he Schätzungen
gehen von bis zu 30 Milliar den aus.
92.000 Deutsche werden jährlich durch
Alkoholabhängigkeit oder -psychosen als
arbeitsunfähig eingestuft. Mit zunehmendem Konsum fehlen Mitarbeiter bis
zu 16-mal häufiger und büßen 25 Pr ozent ihrer Arbeitsleistung ein. Vergleichbare statistisch belegte Zahlen für die
Auswirkungen des Konsums von Cannabis, Kokain, Heroin und anderen berauschenden Substanzen am Arbeitsplatz
liegen nicht vor. Es wird geschätzt, dass
5 bis 7 Prozent der Arbeitnehmer mehr
oder weniger r egelmäßig Drogen zu
sich nehmen.
Ludwig Eickemeyer ist nie aufgefallen. Im Freundeskreis war er der nette
Kumpel, der gerne mal einen trinkt. Sei-
nen Job machte er so, dass seine Suc ht
niemanden beschäftigte. Weder Kollegen noch Vorgesetzte. „Mit einem gewissen Pegel konnte ich alle Arbeiten so ausführen, dass alle zufrieden waren“, sagt
Eickemeyer. „Aber unter 1,2 Promille
kann ich in dieser Zeit nie gelegen haben.
Die brauchte ich, um zu funktionieren.“
Bis zu diesem kleinen, harmlosen Unfall
nach Dienstschluss, bei dem ihm die
Polizei den Führerschein abnahm – und
dafür ein neues Leben schenkte.
Co-Alkoholismus fördert
die Krankheit
„Manchmal bin ich schockiert und traurig, wenn ich sehe, was ich in meinem
Leben alles hätte ander s machen können, wäre meine Alkoholsucht früher
entdeckt worden“, sagt Ludwig Eickemeyer, heute Vorsitzender einer Selbsthilfegruppe im Ruhrgebiet. Die Abhängigkeit von Alkohol oder anderen Drogen
erkennen und den Betroffenen helfen
ist deswegen eines der g roßen Themen
weltweiter Aktionen und Pr ojekte, die
sich mit Suchtproblemen in Betrieben
beschäftigen. Die als Co- Alkoholismus
bezeichnete Duldung dur ch Kollegen
oder Vorgesetzte, die suchtbedingte Fehlzeiten tolerieren oder gar decken, belas- >
* Name geändert
33
Klare Empfehlungen sollen Abhängigen
den Weg aus der Sucht erleichtern
> tet die Abläufe im Betrieb und fördert
die Krankheit. Vorgesetzte sind gesetzlich verpflichtet, für Sic herheit und
Gesundheit innerhalb des Arbeitsablaufs zu sorgen, den Mitarbeiter von seiner Tätigkeit zu entbinden und aufzufordern, Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Für Kollegen und noch mehr für Vorgesetzte gilt im Vorfeld, bei zunehmender Unzuverlässigkeit, häufigen Fehlzeiten und Stimmungsschwankungen
aufmerksam zu werden. „Suchtkranke
sind Meister im V ertuschen“, erzählt
Sabine Morati*. Über 20 Jahre ging sie
jeden Tag zur Arbeit. Nüchtern, aber mit
Entzugserscheinungen, die sie mit Übereifer kompensierte: „Bloß nicht negativ
auffallen.“ Die Kollegen in der Bank
schätzten sie, aber sie galt als Biest. Ein
Deckmantel. Fritz Lehmann* gelang es,
als Heroinabhängiger seine Lehre zum
Dachdecker zu beenden. A bends stahl
er Material aus der Firma, am Wochenende schmuggelte er Drogen über die
Grenze. Er war bei der Bundeswehr, später auf Montage, regelmäßig unter Dro-
Präventions- und Hilfsmaßnahmen
u Trinksitten ändern: Wie selbstverständlich ist der Konsum von Alkohol inner-
halb des Unternehmens? Ist die Sommer- oder Weihnachtsfeier stets feuchtfröhlich,
oder reicht schon ein anstehender Urlaub oder ein Etappenziel, um die Korken
knallen zu lassen? Ein generelles Alkoholverbot bietet sich an, ist aber nicht immer
die Lösung, weil es die Probleme oft nur verschiebt.
u Getränkeangebot prüfen: In der Kantine steht der Sekt stets gut gekühlt?
Auch der Kasten Bier auf dem Büro-Flur oder im Vorarbeiterraum der Baustelle
sollte durch Wasser ersetzt werden.
u Aufklärung der Belegschaft: Wann und wie Sucht entsteht, welche Gefahren
auch von einmaligen Ausrutschern ausgehen und wie sich ein durchgefeiertes
Wochenende auf die Leistungsfähigkeit und Risikobereitschaft auswirkt, sollte
den Mitarbeitern in Schulungen nahegebracht werden.
u Gesundheitsbewusstsein fördern: Suchtprävention ist Bestandteil der Gesundheitsvorsorge, zu der Vorgesetzte und Betriebsleiter ihre Mitarbeiter ermuntern sollten.
u Betriebliche Beratungsstellen einrichten: Nicht jedem Unternehmen ist
es möglich, eine hauptamtliche Suchtkrankenhilfe einzurichten. Ehrenamtliche Helfer,
durch Seminare oder Selbsthilfegruppen geschult, können ebenso hilfreich sein.
u Therapiemöglichkeiten vermitteln: Mit Kontakten zu Suchtberatern, Selbsthilfegruppen und gezielten Therapien öffnen sich dem Suchtkranken neue Türen,
die er selbst vielleicht nicht einmal gesehen hat. Gezwungen werden kann niemand
zur Therapie. Doch: Ist der Leidensdruck groß genug, erfolgt oft die Einsicht.
34
* Name geändert
gen, stets ohne Konsequenzen. Vielleicht
blieb er nicht unbemerkt, aber niemals
bot ihm jemand Hilfe an oder verpflichtete ihn zu einer Therapie.
Leidensdruck erhöhen,
soziale Pflicht nicht vergessen
Die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) empfiehlt einen klaren
Maßnahmenkatalog, der Betroffene in
den ersten Schritten zur Einsicht und
Unterlassung, im fortgeschrittenen
Suchtstadium zur Therapie bewegen soll.
Steht am Anfang die Aufklärung im Vordergrund (in der Hoffnung, der eine oder
andere Ausrutscher werde vom Mitarbeiter eingesehen, die Suchtgefahr und das
damit verbundene Risiko erkannt), sollte
nach mehrmaligen Fehltritten der Druck
in Gesprächen deutlich erhöht werden.
Am Ende empfiehlt es sich laut DGUV,
Suchtexperten, Betriebsrat, Unternehmensleitung sowie Personen aus dem privaten Umfeld hinzuzuziehen, um dem
Betroffenen die Augen zu öf fnen – und
ihn zum Handeln zu be wegen. Ändert
sich sein Verhalten nicht, sind Abmahnung und Kündigung die letzten Schritte.
Allerdings: mit einer Wiedereinstellungsklausel, die Mitarbeitern die Rückkehr
in den alten Job bei A bstinenz ermöglicht. Der Verlust des Arbeitsplatzes sei
für den Suchtkranken in der Regel die
schlimmste Strafe, meist noch schwerwiegender als der Bruch mit Familie oder
mit Freunden. Es sei laut DGUV eine soziale Pflicht, die Option der Rückkehr als
Motivation zu berücksichtigen.
Die Gefährdung des Beschäftigungsverhältniss ist of t der Gr und, warum
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
SU C H T
AR BEI T S W ELT
sowohl Betroffene als auc h Mitarbeiter, denen das Verhalten auffällt, nicht
frühzeitig aktiv werden. Selbst Kollegen
mit Rückgrat fehlt oft das Wissen, wie
mit einer solc hen Situation umzugehen ist. Ist der K ollege wirklich abhängig, oder feiert er nur gerne? Wie spricht
man jemanden an, von dem man glaubt,
er könne seine Arbeit heute in diesem
Zustand nicht erledigen – und morgen
wahrscheinlich auch nicht? Die Sor ge, welche Konsequenzen der K ollege zu er warten hat, ist g roß. Wartet die
soziale Schmähung, die weitreichende
Diskreditierung – oder er folgt sogar die
sofortige Kündigung? Nur wenige Arbeitnehmer wissen: Unmittelbar gefährdet
ist weniger das Beschäftigungsverhältnis an sich als vielmehr der V ersicherungsschutz der Berufsgenossenschaft
bei einem Arbeitsunfall, wenn der Versicherte, also der Arbeitnehmer, Alkohol
oder Restalkohol im Blut hat oder unter
Einfluss von Drogen steht. Kündigung ist
die Ultima Ratio. Sucht wird als Krankheit betrachtet und ist kein Kündigungsgrund an sich.
Alkoholisierte
Mitarbeiter
verursachen allein
innerhalb der
EU wirtschaftliche
Schäden von
rund 60 Milliarden
Euro – jährlich
FOTO : ISTOCKPHOTO
Universelle Herangehensweisen,
kulturelle Unterschiede
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
Weltweit arbeiten unzählige Verbände,
Vereinigungen, Kliniken und Universitäten an Strategien, Arbeitnehmer und
Arbeitgeber im Umgang mit Suchtgefahren, im Bereich Prävention und im Handling von Alkohol- und Drogenmissbrauch,
zu schulen. Die Herangehensweisen sind
grundsätzlich universell, zeigen aber
kulturelle und legislative Unterschiede.
„Worauf es ankommt, ist das Handlungs- >
35
„Nur sehr wenige Unternehmen haben die Arbeitsbedingungen,
den Stress und das kulturelle Umfeld im Blick“
> dreieck: drei Punkte, die das ganze Thema umreißen und beeinflussen“, erklärt
Steve Allsop, promovierter Experte des
australischen National Drug Research
Institute. „Man hat das Individuum, die
Droge und die Umstände.“ Für eine vernünftige Prävention müsse einerseits die
Verfügbarkeit der Substanzen überprüft
werden – ob beispielsweise innerhalb des
Unternehmens Alkohol gekauft oder gar
über Spesen abgerechnet werden kann.
„Wir müssen auf die Menschen zugehen
oder ihnen Zugang zu einer Therapie verschaffen“, ergänzt Allsop und bemer kt:
„Auf diese beiden Punkte f okussieren
sich in der R egel weltweit die meisten
Unternehmen. Nur sehr wenige haben
die Arbeitsbedingungen, den Stress und
das kulturelle Umfeld im Blick.“ Dass es
bei Bauarbeitern auf Montage oder im
Bergbau, der oftmals abgelegen von jeglicher Zivilisation stattfinde, kaum Möglichkeiten für eine sinnvolle Feierabendbeschäftigung gebe, müsse unbedingt
berücksichtigt werden.
Bis zu 30 Prozent
aller Arbeitsunfälle ereignen sich
unter Einfluss
von Alkohol und
anderen Drogen
Strikte Alkoholverbote
sind selten
36
FOTO : CHRIS JACKSON / GET T Y IMAGES
Aufklärung innerhalb der Unternehmen über den gesundheitlichen Aspekt
des Alkohol- und Drogenkonsums sowie
die weitreichenden rechtlichen, sicherheitstechnischen und sozialen Folgen
stehen im Vordergrund der präventiven Maßnahmen – auch in Neuseeland,
Australien oder den USA . Hier dürfen
engmaschige Alkohol- und Drogenkontrollen der Mitarbeiter in bestimmten
Berufsgruppen erfolgen. In Deutschland hingegen ist das r echtlich aus-
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
SU C H T
„Deutschland steht
im Vergleich gut da“
Sind die Strategien der Unternehmen in der betrieblichen Suchtprävention
sinnvoll und effektiv? Das untersuchte die Deutsche Hauptstelle für
Suchtfragen e.V. (DHS) als nationaler Partner des europäischen Projekts
European Workplace and Alcohol (EWA) bis Mitte 2013.
CHRISTINA RUMMEL von der DHS über erste Zwischenergebnisse.
Das Projekt EWA untersuchte die betriebliche Suchtprävention
in Europa. Wie steht Deutschland da?
Deutschland steht im Vergleich zu anderen europäischen Ländern gut da.
Es gibt viele etablierte Maßnahmen, Suchtgefahren im Betrieb zu erkennen
und zu verhindern. Und es hat eines der besten Suchthilfesysteme: ein
ausgebautes Beratungsnetz, ein flexibles Rehabilitationsnetz, und es wird Suchtforschung betrieben. Betriebliche Suchtprävention ist in Deutschland seit
30 Jahren ein Thema, andere Länder entdecken das gerade erst. Aber das
ist auch bei uns noch nicht das Ende vom Lied.
Wo sehen Sie Handlungsbedarf?
Vor allem in kleineren und mittleren Betrieben. Suchtprävention findet heute
vor allem in großen Unternehmen statt, wo es Betriebsräte, Arbeitsmediziner und etablierte Strukturen gibt. Eigentümer kleiner Betriebe oder die
Managementebene mittelständischer Unternehmen plagen meist ganz andere
Sorgen. Es sind kaum Kapazitäten für Suchthilfeprogramme vorhanden.
Wie kann den Firmen mit dem Projekt EWA geholfen werden?
Im Moment versuchen wir, voneinander zu lernen und unsere nationalen
Maßnahmen zu evaluieren. Nachdem wir in Deutschland Befragungen
durchgeführt haben, laufen nun verschiedene Dinge: von Flyern bis hin zu
Schulungen. Anschließend wird erneut befragt. So sehen wir, was sich
in der Wahrnehmung geändert hat. Am Ende werden die Ergebnisse aller
europäischen Partner zusammengetragen und ein „Werkzeugkoffer“
erstellt, mit dem auch kleine Firmen arbeiten können.
Werden dabei auch nationale Unterschiede berücksichtigt?
Ja, der Koffer ist an die speziellen Bedingungen der Länder angepasst,
da es im Umgang mit Alkohol und Drogen natürlich kulturelle Unterschiede
gibt. Aber wir achten auch darauf, was wir von anderen lernen können.
Großbritannien zum Beispiel ist sehr fortschrittlich, was die Nutzung der
neuen Medien betrifft. Selbsttests per App oder Beratungsstellensuche
werden dort viel natürlicher angenommen. Das sind gute Anregungen.
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
AR BEI T S W ELT
geschlossen, nur im V orfeld der Einstellung kann zu einem Dr ogen- oder
Alkoholtest aufgefordert werden.
Viele Unternehmen setzen heute auf
Betriebsvereinbarungen, die Maßnahmen zur Suc htprävention regeln. Sie
bieten Handlungsorientierungen aller
mit Alkohol- und Dr ogenmissbrauch
konfrontierten Personen und schaffen
eine klare Rechtssituation. Fritz Lehmann, Ludwig Eickemeyer und Sabine
Morati können sich nicht mehr vorstellen, wie sie es einst geschafft haben, zu
arbeiten: zugedröhnt, auf ein er trägliches Maß gebracht oder kaltschweißig,
weil dem Körper das Suchtmittel fehlte. Nach dem Entzug w aren sie andere
Menschen, durften aber in ihr en Jobs
bleiben. Rückfällig sind sie alle nic ht
geworden. „Zu g roß war die Selbster kenntnis, wer ich bin und w as ich hier
wirklich mache“, sagt Eickemeyer. Und
zu groß der Sc hreck, unter welc hen
Umständen man jahrelang gearbeitet
habe. Groß genug, beim nächsten und
übernächsten Betriebsfest aufs Bier zu
verzichten – und dafür die Bewunderung
der Kollegen zu ernten. Isabell Spilker
Literatur-/Linktipps
u „Suchtprobleme im Betrieb – Alkohol
Medikamente, illegale Drogen“, Deutsche
Gesetzliche Unfallversicherung, www.dguv.de
u „Substanzbezogene Störungen am Arbeitsplatz: Eine Praxishilfe für Personalverantwortliche“,
Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V.,
www.dhs.de
u Projekt Prev@Work: http://www.berlin-suchtpraevention.de/Betriebliche_Suchtpraeventionc1-l1-k56.html
u Alkoholbedingte Kosten am Arbeitsplatz
(Schweiz): http://www.polynomics.ch/dokumente/
Polynomics_Alkohol-am-Arbeitsplatz_2010.pdf
37
Wie Therapien helfen können
Ein Leitspruch der SUCHTTHERAPIE lautet: „Es ist keine Schande, krank zu sein – es ist eine Schande,
nichts dagegen zu tun.“ Die Abhängigkeit zu erkennen und zu verstehen ist Aufgabe der
Suchttherapie – auch 20 Jahre nach dem letzten Bier oder dem letzten Joint. Ein vielschichtiges Thema,
dem sich Experten-Interview, Patienten-Protokoll und Therapie-Schritte ebenso vielfältig nähern.
FOTO : BLIND
Sucht ist wie ein
Käfig. Sie hindert die
Persönlichkeit, sich
zu entfalten. Erprobte
Konzepte helfen aus
diesem Gefängnis
38
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
HILFE
SUCHT
„Therapieziel ist, dass der Mensch
versteht, warum er krank ist“
Herr Röhr, was sind das für
Menschen, die zu Ihnen kommen?
Das Bild des Suchtkranken wandelt sich.
Zurzeit haben wir viele P atienten, die
einen Mischkonsum betreiben. Der reine
Alkoholiker wird seltener. Viele nehmen
zudem Cannabis, Kokain, Amphetamine
oder Designer-Drogen zu sich. Auch der
klassische Heroinabhängige tritt immer
seltener in Er scheinung, was die Sucht
aber nicht ungefährlicher macht. Die sogenannten „weichen Drogen“ wie etwa Cannabis sind nicht als solche zu sehen. Die
Menschen leiden sehr unter der P ersönlichkeitsveränderung durch diese Drogen.
