Identitätssuche und Identitätsfindung in der

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Identitätssuche und Identitätsfindung in der
 Identitätssuche und Identitätsfindung in der deutschsprachigen Popliteratur der 90er Jahre am Beispiel von Christian Krachts „Faserland“ und Benjamin von Stuckrad-­Barres „Soloalbum“ Hiermit erkläre ich, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig und mit den angegebenen Hilfsmitteln angefertigt habe und dass alle Stellen, die dem Wortlaut oder dem Sinn nach anderen Werken entnommen sind, durch Angabe der Quellen als Entlehnungen kenntlich gemacht worden sind. Niederkorn, den 15. März 2013 Cathie Christophory Cathie Christophory Professeur-­‐Candidate au Lycée Technique d’Esch-­‐sur-­‐Alzette Identitätssuche und Identitätsfindung in der deutschsprachigen Popliteratur der 90er Jahre am Beispiel von Christian Krachts „Faserland“ und Benjamin von Stuckrad-­Barres „Soloalbum“ Esch-­‐sur-­‐Alzette 2013 Zusammenfassung Die Arbeit Identitätssuche und Identitätsfindung in der deutschsprachigen Popliteratur der 90er Jahre am Beispiel von Christian Krachts „Faserland“ und Benjamin von Stuckrad-­‐Barres „Soloalbum“ setzt sich mit dem Thema „Identitätsfindung“ und den damit verbundenen Irrungen und Wirrungen auseinander, die sich besonders auch in der deutschsprachigen Popliteratur der 90er Jahre finden lassen Wichtig erscheint es zunächst zu untersuchen, was die deutschsprachige Popliteratur der 90er Jahre auszeichnet und in welchem historischen, politischen, gesellschaftlichen und philosophischen Kontext diese zu verstehen ist. Ausgewählt wurde die Popliteratur, da diese doch sehr am Puls der Zeit arbeitet und somit bezeichnend für eine ganze Generation erscheint. Die Arbeit verfolgt vordergründig das Ziel, die Identitätsproblematik anhand zwei ausgewählter Werke der Popliteratur zu untersuchen: Christian Krachts „Faserland“ und Benjamin von Stuckrad-­‐Barres „Soloalbum“. Im Fokus stehen die beiden Protagonisten, deren Auseinandersetzung mit dem Thema „Identität“ möglichst beispielhaft und umfassend untersucht werden soll. So werden Gemeinsamkeiten aufgedeckt, aber auch Unterschiede hervorgestrichen. Zunächst sollen anhand eines theoretischen Abrisses zu den Begriffen „Popliteratur“ und „Identität“ die Voraussetzungen für den literarischen Vergleich der beiden Werke geschaffen werden. Anschließend sollen die Protagonisten der beiden Romane nach ausgewählten Schlüsselthemen analysiert werden, wie beispielsweise „Selbstentwurf und Einstellung zu sich selbst“, „Einstellung zum Leben allgemein“, „Lebensstil“, „zwischenmenschliche Beziehungen“, usw. Aus dem direkten Vergleich der beiden popliterarischen Protagonisten werden dann abschließend Gemeinsamkeiten und Unterschiede abgeleitet und auf ihre Signifikanz hin überprüft. Damit ein objektiver Vergleich garantiert werden kann, soll an dieser Stelle den Ergebnissen nicht vorgegriffen werden. Allerdings bleibt davon auszugehen, dass sich doch zeitweilig große Unterschiede zwischen den beiden Protagonisten feststellen lassen, besonders da beide sich bereits in ihrer Ausgangssituation unterscheiden. Trotz alledem ist es auch abzusehen, dass sich auch Gemeinsamkeiten zwischen den beiden im Fokus stehenden Figuren finden lassen, was natürlich auch die Frage nach einer gemeinsamen Generationsidentität aufwirft. Einleitung................................................................................................................................................9 I. Theoretischer Teil .................................................................................................................... 11 1. Das Phänomen „Popliteratur“ ....................................................................................... 11 1.1. Zum Begriff ................................................................................................................... 11 1.2. Zur Entstehung und Entwicklung von Popliteratur.................................... 18 1.3. Zum Zustand der Popliteratur in den letzten Jahren.................................. 31 1.4. Zu den ausgewählten Merkmalen von Popliteratur.................................... 38 1.4.1. Inhaltliche Merkmale ....................................................................................... 38 1.4.2. Formalsprachliche Merkmale ...................................................................... 41 1.4.3. Haltung................................................................................................................... 42 1.4.4. Verhältnis von Autor und Werk .................................................................. 43 2. Identität .................................................................................................................................. 44 2.1. Zum Begriff ................................................................................................................... 44 2.2. Identität in der Postmoderne................................................................................ 47 2.2.1. Zeitdiagnosen: Moderne und Postmoderne........................................... 47 2.2.2. Merkmale der postmodernen Gesellschaft ............................................ 51 2.2.3. Identitätssuche und -­‐findung in der Postmoderne............................. 53 2.2.4. Psychoanalytische Identitätskonzepte..................................................... 54 2.2.5. Gelingende Identitätsbildung....................................................................... 60 2.2.6. Ein identitätsstiftendes Element................................................................. 61 2.3. Die 1990er Jahre......................................................................................................... 63 2.3.1. Der Zeitgeist......................................................................................................... 63 2.3.2. Die Generation Golf........................................................................................... 64 II. Analytischer Teil...................................................................................................................... 67 1. Christian Kracht: „Faserland“........................................................................................ 67 1.1. Das Werk........................................................................................................................ 68 1.1.1. Der Autor: Christian Kracht .......................................................................... 68 1.1.2. Der Roman: „Faserland“ – Einleitende Gedanken ............................... 70 1.1.3. Zur Rezeption des Romans............................................................................ 72 1.1.4. Positionierung des Romans im Bereich der Popliteratur ................ 76 1.2. Identitätssuche und -­‐findung im Roman ......................................................... 80 1.2.1. Der aktuelle Lebensentwurf des Protagonisten: Eine Charakterisierung.............................................................................................................. 80 1.2.1.1. Der Protagonist und seine Familie .................................................... 80 1.2.1.2. Ausbildung und finanzielle Lage ........................................................ 81 1.2.1.3. Umfeld, Freunde und Frauen:.............................................................. 82 1.2.1.4. Körper und Geist ....................................................................................... 87 1.2.1.5. Der Protagonist als Dandy und Flaneur .......................................... 89 1.2.2. Identität und Lebensentwurf in den 1990er Jahren .......................... 93 1.2.2.1. Der Protagonist als Suchender............................................................ 93 1.2.2.1.1. Ausgangspunkt .................................................................................. 93 1.2.2.1.2. Städte, Freunde und Enttäuschungen ..................................... 95 1.2.2.1.3. Kindheitserinnerungen und Zukunftsträume...................... 96 1.2.2.1.4. Heimatlosigkeit und Flucht.......................................................... 97 1.2.2.1.5. Zwischenmenschliches .................................................................. 99 1.2.2.2. Zustand der Unsicherheit: Probleme auf dem Weg zur Identität ........................................................................................................................ 102 1.2.2.3. Lösungen.................................................................................................... 114 1.2.2.4. Ich-­‐Verlust................................................................................................. 118 2. Benjamin von Stuckrad-­‐Barre: „Soloalbum“........................................................ 128 2.1. Das Werk..................................................................................................................... 129 2.1.1. Der Autor: Benjamin von Stuckrad-­‐Barre............................................ 129 2.1.2. Der Roman: „Soloalbum“ – Einleitende Gedanken........................... 131 2.1.3. Zur Rezeption des Romans......................................................................... 132 2.1.4. Positionierung des Romans im Bereich der Popliteratur ............. 135 2.2. Identitätssuche und -­‐findung im Roman ...................................................... 138 2.2.1. Der aktuelle Lebensentwurf des Protagonisten: Eine Charakterisierung........................................................................................................... 138 2.2.1.1. Der Protagonist und seine Familie ................................................. 138 2.2.1.2. Ausbildung und finanzielle Lage ..................................................... 140 2.2.1.3. Umfeld, Freunde und Frauen ............................................................ 141 2.2.1.4. Körper und Geist .................................................................................... 144 2.2.1.5. Der Protagonist als Dandy und Flaneur ....................................... 148 2.2.2. Identität und Lebensentwurf in den 1990er Jahren ....................... 151 2.2.2.1. Der Protagonist als Suchender......................................................... 151 2.2.2.1.1. Ausgangspunkt ............................................................................... 151 2.2.2.1.2. Frauen, Liebe und Sexualität .................................................... 152 2.2.2.1.3. Männlichkeit.................................................................................... 157 2.2.2.1.4. Einsamkeit........................................................................................ 159 2.2.2.1.5. Lebensart .......................................................................................... 161 2.2.2.2. Zustand der Unsicherheit: Probleme auf dem Weg zur Identität ........................................................................................................................ 164 2.2.2.3. Lösungen.................................................................................................... 174 2.2.2.4. Ich-­‐Verlust................................................................................................. 178 Abschließende Gedanken .......................................................................................................... 185 Literaturverzeichnis .................................................................................................................... 197 Primärliteratur .......................................................................................................................... 197 Sekundärliteratur..................................................................................................................... 197 Internetseiten ............................................................................................................................ 205 Verschiedenes............................................................................................................................ 206 Einleitung Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit dem Thema „Identitätssuche und Identitätsfindung in der deutschsprachigen Popliteratur der 1990er Jahre am Beispiel von Christian Krachts ,Faserland‘ und Benjamin von Stuckrad-­‐Barres ,Soloalbum‘“. Gegenstand ist die Auseinandersetzung mit einem immer wiederkehrenden Thema der Literatur: der Identitätssuche und -­‐findung und den damit verbundenen Irrungen und Wirrungen, welche die Autoren der 1990er Jahre im veränderten soziohistorischen Kontext nach dem Mauerfall beschäftigten. Wichtig erscheint es also, zunächst in einem ersten Kapitel des theoretischen Teils zu untersuchen, was die deutschsprachige Popliteratur der 1990er Jahre auszeichnet und in welchem historischen, politischen, gesellschaftlichen und philosophischen Kontext diese zu verstehen ist. Mit Hilfe einschlägiger Fachliteratur werden zunächst der Begriff „Popliteratur“ und seine Entstehung und Entwicklung untersucht, bevor der heutige Stand und der Stellenwert der Popliteratur in der Literaturwissenschaft ermittelt werden. Abschließend stellt sich die Frage nach den Merkmalen der Popliteratur an sich. In einem weiteren Kapitel wird dann der Begriff „Identität“ in den Blick genommen. Hier erscheint es wichtig, sich mit dem Begriff der Identität in Zeiten einer postmodernen Gesellschaft auseinanderzusetzen, besonders da sich die Identitätssuche und -­‐findung in diesem Zusammenhang schwierig gestaltet. In diesem Zusammenhang werden dann einige Identitätskonzepte näher beleuchtet, welche dann auch bei der weiteren Analyse der ausgewählten popliterarischen Werke unterstützend zu Rate gezogen werden. Nicht zuletzt wurde die Popliteratur unter dem Gesichtspunkt ausgewählt, dass diese sehr am Puls der Zeit ist und somit bezeichnend für eine ganze Generation erscheint. In diesem Zusammenhang soll dann auch berücksichtigt werden, ob die in diesen Werken aufgezeigte Oberflächlichkeit und das Hadern der beiden Protagonisten mit der eigenen Identität womöglich bezeichnend für den Zeitgeist der 1990er Jahre sind. 9 Die Identitätsproblematik, die in dieser Arbeit dargestellt wird, soll in einem analytischen Teil anhand exemplarischer Werke zweier Autoren, die allgemein – wenn auch zu unterschiedlichen Graden – als „Popliteraten“ eingeordnet werden, untersucht: Christian Krachts „Faserland“ und Benjamin von Stuckrad-­‐
Barres „Soloalbum“. Zunächst gilt es, sich mit den Autoren selbst, ihrem Werk und der Einordnung in die Reihe der popliterarischen Schriftsteller auseinanderzusetzen. Allerdings sollen nicht die Autoren, sondern die Protagonisten der jeweiligen Werke im Fokus der Untersuchung stehen und deren Identitätssuche und -­‐findung umfassend betrachtet werden. Um die beschriebene Thematik bei Kracht und Stuckrad-­‐Barre einander gegenüberstellen zu können, sollen die Protagonisten der beiden Romane in Bezug auf ausgewählte Schlüsselthemen analysiert werden. Auf diese Weise werden mögliche Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede herausgearbeitet. So sollen beispielsweise Aspekte wie der Auslöser und die Gründe ihrer Identitätslosigkeit oder die Suche nach einer Identität in beiden Fällen näher beleuchtet werden. In einem abschließenden Schritt wird dann auf mögliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Protagonisten verwiesen. Damit ein objektiver Vergleich möglich ist, soll an dieser Stelle den Ergebnissen weitestgehend nicht vorgegriffen werden. Allerdings bleibt anzunehmen, dass sich zeitweilig doch große Unterschiede zwischen den beiden Protagonisten konstatieren lassen, besonders da sich bei beiden bereits eine andere Ausgangssituation darstellt. Weiterhin ist auch der unterschiedliche Erzählton bezeichnend für die Verschiedenartigkeit der beiden Werke. Während Stuckrad-­‐
