AVWS - Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie eV
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AVWS - Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie eV
Leitlinie Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie Kapitel I: Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen – Definition M. Ptok, A. am Zehnhoff-Dinnesen, A.Nickisch Das Hören als Sinnesfunktion dient ultimativ dazu, akustische Signale aus der Umwelt, auch bei Störgeräuschen, zu detektieren, wahrzunehmen und sinn- und zielgerecht zu verwerten. Akustische Signale können verschiedenste Qualitäten haben. Eine Sonderform stellen die akustischen Signale dar, die der Kommunikation dienen. Solche akustischen Signale können einen linguistischen Inhalt haben, d.h. sie sind gültige lautsprachliche Zeichen eines Sprachsystems, das sowohl Sender als auch Empfänger als Sprachsignal bekannt ist [3]. Kleinste prototypische Einheiten eines Sprachsystems sind Phoneme, die tatsächlich realisierten akustischen Signale werden Phone genannt [6]. Die akustischen Eigenschaften von Phonen, die den linguistischen Inhalt eines Phonems repräsentieren sollen, können u.a. kontext- und sprechabhängig deutlich variieren. Der Gesamtprozess des Hörens kann, auch in diagnostischer und therapeutischer Hinsicht, grob in folgende Teilfunktionen unterteilt werden (Übersicht s. [12]): Im äußeren Ohr (Ohrmuschel und Gehörgang) wird das Schallsignal auf das Trommelfell geleitet. Hierbei kommt es zu einer Modifizierung des Frequenz-Intensitätsverhältnisses des ursprünglichen Schallsignals. Die Verstärkung beträgt bei Säuglingen und Kleinkindern bis zu 20 dB bei 3-4 kHz, also in dem Frequenzbereich, der für das Verstehen von Sprache besonders wichtig ist. Am Trommelfell als Grenze zwischen äußerem Ohr und Mittelohr wird das Schallsignal von einem Luftschall in einen Körperschall umgewandelt. Eine weitere Aufgabe des Trommelfells ist die Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungstörungen -- Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie Schallprotektion, d.h. durch ein intaktes Trommelfell wird vermieden, dass Schallsignale gleichzeitig am runden und ovalen Fenster des Innenohres auftreffen. Im Mittelohr mit den Gehörknöchelchen Hammer, Amboss und Steigbügel wird der Körperschall zum Innenohr transportiert. Die spezielle Anordnung des Trommelfells und der Gehörknöchelchen bewirkt neben einer Vorverstärkung eine Impedanzanpassung vom akustischen Widerstand der Luft zum akustischen Widerstand der Innenohrflüssigkeiten: Würde das Schallsignal unmittelbar auf die flüssigkeitsgefüllten Räume der Hörschnecke treffen, würde der größte Teil der Schallenergie reflektiert werden und könnte nicht für den eigentlichen Hörvorgang ausgenutzt werden. Im Innenohr wird zunächst die mechanische Energie des Schallsignals nochmals aktiv verstärkt (elektromechanische Transduktion) und anschließend in bioelektrische Energie (Nervenimpulse mechanoelektrische Transduktion) umgewandelt. Diese beiden Prozesse können nur funktionieren, wenn bestimmte Ionenkonzentationsgradienten bestehen und die schwingenden Teile im Innenohr exakt aufeinander abgestimmt sind. Bereits im Innenohr findet nicht nur eine 1:1 Umwandlung akustischer Energie in bioelektrische Signale, sondern schon eine weitergehende Kodierung statt. Die Impulse werden im Hörnerv zum Nucleus cochlearis im Hirnstamm weitergeleitet. Im Hirnstamm werden akustisch evozierte Nervenimpulse verarbeitet (Kodierung von Frequenz, Intensität, Funktionen Phase und Stimulationszeit, Lokalisation, Summation, Signal-Merkmalsextraktion). Dies ermöglicht die Fusion, Separation, Diskrimination, Identifikation, Differenzierung und Integration von Signalen. Dem auditorischen Kortex (primäre, sekundäre und tertiäre Felder) werden die Funktionen Lautund Geräuschempfindung, Klang- und Wortverständnis, akustische Aufmerksamkeit und Speicherung von Wort-, Musik- und Sprachinhalten zugeschrieben. Bei einer Hörstörung können alle Teilfunktionen einzeln oder in Kombination betroffen sein. Grob orientierend spricht man von einer Schallleitungsschwerhörigkeit, wenn der Schalltransport bis zum ovalen Fenster gestört ist. Ist die Umwandlung der mechanischen Energie des Schalls in ein Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungstörungen -- Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie bioelektrisches Signal gestört, spricht man von einer Schallempfindungsschwerhörigkeit. Unter einer auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung versteht man die Störung der Verarbeitung (Hirnstammniveau) und Wahrnehmung (höhere auditorische Funktionen unter Einbeziehung kognitiver Funktionen) dieser nervalen Impulse [1]. Alle Einteilungen in periphere versus zentrale Schwerhörigkeiten, auditorische Verarbeitungstörungen (engl.: auditory processing disorders), Fehlhörigkeiten, (zentral-) auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen etc. haben Vor- und Nachteile bzw. zwangsläufig Unschärfen. So muss man z.B. den N. acusticus funktionell zum zentralen Hörsystem zählen, wenngleich er anatomisch zum peripheren Nervensystem gehört. Unter diesen Gesichtspunkten beginnt das zentrale Hören teilweise bereits in der „Hörperipherie―, nämlich in der Hörschnecke. Eine solche eher anatomisch orientierte Unterscheidung zwischen peripheren i.S. von cochleabasierten versus zentralen i.S. von ZNS-basierten Schwerhörigkeiten ist bereits unscharf. Auch die Tatsache, dass bereits in der Cochlea eine Hörverarbeitung stattfindet [14], unterstreicht das Argument der Unschärfe der derzeit gängigen Definitionen. Daher wäre (fast) jede cochleäre Läsion gleichzusetzen mit einer peripheren und einer zentralen Hörminderung. In Folge dessen richtet sich die Einteilung der Hörstörungen (Schallleitungsschwerhörigkeit, Schallempfindungsschwerhörigkeit, auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung) nach dem diagnostizierten Schwerpunkt der vorliegenden Erkrankung. Sind die funktionstragenden Strukturen des Innenohres fehlgebildet oder durch ein Trauma (z.B. Schalltrauma, Intoxikation) geschädigt, liegen neben der cochleären Schädigung häufig auch Beeinträchtigungen der auditiven Verarbeitung und Wahrnehmung vor. Diese -möglicherweise aus der peripheren Schädigung resultierenden- Beeinträchtigungen der auditiven Verarbeitung und Wahrnehmung- sollten allerdings nicht zu dem Krankheitsbild der Auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung gezählt werden. Ist nachzuweisen oder zu vermuten, dass die äußeren Haarzellen voll funktionsfähig sind (nachgewiesen durch reproduzierbare otoakustische Emissionen), jedoch Funktionsstörungen der Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungstörungen -- Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie inneren Haarzellen, der synaptischen Übertragung und/oder der Weiterleitung im Ganglion bzw. Nervus acusticus vorliegen, zählen diese Störungen u.E. ebenfalls zu den auditiven Verarbeitungsund Wahrnehmungsstörungen. Sollte eine entsprechenden Befundkonstellation (bei nachweisbaren evozierten otoakustischen Emissionen und fehlenden oder deformierten Potentialen bei der Ableitung auditorisch evozierter Potentiale) bestehen, sollte neben dem Begriff "auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung― unbedingt der Begriff "auditorische Synapto-/Neuropathie" bzw. "perisynaptische Audiopathie" hinzugefügt werden [4]. Noch komplexer ist die Argumentationslage, wenn die Sinnesfunktion Hören (i.S. der o.g. sinn- und zielgerechten Verwertung akustischer Signale) trotz nachgewiesener regelrechter cochleärer Funktion beeinträchtigt ist. Patienten, die von einer solchen Störung betroffen sind, können z.B. klagen über [4] Probleme mit dem Verstehen auditiver Informationen Missverständnisse bei verbalen Aufforderungen verlangsamte Verarbeitung von verbalen Informationen verzögerte Reaktion auf auditive oder verbale Stimuli schwaches auditives Gedächtnis gestörte Erkennung und Unterscheidung von Schallreizen gestörte Schallquellenlokalisation Einschränkungen des Sprachverstehens und des Fokussierens im Störgeräusch Einschränkungen beim Verstehen von veränderten Sprachsignalen (z. B. unvollständige oder in der Redundanz reduzierte Sprachsignale) Beeinträchtigung der auditiven Aufmerksamkeit. Hören i.S. der sinn- und zielgerechten Verwertung akustischer Signale ist kein rein sensorischer Vorgang, sondern erfolgt unter Einbeziehung kognitiver Fähigkeiten. Aus verschiedenen Bereichen der Kognitionsforschung stammen wertvolle Erkenntnisse und sind Begriffe vorgeschlagen, die ähnliche, aber distinkte, überlappende und / oder identische (Teil-) Funktionen bezeichnen. Als Beispiel sei hier Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungstörungen -- Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie die Gedächtnisforschung mit der Identifizierung mnestischer Defizite erwähnt. Hören im umfassenden Sinn umfasst auch das Hörgedächtnis, das aus der Sicht der Gedächtnisforschung als phonetischer Speicher, phonologische Schleife usw. bezeichnet wird [5]. Als weiteres Beispiel sei die Phonetik respektive Linguistik genannt: die kurzfristige Speicherung von Sprachschallsignalen (phonologisches Arbeitsgedächtnis) wird hier als Teil der phonologischen Verarbeitung gewertet [8]. Jede Definition der auditiven Verarbeitung und Wahrnehmung respektive ihrer Störungen wird aufgrund der o.g. Sachlage Unschärfen und Überschneidungen mit anderen Definitionen beinhalten. Die American Speech-Language-Hearing Association (ASHA) definiert 2005 „(central) auditory processing― in ihrem Technical Report als „die Effizienz und Effektivität, mit der das zentrale Nervensystem (ZNS) auditive Information verarbeitet― [7]. Die auditive Verarbeitung umfasst demgemäß: auditive Lokalisation und Lateralisation auditive Diskrimination auditive Mustererkennung temporale Aspekte, einschließlich Zeitauflösung, Diskrimination, Integration, Maskierung, Sequenzierung auditive Leistung bei konkurrierenden akustischen Signalen auditive Leistung bei beeinträchtigter akustischer Signalqualität. In diese Definition bezieht die ASHA nicht mit ein: auditive Aufmerksamkeit auditives Gedächtnis phonologische Bewusstheit auditive Synthese Verstehen und Interpretieren auditiver Information. Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungstörungen -- Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie Ähnlich dazu hat die britische Audiologische Gesellschaft ihre Arbeitsdefinition [1] definiert: ―APD results from impaired neural function and is characterized by poor recognition, discrimination, separation, grouping, localization, or ordering of non-speech sounds. It does not solely result from a deficit in general attention, language or other cognitive processes‖. Im Gegensatz dazu führte das Konsensuspapier der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie aus, dass unter auditiver Verarbeitung die neuronale Weiterleitung, Vorverarbeitung und Filterung von auditiven Stimuli auf verschiedenen Ebenen des Hörsystems zu verstehen ist [4,9]. Die auditive Wahrnehmung stellt die zu höheren Zentren hin zunehmend bewusste Analyse auditiver Informationen dar. Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen (AVWS) sind Störungen zentraler Prozesse des Hörens, die u.a. die vorbewusste und bewusste Analyse, Differenzierung und Identifikation von Zeit-, Frequenz- und Intensitätsveränderungen akustischer oder auditiv-sprachlicher Signale sowie Prozesse der binauralen Interaktion (z.B. zur Geräuschlokalisation, Lateralisation, Störgeräuschbefreiung und Summation) und der dichotischen Verarbeitung ermöglichen. Nach ausführlichen Diskussionen in der Arbeitsgruppe AVWS der DGPP und nach dem Studium der einschlägigen Fachliteratur kommen die Mitglieder der AG AVWS zu dem Schluss, dass es richtig und sinnvoll ist, diese Definition zu belassen. Sie meinen allerdings, dass diese Definition wie folgt ergänzt werden muss: Kann die gestörte Wahrnehmung akustischer Signale besser durch andere Störungen, wie z.B. Aufmerksamkeitsstörungen, Störungen o.