Eine Droge wie Heroin wirkt doch
viel zerstörerischer auf den
Menschen als die Kombination
aus Alkohol und Cannabis.
Patient noch nicht so wirklich will. Das
ist das Therapieziel: dass der P atient
krankheitseinsichtig und abstinenzmotiviert wird und beginnt, den Hinter grund zu verstehen, warum er suchtkrank wurde.
Sie betreiben Ursachenforschung?
Wir versuchen, die Hinterg ründe zu
erkennen und zu verstehen. Der Betroffene
muss begreifen, dass er eigentlic h von
etwas anderem abhängig ist, vielleic ht
von einer ungeklärten Elternbeziehung
oder anderen Menschen; dass er unter
einem Mangel an Selbstliebe leidet.
Das scheint vielleicht so, in W irklichkeit
geht die Kurve steil nach unten. Was am
Anfang harmlos wirkt, bringt die Menschen an einen Tiefpunkt. Wird der Druck
zu groß, kommen sie zu uns.
Wie lange braucht ein Patient
für diese Erkenntnis?
Freiwillig kommt fast niemand zu uns.
Dann schon eher weil der Arbeitgeber
nicht mehr mitspielt, die F amilie streikt
oder der Körper aufgibt. Sobald schwere
körperliche Beeinträchtigungen eingesetzt
haben, spüren die Patienten: Wenn ich
jetzt nichts tue, ist das vielleicht das Ende.
Was wäre ein Grund, die
Therapie abzubrechen?
Die Erkenntnis und die Motivation, abstinent zu leben, entwickelt man oft erst
in der therapeutischen Gemeinschaft.
Es spielt tatsächlich keine Rolle, ob ein
Ja, ganz sicher. Menschen mit einer nar zisstischen Störung greifen zu K okain,
weil es genau das bewirkt, was sie interessant finden. Es treibt ihre Größenfantasie
Der Druck von außen?
FOTOS: EIKO OJALA / IKON IMAGES / CORBIS; PRIVAT
Nur wer seine Sucht versteht, hat eine Chance auf ein abstinentes Leben. Das ist die Erfahrung von Heinz-Peter Röhr. Der
Suchttherapeut arbeitet seit über 30 Jahren in der Fachklinik
Fredeburg – und hat schon Hunderten Menschen geholfen.
Das klingt noch nicht nach der
Einsicht, suchtkrank zu sein. Sind
das Erfolg versprechende Gründe,
eine Therapie anzutreten?
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
Das ist sehr unter schiedlich und hängt
davon ab, wie er sic h in die Therapie
begibt und wie schnell er beginnt, seine
Probleme zu bearbeiten.
Ein Rückfall zum Beispiel, w obei selbst
das nicht sofort die Entlassung bedeuten
muss, sondern auch im Rahmen der Therapie gedeutet, verstanden und bearbeitet werden kann.
Lassen unterschiedliche Rauschmittelabhängigkeiten Rückschlüsse
auf den Menschen zu und geben
Hinweise für die Therapie?
in die Höhe. Bor derline-Patienten bevorzugen dämpfende Mittel: Alkohol, Heroin,
Beruhigungsmittel. Doch die Sucht ist ein
sehr individuelles Problem.
Wie bereiten Sie Ihre Patienten darauf
vor, nicht wieder rückfällig zu werden?
Wir nehmen die ver schiedenen Situationen des Konsums unter die Lupe. Die
Patienten bekommen Handlungsmuster
gezeigt, in diesen Momenten nun anders
zu reagieren. Die meisten verlassen die
Klinik mit einem neuen Selbstwer tgefühl und einem gewissen Verständnis für
ihre Krankheit. Statistisch gesehen passieren die meisten Rückfälle in den er sten
drei Monaten. In aller Regel schließt sich
daher eine Nachsorge an, etwa Gruppengespräche oder weitere therapeutische
Maßnahmen.
Literatur
u Felix Tretter, Angelica Müller: „Psychologische Therapie der Sucht“, Hogrefe
u Heinz-Peter Röhr: „Sucht – Hintergründe
und Heilung. Abhängigkeit verstehen und
überwinden“, Patmos-Verlag
Heinz-Peter
Röhr ist Mitglied
eines multiprofessionellen
TherapeutenTeams, das
Suchtkranke
therapiert
39
SUC H T
HILFE
„Meine Maßlosigkeit
rettete mir das Leben“
Maren S. trank ihr halbes Leben lang und wollte nicht
einsehen, wie groß ihr Problem ist. Selbst in der
Therapie nicht. Was ihr letztlich die Augen geöffnet hat,
zeigt das Protokoll ihrer persönlichen Suchtbekämpfung.
D
reißig Jahre lang habe ich getrunken und in dieser Zeit dr eimal
fast meine Wohnung abgebrannt.
Ich bin betrunken mit dem Auto frontal
gegen eine Mauer gefahren, eine Treppe
kopfüber hinuntergestürzt, im Badezimmer von einer hohen Leiter gefallen und
habe dabei das Waschbecken aus der Verankerung gerissen. Wehe dem, der mich
auf mein Alkoholproblem ansprach: Ich
hatte kein Problem!
Im Job ist nie e twas aufgefallen. Ich
war Personalsachbearbeiterin eines großen Unternehmens und habe nie vor der
Arbeit getrunken. Den Tag über ging es
mir oft schlecht, ich habe gezittert, hatte Schweißausbrüche. Nun hatte ic h
ohnehin Diabetes und konnte alles darauf schieben. Irgendwann sprach mich
mein Arzt an. Er wollte mich zur Alkoholentgiftung ins Krankenhaus schicken,
damit ich mal wieder klar werde. Widerwillig stimmte ich zu, nahm ein paar Tage
Urlaub und ging für zehn Tage in die Psychiatrie. Danach ging es mir blendend,
40
und so k aufte ich mir g leich auf dem
Weg nach Hause eine Flasche Schnaps.
Im Krankenhaus hatte eine Sozialarbeiterin der Alkohol- und Drogenberatung
mit mir Kontakt aufgenommen. Sie r iet
mir zu einer ambulanten Therapie und
zu Einzelgesprächen. Ich machte beides
– und trank weiter.
Chef fiel aus allen Wolken
Die Sozialarbeiterin kümmerte sich um
eine stationäre Therapie, die dauer te 16
Wochen. Ich musste meinen Arbeitgeber informieren, der aus allen W olken
fiel. Ich trat die Therapie an. Das Pr oblem war, dass ich diese Therapie nur für
meinen Arbeitgeber, meine Therapeutin,
Familie und Freunde angetreten hatte,
aber nicht für mich! Nach zehn Wochen
war ich wieder zu Hause. Ic h hatte an
einem Heimwochenende getrunken. Das
bedeutete: Therapieabbruch.
Nachdem ich zu Hause er st einmal meinen Frust heruntergespült hatte, meldete ich mich zwei Tage später
bei meinem Arbeitgeber – der er kannte den Therapieabbruch und ließ mich
nicht arbeiten. Nun hatte ich viel Zeit. Ich
trank fast täglich bis zur Besinnungslosigkeit. Diese Maßlosigkeit hat mir letztlich das Leben gerettet. Ich erreichte meinen absoluten Tiefpunkt, wollte meinem
Leben ein Ende setzen. Den Baum hatte ich mir bereits ausgesucht. Ich wollte
nur noch einen Termin bei meiner Therapeutin wahrnehmen. Sie hat sof ort
gemerkt, was mit mir los w ar, und t at
etwas, das sie noch nie zuvor mit einem
Klienten gemacht hatte: Sie gestand, dass
sie selbst trockene Alkoholikerin sei und
genau wisse, wie schlecht es mir ging.
„Ich wollte etwas für mich tun“
Das war für mich der Wendepunkt. Es
gab einen Menschen, der mich verstand,
der mir klarmachte, dass Alkoholismus
eine Krankheit ist. Eine Krankheit, die
zwar nicht geheilt, aber zum S tillstand
gebracht werden kann – aber nur von
mir selbst. Endlich konnte ich zugeben,
dass ich Alkoholikerin bin. Da ic h nun
fest entschlossen war, etwas für mich zu
tun, konnte ich die verbliebenen sechs
Wochen stationärer Therapie nachholen.
Anschließend machte ich noch eine
ambulante Therapie und besuche seitdem jede Woche eine Selbsthilfegruppe der Anonymen Alkoholiker, ohne die
ich sicher nicht meine Stabilität behalten hätte. Ich kann nicht sagen, dass ich
nächste Woche oder nächstes Jahr nicht
trinken werde. Aber ich kann für heute sprechen: Und heute werde ich nicht
trinken. Und das sage ich nun schon seit
14 Jahren.“
Protokoll: Isabell Spilker
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
Therapie: In vier
Schritten zum Erfolg
Ziel einer Suchttherapie ist es, dass der Patient auf
Dauer abstinent lebt. Diesen – zudem immer
wieder gefährdeten – Zustand zu erreichen erfordert
Einsicht, professionelle Hilfe und Disziplin.
Schritt 1:
Problem erkennen und Hilfe suchen
Der Hausarzt oder eine Beratungsstelle
sind meist der erste Anlaufpunkt. Wichtig
im Vorfeld: Das Problem der Abhängigkeit
muss als solches erkannt werden, sonst
sind sämtliche Folgeschritte aussichtslos.
Das Ausmaß der Sucht muss erkannt
und die Lebensumstände geklärt werden,
bevor die Therapie beginnen kann.
FOTOS: EIKO OJALA / IKON IMAGES / CORBIS
Schritt 2:
Körperlicher Entzug
Ambulant: Der ambulante Entzug erfolgt
meist beim Hausarzt. Täglich überprüft
der Mediziner in der ersten Woche den
gesundheitlichen Zustand und hilft gegebenenfalls mit Medikamenten zur Linderung der Entzugserscheinungen wie
Zittern, Schwitzen und Kreislaufbeschwerden. In der zweiten Woche geht es alle
zwei Tage zum Arzt. Für die Zeit erhält der
Suchtkranke eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung.
Stationär: Besonders bei starker
körperlicher Abhängigkeit ist der stationäre
Aufenthalt für den körperlichen Entzug
sinnvoll. Die Entgiftungen werden auf internistischen Stationen von Krankenhäusern oder in Fachkliniken angeboten, in
denen speziell ausgebildete Kräfte
den Entzug überwachen und begleitende
Gespräche führen.
Schritt 3:
Entwöhnung – die eigentliche
Therapie
Ambulant: Die ambulante Behandlung
dauert zwischen zwölf und 18 Monaten
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
und meint den Besuch von therapeutischen Gruppen- und Einzelgesprächen,
ein- oder zweimal wöchentlich. Voraussetzung ist, dass der Kontakt zum Therapeuten gut ist und man sich gegenseitig
vertraut. Sonst ist die Behandlung wenig
Erfolg versprechend. Vorteil der ambulanten Therapie ist, dass die Betroffenen
in ihrer gewohnten Umgebung und bei
ihrer Familie bleiben sowie zur Arbeit
gehen können. Das allerdings kann auch
Nachteile mit sich bringen, da der
Tagesablauf zumeist der gleiche wie vor
der Entgiftung ist und manche Menschen
dazu neigen, in gewohnter Umgebung
rückfällig zu werden.
Stationär: Zwischen sechs und 16
Wochen stationären Aufenthalt fern des
Alltags bieten Fachkliniken an, meist
aufgeteilt nach unterschiedlichen Suchterkrankungen und Patientengruppen. Mit
Einzel- und Gruppengesprächen wird
nach den Ursachen der Sucht geforscht,
um gewisse Muster zu erkennen und
sie gezielt behandeln zu können. In den
weiteren therapeutischen Behandlungen (Entspannungstechniken, Kreativitätstrainings, Angebote zur Freizeitgestaltung etc.) wird versucht, den Start in ein
rausch(mittel)freies Leben zu erleichtern. Der Kontakt zu Familie und Freunden
ist in der Regel anfangs eingeschränkt
und wird zum Ende der Therapie verstärkt,
wenn es auch darum geht, das berufliche
und soziale Umfeld zu betrachten.
Schritt 4:
Nachsorge
Gesprächstherapien: Die Basis für ein
abstinentes Leben ist geschaffen, aber
die Gefahr des Rückfalls bleibt. Regelmäßige Gesprächstermine bei einem Arzt,
in einer Beratungsstelle oder einer ambulanten Psychotherapie bieten sich an,
um am Ball zu bleiben.
Selbsthilfegruppen: Ob Anonyme
Alkoholiker, Kreuzbund oder Arbeiterwohlfahrt: Selbsthilfegruppen haben sich
zu einer der stärksten Säulen der Suchtbekämpfung entwickelt. Hier treffen
Suchtkranke und Angehörige auf Gleichgesinnte, die Ähnliches erlebt und
durchgemacht haben.
Links
u Bundeszentrale für gesundheitliche
Aufklärung: „Alkoholfrei leben. Rat und Hilfe
bei Alkoholproblemen“, www.bzga.de
u Überblick über deutsche Selbsthilfegruppen
mit regional einschränkbarer Suchfunktion:
www.schon-mal-an-selbsthilfegruppen-gedacht.de
41
Glas für Glas
Die akuten Alkoholwirkungen sind
mannigfaltig und von vielen Faktoren
abhängig – vereinfacht lassen sie
sich aber bestimmten BlutalkoholKonzentrationen zuordnen.
0,2
Promille
Die Redseligkeit steigt,
Hemmungen
lassen nach, die
Reaktionszeit
verlängert sich.
0,5
Promille
Wie wenig ist genug?
Seit es sie gibt, sind sie umstritten: ALKOHOL-GRENZWERTE IM STRASSENVERKEHR. Für
das Leistungsvermögen am Steuer wäre Nullkommanichts ideal. Im Alltag haben sich liberalere,
abgestufte Limits bewährt. Welche Philosophie steckt hinter 0,3, 0,5 und 0,8 Promille?
42
Alkohol lässt die
Wirklichkeit
verschwimmen.
Erst recht bei
DRÄGERHEFT 392
| SPEZIAL
hohem
Tempo
A L KO H O L- G R E N Z W E R T E
Das Schmerzempfinden
wird gedämpft, Sehleistung und Hörvermögen verringern sich.
Fehleinschätzung von
Geschwindigkeiten.
0,8
Promille
D
ie beiden Besucher erfüllen die
Klischees von Ehe-Veteranen: Seit
Jahrzehnten verheiratet, so ziemlich alles miteinander erlebt. Trainiert,
um unscheinbare Schwächen und das
„Schnurren“ des Partners zu erkennen.
Er, konzentriert und selbstsicher, steuert
den Alkohol-Fahrsimulator der Hamburger Polizei. Sie begleitet die zunehmend
schlingernde Fahrt mit gutmütigem Spott.
Das Problem ist, dass das künstlic he
Auto die Fahrt immer mehr er schwert –
der computergesteuerte Alkoholisierungsgrad des Fahrers steigt an. Er engt das
Blickfeld ein, lässt die Lenkung schwammig und ungenau werden. Er verlängert
Bremswege und Reaktionszeiten. Rehe
springen aus der Dec kung, Fahrzeuge
kreuzen unvermittelt, Kinder stolpern auf
die Fahrbahn. Und dann, nach drei, vier
virtuellen Drinks, kann der Mann nicht
mehr rechtzeitig bremsen. „Siehst du“,
entfährt es seiner Frau. „Wie oft habe ich
dir das schon gesagt?!“
FOTO : THINKSTOCK
Gefahren anschaulich machen
Für Polizisten ist das der Moment, wissend die Augenbrauen zu heben. Sie kennen sie von der Straße, diese Mischung aus
Selbstvertrauen und falscher Zuversicht.
Dieser Typ Fahrer fällt bei Kontrollen oft
auf: der, der sich sicher ist, noch alles im
Griff zu haben. Und doch: Schon bei 0,5
bis 0,9 Pr omille Blutalkoholkonzentration ist das Risiko 11- bis 13-fach höher,
bei einem Unfall zu sterben, selbst wenn
nur ein Fahrzeug beteiligt ist. Auf das fast
50-Fache steigt es bei 1 bis 1 ,4 Promille.
Oberhalb von 1,5 Promille ist die Gefahr
fast 400-mal so hoch.
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
Erste Gleichgewichtsstörungen treten auf,
auch der Sehsinn ist beeinträchtigt, die Reaktionszeit um das 30- bis
50-Fache verlängert.
Anschaulich müsse man die ver drängte
Gefahr machen, sagt Michael Wenzien,
Polizeibeamter bei der Verkehrsdirektion 6
in Hamburg, zust ändig für Prävention.
Bis zu 200-mal im Jahr sei der Simulat or
unterwegs, in Berufsschulen, auf Messen,
in Einkaufszentren. Wie im Alltag sortiere er die, die ihn steuer n, in T ypen, die
der Beamte von der S traße kennt: „Den
Selbstüberschätzer lassen wir simulier t
auf einer Landstraße fahren, 70 km/h sind
erlaubt. Aus der dritten Kurve fliegt er mit
90 km/h. Ebenso auf fällig: der Übervorsichtige, der weiß, dass er nic ht fahren
sollte und es dennoch tut. Den treffen wir
nachts mit 40 km/h auf einer mehr spurigen Straße an, er schleicht an der Linie
entlang.“ Beide Fahrer wissen, dass sie Verbotenes tun – den einen reizt es, den anderen schreckt es. Für einen F ahrverzicht
reicht die Vernunft bei beiden nicht.