Barre locker und in episodenhafter Art und Weise von seiner Hauptfigur erzählt, ist bei Kracht der Ton doch stellenweise etwas nachdenklicher und bedrückender. Allerdings ist es abzusehen, dass sich auch Gemeinsamkeiten zwischen den beiden im Fokus stehenden Figuren finden lassen, was im Vergleich dann auch die Frage nach einer möglichen Generationenidentität aufwirft. 10 I. Theoretischer Teil In diesem ersten, theoretischen Teil wurden zunächst die beiden Begriffe „Popliteratur“ und „Identität“ erörtert. Dies erschien sinnvoll, da beide Begriffe eine wichtige Rolle in dieser Arbeit und auch bei der späteren Analyse spielen und im Vorfeld geklärt werden müssen. 1. Das Phänomen „Popliteratur“ Zunächst sollen der Begriff „Popliteratur“ an sich und der Bereich „Pop“ im Allgemeinen in den Mittelpunkt gerückt werden, bevor die Entstehung und Entwicklung des Begriffs durch die Jahrzehnte hindurch näher betrachtet wird. Darüber hinaus wird der Zustand der Popliteratur in den letzten Jahren beleuchtet und erfasst, welchen Stellenwert die Popliteratur zum jetzigen Zeitpunkt einnimmt. Schließlich werden ausgewählte Merkmale popliterarischer Werke aufgeführt, wobei der Fokus auf den inhaltlichen und formalsprachlichen Aspekten liegt. Wichtig erscheint jedoch auch die betreffende Haltung der Autoren, die in diesem Zusammenhang vermittelt werden soll, wie auch das Verhältnis zwischen Autor und Werk. 1.1. Zum Begriff Bevor man sich mit den Schriftstellern der Popliteratur beschäftigt, geht es zunächst darum, sich mit dem Begriff auseinanderzusetzen und diesen zu klären. Allerdings gilt es vor allem auch zu definieren, was einen „Begriff“ überhaupt ausmacht.1 In Anlehnung an Theodor W. Adorno kann man Begriffe als „Denkmäler von Problemen“ verstehen.2 Demnach kann ein Begriff nicht einfach so, aus dem 1 Vgl. Mehrfort, Sandra: Popliteratur. Zum literarischen Stellenwert eines Phänomens der 1990er Jahre. Karlsruhe (2. Aufl.) 2009. S. 12 11 Nichts, entstehen oder existiert naturgegeben, sondern entwickelt sich über einen gewissen Zeitraum und ist also „die Folge menschlichen Handelns, ein Produkt“. 3 Der Entstehungsprozess ist dabei allerdings lang und nicht einfach, denn zunächst ist ein Denkmal „etwas Monumentales“, das erst im Zuge der ersten Rezeption Faszination bewirkt. Das Individuum, das sich mit dem Begriff beschäftigt, ist zunächst also fasziniert, machtlos und handlungsunfähig. So gilt es also diesen Zustand zu überwinden, wenn mit dem „Denkmal“ produktiv umgegangen werden will: „Damit das Denkmal lebendig, also das Wort zu einem Begriff werden kann, muss dieses zum ‚Treffpunkt von sprachlosem Denkmal und sprachbegabtem Publikum’4 avancieren.“5 Gehen diese beiden Komponenten kreativ miteinander um, dann kann daraus ein „sprachbegabtes Denkmal“, also der „aussagekräftige Begriff“ hervorgehen. Allerdings nimmt dieser Prozess einen gewissen Zeitraum ein, „bis er aus seinem Entstehungskreis, in diesem Fall die Literaturwissenschaft, „kulturell und sozial diffundier(t) und in weiteren Kreisen (seine) Spuren hinterl(äss)t“6.“7 Kommt dieser Prozess zu einem erfolgreichen Ergebnis, dann findet sich dem gerade entstandenen Begriff dann doch wieder ein sprachloses Publikum gegenüber, denn in dem Augenblick, in dem mit dem Begriff gearbeitet werden soll, taucht meistens ein grundsätzliches Problem auf: Der Begriff ist oftmals nicht klar und eindeutig definiert. Dabei stellt sich das Problem nicht in der Mehrdeutigkeit des Begriffs an sich, sondern in der Mehrdeutigkeit des Themas oder des Problems, für das dieser Begriff eigentlich eingeführt wurde.8 2 Vgl. Knobloch, Clemens: Überlegungen zur Theorie der Begriffsgeschichte aus sprach-­‐ und kommunikationswissenschaftlicher Sicht. In: Archiv für Begriffsgeschichte 35 (1992). S. 21. In: Mehrfort, Sandra: Popliteratur. S. 12 3 Vgl. Mehrfort, Sandra: Popliteratur. S. 12 4 Schlich, Jutta: Geschichte(n) des Begriffs ‚Intellektuelle‘. In: Schlich, Jutta: (Hrsg.): Intellektuelle im 20. Jahrhundert in Deutschland. Ein Forschungsreferat. Tübingen 2000. (Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur; Sonderheft 11). S. 1. In: Mehrfort, Sandra: Popliteratur. S. 12 5 Mehrfort, Sandra: Popliteratur. S. 12 6 Vester, Heinz-­‐Günter: Soziologie der Postmoderne. München 1993. S. 9. In: Mehrfort, Sandra: Popliteratur. S. 12 7 Vgl. Mehrfort, Sandra: Popliteratur. S. 12 8 Vgl. Schlich, Jutta: Geschichte(n) des Begriffs ‚Intellektuelle‘. In: Schlich, Jutta: (Hrsg.): Intellektuelle im 20. Jahrhundert in Deutschland. Ein Forschungsreferat. S. 2. In: Mehrfort, Sandra: Popliteratur. S. 12f 12 So kann an sich jeder individuelle Zugang zu der betreffenden Thematik den betreffenden Begriff verändern, weil es eine Unmenge an verschiedenen Möglichkeiten gibt, sich mit dem Begriff auseinanderzusetzen. Das Denkmal, also in diesem Sinne auch der Begriff, ist nicht aus Stein, sondern aus einer formbaren Masse konstruiert, die sich in einem gewissen Maße verändern lässt. Vor allem stellen Begriffe auch immer Konstrukte dar, die dem Wandel in Geschichte, Gesellschaft und Forschung unterliegen.9 Auch der Begriff „Popliteratur“ – ebenso wie das Thema „Pop“ – ist ein Produkt der jeweiligen Zeit. Bei der Beschäftigung mit diesem Begriff gelangt man schnell zur Einsicht, dass „Pop“ im Endeffekt alles umfassen kann. Die Generation, die sich in den 1990er Jahren vordergründig mit diesem Phänomen auseinandersetzt, lebt in einer solchen Popkultur, hört Popmusik, schaut sich Popart an und liest auch Popliteratur. Im Zuge dieses Phänomens werden Veranstaltungen immer mehr zu poppigen Events, Politiker sehen sich in der Rolle des Popstars, und im kleinbürgerlichen Bereich kann jeder Mensch, dank zahlreicher Castingshows im Fernsehen, zum Popstar werden. Im Kontext einer solchen Darstellung lässt sich allerdings leicht der Überblick über die mit Pop zusammenhängenden Bereiche verlieren, und nicht zuletzt gehen die eigentliche Bedeutung und der Gehalt des Begriffes verloren. Indem alles zu Pop erklärt wird, kommt es zur Gefahr der Dauerbelästigung durch dieses Phänomen. Verschiedene Vorurteile oder Antipathien sind so geradezu verständlich.10 Andererseits erscheint es gerade dadurch interessant, sich näher mit dem Begriff und dem Phänomen zu beschäftigen. Nach Diedrich Diederichsen lässt sich die Herkunft des Begriffes auf das englische Wort „popular“ zurückführen, was so viel wie „beliebt“ bedeutet. Doch es gibt einige Schwierigkeiten in punkto Übersetzung in die deutsche Sprache. Der deutsche Begriff „populär“ hat einen negativen, abwertenden Nachgeschmack, welcher dem englischen Begriff nicht anhaftet. Der Begriff 9 Vgl. Schlich, Jutta: Geschichte(n) des Begriffs ‚Intellektuelle’. In: Schlich, Jutta: (Hrsg.): Intellektuelle im 20. Jahrhundert in Deutschland. Ein Forschungsreferat. S. 1. In: Mehrfort, Sandra: Popliteratur. S. 13 10 Vgl. Kemper, Peter/ Langhoff, Thomas/ Sonnenschein, Ulrich: Vorwort. In: Dies. (Hrsg.): „alles so schön bunt hier“. Die Geschichte der Popkultur von den Fünfzigern bis heute. Stuttgart 1999. S. 9 In: Mehrfort, Sandra: Popliteratur. S. 33 13 verweist auf die Breitenwirkung und indirekt auf die negativ konnotierte Massenkultur. Der englische wie auch der deutsche Begriff gehen auf das lateinische Wort „populus“ („das Volk“) zurück. Mithin könnte man annehmen, dass Pop den Geschmack des Volkes bezeichnet, also das, was dem Volk gefällt. Darüber hinaus bezeichnet Pop allerdings auch einen künstlerischen Prozess, „welche(r) das Rearrangement von Oberflächen zum Inhalt hat“11 und sich ausgehend von der bildenden Kunst in vielen anderen Bereichen durchgesetzt hat. In diesem Sinne kann man Pop nicht nur als eine Abkürzung für „populär“ betrachten. Denn auch das, was nicht populär ist, kann Pop sein. Ferner muss berücksichtigt werden, dass Pop nicht nur mit Massengeschmack und Popularität in Verbindung steht, sondern oft auch mit Provokation.12 Möchte man sich den Begriff „Pop“ zu eigen machen, so muss zwischen dem Prozess „Pop“ und dem Endprodukt „Pop“, das sich verschiedenen Bereichen zuordnen lässt, unterschieden werden. Ausgehend von der Basis, die das Verfahren darstellt, zeigt sich, dass Pop mit vorgefundenen Oberflächen spielt, also mit dem, was man zuerst sieht. Zudem kann unter „Oberfläche“ die Nennung von Begriffen verstanden werden, deren tieferer Sinn ausgeblendet bleibt; zumeist, da diese Oberflächen der Alltagskultur entnommen sind. Mehrfort schreibt dazu Folgendes: „Mittels des Pop-­‐Verfahrens werden diese Fundstücke in die künstlerische Realisation aufgenommen und mit Bedeutung aufgeladen: gerade der Aspekt des Wiederaufnehmens und Verfremdens macht die eigentlich in der Kunst als völlig fehl am Platze erscheinenden Objekte [...] speziell.“13 Gerade dadurch, dass mit Elementen aus der Massenkultur gearbeitet wird, erscheint Pop als intertextuell, in der Musik, Malerei, aber auch in der Literatur. Durch diese „Rearrangements“ entstehen Codes, die zwar von allen wahrgenommen werden können, jedoch nur von einem „mit Pop sozialisierten Publikum“, also einem Publikum, das im Umgang mit Pop geübt ist, 11 Mehrfort, Sandra: Popliteratur. S. 33 12 Vgl. Mehrfort, Sandra: Popliteratur. S. 34 13 Mehrfort, Sandra: Popliteratur. S. 34 14 durchleuchtet werden kann.14 Demnach ist Pop zwar für alle zugänglich, aber nicht für jeden vollständig verständlich. Nach Diederichsen gibt es allerdings drei Merkmale, die Pop als Verfahren kennzeichnen. Demnach ist Pop „immer Transformation, im Sinne einer dynamischen Bewegung, bei der kulturelles Material und seine sozialen Umgebungen sich gegenseitig neu gestalten und bis dahin fixe Grenzen überschreiten“. 15 In diesem Sinne geht also die Veränderung nicht nur von einer Seite aus, sondern es besteht eine Art wechselseitige Transformation zwischen Gesellschaft, staatlicher, nationaler und wirtschaftlicher Kultur, sodass Pop nicht statisch sondern dynamisch erscheint. So ist die Wirkung, die Pop zu seinen Glanzzeiten besaß, auch so zu erklären, dass der Erfolg einer solchen Richtung erst durch das beständig wachsende Maß an technologischen Veränderungen und die Ausbreitung der Massenmedien in den 1960er Jahren möglich geworden ist, da durch diese erst Pop verbreitet und propagiert werden konnte. Die Massenmedien sind also als fester Bestandteil der allgemeinen Popkultur zu verstehen, denn so ist einerseits das, was im Fernsehen ausgestrahlt wird, bereits populär, andererseits wird durch das Fernsehen „der Popularitätsanspruch“ eingelöst, da so viele Menschen erreicht werden können, die beispielsweise nach dem Ausstrahlen der Sendung das Buch oder die Platte kaufen.16 In den 60er Jahren fand ein allgemeiner Wandel in der Gesellschaft statt, sodass die Bevölkerung nun auch begann, gegen die Politik ihrer Regierungen zu demonstrieren. In der Glanzzeit des Pop, den 1960er Jahren, stand also der kritische Gestus von Pop im Vordergrund. So verpackte man radikale Gesellschaftskritik in eine „formale (Schein-­‐)Affirmation der konsumorientierten Warenwelt“.17 Daraus ergibt sich Diederichsens zweite Definition: „Pop hat eine positive Beziehung zur wahrnehmbaren Seite der sie umgebenden Welt, ihren Tönen und Bildern.“18 14 Vgl. Mehrfort, Sandra: Popliteratur. S. 34 15 Diederichsen, Diederich: Pop-­‐deskriptiv, normativ, emphatisch. In: Literaturmagazin 37 (1996). S. 36-­‐44. S. 38f. In: Mehrfort, Sandra: Popliteratur. S. 35 16 Vgl. Mehrfort, Sandra: Popliteratur. S. 43 17 Vgl. Mehrfort, Sandra: Popliteratur. S. 35 18 Diederichsen, Diederich: Pop-­‐deskriptiv, normativ, emphatisch. S. 39f. In: Mehrfort, Sandra: Popliteratur. S. 35 15 Aus dieser positiven, bejahenden Betrachtung der Welt ergibt sich dann auch die dritte Definition: „Pop tritt als Geheimcode auf, der aber gleichzeitig für alle zugänglich ist.“19 Natürlich finden sich diese teilweise paradoxen Merkmale in den verschiedenen künstlerischen Bereichen wie Pop Art, Popmusik, Popkultur und nicht zuletzt der Popliteratur wieder. So hat also das Pop-­‐Verfahren auch im Bereich der Literatur Einzug gehalten. Die deutsche Popliteratur der Anfangsjahre nimmt durch ihre Texte, die mit „ihrer Exzentrik, Monomanie, Obszönität, Unsinnigkeit und Primitivität“20 gekennzeichnet sind, einen Platz zwischen der „Trivial-­‐ und Eliteliteratur“ ein.21 Weiterhin hat Schäfer darauf aufmerksam gemacht, dass die englische und vor allem die amerikanische Literatur, die hier um 1968 zeitversetzt wahrgenommen wurde, in Verbindung zu den aktuellen Geschehnissen in Amerika gelesen wurde, obwohl die Werke doch etwas früher verfasst worden waren. In diesem Sinne wurde die Popliteratur in Deutschland als „Sprachrohr der Protestbewegung“ gelesen, was eigentlich nicht beabsichtigt war.22 So gilt für die angloamerikanische und die deutschsprachige Popliteratur, dass diese Art der Literatur nicht „ohne Öffentlichkeit und mediale Rückkoppelungseffekte“ auskommt. Die Popliteratur muss auch als Destillierung aus der Alltagskultur, als „Sekundäreffekt“ verstanden werden23: „Popliteratur ist demnach als ein künstlerisches Derivat neuer Lebensweisen zu sehen, zu denen beispielsweise die rasante Entwicklung der Massenmedien gehörte.“24 So blieb auch in den 60er Jahren die Suche nach einem Platz zwischen Trivial-­‐ und Eliteliteratur, also die „kunstimmanente Verortung“, einer der Hauptantriebe der Popliteratur. In diesem Zusammenhang gilt der als legendär geltende Vortrag Fiedlers („Cross the Border, Close the Gap“) als richtungsweisend, da er sich für eine Überwindung dieser Dichotomie und für 19 Diederichsen, Diederich: Pop-­‐deskriptiv, normativ, emphatisch. S. 40. In: Mehrfort, Sandra: Popliteratur. S. 35 20 Döhl, Reinhard: Pop-­‐Literatur. S. 359. In: Schweikle/ Schweikle (Hrsg.): Metzler Literatur-­‐Lexikon. In: Mehrfort, Sandra: Popliteratur. S. 44 21 Vgl. Mehrfort, Sandra: Popliteratur. S. 44 22 Vgl. Schäfer, Jürgen: Neue Mitteilungen aus der Wirklichkeit. Zum Verhältnis von Pop und Literatur in Deutschland seit 1968. In: Arnold, Heinz-­‐Ludwig/ Schäfer, Jürgen: Pop-­‐
Literatur. (TEXT+KRITIK. Zeitschrift für Literatur. Sonderband) München 2003. S. 18 23 Vgl. Frank, Dirk (Hrsg.): Texte und Materialien für den Unterricht. Popliteratur. Stuttgart 2003. S. 6 24 Mehrfort, Sandra: Popliteratur. S. 44 16 eine „Synthese der beiden Skalenenden“ aussprach.25 Dieser Aufforderung nachkommend sollten die Schriftsteller also eine „zugleich populäre wie sinnlich-­‐lustbetonte Literatur“ produzieren.26 Brinkmann galt in der BRD als einer der stärksten Verfechter dieser Aufforderung und wendete sich aufgrund der Probleme im Literaturbetrieb dieser Zeit, also der immer größer werdenden Wichtigkeit der Form wie auch der Politisierung der Literatur, von der traditionellen Literatur ab und dem „Pop mit seiner affirmativen Haltung den Oberflächen gegenüber“ zu.27 Darüber hinaus war der Schriftsteller der Ansicht, dass der Autor an sich immer untrennbar mit seinem Material verbunden bliebe, sodass Literatur für ihn also immer subjektiv sein musste. In diesem Sinne ist dann auch die „literarische Praktik des Umfunktionierens [...] der popkulturellen Signifikanten“ immer subjektiv und gegenwartsbezogen.28 Durch diese Um-­‐ oder Neucodierung der Pop-­‐Signifikanten findet sich also Pop im literarischen Bereich umgesetzt. Als spezifisches Charakteristikum des Pop gilt auch die Auseinandersetzung mit Oberflächen, was oft als Oberflächlichkeit verstanden wird. Allerdings ging es den Vertretern des Pop besonders anfangs durch die Beschäftigung mit der Oberfläche vor allem darum, unter die Oberfläche „der gesellschaftlichen Realität“ zu blicken.29 Betrachtet man Pop und im Speziellen die Popliteratur wissenschaftlich, liegt die Schwierigkeit vor allem darin, dass es keine allgemeingültige Definition von Pop gibt. Die Meinungen darüber genauso wie über den Stellenwert der Popliteratur gehen dabei sehr auseinander, sodass es auch heute noch eine strenge Hierarchie in der deutschen Literatur gibt. Ob Popliteratur nun der „hohen“ Literatur, der Unterhaltungs-­‐ oder Trivialliteratur oder gar dem Schund zuzurechnen ist, geht aus der subjektiven Ansicht der Kritiker hervor. Außerdem herrscht eine gewisse Divergenz innerhalb der Popliteratur, die eine Einordnung noch zusätzlich erschwert. Diese Divergenz 25 Vgl. Mehrfort, Sandra: Popliteratur. S. 44 26 Vgl. Frank, Dirk (Hrsg.): Texte und Materialien für den Unterricht. S. 12 27 Vgl. Mehrfort, Sandra: Popliteratur. S. 45 28 Vgl. Schäfer, Jürgen: Mit dem Vorhandenen etwas anderes als das Intendierte machen. Rolf Dieter Brinkmanns poetologische Überlungen zur Pop-­‐Literatur. In: Arnold, Heinz-­‐