ä. allgemeine beschrieben kognitive werden, sollte Defizite, der modalitätsübergreifende Begriff auditive mnestische Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung nicht verwendet werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn durch normierte und standardisierte psychoakustische Tests eine Störung nicht nachgewiesen werden kann. Für das Vorliegen einer auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung spricht, wenn sich durch normierte und standardisierte psychoakustische Tests Einschränkungen der auditiven Verarbeitung und Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungstörungen -- Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie Wahrnehmung nicht-sprachgebundener Signale oder sprachlicher Signale (i.S. von akustischen Signalen mit linguistischem Load) nachweisen lassen. Dies soll in zwei Beispielen erläutert werden: 1: Bei einem Kind wird eine Phonemdiskriminationsschwäche nachgewiesen. Ist gleichzeitig die Frequenz- und Intensitäts-Unterscheidungsfähigkeit beeinträchtigt, spricht dies für eine auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung. Ein kausaler Zusammenhang der mangelhaften Frequenz- und Intensitäts-Unterscheidungsfähigkeit mit dem Phonemdiskriminierungsdefizit kann lediglich vermutet werden, aber nicht als bewiesen gelten (siehe z.B. [10]). Sind die sogenannte basale auditorische Verarbeitung (z. B. Frequenz- und Intensitätsauflösungsvermögen, Gap detection) sowie sonstige psychoakustische Testergebnisse (z.B. Hören im Störgeräusch, dichotisches Hören) regelrecht und liegen gleichzeitig Defizite der phonologischen Bewusstheit sowie des phonologischen Arbeitsgedächtnisses vor, lassen sich – auch für therapeutische Konsequenzen – die Defizite entweder als „Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung mit Schwerpunkt der auditiv-sprachlichen Verarbeitung― oder, wenn gleichzeitig eine Sprachentwicklungsstörung besteht, als „Störung der phonologischen Bewusstheit und des auditiven Kurzzeitgedächtnisses im Rahmen einer Sprachentwicklungsstörung― beschreiben. 2. Bei einem Kind werden bei der Sprachaudiometrie mit Störschall Defizite festgestellt. Lässt das Verhalten während der Testung vermuten, dass das Kind den Test aufmerksam absolviert hat, ist von einem sogenannten „auditory streaming deficit― (siehe z.B. [2]) auszugehen, unabhängig davon, ob Testergebnisse zur Störgeräuschbefreiung bei nichtsprachlichem Testmaterial (z.B. Untersuchungen zur „Masking Untersuchungsergebnisse zur level difference―) auditiven auffällig Verarbeitung und waren oder nicht. Wahrnehmung Sind unauffällig, andere sollte zusammenfassend dies in der Diagnose beschrieben werden (Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung mit nachweisbar gestörtem Hören im Störschall). Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungstörungen -- Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie War das Kind bei der Testung unaufmerksam bzw. unkonzentriert, sollte eine Aufmerksamkeitsstörung ausgeschlossen werden. Aufgrund dieser Definition lassen sich verschiedene Formen der AVWS kennzeichnen: Einerseits können „AVWS mit Schwerpunkt defizitäre auditive Verarbeitung―, andererseits „AVWS mit Schwerpunkt defizitäre auditiv-sprachliche Verarbeitung" sowie auch Kombinationen beider beschrieben werden. „AVWS mit Schwerpunkt defizitäre auditive Verarbeitung" weisen Defizite auch in den sprachfreien Funktionen bzw. der basalen auditiven Verarbeitung und/oder in schwierigen auditiven Situationen (z.B. bei Hören im Störgeräusch, bei mehreren Gesprächspartnern, bei schneller oder undeutlicher Sprechweise, bei dichotisch angebotener Sprache) auf. Dagegen lassen sich "AVWS mit Schwerpunkt defizitäre auditiv-sprachliche Verarbeitung" insbesondere durch Störungen der Phonemdifferenzierung, der Phonemidentifikation, -analyse, -synthese und/oder des auditiven Kurzzeitgedächtnisses beschreiben, ohne dass eine Störung der basalen auditiven Verarbeitung nachweisbar ist. Liegt eine Kombination beider vor, besteht eine „AVWS mit defizitärer auditiver und auditiv-sprachlicher Verarbeitung―. Mit dieser Regelung soll wissenschaftlichen Erkenntnissen Rechnung getragen werden, die u.a. zeigen, dass Defizite der basalen auditorischen Verarbeitung zwar in einem engen Zusammenhang mit höheren Verarbeitungs- und Wahrnehmungsfähigkeiten stehen können, dass aber basale auditorische Verarbeitungsdefizite weder eine notwendige noch hinreichende Voraussetzung für „höhere― auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsdefizite wie defizitäres phonologisches Arbeitsgedächtnis oder defizitäre auditive Aufmerksamkeit sind (z.B. [11,13]). Liegt ein Defizit der auditiven Verarbeitung und Wahrnehmung gleichzeitig für sprachfreie und für sprachgebundene Signale vor, so kann nach derzeitigem Kenntnisstand nicht sicher abgeschätzt werden, inwieweit die Defizite der Verarbeitung und Wahrnehmung sprachfreier Signale in einem kausalen Zusammenhang mit der Verarbeitung und Wahrnehmung sprachgebundener Signale stehen. Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungstörungen -- Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie Aus diesen Gründen sollte in jedem Fall der Begriff „Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung“ nur mit genauer Beschreibung der diagnostizierten Defizite verwendet werden, also z.B. „Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung mit basalen auditorischen Defiziten der Frequenzauflösung und Phonemdiskriminationsschwäche sowie eingeschränkter Hörmerkspanne“. Die bisherigen Ausführungen betreffen ausschließlich die auditive Modalität und machen deutlich, dass eine AVWS isoliert oder in Kombination mit Störungen der visuellen Wahrnehmung oder anderen Wahrnehmungsstörungen einher gehen kann. Es ist auch möglich, dass auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen mit Aufmerksamkeitsstörungen und Einschränkungen intellektueller Fähigkeiten kombiniert sind. In diesen Fällen muss im Rahmen der Diagnostik ermittelt werden, ob die auditiven Defizite einen bedeutsamen Schwerpunkt des Gesamtstörungsbildes einnehmen, nur dann sollte die Bezeichnung AVWS gewählt werden. Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungstörungen -- Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie Kapitel II: Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen – Diagnostik M. Gross, R. Berger, R. Schönweiler, A. Nickisch A. Ziel der Diagnostik Die folgende Leitlinie widmet sich den Methoden der Diagnostik von Auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen (AVWS), d.h. psychoakustischen und elektrophysiologischen Tests, einschließlich der in Pegel, Frequenz und zeitlichen Parametern kontrollierten Stimuli und deren Reizantworten sowie auch den sprachgebundenen auditiven Verfahren entsprechend der Leitlinie zur Definition der AVWS [B1]. Das Ziel der phoniatrisch-pädaudiologischen Überprüfung ist die Bestätigung oder der Ausschluss einer AVWS. Sowohl die Beurteilung der auditorischen Fähigkeiten, als auch die Empfehlungen für die Behandlung einer AVWS sind Gegenstand phoniatrisch-pädaudiologischer Tätigkeit. Jedoch setzen die Überprüfung, das Management und die Behandlung der AVWS ein spezielles Wissen in der auditorischen Neurowissenschaft und den damit zusammenhängenden Gebieten voraus, so dass nur Phoniater und Pädaudiologen oder speziell ausgebildete Fachärzte mit der notwendigen Erfahrung diese Aufgabe erbringen sollten [analog B2, B3]. Da die Diagnose einer AVWS oft den Ausschluss oder die Komorbidität anderer Störungsformen einschließt, die sich mit ähnlichen Symptomen wie z. B. eine periphere Hörstörung, ADHS, Sprachstörungen und auditorische Neuropathie äußern, wird ein interdisziplinäres Vorgehen empfohlen. Weiteres Ziel der AVWS-Diagnostik muss es sein, basierend auf den bisher vorhandenen neurophysiologischen und psychoakustischen Erkenntnissen, einerseits das symptomatische Defizit möglichst exakt zu beschreiben und andererseits Hinweise auf die Ursache (einschließlich Lokalisation) der Dysfunktion zu gewinnen. Darüber hinaus muss die Auswertung und Interpretation der subjektiven Tests sowohl unter quantitativen als auch unter qualitativen Gesichtspunkten erfolgen, um die Defizite Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungstörungen -- Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie therapiegerichtet möglichst genau aufschlüsseln zu können. Schließlich darf die Diagnostik nicht nur defizitorientiert ausgerichtet sein, sondern muss als Basis für den zu erstellenden Behandlungsplan die als Kompensationen nutzbaren Fähigkeiten der Kinder hinreichend herausarbeiten. Bei den folgenden Ausführungen ist zu berücksichtigen, dass der gesamte Prozess der Verarbeitung, Wahrnehmung und Verwertung akustischer Signale ein eng ineinander verwobener, zum Teil hierarchischer Prozess ist [s. hierzu u. a. B4, B5, B6, B7], an dem eine Vielzahl von u.a. serialen, parallelen und kommissuralen neuronalen Netzwerken beteiligt ist. Der Begriff Verarbeitung wird im Folgenden im Sinne einer neuronalen Weiterleitung sowie Vorverarbeitung und Filterung von auditiven Signalen bzw. Informationen auf verschiedenen Ebenen (Hörnerv, Hirnstamm, Kortex) verwendet [s. hierzu B8, B9, B10, B11, B12]). Die Wahrnehmung (= Perzeption) wird als ein Teil der Kognition1 im Sinne einer zu höheren Zentren hin zunehmenden bewussten Analyse auditiver Informationen verstanden. Diese kommt durch o.g. Signalverarbeitung, so genannte „bottom-up―-Prozesse und zunehmende Beeinflussung durch Vigilanz, Aufmerksamkeit und Gedächtnis so genannte down―-Prozesse zustande [B14]. 1 Der Begriff Kognition bezieht sich auf alle Prozesse, durch die Wahrnehmungen transformiert, reduziert, verarbeitet, gespeichert, reaktiviert und verwendet werden. Er umfasst diese Prozesse auch dann, wenn relevante (äußere) Stimulierung fehlt, wie dies bei Vorstellungen und Halluzinationen der Fall ist [13]. „top- B. Screeningtests/Anamnese für die Audiometrie Grundsätzlich sollten Screeningtests klare Kriterien aufweisen, um Betroffene mit einer spezifischen Störung herauszufiltern. Für die AVWS gilt, dass weder im angloamerikanischen Raum noch im europäischen Raum ein übereinstimmend anerkanntes AVWS-Screening etabliert wurde. Die Krankengeschichte, Verhaltensschilderungen und Fragebögen (z.B. Anamnesebogen zur Erfassung Auditiver Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen der DGPP) sind hilfreich, um herauszuarbeiten, ob bei einem Kind die auditiven Wahrnehmungs- und Verarbeitungsfähigkeiten näher untersucht werden sollten. Deutliche Hinweise auf eine AVWS können unter anderem sein: Schwierigkeiten beim Hören und/oder Verstehen bei gleichzeitigen Hintergrundgeräuschen, Schwierigkeiten beim Verstehen von Sprache mit reduzierter Redundanz (degraded speech), Schwierigkeiten, im Klassenzimmer gesprochenen Instruktionen zu folgen, ohne dass Sprachverständnisprobleme auftreten, Schwierigkeiten mit der Diskrimination und Identifikation von Sprachlauten und inkonsistente Antworten auf auditorische Stimuli oder inkonsistente auditorische Aufmerksamkeit. Die Erfahrungen zeigen, dass viele (aber nicht alle) Kinder, die beim Phoniater und Pädaudiologen vorgestellt werden, bereits vorher durch Logopäden, Sprachtherapeuten, Psychologen, Lerntherapeuten, Lehrer und/oder Eltern eingeschätzt wurden, so dass die daraus folgende phoniatrisch-pädaudiologische Untersuchung einer AVWS auf einem begründeten Verdacht beruht. Die Diagnose einer AVWS mit Konsequenzen hinsichtlich der ICD-10-Klassifikation und Heilmittelrichtlinien kann weder alleine aufgrund einer Sprachdiagnostik, noch aufgrund einer entwicklungspsychologischen Untersuchung, noch alleine über AVWS-Screeningtests gestellt werden, sondern nur durch die umfassende pädaudiologische Diagnostik. Vor der Evaluation einer AVWS mit audiologischen Tests muss das periphere Hörvermögen untersucht werden, zusätzlich ist eine Binokularmikroskopie der Gehörgangs- und Mittelohrstrukturen vorzunehmen. Der Hörtest schließt ein Tonaudiogramm mit Luft- und Knochenleitung ein, eine Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungstörungen -- Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie seitengetrennte Sprachaudiometrie und eine Tympanometrie, ggf. auch die Messung von Transitorisch Evozierten Otoakustischen Emissionen oder Distorsionsprodukten Otoakustischer Emissionen bzw. bei Unklarheiten bzgl. der Hörschwelle ggf. eine Hirnstammaudiometrie. Weder die ASHA-Leitlinien [B2, B3] noch die Aussagen von Jerger und Musiek [B15] sprechen dafür, das audiometrische „Gipfel und Täler― (d. h. Tonschwellen, die sich um mindestens 5 dB unterscheiden) oder angehobene bzw. fehlende Stapediusreflexe als Kriterium für die Diagnose einer AVWS herangezogen werden können [B16]. Evtl. periphere Hörstörungen sollten vor einer Testung der auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsleistungen behandelt sein, d.h. z.B. bei persistierenden Paukenergüssen durch operatives Vorgehen. C. Vorschlag einer Testkombination Ein hilfreicher Weg zur Kategorisierung diagnostischer Tests bei AVWS sind die den einzelnen Verfahren zugrunde liegenden auditorischen Funktionen, die die Tests zu evaluieren suchen. Bellis (17) erstellte die folgenden Kategorien diagnostischer Tests