Zur Prävention dur ch Argumente
kommt deshalb Abschreckung durch Kontrollen. Und wenn Alkoholgrenzwerte überschritten werden, gibt es eine S trafe. Die
ist erforderlich – es ist auc h Staatsaufgabe, die Rechte anderer zu schützen. Ein
typischer Fall: Kirchweyhe bei Bremen,
im April 2010. Ein PkW prallt nach Mitternacht in einer Tempo-30-Zone gegen einen
Baum. Die Tachonadel hängt bei 130 km/h
fest, 107 km/h ist die später ermittelte Aufprallgeschwindigkeit. Rettungskräfte finden sechs junge Menschen. Drei sind tot,
der Fahrer stirbt später auf der Intensivstation, seine Blutalkoholkonzentration wird
mit 1,4 Promille festgestellt.
„Absolutes Alkoholverbot am Steuer“
fordert der Deutsche Verkehrssicherheitsrat, der als Dachverband über 200 Organi-
1,0
Promille
S T R A S S ENV ER K EHR
Es beginnt
ein regelrechter
Rausch: Emotionen und Verhalten sind deutlich verändert.
sationen vertritt, darunter alle deutschen
Verkehrsministerien, Unfallversicherungen, Autohersteller und Verkehrsclubs.
Der „Grenzwert Null“, in der deutschen
Verkehrsgeschichte ein Sonder weg der
ehemaligen DDR, wur de in den neuen
Bundesländern zum 1. Januar 1993 abgeschafft. Fortan galt 0,8 Promille, seit dem
1. April 2001 der gesamtdeutsche Grenzwert von 0,5. Ausnahme sind F ahranfänger in der Pr obezeit und Fahrer unter 21
Jahren: Seit dem 1. August 2007 sind sie
zur Nüchternheit verpflichtet, ebenso wie
Bus- und T axifahrer sowie Lenk er von
Gefahrguttransporten. Sehr wahrscheinlich ist ein Totalverbot nicht – schließlich
vertraut die Philosophie westlicher Gesellschaften auf Vernunft und Urteilskraft des
Einzelnen. Die will ausgleichen zwischen
der Freiheit des Fahrers und den Rechten
der anderen. Dahinter verbirgt sic h die
Rechtskonzeption des Königsberger Aufklärungsphilosophen Immanuel Kant: „Recht
ist der Inbegriff aller Bedingungen, unter
denen die Willkür des einen mit der Willkür einer anderen Person nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit vereinigt
werden kann.“ Daher gibt es Grenzwerte,
also „Kompromisse in Zahlen“.
Abschreckung als Ziel
Die deutsche 0,5-Promille-Vorschrift steht
im 1973 geschaffenen und 2001 verschärften § 24a des Straßenverkehrsgesetzes.
Die Philosophie des Verbots ist allgemeine Abschreckung. Funktioniert sie? „Die
Zahl der Unfälle unter dem Einfluss von
Alkohol und anderen berauschenden Mitteln ist im Zeitraum 200 1 bis 2011 um
knapp 40 Prozent zurückgegangen. Und >
43
2,0
Der Alkohol wirkt mitunter wie
ein starkes Schlafmittel, die Sprache
ist deutlich lallend. Gedächtnisstörungen treten auf, ebenso wie
Sehstörungen. Muskeln erschlaffen,
die Pupillen sind klein.
Promille
> das, obwohl es seit 2001 weder eine Verschärfung der Rechtslage noch eine deutliche Erhöhung der Verkehrskontrollen
gegeben hat“, konstatiert Dr. Beate Merk,
Bayerns Justizministerin, nach gut einem
Jahrzehnt „Nullkommafünf“.
Promillewerte bröckeln
Komplizierter, und ganz ander s begründet, ist die Rechts- und Grenzwertpraxis,
wenn ein Alkoholisierter durch Fahrfehler auffällt oder einen Unfall verursacht.
Das aber ist nicht jedem Fahrer klar: Dann
wird § 316 des Strafgesetzbuchs angewendet. Er ist 20 Jahr e älter als die allgemeine Promillegrenze, stammt aus dem Jahr
1953. Bis zu zwölf Monate Gefängnis droht
er jedem an, der „ein F ahrzeug führt,
obwohl er infolge des Genusses alkoholischer Getränke oder anderer berauschender Mittel nicht in der Lage ist, das Fahrzeug sicher zu führen“. Aber § 316 StGB
nennt keine Zahlen. Die sind Sac he der
Richter. Die höchsten Instanzen haben sie
2,5
Promille
jeweils an den Stand der Forschung angepasst. Die Philosophie dieser Gr enzwerte
unterscheidet zwischen „absoluter“ und
„relativer“ Fahrunsicherheit.
Absolute Fahrunsicherheit wird angenommen, wenn die W issenschaft einen
Wert feststellt, bei dem niemand mehr
sicher fahren kann. 1953 interpretierte der Bundesgerichtshof den Stand der
Forschung so, dass dies bei 1 ,5 Promille
der Fall sei. 1966, nach einem Gutachten
des damaligen Bundesgesundheitsamts,
0,0 ‰
0,1 ‰
0,2 ‰
0,3 ‰
0,4 ‰
-
0,5 ‰
0,7 ‰
-
0,8 ‰
1,0 ‰ *
keine Angaben
ohne Beschränkung
(kein Promillewert festgelegt)
44
* USA: je nach Bundesstaat unterschiedlich – bis zu 1 ‰
Internationaler Vergleich
Auch wenn die physiologischen Wirkungen des Alkohols weltweit gleich sind, gibt es
je nach Land unterschiedliche Promillewerte, die im Straßenverkehr erlaubt sind – zwischen
0,0 und 1 Promille. Die Karte ist eine Momentaufnahme (Stand: Anfang 2013).
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
A L KO H O L- G R E N Z W E R T E
S T R A S S ENV ER K EHR
ILLUSTRATION: PICFOUR
sank der Wert auf 1,3 Promille: Die Mediziner konstatierten, dass ab 1,1 Promille kein Proband die Fahranforderungen
mehr erfüllen könne. Das Gericht gab, im
Zweifel für den Angeklagten, einen Sicherheitszuschlag von 0,2 Pr omille obenauf.
Seit 1990 schließlich beginnt der „absolute Bereich“ bei 1,1 Promille: Wer aufgrund von § 316 StGB angeklagt ist, kann
keinen individuellen Gegenbeweis antreten, wenn ihm ein Wert von 1,1 Promille
oder mehr nachgewiesen wird. Es spielt
keine Rolle, ob er eine per fekte Fahrvorführung gegeben hat. Er wird verurteilt.
Anders die relative Fahrunsicherheit,
bei der sowohl eine Alkoholisierung vorlag als auch alkoholbedingte Ausfallerscheinungen aufgetreten sind. Das wäre
der Fall, wenn der Fahrer „Trinkerserpentinen“ vollführt. Die Kehrseite der
strengen Anforderungen an die Be weislage: Es spielt keine Rolle, ob die nachgewiesene Blutalkoholkonzentration unterhalb von 0,5 Promille liegt. Nach einem
Unfall kann es bereits ab 0,3 Pr omille
zu strengen Strafen kommen. Weil diese
Grenzwerte nur einem Zwec k dienen,
nämlich den Ausschlag für oder gegen
eine Verurteilung zu geben, heißen sie
Beweisgrenzwerte. Und da ihre Aussagekraft entscheidend ist, gibt es strenge Vorgaben für ihre Erhebung.
Das „Pusten“ auf der Straße dient der
Klärung des ersten Verdachts. Entscheidend sind die ger ichtsverwertbare Atemprobe mit extrem zuverlässiger Analytik
– in Deutschland mit dem allein dafür
zugelassenen Dräger Alcotest 7110 Evidential – oder einer Blutprobe, die von 1,1 Promille aufwärts immer gefordert wird. Bei
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
FOTO : FOERST GMBH
Jetzt schlägt die Wirkung in eine Art Narkose um: Die Pupillen
werden weit, alle genannten Störungen verstärken sich. Der
Trinker kann nun rasch bewusstlos werden und einen Schock
erleiden. Trinkt er weiter, drohen Koma und Tod – entweder
durch Kreislaufversagen, die Unterdrückung des Atemreflexes oder
durch Unterkühlung, weil die Körpertemperatur stetig sinkt.
Ernüchternd: Im Fahrsimulator kann man sich ein Bild davon machen, wie sich
die Welt der Straße in unterschiedlich alkoholisiertem Zustand darbietet
der Probennahme kommt es auf die penible Einhaltung der Prozeduren an. So ist
u.a. vorgeschrieben, dass sie von einem
Arzt durchgeführt wird. Will er diese Verantwortung abgeben, etwa an eine Krankenschwester, ist das nur mit Zustimmung
des Verdächtigen möglich. Verfahrensfehler sind also ein Risiko: ein findiger Anwalt
könnte sie nutzen, um einen F reispruch
zu erkämpfen.
Mentalitätswandel
Das Oberverwaltungsgericht Koblenz
hat in einer Entscheidung von 2010 die
unterschiedlichen Ansätze der Rechtsgebiete deutlich gemacht: Eine Entziehung
der Fahrerlaubnis im Verwaltungsverfahren dient der vor sorglichen Abwehr von
Gefahren, die anderen Verkehrsteilnehmern durch nachweislich ungeeignete
Fahrzeugführer drohen. Im Strafverfahren dagegen werde nachträglich kriminelles Unrecht geahndet. Schließt man
sich dieser Auffassung an, bleibt die F rage: Ist es „kr iminelles Unrecht“, wenn
ein Fahrer mit 1,1 Promille oder mehr
unterwegs ist und wohlbehalten am Ziel
ankommt? Konkret schädigt er niemanden, doch das Recht sagt „Ja“, die Gefährdung reicht ihm dabei ebenso aus, als
wenn jemand unsachgemäß mit Sprengstoff in einer Fußgängerzone hantiert.
Für die Deutschen, so zeigte eine Meinungsumfrage im Auftrag der Dekra in
2012, dürfte durchaus der Grenzwert Null
kommen: 78 Prozent der Befragten waren
dafür. Auch vielen Experten erscheint er
vernünftig, gut begründet und eines Tages
womöglich durchsetzbar – dank eines allgemeinen Mentalitätswandels: Früher
schien es akzeptiert, damit zu prahlen,
nicht erwischt worden zu sein „Stell dir
vor: sternhagelvoll, und sie haben mic h
nicht gekriegt!“ Erzählt man das heute,
schüttelt beinahe jeder den Kopf: „Was bist
du denn für einer?!“
Silke Umbach
45
V ER K EHRS SIC HE R HEI T
ALKOHOL-IN T E RLOCKS
Einfach und überzeugend
Das Prinzip einer ATEMALKOHOLGESTEUERTEN WEGFAHRSPERRE ist denkbar einfach: Sie gibt
den Anlasser des Fahrzeugs erst dann frei, wenn der Atemalkoholtest akzeptiert wurde.
46
FOTO : BLIND
Prävention gegen Alkoholfahrten:
Das Interlock XT ist der intelligente
Zündschlüssel, der Fahrten
unter Alkoholeinfluss verhindert
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
Unbestechlich: Im Innern
des gegen Manipulationen
geschützten Dräger
Interlock XT arbeitet
Messtechnik, die
spezifisch Alkohol misst
Interlock XT: Erst pusten, dann
fahren. Das Prinzip der atemalkoholgesteuerten Wegfahrsperre
www.draeger.com/392/interlock
E
FOTOS: MIQUEL GONZALEZ; DRÄGERWERK AG & CO. KGAA
inen Atemalkoholtest durchführen, damit der Wagen anspringt?
Was für viele ungewohnt klingt, ist
mancherorts längst Realität: Der Autofahrer pustet mit Nachdruck in das Mundstück eines unscheinbaren Handgeräts,
das den Alkoholgehalt der ausgeatmeten
Luft analysiert. Ist das Ergebnis negativ ,
gibt – wenige Sekunden später – die Elektronik des Wagens den Anlasser fr ei. Bei
dieser Form der Wegfahrsperre, einem
sogenannten Alkohol-Interlock, geht es
also nicht um Diebstahlschutz, sondern
um die konsequente Minderung des Risikos von Fahrten unter Alkoholeinfluss.
Stand der Technik sind Geräte mit elek trochemischem Sensor – wie das Dräger
Interlock XT, das spezifisch Alkohol misst.
Für die Überwachung der Sicherheit
im Straßenverkehr bedeuten Alk oholInterlocks einen P aradigmenwechsel,
denn der Test wird präventiv durchgeführt – vor dem Starten des Motors. Übliche Verkehrskontrollen hingegen sind
Stichproben und zielen darauf ab, Alk oholsünder im laufenden Verkehr zu identifizieren und ihr Verhalten als Ordnungswidrigkeit oder Straftat zu ahnden.
USA: Vorreiter bei Einführung
Vorreiter bei der Einführ ung atemalkoholgesteuerter Wegfahrsperren waren
in den 1980er-Jahren die USA (wo heute
mehr als 200.000 dieser Geräte im Einsatz sind) und Kanada. Auch in Australien werden sie auf breiter Basis eingesetzt,
ebenso in Europa: Erste Programme gab
es in Schweden (ab 1999 zunächst regional, seit 2004 landesweit), F rankreich
(erste Studie in 2004) und F innland
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
(seit 2008, Programm gesetzlich verankert seit 2011). Die positiven Ergebnisse der Feldversuche haben Gesetzgeber
in verschiedenen europäischen Ländern
darin bestärkt, die Einführung von Alkohol-Interlocks voranzutreiben. So wer den bis zum Jahr 20 15 alle Sc hulbusse in Frankreich mit Alkohol-Interlocks
ausgerüstet sein. In Schweden wird das
bereits bei allen staatlich ausgeschriebenen Transportaufträgen gefordert.
Das Prinzip eines Alkohol-Interlocks
ist ebenso einf ach wie über zeugend:
Wer alkoholisiert ist, k ann sein Fahrzeug nicht starten. Selbst wenn heute eine solche Wegfahrsperre für jedes
Fahrzeug sinnvoll erscheint, lässt sich
eine flächendeckende Ausrüstung rechtlich und ökonomisch kaum durchsetzen.
Doch es gibt genügend Beispiele dafür ,
dass der Einsatz bereits gut funktioniert
und auch akzeptiert wird. Darunter fällt
zum einen die P ersonenbeförderung
(Busse, Taxis) oder der Güter verkehr
(z.B. Gefahrgut). In beiden Fällen übernehmen die Fahrer eine große Verantwortung gegenüber Fahrgästen, der Allgemeinheit und Umwelt. Zum anderen
dient der Einsatz dieser Wegfahrsperren
dazu, dass Personen, die bereits alkoholisiert im Straßenverkehr auffällig geworden sind, das Fahren und Trinken strickt
trennen lernen. In den Nieder landen
sind mittlerweile mehr als 1.000 Autofahrer mit einem solchen Gerät unterwegs, nachdem Ende 2011 ein entsprechendes Gesetz eingeführt wurde (siehe
auch Drägerheft 391; S. 44-47).
Wirksam ist die Technik aber nur, wenn
sie zuverlässig funktioniert und auc h
Manipulationsversuchen standhält. Das
Dräger Interlock XT verfügt über verschiedene Mechanismen, die sic herstellen,
dass der Atemalkohol genau anal ysiert
und Manipulationsversuche zuverlässig
erkannt werden. Wurde eine Atemprobe
abgegeben und akzeptiert, gelangt sie mithilfe des Probenahmebalgs zum elektrochemischen Sensor. Ist sie negativ, sendet das Gerät der Fahrzeugelektronik ein
entsprechendes Signal zur F reigabe des
Anlassers.
Ein Plus an Sicherheit
Beim Einbau in F ahrzeuge des Personen- oder Güter verkehrs spricht man
von „Primärprävention“. Hier liegt kein
konkreter Verdacht gegen den Fahrer vor.
„Zudem stillt der Einsatz eines AlkoholInterlocks das Sicherheitsbedürfnis der
Fahrgäste und der Umwelt“, sagt Bettina Velten, Produkt-Managerin bei Dräger. „Das schafft Vertrauen und unterstreicht die von Fahrern und Betreibern
übernommene Verantwortung.“
Anders sieht es aus, wenn die Geräte
in Fahrzeugen von auffällig gewordenen
Verkehrsteilnehmern eingebaut werden.
Diese „Sekundärprävention“ dient der
Vorbeugung weiterer Trunkenheitsfahrten und wird anstelle oder nach einem
Fahrverbot angeordnet. Die direkte Wirksamkeit von Alkohol-Interlocks bestätigen
wissenschaftliche Publikationen wie die
2011 veröffentlichte Meta-Studie des USamerikanischen „Guide to Community
Preventive Services“ oder die CochraneStudie von 2009. Auch die 2006 präsentierte und von der Europäischen Kommission
geförderte Studie „Alcolock implementa- >
47
V ER K EHRS SIC HE R HEI T
ALKOHOL-IN T E RLOCKS
Alkohol-Interlock
im Güterverkehr
Dräger DrugTest
5000 als Bestandteil der
Arbeitssicherheit
Alkohol-Interlocks sind ein wesentliches Element der Primärprävention
> tion in the European Union“ bekräftigt
die Eignung dieser Technik für verschiedene Zwecke. In das Pr ojekt waren Busund Lkw-Fahrer als Testgruppen für die
Primärprävention eingebunden. Durch
Alkohol am Steuer auffällig gewordene
Kraftfahrer bildeten weitere Testgruppen
für den Bereich der Sekundärprävention.