Ludwig/ Schäfer, Jürgen: Pop-­‐Literatur. (TEXT+KRITIK. Zeitschrift für Literatur. Sonderband) München 2003. S. 76 29 Vgl. Mehrfort, Sandra: Popliteratur. S. 46 17 rührt daher, dass sich die Texte der 1960er erheblich von denen der 1990er unterscheiden, obwohl beide Arten als Popliteratur bezeichnet werden. Aus diesem Grunde lehnten wohl auch viele Kritiker die Texte der 1990er Jahre ab, da diese nicht mit den etablierten Werken der Popliteratur der 1960er Jahre vergleichbar sind. Deutlich wird also, dass sich seit den 1960er Jahren Entwicklungen und Veränderungen innerhalb der Popliteratur ergeben haben, so dass allmählich die Grenzen zwischen dem avantgardistischen und populären Pop verwischen. Die Werke der 1990er Jahre, die mit dem Etikett „Pop“ versehen wurden, sind nun gleichbedeutend mit Begriffen wie „jugendlich“, „massentauglich“ und „anti-­‐intellektuell“.30 Allerdings wird durch die massenweise Verbreitung der Popliteratur durch die Medien die Tatsache vergessen, dass es sich bei Pop im Allgemeinen um ein Kunstprinzip handelt. Demnach ist die in den 1990er Jahren entstandene Popliteratur als ein neuer Versuch der „Symbiose von „High“ und „Low“ zu verstehen, nur allerdings innerhalb des Pop.31 Abschließend kann auch noch einmal verdeutlicht werden, dass in der Popliteratur literarische, aber hauptsächlich außerliterarische Themen, wie beispielsweise Mode, Partys oder Marken, aufgegriffen werden, dieselben in eine neue prosaische Form implementiert und so ein Ausschnitt der Welt durch eine Oberflächenbeschreibung dargestellt wird, wobei der Bezug zum Zeitgeist immer im Vordergrund steht.32 1.2. Zur Entstehung und Entwicklung von Popliteratur Die Popliteratur als solche hat ihren Ursprung in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Als Folge der Industrialisierung, die zwei Weltkriege und den Kalten Krieg wurde an den aufklärerischen und humanistischen Wertvorstellungen gezweifelt. Es 30 Vgl. Ullmaier, Johannes: Von Acid nach Adlon und zurück. Eine Reise durch die deutschsprachige Popliteratur. Mainz 2001. S. 12 31 Vgl. Mehrfort, Sandra: Popliteratur. S. 46 32 An anderer Stelle dieser Arbeit wird noch einmal näher auf diese Aspekte eingegangen werden. 18 stellte sich die Frage nach dem Sinn einer hochkulturellen, bürgerlichen Literatur. Es bleibt auch zu erwähnen, dass der Popliteratur zunächst doch etwas Exotisches anhaftete. Der Popliteratur und vor allem auch der deutschen Literatur dieser Art wurde der Stempel des Subversiven, des Revolutionären aufgedrückt, da sich die literarische Elite gegen die „Last bildungsbürgerlicher Esoterik und kitschiger Lebensferne“ auflehnte.33 In den 1950er Jahren hatten in Amerika Schriftsteller wie Allen Ginsberg, Jack Kerouac oder William S. Burroughs bereits den Weg der Trivial-­‐ und Sublimliteratur betreten und bildeten gemeinsam das Zentrum der später als Beatniks bezeichneten Poeten. Sie beeinflussten die US-­‐amerikanische, aber auch die europäische Literatur maßgeblich, da sie in ihrer Außenseiterrolle ihre Sexualität, welcher Art auch immer, frei lebten, mit Drogen experimentierten, umherreisten und sich mit mystischen Ansätzen aus Fernost beschäftigten. Schließlich wurden einige in die Psychiatrie eingewiesen, da die Verweigerung der amerikanischen Normen zu diesem Zeitpunkt als krankhaft beurteilt wurde. Trotz allem waren die Beatniks der Überzeugung, „den echten, besseren Patriotismus zu verkörpern, und verfassten aus dieser Haltung heraus eine harte und zornige Literatur in einem Kampf der Hassliebe um das wahre Amerika“.34 Im Kampf gegen die Hochkultur und ihre formalen Richtlinien öffneten sie die Literatur für einen freien und offenen Ausdruck. So verwendeten die Poeten in ihren Texten bevorzugt Umgangssprache wie auch Obszönitäten und thematisierten frei von Zwängen Sex-­‐ oder Drogenerlebnisse aus dem eigenen Erfahrungsbereich. Diese unverhüllte Art und Weise wirkte auf die Leserschaft einerseits schockierend, aber auch anziehend. Allerdings konnten einige Bücher nur nach Zensurprozessen verlegt werden, was die Popularität jedoch nur noch steigerte. Einige Beatniks hatten bereits Ende der 1950er Jahre versucht, ihre Texte gemeinsam mit Musikern vorzutragen, und griffen mit ihrem Wunsch nach Verbindung von Kunst und Leben das Lebensgefühl vorweg, das etwas später der Hippie-­‐Bewegung zugrunde lag.35 33 Vgl. Frank, Dirk (Hrsg.): Texte und Materialien für den Unterricht. S. 11 34 Vgl. Ernst, Thomas: Popliteratur. Hamburg 2001. S. 15 35 Vgl. Ernst, Thomas: Popliteratur. S. 15f 19 Ende der 1960er Jahre wurde der Begriff „Popliteratur“ erstmals von dem amerikanischen Medientheoretiker Leslie A. Fiedler benutzt. Gemeint hatte er damit die Vertreter der „Beat Generation“, „ die eine offene Literatur ‚von unten’ schrieben“.36 Gedacht hatte er allerdings auch an die Kunstrichtung „Pop-­‐Art“, welche sowohl Alltags-­‐ und Gebrauchsgegenstände als auch Bilder von Popstars als Kunst in den Museen der modernen Welt ausstellten. Wie bereits erwähnt, lässt sich beim aus der Musik stammenden Begriff an das Wort „popular“ für populär denken, aber auch an den lautmalerischen Begriff „pop“, der etwa „Knall“ oder „Zusammenstoß“ bedeuten kann. In diesem Sinne forderte Fiedler in seinem Aufsatz „Cross the Border – Close the Gap“ für die Literatur eine Öffnung gegenüber der populären Kultur und die Auseinandersetzung mit deren Sparten wie Fernsehen, Mode und Popmusik.37 Seiner Ansicht nach sollte die Grenze zwischen der Hoch-­‐ und der Subkultur aufgehoben werden, da besonders die Literatur von Autoren wie Ginsberg oder Burroughs gezeigt hatte, dass „eine antirationale, pornografische und an den Medienphänomenen orientierte Literatur diejenige der Zukunft sei, die eben nicht mehr an die Wahrheit und die Macht der Vernunft und Hochkultur glaube“.38 Er sah in der Pop-­‐Art also „die Überwindung der Grenze von Hoch-­‐ und Alltagskultur – einen Schritt in die ‚Postmoderne‘“, wie es im folgenden Zitat auch deutlich wird39: „So genannte Hohe Kunst auf Vaudeville-­‐ und Burleskenniveau herunterzuschrauben zu einem Zeitpunkt, da Massenkunst ohne Ehrfurcht die Museen und Bibliotheken erobert, ist ein politischer und ästhetischer Akt zugleich, ein Akt, der den Klassen-­‐ und Generationsunterschied überbrückt. Die Vorstellung von einer Kunst für die >Gebildeten< und einer Subkunst für die >Ungebildeten< bezeugt den letzten Überrest einer ärgerlichen Unterscheidung innerhalb der industrialisierten Massengesellschaft, die nur einer Klassengesellschaft zustünde. Weil Pop-­‐Art weiterhin wie seit Mitte des 18. Jahrhunderts gegen jene anachronistischen Überbleibsel Krieg führt, ist sie 36 Vgl. Ernst, Thomas: Popliteratur. S. 7 37 Vgl. Ernst, Thomas: Popliteratur. S. 7 38 Vgl. Ernst, Thomas: Popliteratur. S. 23 39 Vgl. Ernst, Thomas: Popliteratur. S. 23 20 subversiv, ungeachtet ihrer erklärten Hierarchien, weil sie wider die Ordnung ist.“40 Durch seine Ansichten und Ideen zu diesem Thema, wie sie oben erwähnt wurden, wurde Fiedler zu dieser Zeit auch in Deutschland zu einem der einflussreichsten Theoretiker von Popliteratur und Popmoderne und führte durch seine Vorträge, die er 1968 in Freiburg hielt, die Begriffe ein. Die dazu passende Kultur und Kunst bestand zu diesem Zeitpunkt allerdings nur in Ansätzen, sodass Fiedlers Thesen eher „Forderungen und Projektionen als Beschreibungen der Realität“ waren.41 In Deutschland machte aber vor allem Rolf Dieter Brinkmann 1968 den Begriff bekannt. Allerdings traf die Popliteratur hier im Gegensatz zur amerikanischen Literaturszene auf eine ganz andere Stimmung. Man sah hier in der kapitalistischen Kulturindustrie vor allem eine Gefahr und die Zerstörung des individuellen Kunstwerks. Auch heute wird in Deutschland am häufigsten der Begriff „Popliteratur“ benutzt, um diese von der „ernsthaften“ Literatur zu unterscheiden.42 So gab es in den 1960er Jahren dennoch eine Reihe an jungen Autoren, die einen Weg zur Befreiung und des Protestes gegen die nationalsozialistische Vätergeneration suchten und sich so der eher lustorientierten, anarchistischen Literatur widmeten.43 Auf der einen Seite fanden sich allerdings Vertreter der „Hochliteratur“, wie beispielsweise Peter Handke, Elfriede Jelinek oder Ernst Jandl. Vor dem Hintergrund sprachexperimenteller Ansätze und der Poetik der Verfremdung widmeten sie sich vor allem alltagssprachlichem Material.44 Dennoch verschrieben sie sich keineswegs ganzheitlich der popkulturellen Methode und der Alltagsthematik.45 Auf der anderen Seite standen die oben genannten Autoren aus dem subkulturellen Milieu. Diese Schriftsteller zeichneten sich insbesondere dadurch aus, dass sie weder bei renommierten Verlagen unter Vertrag waren noch die üblichen Vertriebswege und literarische Sozialisationsinstanzen nutzten. Ein wichtiger Stellvertreter dieser 40 Leslie A. Fiedler, 1968: In: Ernst, Thomas: Popliteratur. S. 22 41 Vgl. Ernst, Thomas: Popliteratur. S. 24 42 Vgl. Ernst, Thomas: Popliteratur. S. 7 43 Vgl. Ernst, Thomas: Popliteratur. S. 8 44 Vgl. Frank, Dirk (Hrsg.): Texte und Materialien für den Unterricht. S. 12 45Vgl. Frank, Dirk (Hrsg.): Texte und Materialien für den Unterricht. S. 12 21 Schriftstellergilde findet sich in Jörg Fauser, der das Material seiner autobiografischen Texte aus seinen Erlebnissen als Gelegenheitsarbeiter, Weltenbummler und Junkie bezieht und so zu einem gewissen Ruhm gelangen konnte.46 Ein weiterer Schriftsteller mit einer gewissen subkulturellen Bodenhaftung ist Hubert Fichte. So veranstaltete er bereits 1966 Lesungen im „Star Club“, in dem auch Bands wie die Beatles aufgetreten waren. Um die Verknüpfung mit dem popmusikalischen Bereich zu vollenden, ließ sich Fichte von einer Beatband, „Ian and the Zodiacs“, begleiten. Auch er verarbeitete in seinen Werken autobiografisches Material, so zum Beispiel seine „eigenen Erfahrungen im Hamburger Homosexuellen-­‐Milieu“.47 Neben den beiden genannten Autoren konnten allerdings nur wenige Autoren der subkulturellen Szene ein breiteres Publikum erreichen. Zudem hatten die etablierten Autoren wie Peter Handke und Ernst Jandl nur wenig Interesse an einer eigenständigen Popliteratur. Der bereits oben erwähnte Rolf Dieter Brinkmann war dann auch einer der wenigen Schriftsteller, der gleichermaßen das literarische Establishment und das jugendliche Publikum überzeugen konnte. Er versuchte den „subjektiven und unmittelbaren Zugang zur Wirklichkeit mit dem Wahrnehmungs-­‐ und Ausdrucksrepertoire der Medien-­‐ und Konsumkultur“ zu kombinieren, wobei andere Autoren „in den Grenzen der Selbstbespiegelung“ gefangen blieben.48 So war also vielen der authentische und biografische Kontext des Schreibens wichtiger als ein Experimentieren mit Ausdrucksmitteln aus dem filmisch-­‐visuellen Bereich. In den 1970er und 1980er Jahren entwickelten sich daraus allerdings „sprachkritische, satirische, ironische, dokumentarische Literaturen, die auf verschiedenen Wegen Fiedlers Impulse und die der französischen Postmoderne-­‐
Philosophen Michel Foucault oder Gilles Deleuze aufnahmen. Durchgängiges Motiv war, dass die Literatur ein subversives Spiel mit vorhandenen Zeichen und Texten sein müsse, eine Collage aus Zitaten, ein Sampling aus Vorhandenem, vergleichbar der aufkommenden DJ-­‐Culture“.49 46 Vgl. Frank, Dirk (Hrsg.): Texte und Materialien für den Unterricht. S. 13 47 Vgl. Frank, Dirk (Hrsg.): Texte und Materialien für den Unterricht. S. 13 48 Vgl. Frank, Dirk (Hrsg.): Texte und Materialien für den Unterricht. S. 14 49 Vgl. Ernst, Thomas: Popliteratur. S. 8 22 Ein Stichwort der Popliteratur der 1970er Jahre war der Begriff „Neue Subjektivität“. Es ging nun nicht mehr nur, wie in den 1960er Jahren, um die Politisierung von Literatur und die großen gesellschaftspolitischen Ideen, sondern eher um den Rückzug ins Private. Auch zeichnete sich in vielen Texten bereits ab, dass die revolutionären Ziele der Studentenproteste der 1960er Jahre womöglich gescheitert waren, die Pop-­‐ und Rockkultur dieser Zeit ein wichtiges künstlerisches Mittel, aber auch „eine bis in den Alltag reichende Zeichenwelt“ geworden war.50 In den lyrischen Texten von Jürgen Theobaldy, Nicolas Born oder F. C. Delius werden allerdings eher frustrierende Erfahrungen geschildert, welche die „alternativen Milieus mit den Veränderungen der Pop-­‐ und Rockkultur machen müssen“51 und so scheint der Rückzug ins Private wohl eher unfreiwillig zu geschehen. Ein Autor, der allerdings besonders erfolgreich mit seinen milieuspezifischen Schilderungen war, ist Wolf Wondratschek. Den Erfolg machte vor allem der „ruppig-­‐selbstverliebte Ton“ seiner Gedichte aus, mit dem sich die junge, männliche Leserschaft besonders gut identifizieren konnte.52 Zu den wichtigsten Zeitdokumenten der 1970er Jahre zählt Bernward Vespers unvollendetes Werk „Die Reise“. Er erzählt von „seiner Kindheit in der Familie des Nazidichters Will Vesper, von realen Reisen quer durch Europa und imaginären Reisen durch seine Gedankenwelt“ und dies auf unterschiedlichen Zeit-­‐ und Bewusstseinsebenen. Der Schriftsteller selbst wird des Öfteren als „Grenzgänger zwischen politischem Engagement und subjektivem Schreiben, zwischen modernistischen und pop-­‐geprägten Darstellungsformen“ bezeichnet.53 Weitere Autoren, die genannt werden müssen, sind Ulrich Plenzdorf und Thomas Brussig – beides sehr erfolgreiche Zeitzeugen der DDR-­‐Popkultur –, wobei den jungen Schriftstellern der DDR die Rezeption der neuen Literatur wahrscheinlich deutlich schwerer fiel. Die ist vor allem darauf zurückzuführen, dass es in der 50 Vgl. Frank, Dirk (Hrsg.): Texte und Materialien für den Unterricht. S. 15 51 Frank, Dirk (Hrsg.): Texte und Materialien für den Unterricht. S. 15 52 Vgl. Frank, Dirk (Hrsg.): Texte und Materialien für den Unterricht. S. 15 53 Vgl. Frank, Dirk (Hrsg.): Texte und Materialien für den Unterricht. S. 15f 23 DDR ein ästhetisches Programm gab, an das man sich zu halten hatte und das vor allem am sozialistischen Realismus orientiert war.54 Zu Zeiten der DDR entwickelte sich „Popliteratur jenseits des bürgerlichen Kunstverständnisses“ vor allem in dem Berliner Stadtteil „Prenzlauer Berg“. Besonders unter dem Einfluss von Punkmusik entstand hier in den frühen 1980er Jahren eine breitgefächerte Kunst-­‐ und Literaturszene. So versuchten beispielsweise junge Schriftsteller wie Bert Papenfuß-­‐Gorek oder Uwe Kolbe „das ideologisch besetzte Sprachmaterial der DDR-­‐Offiziellen unbekümmert zu demontieren“.55 Besonders die staatliche Repression förderte den Zusammenhalt in der Popszene der DDR. Im Laufe der Zeit wurde die Popliteratur von diversen Entwicklungen im Bereich der Popkultur und besonders der Popmusik inspiriert. In den späten 1970er Jahren waren es vor allem die Punk-­‐ und New-­‐Wave-­‐Bands, die sich gegen den Stillstand der bestehenden Rockmusik auflehnten und so eine Vorlage für eine neue Generation an Dichtern bildeten. Auch in den 1980er Jahren stellte die Musik einen bedeutenden Faktor für die Literaturszene dar. So stellt der österreichische Schriftsteller Peter Glaser fest: „Das beste Buch des Jahres ʼ81 ist eine Schallplatte: Monarchie und Alltag von den Fehlfarben.