für AVWS, die auf auditorischen Funktionen und Fertigkeiten basieren: 1. Tests der auditiven Diskrimination (um die Fähigkeiten zwischen ähnlich klingenden sprachlichen und nicht-sprachlichen Stimuli einzuschätzen, z. B. Signale, die sich in Frequenz, Intensität oder Dauer unterscheiden; minimal kontrastierende Sprachlaute). Beispiel: Heidelberger Lautdifferenzierungstest, Subtest Phonemdifferenzierung, Minimalpaarlisten Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungstörungen -- Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie 2. Tests der auditiven zeitlichen Verarbeitung (um die Analysefähigkeiten von akustischen Stimuli über einen Zeitverlauf abzuschätzen, z. B. Gap Detection, auditorische Fusion, zeitliche Integration, Vorwärts- und Rückwärts-Maskierung). Beispiel: Gap-Detection-Test, Psychoakustisches Testsystem 3. Dichotische Sprachaudiometrietests (um die Fähigkeit einzuschätzen, auditorische Stimuli zu separieren oder zu integrieren, wobei dem rechten und linken Ohr verschiedene Signale simultan präsentiert werden, z. B. Silben, Zahlen, Wörter, Sätze). Beispiel: Dichotische Zahlen und Wörter (Uttenweiler, Feldmann; [Auswertungsmodus nach B18, B19] 4. Sprachaudiometrietests mit verminderter Redundanz, veränderter Sprache bzw. beeinträchtigter Sprachqualität (Auditory Closure Test) [um die Erkennung von Sprache mit reduzierter Redundanz (degraded speech) einzuschätzen, z. B. gefilterte Sprache, zeitkomprimierte Sprache oder Sprache im Störgeräusch]. Beispiel: Sprachaudiometrie im Störgeräusch (monaural), Hörtest mit zeitkomprimierter Sprache 5. Binaurale Interaktions-Tests [um die Verarbeitung einzuschätzen von binaural präsentierten Signalen, die interaurale Intensitäts- oder Zeitvariationen einbeziehen, wie z. B. masking level difference (MLD), Lokalisation und Lateralisation]. Beispiel: Richtungshörvermögen, Binauraler Summationstest, Sprachverstehen im Störschall aus unterschiedlichen Richtungen im Freifeld 6. Elektrophysiologische und damit zusammenhängende Testverfahren (um neurophysiologische Repräsentation auditorischer Signale einzuschätzen, wie auditorisch evozierte Potentiale, topographisches Brainmapping und Neuroimaging) die z. B. Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungstörungen -- Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie Beispiele: FAEP (Frühe Akustisch Evozierte Potenziale), SAEP (Späte Akustisch Evozierte Potenziale), ERP (Ereigniskorrelierte Potenziale), MMN (Mismatch Negativity) 7. Phonemdifferenzierungstests (um die Fähigkeit einschätzen, Phoneme zu unterscheiden). Beispiele: Minimalpaardiskrimination, Heidelberger Lautdifferenzierungstest, Heidelberger Vorschulscreening für auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen 8. Phonemidentifikationstests (um die Fähigkeit einzuschätzen, Phoneme korrekt zu erkennen. Beispiel: Heidelberger Lautdifferenzierungstest (Subtest 2) 9. Tests zum auditiven Kurzzeitgedächtnis (um die Merkfähigkeit im auditiven Bereich einzuschätzen). Beispiele: Kurzzeitgedächtnis für Zahlenfolgen (Psycholinguistischer Entwicklungstest, HAWIK-IV oder K-ABC), Kurzzeitgedächtnis für Wortfolgen (K-ABC), Kurzzeitgedächtnis für Sinnlossilbenfolgen (Mottiertest zur auditiven Differenzierungs- und Merkfähigkeit), Kurzzeitgedächtnis für komplexe Sätze (Subtest Imitation grammatischer Strukturen Heidelberger Sprachentwicklungstest), Verbaler Lern- und Merkfähigkeitstest (VLMT) 10. Tests zur phonologischen Bewusstheit (um die Fähigkeit einzuschätzen, bei der Aufnahme, der Verarbeitung, dem Abruf und der Speicherung von sprachlichen Informationen Wissen über die lautliche Struktur der Sprache heranzuziehen) Beispiele: Basiskompetenzen für Lese-Rechtschreibleistungen (BAKO 1-4), Subtest Laute verbinden (Psycholinguistischer Entwicklungstest) 11. Tests, die primär das Sprachverständnis untersuchen (um die Fähigkeit, Sprache zu verstehen, einzuschätzen und um Sprachverständnisstörung zu beurteilen) die Differenzialdiagnosen AVWS und Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungstörungen -- Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie Beispiele: Subtest Verstehen Grammatischer Strukturen (Heidelberger Sprachentwicklungstest), Test zur Überprüfung des Grammatikverständnisses (TROG-D), Sätze verstehen aus SETK 3-5. Ältere Arbeiten haben sich darauf konzentriert, eine minimale und/oder optimale Testbatterie zu beschreiben, die allerdings als Kompromiss aufzufassen ist hinsichtlich der Breite der auditorischen Verhaltensweisen und Fertigkeiten. Zum Beispiel schlugen Chermak & Musiek im Jahr 1997 [B20] eine Testbatterie vor, die aus dichotisch angebotenen Zahlen, Sequenzmustern, „competing sentences―, tiefpassgefilterter oder zeitkomprimierter Sprache sowie auditorisch evozierten Hirnstammpotentialen und mittleren Latenzantworten besteht. Jerger und Musiek [B15] empfahlen, dass eine Testbatterie mindestens ein Tonaudiogramm zum Ausschluss einer peripheren Hörstörung enthalten sollte, Verständnis-Intensitätsfunktionen für Worterkennung, ein dichotisches Verfahren, einen „duration pattern sequence test―, einen „temporal gap detection test―, Impedanzaudiometrie, otoakustische Emissionen, auditorische Hirnstamm- und mittlere Latenzantworten. Heute allerdings ist man der Auffassung, dass eine Testbatterie nicht spezifiziert sein sollte. Stattdessen wurde von Bellis [B17] vorgeschlagen, dass die Testkomponenten so zusammengestellt werden sollten, dass síe individualisiert auf das jeweilige Kind abgestimmt sind. Nickisch und Kiese-Himmel [B21] zeigten, dass den drei Tests „Sprachaudiometrie im Störgeräusch―, „Kurzzeitgedächtnis für Sinnlossilbenfolgen― und der Subtest „Phonemdifferenzierung― (aus dem Heidelberger Lautdifferenzierungstest) bei 8- bis 10-jährigen Kindern eine hohe diagnostische Wertigkeit bei der Diagnose einer AVWS zukommt. Zurzeit wird empfohlen: 1. Für jedes Kind sollte eine Testbatterie zusammengestellt werden, die eine ausreichende Breite aufweist, um die verschiedenen Ebenen und Mechanismen des auditorischen Systems Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungstörungen -- Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie abzubilden, während gleichzeitig die zugrunde liegenden Beschwerden berücksichtigt werden. Sofern möglich, sollten die Testergebnisse unabhängig miteinander korreliert werden, um so die Darstellung von Unterschieden des auditorischen Mechanismus darzustellen. 2. Beurteilungen von Sprechen, Sprache, Lernfähigkeit und Psyche sollten vor der audiologischen Einschätzung vorgenommen werden, so dass die Ergebnisse in den nachfolgenden Hörtests korrekt interpretiert werden können. 3. Tests, die zur Diagnose von AVWS genutzt werden, sollten altersgemäß sein und sowohl sprachlich basiertes (linguistically loaded) als auch sprachfreies (linguistically limited) Testmaterial enthalten. 4. Um „top-down―-Einflüsse zu vermeiden, sind die Auswahl der subjektiven Tests alters- bzw. sprach- und entwicklungsabhängig zu treffen sowie die linguistischen Anforderungen der einzelnen Tests zu berücksichtigen. Dies gilt auch für das erforderliche Aufgabenverständnis bei den nicht-sprachlichen auditiven Tests [B4, B22, B23, B24, B25, B26]. Spezifische diagnostische Kriterien zur Definition der AVWS müssen kontinuierlich weiterentwickelt werden. Testergebnisse werden üblicherweise interpretiert auf der Basis von normativen Daten (bezogen auf den Grad, zu dem ein Wert unter die alterskorrelierte Norm fällt, bevor eine Störung diagnostiziert wird). Generell sprechen Werte, die 2 oder mehr Standardabweichungen in mehr als einem Test unterhalb der Werte der Referenzpopulation liegen, kombiniert mit Symptomen, die nicht durch andere Bedingungen erklärt werden, für eine AVWS, da ansonsten ein großer Anteil von Kindern eines unauffälligen Kollektivs als Risikopopulation bezüglich einer AVWS angesehen werden muss [B22, B27, B28]. Die relative oder patientenbasierte Interpretation von Testwerten kann ebenso in dem diagnostischen Prozess genutzt werden [B2, B3, B22]. Hier werden die Testwerte eines Kindes relativ zu seinem individuellen Leistungsvermögen beurteilt (z. B. können Testwerte des rechten Ohres eines Kindes mit den Testwerten des linken verglichen werden). Die nachfolgenden Abschnitte bezüglich der Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungstörungen -- Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie Differentialdiagnose der AVWS liefern zusätzliche Informationen zur Interpretation der Testwerte. Weitere Forschungsaktivitäten und Konsensusstatements sind erforderlich, um universell akzeptierte diagnostische Kriterien zu erarbeiten. Ebenso ist es erforderlich, Beziehungen herzustellen zwischen den Testresultaten einer Defizitspezifität und der nachfolgenden Behandlung. Kürzlich empfahl die ASHA [B2, B3], dass eine klinische Entscheidungsanalyse angewandt werden soll, um eine AVWS-Testbatterie zusammenzustellen. Um die klinische Effizienz einer Testbatterie zu bestimmen, müssen die Beziehungen zwischen individuellen Testverfahren in der Testbatterie (d. h., ob die Tests positiv korrelieren, negativ korrelieren oder von einander unabhängig sind) bekannt sein. Weitere Forschungstätigkeit ist erforderlich, um die zugrunde liegenden Mechanismen im auditorischen System mit spezifischen Testprozeduren und Resultaten zu korrelieren, so dass neu erstellte Testbatterien auf der Basis von Sensitivität, Spezifität und Kosteneffizienz evaluiert werden können. Bislang ermöglicht die spezifische Erfassung der zu beobachtenden Probleme noch keine Etablierung eines „Gold-Standards― [B2, B3, B27, B29, B30, B31, B32], da für viele der genannten Tests Orientierungswerte normalentwickelter Kinder fehlen, die als Bezugsgröße für abweichende auditive Entwicklung herangezogen werden können. Erste Evaluationen einiger der im deutschsprachigen Raum verwendeten subjektiven auditiven Testverfahren wurden vorgenommen und ermöglichen erste Aussagen über die Sensitivität und Spezifität [B21, B28]. Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungstörungen -- Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie Kapitel III: Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen – Differenzialdiagnose A. Nickisch, R. Schönweiler Das Leitlinienkapitel „Differenzialdiagnose― widmet sich der Abgrenzung von Auditiven Verarbeitungsund Wahrnehmungsstörungen (AVWS) gegenüber u.a. Sprachverständnisstörungen, Aufmerksamkeitsstörungen sowie der Interpretation und Bewertung der Untersuchungsergebnisse. Die Leitlinien von AVWS bezüglich der Definition und der Diagnostik wurden bereits dargestellt [C1, C2]. Leitlinien zur AVWS bzw. (C)APD wurden seit den 1980er Jahren federführend in Nordamerika entwickelt und kontinuierlich der aktuellen Literatur angepasst. Nordamerikanische Leitlinien bauen, ausgehend von Papieren der American Speech Language Hearing Association (ASHA), aufeinander auf; dies gilt auch für die Leitlinie der kalifornischen Speech Language Hearing Association [C3] und die Leitlinie der American Academy of Audiology [C4]. Daher erschien es naheliegend, das aktuelle Papier der DGPP eng an diese gut durchdachten Vorbilder und besonders an die kalifornische Leitlinie anzulehnen. A) Differenzialdiagnose zwischen Sprachverständnisstörungen und Auditiven Verarbeitungsund Wahrnehmungsstörungen Die Sprachverständnis, Sprachverständlichkeit und Sprachverstehen werden oft verwechselt oder fälschlicherweise synonym verwendet, daher im Folgenden eine kurze Definition: unter dem sprachwissenschaftlichen Begriff „Sprachverständnis― versteht man die Fähigkeit, sprachliche Sinnzusammenhänge zu begreifen. Mit dem Begriff „Sprachverständlichkeit― quantifiziert man die Qualität der Aussprache eines Sprechers. „Sprachverstehen― ist ein audiologischer Begriff für die Menge korrekt verstandener Wörter in der Sprachaudiometrie, um einen Hörverlust zu quantifizieren; Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungstörungen -- Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie ein in der Sprachaudiometrie korrekt verstandenes Wort muss nicht notwendigerweise inhaltlich begriffen werden im Sinne des Begriffs „Sprachverständnis―. Im Gegensatz zu den sprachlich-auditiven Fähigkeiten (d.h. den auditiven Wahrnehmungsleistungen, z.B. Phonemdifferenzierung, Phonemidentifikation, Phonemsynthese und –analyse) kommen Sprachverständnisstörungen in speziellen Problemen des Wortverständnisses, des Begreifens von Satzarten, von Grammatikformen, Passivsätzen, Präpositionen, W-Fragen o.