Den Riegel vorschieben
Bei einmal überführten Alkoholsündern
zeigten sich Alkohol-Interlocks als wirksame Methode, weitere Alkoholfahrten
zu unterbinden. Das gilt insbesondere im Vergleich zum Entzug des Führerscheins, denn unter der Ein wirkung
von Alkohol wächst offenbar die Bereitschaft, sich – trotz des möglichen Entzugs der Fahrerlaubnis – ans Steuer zu
setzen. Eine atemalkoholgesteuerte Wegfahrsperre schiebt solchen Alkoholfahrten technisch einen Riegel vor. Was manchen Betroffenen zum Versuch verleiten
mag, die Geräte zu über listen. Deshalb
48
sind die Zuverlässigkeit und der Schutz
gegen Manipulationen auch so wichtig.
Die Geräte, die wie das Dräger Interlock
XT, die Eur opäische Norm EN 50436
erfüllen, kommen den jeweiligen Anforderungen an das Prüfver fahren und das
Betriebsverhalten nach.
Alle Ereignisse, wie etwa das Messergebnis des Atemalkoholtests oder die
Fahrtdauer, werden mit Datum und
Uhrzeit im Gerät gespeichert und können von geschulten Personen mit entsprechender Hard- und Software sowie
Zugangsberechtigung ausgelesen werden. Dies geschieht meist im A bstand
weniger Wochen. Die Daten des Teilnehmers sind verschlüsselt, Außenstehende
haben keinen Einblick. Aus den Ergebnissen lassen sic h im Rahmen einer
Therapie beispielsweise R ückschlüsse ziehen, ob sic h das T rinkverhalten
des Teilnehmers geändert hat. Studien
zufolge fahren einige mehrfach auffällig gewordene Fahrer erneut alkoholi-
siert auf den Straßen, sobald die Geräte
nach Beendigung des Pr ogramms wieder ausgebaut wurden. Um das Potenzial
eines Alkohol-Interlock-Programms voll
auszuschöpfen, ist deshalb die K ombination aus Gerät und begleitenden Maßnahmen sinnvoll.
Schnelles Nachweisverfahren
Erste Konzepte für die Alk ohol-Interlock-Technik stammen aus den 1960erJahren. Als ein Vorreiter der Idee gilt
Dr. Robert B. V oas von der N ational
Highway Traffic Safety Administration
(NHTSA) in den USA, der in seinem Aufsatz „Cars that Drunks Can’t Drive“ die
Funktion moderner Interlock-Technik
vorwegnahm. Voas arbeitete mit an der
1992 erstmals veröffentlichten für die
USA geltenden technischen InterlockSpezifikation (Model Specif ications
for Breath Alcohol Igni tion Interlock
Devices). Zunächst wurde in Nordamerika mit Systemen experimentiert, die
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
FOTOS: DRÄGERWERK AG & CO. KGAA
Atemalkoholkontrolle
unter Tage
am Arbeitsplatz
1. Wenn die
Zündung des Wagens
eingeschaltet wird …
2. … fordert das
Interlock XT zur Abgabe
einer Atemprobe auf
mittels Reaktionstest auf die Fahrtüchtigkeit schließen lassen sollten. Schließlich setzte sich aber der Atemalkoholtest
vor dem Antritt der Fahrt als schnelles
und direktes Nachweisverfahren durch.
Am Grundprinzip hat sic h seitdem
nicht viel geändert. Mit der zunehmen-
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
3. Der Alkoholgehalt
des Atems wird analysiert …
4. … und bei einem bestandenen Test gibt das
System den Anlasser frei
den Verbreitung von Alkohol-Interlocks
steigen vor allem die Anf orderungen
an die Geräte und das Datenmanagement. „Denjenigen, die daran arbeiten, ein Trunkenheitsfahrerprogramm
einzuführen, stehen wir mit unser er
Erfahrung zur Seite“, be tont Bettina
5. Nun kann
der Motor gestartet
werden
Velten. Davon profitieren die beteiligten Kraftfahrer, die ihre Atemproben
unter eindeutigen und r eproduzierbaren Bedingungen abgeben. Das Plus
an Verkehrssicherheit durch den Einsatz von Interlocks kommt indes allen
zugute.
Peter Thomas
49
GE SUN D H EI T
M Y T H EN UN D L E GE NDE N
Das Märchen von der gesunden Droge
Um die WIRKUNG VON ALKOHOL UND DROGEN ranken sich viele Geschichten.
Oft sollen sie die Gefährlichkeit herunterspielen oder in ein gesundes Gegenteil verkehren.
Die meisten erweisen sich beim näheren Hinsehen jedoch als bizarre Märchen.
K
eine Frage: Ein Glas Wein in geselliger Runde kann guttun, eine
Zigarette auch. Es plaudert sich
leichter, die Stimmung wirkt gelassener.
Das macht Spaß, und den lässt man sich
nur ungern verderben – etwa durch Warnungen vor den Gef ahren des Alkohols
und anderer Drogen. Viel angenehmer
ist da doch die Vorstellung, dass Alkohol
in Maßen sogar gesundheitsf örderlich
ist – oder dass man die Auswirkungen von
Drogen mit kleinen Tricks im Zaum halten kann. Aber stimmt das?
Gesunder Alkohol
Mit höchsten wissenschaftlichen Weihen
wurde der Rotweinkonsum versehen, seit
epidemiologische Studien zu dem Ergebnis kamen, dass mäßiger Alkoholkonsum
mit einer niedrigeren Rate an Herz-Kreislauf-Erkrankungen einhergehe. Aber das
gilt nicht uneingeschränkt. „Nur moderater Alkoholkonsum scheint eine positive Wirkung auf die Gef äße zu haben“,
erläutert Dr. Renate Schnabel, Kardiolo-
Rotwein: gut
fürs Herz?
gin an der Universitätsklinik HamburgEppendorf. „Beim Rotwein scheinen auch
die Flavonoide und Polyphenole wie Resveratrol eine Rolle zu spielen, die unter
anderem verhindern, dass sich die Blutplättchen zusammenklumpen und damit
einem Herzinfarkt Vorschub leisten.“ Ein
Glas Wein oder Bier ist demnac h noch
im gesundheitlich erwünschten Bereich,
höhere Alkoholmengen schädigen hingegen das Herz. „Mit dem ‚Holiday -HeartSyndrom‘ bezeichnet man Her zrhythmusstörungen und Vorhofflimmern, die
häufig nach Feiern mit viel Alkohol auftreten“, sagt die Ärztin.
Nun gut, aber nach einem kräftigen
Essen fördert ein Schnaps doch die Verdauung! Stimmt nicht, sagen jetzt Forscher
aus der Schweiz. Sie verabreichten 20 Probanden Käsefondue mit 200 Gramm Käse
– dazu Brot und hinterher entweder Wein,
einen Schnaps oder nur Tee. Die Überraschung: Die Alkoholtrinker verdauten
sogar deutlich langsamer als die Teetrinker. Alkohol lockert zwar die Magenmus-
kulatur und verursacht dadurch subjektiv
eine Linderung des Völlegefühls, verzögert
aber gleichzeitig die Verdauung.
Auch als Sc hlafmittel hält Alkohol
nicht das, was er verspricht. Zwar wird
man mit Alkohol müde und schläft leichter ein, doch erholsamer ist der Schlaf
bisweilen nicht: Alkohol verhindert in der
ersten Nachthälfte den Tiefschlaf, traumlos wälzt man sich hin und her und wird
oft wach, die Muskeln erschlaffen, und
unter dem Schnarchen leiden die Bettgenossen. Das Gefährlichste sind jedoch
Atemaussetzer – eine Schlafapnoe, die
sich unter Alkohol noch verstärken kann.
Das Fatale ist, dass sic h regelmäßige
Trinker von diesen Sc hlafproblemen
nicht durch abruptes Absetzen des Alkohols befreien können. Dann kommt es zu
einer ausgeprägten Schlaflosigkeit, die oft
leider wieder mit Alkohol bekämpft wird.
Gebändigte Drogen
Noch ein paar Spr itzer Wein an das
Fischragout? Kein Problem, das ver -
zzZZZ ZZ
zzZ
zzZZZ
Sorgt Alkohol für
besseren Schlaf?
50
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
FOTO : SHUT TERSTOCK; ILLUSTRATIONEN: PICFOUR
Verdunstet Alkohol
beim Kochen?
dunstet doch beim Kochen! Leider ist
auch das ein Ir rtum, der auf jedem
Weihnachtsmarkt widerlegt wird: Auch
der stundenlang erhitzte Glühwein hat
schließlich noch ausreichend „Umdrehungen“. Zwar siedet Alkohol bereits
bei 78 Grad und ver dampft im Wassergemisch, aber nur bis zu einer Konzentration von fünf Pr ozent. Bei diesem
Verhältnis stellt die Mischung ein sogenanntes Azeotrop dar und hat einen
konstanten Siedepunkt. Deshalb waren
in Experimenten in Rotweinsoße auch
nach 2,5 Stunden Kochen noch fünf Prozent Alkohol enthalten.
Wasserpfeifen liegen im T rend als
vermeintlich bekömmlichere Art des
Rauchens. Schließlich gelangt der
Rauch vor dem Inhalieren durch Wasser und wird dabei gereinigt. Auch ein
Irrtum, sagen Experten. Die gesundheitlichen Gefahren werden durch die
süßlichen Aromen und das Fehlen von
Bitterkeit und Kratzen unter schätzt:
Die Nikotinkonzentration im Blut ist
Berauscht vom Champagner-Bad?
Dekadent, aber wissenschaftlich untersucht: Das Bad in Champagner kann
den Atemalkoholgehalt tatsächlich auf über 1,5 Promille erhöhen – allerdings nur
bis zu 15 Minuten nach Verlassen der Wanne. Die Blutalkoholkonzentration
bleibt bei etwa 0,1 Promille. Somit gelangt kein Alkohol durch die Haut in das
Blut, und man bleibt selbst in Champagner nahezu stocknüchtern.
nach dem Rauchen von Shishas deutlich höher als nac h Zigaretten. Während einer Sitzung inhalier en die
Konsumenten etwa so viel Rauch wie
nach 100 filterlosen Zigaretten, gibt
die Weltgesundheitsorganisation zu
bedenken.
Tricks beim Alkoholnachweis
Ein starker Kaffee, ein kurzer Schlaf,
Schwitzen bei einem or dentlichen
Dauerlauf – das wir d den Restalkohol
schon vertreiben! Leider macht man da
die Rechnung ohne die Leber. Die lässt
sich davon nicht beeindrucken und ver-
arbeitet den Alkohol konstant mit 0,1
bis 0,2 Promille pro Stunde. Und wer
nach einer alkoholgetränkten Nacht
mit dem Auto nach Hause fährt und der
Polizei begegnet, wird auch mit Knoblauchfahne oder Pfefferminzbonbons
im Mund nur Gleichmut bei den Beamten ernten. Messgeräte, wie das Dräger
Alcotest 9510, lassen sich nämlich nicht
überlisten. Fremde Aromen stören die
Anzeige nicht, und auch wenn bei niedrigeren Temperaturen ein niedrigerer Atemalkoholgehalt angezeigt wird,
rechnet ihn das Gerät auf Normaltemperatur hoch.
Regina Naumann
Shisha: gesünder
als Zigaretten?
Ist Schnaps gut
für die Verdauung?
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
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Dichter dran
Ein Streifzug durch die LITERATUR BIETET ALKOHOLKONSUM in zahlreichen Facetten: Freud und Leid
des Genusses, Faszination und Zerstörungskraft des Exzesses finden sich gleichsam in Werken und Biografien
der letzten Jahrhunderte. Doch die Schwerpunkte verschieben sich.
Ein Hoch auf die Poesie:
Charles Bukowski tankt
Inspiration während einer
Lesung in Paris (1978)
52
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
IM R AUSCH
S
ein letztes Bier trank Benjamin von
Stuckrad-Barre auf dem Weg zum
Entzug. Ein letzter Schluck. Einer
der bekanntesten deutschen Schriftsteller ist trockener Alkoholiker – seit einigen
Jahren, sagt er. Nach jahrelangem Dasein
im Dauerrausch blieb ihm die F ahrt in
die Entzugsklinik: in einem Zug, in dem
für Johann Wolfgang von Goethe, E. T. A.
Hoffmann oder Charles Baudelaire noch
Plätze frei gewesen wären. Oder für
Edgar Allan Poe, Ernest Hemingway und
Charles Bukowski, Oscar Wilde, Jean Paul
und Jack London.
FOTO : SOPHIE BASSOULS / SYGMA/CORBIS; PETER-ANDREAS HASSIEPEN / HANSER
Haare grün gefärbt
Sie wären eine illustre Gesprächs- und
Therapierunde geworden. Goethe, der von
seinen zwei, drei Flaschen Wein täglich
erzählt und davon, wie seine Frau Christiane am Alkohol zugrunde ging, während
er in seinem Weimarer Gartenhaus unbeirrt weitertrank. Drogen-Crosser Baudelaire, der gesteht, sich unter Einfluss seiner Alltagsdroge Absinth (kombiniert mit
Opium) die Haare grün gefärbt zu haben.
Hoffmann, der abends seine Fantasie mit
Wein und Punsch anheizte. Sie alle hätten
nett beieinander gesessen und besc hlossen, künftig „Nein, danke!“ zu sagen,
wenn man ihnen ein Glas Hoc hprozentiges angeboten hätte. Und wahrscheinlich hätte jeder von ihnen 20 oder auch 30
Jahre länger gelebt. A bgesehen von Goethe, der es – er staunlicherweise – trotz
mehr als 60 Jahr e währenden Alkoholmissbrauchs auf 82 Lebensjahr e schaffte. Hoffmann wäre nicht mit 46 Jahren an
Leberzirrhose gestorben, Wilde hätte seinem letzten Besucher kurz vor dem Tod >
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
SC HR IF T S T ELLER
„Fast alle Kriminalromane kriegt man nur
mit Alkohol runter“
MICHAEL KRÜGER ist Verleger, Autor
und Herausgeber. Mit der wissenschaftlichen
Satire „Literatur & Alkohol“ verfasste er ein
nicht ganz ernst gemeintes Verzeichnis real existierender sowie möglicher trunkener Literatur.
Herr Krüger, als Autor und Verleger wissen Sie es:
Schreibt es sich unter Alkoholeinfluss besser?
Besser sicher nicht, aber mitunter einfacher. Es gab in der Geschichte Schriftsteller,
die nur unter Alkoholeinfluss schreiben konnten. Diese Wahrnehmung kennen wir
schon aus der Antike: Gott löst die Zunge und spricht aus dem Schriftsteller. In unseren
bürgerlichen Verhältnissen heute hat sich das verändert, weil Alkohol als Droge und
Rauschmittel angesehen wird.
Merken Sie als Verleger den Manuskripten an, wenn ein Autor getrunken hat?
Nein. Alkohol löst zwar die Zunge, aber das sehe ich ja dem Manuskript nicht an. Vielleicht
hätte es mich ohne Alkohol nie erreicht, aber das kann ich als Leser nicht wissen.
Literaten und Alkohol gehören irgendwie zusammen. Wird der
Alkoholkonsum bei Schriftstellern einfach nur mehr wahrgenommen?
Sicherlich. Ich würde nicht sagen, dass es unter Literaten mehr Trinker gibt
als in anderen Berufsgruppen. Heutzutage wird vor allem unter Jugendlichen
wahnsinnig viel getrunken, und das sind nun weiß Gott keine Dichter.
Aber irgendetwas muss diese Nähe zwischen Alkohol- und
Schaffensrausch doch begründen!
Ohne Frage ist Alkohol ein Thema unter Schriftstellern, denn er ist auch ein Mittel,
die Angst vor dem Versagen zu besänftigen. Der Beruf des freien Schriftstellers
ist kein leichter, er ist auch geprägt von Versagensängsten. Man muss sich ständig fragen:
Taugt das, was ich geschrieben habe? Alkohol kann von dieser Angst befreien.
Ein Glas Rotwein gehört vielerorts auch für den Leser zum Buch. Beflügelt
Wein die Fantasie und die Fähigkeit, sich auf eine Geschichte einzulassen?
Die Frage ist, warum man liest. Am Abend, um sich zu entspannen, ist das nicht
abwegig. Fast alle Kriminalromane zum Beispiel sind so schlecht, dass man sie nur
mit Alkohol runterkriegt. Am nächsten Tag hat man das, was man da gelesen hat,
schon wieder vergessen. Und es ist auch nicht so schade drum. Als Verleger kann ich
auf keinen Fall trinken beim Lesen – das würde meinen Blick trüben. Lesen ist für
mich Arbeit, und das geht nur nüchtern.
53
„Ich hasse es, Drogen, Alkohol, Gewalt oder Wahnsinn für
jedermann zu befürworten – aber mir hat’s immer geholfen“
Hunter S. Thompson
lung nehmen – ohne es auc h gleich als
solches zu beschreiben oder notwendigerweise zu empfinden. Sondern auch,
weil das Image des tr inkenden Schriftstellers, rückblickend betrachtet, kein
per se schlechtes ist. Toten Dichtern haftet der Alkohol- und Drogenmissbrauch
weitaus weniger negativ an als den heute
lebenden, die sogleich als zügellos, maßlos und nicht ernst zu nehmend betrachtet werden.
Lockmittel auf dem Titel
Günter Grass mit einem Glas Wein in der
Hand mag man sich noch gefallen lassen.
Zu Michel Houellebecq gehör t es auch
irgendwie, wenngleich der nicht müde
wird, immer wieder zu be tonen, Sex sei
die bessere Droge. Christian Kracht und
auch Benjamin von Stuckrad-Barre haben
erkannt, was Alkohol mit ihnen anr ich-
tet. Sie haben ihn vor Jahren zu ihrem
Markenzeichen werden lassen, als wilde, alkoholische Exzesse und Popliteratur
in einem Atemzug einhergingen – und
machen es heute ebenso zu ihr em Markenzeichen, das überwunden zu haben.