“56 Glaser gab ebenfalls den Band „Rawumms“ heraus, welcher Texte von Musikern, Journalisten und Künstlern enthielt – so auch den Text „Subito“ von Rainald Goetz, der scheinbar geradezu „paradigmatische Bedeutung für die Aufbruchstimmung in den frühen 80er Jahren besitzt“. „Wir brauchen noch mehr Reize, noch viel mehr Werbung Tempo Autos Modehedonismen Pop und nochmals Pop. Mehr vom Blauen Block, mehr vom HardcoreSchwachsinn der TitelThesenTemperamente-­‐UndAkzenteSendungen. Das bringt uns allabendlich in beste Trinkerlaune.“57 Der Text kann mit seinem Tonfall doch schon als ein Manifest der 1980er Jahre Pop-­‐Poetik angesehen werden, wobei der Schriftsteller selbst sich Ende der 1980er Jahre von seinem Text distanziert hat. So schritt Goetz auch in den 1990er Jahren zum „Chronisten und Apologeten der Technokultur“ heran. Seine Werke sind dabei allerdings 54 Vgl. Ernst, Thomas: Popliteratur. S. 46 55 Vgl. Frank, Dirk (Hrsg.): Texte und Materialien für den Unterricht. S. 17 56 Frank, Dirk (Hrsg.): Texte und Materialien für den Unterricht. S. 18 57 Frank, Dirk (Hrsg.): Texte und Materialien für den Unterricht. S. 18 24 weniger Berichte aus dem Nachtleben, „vielmehr greift Goetz hier auf vielfältige Techniken wie Cut-­‐up, Bewusstseinsstrom und auch diskursive Textstrategien zurück, vermischt Erlebnisebene und Kommentarebene und öffnet damit seinen Diskurs auch für Außenstehende“.58 Rainald Goetz nimmt unter den zeitgenössischen Popliteraten eine gewisse Sonderstellung ein, da „sein affirmatives Verhältnis zur Spaßkultur“ der Neunziger nicht in erster Linie auf einem „provokatorischen Kalkül“ basiert, sondern für die „Begeisterungsfähigkeit eines geläuterten Zynikers“ steht.59 Einige Popliteraten sammelten, bevor sie zur Literatur kamen, erste, künstlerische Erfahrungen in Popgruppen, so zum Beispiel Max Goldt, der zunächst Kopf der Band „Foyer des Arts“ war, bevor er erfolgreich Kolumnen in der popsatirischen Zeitschrift „Titanic“ veröffentlichte. Goldt wie auch andere Schriftsteller dieser Zeit können der „Neuen Frankfurter Schule“ zugeschrieben werden. Literaten und Zeichner aus dem Bereich der satirischen Zeitschriften „Titanic“ und „Pardon“ werden unter diesem ironisch anmutenden Markennamen zusammengefasst und begreifen sich als „humoristische Alternative“ zu der „Frankfurter Schule“ Max Horkheimers und Theodor W. Adornos. Der Bezug zur Popliteratur scheint nur ein mittelbarer zu sein, und so lässt sich von einer eigenständigen Richtung sprechen, besonders da die Dekonstruktion und die persiflierten sprachlichen und visuellen Medienphänomene viele Parallelen zu den Verfahrensweisen von Popliteratur aufzeigen.60 Die junge, deutsche Popliteratur erlebt jedoch seit 1995 sozusagen einen Boom. Junge Autoren wie Christian Kracht, Benjamin von Stuckrad-­‐Barre, Benjamin Lebert oder auch Alexa Hennig von Lange sind in den gängigen Bestsellerlisten vertreten und werden wie Popstars gefeiert. Auch die Feuilletons großer Zeitungen beschäftigen sich nun mit den „jungen Wilden“. Ständig erscheinen neue Texte unter der Betitelung „Popliteratur“ auf dem Markt, da sie eine große Aufmerksamkeit und ein kaufkräftiges Publikum garantieren.61 58 Vgl. Frank, Dirk (Hrsg.): Texte und Materialien für den Unterricht. S. 19 59 Vgl. Frank, Dirk (Hrsg.): Texte und Materialien für den Unterricht. S. 19 60 Vgl. Frank, Dirk (Hrsg.): Texte und Materialien für den Unterricht. S. 20f 61 Vgl. Ernst, Thomas: Popliteratur. S. 6 25 So wird Popliteratur jedoch auch in zahlreichen literaturkritischen Diskussionen der letzten Jahre als Hoffnungsträger gehandelt. Andererseits muss sie auch als eine Art Krisenphänomen gedeutet werden. Nach der deutschen Wiedervereinigung und den daraus entstehenden gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen wurden in der Literatur auch der Ost-­‐West-­‐Konflikt und die Folgen der Wende thematisiert, genauso wie die Thematik rund um die zweite und dritte Generation von Migranten. Vor diesem Hintergrund könnte die neue deutsche Popliteratur, die sich maßgeblich mit dem eigenen Selbst beschäftigte, als eine Art Gegenpol oder in ihrer Rolle als unpolitische Literatur sogar als Protest gegen die restliche überpolitisierte Literatur verstanden werden. Popliteratur polarisiert die Öffentlichkeit, was nicht weiter verwundert. Erstaunlich ist nur der Zeitpunkt des Booms, da die Auseinandersetzung mit einer solchen Art von Literatur in Deutschland bereits in den späten 1960er Jahren begonnen hat.62 Zu erklären ist dies dadurch, dass sich beide Arten von Popliteratur doch in wesentlichen Punkten unterscheiden, was vermutlich auch auf die Umstände der betreffenden Zeit zurückzuführen ist. In den 1990er Jahren veränderte sich der Begriff also im Vergleich zu den 1960er Jahren. Er war nun nicht mehr das Programm einer Außenseiterszene, welche auf der populären Kultur basierte und daraus „Versatzstücke für die eigene Identität“ ableitete. Die rebellische, politische Note ging nun also verloren.63 Dies scheint darauf zurückzuführen zu sein, dass die Gesellschaft der 1990er Jahre und vor allem die junge Generation, zu der die Popliteraten unbedingt gezählt werden müssen, durch die politischen Ereignisse der vorangegangenen Tage derart übersättigt sind, dass die zentralen Themen von Popliteratur in der Ich-­‐Bezogenheit, Oberflächlichkeit und materialistischen Orientierung der Individuen auszumachen sind. Darüber hinaus können die Menschen nach der Wende ihre individuelle Rolle als Konsument ausleben, was vor allem bei Bürgern der ehemaligen DDR vorher wohl nicht der Fall gewesen sein dürfte. Man möchte zu diesem Zeitpunkt nicht durch politisch angehauchte Wälzer erdrückt und an die überstandene Vergangenheit erinnert werden, sondern größtenteils konsumieren und die Leichtigkeit des Seins auskosten. 62 Vgl. Frank, Dirk (Hrsg.): Texte und Materialien für den Unterricht. S. 5 63 Vgl. Ernst, Thomas: Popliteratur. S. 8 26 Literatur muss sich also anpassen, um erfolgreich vom Publikum der Wohlstandsgesellschaft und seinen neugewonnenen Freiheiten konsumiert zu werden. So verkam Popliteratur in den 1990er Jahren immer mehr zu einer Dienstleistung innerhalb der Unterhaltungsindustrie und war gleichbedeutend mit dem Begriff „Easy Reading“. Das Spannende, Neue und Rebellische der Popliteratur ist verschwunden, lebt in einer Subkultur weiter oder ist zusammen mit den Autoren der 1960er Jahre, wie Brinkmann, Vesper usw., zu einer Art neuen Hochkultur geworden. Auch wurden erst ab Mitte der 1990er Jahre die unterschiedlichen popliterarischen Phänomene derart wahrgenommen, dass es sich hier um eine eigenständige Literaturrichtung handelt. Die Popautoren der 1990er Jahre versuchten durch eine einfache, am Alltag orientierte Sprache das Lebensgefühl einer gesellschaftlichen Gruppe wiederzugeben, die sich zwischen Jugendalter und der Gründung einer Familie situieren lassen. Themen wie Musik, Drogen, Reisen usw. finden Eingang in die Literatur, um den Zeitgeist der oben genannten gesellschaftlichen Gruppe zu beschreiben. Allerdings ist der subversive Charakter der 1960er Jahre größtenteils verschwunden, besonders da die dandyhaften Protagonisten meistens der Oberschicht entstammen. Es fand also ein Wandel statt, der sich nicht mehr vordergründig an subversiven Aspekten, sondern an affirmativen Bemühungen orientierte. Zudem versuchte man trotz allem, durch eine kritische Herangehensweise auch die gegenwärtige Ordnung widerzuspiegeln. Indem sich die Autoren erfolgversprechende Marketingstrategien zu eigen machten, konnten sie große Erfolge erzielen, aber auch zeitgleich die bestehenden Machtverhältnisse besonders im Bereich des Kulturjournalismus schonungslos kritisieren. Auch scheint hinter dem Konservatismus und dem demonstrativen politischen Desinteresse, die sich in vielen popliterarischen Werken widerspiegeln, auch das Ziel zu stecken, gegen die 68er-­‐Generation aufzubegehren. In diesem Zusammenhang scheinen allzu deutliche Provokationen zu dieser Zeit ernst genommen und nicht mehr zwischen Protagonist und Autor unterschieden zu werden. So erscheint die Popliteratur der 1990er Jahre keineswegs nur als anspruchslose 27 Literaturrichtung, sondern kann durchaus neue und notwendige Aspekte aufzeigen. 64 Die Erfolgsgeschichte deutschsprachiger Popliteratur begann mit dem Erscheinen von Christian Krachts „Faserland“ im Jahre 1995. Christian Kracht, ein langjähriger Journalist des Zeitgeist-­‐Magazins „Tempo“ und gelegentlicher Indienkorrespondent für den „Spiegel“, erzählt in seinem Debütroman von einem dandyhaften, arroganten Typ, der durch sein „Faserland“, sprich: Vaterland reist. Mit diesem Werk, auf das zu einem späteren Zeitpunkt dieser Arbeit detailliert eingegangen wird, hat Kracht einen neuen Typus von Popliteratur erschaffen. Den Hintergrund bildet in diesem Fall die Mentalität einer saturierten Mittelschicht und deren Vertreter – und nicht mehr die subkulturelle oder gegenkulturelle Mentalität. Der Protagonist ist, anders als bei den Schriftstellern der Beat Generation oder den frühen Popliteraten, ein Yuppie. Er ist kein Außenseiter der Gesellschaft, und weil er sich keine Sorgen um Geld zu machen braucht, auch kein Benachteiligter derselben. Krachts Hauptfigur findet auf seiner Reise quer durch Deutschland keine Heimat, wobei er zeitgleich „die Menschen und Moden durch die Brille eines ehemaligen Mitarbeiters des Lifestylemagazins Tempo“ kommentiert.65 Es lässt sich also hier eine Generation finden, die mit Pop aufgewachsen ist und nicht auf die Idee kommen würde, diese Richtung als gegenkulturellen Entwurf anzusehen. Krachts Form von Popliteratur suggeriert, dass es eigentlich nicht mehr benötigt, als „alltägliche Stilpräferenzen und Milieubeobachtungen in den Mittelpunkt der Geschichte zu stellen“, und hat so eine ganze Riege an Jungschriftstellern beeinflusst, nicht zuletzt auch Benjamin von Stuckrad-­‐
Barre.66 Besonders aber hat auch die Kontroverse um Krachts Roman einen Bruch sichtbar werden lassen. Umstritten ist vor allem die Frage, ob und wie Popliteratur in der heutigen Gesellschaft noch für ein gegenkulturelles Konzept 64 Siehe: http://de.wikipedia.org/wiki/Popliteratur#Gegenwart.2C_Modestr.C3.B6mung_.22Popl
iteratur.22 65 Vgl. Ernst, Thomas: Popliteratur. S. 72 66 Vgl. Frank, Dirk (Hrsg.): Texte und Materialien für den Unterricht. S. 22 28 stehen kann und inwiefern Krachts „literarisiertes Dandytum überhaupt ein kritisches Moment eignet“.67 Obwohl eine rein identifikatorische Lesart der Anlage des Romans nicht gerecht wird, trägt Kracht beim Treffen des „popkulturellen Quintetts“ im Jahre 1999 sogar selbst dazu bei, dass die Gleichsetzung von Autor und Romanfigur legitimiert wird. Beim obengenannten Treffen versammelten sich Christian Kracht, Alexander von Schönburg, Joachim Bessing, Eckhart Nickel und Benjamin von Stuckrad-­‐Barre, „um ein ‚Sittenbild‘ ihrer Generation zu entwerfen“.68 So wettern die fünf Poproyalen in diesem Kontext gegen die „Mediokrität der Gegenwartskultur, die aus ihrer Sicht hauptsächlich von der gleichmacherischen Selbstverwirklichungskultur der 60er-­‐ und 70er-­‐Jahre geprägt sei. Vor allem der in der Subkultur gepflegte ironische Umgang mit Stilen sei universell geworden“.69 Benjamin von Stuckrad-­‐Barre, der erfolgreichste Schriftsteller des popkulturellen Quintetts, ist der einzige, der – sehr verhalten zwar – auf der Widerstandskraft des Pop besteht. Obwohl Stuckrad-­‐Barre als selbstverliebter Selbstdarsteller der Medienwelt bekannt ist, schafft er mit seinem Roman „Soloalbum“ den Durchbruch im Bereich der Literatur. Der Protagonist, ein junger Angestellter einer Musikagentur, muss mit dem Ende seiner Beziehung umgehen und findet vor allem Trost in der Musik seiner Lieblingsband Oasis. Stuckrad-­‐Barre, dessen Werk sehr stark an Nick Hornbys Roman „High Fidelity“ angelehnt zu sein scheint, „präsentiert die selbstgenügsame Haltung eines gewöhnlichen Mitarbeiters der neuen Medienwelt, der seinen Musikgeschmack präsentiert, sich dabei aber nie über die Oberflächenwelten von VIVA oder MTV hinauswagt“.70 Die Romanform scheint nicht unbedingt die geeignetste für Stuckrad-­‐Barres Rhetorik zu sein, doch zeigt er hier stellenweise auf den Punkt gebrachte und somit auch amüsante Beobachtungen der Differenzgesellschaft.71 67 Vgl. Frank, Dirk (Hrsg.): Texte und Materialien für den Unterricht. S. 22 68 Vgl. Frank, Dirk (Hrsg.): Texte und Materialien für den Unterricht. S. 23 69 Vgl. Frank, Dirk (Hrsg.): Texte und Materialien für den Unterricht. S. 23 70 Vgl. Ernst, Thomas: Popliteratur. S. 73 71 Vgl. Frank, Dirk (Hrsg.): Texte und Materialien für den Unterricht. S. 24 29 Im Jahr 2000 kommt es dann bei einem Schriftsteller-­‐Kongress zu einer heftigen Debatte um die neue Pop-­‐Fraktion. Maxim Biller, der in den 1980er Jahren selbst Geschmacks-­‐ und Stilfragen untersucht hat, warf den oben genannten Poproyalen „Systemopportunismus“ vor. Obwohl viele Literaten Billers Abrechnung mit dieser Art von Literatur unterstützten, wurde die von ihm „geforderte Rückkehr zu Engagement und Generationsbewusstsein“ von vielen als Rückschritt empfunden.72 Neben den Vertretern der Popper-­‐Fraktion, die nicht zuletzt auch die Debatte über die Qualität der jungen deutschen Literatur bestimmt haben, gibt es doch auch eine akademisch-­‐intellektuelle Variante der Popliteraten der 1990er Jahre. Zu diesen ist beispielsweise Thomas Meinecke zu zählen, der in seinem Roman „Tomboy“ die Geschlechterdebatte der Postmoderne in Amerika schildert, welche als Hintergrund für eine Geschichte auf dem Universitätsmilieu in Heidelberg dient. Ferner ist auch Andreas Neumeister mit seinem Roman „Gut laut“ dazuzurechnen, dessen Protagonist den Blick eines Ethnologen auf die vielseitigen Phänomene der Popsozialisation richtet. Beide Autoren verlangen ihrer Leserschaft einiges an Vorwissen ab sowie „die Bereitschaft, sich den Phänomenen Musik und Mode mit der distanzierten Haltung eines Ethnologen zu nähern“73. Außerdem stellt sich die Frage, ob bei diesen beiden Romanen noch von Pop zu sprechen ist oder ob es sich doch wohl eher bereits um diskurs-­‐ oder sprachexperimentelle Romane handelt.74 Gleichwohl richten sich beide Fraktionen, die der Popper und die der akademischen Vertreter, nicht vordergründig an ein jugendliches Publikum, sondern an ein Publikum, das der Adoleszenz doch schon seit einiger Zeit entwachsen ist und mit einer gewissen Nostalgie an die eigene Popsozialisation zurückdenkt.75 Neben diesen beiden Kategorien existiert in den 1990er Jahren jedoch noch die des Mainstream. Diese unterscheidet sich zum Beispiel auch in dem Punkt, dass diese Schriftsteller sich sehr wohl an ein jugendliches Publikum richten – so zum Beispiel Benjamin Lebert, der mit seinem Roman „Crazy“ einen 72 Vgl. Frank, Dirk (Hrsg.): Texte und Materialien für den Unterricht. S. 24 73 Frank, Dirk (Hrsg.): Texte und Materialien für den Unterricht. S. 26 74 Vgl. Frank, Dirk (Hrsg.): Texte und Materialien für den Unterricht. S. 26 75 Vgl. Frank, Dirk (Hrsg.): Texte und Materialien für den Unterricht. S. 25ff 30 Überraschungserfolg landet, oder Alexa Hennig von Lange, die mit ihrem Romandebüt „Relax“ auf sich aufmerksam macht. Letztere ist nicht die einzige Popliteratin. Hier wären unter anderem zu nennen: Sybille Berg, Elke Naters, Kathrin Röggla, Tanja Dückers, Judith Herrmann oder Zoë Jenny. In diesen Fällen steht eine Verankerung in der Popliteratur der Kategorisierung unter Frauenliteratur entgegen. So hat man beispielsweise versucht, Sybille Bergs Texte unter Frauenliteratur zu rubrizieren, was allerdings nicht gerechtfertigt scheint, da in ihren Texten keinerlei geschlechtsspezifische Tendenzen festzustellen sind. In Zukunft wird die Aufmerksamkeit, die der Popliteratur im Boulevardjournalismus, aber auch im Feuilleton entgegengebracht wurde, wieder sinken, denn das gesteigerte Interesse an den popliterarischen Werken rührt vor allem von der Tatsache her, „dass die literaturkritischen Debatten immer noch auf der Suche sind nach einem neuen Paradigma von Gegenwartsliteratur“.76 1.3. Zum Zustand der Popliteratur in den letzten Jahren Hier soll nun der Blick auf die Gründe für das Entstehen und den Erfolg der neuen deutschen Popliteratur gerichtet werden. Wichtig zu bemerken ist, dass die Literatur ein besonders sensibles Mittel zu sein scheint, um den Zeitgeist eines bestimmten Zeitpunkts in der Geschichte einzufangen. Auch Ende des letzten Jahrtausends lässt sich dieses Phänomen feststellen. Betrachtet man zunächst die historischen Gründe, muss festgehalten werden, dass sich Europa zu diesem Zeitpunkt in einer Umbruchphase befand. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR näherten sich Ost und West langsam einander an, das geteilte Deutschland war wieder vereint. In einer ersten Phase der Konsolidierung gab es ungemein viele historische, wirtschaftliche und soziale Ereignisse aufzuarbeiten, die sich dann auch in einigen Büchern niederschlugen, wie beispielsweise in Fukuyamas „Das Ende der Geschichte“. Fukuyamas Ziel, 76 Vgl. Frank, Dirk (Hrsg.): Texte und Materialien für den Unterricht. S. 30 31 das Vertreten einer westlich-­‐demokratischen Haltung, scheint am Ende seiner Geschichte erreicht. Allerdings stellt sich die Frage, was danach kommen soll. Auch die Philosophen Jean Baudrillard und Jacques Derrida sahen, wie Fukuyama, keinen Sinn mehr in einer Existenz nach der Postmoderne. Neben diesen philosophischen Diskursen befanden sich auch die Vertreter des Pop auf einem neuen Weg und versuchten ein Arrangement mit den gegenwärtigen Zuständen zu treffen.77 Der Literaturwissenschaftler Klaus Vondung ist in diesem Zusammenhang der Meinung, dass die Schriftsteller der Popliteratur „Skepsis gegenüber der Verläßlichkeit des ‚Wirklichen‘ zeigten“.78 Dies kann so verstanden werden, dass es keine tatsächliche Wirklichkeit mehr gibt, sondern beispielsweise verschiedene Facetten der eigenen Realität vorgegaukelt werden. Dieses Muster lässt sich somit auch in der Popliteratur finden, wenn die Hauptfiguren sich selbst und ihrer Umwelt etwas vorspielen. Allerdings erscheinen die Popliteraten ihrer Leserschaft gegenüber stets ehrlich zu sein, zeitgleich bleibt zu einer Zeit, in der durch Internet oder Fernsehsendungen wie „Big Brother“ das eigene Selbst beständig einsehbar und durchsichtig erscheint, ein Einblick ins Innere der Protagonisten meistens verwehrt. Es wird also versucht, die Privatsphäre gegen Einblicke von außen zu schützen, indem die eigene Identität nach außen verstellt oder nur auf einer oberflächlichen Ebene präsentiert wird. So erscheint also die Handlung wie auch die Hauptfigur selbst in ihren Handlungen und Emotionen gezwungenermaßen sehr oberflächlich.79 Nach Vondung geht es in der Popkultur also um den „simulatorische(n) Umgang mit Realität“. 80 Neu daran erscheint nur die Tatsache, dass auf ein Ziel verzichtet wird, was die oben erwähnte Leerstelle nach dem Ende der Geschichte wiederfinden lässt. Das Ziel an sich scheint das eigene Selbst, das Ausbilden der eigenen Identität zu sein und wirkt so als eine Art Widerstandshaltung gegen den in den 1990er Jahren weit populären „Voyeurismus“. 77 Vgl. Mehrfort, Sandra: Popliteratur. S. 48f 78 Vgl. Vondung, Klaus: Facetten der Popmoderne. In: Binczek, Natalie/ Glaubitz, Nicola/ Vondung, Klaus: Anfang offen. Literarische Übergänge ins 21. Jahrhundert. Heidelberg 2002. S. 20 79 Vgl. Mehrfort, Sandra: Popliteratur. S. 49 80 Vgl. Vondung, Klaus: Facetten der Popmoderne. S. 49 32 Die Zeit in den 1990er Jahren schien also reif für eine solche Art von Literatur, denn wie oben bereits festgehalten, ist Literatur immer Ausdruck von Befindlichkeiten und Bedürfnissen.81 In diesem Sinne beschäftigt sich das Individuum mit sich, zieht sich zurück und scheint nur auf die Gesellschaft zu reagieren, jedoch nicht mit ihr zu interagieren. 82 Im Nachkriegsdeutschland war bis dato eine „Spaß-­‐ und Erlebnisgesellschaft“ entstanden, welche als Folge der „Überlebensgesellschaft“ zu sehen ist, die bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges Bestand hatte. Der anhaltende Wohlstand zu dieser Zeit ermöglichte es den Menschen, sich dem schönen Leben widmen zu können: „Die Besonderheit dieser sozialen Konstruktion liegt darin, dass es sich zwar um kollektive Freizeitaktivitäten handelt, wie etwa Sport oder Shopping, die beide im öffentlichen Rahmen ausgeführt werden, jedoch das Erleben selbst, eine höchst individuelle Erfahrung ist, die sozusagen im Privaten vollzogen wird. Es herrscht ein allgemeiner Konsens über die Subjektivität des Erlebens.“83 Dies macht ein soziales Zusammenleben schwierig, da so der Druck steigt, eine solche Empathie zu erlangen, um sich überhaupt in einen anderen Menschen hineinversetzen zu können. Dieser Druck wird auch in den Werken der Popliteratur thematisiert, so zum Beispiel bei Kracht und Stuckrad-­‐Barre. Ihre Hauptfiguren versuchen dem emotionalen Dilemma zu entfliehen, indem sie die eigene Individualität besonders hoch schätzen, während sie die Empathie völlig außer Acht lassen.84 Hennig von Lange wählt dagegen einen anderen Weg für ihre Hauptfigur und zwar den der völligen „Aufopferung der eigenen Persönlichkeit für den anderen“.85 Eng verbunden mit der Gesellschaft der 1990er Jahre und somit auch ein Merkmal für die Popliteratur ist die Ausrichtung auf die Jugend. So können die Texte der jungen Wilden als authentische Zeitzeugnisse gelesen werden, besonders da der Generation Golf wirklich von Anfang an ein Leben in relativem Wohlstand möglich war. Allerdings nimmt dieses problemlose, gut versorgte Leben in einer Wohlstandsgesellschaft dann doch problematische Züge an, und 81 Vgl. Mehrfort, Sandra: Popliteratur. S. 49f 82 Siehe Kapitel: Die 90er 83 Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt a. M./ New York 1993. S. 53 84 Vgl. Mehrfort, Sandra: Popliteratur. S. 50 85 Vgl. Mehrfort, Sandra: Popliteratur. S. 51 33 zwar dann, wenn in der übersättigten Gesellschaft ein neuer Feind, in diesem Falle die Langeweile, lauert. Zusammen mit der beständig gegenwärtigen Endzeitstimmung bildet diese den „Grundtenor“ des „Ennui“.86 Nach der Jahrtausendwende lässt die Aufmerksamkeit nach, die der Popliteratur einerseits vom Boulevardjournalismus, andererseits auch vom Feuilleton zuteilwird. Für das Feuilleton stellte die deutsche Popliteratur der 1990er hauptsächlich „ein Symptom der Spaßgesellschaft“ dar.87 Die Debatten um das Thema „Popliteratur“ sind auch, wie bereits erwähnt, so zu erklären, dass man in Deutschland immer noch auf der Suche nach „einem neuen Paradigma von Gegenwartsliteratur“ ist. Besonders nachdem die Debatten um die postmodernen Erzählungen beendet waren, suchte man etwas Neues, auf das man sich festlegen konnte – in diesem Fall Jugendlichkeit und Nonchalance.88 Nach Dirk Frank wird die Popliteratur „sicherlich nicht die Krise der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur beenden. Dafür wird die Debatte in Deutschland zu sehr vom Gegensatz zwischen E und U bestimmt; im angelsächsischen Raum dagegen gehören Popautoren wie Nick Hornby (High Fidelity), Irvine Welsh (Trainspotting) oder Douglas Coupland (Generation X) ohne Wenn und Aber zur etablierten Literatur.“89 Popliteratur gilt in Deutschland dann doch wohl eher als literarischer Versuch, sich sowohl inhaltlich als auch sprachlich und formal der Popkultur zu öffnen. Darüber hinaus ist sie auch als Reaktion auf die Idee einer Hochkultur zu sehen, die aufgrund der massiven Veränderungen im medialen Bereich wie auch durch die historischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts verworfen werden musste. Wie bereits oben erwähnt, stellt Pop vor allem ein Kunstprinzip dar, und in diesem Zusammenhang muss Popliteratur als Versuch gesehen werden, eine Symbiose zwischen Hoch-­‐ und Subkultur innerhalb des Pop herzustellen. Es ging aber auch darum, einen produktiven Umgang mit Methoden und Inhalten zu gewähren und durch diverse Sprachexperimente neue Möglichkeiten des Schreibens zuzulassen. In diesem Sinne nahmen die Popliteraten die alltäglichen Phänomene unter die Lupe und versuchten, sich stellenweise auf ironische und 86 Vgl. Mehrfort, Sandra: Popliteratur. S. 51 87 Vgl. Degler, Frank/ Paulokat, Ute: Neue Deutsche Popliteratur. Paderborn 2008. S. 114 88 Vgl. Frank, Dirk (Hrsg.): Texte und Materialien für den Unterricht. S. 30 89 Frank, Dirk (Hrsg.): Texte und Materialien für den Unterricht. S. 30 34 kritische Weise zu distanzieren, um mögliche auf gewisse Entwicklungen und Missstände hinzuweisen und so zum Nachdenken anzuregen. Stellenweise kann der Popliteratur – wenn man denn zwischen den Zeilen liest – dann doch vielleicht unterstellt werden, nicht ganz so oberflächlich zu sein, wie sie es im ersten Moment scheint. So kann es vielleicht die Intention einiger Autoren sein, gerade durch die popliterarischen Mittel die Oberflächlichkeiten der Zeit zu entlarven und zu kritisieren. Außerdem wurden gesellschaftliche Tabuthemen, wie beispielsweise sexuelle Präferenzen und Praktiken oder Drogenabhängig-­‐
keit, zum Gegenstand der Literatur, sodass auch gesellschaftliche Außenseiter zu Wort kommen konnten. 90 Neben den Verdiensten wirft die Popliteratur auch einige Probleme auf, so zum Beispiel in Bezug auf die Qualität der Texte. Diese wird oftmals an der Position des Autors in der Gesellschaft oder einem brisanten Thema festgemacht. Ein weiteres Problem, das sich stellt, ist die Tatsache, dass oftmals der Vortragscharakter der Texte wichtiger erscheint als ihre literarische Gestalt, „die jugendliche Aufmüpfigkeit verdeckt textliche Schwächen. Zuletzt wurde der Begriff Popliteratur von Verlagen und Literaturkritik nur noch benutzt, um einer unterhaltsamen, flotten Literatur, deren Rebellion eine hohle Geste ist, ein Etikett aufzukleben“.91 Es sind also einige Probleme in Bezug auf die Popliteratur zu vermerken, die allmählich an ihrer Daseinsberechtigung zweifeln lässt. Geht man von dieser relativ negativen Einschätzung zum Stand der Popliteratur aus, so stellt sich nun die Frage, wie die Zukunft der Popliteratur auszusehen vermag. Nicht zuletzt wird der Bezug zwischen Literatur und Medien sowie zwischen Literatur und Alltag immer wichtiger werden, da Medien wie Fernsehen und Internet immer mehr Überhand im Alltag der Menschen einnimmt. Da viele Verlage nur noch an Umsatzzahlen interessiert sind, ist wohl nicht mit einer Erneuerung der Popliteratur zu rechnen. Interessant sind vor allem Schriftsteller, die am größtmöglichen Erfolg interessiert sind, und nicht mehr experimentelle Schriftsteller, die sich an Literatur und nicht nur an Unterhaltung interessierte Leser richten. Wichtig ist es wohl in Zukunft, alle Werke mit dem 90 Vgl. Ernst, Thomas: Popliteratur. S. 90 91 Vgl. Ernst, Thomas: Popliteratur. S. 90 35 Etikett „Popliteratur“ daraufhin zu untersuchen, wie sie mit dem Alltag, dem „Non-­‐Stop-­‐Horrorfilm“, wie Brinkmann meinte, umzugehen vermögen. Werke, die unmittelbar aus dem defekten Leben berichten, lassen sich bereits in der Kanak-­‐Sprak-­‐ oder in der Social-­‐Beat-­‐Literatur finden. Fragt sich, ob „die Literatur ihre Autonomie auf neuem Wege wiederzugewinnen versucht oder ob sie sich als Anhängsel einer totalen Unterhaltungsindustrie selbst auflösen wird, unter einer benutzerfreundlichen Oberfläche im Internet versinkt“.92 Es scheint allerdings so, als ob die neue deutsche Popliteratur nach den Ereignissen um den 11. September 2001 zu Grabe getragen worden wäre; dies nicht ohne eine gewisse Befriedigung seitens des Feuilletons. Tatsächlich kann man ab dem Jahr 2002 eine solch bedeutsame Veränderung in der Literatur feststellen, dass diese Grenzziehung nachvollziehbar erscheint. Ursachen lassen sich vor allem darin finden, dass durch die Katastrophe von „09/11“ „gesellschaftspsychologisch gesehen die Zeiten der Oberflächlichkeiten, des Hedonismus und des Luxus vorbei wären und dem Pop durch den Zusammenbruch der popmodernen Weltordnung sein kulturelles Milieu verloren gegangen wäre. Allerdings machen auch ökonomische Prozesse, wie beispielsweise die Wirtschaftskrise nach „dem Zerplatzen der >dot-­‐com-­‐Blase<“, es unmöglich, eine bestimmte Form des Literaturbetriebes zu finanzieren.93 So muss also das Zusammenspiel aus Nightlife-­‐Berichten und publizistischer Arbeit der ernsthafteren Literatur Platz machen, was im weiten Zusammenhang der Literaturgeschichte doch logisch erscheint. In diesem Sinne muss die Popliteratur, die sich mit dem Rückzug in die eigene Befindlichkeit beschäftigt, dann doch der Politik und dem gesellschaftlichen Engagement des Einzelnen Vortritt gewähren. Weiterhin bildet das Datum 11. September 2001 einen Einschnitt in der Geschichte, einen schwarzen Tag, an dem der heile Westen nach der Wende plötzlich mit einem terroristischen und militärischen Konflikt konfrontiert wird. Natürlich verändert auch dieses gesellschaftliche Klima im Angesicht der Auseinandersetzung mit Terrorismus und Fundamentalismus den kulturellen und literarischen Betrieb. Christian Krachts Roman „1979“, der im Jahr 2001 92 Vgl. Ernst, Thomas: Popliteratur. S. 91 93 Vgl. Degler, Frank/ Paulokat, Ute: Neue Deutsche Popliteratur. S. 114 36 erscheint, ist in diesem Zusammenhang interessant, besonders da die Handlung um die Anfänge der Revolution im Iran Khomeinis spielt und so „präzise den Zeitpunkt des Beginns der islamistischen Variante der postkolonialen Abwehrschlachten“ darstellt.94 So kann man dieses Werk genau wie das Buch „Wir Maschine“ von Joachim Bessing, Mitglied des popkulturellen Quintetts und Herausgeber des Buches „Tristesse Royale“, vor dem Hintergrund des 11. September als Symbol für den Beginn einer neuen Ernsthaftigkeit verstehen. Wichtig ist allerdings zu bemerken, dass die beiden Romane nicht auf die Katastrophe hin entstanden sind, sondern bereits zu einem früheren Zeitpunkt verfasst wurden, und so also behauptet werden kann, dass bereits vor diesem Stichtag ein ernsthafterer Ton in der Popliteratur angeschlagen wurde, der allerdings von den Hauptkritikern des konservativen Literaturlagers – bewusst oder unbewusst – übersehen wurde. Einig kann man sich allerdings über die Tatsache sein, dass die Popliteratur zu diesem Zeitpunkt, nach sechs erfolgreichen Jahren, für beendet erklärt werden konnte: „Sie beschrieben eine Zwischenzeit in den epochalen Umbruchslagen des zusammenbrechenden Kommunismus, der Globalisierung des Kapitals und dem sich formierenden Gegenpart des Islamismus.“95 Die Spaßgesellschaft der Zeit sollte jedoch nicht als strenges Gegenstück zur Ernsthaftigkeit, politischem Bewusstsein oder gesellschaftlichem Verantwor-­‐