ä. zum Ausdruck [C3]. Die Abgrenzung zwischen AVWS auf der einen und Sprachverständnisstörungen in engerem Sinne auf der anderen Seite sollte im Rahmen der phoniatrisch-pädaudiologischen Diagnostik in jedem Fall erfolgen. Sprachverständnisauffälligkeiten können einerseits Folge einer Auditiven Verarbeitungsund Wahrnehmungsstörung sein, andererseits jedoch auch ein Teilsymptom einer Sprachentwicklungsstörung darstellen bzw. kann auch eine Kombination beider vorgenannten Möglichkeiten vorliegen [C5]. Um zu einer Differenzialdiagnose zwischen Sprachverständnisstörung und Auditiver Verarbeitungsund Wahrnehmungsstörung zu gelangen, müssen die Testergebnisse der auffälligen Hörverarbeitungs-/Hörwahrnehmungstests mit denjenigen der Sprachverständnistests verglichen werden. Liegt das Sprachverständnis deutlich unterhalb der auditiven Leistungen, ist vorrangig eine Sprachverständnisstörung anzunehmen. Dagegen sind die Sprachverständniseinschränkungen bei Kindern mit einer Auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung meist deutlich dezenter als die Leistungseinschränkungen im auditiven Bereich. Bei einer modalitätsspezifischen Auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung sollten sich demzufolge im Vergleich zu den auditiven Leistungseinschränkungen geringere, jedoch insbesondere keine primären Einschränkungen im Sprachverständnistest feststellen lassen [C5]. Die Einschätzung des Sprachverständnisses ist bei der Diagnostik von AVWS in jedem Falle erforderlich, um mögliche Koinzidenzen bei verbalen Testinstruktionen auszuschließen [C3, C5]. Differenzialdiagnostisch einsetzbare Tests, die primär das Sprachverständnis untersuchen: Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungstörungen -- Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie U.a. Subtest Verstehen Grammatischer Strukturen (Heidelberger Sprachentwicklungstest), Test zur Überprüfung des Grammatikverständnisses (TROG-D), Subtests Sätze verstehen und Wörter verstehen aus dem Sprachentwicklungstest für 3- bis 5-jährige Kinder (SETK 3-5). B) Differenzialdiagnose zwischen Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) und Auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen Kinder mit Auditiver Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung können gleichzeitig eine ADHSSymptomatik (einschließlich Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Mischformen) aufweisen. Deshalb muss sorgfältig sichergestellt werden, dass die Schwierigkeiten des Kindes mit auditiven Stimuli nicht aufgrund von Unaufmerksamkeiten, d.h. durch einen top-down-Prozess, entstanden sind. In diesem Sinne hat die Behandlung einer diagnostizierten ADHS Vorrang vor der Abklärung einer AVWS: - Tillery et al. [C6] konnten eine Verbesserung der Aufmerksamkeit unter einer Medikation mit Methylphenidat (5mg) feststellen, jedoch keinen Einfluss auf die AVWS- Untersuchungsergebnisse. Daher wird empfohlen, dass Kinder mit ADHS ihre Medikation vor der Testung der auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsleistungen einnehmen sollten. - Typisch für eine ADHS (oder eine Überforderung) ist es, wenn eine Vielzahl auditiver Testergebnisse normabweichend ausfallen. Zeigen sich aber individuelle Befundmuster, z.B. Auffälligkeiten in nur einigen Teilbereichen wie z.B. übereinstimmend in mehreren Tests des Sprachverstehens im Störschall oder beim auditiven Arbeitsgedächtnis, wobei aber in anderen Teilbereichen, besonders auch in visuellen Wahrnehmungstests, normale Ergebnisse vorliegen, so macht dies eine AVWS äußerst wahrscheinlich und spricht gegen eine ADHS bzw. zumindest dagegen, dass eine bereits erkannte und behandelte ADHS sich auf die Testergebnisse hinsichtlich AVWS auswirkt [C3]. Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungstörungen -- Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie - Für das Vorliegen einer Auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung spricht laut Chermak et al. [C7] ferner, wenn das Sprachverstehen unter Störgeräuschbedingungen deutlich unter den Ergebnissen ohne Störgeräusch liegt und/oder eine Beeinträchtigung der Phonemdifferenzierung auffällt. Die Beeinträchtigung des Sprachverstehens im Störschall sollte im Zweifelsfall (d.h. bei nicht eindeutig pathologischem Ergebnis in einem Test) mit weiteren Tests bestätigt werden, z.B. mit der Binaural Intelligibility Level Difference (B.I.L.D. [C8]) und/oder dem Oldenburger Kindersatztest (OlKiSa [C9]), für die Normwerte erarbeitet wurden. Zur Plausibilitätskontrolle dieser „subjektiven― Tests können „objektive― elektrophysiologische Messungen wie des binauralen Interaktionspotentials (BIC) eingesetzt werden [C10]. - Die Ergebnisse standardisierter Tests bei einem Kind mit ADHS können sich im Lauf der Untersuchung verschlechtern, wenn die Aufmerksamkeitsspanne zu lange belastet wurde. Die Ergebnisse werden reliabler und valider sein, wenn bei solchen Kindern die Untersuchung in mehreren kürzeren Einheiten stattfindet und nicht in einer langen 1 ½ bis 2 ½ -stündigen Testung. Bei auffälligen Testergebnissen von Kindern mit ADHS besteht in der Testwiederholung an einem Folgeuntersuchungstermin die Möglichkeit festzustellen, ob sich das betreffende Ergebnis reproduzieren lässt. - Die verkürzte Aufmerksamkeitsspanne der Kinder mit ADHS muss während des Testablaufs hinreichend berücksichtigt werden, z.B. in Form von Pausen, positiver Verstärkung der Bemühungen des Kindes, Aufmerksamkeitslenkung zur Untersuchungssituation hin..Die Testungen und Untersuchungen sollten grundsätzlich für eine Zeit eingeplant werden, in der das Kind voraussichtlich ausgeruht ist [C3, C5, C7], d.h. möglichst vormittags [C7]. - Bei einem Kind mit ADHS kann oft beobachtet werden, dass es den Testablauf z.B. durch Kommentare unterbricht oder sich visuell ablenken lässt und mit seiner Aufmerksamkeit nicht Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungstörungen -- Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie hinreichend bei der Testaufgabe ist. Die Dokumentation dieser qualitativen Beobachtungen ist wichtig, um beurteilen zu können, ob das Testergebnis des Kindes tatsächlich auf eine „input―Störung des auditiven Kanals zurückzuführen ist, oder auf eine Einschränkung der Aufmerksamkeitsfokussierung auf auditive Stimuli oder auf beide Faktoren. - Kinder mit ADHS haben nicht nur Schwierigkeiten bei auditiven Tests, sondern bei anderen strukturierten Aufgaben, z.B. beim Erledigen von Arbeitsblättern oder Hausaufgaben. Ein Kind mit lediglich einer AVWS sollte typischerweise besser bei visuellen Aufgaben abschneiden, z.B. bei Arbeitsblättern. Wenn der Untersucher ein generelles Problem mit der Aufmerksamkeit vermutet, sollte in jedem Fall eine Untersuchung im Hinblick auf eine Aufmerksamkeitsstörung veranlasst werden, bevor die Diagnose einer AVWS gestellt wird [C3]. Aus diesem Grund sollte der Diagnose und Therapie eines ADHS Vorrang vor einer Diagnose AVWS eingeräumt werden. C) Untersuchung von Kindern mit linguistisch oder kulturell unterschiedlicher Herkunft Die Interpretation von Ergebnissen in standardisierten Tests und von Spontansprachanalysen bei Kindern mit linguistisch und kulturell unterschiedlicher Herkunft sollte mit großer Sorgfalt und Zurückhaltung erfolgen. Die Untersuchung von Kindern in einer von der Muttersprache abweichenden Sprache stellt nicht immer einen validen Weg dar, um das Vorhandensein einer auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung festzustellen. Abhängig von der Zeitdauer, während der das Kind einer zweiten oder Muttersprachkompetenz ungünstig auch dritten Sprache beeinflusst werden, ausgesetzt z.B. war, durch zu kann wenig auch die Kontakt zur Muttersprache und zu geringe muttersprachliche Kommunikationserfahrung. Daher ist die Untersuchung von sprachbasierten auditiven Fähigkeiten, besonders solcher, die muttersprachliche Fähigkeiten in der Testsprache voraussetzen (z.B. Wiederholung von Wörtern oder Sätzen, das Umsetzen sprachlicher Aufforderungen oder das Zuhören bzw. Wiedergeben von Geschichten), für Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungstörungen -- Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie diese Kinder nicht angemessen, solange der Untersucher nicht sicher ist, dass die Ergebnisse nicht durch zu geringe Kenntnisse in der verwendeten Testsprache beeinflusst sind. Daher muss in solchen Fällen immer erfragt werden, ob die beobachteten Auffälligkeiten in beiden Sprachen beobachtet werden oder nur in einer bzw. nur in bestimmten Situationen, z.B. in der Schule. Bei einer AVWS sollten in beiden Sprachen des Kindes Auffälligkeiten zu beobachten sein [C3]. Bei Kindern, die mit mehreren Sprachen aufwachsen, wird empfohlen, bei den audiologischen Untersuchungen vorzugsweise Tests auszuwählen, die weniger abhängig von Sprachfähigkeiten sind, z.B. Frequenzmuster, Tests mit unterschiedlichen Tonhöhen, gap detection. Das Sprachniveau der auszuwählenden audiologischen Tests muss auf die deutschsprachlichen Fähigkeiten des Kindes abgestimmt werden [C3]. D) Untersuchung von Kindern mit Störungen aus dem autistischen Spektrum Kinder mit Störungen aus dem autistischen Spektrum werden häufig einer Diagnostik der auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsleistungen zugeführt. Hierbei muss berücksichtigt werden, dass Kinder mit autistischen Störungen bereits per definitionem eine schwere rezeptive Sprachstörung aufweisen können, die sich typischerweise in schweren Defiziten zeigt, auf auditiv-sprachliche Stimuli zu reagieren. Manchmal ist dies auch gekoppelt mit einer Überempfindlichkeit gegenüber bestimmten Geräuschen, die wiederum mit anderen sensorischen Integrationsstörungen einhergeht [C3]. Diese auditiven Auffälligkeiten sollten als Teil der zugrundeliegenden Störung bewertet werden und nicht als spezielles oder schwerpunktmäßig vorhandenes auditives Defizit. Zusätzlich ist zu berücksichtigen, dass bei den betreffenden Patienten die Antworten auf standardisierte Tests oft nicht reliabel sind, da sie abhängig von der Motivation der Kinder, der Aufmerksamkeit, dem Bekanntheitsgrad der Aufgabe, der Kognition und ihrer Arbeitsbereitschaft mit dem individuellen Untersucher sind. Insofern wird empfohlen, mit der Diagnose „Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung― bei Erkrankungen aus dem autistischen Formenkreis äußerst zurückhaltend zu sein [C3]. Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungstörungen -- Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie Dagegen kann bei Kindern mit milderer Symptomatik und unauffälliger Intelligenz, z.B. solchen mit einer nonverbalen Lernstörung oder einem Asperger Syndrom, eine separate und komorbide Diagnose einer AVWS möglich sein, wenn die Testergebnisse übereinstimmen und reliabel sind bzw. nicht beeinträchtigt werden durch kognitive, aufmerksamkeitsbedingte oder motivationale Aspekte. E) Differenzialdiagnose zwischen kognitiven Störungen und Auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen Im Rahmen der Diagnostik von einer Auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung wird eine ausführliche Intelligenzdiagnostik mit standardisierten Verfahren benötigt, um das kognitive Leistungsprofil im nichtsprachlichen und sprachlichen Bereich differenziert zu erfassen und mentale Entwicklungsstörungen zu identifizieren. Bei Einschränkungen des auditiven Kurzzeitgedächtnisses (z.B. für Wörter, Zahlen oder Sinnlossilben) muss geklärt werden, ob die Defizite im auditiven Kurzzeitgedächtnisbereich modalitätsspezifisch sind oder zusätzlich in anderen Sinnesmodalitäten (z.B. visuell oder visuell-motorisch) bestehen. Nur bei schwerpunktmäßig nachweisbaren oder modalitätsspezifischen Beeinträchtigungen im auditiven Bereich sollte die Diagnose einer Auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung gestellt werden [C5]. Dagegen sind bei modalitätsübergreifenden Kurzzeitgedächtnisdefiziten eher kognitive Beeinträchtigungen als eine Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung anzunehmen. Zusätzlich sind Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen u.a. gegenüber psychogenen Hörstörungen, zentralen Schwerhörigkeiten2, frühkindlichen Persönlichkeitsstörungen, emotionalen Störungen und Verhaltensstörungen abzugrenzen [C5]. F) Kinder mit Lese-Rechtschreibstörungen 2 Die „zentrale Schwerhörigkeit― ist charakterisiert durch erhaltene otoakustische Emissionen, regelrechte Hirnstammpotenziale, mäßig bis mittelgradig eingeschränktes Sprachverstehen und erhebliche Absenkung der Tonschwelle im Tonschwellenaudiogramm. Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungstörungen -- Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie Bei Symptomen einer Lese-Rechtschreibstörung ist eine detaillierte Diagnostik der Lese- und Rechtschreibleistungen mit standardisierten Verfahren erforderlich. Die in der Lese-Rechtschreibdiagnostik herausgearbeiteten Problembereiche sollten sorgfältig beschrieben und mit den sich darstellenden AVWS-Symptomen und den Leistungen in den audiologischen Tests verglichen werden. Z.B. können bei einer AVWS Schwierigkeiten beim Lesen sowie auch beim Buchstabieren gefunden werden, die sich z.B. in einer Beeinträchtigung der Phonem-Graphem-Korrespondenz oder in Graphemverwechslungen zeigen, obwohl eine suffiziente Instruktion in diesen Gebieten erfolgte. Nur ein Teil der Kinder mit Lese-Rechtschreibstörungen weist eine AVWS auf. Besteht zusätzlich eine AVWS, würde diese spezifische, auditiv ausgerichtete Maßnahmen erfordern (z.B. eine Verbesserung des Signal-Störgeräusch-Verhältnisses und Interventionen, die eine Verbesserung der Leistungen in den auffälligen Leistungsbereichen unterstützen können). AVWS-Profile unterscheiden sich, und demnach weisen Kinder mit AVWS unterschiedliche Arten von Fehlermustern in ihren Lese-, Buchstabier- und Rechtschreibleistungen auf. Es ist erforderlich, dass Kliniker sich in diesen Bereichen informieren und die Forschung vorantreiben, um besser in der Lage zu sein, Komorbiditäten zu identifizieren [C3], zumal der Zusammenhang zwischen AVWS und LeseRechtschreibstörungen nicht eindeutig belegt ist. Bei einer festgestellten Rechtschreibschreibstörung ist also das Fehlerprofil entscheidend, um die Erfolgsaussichten der Behandlung einer komorbiden AVWS abschätzen zu können. Beispielsweise ist von einem Training der Lautunterscheidung nur eine signifikante Verringerung von sog. Worttrennschärfefehlern zu erwarten und von einem Training des auditiven Arbeitsgedächtnisses sowie der Sequenzierung nur eine Verringerung von Wortdurchgliederungsfehlern. Für andere Fehlerarten, insbesondere sog. Regelfehler, ist durch eine auditive Therapie keine Verbesserung zu erwarten. Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungstörungen -- Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie G) Interpretation der Testergebnisse Wenn die phoniatrisch-pädaudiologischen und die ggf. weiteren Untersuchungen komplett durchgeführt sind, kann die Diagnose eine AVWS abgewogen werden, indem folgende Kriterien Berücksichtigung finden: - Das Verhalten und die Symptomatik des Kindes passen zu einer AVWS. - Die formalen Testungen zeigen übereinstimmend bedeutsame Schwächen in mindestens zwei AVWS-Tests, die wiederum nicht durch andere Faktoren erklärbar sind (z.B. Aufmerksamkeit, Kognition, peripheres Hörvermögen). Es sollte angestrebt werden, dass Testergebnisse 2 Standardabweichungen oder mehr vom kognitiven Leistungsniveau des Kindes abweichen, um als „bedeutsam― interpretiert zu werden. Bei Durchführung umfangreicherer Testkombinationen ist die Möglichkeit der Fehlerhäufung (Alpha-Fehler) zu berücksichtigen. - Vorhandensein von inter- und intraindividuellen Mustern, die eine AVWS anzeigen einschl. Ohrdifferenzen bei subjektiven oder Hemisphärendifferenzen bei den topografischen, physiologischen, d.h. den objektiven Tests. Dagegen sprechen eingeschränkte oder durchgehend niedrige Testwerte eher für eine globale Störung oder andere zugrundeliegende Ursachen als für eine AVWS [C3, C11, C12]. Genauso wie eine leichte periphere Hörstörung sich auf jede Person anders auswirken kann, je nach Bewältigungsressourcen, Hilfesystemen, schulischen Stärken, kann sich eine AVWS unterschiedlich auswirken. Insofern sollte der Einfluss einer AVWS auf ein Kind, das gleichzeitig emotionale und/oder psychische Komorbiditäten aufweist bzw. Verhaltens- oder Lernstörungen, nicht unterschätzt werden. Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungstörungen -- Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie Viele Faktoren können bestimmen, wie ein Kind in einem Test abschneidet. Komorbiditäten und die Qualität der Mitarbeit sollten mit berücksichtigt werden. Eine „Überinterpretation pathologischer Ergebnisse― droht u.a. bei folgenden Randbedingungen: - Frühgeburt, chronische Mittelohrentzündungen, chronische Atemwegsinfekte, verzögerte Sprachentwicklung, Hyperbilirubinämie und Kernikterus, auffälliges peripheres Hörvermögen - unkonzentriertes und unmotiviertes Antwortverhalten während der Durchführung der Tests, das oft schon zuvor aus dem Schulunterricht oder während der Übungstherapie oder allgemein in der sozialen Interaktion beobachtet wurde. Insbesondere sollte darauf geachtet werden, dass Ergebnisse aus Tests, die gleiche oder ähnliche Leistungen messen, zueinander passen (positiver „Cross-Check― [C4]). Andernfalls sollten Tests wiederholt werden. Außerdem wird darauf hingewiesen, dass auffällige Testergebnisse allein noch keine Indikation zu einer Therapie begründen; die festgestellten Einschränkungen sollten vielmehr zu den im Anamnesegespräch geschilderten Beschwerden passen [C3, C4]. Die Therapie sollte außerdem auf das gefundene Defizit ausgerichtet sein. Beispielsweise bieten sich für auditive Selektionsstörungen akustische Maßnahmen im Klassenraum, Sitzplatzmaßnahmen oder FMAnlagen an (die aber in Deutschland für die Indikation AVWS nicht in den Heilmittelrichtlinien enthalten sind); für Einschränkungen der Lautunterscheidungsfähigkeit oder des auditiven Arbeitsgedächtnis bieten sich entsprechende Übungen an. Dies alles bedeutet, dass die Interpretation der Testergebnisse mit größter Sorgfalt und Erfahrung erfolgen und hieraus defizitspezifische Konsequenzen für die Therapie abgeleitet werden sollten. Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungstörungen -- Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie Kapitel IV: Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen – Vorschlag für Behandlung und Management bei AVWS R. Schönweiler, A. Nickisch, A. am Zehnhoff-Dinnesen A. Forschung Unter einer auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung (AVWS) versteht man die Störung nervaler Impulse beim Hören [D63]. Die „Verarbeitung― umfasst Impulse auf Hirnstammebene bis hin zum primären auditiven Kortex. Unter „Wahrnehmung― versteht man höhere auditive Funktionen in sekundären Rindenfeldern unter Einbeziehung kognitiver, speziell auch sprachlicher Funktionen. Es wird immer noch kontrovers diskutiert, wie die Behandlung einer AVWS möglichst effektiv gestaltet werden kann [36]. Weitere Forschungsprojekte zum Vergleich verschiedener Therapieansätze und – verfahren müssen erst abgeschlossen werden, um die Zeit- und Kosteneffektivität der heute propagierten Verfahren beurteilen und Empfehlungen abgeben zu können. Bisher gibt es auch keine Erkenntnisse, mit denen die Chance der „Heilung― einer AVWS oder die „Normalisierung― eingeschränkter auditiver Leistungen abgeschätzt werden kann. Eine umfassende Beratung von Eltern/Bezugspersonen, Lehrern/Erziehern und gegebenenfalls Therapeuten dient dem besseren Verständnis der speziellen Probleme des Kindes mit AVWS im Alltag, in der Schule und in der Therapie. Generell sollte die Behandlung sowohl eine direkte Therapie, eine Verbesserung der Umgebungsbedingungen für das Sprachverstehen in der Schule und zuhause, kompensatorische Strategien, Veränderungen des Unterrichtsstils und, wenn für notwendig gehalten, eine Verbesserung des Signal-Rausch-Verhältnisses durch angemessene akustische Verstärkung umfassen. Das Verhalten des Kindes, seine kommunikative Kompetenz und seine Lernfähigkeit müssen im therapeutischen Procedere multidisziplinär berücksichtigt werden [D7]. Die Leitlinien von AVWS bezüglich der Definition und der Diagnostik wurden bereits dargestellt [D24, D61, D63]. Wie schon in der Leitlinie der Definition [D63] diskutiert, gibt es zur Zeit keine Grundlage dafür, eine Klassifizierung in AVWS-Subtypen zu propagieren, z.B. Bellis-Ferre-Modell oder BuffaloModell [D34]. Vielmehr seien alle klinisch Tätigen ermutigt, ein repräsentatives Spektrum typischer Symptome einer AVWS mit Messungen und Tests zu überprüfen und die Behandlung individuell an den Ergebnissen auszurichten. Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungstörungen -- Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie Die meisten Behandler sind der Ansicht, dass eine Kombination von Top-down- und Bottom-upAnsätzen besser geeignet und effektiver ist als ein einzelner Therapieansatz. Das bedeutet konkret, dass eine Kombination von Behandlungsmaßnahmen als besonders vorteilhaft angesehen wird [D3], die sowohl linguistische und kognitive Prozesse (Top-down) berücksichtigt, wie z.B. metakognitive Strategien oder Wortschatzerweiterung als auch zugrundeliegende auditive Defizite (Bottom-up). Da viele Kinder mit AVWS auch noch eine Übungstherapie zur Behandlung rezeptiver oder expressiver Sprachentwicklungsstörungen benötigen, sollte beachtet werden, dass sich diese beiden Übungsbereiche teilweise überlappen, was aber nicht bedeutet, dass die Förderung rezeptiver Sprachleistungen eine auditiv basierte Therapie für AVWS ersetzen soll; vielmehr kann es notwendig sein, beides anzubieten. Folgende Leitsätze sollten berücksichtigt werden: Die Behandlung sollte möglichst genau auf die beim Kind beobachteten auditiven Auffälligkeiten, die die Vorstellung des Kindes in der Einrichtung notwendig machten, und die durch Testergebnisse nachgewiesenen auditiven Schwächen abgestimmt sein. Die Behandlung muss auf die Verbesserung funktioneller und tatsächlich beobachtbarer Defizite abzielen; vermutete oder nicht messbare Defizite reichen nicht aus. Die Behandlung sollte hierarchisch strukturiert und physiologisch begründet sein, d. h. bedarfsorientiert angeboten werden und nicht zufällig, angebotsorientiert oder nach anderen Kriterien ausgewählt werden. Die Wirksamkeit der Behandlung sollte in regelmäßigen Intervallen kontrolliert und dokumentiert werden, z.B. auch als Effektgröße (z.B. in Standardabweichungen). Die Behandlungsziele müssen regelmäßig systematisch überprüft und ggf. überarbeitet bzw. an den aktuellen Stand des Kindes angepasst werden. B. Zu verbessernde Fähigkeiten und kompensatorische Strategien Die folgende Aufstellung enthält Beispiele von Fähigkeiten als angemessene Ziele für die Behandlung von AVWS. Die Liste enthält Behandlungsziele sowohl aus Top-down- als auch Bottom-upFunktionsbereichen. Die Fähigkeiten sollten nach der individuellen Notwendigkeit, d.h. in Abhängigkeit von dem Profil, das sich aus den diagnostischen Untersuchungen ergeben hat, ausgewählt werden. Die Effektivität der Behandlung sollte sowohl durch Verhaltensbeobachtungen untermauert als auch durch Tests objektiviert werden. 1. Zu verbessernde Fähigkeiten: Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungstörungen -- Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie a) Aufmerksamkeit für sinntragende Signale (z.B. Geräusche, Sprache und Musik): auditive Aufmerksamkeit/Vigilanz, Erkennen von Tonhöhen- und Lautstärkeveränderungen, Aufmerksamkeit hinsichtlich der Schallrichtung, Separation, Erkennen von Umgebungsgeräuschen, Gap detection, Verfolgen akustischer Muster, Erkennen zeitlicher Muster usw. [D15] b) Aufmerksamkeit für die sprechende Person, einschließlich Körperwahrnehmung, Aufrechthalten der Aufmerksamkeit, Blickkontakt [D48, D49] c) Auditive Diskrimination bzw. Unterscheidungsfähigkeit [D35, D75] d) Auditive Ergänzung (Herausfinden und Ergänzen eines fehlenden Sprachelements, z.B. /k/ im Wort Scho-olade) [D7] e) Auditive Ergänzung bzw. Anschub/Initiierung spezifischer „Reparaturmechanismen― für qualitätsverminderte Sprachsignale [D21, D48, D49] f) Phonologische Bewusstheit, einschl. Lautanalyse, Lautsynthese und Silbensegmentation [D7, D34, D44] g) Auditives Gedächtnis bzw. Behalten linguistischer Information, z.B. Verbessern der Zeitspanne, die ein Kind eine verbale Information halten kann, durch Anleitung zu dafür sinnvollen Strategien, z.B. in Form von Nachsprechen oder innerem Wiederholen und Bildung von Blöcken sprachlicher Information („chunking―) oder multimodaler Darbietung [D16, D43, D48, D49, D54] h) Verbesserung der auditiven Figur-Grund-Unterscheidung i) Fähigkeit, veränderte auditive Eingangssignale zu bewältigen, z.B. qualitätsverminderte bzw. verrauschte Sprachsignale oder erhöhte Sprechgeschwindigkeit [D50] j) Sprachverstehen im Störgeräusch k) Dichotisches Hören und Verstehen [D7], Übungen mit interauralen Zeit- und Intensitätsdifferenzen l) Interhemisphärischer Informationsaustausch über den Balken [D4, D6, D15], unimodal (z.B. Kombinieren prosodischer und linguistischer akustischer Merkmale) oder multimodal (z.B. nach Diktat schreiben oder gleichzeitig verbal ein Bild beschreiben und malen) 2. Kompensatorische Strategien: u. a. die Nutzung intakter auditiver Fähigkeiten die Modifikation von Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstrategien uni- und multimodal, z.B. visuelle Kompensation (Lippenlesen [D19], phonembestimmtes Manualsystem, lautsprachbegleitende Gebärden) die Arbeit mit taktil-kinästhetischen und motorisch-rhythmischen Elementen Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungstörungen -- Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie Angebot kleinerer Informationseinheiten a) Kompensatorische metakognitive Strategien: u. a. [D15, D16, D21, D48, D49, D64] die Eigenkontrolle des auditiv-verbalen Inputs das Verstehen einer Aufgabe die Identifikation der Hauptidee des Gesagten das Erkennen von Redundanz die Realisierung komplizierter Hörsituationen Strategien zur Vermeidung von Fehlern Reparaturstrategien effektive Problemlösungen Metagedächtnis-Strategien Visualisierung von akustischer und/oder sprachlicher Information [D5, D49] b) Kompensatorische metalinguistische Strategien: u. a. - das Erkennen linguistischer Strukturen - das Generieren von Vokabular in Abhängigkeit des Kontexts - die linguistische Segmentation - die Interpretation prosodischer Information, von Silbenbetonungen oder von anderen suprasegmentalen Merkmalen der Sprache [D7, D15, D35] - die Generierung von Metagedächtnis-Leistungen Für die zu verbessernden Fähigkeiten wurden Übungsmaterialien zusammengestellt, die den Therapeuten die Vorbereitung, Durchführung und Erfolgskontrolle ihrer Behandlung erleichtern sollten. Beispiele für Materialien in gedruckter Form (mit ergänzenden Handanweisungen) stammen von [D17, D42, D58, D59, D62]. Das erste Material wurde für medizinische Intervention im Krankheitsfall entwickelt („Übungstherapie―), die drei letztgenannten wurden als Prophylaxe für Kinder mit erhöhtem Risiko für (Laut- und oder Schrift)-Spracherwerbsstörungen, jedoch ohne Nachweis einer manifesten AVWS, konzipiert („Förderung―). Es gibt auch Materialien in elektronischer Form, d.h. in ein PC-Programm eingebettet, mit dem die Übungen von Therapeuten individuell für Patienten zusammengestellt werden können (Audiolog, Fa. Flexoft). Solche PC-Programme sind nicht zu verwechseln mit den unten erwähnten kommerziellen PC-Trainingsprogrammen, die keine Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungstörungen -- Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie Individualisierung der Übungssitzung erlauben und deren Ablauf sich daher nicht an ein festgestelltes Störungsprofil anpassen lässt. C. Sprachtherapie Wenn eine gleichzeitige Spracherwerbsstörung besteht, sollten folgende sprachliche Fähigkeiten zusammen mit den auditiven Fähigkeiten gestärkt werden: 1. Wortschatz und Konzeptbildung, durch Zuhilfenahme visueller/skizzierender und kontextueller Schlüsselmerkmale [D15, D48, D49] 2. Befolgen von sprachlichen Aufforderungen, die u.a. zeitliche und räumliche Aspekte beinhalten, ebenso wie Mengenbegriffe, Passivsätze, Präpositionen und Konjunktionen [u. a. D16, D64, D65] 3. Morphologische Markierungen und Syntax [D6] 4. „Höhere― bzw. kognitive Aufgaben wie schlussfolgerndes Denken, Umschreibungen, Vorhersage eines erwarteten sprachlichen Inhaltes, Erklärungen von Ursachen und Auswirkungen, Redensarten und Humor 5. Lese-Sinnverständnis [D34] 6. Schwierige Zuhöraufgaben, bei denen das Kind aus einem Text die wesentlichen Informationen erfassen und z.B. schriftlich notieren muss [D6, D35] 7. Verbesserung der Wortfindung, der Wort-Objekt-Assoziation [D65] D. Kommerzielle Trainingsprogramme Zur Zeit gibt es für englischsprachige Anwender kommerzielle Programme, deren Übungsablauf im Gegensatz zum oben erwähnten PC-Programm Audiolog weitgehend vorgegeben ist. Diese Trainingsprogramme werden zur Prophylaxe und zur Therapie bei nachgewiesener Auditory Processing Disorder (APD) angeboten und sollten diverse Leistungen der auditiven Verarbeitung und Wahrnehmung verbessern. Sofern die Anwendung im deutschsprachigen Bereich in Frage kommt oder zukünftig Übersetzungen dieser Programme entstehen, sollten die Behandler Wert darauf legen, jedes Programm nach wissenschaftlichen Prinzipien zu beurteilen und zu testen, bevor sie es zur Therapie eines Kindes verordnen. Nach Musiek et al. [D55] erlaubt die Plastizität im zentralen Hörsystem positive Effekte durch auditives Training. Die Autoren halten zur Motivation des Kindes eine Rückkopplung über die Richtigkeit der Antwort (Feedback) und ggf. eine positive Bestätigung für erforderlich. Wenn diese Rückkopplung in ein Spiel, z.B. in ein Computerprogramm, eingebettet würde, ist ihrer Meinung das Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungstörungen -- Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie Training besonders attraktiv. Die Trainingseffekte sollten mittels subjektiver Testverfahren oder auch objektiv, z.B. durch Messung ereigniskorrelierter Potentiale oder durch funktionelle Bildgebung, überprüft werden. Über Erfolge eines Trainings bzgl. der Zeitauflösung berichteten u. a. Tallal et al. [D78], bzgl. der auditiven Unterscheidungsfähigkeit Wheadon [D88], Woods und Yund [D89], Menning et al. [D51], Näätänen et al. [D56] sowie Kraus et al. [D40] und bzgl. der dichotischen Verarbeitung Musiek und Shochat [D53]. Mit Computerprogrammen könnten in der Regel Trainingsziele individuell definiert werden und die Kosten, insbesondere bei einem Training zuhause, wären gering. Nach Sweetow und Sabes [D77] dauern die Trainingseffekte über die Trainingsperiode hinaus an. Jedoch wären periodische Sitzungen zur Auffrischung ratsam. Nach Tremblay et al. [D84] und Ahissar et al. [D1] könnten Generalisierungen therapeutischer Fortschritte in Gestalt der Verbesserung nichttrainierter Leistungen beobachtet werden. Das Paradigma des „statistischen Lernens― nach Breitenstein et al. [D12] konnte erfolgreich bei Patienten mit Aphasie und Kindern mit Cochlea Implantaten [D23] eingesetzt werden. Die Anwendbarkeit dieses Verfahrens bei Kindern mit AVWS ist erst zu prüfen. Kliniker seien daran erinnert, dass jede therapeutische Intervention bei einem Kind mit AVWS gemäß den festgestellten Einschränkungen individuell angepasst werden sollte. Mit Programmen wie Audiolog (siehe oben) ist dies möglich. In wie weit dies auch für (zur Zeit nur in englischer Sprache verfügbare) Computerprogramme wie „Fast ForWord― und „Earobics― gilt, kann noch nicht abgeschätzt werden [D18, D86]. Eine Arbeitsgruppe der American Speech-Language-Hearing Association [D4] fand nach einem sorgfältigen Literaturstudium über die derzeitig erreichten Forschungsergebnisse zum Auditory Integration Training (AIT) keine ausreichende Evidenz zur Verbesserung des auditiven Verhaltens durch Methoden, die in „Fast ForWord― und „Earobics― implementiert sind. E. Der Einsatz von FM-Systemen Spracherkennung im Klassenraum wird beeinflusst vom Pegel der Schallquelle, von der Art der Schallquelle (andere Sprecher oder Geräusche), der Entfernung des Zuhörers (Schülers) von der Schallquelle, den Störgeräuschen, den Schallreflexionen und dem Nachhall. Der Zweck eines FMSystems ist es, das Signal-Rauschverhältnis am Ohr des Zuhörers durch Erhöhung der Intensität des Sprechers, Erniedrigung der Störgeräusche und Begrenzung von Nachhalleffekten zu verbessern. Kinder mit AVWS, die Probleme haben, Phoneme zu diskriminieren oder Sprache im Störgeräusch zu verstehen, profitieren von einer Hör-Sprech-Anlage. Nach Rosenberg [58] stellen Defizite im Verstehen monaural dargebotener wenig redundanter Sprache und in dichotischen Sprachtests die strengsten Indikationen dar. Es gibt eine Vielzahl unterschiedlicher Systeme: Flat-Panel- Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungstörungen -- Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie Lautsprecher, omnidirektional abstrahlende Deckenlautsprecher, kleine Tischlautsprecher, Headsets und offene HdO-Versorgungen (Hinter-dem-Ohr-Versorgungen). Wenn eine Erprobung sinnvoll erscheint, sollte der Pädaudiologe zusammen mit einem Pädakustiker ein System aussuchen, anpassen sowie den Verlauf und die Erfolge beobachten. Die Höranstrengung wird deutlich reduziert, die schulischen Leistungen zeigen Fortschritte. Die auditive Vigilanz, das Sprachverstehen im Störgeräusch und die auditiven Gedächtnisleistungen bessern sich [D11, D47, D68, D72]. Um die Voraussetzungen für die Reifung synaptischer Verbindungen im Hörsystem und seine Vernetzung mit anderen Hirnstrukturen zu verbessern, sollte die FM-Anlage so früh wie möglich angepasst werden [D8, D20, D25]. Vor einiger Zeit publizierte die ASHA Leitlinien für die Anpassung und Verlaufsbeobachtung bei FMSystemen [D2]. Die Leitlinien waren in erster Linie für Kinder mit peripheren Hörstörungen gedacht, aber viele der genannten Anforderungen können auch für Kinder mit AVWS angewendet werden. Insbesondere wird eine Schulung der Anwender (Kinder, Eltern) und der Unterrichtenden (Lehrer, Sprachheillehrer, Sprachtherapeuten) für notwendig gehalten, die Gebrauch, Pflege, Wartung und Problemlösung einschließt, z.B. durch den mobilen sonderpädagogischen Dienst der pädagogischaudiologischen Beratungsstellen. Folgende Schritte werden empfohlen: 1. Untersuchung des Hörens im Störschall über sprachaudiometrische Verfahren und Dokumentation entsprechender Einschränkungen sowie Diagnosestellung einer AVWS durch den Facharzt für Phoniatrie und Pädaudiologie 2. Einwilligung des Kindes und dessen Eltern bzw. Sorgeberechtigte zur Anpassung des FMSystems 3. Auswahl des FM-Systems und Anpassung durch einen (Päd-)Audiologen und/oder Pädakustiker (einschließlich Entscheidung, ob ein persönliches System oder ein System mit freiem Schallfeld gewählt wird, Entscheidung über Berücksichtigung von Anschlussoptionen, z.B. für Hörsysteme, monaurale oder binaurale Anpassung und Mikrophonoptionen, z.B. Richtmikrophon, Mikrophon mit Geräuschunterdrückung oder omnidirektionale Schallaufnahme) 4. Strukturiertes Protokoll des Klassenlehrers, z.B. über Fragebögen vor Beginn der Nutzung des FM-Systems 5. Training des Klassenlehrers und des weiteren Förderpersonals des Schülers, z.B. durch den mobilen Dienst der pädagogisch-audiologischen Beratungsstellen 6. Strukturiertes Protokoll des Klassenlehrers, z.B. über Fragebögen nach 30 oder 45 Tagen der Nutzung des FM-Systems Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungstörungen -- Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie 7. Zwischenanamnese, Kontrolle des Hörens im Störschall mit der FM-Anlage, Nachweis der Hörverbesserung mit der FM-Anlage, Prüfung der Lehrer-Fragebögen und Kosten-NutzenAbwägung vor der endgültigen Verordnung der FM-Anlage 8. Verlaufskontrollen der gesamten genutzten technischen Ausrüstung und der Hörleistungen des Kindes. Die Indikation für FM-Hörsysteme ist allerdings zur Zeit in Deutschland nicht in den Heilmittelrichtlinien abgebildet, so dass für die Betroffenen kein Rechtsanspruch auf Erstattung durch Krankenkassen abgeleitet werden kann. Darauf sollte hingewiesen werden, wenn eine Behandlung mit FM-Hörsystemen in Erwägung gezogen wird. F. Modifikation der akustischen Umgebung Bei Kindern mit AVWS verursachen Störgeräusche zwar kaum eine Lärmschwerhörigkeit, sie können aber Nutzsignale von Sprechern, z.B. Lehrern oder antwortenden Mitschülern akustisch verdecken (maskieren) und so das Sprachverstehen reduzieren, besonders bei geringer Redundanz, insbesondere, wenn neue Informationen vermittelt werden. Außerdem können Störgeräusche auch bei großem Signal-Störgeräuschabstand, d.h. auch, wenn sie leise sind und keine Verdeckung (Maskierung) verursachen, vom Unterricht ablenken, insbesondere bei komorbider Aufmerksamkeitsstörung. Damit Kinder mit AVWS diese Schwäche kompensieren können, sollten Veränderungen der akustischen Umgebung erfolgen. Für die Modifikation der akustischen Umgebung sind Kenntnisse über die unterschiedliche Wirkung verschiedener Störgeräusche und den Einfluss der Nachhallzeit notwendig sowie über die Möglichkeit, beides zu minimieren. Die Art der Störgeräuschquelle, d.h. andere Sprecher (z.B. Mitschüler) oder Geräusche (z.B. vorbeifahrende Fahrzeuge) in Konkurrenz zum Nutzsignal (Lehrer, Erzieher) übt einen erheblichen Einfluss auf das Sprachverstehen von Kindern aus, besonders in Klassenräumen mit Nachhall. Klatte et al. konnten experimentell nachweisen, dass bei gleichem Pegel andere Sprecher das Sprachverstehen bei Kindern signifikant stärker reduzieren als Fahrzeuggeräusche (hier: vom Auto, vom Schnellzug) [D37]. In einer anderen Arbeit konnte die Arbeitsgruppe nachweisen, dass das Sprachverstehen im Störgeräusch, nicht aber das Sprachverstehen in Ruhe, bei Kindern stärker als bei Erwachsenen und bei Erstklässlern etwas stärker als bei Drittklässlern, durch Nachhall reduziert wird [D38]. Der Anhang, Abschnitt D, fasst Informationen und Vorschläge zusammen, wie man die akustische Umgebung eines Kindes mit AVWS verbessern kann. Praktische Informationen zur Beschaffung geeigneter Baumaterialien und zu deren „dosierter― und ökonomischer Verwendung finden sich in [D32, D67]. Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungstörungen -- Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie Grundsätzlich sollten die erwähnten therapeutischen und kompensatorischen Maßnahmen kombiniert werden. Ihr Einsatz ist so früh wie möglich zu fordern, um die Plastizität des Hörsystems im Kindesalter optimal nutzen und bleibende funktionelle Defizite vermeiden zu können. Die therapeutischen Bemühungen sind interdisziplinär mit Logopäden, Pädagogen, Frühförderern, Psychologen und gegebenenfalls weiteren Therapeuten zu koordinieren. Evidenz-basierte Studien zur Therapieeffektivität sind zu fordern [D22, D30]. Die California Speech-Language-HearingAssociation [D14] rät von einer Orientierung der Therapie an Versuchen zur Subtypisierung der AVWS ab, es sollten aber kollektive Sets von Symptomen und Testergebnissen als Grundlage von Therapiekonzepten gesammelt werden. G. Eingliederungshilfe Nach §35 SGB VIII und/oder §53 SGB XII haben Kinder und Jugendliche Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist. Der Träger der öffentlichen Jugendhilfe hat die Stellungnahme eines Arztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie und psychotherapie, eines Kinder- und Jugendpsychotherapeuten oder eines ärztlichen oder psychologischen Psychotherapeuten, der über besondere Erfahrungen auf dem Gebiet seelischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen verfügt, einzuholen. Die Stellungnahme ist auf der Grundlage der Internationalen Klassifikation der Krankheiten in der vom Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information herausgegebenen deutschen Fassung zu erstellen. Nach Auffassung der AG AVWS der DGPP ist im Falle einer AVWS und/oder einer Sprachentwicklungsstörung eine zusätzliche fachärztlich pädaudiologische Stellungnahme unbedingt einzuholen, um den Krankheitswert der zugrunde liegenden Störung (AVWS mit oder ohne Sprachentwicklungsstörung) nachzuweisen. H. Prognose Bisher liegen nur wenige deutschsprachige Studien zum Erfolg therapeutischer Interventionen [D29, D30, D33, D46, D57] bzw. zur Prognose bei auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen vor. Eine Reihe von Studien zeigen (Übersicht in D60), dass sich auditive Funktionen trainieren lassen, unabhängig davon, ob das Training mit sprachfreiem [D9, D10, D80, D81] oder mit auditiv- sprachlichem [D10, D27, D28, D29, D30, D31, D45, D46, D57, D58, D69, D70, D71, D74, D82, D84, D85] Übungsmaterial Rechtschreibleistungen erfolgt. sind für Transfereffekte auf die auditiv-sprachgebundenes Sprachentwicklung Übungsmaterial oder die einschließlich Leseder phonologischen Bewusstheit hinreichend belegt [D26, D27, D46, D70, D71, D73, D83, zusätzliche Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungstörungen -- Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie Übersicht von Studien in D13], ebenso für kombinierte Trainingsformen (sprachfreies und sprachgebundenes Training) [D29, D30, D52, D78, D79, D80], jedoch bislang nicht übereinstimmend für rein sprachfreie Trainingsformen nachweisbar [positive Effekte nachgewiesen: D52, D78, D81, keine Effekte nachgewiesen: D9, D10, D31, D39, D41, D76, keine Effekte postuliert: [D87]. Die bisher vorhandenen Daten und der Mangel an kontrollierten klinischen Studien [D36] erlauben allerdings derzeit lediglich eine zurückhaltende Bewertung der vorgenannten Studien und insofern auch noch keine definitive Bewertung einzelner Behandlungsformen. Die Prognose von Auditiven Verarbeitungsund Wahrnehmungsstörungen kann daher ebenfalls noch nicht abschließend abgeschätzt werden. Es zeichnet sich ab, dass Betroffene im Laufe ihres Lebens bei anspruchsvollen Hörsituationen immer wieder Einschränkungen erfahren. Deshalb sollten die behandelnden Fachärzte auf eine wiederholte Beratungs- und Behandlungsnotwendigkeit hinweisen. Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungstörungen -- Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie Anhang A Hilfen für Eltern und Lehrer zum Verstehen, was „Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen (AVWS)“ sind (Fragen/Antworten) (Modifiziert nach [14]) Was ist eine auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung? Eine AVWS beeinträchtigt Funktionen, die den Kindern ermöglichen, auf Hörreize zu reagieren und/oder Sprache zu verstehen. Es gibt verschiedene Formen von AVWS, so dass die Symptome einer AVWS von Kind zu Kind unterschiedlich sind. Kinder mit AVWS können zwar leise Geräusche oder Töne ohne Probleme hören, jedoch wird das Gehörte und somit auch Sprache nicht in der regelrechten Form verarbeitet. Dies führt zu einer Reihe von Schwierigkeiten, u.a. beim Hören von Sprache bei Störgeräuschen oder in ungünstigen Hörsituationen. Weil die Unterscheidung von Tönen, Sprachlauten und Geräuschen oft beeinträchtigt ist, kann auch das Lesen und das Schreiben mitbetroffen sein. Wie wird eine AVWS diagnostiziert? Die Diagnostik einer AVWS ist umfangreich und aufwändig. Sie umfasst eine Reihe von speziellen Hörtests, aber auch eine ausführliche Sprachdiagnostik. Aus diesem Grund sollten im Vorfeld zur eigentlichen Untersuchung auf eine AVWS einige weitere diagnostische Schritte erfolgen, um zu prüfen, ob eine spezielle Untersuchung der auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsleistungen gerechtfertigt erscheint (Feststellung einer "Kandidatenschaft" für eine Diagnostik). Die Diagnostik einer AVWS umfasst u.a. auch das auditive Kurzzeitgedächtnis, die Unterscheidung ähnlich klingender Sprachlaute und die phonologische Bewusstheit. Zum einen sollte eine Tonschwellenaudiogrammes ausführliche erfolgen, Diagnostik um der Hörfunktion Beeinträchtigungen des in Form Hörorgans, u.a. d.h. eines leichte Hörstörungen des Innen- oder Mittelohres, auszuschließen bzw. um zu prüfen, ob eine Hörminderung des Hörorgans die Symptome im Alltag und in der Schule erklären kann. Liegen Störungen des Hörorgans vor, auch in Form leichter oder einseitiger Schwerhörigkeiten, sollten diese zunächst reguliert werden, z.B. bei Innenohrstörungen durch eine Hörgeräteversorgung, bei Mittelohrstörungen evtl. operativ. Erst wenn die Schwerhörigkeit ausgeglichen oder beseitigt ist, kann untersucht werden, ob eine AVWS besteht oder nicht. Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungstörungen -- Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie Zusätzlich erfolgt eine umfassende Intelligenz- und Entwicklungsdiagnostik, um zu prüfen, ob sich die Auffälligkeiten im Alltag, im Verhalten und in der Schule durch diese Untersuchungsergebnisse erklären lassen, oder ob sich Hinweise auf eine spezielle oder schwerpunktmäßige Beeinträchtigung im Hörbereich finden. Um eine AVWS zu diagnostizieren, muss eine deutliche Diskrepanz zwischen den Fähigkeiten des Kindes in den auditiven Bereichen und anderen kognitiven Fähigkeiten bestehen und nachgewiesen werden. Wenn das Kind eher allgemeine Aufmerksamkeitsprobleme hat, sollte eine entsprechende Abklärung erfolgen. Während es möglich ist, gleichzeitig eine Aufmerksamkeitsstörung und eine AVWS zu haben, kann es aber sein, dass ein Kind mit unbehandelter Aufmerksamkeitsstörung gar nicht in der Lage ist, genügend Konzentration bei den AVWS-Testungen aufzubringen, d.h. evtl. muss eine Aufmerksamkeitsstörung behandelt werden, bevor ein AVWS-Testung erfolgt. Im Anschluss an die Testungen muss herausgearbeitet werden, ob eine AVWS vorliegt oder nicht und ob sie die eigentliche oder nur eine von mehreren Ursachen der Schwierigkeiten im Alltag, im Verhalten und in der Schule darstellt. Eine AVWS vor dem Schulalter zu diagnostizieren, ist schwierig, da nur sehr wenige Tests für dieses Alter normiert sind und jüngere Kinder oft zu unzuverlässige Angaben und Testergebnisse zeigen. Eine AVWS wird typischerweise diagnostiziert, wenn die Leistungen in zwei oder mehr Tests um mindestens 2 Standardabweichungen vom Mittelwert des Altersdurchschnitts abweichen. Dies muss mit entsprechenden Auffälligkeiten im Alltag, im Verhalten und in der Schule zusammenpassen, die nicht durch andere Erkrankungen oder Bedingungen erklärt werden können. Welche Untersuchungen werden durchgeführt? Bei der Untersuchung werden verschiedene Hörtests mit Kopfhörern oder Lautsprechern in einem schallgedämmten Raum vorgenommen. Der Zweck der Untersuchungen liegt zum einen darin, ein normales Hören für Töne und für Sprache in ruhiger Umgebung nachzuweisen, und zum anderen darin zu prüfen, ob die auditiven Verarbeitungsfähigkeiten (z.B. Wortverstehen im Störgeräusch oder Verstehen von zwei Wörtern, die gleichzeitig rechts und links vorgegeben werden) altersgerecht sind oder nicht. Zusätzlich erfolgen umfangreiche Untersuchungen zur Sprachentwicklung und zur Verarbeitung auditiv vermittelter sprachlicher Information (z.B. Unterscheidung ähnlich klingender Sprachlaute in Wörtern, Zusammenziehen von Einzellauten zu einem Wort, z.B. m-u-s-i-k zu Musik, Heraushören einzelner Laute aus Wörtern, z.B. ist ein „s― in „Esel―?). Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungstörungen -- Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie Wenn mein Kind eine AVWS hat, was passiert jetzt? Zunächst sollten Sie den Empfehlungen des Arztes folgen, der die AVWS diagnostiziert hat. Einerseits kommen ambulante Behandlungen zur Therapie der AVWS in Frage, z.B. bei Logopäden. Die Behandlung sollte sich an den Ergebnissen der medizinischen Diagnostik orientieren, d.h. die auffälligen Bereiche sollten gezielt am Stand des Kindes trainiert werden. Zusätzlich sollten mit dem Kind Hilfen zur Kompensation erarbeitet werden. Um zu möglichst effektiven Behandlungsfortschritten zu gelangen, erscheint es wichtig, dass regelmäßig von der Therapeutin täglich daheim durchzuführende Übungen als Hausaufgaben mitgegeben werden. Ferner müssen die betreuenden Lehrkräfte informiert werden, z.B. über erforderliche Veränderungen der Sitzposition des Kindes. Um dies zu besprechen, sollten Sie Kontakt mit den betreuenden Lehrkräften Ihres Kindes aufnehmen. Ein Informationsblatt für Lehrer kann Ihnen durch den Arzt, der die AVWS diagnostiziert hat, ausgehändigt werden. Weiterhin kann mit dem Lehrer, den Eltern der Schulkinder und/oder dem Elternbeirat besprochen werden, ob und welche Maßnahmen zur Besserung der Klassenraumakustik, von denen alle Kinder in der Klasse profitieren, durchgeführt werden könnten. Zusätzlich kann der mobile Dienst der pädagogisch-audiologischen Beratungsstelle eingeschaltet werden, um das Kind zu betreuen und die Lehrkräfte zu informieren. Die Adresse können Sie bei dem Arzt, der die AVWS diagnostiziert hat, erfragen. Wenn zusätzlich zur AVWS andere Probleme bestehen, z.B. eine Lese-Rechtschreibstörung, sollte in jedem Fall auch in diesem Gebiet eine gezielte Förderung stattfinden, die Sie mit dem betreuenden Facharzt absprechen sollten. Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungstörungen -- Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie Anhang B Empfehlungen für Eltern bei diagnostizierter AVWS (Modifiziert nach [14]) Eltern sollen sich aktiv daran beteiligen, ihre Kinder durch die Untersuchungen, die Behandlung und die Förderung zu führen. Im Folgenden finden sich einige Empfehlungen für Eltern: 1. Die Kinder sollten möglichst gut informiert werden, aus welchem Grund sie im Alltag Probleme haben und welche Maßnahmen dagegen unternommen werden können. Es sollte herausgestellt werden, dass sie nicht mangelhaft begabt sind, sondern "nur" schlechter oder ungenauer hören. 2. Versichern Sie sich, dass die Lehrer Ihres Kindes gut über die Auswirkungen informiert sind, die die Störung Ihres Kindes auf das Lernen im Unterricht hat. Gehen Sie nicht davon aus, dass der Lehrer aus dem letzten Schuljahr oder das Lehrerkollegium den neuen Lehrer informiert hat. Sie sollten zu Beginn eines jeden Schuljahrs mit jedem Lehrer ein Gespräch führen und ihm schriftliche Informationen über die Störung geben sowie ihm die speziellen Probleme Ihres Kindes im Bereich der auditiven Verarbeitung und Wahrnehmung darstellen. 3. Ermutigen und loben Sie Ihr Kind, wenn es bei Unklarheiten nachfragt oder sich rückversichert, ob es die Gesprächsinhalte korrekt verstanden hat. Dies ist eine Kompensationsstrategie, die notwendig sein wird, damit Ihr Kind seine Schwächen selbständig zu erkennen und zu bewältigen lernt. Versichern Sie sich, dass der Lehrer Ihr Kind darin ebenfalls unterstützt. 