Der Amerikaner Augusten Burroughs
verarbeitet in einem Werk den eigenen
Entzug, Joachim Lottmann nutzt den
Alkohol als Lockmittel auf dem Titel, versichert im Buc h aber laufend, dass er
selbst am Genuss nie Gef allen gefunden
habe. Das Image des modernen Trinkers
hat sich gewandelt, für den Leser wie den
Autor selbst. Man scheint der Vorstellung,
alle Werke könnten einzig Vergorenem
entstammen, überdrüssig geworden zu
sein. Ob der Alkoholkonsum heute einfach
besser versteckt ist oder die Abstinenz tatsächlich gelebt wird, bleibt das Geheimnis der Autoren.
Isabell Spilker
FOTOS: ONLINE USA, INC. / ACTION PRESS, MAURITIUS IMAGES / UNITED ARCHIVES, PR(9)
> als 46-Jähriger nicht erzählen müssen:
„Meine Tapete und ich fechten gerade
ein Duell aus. Einer muss verschwinden!“
Jack London hätte sich wohl nicht mit 40
Jahren das Leben genommen, Hemingway eine Therapie gegen seine Depressionen gemacht und sich nicht mit Ende
60 erschossen (siehe auch S. 22–23). Aber
hätten uns ihre Werke aus den Jahren der
Abstinenz ähnlich erfreut wie die, die in
der Zeit des Trinkens entstanden?
Denkt man an die g roßen Literaten,
ist das Bild des T rinkers nicht weit. Ob
ein, zwei, drei Gläser zum entspannten
Schreiben oder Rauschexperimente als
Bewusstseinserweiterung: Alkohol, Drogen und Literatur scheinen auf seltsame
Weise miteinander verbunden zu sein.
Nicht nur, weil viele Autoren seit der Antike in Briefen oder Anekdoten, Gedichten
und Anthologien zu ihrem Laster Stel-
Ernest Hemingway in Pamplona (1959): Der alte Mann und das „Mehr“ (links). Rechts: Hunter Thompson, der im Rausch eine
neue Art der Reportage erfand und seinen ausschweifenden Schreibstil „Gonzo-Journalismus“ mit Drogen aller Art taufte
54
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
IM R AUSCH
SC HR IF T S T ELLER
Top-Werke des Rauschs
Trotz oder wegen Alkohol: Diese Werke hätte es so, wie wir sie kennen – ohne den Rausch davor, dabei oder danach –, wohl nie
gegeben. Und das ist nur eine kleine Auswahl, der mühelos nicht allein Ringelnatzens „Kuttel Daddeldu“ hinzuzufügen wäre.
Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832):
„Faust“ Wo hätte Mephisto Faust sonst hinführen
können, um ihm das „leichte Leben“ zu zeigen,
als in Auerbachs Keller, wo der Wein in rauen
Mengen floss? Als Student selbst weilte Goethe
dort bei seinen ersten Gläsern Wein.
Jean Paul (1763–1825): „Siebenkäs“,
„Hesperus“ Wein, Likör und Bier ließ der Zeitgenosse Goethes reichlich fließen. Seinen Werken tat
es keinen Abbruch. Ob sie ohne besser geworden
wären? Wer weiß, ob es sie überhaupt gegeben
hätte. Versprach sich der Dichter doch: „Die Trunkenheit vermehrt zwei schöne Dinge: Mut und Liebe.“
EDGAR ALLAN POE
DER RABE
Zweisprachige
Ausgabe
Insel-Bücherei Nr. 1363
Edgar Allan Poe (1809–1849): „The Raven“
Obwohl schon nach einem Glas Wein stockbetrunken, kam der vom Leben Gepeinigte nicht
vom Alkohol los. Unzählige Werke nachfolgender
Literaten bauen auf Poe auf – uns wären wohl
viele großartige Werke vorenthalten geblieben.
Charles Baudelaire (1821–1867): „Die
Blumen des Bösen“ Baudelaires Hauptwerk ist
dem Absinth zu verdanken. Dem Gedichtband, der
ihn zum größten Lyriker Frankreichs machte, sagt
man nach, dass nur der Wahn unter Absinth so
etwas hervorbringen konnte.
_
Jack London
König Alkohol
Roman
Jack London (1876–1916): „König Alkohol“
Ein Klassiker für Hochprozentiges: Am Ende,
und das fehlt freilich in seinem autobiografischen
Roman zur Alkoholsucht, wartete auf den
Autor der Selbstmord unter Drogeneinfluss.
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
Gottfried Benn (1886–1956): „Bierode“ Ein Loblied auf
das braune Gebräu, dem Benn in jeder Hinsicht verfallen war.
Nicht ohne Ironie widmete sich der Dichter und Doktor Gottfried
Benn hier einmal mehr seinem großen Laster.
Ernest Hemingway (1899–1961): „Der
alte Mann und das Meer“ Das pulitzer- und
nobelpreisgekrönte Werk spielt und entstand
in Hemingways Wahlheimat Kuba, wo er täglich
mehrere zartgrüne Daiquirís (aus Zuckerrohrsirup, Rum und Limonensaft) und Mojítos,
flaschenweise Wein, Whiskey und Tequila trank.
Malcolm Lowry (1909–1957): „Unter dem
Vulkan“ Lowrys Erfolgswerk, das autobiografisch
angehaucht das Schicksal eines Trinkers zum
Inhalt hat: Im Endstadium des Alkoholismus
befindet sich der Protagonist auf einer Reise
durch die Hölle, die zugleich der Himmel ist.
Charles Bukowski (1920–1994): „Der Mann
mit der Ledertasche“ Keines seiner Werke
wäre wohl ohne den Alkohol so, wie wir es heute
kennen – und schätzen. Nur wer die Höhen und
Tiefen des Rauschs und der Selbstzerstörung am
eigenen Leib erfahren hat, wie Komasäufer
Bukowski, kann sie derart eindrücklich beschreiben.
Hunter S. Thompson (1937–2005):
„The Rum Diary“ Es geht um Alkohol, es
wurde geschaffen mit Alkohol. Mit seinem
exzentrischen Werk „The Rum Diary“ schuf sich
das Enfant terrible des von ihm ins Leben
gerufenen Gonzo-Journalismus selbst ein Denkmal.
55
EN D S TAT ION
N OTAU F N A H M E
Schicht im Schacht
E
s piept – wie ein digit aler Wecker,
den niemand ausstellt. W as für
Fremde nervig klingt, ist der
Sound, der Krank enschwester Judith
Szücs seit fünf Jahr en begleitet. Die
26-Jährige arbeitet in der Zentralen
Notaufnahme am Universitätsklinikum
Hamburg-Eppendorf (UKE). Die unablässigen Geräusche des Monitors stehen
für den Pulsschlag von Menschen, die in
den Betten ihrer Abteilung liegen. Auf
den Displays tanzen verschiedenfarbige
Wellen zu den Tönen zackig auf und ab.
Meist signalisieren sie, dass alles in Ordnung ist mit den Patienten.
Wer bei Judith Szücs und ihren Kollegen landet, steht mitunter unter Alkoholund/oder Drogeneinfluss. Wie die 47-jährige Christa. Sie liegt mit V erdacht auf
Medikamentenmissbrauch benommen
im Zimmer U18. „Als sie hier ank am,
konnte sie uns noc h sagen, dass sie zu
viele Schlaftabletten zu sic h genommen hat“, sagt die Krank enschwester.
Aber erst das Ergebnis der Blutentnahme bringt Gewissheit, welche Substanzen
wirklich im Körper zirkulieren.
150 und 300 Patienten versorgt. Vor allem
gestrandete Trinker machen im Winter
einen Großteil der Patienten aus. „Es
hat schon System, dass sich diese Menschen immer wieder bei uns einf inden.
Hier fühlen sie sich wohler als in einer
Notunterkunft“, so Dr. Mayer. Wie auf
Bestellung wankt in diesem Moment
ein Rumäne den hellen Gang entlang.
„Der hat sich selbst entlassen, das passiert häufiger“, weiß Schwester Judith.
Denn irgendwann setzt der Entzug ein –
und dann müssen Ge wohnheitstrinker
ihren Promille-Pegel wieder auf Normalzustand bringen. „Wenn jemand mit drei
150 bis 300 Patienten – täglich
Bisher verläuft diese Samstagnacht im
UKE ruhig. „Bei uns werden pro Tag zwei
bis fünf Patienten mit Drogen- oder Alkoholproblemen eingeliefert. Das hängt
auch von eventuellen Großveranstaltungen in Hamburg ab“, sagt Dr. Ulrich Mayer, Leiter der Notaufnahme im UKE. Seit
2007 organisieren er und seine Kollegen
die schnelle Hilfe, behandeln Her zinfarkte, Platzwunden oder Knochenbrüche. Tag für Tag werden hier zwischen
56
Dr. Ulrich Mayer, Leiter der
Notaufnahme im Hamburger Universitätsklinikum Eppendorf
oder mehr Promille zu uns kommt, hat
er mitunter zwei Flaschen Korn intus.“
Zudem kommt es bei schweren Trinkern
auch mal zum lebensbedrohlichen Delirium tremens (siehe Kasten). „Diese Fälle landen auf der Intensivstation.“
Immer mehr Jugendliche bevölkern
an Wochenenden nach Saufgelagen die
Notaufnahme. Grenzerfahrungen mit
Alkohol gehören für viele dazu. Sie tr inken Hochprozentiges in Rekordzeit und
filmen sich und ihre Taten fürs Internet.
Während im Jahr 2005 in Deutsc hland 19.423 Kinder und Jugendliche zwischen zehn und 19 Jahren wegen einer
Alkoholvergiftung stationär behandelt
wurden, waren es sechs Jahre später
26.349 Fälle. Neben Alkohol sind immer
wieder Drogen ein Grund für die stationäre Behandlung: „Vor allem Marihuana, Kokain, Methadon und Pilze. Synthetische Drogen wie Cr ystal Meth gibt es
hier so gut wie nicht“, sagt Dr. Mayer.
Auch nicht in dieser Nacht, als ein
Vater seine Tochter in die N otaufnahme bringt. Die zier liche 15-Jährige
wirft ihren Kopf hin und her. „Mir ist
so schlecht“, wimmert das Mädchen.
Schwester Judith und Krankenpfleger
Christopher eilen herbei. Nach einem
kurzen Gespräch mit ihr wissen sie,
dass sie zu viel W odka getrunken hat.
Ihr Vater fand seine Tochter auf der Straße. Nach der Blutentnahme dar f sich
die 15-Jährige auf die Matratze in den
Gang legen. Hier, am Empfang im grellen Neonlicht, steht sie unter st ändiger
Beobachtung des Personals. Obwohl das
Mädchen seinen Rausch auch zu Hause ausschlafen könnte, möchte ihr Vater
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
FOTOS: PATRICK OHLIGSCHLÄGER
Vor allem am Wochenende ist hier für manchen PARTYGÄNGER Schluss: in der Notaufnahme.
Wer hier landet, hat so viel Alkohol oder andere Drogen zu sich genommen, dass er nicht mehr Herr
seiner Sinne ist. Darunter: immer mehr Jugendliche, die mit einer Alkoholvergiftung behandelt werden.
Was ist Delirium tremens?
Delirium tremens (wörtlich: „zitterndes Irresein“) oder Alkoholdelirium ist eine lebensbedrohliche
Komplikation bei einer bestehenden Alkoholkrankheit und erfordert ärztliche Hilfe. Es tritt Stunden
bis Tage nach dem letzten Alkoholkonsum bei fünf bis 15 Prozent der Alkoholiker auf. Die Sterblichkeitsrate beträgt unbehandelt rund 20 Prozent, behandelt etwa zwei Prozent. Die Entzugserscheinungen und deren Dauer sind abhängig von der Konstitution des Alkoholikers und seinen
Trinkgewohnheiten. Angst, Schlafstörungen und vegetative Beschwerden können jedoch bis zu
sechs Monate lang anhalten und dazu führen, dass der Patient im Sinne einer falsch verstandenen
„Eigentherapie“ in dem Versuch, sich von diesen Symptomen zu befreien, rückfällig wird.
sie hierlassen. „Als Erziehungsmaßnahme“, wie er betont. Kaum verschwindet er in die Nacht, rollt der nächste Notfall herein.
Gefährliches „Wasser“
Blauäugig: Nach
einer halben Flasche
Wodka schläft diese
15-Jährige ihren
Rausch in der Notaufnahme aus
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
Manuela liegt auf einer T rage, begleitet von Ärzten und zwei Polizisten. Sprechen kann die 15-Jährige nicht mehr.
Sie schläft. Und so muss ihr F reund
erklären, warum sie hier ist. Auc h
in diesem F all ist zu viel W odka der
Grund. Das slawische Wort „Wodka“
ist eine Verniedlichung von „Woda“ (zu
Deutsch: Wasser). Mit ihren Freunden
hat das Mädchen den hochprozentigen
Sprit pur aus der Flasc he getrunken –
wohl nicht zum ersten Mal, wie der minderjährige Begleiter erklärt. Während
Manuela im Gang ihr en Rausch ausschlafen soll, versuchen die Polizisten,
ihre Eltern zu benachrichtigen. Erst als
die Uniformierten die Er ziehungsberechtigten erreichen, wird klar, dass die
ihre Tochter im Kinderzimmer wähnen.
Nach 30 Minuten er reichen die Eltern
das UKE. Doch allzu mitfühlend sind sie
nicht. Der Vater zückt sein Handy und
knipst ein Bild. „Das wird einen Ehrenplatz erhalten und Manuela an diesen
Abend erinnern.“
Während ihre Eltern gegen 3.00 Uhr
morgens das Gebäude verlassen, piepsen
die Monitore, hüpfen die Linien des Displays auf und ab – und signalisieren, dass
alles in Ordnung ist.
Thomas Soltau
Interview: Prof. Dr. Rainer
Thomasius über Delirium tremens
und Trinkspiele bei Jugendlichen.
www.draeger.com/392/notfall
57
GE SEL L S C H AF T
H IRN DO P IN G
Moralisches Dilemma
Es scheint verlockend: Eine Pille einnehmen und einfach schlauer werden.
Anhänger des COGNITIVE ENHANCEMENTS glauben, dass das funktioniert.
Aber stimmt das wirklich, und wie hoch ist der Preis dafür?
Lässt
sst sich der
enkmuskel
Denkmuskel
genauso dopen wie
ein Oberrschenkel?
nz, aber so
Nicht ganz,
ähnlich.. Doch das
ist nicht nur unfair,
sondern kann auch
ährlich sein
gefährlich
58
DRÄGERHEFT 3
392 | SPEZIAL
Wo nichts ist, können auch leistungssteigernde Mittel
nichts hervorkitzeln
– wenngleich sie
vorhandenes Wissen
schneller verfügbar
machen können
A
ngenommen, einer gewinnt die
Million: Nicht eine Frage im T VQuiz bleibt unbeantwortet, egal
um welches Thema es geht. Der K andidat deutet jede subtile Regung des Moderators – und er obert die Her zen der
Zuschauer durch seine schlagfertige Art.
Das Land feiert den Sieger. So lange, bis
er gesteht: „Ich habe gedopt!“ Aus Heldenverehrung würde empörte Enttäuschung, wie bei Lance Ar mstrong, dem
früheren Radprofi mit der lebenslangen
Wettkampfsperre. Denn Doping ist unfair,
und Doping ist Betrug, oder?
Bei Spitzensportlern ist die W irkung
leistungsfördernder Substanzen leicht
zu erklären: Mehr Sauer stoff im Blut,
das bringt auf der Langstrecke Ausdauer.
Schmerz unterdrücken heißt, die Grenzen
der Belastbarkeit zu dehnen. Aber was entspricht dem Körper-Kick von Blutdoping in
unserem Kopf? Warum besteht seit Langem im Turnierschach ein Chemie-Verbot,
das von der inter nationalen Anti-DopingAgentur WADA überwacht wird? Welche
Stoffe stehen im Verdacht, von SuperhirnAspiranten missbraucht zu werden?
FOTOS: IMAGE SOURCE / CORBIS; ISTOCKPHOTO
Nächte durcharbeiten
Eine ganze Reihe von Wirkmechanismen
kommt infrage. Zähes Lernen von Fakten
fordert maximale Konzentration. Ritalin,
das bekannte „Zappelphilipp“-Medikament, könnte dabei helfen. Hemmt hingegen Müdigkeit den Eifer, lassen sich
mit dem Wachmacher Modafinil Nächte
durcharbeiten. Und die Gefühlsregungen
des Moderators ließen sich besser deuten, als die Konkurrenz es vermag: Das
menschliche Sozial-Hormon Oxytocin
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
könnte das bewirken. Es ist als N asenspray erhältlich.
Das ist die landläufige Vorstellung vom
Hirndoping. Die W issenschaft schätzt
den Begriff nicht, eine typisch populäre
Parole sei er. Sachlicher heißen geistige
Leistungssteigerer „Cognitive Enhancer“
oder „Neuro-Enhancement-Präparate“
(NEPs). Sie werden dringlich gesucht:
„Demenz“ heißt eines der Sc hlagwörter
zur Forschungsförderung. Erreichte die
Pharmakologie es, den geistigen V erfall
bei Alzheimer für lange Zeit zu st oppen,
wäre das eine Gr oßtat, vergleichbar mit
der Erfindung der Antibiotika. Genau wie
bei den Bakterien-Vernichtern darf man
aber auch bei den Cognitive Enhancern
sicher sein, dass sie sic h außerhalb des
Kreises der unbedingt Bedür ftigen verbreiten werden. Dabei zeigt sic h das
moralische Dilemma des Hirndopings.
Nützt Doping der Gesellschaft?