tungsgefühl gesehen werden, da die Popliteratur der 1990er extremen Spaß mit radikalem Ernst verbindet. In diesem Sinne besteht eine gewisse Nähe zu „Formen erlebnisorientierter Selbstinszenierung, deren unreflektierte Vorverur-­‐
teilung dem poetischen Verfahren allerdings nicht gerecht wird“.96 Bei genauerer Untersuchung werden zwei Aspekte der Popliteratur besonders deutlich. Zunächst scheint sie eine therapeutische Wirkung erzielen zu wollen. So soll existentielle Unsicherheit durch eine gewisse Coolness und Partykultur ausgeglichen werden. Dadurch soll das Leiden an den unerträglichen Umständen der Moderne erträglicher gestaltet werden. Weiterhin wird klar, dass „sich auch 94 Vgl. Degler, Frank/ Paulokat, Ute: Neue Deutsche Popliteratur. S. 114 95 Degler, Frank/ Paulokat, Ute: Neue Deutsche Popliteratur. S. 115 96 Vgl. Degler, Frank/ Paulokat, Ute: Neue Deutsche Popliteratur. S. 115 37 in der Neuen Deutschen Popliteratur die alte Frontstellung um die Deutungs-­‐
hoheit zwischen Spaß und Ernst, zwischen E und U, Jung und Alt wiederholt“.97 So kann man weiterhin behaupten, dass es der Popliteratur in Deutschland erstmals gelungen ist, „eine Literatur zu etablieren, die sich von Ansprüchen moralisch-­‐politischer Sinnstiftung frei machen konnte. Immerhin sechs Jahre lang wurde der Beweis angetreten, dass Unterhaltsamkeit, Affirmation, Privatheit, Provinz und spielerischer Charakter sich gegenüber dem moralischen Rigorismus der deutschen Literaturkritik behaupten kann. Darin besteht die bleibende Bedeutung dieser kurzen Phase der Neuen Deutschen Popliteratur“.98 1.4. Zu den ausgewählten Merkmalen von Popliteratur Bei der Beschäftigung mit Popliteratur stellt sich natürlich auch die Frage nach ihren Kennzeichen. Hier sollen ausgewählte inhaltliche und formale Merkmale, die für die folgende Analyse von Bedeutung sein werden, sowie die Haltung und das Verhältnis zwischen Autor und Werk betrachtet werden. 1.4.1. Inhaltliche Merkmale Die Werke der Popliteratur haben zunächst inhaltliche Schwerpunkte, die den meisten gemeinsam sind. Natürlich fallen hier in erster Linie die Darstellungen aus der Popwelt ins Auge. So werden beispielsweise „Disco-­‐ oder Konzertbesuche, Szene-­‐, Band-­‐ und Fanstories“ geschildert.99 Die Popmusik scheint also ein wichtiger Drehpunkt in der fiktionalen Welt der Popliteratur zu sein, da sie „Leitmotiv im Leben popsozialisierter Jugendlicher ist, welche als Handlungsträger der Romane fungieren“.100 Bei der Beschäftigung mit dem Thema Popliteratur fällt auch auf, dass sich diese Art der Literatur mit dem Jugendalter und der damit verbundenen 97 Vgl. Degler, Frank/ Paulokat, Ute: Neue Deutsche Popliteratur. S. 115 98 Vgl. Degler, Frank/ Paulokat, Ute: Neue Deutsche Popliteratur. S. 115 99 Vgl. Ullmaier, Johannes: Von Acid nach Adlon und zurück. S. 17 100 Vgl. Degler, Frank/ Paulokat, Ute: Neue deutsche Popliteratur. S. 12 38 Jugendlichkeit bis hin zum jungen Erwachsenenalter befasst. Themen können in diesem Zusammenhang beispielsweise die erste Liebe, die Clique, Partys oder Generationskonflikte sein. Auch jugendliche Subkulturen wie „Rocker, Popper, Skinheads, Raver, Skater, Punks etc.“101 können eine Rolle in den popliterarischen Schilderungen spielen.102 Demnach ist es das Lebensgefühl dieser neuen Jugendkultur, die zur „Herausbildung einer Popkultur“ beitrug: „Und während es die Jugend einer jeden Generation ist, die sich über popkulturelle Güter und Werte definiert, sind die selbst jugendlichen Popliteraten Experten solcher Abgrenzungsprozesse. Indem sie jugendliche Protagonisten in ihrer popkulturell geprägten Welt darstellen, wenden sie sich an ein gleichaltriges Publikum, das hier Identifikationsmöglichkeiten findet.“103 Weiterhin wird das gegenwärtige Geschehen dargestellt, sodass der Alltag und die Gegenwartskultur, in diesem Fall die Popkultur, eine außerordentliche Rolle spielen. Nichtsdestotrotz haftet den Autoren der Popliteratur ein gewisser Hang zur Retrospektive an. So werden beispielsweise „Objekte der Massenkultur“, die der eigenen Kindheit und Jugend entstammen und diese prägten, „als identitätsstiftend erinnert“. Nicht weniger werden auch „die vergessenen Rituale“ aus den Bereichen Schule und Familie erinnert, da sich aus der sicheren Distanz des Erwachsenenseins doch eine gewisse Gleichartigkeit feststellen lässt.104 Urbanität spielt auch eine Rolle in Bezug auf die Thematik und die Rezipientenorientierung, sodass auch überregionale und übernationale Themen ausgewählt werden und sich das Leben der meist jungen Protagonisten oft in Großstädten abspielt. In Bezug auf die Haltung der Figuren zeigt sich ein gewisser Hang zum intensiven Leben und zum Hedonismus. Außerdem lässt sich ein gewisses Maß an Ich-­‐Bezüglichkeit feststellen, das also eine gewisse autobiografische Nähe vermuten lässt.105 So verwundert auch nicht, dass das Thema „Identität“ in viele popliterarische Werke mit einfließt. In diesem Zusammenhang stehen dann auch 101 Ullmaier, Johannes: Von Acid nach Adlon und zurück. S. 17 102 Vgl. Ullmaier, Johannes: Von Acid nach Adlon und zurück. S. 17 103 Degler, Frank/ Paulokat, Ute: Neue deutsche Popliteratur. S. 12 104 Vgl. Degler, Frank/ Paulokat, Ute: Neue deutsche Popliteratur. S. 12 105 Vgl. Jung, Thomas: Die deutsche Popliteratur – Thematische und formalsprachliche Merkmale. Universität Potsdam 2008 39 die Themen der Adoleszenz oder des jungen Erwachsenenalters, wie beispielsweise Liebe und Liebeskummer, Trauer und Entfremdung, alles in allem auch existenzielle Krisen, die stellenweise durch Drogenerfahrungen, Sexualität oder Gewalt ausgelöst werden können.106 Viele der Protagonisten gelten angesichts ihres Alters als junge Erwachsene, haben jedoch „eine politische, kulturelle, partiell soziale Selbstständigkeit erlang(t), ohne allerdings über gesicherte Ressourcen zu verfügen“.107 Meist liegt das Augenmerk auf der inneren Befindlichkeit des jeweiligen Protagonisten, also auf seinen Gefühlen und Sorgen, seiner „problematischen Individualität“.108 Es könnte in diesem Sinne fälschlicherweise angenommen werden, dass in diesen Werken ausgereifte Persönlichkeiten oder deren Entwicklung dargestellt werden. Die Literaturwissenschaft stellt hingegen fest, dass „sich das literarische Projekt der Ich-­‐Findung anhand von Pop-­‐Thematiken“ entwickelt.109 Viele der popliterarischen Werke vermitteln allerdings nicht das Bild einer gelungenen Adoleszenz, sondern lassen ihre Protagonisten und die Nebenfiguren nur agieren und reagieren, ohne dass es zu einer Verbindung zwischen Figur und Leser kommt. Dies rührt vermutlich auch aus der Banalität der Gedanken und Äußerungen der einzelnen Protagonisten, wie sie bei Kracht oder auch Stuckrad-­‐Barre zu finden sind. Ihre Helden „bewegen sich im Zentrum der Spaßkultur, auf Partys, in Beziehungen, konsumieren Popmusik, Drogen, Sex. Reflexionen über die eigene Person führen sie zu keinem wirklich rationalen Diskurs über das individuelle Wesen. Die Pop-­‐Autoren liefern mit ihren Werken eine erschreckend realistische Lebensunmittelbarkeit. Das Wiedererkennen der eigenen Lebenssituation, eigener Gedankengänge bzw. gerade ihr Fehlen im Roman macht diese Literatur vor allem bei jugendlichen Lesern erfolgreich“.110 Weitere inhaltliche Merkmale lassen sich also in der beständigen „Selbstreflexivität“ und „Selbstironisierung“ der Protagonisten sowie in der Darstellung der ritualisierten Lebenspraxis, also eines von der Masse getragenen Kultes, finden. 106 Vgl. Mehrfort, Sandra: Popliteratur. S. 47 107 Vgl. Gansel, Carsten: Adoleszenz, Ritual und Inszenierung in der Pop-­‐Literatur. S. 240. In: Arnold/ Schäfer: Pop-­‐Literatur. S. 234-­‐257. In: Mehrfort, Sandra: Popliteratur. S. 47 108 Vgl. Mehrfort, Sandra: Popliteratur. S. 47 109 Vgl. Mehrfort, Sandra: Popliteratur. S. 48 110 Vgl. Mehrfort, Sandra: Popliteratur. S. 48 40 Vor allem interessiert die Hauptdarsteller der Popliteratur jedoch die Oberfläche, die durch Mode, Design und Haltung ausgedrückt wird. Daher liegt der Fokus auch auf der Waren-­‐ und Markenwelt, denn Marken und Waren fungieren als „signifyer“ aus der Popkultur.111 In den popliterarischen Werken spielt nicht nur die Musik eine große Rolle, sondern auch der Kleidungsstil, Stil im Allgemeinen und Besitztümer sowie die dazu passende Markenwelt.112 Allerdings distanzieren sich die Protagonisten „von der bürgerlichen Norm in Richtung Dandy-­‐, Beatnik-­‐ oder Boheme-­‐Dasein mit allen Essentials: Unterwegssein, Glamour, Drogen, libertäre Sexualität, Ekstase und Exzeß samt Anschlüssen zur Unterwelt, zu Gammlern, Terroristen usw.“113 1.4.2. Formalsprachliche Merkmale Die popliterarischen Texte zeichnen sich meistens durch ihre einfache syntaktische Struktur und die unverdichtete Sprache aus, die sich vor allem in der Alltags-­‐ oder Jugendsprache und dem häufigen Gebrauch von Anglizismen vermittelt. Auch der Gebrauch von Slang oder Szenesprache ist durchaus üblich.114 Außerdem sind auch Collagen aus Werbe-­‐ und Mediensprache oder aus dem Bereich des Journalismus und der Feuilletons keine Seltenheit, da viele der Autoren diesem Bereich entstammen und auch ihre literarischen Figuren so anlegen. Ein weiteres Merkmal findet sich in der poptypischen Opulenz in Bezug auf Sexualität, Erotik und Gewalt, die sich teilweise in einem ordinären, gar vulgären Sprachgebrauch äußert.115 So wird auch häufig auf „Genre-­‐Versatzstücke“ aus den Bereichen Science-­‐
Fiction, Western, Krimi, Horror und Pornografie zurückgegriffen.116 111 Vgl. Jung, Thomas: Die deutsche Popliteratur – Thematische und formalsprachliche Merkmale. Universität Potsdam 2008 112 Vgl. Degler, Frank/ Paulokat, Ute: Neue deutsche Popliteratur. S. 12 113 Vgl. Ullmaier, Johannes: Von Acid nach Adlon und zurück. S. 17 114 Vgl. Ullmaier, Johannes: Von Acid nach Adlon und zurück. S. 17 115 Vgl. Jung, Thomas: Die deutsche Popliteratur – Thematische und formalsprachliche Merkmale. Universität Potsdam 2008 116 Vgl. Ullmaier, Johannes: Von Acid nach Adlon und zurück. S. 17 41 Weiterhin findet sich stets eine gewisse Chronologie und Kausalität in der Erzählweise. Gleichwohl scheint auch das Recycling oder Re-­‐Modeling von Motiven, Erfahrungen und Strukturen eine gewisse Beständigkeit in der Popliteratur zu haben. So erstaunt es auch nicht, dass verschiedene Wiederholungsschemata bedient werden, indem das Bekannte gereiht und wiederholt wird. Die popliterarischen Werke weisen außerdem des Öfteren Züge des Konsumromans des 19. Jahrhunderts auf.117 Die Popliteratur ist also stilistisch durch „Rasanz, Legerheit, Spontaneismus, Lautheit, Plakativität und Kürze“ und formal durch die „Orientierung an Popmusikmustern“ wie „einschlägigen Strophenformen oder Rhythmen bis zur Mixtechnik moderner DJs“ fundiert.118 Ferner werden Techniken wie der „stream of consciousness“, die „écriture automatique“, die „Montage“ oder die „Collage“ genutzt. Der Textbegriff wird zu „Text-­‐Bild-­‐Ensembles“, zu einem poppigen Layout, zu „avantgarde-­‐beeinflußter Typographie“ oder zu „Text-­‐Musik-­‐ oder Text-­‐Sound-­‐Ensembles“ erweitert.119 Auch wird die Lesungsform durch verschiedene Performanceelemente erweitert, sodass es verstärkt zu Körpereinsatz, zu verschiedenen Licht-­‐ und Soundeffekten usw. kommt. So lässt sich auch hier der Hang zur Multimedialität erkennen und eine Abkehr vom traditionellen Werkbegriff „zugunsten eines Kunstkonzepts im Zeichen der technischen Reproduzier-­‐ und zitathaften Verfügbarkeit jedweden Materials“ feststellen.120 1.4.3. Haltung Die Jugendlichkeit der Produzenten und Rezipienten aus dem Bereich der Popliteratur dient der Abgrenzung gegenüber anderen. So verwundert es nicht, dass eine gewisse Lust an der Oberflächlichkeit weit verbreitet ist und die Ästhetik des Augenscheins anstelle der moralischen Erziehung steht. 117 Vgl. Jung, Thomas: Die deutsche Popliteratur – Thematische und formalsprachliche Merkmale. Universität Potsdam 2008 118 Vgl. Ullmaier, Johannes: Von Acid nach Adlon und zurück. S. 17 119 Vgl. Ullmaier, Johannes: Von Acid nach Adlon und zurück. S. 17f 120 Vgl. Ullmaier, Johannes: Von Acid nach Adlon und zurück. S. 17f 42 Die Vertreter der Popliteratur bekennen sich außerdem zu ihrem selektiven Blick auf die Gesellschaft und das Weltgeschehen wie auch zu ihrer Verbundenheit zur Oberschicht, die sich in der Herkunft aus einem bildungsbürgerlichen Elternhauses und/oder dem Besuch eines Internats wie Salem ausdrückt. Der Widerstand besteht also auch nur innerhalb des Systems oder des Diskurses. Die grundsätzlich apolitische Erzählhaltung der Popliteraten äußert sich dann auch in einer gewissen Nonchalance gegenüber der deutschen Vergangenheit und in den gehäuften Verstößen gegenüber der political correctness. Die häufig auftretende Amoralität offenbart sich in diesem Zusammenhang in der Lust auf Schockwirkung und dem Tabubruch.121 1.4.4. Verhältnis von Autor und Werk Die Popularität der Autoren lässt sich zunächst an der dauerhaften Präsenz in den Medien und der Beliebtheit bei ihrem breiten, meist jungen Publikum erkennen. Merkmale, die ansonsten meist Popstars und nicht Schriftstellern zugeschrieben werden, die jedoch auch aus der Nähe zur Szene, z. B. als Popjournalist, Clubbesitzer usw., zu erklären sind. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Inszenierungs-­‐ und Vermarktungsstrategien der Popwelt entlehnt und für den eigenen Gebrauch eingesetzt werden. So verwundert es auch nicht, dass beim Design wie auch bereits bei der Titelgebung ähnliche Mechanismen wie in der Musikindustrie angeleiert werden. Daher wird auch ein Blick geworfen auf die „popkulturindustrielle Synergie-­‐Maximierung nach dem Prinzip: CD zum Buch zum Film zum Interview“.122 Nicht zuletzt sind auch „kollektivistische Tendenzen“ zu verzeichnen, sodass es zu literarischen Gruppenbildungen in lockerer Band-­‐Analogie wie beim popkulturellen Quintett kommt, die durch gemeinsame Auftritte in der Öffentlichkeit oder „gezielte Szenenpositionierung“ durch Lesungen oder die Nutzung szenenaher Orte zustande kommt.123 121 Vgl. Jung, Thomas: Die deutsche Popliteratur – Thematische und formalsprachliche Merkmale. Universität Potsdam 2008 122 Vgl. Ullmaier, Johannes: Von Acid nach Adlon und zurück. S. 16 123 Vgl. Ullmaier, Johannes: Von Acid nach Adlon und zurück. S. 16f 43 2. Identität In diesem Kapitel wird zunächst der Begriff „Identität an sich näher beleuchtet. Hierbei scheinen vor allem die Definition und der Gebrauch des Begriffs von Bedeutung zu sein. Weiterhin wird untersucht, wie sich Identität in der Postmoderne gestaltet. Dazu sollen zunächst Zeitdiagnosen der Moderne und Postmoderne gestellt werden, bevor die Merkmale einer postmodernen Gesellschaft, die für diese Arbeit von Relevanz ist, näher betrachtet werden. Vor allem stehen jedoch die Aspekte der Identitätssuche und -­‐findung im Fokus dieses Kapitels. In diesem Zusammenhang werden dann auch verschiedene psychoanalytische Identitätskonzepte dargestellt, die bei der späteren Analyse unterstützend zu Rate gezogen werden. In einem weiteren Punkt rücken dann die Möglichkeiten einer gelingenden Identitätsbildung und eines identitätsstiftenden Elements in den Vordergrund. Da die Zeit der 1990er Jahre in dieser Arbeit von besonderer Bedeutung ist, soll sich dann in diesem Kapitel abschließend mit dem damaligen Zeitgeist und der Generation Golf auseinandergesetzt werden. 