4. Ermutigen und loben Sie Ihr Kind, wenn es sein Gesprächs- oder Lernumfeld aktiv strukturiert und auditive Ablenker oder Hintergrundgeräusche zu reduzieren versucht. Zum Beispiel sollte es ein Fenster oder eine Tür während eines Gespräches schließen dürfen, oder das Autoradio leiser stellen oder näher zum Gesprächspartner herankommen dürfen. 5. Wenn Beeinträchtigungen des auditiven Gedächtnisses bestehen, helfen Sie Ihrem Kind, indem Sie sich angewöhnen, Schlüsselwörter in der richtigen Reihenfolge aufzuschreiben, damit Ihr Kind sich besser erinnern kann. Notizbücher oder Mitschriften der wesentlichen Punkte aus dem Unterricht werden hilfreich für Wiederholungsstunden sein. Manchmal erweisen sich auch auf Tonträger aufgenommene Unterrichtsinhalte als hilfreich. Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungstörungen -- Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie 6. Reduzieren Sie Ihr Sprechtempo und legen Sie Pausen zwischen wichtigen Schlüsselinformationen ein, während Sie mit Ihrem Kind sprechen. 7. Versuchen Sie, redensartliche Ausdrücke, ungebräuchliche Wörter und weitschweifige Erklärungen zu vermeiden. 8. Versichern Sie sich, dass Ihr Kind aufmerksam ist, wenn Sie ihm Aufforderungen geben oder wenn Sie ein Gespräch beginnen. Manchmal benötigen Kinder mit AVWS eine sanfte Berührung an der Schulter, wenn sie nicht auf ihren Namen oder auf Ansprache reagieren, besonders bei stärkeren Umgebungsstörgeräuschen. 9. Reduzieren Sie evtl. störende Umgebungsgeräusche daheim (z.B. Geschirrspülmaschine, Fernseher, Radio, Waschmaschine, Trockner), wenn Sie ein Gespräch beginnen oder führen Sie das Gespräch weiter von der Störschallquelle entfernt. Seien Sie sich darüber bewusst, dass Gespräche außerhalb der Wohnung mit hohem Störschall (z.B. bei einem Fußballspiel) oder im fahrenden Auto eine Herausforderung für viele Kinder mit AVWS sind. 10. Schreiben, malen oder zeichnen Sie neue Begriffe und Wörter in einzelnen Schulfächern auf, um dieses Wort zu erläutern. Die Verwendung eines Wörterbuchs ist selten hilfreich für Kinder mit AVWS, um neue Wörter zu lernen. 11. Seien Sie geduldig! Ihr Kind benötigt vielleicht viele Wiederholungen, bis die Lerninhalte beherrscht werden. Es ist möglich, dass es Aufgabenstellungen, Erklärungen, Anleitungen oder Tests in der Schule vergisst oder missversteht. Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungstörungen -- Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie Anhang C Empfehlungen bei AVWS für den Schulunterricht (Modifiziert nach [14]) Für Kinder mit AVWS sind Veränderungen und Anpassungen im Klassenraum hilfreich, um ihr schwaches auditives System zu unterstützen. Spezifische Empfehlungen sollten auf den Resultaten standardisierter Tests sowie auf Verhaltensbeobachtungen beruhen. Alle Veränderungen sollten individuell erfolgen. Einige empfohlene Veränderungen für den Schulunterricht sind: - Ein hörfreundliches Umfeld sollte geschaffen werden (siehe Anhang D: Veränderung der Klassenraumakustik) - Die Lehrpersonen sollten gut über AVWS informiert sein, ggf. über Kontakte mit dem mobilen Dienst der pädagogisch-audiologischen Beratungsstelle. - Hilfreiche Empfehlungen sind: o Sitzplatz: Falls eines der Ohren des Kindes schwächer hört als das andere, sollte das bessere Ohr zum Lehrer zeigen. Der Sitzplatz sollte so gewählt werden, dass das betroffene Kind das Gesicht der Lehrperson gut sehen kann und zwar aus einem Winkel, der mindestens 45° beträgt. Gleichzeitig sollte der Sitzplatz fern von Geräuschquellen liegen (z.B. Geräusche von Overheadprojektoren, Lärm von außen, z.B. in der Nähe von oft während des Unterrichts geöffneten Fenstern). Vom Sitzplatz aus sollte das Mundbild des Lehrers für den betroffenen Schüler gut sichtbar sein. o Ein häufiger Sitzplatzwechsel sollte vermieden werden. Der Sitzplatz sollte stabil bleiben und nicht verändert werden, da Kinder mit AVWS bedeutend länger als andere benötigen, um sich auf veränderte oder wechselnde akustische Bedingungen einzustellen. o Schüler mit AVWS sollten ermutigt werden, sich zu äußern, wenn etwas nicht verstanden wurde oder die Umgebungsverhältnisse (Störgeräusche, Sitzplatz z.B. bei häufigerem Wechsel von Unterrichtsräumen) ungünstig sind. o Die Aufmerksamkeit des Kindes kann vor wichtigen Instruktionen mit einem verbalen oder taktilen Hinweis an das Kind verstärkt werden („Peter, als Hausaufgabe lest Ihr im Buch Seite ….). Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungstörungen -- Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie o Vorlesungsähnliche Instruktionen sollten auf möglichst kurze Zeitperioden begrenzt werden. o Beim Sprechen sollte das betroffene Kind angeschaut werden (Blickkontakt!). o Das Sprechtempo sollte ruhig, natürlich und vor allem nicht überhastet sein. o Die Lehrperson sollte die natürlichen Sprechpausen im Sprechfluss etwas verlängern, um Verarbeitungszeit für das Gesagte zu geben. o Die Lehrperson sollte möglichst deutlich artikulieren und lebendig betonen, jedoch nicht übertrieben. o Gestik und Mimik sollten zum Unterstreichen der vermittelten Unterrichtsinhalte lebendig eingesetzt werden. o Die ersten Beispiele zu einer Aufgabe sollten möglichst demonstriert und nicht nur erklärt werden. o Wichtige Informationen sollten mehrfach wiederholt werden. o Wichtige Vokabeln sollten evtl. schon vorab geklärt und gelernt werden. o Ggf. sollten den Schülern evtl. Unterrichtsskripten vorab zur Verfügung gestellt werden. o Den Kindern mit AVWS sollte Gelegenheit gegeben werden, Fragen zu stellen, um zu erfahren, wo noch Unklarheiten bestehen. o Falls von der Lehrperson nachgefragt wird, um sich zu versichern, dass der Schüler verstanden hat, ist es wichtig, sich die Inhalte sinngemäß und in eigenen Worten vom Schüler kurz wiederholen zu lassen. Dies erscheint notwendig, da Kinder mit AVWS, wie Schwerhörige auch, dazu neigen, aus Zurückhaltung mit „ja― zu antworten, selbst wenn sie etwas nicht genau verstanden haben. o Das Kind sollte möglichst nahe beim Lehrer sitzen. o Während an die Tafel geschrieben wird, sollten nicht gleichzeitig Erklärungen oder Aufträge gegeben werden. o Ausschließlich mündlich erteilte, mehrschrittige Aufträge sollten vermieden werden. o Redensartliche oder dialektale Ausdrücke sollten vermieden werden. o Während der Vermittlung wichtiger Informationen sollten Nebengeräusche auf ein Minimum reduziert werden (z.B. Bleistiftspitzen, Einsammeln von Papier, Füßescharren). o Schlüsselwörter und –konzepte sollten an die Tafel geschrieben werden. o Neue Wörter sollten hervorgehoben und in verschiedenen Sätzen verwendet und nicht vom Kind selbst im Wörterbuch nachgeschlagen werden. o Dem Kind sollte erlaubt werden, Notizen und Mitschriften anzufertigen. Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungstörungen -- Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie o Dem Kind sollte mitgeteilt werden, auf welche Informationen es speziell hören soll, um dem Kind zu helfen, bei der Aufgabe zu bleiben und darauf zu achten, welche Informationen besonders wichtig sind. o Für Fragen des Lehrpersonals und zur Unterstützung des Schülers steht der mobile Dienst der Schwerhörigenschulen und der pädagogisch-audiologischen Beratungsstellen als Ansprechpartner zur Verfügung. Die Telefonnummer bzw. die Adresse kann bei der örtlichen Schwerhörigenschule oder über eine phoniatrischpädaudiologische Abteilung bzw. einen Arzt für Phoniatrie und Pädaudiologie erfragt werden. Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungstörungen -- Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie Anhang D Veränderungen der Klassenraumakustik (Modifiziert nach [14, 32, 37, 38, 67]) Vermeidung von Störgeräuschen Heizsysteme und Klimaanlagen verursachen oftmals Geräusche, ebenso Leuchtstoffröhren, Uhren, Aquarien und Computer. Diese Geräusche müssen nicht unbedingt so laut sein, dass sie zur Maskierung des Sprachsignals und zu einem eingeschränkten Sprachverstehen führen; sie können auch „nur― vom Unterricht ablenken, insbesondere leise Geräusche. Deshalb sollten sie, wenn möglich, vermieden oder zumindest reduziert werden. In Räumen, die nicht mit Teppichboden versehen sind, sollten Tisch- und Stuhlbeine unten mit Gummistreifen oder Gleitpolstern versehen werden, um die Störgeräuscherzeugung am Boden zu reduzieren, die beim Hin- und Herschieben von Stühlen und Tischen entsteht. Wenn Kinder in den Bankfächern nach Dingen suchen, entstehen ebenfalls Störgeräusche, die durch das Auskleiden der Bankfächer mit Stoffen oder Filz reduziert werden können. Feststoffkerntüren sollten bevorzugt werden gegenüber Hohlkerntüren. Quietschende Scharniere sollten geölt werden. Gummistreifen oder Isolierband um den Türspalt können verhindern, dass Störgeräusche von außen in den Klassenraum dringen. Bauliche Planung von Klassenräumen Für ein ungestörtes Sprachverstehen ist eine sog. gute „Hörsamkeit― des Unterrichtsraumes notwendig. Dies stellt eine wichtige Schlüsselfunktion im Behandlungsplan von Kindern mit AVWS dar. Beim Bau von Klassenräumen sollte darauf geachtet werden, dass der Direktschall durch möglichst wenig Diffusschall verdeckt (maskiert) wird. Diffusschall entsteht durch eine Addition von Schallreflektion an Wänden mit unterschiedlicher Laufzeit. Außerdem sollte nach der Akustik-Norm DIN 18041 (Hörsamkeit in kleinen bis mittelgroßen Räumen) die Nachhallzeit nicht mehr als 0,55 s betragen. Dazu dürfen die Räume nicht zu groß geplant werden, z.B. mit einer Länge von 8-9 m, einer Breite von 7-8 m und einer Höhe von nicht mehr als 3 m. Dadurch entsteht ein Raumvolumen von etwa 200 m³. In vielen Altbauten mit Deckenhöhen von bis zu 3,6 m und Längen von über 9 m ist das Raumvolumen viel größer und bedarf dann erst recht nachträglicher akustischer Maßnahmen. Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungstörungen -- Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie Einen besonderen Beitrag zur Nachhallzeit leistet das Rückwandecho, das in normalen Klassenraumgrößen eine Laufzeit von etwa 50 ms (Millisekunden) aufweist. Rückwandecho und Diffusschall können durch folgende nachträgliche akustische Maßnahmen entscheidend verbessert werden: Böden Böden mit harter Oberfläche, z.B. Fliesen, sollten vollständig mit Teppichboden versehen werden, um erstens die Störgeräuscherzeugung am Boden zu minimieren und zweitens den Nachhall und den Diffusschall (etwas) zu reduzieren. Decken- und Wandverkleidungen Akustische Deckenverkleidungen eignen sich ausgezeichnet, um Nachhall und Diffusschall zu reduzieren und sind in dieser Hinsicht wirkungsvoller als Teppichboden. Speziell das Rückwandecho kann durch eine Rückwandverkleidung bedeutend reduziert werden. Für Decken und Wände eignen sich schallabsorbierende Platten bzw. Paneelen [67], die in verschiedenem Schallabsorptionsgrad (zwischen 0,6 und 0,9) angeboten werden...Es ist nicht notwendig, die Decken und Wände vollständig zu bedecken; etwa 50 % von Decke und Rückwand (bei Absorptionsgraden von etwa 0,85) oder 80 % (bei Absorptionsgraden von etwa 0,6) sind ausreichend [67]. Die Decken dürfen dabei nicht stärker als die Rückwand gedämmt werden; das Rückwandecho bleibt sonst noch deutlicher hörbar als in unbehandelten Klassenräumen, da es nicht mehr durch den Diffusschall oder Nachhall der Decke maskiert wird [67]. Die Rückwand braucht nicht vollständig vom Boden bis zur Decke, sondern ab einer Höhe von 1,0 m bis 1,2 m bis zur Decke und mit einer Breite von nur 5-6 m abgedeckt zu werden [67]. Fenster Da Fenster harte Oberflächen darstellen, reflektieren sie Schall und tragen zum Diffusschall bei. Vorhänge, Rollos, Gardinen helfen dabei, die harten Oberflächen zu reduzieren. Wenn das nicht möglich ist, kann das Aufhängen von Postern, Bildern, Zeichnungen, Collagen und Ähnlichem günstig sein. Die Fenster sollten während des Unterrichts geschlossen sein, besonders bei verbalen Instruktionen. Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungstörungen -- Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie Literatur: (1) British Society of Audiology Steering Group. Interim Position Statement on APD . 2007; Available at: http://www.thebsa.org.uk/apd/BSA_APD_Position_statement_Final_Draft_Feb_2007.doc. Accessed 23.06.2009, 2009. (2) Cameron S, Dillon H. The listening in spatialized noise-sentences test (LISN-S): comparison to the prototype LISN and results from children with either a suspected (central) auditory processing disorder or a confirmed language disorder. J.Am.Acad.Audiol. 2008 May;19(5):377-391. (3) Grassegger H. Phonetik - Phonologie. Idstein: Schulz-Kirchner; 2001. 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