Wer Antibiotika ohne Not nutzt, schädigt
potenziell alle. Bakterien werden resistent. Einer aber, der sein Gedächtnis frisiert oder die Aufmer ksamkeit stärkt –
wie soll der ander en schaden? Nützt
seine erhöhte Produktivität nicht sogar
der Gesellschaft? Forscher aus Gr oßbritannien und den USA haben 2008
im Wissenschaftsjournal „Nature“ diesen Standpunkt vertreten, darunter der
Hirnforscher Michael Gazzaniga, Stanford-Rechtsprofessor Henry Greely und
die Neuro-Ethikerin Martha Farah. Ihr
Rezept: „Cognitive Enhancement hat
für Einzelne und die Gesellsc haft viel
zu bieten, und eine angemessene gesellschaftliche Antwort darauf wird sein, sie >
Die Kandidaten
Welche Stoffe tunen
angeblich den Geist?
u Klassiker der geistigen Leistungssteigerung sind Psychostimulanzien wie
Amphetamine. Sie wurden nicht nur illegal,
sondern auch quasioffiziell eingesetzt,
um Piloten und Soldaten wach und alert
zu machen. In der Medizin wurden sie
vorwiegend durch Amphetamin-ähnliche
Substanzen abgelöst (z.B. Ritalin). Sie
steigern die Aufmerksamkeit, können
allerdings zu Selbstüberschätzung führen.
Harte illegale Stimulanzien sind Kokain
und seine noch gefährlicheren Abkömmlinge.
u Müdigkeit lässt sich gezielt mit Modafinil
beseitigen, das gegen die „Schlummersucht“
Narkolepsie verschrieben wird.
u Auch mit Medikamenten gegen
Demenz, die Acetylcholinesterase-Hemmer
und Memantine, haben Hirndoper
bereits experimentiert.
u Antidepressiva werden in der Absicht
benutzt, durch gute Stimmung leistungsfähiger zu werden.
Dies sind die häufigsten Nennungen
in Studien. Daneben werden zahllose
Vitamine mit den oben genannten verwandten Substanzen und erlaubte Stoffe
wie Kaffee oder Nikotin zur Leistungssteigerung genutzt. Exotischere Ansätze
reichen von Hormonen wie Oxytocin
(soll soziale Intelligenz steigern) bis zu
Cannabis-Abkömmlingen, um lernhemmende Erfahrungen aus dem Gedächtnis
zu löschen. Bislang jedoch steht für
stärkere Substanzen ein geringer Nutzen
einer ganzen Reihe ernst zu nehmender
Nebenwirkungen gegenüber.
59
FOTOS: FRANK BOXLER, PICTURE-ALLIANCE / ZB
Früh übt sich? Ritalin-Tablette in Kinderhand (links). Rechts schreiben
450 Studenten eine Statistik-Klausur. Einige davon vielleicht mit Ritalin. Hirndoping
an Hochschulen ist viel verbreiteter, als bislang vermutet
Langer Traum vom Wachsein
Mentale Fähigkeiten zu steigern – dieser Wunsch ist alt. Schon jahrtausendealte Praktiken können helfen, das zu erreichen. Besonders die Meditation
zählt dazu. Durch ihre Übungstechniken lassen sich Konzentrationsvermögen
ebenso wie Struktur und Chemie des Zentralorgans verändern.
Der schnelle und bequeme Weg zu mehr Wachheit (für Krieger auf Wache),
Ausdauer (für Träger oder Jäger) und zu gefragten geistigen Fähigkeiten (Visionen
der Schamanen, Ratschläge der Weisen) aber führt seit vorhistorischer Zeit durch
den „Garten der Natur“: Kath, die Alltagsdroge Nordafrikas, wirkt wie Amphetamin.
Kaffee und Tee hemmen das Müdigkeitssignal im Gehirn. Die Blätter des Kokastrauchs sind ein klassisches Ausdauermittel, das langes und konzentriertes Arbeiten
auch in dünner Andenluft erlaubt.
Aber erst mit dem Triumph der Chemie im 19. Jahrhundert kommen die
hochwirksamen Reinsubstanzen ins Spiel: 1887 wurde Amphetamin synthetisiert,
sein stärkeres Geschwister „Meth“ 1893. Ritalin gibt es seit 1944, die modernen
Antidepressiva seit 1984. Unser heutiges Verständnis der Neurochemie und der
Struktur des Gehirns aber erlaubt es, Substanzen präzise auf Hirndoping hin zu
designen: Die Pharmakologie, etwa der modernen Anti-Demenzmittel, ist deshalb noch
sehr jung – ein Großteil möglichen Fortschritts mag noch in der Zukunft liegen.
> verfügbar zu machen und ihre Risiken
zu steuern.“
Die Experten schrieben das in dem
Wissen, dass der Gebrauch der praktisch
ausnahmslos verschreibungspflichtigen
Medikamente – Ritalin fällt gar unter das
Betäubungsmittelgesetz – für Gesunde
illegal ist. Kontrollierte Freigabe, so die
Hoffnung, sei die besser e Alternative als
Wildwuchs. Auch für den professionellen
Kopfarbeiter jenseits des Examens, so malt
es der Mainzer Neurophilosoph Thomas
Metzinger aus, sei das verlockend: Zwölf
bis 14 Stunden, die Nacht von Freitag auf
Samstag, könnte ein Wachmacher-Konsument zusätzlich schreiben, rechnen
60
oder erfinden. Den Rest des Wochenendes ruht er aus, bleibt daher gesund und
gewinnt so eine ganze Arbeitswoche pro
Monat – ein Wettbewerbsvorteil in der
beschleunigten Leistungsgesellschaft.
Nicht nur auf Leistung achten
Die Wahrheit ist, dass die t atsächlichen
Vorteile, die sic h heutige Hir ndoper
verschaffen können, gering ausfallen.
Bei Stimulanzien wie Ritalin kann der
unsachgemäße Gebrauch Prüfungsergebnisse sogar ver schlechtern. Sie
dämpften bei Probanden die Selbstkritik
und ließen sie unbedacht falsche Antworten als wahr ankreuzen. Eine den Geist
dramatisch stärkende Wirkung ist also
kaum zu er warten. Dafür aber sämtliche Nebenwirkungen. Bei aufputschenden Substanzen zählt dazu mindestens
die Gefahr einer Abhängigkeit. Und bei
sämtlichen intensiv auf den Hir nstoffwechsel einwirkenden Mitteln ist die Frage nach bleibenden Veränderungen von
Persönlichkeit, Emotionsregulation und
Gedächtnis bei Langzeitgebrauch nicht
ausreichend erforscht.
Als sich bald nach den „Nature“-Autoren sieben führende deutsche Experten in ihrem Manifest „Das optimierte
Gehirn“ dazu positionierten, argumentierten sie: „Niemand kann wollen, dass
sich der schon gegenwärtig hohe gesellschaftliche Konkurrenzdruck durch die
Verbreitung von Neuro-Enhancements
weiter verschärft. Eine dur chgängige
Ausrichtung des Lebens auf Leistung
und Effizienz wäre inhuman und ausgrenzend.“ Im besseren Verständnis der
Hirnprozesse des Lernens und der emotionalen Regulation lägen jedoch auch
große Chancen. Für F orschung sprechen sich die Experten aus, nicht jedoch
für den schnellen Griff in die Inter netApotheke: Es seien künftig viele Anwendungen der Enhancer vor stellbar, die
höchst humanen Fortschritt bringen
könnten. Dafür gelte es, R egeln zu finden: „Insbesondere wäre es ver nünftig, für NEPs höher e Sicherheits- und
Wirksamkeitsstandards als in der t herapeutischen Pharmaforschung festzusetzen, weil es ,nur‘ um Leistungs- und
Befindlichkeitsverbesserungen statt um
Rettung, Heilung oder Linder ung von
Beschwerden geht.“
Silke Umbach
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
D ROGE N
R A N G LIS T E
Die 20 gefährlichsten Drogen
Gefährliche RAUSCHMITTEL konsumieren die anderen: die Junkies vor dem Bahnhof und die Partykids, die
sich mit Ecstasy und Speed aufputschen. Die zwei, drei Bier am Abend sind da etwas anderes, oder?
Dritte: körperliche und psychische Verletzungen in der Familie und im weiteren Umfeld, Kriminalität, Verelendung,
Umweltschäden, Schäden für die Gesellschaft sowie ökonomische Kosten, etwa
durch medizinische Betreuung.
Alkohol und Heroin
stehen an der Spitze
Heroin, Crack/Kokain und Methamphetamin sind demnach die gefährlichsten
Drogen, was Abhängigkeit, mentale Schäden und Sterblichkeit angeht. Doch schon
die vierte Stelle belegt Alkohol aufgrund
seines hohen A bhängigkeitspotenzials.
Ganz unangefochten steht er jedoc h an
der Spitze, wenn es um die Sc häden für
die Umgebung des Konsumenten und für
die Gesellschaft geht. Dabei spielt es natürlich eine Rolle, dass Alkohol von viel mehr
Menschen konsumiert wird als Her oin
oder Crack/Kokain. Abgeschlagen in dieser Rangliste sind LSD, Rauschpilze und
das Opioid Buprenorphin. Auch wenn bei
diesen Drogen bereits kleine Mengen für
einen Rausch reichen, ist der Gesamtschaden für den Nutzer deutlich geringer und
geht für die Gesellschaft gegen Null. „Ein
niedriger Wert bedeutet allerdings nicht,
dass die Droge harmlos ist“, warnt Nutt.
„Jede Droge ist unter bestimmten Umständen gefährlich.“
Regina Naumann
Heikel, auch für Dritte
Die Grafik führt verschiedene Drogen nach Summe ihrer
Schädlichkeit für den Konsumenten und für Dritte auf.
Die Werte sind normalisiert (0 bis 100) und danach gewichtet:
46 Prozent entfallen auf den Konsumenten, 54 Prozent
auf Dritte. KG = kumulative Gewichtsverteilung. GHB = GammaHydroxybuttersäure. LSD = Lysergsäurediethylamid.
80
60
50
Schädlichkeit für Konsumenten KG 46
Schädlichkeit für Dritte: KG 54
40
30
20
10
ko
ho
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Summe der Einzelschädlichkeiten
70
Al
QUELLE (GRAFIK): WWW.THELANCET.COM, VOL 376, NOVEMBER 6, 2010; ILLUSTRATION: PICFOUR
B
ei der Frage nach der Gefährlichkeit von Drogen stehen zunächst
das psychische und körperliche
Abhängigkeitspotenzial und die Schwere der Entzugserscheinungen im Mittelpunkt – aber auch der körperliche Schaden. Um aber die als Gesamtschaden des
Drogenkonsums aufgefasste „Gefährlichkeit“ bemessen zu können, ist weit mehr
zu berücksichtigen.
Genau das hat David J. N utt am
Imperial College London getan. Nutt ist
Neuropharmakologe und war – als Leiter des Advisor y Council of t he Misuse
of Drugs (ACMD) – Dr ogenbeauftragter der Regierung Gordon Brown, bis
er 2009 entlassen wur de, weil er sic h
öffentlich für eine objektive Be wertung
der Gefährlichkeit von illegalen und legalen Drogen einsetzte. Danach gründete
er das Independent Scientif ic Committee on Drugs, mit dessen Unterstützung
eine Studie entstanden ist. Darin unterzog Nutt 2010 die 20 am meisten genutzten legalen und illegalen Drogen in Großbritannien einer aufwendigen Anal yse.
Nutt und sein Team stellten verschiedene Kriterien auf, nach denen sie die Drogen mit einem 100-Punkte-System bewerteten. Mehr als die Hälf te der Kriterien
bezogen sich auf den Sc haden für das
Individuum: physische Schäden wie körperliche Zerstörung und Tod, psychische
Schäden wie A bhängigkeit und Beeinträchtigung der geistigen und mentalen
Fähigkeiten sowie soziale Schäden wie
Verlust von persönlichem Vermögen und
menschlichen Beziehungen.
Mit den übrigen Kriterien bewerteten
sie den Schaden des Drogenkonsums für
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
61
Gedämpfte Stimmung
In den Bundesstaaten COLORADO UND WASHINGTON STATE ist Marihuana mittlerweile erlaubt,
doch die Euphorie verflog mit dem Rauch der ersten Joints. Strenge Regeln schränken die neue Freiheit
ein: Gemeinden verbieten Kiffer-Clubs, und US-Gesetze unterbinden weiterhin den Handel mit und
den Konsum von Marihuana.
Ordnung muss sein,
auch im Drogenparadies:
Cannabispflanzen
in Denver/Colorado mit
62
Tracking-Möglichkeit
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
P OLI T I K
DRO G EN
Medizin: Michael
Dare aus Seattle
erhofft sich durch
Marihuana eine
Linderung seiner
Schmerzen und
konsumiert hier
die Droge demonstrativ öffentlich
FOTOS: PICTURE ALLIANCE / AP PHOTO ; UPI/LAIF
F
röstelnd, aber sichtlich gut gelaunt,
versammelten sich mehr als einhundert Menschen in der N acht
zum 6. Dezember 2012 unter der Space
Needle, dem Wahrzeichen von Seattle.
Kaum war der Zeiger auf die Zw ölf
gerückt, brach großer Jubel aus. „Initiative 502“ trat in Kraf t – erstmals wurde
damit Marihuana in einem US-Bundesstaat legalisiert.
Kichernd wurden Joints und Pfeifen
herumgereicht. Polizisten beobachteten das Spekt akel, ohne einzug reifen.
Sie folgten damit dem Blog-Hinweis auf
der Website ihres Polizeikommissariats:
„Bis auf Weiteres werden Beamte keine
Aktionen angesichts von Verstößen gegen
I 502 vornehmen – abgesehen von mündlichen Verwarnungen. Wir werden euch
eine großzügige Schonfrist einräumen,
um euch an die schöne neue und irgendwie bekiffte Welt zu gewöhnen.“
Seither dürfen im nor dwestlichen
US-Bundesstaat alle über 21-Jährigen eine
Unze Marihuana (knapp 30 Gramm) für
den persönlichen Gebrauch besitzen und
im privaten Umfeld konsumieren. Verboten sind nach wie vor das Rauchen in der
Öffentlichkeit, bekifftes Fahren eines
Fahrzeugs sowie Produktion und Verkauf
der Droge, außer für medizinische Zwecke. Der Staat hat ein Jahr Zeit, R egeln
für den Anbau von und das Gesc häft mit
Cannabis zu entwickeln.
Einen Monat nach dem Freudentaumel in Seattle spielten sic h in Colorado
ähnliche Szenen ab. Dort trat am 5. Januar 2013 der Gesetzeszusatz 64 zur Mar ihuana-Legalisierung in Kraft. Der von 55
Prozent der Wähler befürwortete Zusatz-
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
artikel erlaubt seitdem auch hier über
21-Jährigen, eine U nze Marihuana zu
besitzen – zudem dürfen Volljährige bis zu
sechs Cannabispflanzen in geschlossenen
Räumen anbauen. Es ist zw ar verboten,
die Ernte zu verkaufen, nicht aber, sie zu
verschenken. Auch hier darf weder in der
Öffentlichkeit gekifft noch unter Marihuana-Einfluss Auto gefahren werden. Marihuana-Läden im 300-Meter-Umkreis von
Schulen, Spielplätzen, Kindergärten und
Parks sind ebenfalls verboten.
Bundesstaat gegen Bund
Die Lage ist kompliziert. So stuft das USBundesrecht Cannabis nach wie vor als
Rauschmittel höchster Klasse ohne medizinischen Nutzen mit hoher A bhängigkeitsgefahr ein – wie Her oin, LSD und
Ecstasy. Besitz, Er werb, Verkauf und
Produktion werden mit harten Strafen
geahndet. Selbst der inzwisc hen in 18
US-Bundesstaaten und dem Distr ict of
Columbia genehmigte Gebrauc h von
Cannabis für medizinische Zwecke ist
laut Bundesgesetz illegal.
Diese Widersprüche führen auch zu
Grauzonen am Arbeitsplatz. S taatliche
Angestellte sind weiterhin dem Bundesgesetz unterstellt – von P olizisten über
Lehrer und Förster bis zu Busf ahrern.
Anders ist die Lage bei Pr ivatunternehmen. Dort gehört ein Drogentest oft zum
Bewerbungsgespräch. Stichproben sind
üblich. Bisher war Marihuana im Blut ein
Grund zur Nichteinstellung oder Kündigung. Boeing will diese Praxis zunäc hst
nicht ändern. Andere Firmen haben angekündigt, ihre Verträge zu überprüfen. Es
dürfte schwierig werden, in Bundesstaa-
ten mit legalisier tem Marihuana den
Konsum der Droge im Privatbereich zu
bestrafen, selbst wenn er die Leistung am
Arbeitsplatz beeinträchtigt.
„Es wird faszinierend sein zu beobachten, wie die R egierungen der Bundesstaaten mit den neuen R egelungen
umgehen, wie Washington D. C. und die
Industrie reagieren – und natürlich, was
die Konsumenten machen“, sagt Professor Mark Kleiman. Der Experte für Strafrecht und Drogenpolitik am Luskin-Politikinstitut der University of California
in Los Angeles setzt sich seit Jahren für
mehr Forschung über die Legalisierung
von Marihuana ein. Er wirft Gegnern wie
Befürwortern vor, die Diskussion mit zu
viel Propaganda und zu wenig Sac hlichkeit zu führen. Kleiman begrüßt das Wählervotum in Washington und Colorado,
auch weil er mangels Legalisier ung bislang nicht genügend Fakten zu Auswirkungen einer Liberalisierung sammeln
konnte: „Das ist nun anders.“
Filmemacher Eugene Jar ecki ist
vehementer Verfechter der Legalisierung
von Marihuana. In „The House I Live In“
dokumentiert er fatale Folgen des „War
on Drugs“. Der 1971 ausgerufene AntiDrogen-Krieg habe bis heute mehr als
eine Billion Dollar gekostet, richte sich
vor allem gegen Ar me und Farbige und
trage zur Überfüllung von US-Gefängnissen bei. Rund eine halbe Million Menschen sitzen in den USA wegen Dr ogendelikten im Gef ängnis, etwa zehn
Prozent davon wegen Verstößen gegen
Marihuana-Gesetze.