2.1. Zum Begriff Der Begriff „Identität“ wird erst seit einigen Jahrzehnten im wissenschaftlichen Bereich explosionsartig benutzt und verbreitet sich parallel dazu auch im privaten Sprachgebrauch. Der Begriff wird abgeleitet von dem lateinischen Wort „identitas“, was so viel bedeutet wie „Wesenseinheit“ und „idem“, gleichbedeutend mit „eben der, ein und derselbe“.124 In der Philosophie ist der Begriff bereits seit dem 17. Jahrhundert verankert, wobei er erst Mitte des 20. Jahrhunderts in die Psychologie eingeführt und von anderen Wissenschaften aufgegriffen wurde. Der Begriff wurde in den 1950er Jahren von Erik H. Erikson in den sozialwissenschaftlichen Diskurs eingebracht und hat im Folgenden einen festen Platz im Wortschatz, aber auch im Denken der Menschen eingenommen. 124 Vgl. Malecha, Tom: Ich bin viele. Identitäten in der Popliteratur. Saarbrücken 2008. S. 5 44 Es ist fast unmöglich, eine einzige Definition des Begriffes zu geben, besonders da so viele unterschiedliche Identitätstheorien existieren.125 Meistens jedoch wird zwischen personaler und kollektiver Identität unterschieden. Letztere wird üblicherweise so verstanden, dass sich Kulturformen herausbilden, die gruppenspezifisch sind und sich von anderen Kulturen unterscheiden. Für das kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft spielen vor allem jedoch auch Texte, Bilder und Riten eine große Rolle, sodass sich daraus das gemeinsame Wissen und Selbstbild einer Kultur herausbildet.126 In Bezug auf den personalen Aspekt des Menschen soll der Begriff „Identität“ die Eigentümlichkeit seines Wesens bezeichnen, die ihn ausmacht und als Individuum von anderen Menschen unterscheidet. Unter diesem Begriff ist also die einmalige Zusammensetzung aus z. B. Name, Alter, Geschlecht und Beruf zu verstehen. Betrachtet man den Begriff im psychologischen Zusammenhang, so stellt „Identität“ die einzigartige Persönlichkeitsstruktur in Verbindung mit dem Bild, das andere von dieser haben, und das Verständnis für die eigene Identität dar.127 Identitätsbildung bedeutet also, dass man sich seines Charakters oder seiner Stellung in der Welt bewusst wird. Für Erikson, der auch heute noch die Basis vieler Konzepte und Theorieansätze darstellt, bildet sich die Identität eines Subjektes durch das Vertrauen in seine Einheitlichkeit und seine Kontinuität und das Bewahren derselben. Wichtig für die Konstitution eines Subjektes ist also vor allem die Ganzheit128: „Einheit, Selbigkeit, Nämlichkeit [...] markieren die Grundbedeutung des Ausdrucks ‚Identität’.“129 Erikson fokussiert sich vor allem auf die Jugend eines Subjektes, da es zu diesem Zeitpunkt aus seiner Kindrolle heraustritt und nun selbst eine eigene Identität 125 Vgl. Erikson, Erik H.: Lebensgeschichte und historischer Augenblick. Frankfurt 1982. S. 15. In: Malecha, Tom: Ich bin viele. S. 5 126 Vgl. Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Assmann, Jan und Hölscher, Tonio (Hrsg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt a. M. 1988. S. 15 127 Vgl. Werner Stangl Arbeitsblätter: http://arbeitsblaetter.stangl-­‐
taller.at/PSYCHOLOGIEENTWICKLUNG/Identitaet.shtml 128 Vgl. Erikson, Erik H.: Identität und Lebenszyklus. Drei Aufsätze. Frankfurt a. Main. 13. Aufl. 1993. S. 107 129 Straub, Jürgen: Personale und kollektive Identität. Zur Analyse eines theoretischen Begriffs. In: Assmann, Aleida und Friese, Heidrun (Hg.) Identitäten. Frankfurt a. M. 1998. S. 91 45 definieren muss. Nach Erikson sollte das Subjekt nach dieser Phase einen stabilen Kern ausgebildet haben, der ihm die nötige innere Kohärenz bietet. Marcia dagegen unterscheidet zwischen Identitätsbildung und Identitätskonstruktion. Letztere kommt durch eigenständige Entscheidungen zu Stande. Beispielsweise wählt ein Mensch, welcher Gruppe er sich zugehörig fühlt, welchen Glauben er annimmt oder welchen Beruf er ausüben möchte. Nach Marcia besitzen die meisten Menschen zunächst nur eine Identität, die sich aus Äußerlichkeiten zusammensetzt und also mit der Identitätsbildung gleichzusetzen ist. Nur wenige besitzen eine Identität, die sie selbst konstruiert haben und somit auf einem „Prozess individueller Entscheidungen basiert“.130 Die Erfahrung, dass eine Person eine Identität besitzt, geht auf ein Zentrum zurück, auf das sich Entscheidungen und Handlungen beziehen. Die Vergangenheit einer Person kann in die Gegenwart übertragen und in Zukunft fortgeführt werden. Menschen mit einer konstruierten Identität sind sich dieses Prozesses bewusst. Sie haben eine Idee davon, wer sie sind und wie sie dazu geworden sind. Menschen mit einer übernommenen Identität allerdings empfinden ihre Zukunft eher als Erfüllung von vorhandenen Erwartungen.131 Der Mensch erlebt sich also im Allgemeinen in Übereinstimmung mit sich selbst. Demnach hat er ein Empfinden dafür, ein einzigartiges Wesen zu sein, das eine unverwechselbare Vergangenheit und Zukunft hat. So gelingt es dem Menschen, sich von anderen zu unterscheiden, sich anderen aber auch in verschiedenen Dingen zu ähneln. Des Weiteren vertritt der Mensch die Auffassung, trotz aller Veränderungen und Entwicklungen im Zentrum immer dieselbe Person zu bleiben. „Dieses Empfinden der Kohärenz und Kontinuität im Kontext unserer sozialen Bezogenheit prägt unser Leben. Wir nennen es Identität.“132 In diesem Zusammenhang ist ein Merkmal von Identität die Übereinstimmung und Gleichheit. Allerdings bedeutet Identität immer auch die Tatsache, wie der 130 Vgl. Marcia James: The status of the statuses. New York (S. 21-­‐44). In: Werner Stangl Arbeitsblätter: http://arbeitsblaetter.stangl-­‐
taller.at/PSYCHOLOGIEENTWICKLUNG/Identitaet.shtml 131 Vgl. Marcia, James: The status of the statuses. New York 1993. S. 21-­‐44. In: Werner Stangl: http://arbeitsblaetter.stangl-­‐
taller.at/PSYCHOLOGIEENTWICKLUNG/Identitaet.shtml 132 Ermann, Michael: Identität, Identitätsdiffusion, Identitätsstörung. Vortrag im Rahmen der 60. Lindauer Psychotherapiewochen 2010. S. 2 46 Mensch nicht ist oder nicht sein will. Daraus geht dann auch immer der Vergleich mit anderen hervor. Die Entwicklung von Identität erfolgt beim Menschen also aus einem Wechselspiel zwischen „Dazugehören“ und „Abgrenzen“.133 2.2. Identität in der Postmoderne Im Rahmen dieser Arbeit soll der Blick vor allem auf die Postmoderne gerichtet werden. Zunächst erscheint es wichtig, zwischen Moderne und Postmoderne zu unterscheiden und die wesentlichen Merkmale einer postmodernen Gesellschaft festzulegen, bevor zum eigentlichen Thema, Identitätssuche und -­‐findung in der Postmoderne, und zu den damit zusammenhängenden Identitätskonzepten und Modellen übergeleitet werden kann. 2.2.1. Zeitdiagnosen: Moderne und Postmoderne Die Ausbildung einer Identität bedeutet zunächst, einen subjektiven Prozess der Konstruktion zu durchlaufen, wobei es vor allem darum geht, das Innere mit dem Äußeren zu verbinden. In diesem Zusammenhang stellt sich allerdings die Frage, ob und inwiefern sich dieser Prozess „unter kulturellen Bedingungen der Individualisierung, Pluralisierung und Globalisierung“ verändert.134 Einerseits finden sich die Vertreter einer radikalen Postmoderne, welche die Überwindung der „Sucht nach Identität“ und die daraus folgende Identitätslosigkeit unterstützen, da sie die zwanghafte Suche nach Identität als eine Erblast der Moderne ansehen. Andererseits finden sich die Hüter der Moderne, welche im „fortschreitenden Individualisierungsprozess“ eine „Gefahr der gesellschaftlichen Entsolidari-­‐
sierung“ ausmachen. Außerdem sehen sie das Subjekt überfordert, da es aufgrund der beschleunigten „Enttraditionalisierung“ wohl nicht das „Maß an 133 Vgl. Ermann, Michael: Identität, Identitätsdiffusion, Identitätsstörung. S. 2 134 Vgl. Zenaty, Gerhard: Adoleszente Identitätsbildung unter postmodernen Lebensbedingungen: Neue Freiheit oder Identitätsdiffusion? Unter: http://sammelpunkt.philo.at:8080/1783/1/07Zenaty.pdf. S. 22-­‐57. S. 23 47 Integrität, innerer Sicherheit, persönlicher Kontinuität und Autonomie“ halten kann.135 In diesem Zusammenhang verkündet Zygmunt Bauman beispielsweise, dass die Menschen durch die „gesellschaftlichen Freisetzungsprozesse“ dazu befähigt worden sind, als „Vagabunden, Nomaden und Flaneure“ durch die Welt zu gehen. Weiterhin spricht er von der „Chamäleon-­‐Identität“ oder benutzt das Bild eines Videobandes. All diese Verbildlichungen haben gemein, dass das Ich dadurch sehr flexibel wirkt. Nach Bauman besitzt das Ich dann aber doch noch Ängste, wobei sich diese lediglich auf die Fixeophobie, auf die Angst vor dem Festgelegtwerden, beschränken.136 Weiterhin stellt sich die Frage, warum die Debatte so aktuell ist. Aus den Analysen einiger Kulturforscher und Soziologen kann man ablesen, dass das Thema „Identität“ „wie kein anderes in paradigmatischer Form die Folgen aktueller Modernisierungsprozesse für die Subjekte bündelt“.137 In Bezug auf den wissenschaftshistorischen Hintergrund geht es in der Debatte um die „Reflexive Moderne“. Im Zentrum der Debatte steht die Frage nach dem Verständnis des Subjekts der klassischen Moderne: „das autonome, männliche Subjekt, das kognitive Kontrolle über seine äußere und innere Natur ausüben soll“.138 Geprägt wird diese Konstruktion von Identität durch die Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno. Auf der einen Seite soll das Subjekt aus der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ heraustreten und das „eigene Maß“ finden. Auf der anderen Seite soll sich eine neue Herrschaftsordnung einrichten, die genau wie Vorläufer fähig sind, die „innere Natur des Menschen zu versklaven“. Bei Horkheimer und Adorno wird ein bürgerliches Subjekt in seiner hässlichen Gestalt dargestellt, denn hier steht das Selbst für Zwang, Gewalt, Unterwerfung und Entfremdung. 135 Vgl. Zenaty, Gerhard: Adoleszente Identitätsbildung unter postmodernen Lebensbedingungen: Neue Freiheit oder Identitätsdiffusion? S. 23 136 Vgl. Zenaty, Gerhard: Adoleszente Identitätsbildung unter postmodernen Lebensbedingungen: Neue Freiheit oder Identitätsdiffusion? S. 23 137 Vgl. Zenaty, Gerhard: Adoleszente Identitätsbildung unter postmodernen Lebensbedingungen: Neue Freiheit oder Identitätsdiffusion? S. 24 138 Vgl. Zenaty, Gerhard: Adoleszente Identitätsbildung unter postmodernen Lebensbedingungen: Neue Freiheit oder Identitätsdiffusion? S. 24 48 Ihrer Einschätzung nach verschärfen sich die Gefahren für einen problemlosen Lebensverlauf, und die Voraussetzungen für ein autonomes Leben drohen zerstört zu werden. Allerdings scheint es auch Hoffnung zu geben, da sie dem Identitätszwang ein Ende bereitet sehen. Adorno sieht sogar die Chance, dass das Subjekt im weiteren Verlauf furchtlos verschieden sein kann: „Das befreite Ich, nicht länger eingesperrt in seiner Identität, wäre auch nicht länger zu Rollen verdammt.“139 Dagegen hegen die Vertreter der Postmoderne die Ansicht, dass unter den vorherrschenden Lebensbedingungen „jede gesicherte oder essentialistische Konzeption der Identität, die seit der Aufklärung den Kern oder das Wesen unseres Seins zu definieren und zu begründen hatte, der Vergangenheit angehört“.140 Dabei werden alle wichtigen und essentiellen Begriffe der Identitätsbildung wie Einheit, Kontinuität, Kohärenz und Entwicklung zugunsten von Kontingenz, Diskontinuität, Fragmentierung, Bruch, Zerstreuung, Übergang und Reflexivität dekonstruiert. Die Identitätsbildung, wenn eine solche überhaupt noch von Nöten sein sollte, wird als Prozess angesehen, der beständig und alltäglich und demnach lebenslänglich ist. So muss also jeder Versuch, das Leben als Ganzes anzusehen, scheitern. In diesem Sinne braucht das Subjekt heutzutage keinen inneren Zusammenhang, die Kernbereiche der Identität, wie beispielsweise die nationale, ethnische, soziale Identität usw., haben ihre „natürliche Qualität als Identitätsgarantien“ verloren. Sogar der Körper des Einzelnen ist nicht bloß Hülle, sondern durch technische und biomedizinische Maßnahmen gestaltbares „Referenzschema für Identität“.141 Im Gegensatz zu Horkheimer und Adorno betonen die Vertreter der Postmoderne allerdings die positiven Aspekte eines solchen gesellschaftlichen Prozesses: „Träumen, Phantasieren, das Übernehmen sozialer Rollen, die Projektion von negativen oder positiven Aspekten des eigenen Selbst auf andere, 139Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik. Frankfurt a. M. 1967. S. 273. In: Zenaty, Gerhard: Adoleszente Identitätsbildung unter postmodernen Lebensbedingungen: Neue Freiheit oder Identitätsdiffusion? S. 24f 140 Vgl. Hall, Stuart: Die Frage der kulturellen Identität. In. Hall, Stuart: Rassismus und kulturelle Identität. Hamburg 1994. S. 181. In: Zenaty, Gerhard: Adoleszente Identitätsbildung unter postmodernen Lebensbedingungen: Neue Freiheit oder Identitätsdiffusion? S. 25 141 Vgl. Zenaty, Gerhard: Adoleszente Identitätsbildung unter postmodernen Lebensbedingungen: Neue Freiheit oder Identitätsdiffusion? S. 25 49 praktisch alle Abwehrmechanismen – Dissoziation so verstanden wäre als ein sozialer Steuerungsmechanismus zu sehen, der uns befähigt, die Integrations-­‐ und Kohärenzarbeit auf das Unverzichtbare zu beschränken, ansonsten mit Ich-­‐ oder Identitätsfragmenten zu leben, mit Unfertigem und Unabgeschlossenem – dies wäre als eine gelungene Anpassung an veränderte Lebensbedingungen zu sehen.“142 Einer, der von diesem proteischen Selbst, das sowohl flüssig als auch geerdet ist, spricht, ist der Amerikaner Robert Lifton.143 Abschließend gilt es noch zwei Thesen genauer zu betrachten. Zum einen vertritt Ulrich Beck die These von der fortschreitenden Individualisierung. Um diesen Begriff genauer zu definieren, unterscheidet Beck drei Dimensionen eines gesellschaftlichen Prozesses: Zunächst gibt es die Freisetzungsdimension. Hiermit ist die Herauslösung aus historisch vorgeformten Sozialformen und -­‐bindungen gemeint. Daneben ist die Entzauberungsdimension zu nennen, welche den „Verlust von traditionalen Sicherheiten in Bezug auf Handlungswissen, Glauben und leitende Normen“ meint. Schließlich folgt die Kontroll-­‐ und Reintegrationsdimension, welche sich „auf eine neue Art der sozialen Einbindung bezieht“.144 Zum anderen vertritt Richard Sennett die Ansicht, dass Strukturen, die auf Langfristigkeit und Dauer angelegt sind, abgebaut werden. An diese Stelle treten seiner Meinung nun „netzwerkartige Gliederungen“, die nicht so schwerfällig sind wie die einer „starren Hierarchie“. Sennett beschreibt die zu diesen gesellschaftlichen Begebenheiten passende „Subjektstruktur“ folgendermaßen: „Ein nachgiebiges Ich, eine Collage aus Fragmenten, die sich ständig wandelt, sich immer neuen Erfahrungen öffnet – das sind die psychologischen Bedingungen, die der kurzfristigen ungesicherten Arbeitserfahrung, flexiblen Institutionen, ständigen Risiken entsprechen.“145 142 Zenaty, Gerhard: Adoleszente Identitätsbildung unter postmodernen Lebensbedingungen: Neue Freiheit oder Identitätsdiffusion? S. 26 143 Siehe Lifton Robert: The protean self: Human resilience in an age of fragmentation. New York 1993. 144 Vgl. Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a. M. 1986. S. 206. In: Zenaty, Gerhard: Adoleszente Identitätsbildung unter postmodernen Lebensbedingungen: Neue Freiheit oder Identitätsdiffusion? S. 27 145 Sennett, Richard: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin 1998. S. 182. In: Zenaty, Gerhard: Adoleszente Identitätsbildung unter postmodernen Lebensbedingungen: Neue Freiheit oder Identitätsdiffusion? S. 27f 50 In seiner letzten Publikation hat Heiner Keupp die „Umbruchserfahrungen“ der postmodernen Gesellschaft auf zehn Aspekte zusammengefasst146, welche sich zu einer „radikalen Enttraditionalisierung“ und „dem Verlust von übernehmbaren Identitätsmustern“ verdichten: „1. Subjekte fühlen sich „entbettet“. 2. Entgrenzung individueller und kollektiver Lebensmuster. 3. Erwerbsarbeit wird als Basis von Identität brüchig. 4. „Multiphrene Situation“ wird zur Normalerfahrung. 5. „Virtuelle Welten“ als neue Realitäten. 6. Zeitgefühl erfährt „Gegenwartsschrumpfung“. 