Gespannt warten Gegner und Befürworter, ob auch Washington seine Dro- >
63
D ROGEN
P OLI T IK
Solange eine Razzia der Bundespolizei droht,
wird Marihuana kein Geschäftsmodell
> genpolitik ändert. US-Präsident Obama
erklärte Ende 2012, es sei keine Priorität seiner Regierung, hier das Bundesgesetz durchzusetzen. „Wir haben
Wichtigeres zu tun, als gelegentlic he
Verbraucher von Marihuana in den USBundesstaaten strafrechtlich zu ver folgen, die es genehmigt haben.“ Der
Vorsitzende des Justizausschuss im USSenat, Demokrat Patrick Leahy, deutete
einen möglichen Kompromiss an: „Wir
könnten das Bundesgesetz so ergänzen,
dass es in Bundesst aaten mit entsprechender Rechtsprechung legal ist, eine
Unze Marihuana zu besitzen.“ Doch die
Liberalisierung hat auch Gegner. Unterstützung bekommen diese unter anderem von den Vereinten Nationen. Die
erklärten, dass die Wählerentscheidungen in Washington und Colorado gegen
internationale Abkommen verstoßen
sowie die Gesundheit der Gesellsc haft
im Ganzen und der von Jugendlic hen
im Besonderen bedrohen.
Aber nicht nur die Kritik an der US-Drogenpolitik lässt die Stimmung in Richtung Legalisierung umschwenken. Angesichts hoher Verschuldung und leerer
Haushaltskassen sehen Gemeinden, Bundesstaaten und Regierung in Washington
ungenutztes Potenzial von Steuereinnahmen in Milliar denhöhe. Eine Gr uppe von dreihundert Wirtschaftswissenschaftlern – darunter Nobelpreisträger
– forderte, die Legalisierung von Marihuana wohlwollend zu prüfen.
Steuern und Profit
Sie verweisen auf eine S tudie des Har vard-Ökonomen Jeffrey Miron, wonach
die USA jährlich sechs Milliarden Dollar
zusätzlich einnehmen könnten, wenn sie
auch diese Droge wie Alkohol und Tabak
besteuern würden. Gleichzeitig könnte
man eine stattliche Summe bei der strafrechtlichen Verfolgung dieser Droge sparen. Andere Studien schätzen den möglichen Nutzen aus einer legalisier ten
„Legalisierung verhindert den Drogenkrieg“
Seit 1989 vertritt das weltweit renommierte Magazin „The Economist“ die These:
„Das Verbot hat versagt, Legalisierung ist die weniger schlechte Lösung.“ Zur
Begründung führen die liberalen Londoner unter anderem an: Allein die USA verwenden 40 Milliarden US-Dollar jährlich darauf, den Schmuggel zu verhindern.
Und über 6.000 Polizisten und Soldaten sterben jährlich im Drogenkrieg. Das große
Gefälle zwischen niedrigen Herstellungskosten und hohen Handelspreisen finanziere kriminelle Strukturen. Legalisierung würde diese austrocknen und Drogenkonsum
mehr zu einem Thema des Gesundheitssektors als der Straf verfolgung machen.
Wie bei Tabak so könne bei einer Liberalisierung auch hier eine Aufklärung über
Gesundheitsrisiken den Konsum einschränken. „Unser Vorschlag ist vertrackt“, schreibt
das Magazin, „aber ein Jahrhundert manifesten Versagens ruft nach einer Alternative.“
64
Marihuana-Industrie auf 45 bis 100 Milliarden Dollar pro Jahr.
Professor Kleiman zeigt sich besorgt
angesichts der Aussicht auf einen profitablen Handel mit Marihuana: „CannabisUnternehmer sind nicht nur an gelegentlichen Kiffern interessiert.“ Er ver weist
auf die Tabak- und Alkoholindustrie. Die
mache 80 Prozent ihres Geschäfts mit
starken Rauchern und T rinkern. „Aus
meiner Sicht dürfte es keinen kommerziellen Handel mit Marihuana geben. Aber
das bringt natürlich weder hohe Gewinnspannen noch Steuereinnahmen.“
Seit der Legalisierung von Marihuana arbeiten Colorado und Washington
State an der Regulierung von Produktion und Handel der Droge. In Colorado
entwickeln Politiker, Sicherheitsexperten, Marihuana-Aktivisten und Unternehmensverbände einen Gesetzesrahmen. Ab Oktober 2013 sollen Behörden
Geschäftslizenzen vergeben können.
In Washington ist die Behörde für Alkoholausschanklizenzen zuständig für
die Entwicklung eines rechtlichen Rahmens. Was den Drogenpolitik-Experten
Kleiman beunruhigt – aus seiner Sicht
ist die Entwicklung von Alkohollizenzen nach der Prohibition in den USA
das beste Beispiel dafür, wie Drogenlegalisierung eben nicht geregelt werden sollte: „Alkohol richtet in den USA
mehr Schaden an als alle illegalen Drogen zusammen!“
Jugendliche im Visier
Wird Marihuana legal, fürchtet Kleiman, kann die Industr ie offen für
ihr Produkt werben und ihr e Marke-
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
Grasgrün: Jake
Dimmock, Mitbesitzer
des Northwest
Patient Resource
Center in Seattle,
pflegt seine Marihuana-Plantage für
die medizinische
Nutzung der Ernte
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
Nancy Jo Armstrong
(links) und Nancy
King zählen
die Stimmzettel
der MarihuanaPetition in Washington State aus:
341.000 Wähler
stimmten mit „Ja“
FOTOS: PICTURE ALLIANCE / AP PHOTO (2), PETER HALLEY / THE NEWS TRIBUNE (1)
tingstrategie gezielt auf Jugendlic he
ausrichten. Investoren und Existenzgründer stehen in den S tartlöchern,
um den neuen Markt zu besetzen. Die
Yale-Absolventen Brendan Kennedy und
Michael Blue haben mit Privateer Holdings die er ste Wagniskapitalgesellschaft gegründet, die ausschließlich in
Marihuana-bezogene Geschäftsideen
investiert. Vom Marihuana-Automaten „Medbox“ über den Be wertungsdienst für Marihuana-Läden bis zum
Luxus-Kiff-Club „Diego Pellicer“, geleitet vom ehemaligen Micr osoft-Manager Jamen Shively in Seattle, scheinen
keine Grenzen gesetzt. Wäre da nicht
die noch immer unklar e rechtliche
Lage zwischen Bund und Bundesst aaten. Solange jedem Geschäft mit Marihuana eine Razzia der Bundespolizei
droht, die US-Drogenbehörde Unternehmen schließen und die US-Steuerbehörde Einnahmen beschlagnahmen und
Unternehmer wegen illegaler Aktivit äten verklagen können, lassen sich auch
Banken nicht auf den neuen Industriezweig ein. Existenzgründer bekommen
weder Kreditkarten noch Bankkonten.
Transaktionen zwischen Produzenten,
Vertreibern und K unden sowie zwischen Geschäftsbesitzern und Mit arbeitern werden somit bar abge wickelt.
Selbst Vermieter lassen sich nur zögerlich darauf ein, Mar ihuana-Unternehmern Räume oder Lagerhallen zur Verfügung zu stellen.
Es wird Jahre dauern, bis wissenschaftlich, ökonomisch und medizinisch
relevante Ergebnisse aus der Legalisierung vorliegen.
Kerstin Zilm
In Seattle wird Marihuana abgewogen und verpackt – ganz legal.
Wer über 21 ist, darf versteuertes und staatlich kontrolliertes Gras
in einem der staatlichen Läden kaufen
65
JUSTIZ
GESELLSCH AF T
Nein, nein, und nochmals nein!
Gibt es ein „RECHT AUF RAUSCH“? Staatliche Gewalt beansprucht, den Bürgern allerhand zu
verbieten – bestimmte Drogen zum Beispiel. Das geschehe zu ihrem Besten, heißt es. Volltrunkenheit
aber lässt der Staat in vielen Bereichen durchgehen. Ein Widerspruch?
Rausch lässt sich nicht verfolgen
Artikel 2 des Gr undgesetzes verbürgt das
Recht auf „freie Entfaltung der Persönlichkeit“. Jeder darf tun, was ihm beliebt. Doch
schränkt sich dieses umfassende Versprechen selbst ein: Jeder dar f alles, „soweit
er nicht die Rechte anderer verletzt und
nicht gegen die ver fassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt“.
Was davon tut einDrogenkonsument?
Diese Frage bereitete vielen Strafrich-
66
tern Kopfzerbrechen. Verfahren nach
dem Betäubungsmittelgesetz (BtMG)
hatten sich in den 1970er- und 1980erJahren explosiv ver mehrt. Zwischen
Haschischwelle und der Heroin-Tragödie „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ sah
sich der Staat genötigt, einer als er nste
Bedrohung wahrgenommenen Entwicklung zu begegnen. Der Weg zur obersten
Instanz war vorprogrammiert.
Der heutige Bundestagsabgeordnete
Wolfgang Nešković, damals Richter am
Landgericht Lübeck, brachte 1992 den
Stein ins Rollen: Neškovićs Strafkammer
sah sich nicht in der Lage, eine Angeklagte nach dem BtMG zu ver urteilen. Zentrale Argumente waren:
• dass der Gesetzgeber die Konsumenten von Alkohol tolerant behandele und
so den Gleichheitsgrundsatz aus Artikel 3
des Grundgesetzes breche,
• dass der Rausch seit ehedem kultur eller Normalfall und damit Teil der Persönlichkeitsentfaltung sei, die von Ar tikel 2
geschützt wird,
• und dass die P olitik der straf enden
Drogenprävention erfolglos sei.
Das Verfassungsgericht allerdings ent-
gegnete, dass „das Verbot des Verkehrs mit
Cannabisprodukten niemanden zwingt,
auf andere – nicht dem Betäubungsmittelgesetz unterliegende – Rauschmittel
(wie z.B. Alkohol) zurückzugreifen“. Aus
Gründen der Rechtssicherheit habe sich
der Gesetzgeber entschieden, eine abgeschlossene Liste der verbo tenen Substanzen zu erstellen. Um des Rausches
selbst willen werde man nicht verfolgt.
Wie auch? Der Gesetzgeber schiene dann
verpflichtet, Nagellackentferner, Klebstoffe und Benzin zu verbie ten, sobald
er erführe, dass sich „Schnüffler“ damit
berauschten.
Die Sucht bekämpfen
Das zweite „Nein“ des BVerfG ist damit
klar: Nicht alle Gif te müssen g leich
behandelt werden. Eine Legalisierung
von Drogen ist auch dann nicht geboten,
wenn sie hierzulande kaum Probleme
machen. Denn Deutschland ist seit langem durch internationale Verträge verpflichtet, einen Katalog von Substanzen
zu verbieten. Cannabis zählt dazu, ebenso Amphetamine, LSD, Heroin und Kokain. Letztlich kommt es auf die rechtliche
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
FOTO : SHUT TERSTOCK
N
ein“, sagte das deutsche Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in
Karlsruhe. „Nein“, „Nein“ und
nochmals „Nein“. Am 9. März 1994 verkündete es seinen „Cannabis-Beschluss“.
Die Richter prüften, ob der Bürger das
Recht habe, sic h nach Gutdünken zu
berauschen – mit Subst anzen, die der
Gesetzgeber verboten hat. Dabei ging
es auch um eine mög liche falsche Toleranz für Alkohol. Das erste „Nein“ ist das
umfassendste: „Für den U mgang mit
Drogen gelten die Schranken des Art. 2
Abs. 1 GG. Ein ‚R echt auf Rausch‘, das
diesen Beschränkungen entzogen wäre,
gibt es nicht.“
Praxis an. Bekämpft der Staat das, was er
eigentlich bekämpfen will? Das nämlich
ist nicht der Rausch – es ist die Sucht.
Dr. Clemens Veltrup, der als Psychotherapeut die Fachklinik FreudenholmRuhleben in Schleswig-Holstein leitet,
erkennt einen Widerspruch zwischen
der rechtlichen Behandlung der unter schiedlichen Suchtmittel und ihr en
tatsächlichen Gefahren. Die 1,3 Millionen Tablettenabhängigen, die es in
Deutschland gebe, tauchten in der st ationären Suchttherapie praktisch nicht
auf. „Gerade einmal 700 sind 20 12 in
Kliniken gegangen“, sagt er. Im Bereich
der Drogenhilfe, bei illegalen Subst anzen, sei hingegen über Jahrzehnte eine
große Infrastruktur geschaffen worden.
Auch Gesetze haben Risiken und Nebenwirkungen.
Pragmatiker wissen: Ideale Gesetze
wird es nie geben. Dafür aber k onkrete
Handlungsfelder, in denen die V erhältnisse gebessert werden können. Im Straßenverkehr etwa geht auch von ganz legalen Arzneimitteln eine erhebliche Gefahr
aus – besonders Beruhigungsmittel werden suchthaft eingenommen. Die Gefähr-
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
dung anderer aber ist für eine künf tige
Präventionspolitik zugleich der stärkste
Hebel. Beim Nichtraucherschutz hat sie
bereits gewirkt, auch die Schäden durch
eigenes Rauchen sind rückläufig.
Verhältnismäßigkeit ist wichtig
Was darf der Staat seinen
Bürgern verbieten? Worüber
Juristen streiten, hat konkrete
Auswirkungen in der Praxis
Eine Asymmetrie der Verbote jedenfalls
hat das Bundesverfassungsgericht dem
Gesetzgeber 1994 ausdrücklich gestattet. In ihr em Verfolgungseifer setzten
die Richter den Behörden allerdings mit
ihrem dritten „Nein“ Grenzen: Nicht
jeder, der sich mit einer kleinen Menge
Haschisch erwischen lässt, gehör t vor
Gericht. Zentraler Satz: „Die V erhängung von Kriminalstrafen gegen Probierund Gelegenheitskonsumenten kleiner
Mengen von Cannabisprodukten kann
in ihren Auswirkungen auf den einzelnen Täter zu unangemessenen und spezialpräventiv eher nachteiligen Ergebnissen führen.“
Ein Recht auf Rausch hat also niemand. Doch im Kampf gegen die Sucht
gilt es, Verhältnismäßigkeit zu wahren –
eine Politik der eisernen Faust lässt das
Recht nicht zu.
Silke Umbach
67
M IN I- L E XIKON
R AUSCHMI T T EL
Drogen-ABC
Es enthält Fakten über GEBRÄUCHLICHE DROGEN – zu ihren Wirkstoffen ebenso wie zu Konsumformen,
Risiken, Prävalenz (Häufigkeit der Nutzung), Herkunft und Geschichte. Ein Streifzug.
Alkohol
Wirkstoff: Ethylalkohol (Ethanol)
Konsumform: getrunken in verschiedenen Zubereitungsformen und
Mischungen mit sehr unterschiedlichem
Alkoholgehalt zwischen 2 Prozent
(vergorene Stutenmilch „Kumis“) bis
95 Prozent (Maisschnaps „Everclear“).
Wirkung: siehe Seite 22
Prävalenz: In den EU-Staaten liegt
der Konsum von über 15-Jährigen
bei 12,5 Liter reinem Alkohol jährlich –
und ist damit doppelt so hoch wie
der weltweite Durchschnitt.
Risiken: EU und WHO listen über
40 anerkannte alkoholbedingte Krankheiten auf, zudem spiele Alkohol „auch bei
einer Vielzahl anderer Gesundheitsprobleme eine Rolle, etwa bei Verletzungen
und Todesfällen im Straßenverkehr“. In den
EU-Staaten waren 2004 10,8 Prozent
aller Todesfälle der Altersgruppe zwischen
15 und 64 Jahren auf eigenen Alkoholkonsum zurückzuführen. Zusätzlich starben
3,3 Prozent dieser Altersgruppe durch
Alkoholkonsum Dritter.
Herkunft und Geschichte: siehe S. 10–11
Synonyme: Alk, Fusel, Sprit
Stärkung: Um 3100 v. Chr. erhielten
die Pyramidenarbeiter täglich fünf
Liter Bier – als Nahrungsergänzung
und zur Stimmungsaufhellung.
Keiner Droge
ist ihre Wirkung
und ihr Risiko
anzusehen
Benzodiazepine
Wirkstoff: Gruppe von Verbindungen,
die als Grundkörper das 1,4- oder
1,5-Benzodiazepin besitzen. Sie wurden
als Tranquilizer für Beruhigungs- und
Schlafmittel entwickelt, deren internationale
Freinamen oft auf -azepam enden:
68
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
Diazepam, Lorazepam und Oxazepam.
Handelsnamen sind unter anderem Valium,
Librium, Rohypnol, Tavor und Praxiten.
Konsumform: als Tabletten oder
intravenös injiziert
Wirkung: angstlösend, entspannend,
beruhigend
Risiken: Gedächtnisstörungen, eingeschränkte Reaktions- und Wahrnehmungsfähigkeit – damit einhergehend: Fahruntüchtigkeit; Abhängigkeit bei nicht ärztlich
kontrollierter Dauereinnahme
Herkunft und Geschichte: Benzodiazepine kommen als Spuren im menschlichen wie tierischen Blut sowie in einigen
Pflanzen vor. 1957 wurde Benzodiazepin
mehr oder weniger zufällig in den USA
entdeckt. Mit „Librium“ kam 1960 das
erste Medikament aus dieser Gruppe auf
den Markt, „Valium“ folgte 1963. Erst
in den 1980er-Jahren wurde das Abhängigkeitspotenzial erkannt, doch noch 2008
prophezeite eine Studie dieser Stoffgruppe,
dass sie „noch viele weitere Jahre verschrieben wird“.
Synonyme: Tranx, Benzos, Pillen;
Rosch und Rohys für Rohypnol
Schlaflos: „Meine Frau erlaubt nicht,
dass ich Valium nehme!“, sagte
Benzodiazepin-Entdecker Leo Sternbach
gegenüber „The New Yorker“.
FOTO : GET T Y IMAGES
Cannabis
Gattung
der Hanfgewächse
Wirkstoff: Tetrahydrocannabinol (THC)
Konsumform: zumeist geraucht, vermischt mit Tabak in Zigaretten als (größerer) Joint, (kleinerer) Stick oder aus
spezieller Haschischpfeife. Tritt hierbei die
Wirkung fast unmittelbar ein, verzögert
sich ihr Eintritt, wenn Cannabis mit Getränken, Joghurt oder in Keksen verbacken
konsumiert wird.
Wirkung: Verstärkung bereits
vorhandener positiver oder negativer
Stimmungen sowie deutliche Anhebung der Stimmungslage. Gefühl
der Entspannung, inneren Ruhe
und Ausgeglichenheit; häufig verminderter Antrieb. Heiterkeit und gesteigerte
soziale Kommunikation werden ebenfalls
beobachtet.
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
Prävalenz: Annähernd 25 Prozent aller
Europäer im Alter zwischen 15 und 64
Jahren haben mindestens einmal in ihrem
Leben Cannabis konsumiert. 6,8 Prozent derselben Gruppe konsumierten es
in den letzten zwölf Monaten – beziehungsweise eine von drei Personen mit
Cannabiser fahrung.
Risiken: eingeschränkte körperliche und
geistige Leistungsfähigkeit bei gleichzeitiger Überschätzung; Fahruntüchtigkeit.
Bei starkem und regelmäßigem Konsum
psychische Abhängigkeit, Passivität
Herkunft und Geschichte: Heimat ist
wahrscheinlich Vorder- und Mittelasien.
Verwendung in der Volksheilkunde
(Herabsetzung des Schmerzempfindens bei
Neuralgie, Migräne und Anfallsleiden),
aber in allen Kulturkreisen auch als Rauschdroge. Erste Erwähnung 2700 v. Chr. in
einem chinesischen Arzneibuch. Die Nutzung
als Heilmittel mit euphorisierender Wirkung beginnt in Europa im 19. Jahrhundert.
Synonyme: Dope, Ganja, Gras, grüner
Tabak, Kiff, Pot, Piece, Shit, Spliff, Weed
Kiffende Königin: Ärzte verschrieben
Königin Victoria (1819 – 1901) Cannabis
gegen Menstruationsbeschwerden.
Crack
mit Alkalien versetztes
Kokain-Hydrochlorid Ò Kokain
Wird geraucht, und tauchte erstmals
1983/84 an der Westküste der USA auf.
„Designerdrogen“
Amphetamine („Speed“) und
Methamphetamine („Ecstasy“)
Wirkstoffe: Diese strukturähnlichen und
synthetisch produzierten Designerdrogen
gehören zur Stoffklasse der Beta-Phenylalkylamine (Beta-Phenethylamine).
Konsumform: Zumeist werden sie
geschluckt, seltener geschnupft, intravenös genommen oder gar geraucht
(Methamphetamine).
Wirkung: Als Analeptika wirken sie
aufputschend und machen hellwach, kraftvoll und selbstsicher; Methamphetamine
wirken oft deutlich stärker als Amphetamine
(siehe auch S. 23).
Prävalenz Amphetamine: Etwa 3,8
Prozent aller Europäer im Alter zwischen 15
und 64 Jahren haben mindestens einmal
in ihrem Leben Amphetamine konsumiert.
0,6 Prozent derselben Gruppe konsumierten Amphetamine in den letzten zwölf
Monaten – beziehungsweise eine von
sechs Personen mit Amphetaminerfahrung.
Prävalenz Ecstasy: Etwa 3,4 Prozent
aller Europäer im Alter zwischen 15 und
64 Jahren haben mindestens einmal
in ihrem Leben Ecstasy konsumiert. 0,6
Prozent derselben Gruppe konsumierten Ecstasy in den letzten zwölf Monaten
– beziehungsweise eine von sechs
Personen mit Ecstasy-Erfahrung.
Risiken: Überdosis und Nebenwirkungen, vor allem bei gestreckter und
intravenös applizierter Droge; Halluzinationen, psychische Abhängigkeit, Kollaps,
Dehydrierung
Herkunft und Geschichte: Die umgangssprachlichen Ausdrücke „Designerdrogen“ und „Weckamine“ beschreiben
einerseits die gezielte Synthese dieser
Stoffe im Labor, andererseits ihre Wirkung. 1887 synthetisierte der rumänische
Chemiker Lazâr Edeleanu in Berlin Amphetamin, das ab 1933 als „Benzedrine“
gegen Schnupfen eingesetzt wurde. Doch
bald rückten die aufputschenden Nebenwirkungen in den Vordergrund – etwa beim
Militär, das ab dem Zweiten Weltkrieg
Amphetamine zur Leistungssteigerung
einsetzte, aber auch beim Sport. Mit
injizierten Amphetaminen begann ab den
1960er-Jahren eine neue Dimension
des Missbrauchs, der als „Partydroge“ bis
heute in den verschiedensten Konsumformen anhält. Die Entwicklung der
Methamphetamine verläuft parallel: 1893
erstmals in Japan synthetisiert, machte
es im Zweiten Weltkrieg dank seiner
aufputschenden Wirkung bei fast allen
Armeen Karriere – in Deutschland als
1937 patentiertes „Pervitin“. Wie schon
beim 1912 erstmals synthetisierten
MDMA (Ecstasy) geraten demgegenüber
mögliche medizinische Anwendungen
bei Erkältungskrankheiten oder als
Appetitzügler in den Hintergrund. Als
Doping eingesetzt, wurde besonders
Ecstasy seit Mitte der 1960er-Jahre zum
traurigen Star der Musik-Szene.
69
M IN I- L E XIKON
R AUSCHMI T T EL
Synonyme Amphetamine: Speed,
Pepp, Amph, Crank, Gülle
Synonyme Methamphetamine:
Ice, Meth, Crystal, Glas, Yaba;
für Ecstasy: E, Adam, XTC, Emphaty,
Cadillac, MDMA, Love-Drug
Noble Bitte: „Der Dienst ist stramm …
Heute schreibe ich hauptsächlich
um Pervitin. … Euer Hein“, telegrafiert
der Literaturnobelpreisträger (von 1972)
Heinrich Böll aus Polen am 9. November
1939 an seine Eltern in Köln.
Diazepam
Ò Benzodiazepine
Unentbehrlich: Die WHO führt es
in ihrer Liste der „Essentiell Medicines“,
die zur Mindestausstattung einer
medizinischen Basisversorgung gehören.
Ecstasy Ò Designerdrogen
Haschisch
Harz aus
Blütenständen der weiblichen
Hanfpflanze
Wirkstoff: Tetrahydrocannabinol
(THC), Wirkstoffgehalt je nach Herkunft
zwischen 5 und 20 Prozent
Ò Cannabis
Kiffer in Berlin:
„Auf deutschem Boden darf nie wieder
ein Joint ausgehen!“, Schauspieler
und Kabarettist Wolfgang Neuss, 1983
Heroin
Ò Opioide
Synonyme: H („eitsch“), Stoff, Junk,
Gift, Teer, Skag, Harry, Smack, Schmeck,
Caca, Caballo
À la mode: 1986 prägt die „Sunday Times“
den Begriff „Heroin Chic“ für die Kultur
von Heroin-Konsumenten, speziell für sehr
schlanke und blasse Mannequins.
Ketamin
Wirkstoff: ein den Halluzinogenen
nahestehendes und sogenanntes „dissoziierendes Anästhetikum“ (Phencyclidinderivat)
Konsumform: In wässriger Lösung
wird es getrunken oder als Pulver
(Ketanest, Ketaset, Ketalar) geschnupft;
seltener intravenös injiziert.
Wirkung: erzeugt eine Art kataleptischen
Zustand, in dem sich der Konsument
70
von seiner Umgebung und seinem Körper
(„K-Land“) sowie der Zeit („K-Loch“)
abgekoppelt sieht. Bizarre, teilweise furchterregende Träume, visuelle und auditive
Halluzinationen
Prävalenz: Lückenhafte und nicht
konsistent erhobene Daten gehen unter
jungen Erwachsenen (15–34 Jahre)
in einigen ausgewählten EU-Ländern
von etwa 2 bis 4 Prozent aus.
Risiken: Kollaps bei Überdosierung,
Psychosen bei regelmäßigem Konsum,
lang andauernde Angstzustände bereits
bei kleinen Dosen, wenn eine entsprechende genetische Disposition vorliegt
Herkunft und Geschichte: entwickelt
ab 1962 als schnell wirkendes Anästhetikum in den USA, dort Zulassung 1970,
daraufhin sofortiger Einsatz u.a. im
Vietnamkrieg; nicht medizinischer Konsum
zunächst unter „Psychonauten“, heute
als „Clubdroge“ u. a. bei Raves
Synonyme: Special K, Vitamin K, Jet,
Super Acid, Kit Kat, Schweine-Speed
Das Paradies: „Wenn Industriekapitäne
und Staatspräsidenten diese ‚Droge
der Liebe‘ nähmen, so wäre die Erde der
Garten Eden.“ Psychonautin Marcia Moore
in „Journeys Into the Bright World“ (1978)
Kokain kristallartiges Pulver aus
den Blättern des Kokastrauchs
Wirkstoff: Kokain
Konsumform: geschnupft, intravenös
injiziert und geraucht (Crack)
Wirkung: starke zentralnervöse Stimulation
durch Hemmung der Rückspeicherung
von Noradrenalin, Dopamin und Serotonin
in synaptischen Vesikeln. Unmittelbarer
Wirkungseintritt, euphorisierend, stressreduzierend. Hemmungen verringern sich.
Zugleich gesteigerte Energie und Kreativität
Prävalenz: Rund 4,6 Prozent aller
Europäer im Alter zwischen 15 und 64
Jahren haben mindestens einmal in
ihrem Leben Kokain konsumiert. 1,2 Prozent
derselben Gruppe konsumierten Kokain
in den letzten zwölf Monaten – beziehungsweise eine von vier Personen mit
Kokainerfahrung.
Risiken: schnelle psychische Abhängigkeit bis zur „Kokainpsychose“; Verun-
reinigungen und Streckmittel erhöhen das
Risiko von Nebenwirkungen
Herkunft und Geschichte: Der Kokastrauch wird seit gut 5.000 Jahren in
Südamerika kultiviert. Die Blätter durften
zunächst nur bei kultischen Handlungen gekaut werden. Als mit der spanischen
Eroberung die Verelendung einsetzte,
bekämpften weite Teile der Bevölkerung
damit Hunger- sowie Kälteempfinden
und steigerten ihre Leistungsfähigkeit. Nach
Isolierung des Wirkstoffs um 1860
zunächst Einsatz als Lokalanästhetikum
und Antidepressivum. „Kokainwelle“
in Künstler- und Intellektuellenkreisen in
den 1920er-Jahren, Renaissance in
den 1970er-Jahren und seit Anfang der
1990er-Jahre als „Leistungsdroge“.
Synonyme: Coke, Schnee, Koks;
Crack und Rocks (für Crack)
Abwärts: „If you wanna get down, down
on the ground, Cocaine", JJ Cale, 1976
Marihuana getrocknete und
zerkleinerte Teile der weiblichen
Hanfpflanze
Wirkstoff: Tetrahydrocannabinol (THC),
Wirkstoffgehalt je nach Herkunft
zwischen 1 und 7 Prozent; niederländische
Treibhauszüchtungen (Skunk, Sinsemilla,
Nederwiet) bis zu 22 Prozent
Ò Cannabis
Beat-Poetologie: „Solche Sachen
könnte ich auf Gras ohne Ende
machen“, schreibt Jack Kerouac seinem
Freund Allen Ginsberg.
Methadon
Wirkstoff: synthetisch Ò Opioide
Konsumform: in Pulver- oder Tablettenform, als Tropfen oder Sirup; orale
Einnahme bei legaler Nutzung im Rahmen
einer Substitutionstherapie für Heroinabhängige; illegale Nutzung sowohl oral
als auch intravenös
Wirkung: ähnlich wie andere Opioide,
jedoch schwächer und zeitverzögerter
Prävalenz: Lebenszeitprävalenz wird auf
0,2 Prozent geschätzt
Risiken: Abhängigkeit, Tod bei massiver
Überdosierung
Herkunft und Geschichte: Erstmals
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
1939 von I.G. Farben als „Va 10820“
synthetisiert und zunächst in kleineren
Mengen ab 1942 unter dem Namen
„Amidon“ als Schmerzmittel produziert,
bevor es 1947 in den USA in „Methadon“ umbenannt wurde. Ab Ende der
1940er-Jahre Einsatz in den USA, um
die Entzugserscheinungen heroinabhängiger Patienten zu kompensieren; in
Deutschland (als „Polamidon“) ab 1950.
Erstes experimentelles Methadonprogramm in Deutschland zwischen 1973 und
1975 in Hannover. Etablierung von
Substitutionsprogrammen mit Methadon
als Ergebnis positiver Forschungsarbeiten in Deutschland ab etwa 1990.
Synonyme: Dolly, Doll, Red Rock
Heilung: Dass Methadon (Amidon) vor
1945 als „Adolphine“ in den Handel kam,
erwies sich als „urbane Legende“ im New
York der 1970er-Jahre, um durch Assoziationen an das NS-Regime die MethadonSubstitutionstherapie zu diskreditieren.
die Tabak und Pfeife nach Europa brachten. Nach China kam Opium im 17. Jahrhundert über das heutige Indonesien. Als
Schmerzmittel wurde Opium in Europa
vorwiegend ab dem 18. Jahrhundert eingesetzt. Morphin als wichtigstes Hauptalkaloid wurde 1804 aus dem Opium
isoliert; Heroin mit seinem noch größeren
Suchtpotenzial 1898 synthetisiert. In den
ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts
verlagerte sich der medizinische Gebrauch,
vor allem von Heroin, auf den Missbrauch
als illegale Droge, die hauptsächlich im
„Goldenen Dreieck“ zwischen Thailand,
Laos und Myanmar sowie in Afghanistan
(vor)produziert wird. Opioide bilden in
Deutschland die Hauptdroge bei der Hälfte
aller Drogentherapienachfragen.
Nadel und Schaden: „I have seen
the needle, and the damage done“. Neil
Young besingt 1972 auf dem Album
„Harvest“ den Niedergang eines heroinabhängigen Gitarristen.
Opioide
Opium
(wirksam u.a. in Morphium, Opium, Heroin, Codein etc.)
Wirkstoffe: natürlich vorkommende
oder synthetisierte Substanzen, die
sogenannte Opioid- oder μ-Rezeptoren im
Gehirn und im Rückenmark stimulieren
Konsumform: geraucht, gegessen,
geschnupft oder intravenös injiziert
Wirkung: vom überschwänglichen Glücksgefühl (Heroin) bis fantasieanregend
und (erotische) Halluzinationen auslösend
Prävalenz: Die Zahl der „problematischen Opioidkonsumenten“ wird auf 1,4
Millionen Europäer geschätzt. Drei Prozent
aller drogeninduzierten Todesfälle unter
Europäern zwischen 15 und 30 Jahren
hängen mit Opioiden zusammen.
Risiken: starke Abhängigkeit, Tod bei
Überdosierung, schwere Entzugserscheinungen („Turkey“) – vor allem bei Heroin
Herkunft und Geschichte: Opioide
traten vor über 8.000 Jahren in der heutigen
Türkei als Opium auf, der aus dem Schlafmohn gewonnen wurde. Genutzt wurde
der zu Pillen verarbeitete Saft angeritzter
unreifer Mohnkapseln als schmerzstillende
Medizin. Geraucht wird Opium erst seit der
Entdeckung Amerikas durch die Europäer,
DRÄGERHEFT 392 | SPEZIAL
Wirkstoff: Morphin Ò Opioid
Alles geregelt: „Wer Opium rauchen will,
hat persönlich einen Erlaubnis-Schein
beim zuständigen Opium-Beamten zu lösen.
Die Gebühr für diesen Schein beträgt
monatlich einen Dollar und ist vierteljährlich
im Voraus zu entrichten.“ Paragraph 5
der 1912 vom Kaiserlichen Gouverneur
Meyer-Waldeck in Tsingtau erlassenen
„Verordnung über Opium“.
Speedball Mischung von
Kokain mit Morphium oder Heroin
Redaktionsschluss: Der Arzt Lord
Dawson of Penn spritzte dem todkranken
britischen King George V. am 20. Januar
1936 gegen 23.55 Uhr eine tödliche
Mischung aus Kokain und Morphium,
„damit die Nachricht vom Tod des
Königs noch die Morgenausgaben der
Zeitungen erreichen …“.
Valium
Ò Benzodiazepine
Wenn die Kleinen nerven: „And though
she’s not really ill, there’s a little yellow
pill“ („Mother’s Little Helper“, The Rolling
Stones, 1965)
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Sachnummer: 90 70 328
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