7. Pluralisierung von Lebensformen. 8. Dramatische Veränderung der Geschlechterrollen 9. Individualisierung verändert das Verhältnis vom einzelnen zur Gemeinschaft. 10. Individualisierte Formen der Sinnsuche.“147 In den heutigen Industrieländern können sich also diese zehn Aspekte zu einer allgemeinen „Grunderfahrung“ verstärken: „Subjekte erleben sich als Darsteller auf einer gesellschaftlichen Bühne, ohne daß ihnen fertige Drehbücher geliefert würden.“148 2.2.2. Merkmale der postmodernen Gesellschaft Nach Kondylis zählen folgende Aspekte zu den Merkmalen der postmodernen Gesellschaft: Zunächst wurde die Knappheit der Güter überwunden. Der westlichen Bevölkerung geht es nicht mehr um die Sicherung der primären Grundbedürfnisse, sondern um den Überfluss. 146 Vgl. Keupp, Heiner u.a.: Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. 4. Aufl. Hamburg 2008. S. 46 147 Keupp, Heiner u.a.: Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. 4. Aufl. Hamburg 2008. S. 46 148 Keupp, Heiner u.a.: Identitätskonstruktionen. S. 53 51 Ferner wird der Alltag allmählich mechanisiert, sodass die Technisierung und Automatisierung der Lebenswelt angenommen wird, ohne wirklich verstanden zu haben, wie sie funktioniert. Ein weiterer Aspekt findet sich in dem technologischen Fortschritt, der so weit beschleunigt wird, dass kein Bedarf an perfekten Produkten besteht, sondern die Ersetzbarkeit der Produkte alltäglich geworden ist. Auch sind die natürlichen Lebensverbände, wie Familie, Dorfgemeinschaft, Zunft usw., nicht mehr wichtig, sodass sich allmählich eine „Atomisierung der Gesellschaft“ beobachten lässt. Es kommt durch die alltäglichen Zwänge in Beruf, Ausbildung oder im sozialen Umfeld zu einer sozialen Mobilität. Soziale Kontakte verflüchtigen sich und der Einzelne scheint jederzeit austauschbar zu sein. In diesem Zusammenhang wird dann auch die Leistung als einziges oder wichtigstes Kriterium für soziale Einordnung genutzt. Außerdem bietet der Beruf keine Identifikationsmöglichkeit mehr, er wird durch die „Rolle“ in der Gesellschaft ersetzt. Weiterhin muss neben der oben genannten Leistungsfähigkeit auch die eigene Genussfähigkeit, also das Maß an Befriedigung und Selbstentfaltung der eigenen Triebe, unter Beweis gestellt werden. So zeigt sich dann auch des Öfteren eine Tendenz zur Umkehrung des Verhältnisses von Freizeit und Arbeit. Die Werte der Arbeit verlieren verstärkt an Bedeutung gegenüber den Werten der Freizeit. Allerdings zeichnen sich diese auch deutlich in der Arbeitswelt ab, indem zunehmend das Kreative und Spielerische bei der Arbeit suggeriert wird. So soll der Arbeitende leistungsfähig und effizient sein und dabei auch noch Spaß haben. Nicht zuletzt gilt nun das kommunikatorische Talent des Einzelnen als wünschenswerte Qualifikation, um ein Weiterkommen im Beruf und Privatleben zu ermöglichen.149 149 Vgl. Kondylis, Panajotis: Der Niedergang der bürgerlichen Denk-­‐ und Lebensform. Die liberale Moderne und die massendemokratische Postmoderne. Weinheim 1991. S. 188f. In: Zenaty, Gerhard: Adoleszente Identitätsbildung unter postmodernen Lebensbedingungen: Neue Freiheit oder Identitätsdiffusion? S. 28f 52 2.2.3. Identitätssuche und -­‐findung in der Postmoderne In der gesamten westlichen Philosophie findet sich die Frage nach der personalen Identität. Besonders im 20. Jahrhundert scheint dieses Thema modern zu werden, in dem Sinne, dass die Zweifel am eigenen Ich, an seiner Autonomie und seiner Vernunftfähigkeit vorherrschend werden. In der Phase der selbstreflexiven Spätmoderne (Anfang bis Mitte des 20. Jh.) betont Anthony Giddens, ein Kulturtheoretiker des 20. Jahrhunderts, vor allem das „Reflexivwerden aller Lebensverhältnisse“. In diesem Sinne scheint alles veränderbar und nichts ist mehr selbstverständlich. Alles geschieht in dem Bewusstsein, dass es auch anders verlaufen könnte. Das reflexive Selbst ist nach Giddens so zu verstehen, dass sich ein Subjekt zwar durch Kohärenz, Dauerhaftigkeit und Bindung auszeichnet, allerdings muss es sich stärker individualisieren: „Das ,Projekt Ich‘ wird zu einer aktiven Dauerleistung des Subjekts, das die wachsende Mobilität, Pluralität und Offenheit der Gesellschaft irgendwie in den eigenen Veränderungen ausbalancieren muß. Identität ist wohl nicht mehr sinnvoll als ,Entstehung eines festen inneren Kerns‘, also substantialistisch zu konzipieren, sondern als ein ,Prozeß der kontinuierlichen Identitätsarbeit‘ – immer in der Spannung zwischen gesellschaftlichen Dauermodernisierungen und psychischen Ausgleichprozessen.“150 Für die Skeptiker erscheint diese Konzeption als verzweifelter Versuch, gegen den drohenden Identitätsverlust anzukämpfen, und nicht als Versuch, eine eigene Biografie zu kreieren. Als weitere Identitätskonzeption soll hier die radikale Postmoderne (Ende es 20. Jhs) näher betrachtet werden: „Die Pluralisierung von Lebensformen und die Fragmentierung von Erfahrungen machen die multiphrene Situation zur Normalerfahrung.“151 Immer vielfältiger werden die Informationen, Möglichkeiten, Pflichten, Werte usw., die das Subjekt überschwemmen und es so dazu auffordern, sich angesichts dieser Mehrdeutigkeit und Vielfalt durch die Kompetenz auszuzeichnen, „produktiv mit dieser fundamentalen Selbst-­‐Differenz 150 Zenaty, Gerhard: Adoleszente Identitätsbildung unter postmodernen Lebensbedingungen: Neue Freiheit oder Identitätsdiffusion? S. 31 151 Zenaty, Gerhard: Adoleszente Identitätsbildung unter postmodernen Lebensbedingungen: Neue Freiheit oder Identitätsdiffusion? S. 32 53 umzugehen“152. Demnach verschwimmen auch die Grenzen des eigenen Selbst, wobei die Notwendigkeit der Selbstinszenierung und der Vermarktung des eigenen Selbst beständig wächst. Das eigene Projekt muss als ständig erneuert, weitererzählt oder neu verflochten werden. 2.2.4. Psychoanalytische Identitätskonzepte Hier soll nun auf die Identitätskonzeption der Psychoanalyse hingewiesen werden, wobei der Fokus allerdings auf dem Konzept von Erikson liegt, da dieses bei der späteren Analyse der beiden literarischen Werke, neben Sennett, Marcia und Keupp, auch teilweise mit einbezogen werden soll. Beim Konzept hermeneutisch rekonstruierter Identität, wie beispielsweise bei Erikson, geht es um die dialektische Vermittlung der Spannung von Natur und Kultur im Menschen oder von Individuum und Gesellschaft. Bei Erikson ist die Bildung von Identität nur möglich, wenn sie von der sozialen Umgebung anerkannt wird. Erikson hat seither einen wichtigen Platz eingenommen im Diskurs um die Identitätskonstruktion aus sozialpsychologischer Sicht. Sein Konzept von Identität basiert dabei auf Theorien der Psychoanalyse und auf den Resultaten seiner empirischen Untersuchungen. Erikson teilt das Leben eines Menschen in acht Phasen ein. Darüber hinaus ordnet er diesen verschiedenen Phasen ganz „bestimmte Anforderungen an die Identitätskonstruktion“ zu.153 In jeder dieser 8 Stufen sucht der Mensch seine Identität und wird dabei von verschiedenen Bezugspersonen beeinflusst. So werden also jedem Lebensalter eines Menschen auch bestimmte psychosoziale Krisen zugeteilt. Das Ende der Kindheit beschließt das Jugend-­‐ und schließlich das frühe Erwachsenenalter. Besonders das Jugendalter unterwirft das Individuum zahlreichen Veränderungen und Krisen. Die Adoleszenzkrise ist nach Erikson allerdings nicht als pathologische, sondern als normative anzusehen. Eine normative Krise ist im Gegensatz zu einer akuten Identitätsdiffusion eine 152 Zenaty, Gerhard: Adoleszente Identitätsbildung unter postmodernen Lebensbedingungen: Neue Freiheit oder Identitätsdiffusion? S. 32 153 Vgl. Malecha, Tom: Ich bin viele. S. 5 54 Lebensphase, „die durch vermehrte Konflikte gekennzeichnet ist, in der ein Mensch eine gewisse Ungleichheit mit sich selbst erfährt, die aber auch ein hohes Wachstums-­‐ und Festigungspotential beinhaltet“.154 Wurden diese Krisen erfolgreich überstanden, so steht am Ende dieser Entwicklung das Identitätsgefühl: „Das sich bildende Identitätsgefühl dagegen wird vorbewußt als psychosoziales Wohlbefinden erlebt. Die erkennbaren Begleitumstände sind das Gefühl, Herr seines Körpers zu sein, zu wissen, daß man ,auf dem rechten Weg ist‘, und eine innere Gewißheit der Anerkennung derer, auf die es ankommt, sicher sein zu dürfen.“155 Das Identitätsgefühl ergänzt dabei das Selbstgefühl, denn als letzteres werden alle Empfindungen verstanden, die nur die Wahrnehmungen und Reflexionen der eigenen Person betreffen. In diesem Sinne ist das Identitätsgefühl nur ein Teil des Selbstgefühls. Es geht dabei nur um die Gefühle in Bezug auf die eigene Person und ihre Verbindungen zu anderen Personen.156 Mit dem Begriff Ich-­‐Identität, der bei Erikson des Öfteren benutzt wird, ist gemeint, dass der Mensch fähig ist, Kohärenz und Kontinuität zu konstruieren und zu wahren. In Beziehung zu seiner sozialen Umgebung entsteht für den Menschen das, was nach Ernst Tugend hat als qualitative Identität, also als Selbstdefinition eines Individuums in Beziehung zu seiner Umgebung, definiert wird. Das Individuum entscheidet somit, welche Art von Mensch es sein will. Demnach konstruiert sich so aus der Gesamtheit der Rollen die Individualität eines Menschen. Für Erikson besteht allerdings das Grundproblem der Identität „in der Fähigkeit des Ich, angesichts des wechselnden Schicksals Gleichheit und Kontinuität aufrechtzuerhalten“.157 Angesichts der postmodernen Gesellschaft, die zahlreiche Möglichkeiten, aber keine Stabilität bietet, scheint eine gelingende Identitätsbildung demnach nahezu unmöglich, besonders wenn davon ausgegangen wird, dass Identität einen festen Kern haben soll. Erikson zufolge gerät das Subjekt in eine 154 Vgl. Malecha, Tom: Ich bin viele. S. 6 155 Erikson; Erik H.: Identität und Lebenszyklus. Frankfurt a. M. 1966. S. 147 156 Vgl. Erikson, Erik H.: Kindheit und Gesellschaft. Stuttgart 1965. S. 256 157 Vgl. Erikson, Erik H.: Einsicht und Verantwortung. Stuttgart 1964. S. 87 In: Zenaty, Gerhard: Adoleszente Identitätsbildung unter postmodernen Lebensbedingungen: Neue Freiheit oder Identitätsdiffusion? S. 39 55 Identitätskrise, wenn es ihm nicht gelingt, ein Gefühl von Kohärenz und Kontinuität herzustellen. Durch den Konstruktcharakter der Identität besteht natürlich immer die Gefahr der Instabilität derselben und somit auch das Risiko des Identitätsverlustes. Die gescheiterte Einheit eines Subjektes, wie sie bei Erikson als Symptom einer fehlgeschlagenen Identitätskonstitution beschrieben wird, ist angesichts der multiplen, instabilen Lebensumstände in der postmodernen Gesellschaft keine Ausnahme mehr. Dadurch, dass das Indivi-­‐
duum der Beliebigkeit ausgesetzt ist und dazu angehalten ist, gegensätzliche Aspekte in Bezug auf das eigene Selbst zu akzeptieren, wird das Problem der Identitätsdiffusion in der Postmoderne allgegenwärtig und alltäglich. Wird von Identitätsdiffusion gesprochen, so meint man „den Zustand des Verlustes eines tragenden Identitätsgefühls“. Das Wort „Diffusion“ bedeutet in diesem Zusammenhang das Zerfließen des Identitätsgefühls und das Entstehen eines Zustandes der Orientierungslosigkeit. Dieser Zustand wird in jeder Phase von „Ratlosigkeit und Unsicherheit im Handeln und in Entscheidungen begleitet“158. In diesem Falle spricht man von „phasenspezifischer Identitätskrise“.159 Bei Erikson wird, wie bereits erwähnt, besonders das Jugendalter als eine „normative Identitätskrise“ dargestellt, die sich allmählich auswächst, sobald der Jugendliche einen festen Platz in der Gesellschaft gefunden hat. Aber auch die phasenspezifischen Identitätskrisen der anderen Subjekte lösen sich, sobald sie ihren festen Platz gefunden haben. Identitätsdiffusion kann allerdings auch Folge einer Störung der Entwicklung sein und tritt dann üblicherweise im Zusammenhang mit einer schweren Persönlichkeitsstörung auf. Zwischen die phasenspezifische Identitätskrise und die entwicklungsbedingte Identitätsstörung wird die reaktive Identitätsstörung eingeordnet, wobei es sich meist um eine Anpassungsstörung mit einer Identitätsdiffusion handelt, die durch „schicksalhafte Brüche im Lebenslauf“ entsteht.160 158 Ermann, Michael: Identität, Identitätsdiffusion, Identitätsstörung. S. 6 159 Vgl. Ermann, Michael: Identität, Identitätsdiffusion, Identitätsstörung. S. 6 160 Später wird noch einmal genauer auf diese Aspekte eingegangen werden. Vgl. Ermann, Michael: Identität, Identitätsdiffusion, Identitätsstörung. S. 6 56 Hier stellt sich nun auch die Frage, was Erikson darüber hinaus unter Identitätsdiffusion versteht. Zunächst gibt es verschiedene Ebenen der Identitätsdiffusion.161 So lässt sich beispielsweise die Diffusion der Beziehungsfähigkeit feststellen. In diesem Sinne hat ein Subjekt im Jugendalter Probleme, sich auf intime Beziehungen einzulassen. Diese Identitätsschwäche zeigt sich allerdings meist erst im Erwachsenenalter. Außerdem kommt es zur Diffusion der Zeitperspektive, die sich in dem Gefühl ausdrückt, unter großem Zeitdruck zu stehen, aber parallel dazu auch den „Zeitbegriff als Dimension des Lebens“ verloren zu haben: „Der junge Mensch fühlt sich gleichzeitig sehr jung, fast babyhaft und uralt.“162 Schließlich gehört auch die Diffusion des Werksinns zu den Charakteristika einer Identitätsdiffusion. Dabei leidet das Subjekt an einer schweren Störung der Leistungsfähigkeit. Dies äußert sich in dem Sinne, dass das Individuum entweder nicht fähig ist, sich auf eine beliebige Arbeit zu konzentrieren oder sich auf selbstzerstörerische, exzessive Art und Weise mit einseitigen Dingen beschäftigt. Allerdings stellen sich auch Eriksons Konzept Kritiker entgegen. So kritisieren einige, dass Erikson den Konflikt zwischen dem Individuum und der Gesellschaft harmonisiert, da er von dem „Ideal einer gelingenden Integration von Subjekt und Gesellschaft ausgeht“163. Andere kritisieren Eriksons Stufenmodell, durch dessen Durchlaufen die Identität bis zum Erwachsenenalter gesichert werden soll. Demnach hätte das Subjekt bereits in der Adoleszenz „einen irreversiblen stabilen Kern gebildet“164: „Jene endgültige Identität also, die am Ende der Adoleszenz entsteht, ist jeder einzelnen Identifikation mit den Beziehungspersonen der Vergangenheit durchaus übergeordnet; sie schließt alle 161 Vgl. Keupp, Heiner u.a.: Identitätskonstruktionen. S. 78f 162 Erikson, Erik H.: Identität und Lebenszyklus. Frankfurt a. M. 1973 S. 161 In: Zenaty, Gerhard: Adoleszente Identitätsbildung unter postmodernen Lebensbedingungen: Neue Freiheit oder Identitätsdiffusion? S. 39 163 Zenaty, Gerhard: Adoleszente Identitätsbildung unter postmodernen Lebensbedingungen: Neue Freiheit oder Identitätsdiffusion? S. 40 164 Zenaty, Gerhard: Adoleszente Identitätsbildung unter postmodernen Lebensbedingungen: Neue Freiheit oder Identitätsdiffusion? S. 40 57 wichtigen Identifikationen ein, aber verändert sich auch, um aus ihnen ein einzigartiges und einigermaßen zusammenhängendes Ganzes zu machen.“165 James Marcia, einer der bekanntesten Nachfolger Eriksons, baut das Konzept seines Vorgängers zu einem „4-­‐Feld-­‐Schema“ aus. Er führt zusätzlich zu der Polarität von Identität und Identitätsdiffusion die Kriterien „Selbstverpflichtung“ und Krise bzw. Exploration hinzu. So ergeben sich dann 4 Felder: 1. Identity Achievement: Diese Stufe ist mit Eriksons gelungener Identität gleichzusetzen, also der „Ausbildung einer festen Zukunftsvorstellung, die sich nach Durchgang einer explorativen, krisenhaften Periode ergeben hat“.166 2. Moratorium: Damit befindet sich das Subjekt im Jugendalter in einer Phase der Exploration, ohne sich bereits festgelegt zu haben. 3. Foreclosure: Hier sind Individuen gemeint, die eine feste Vorstellung ihrer Identität haben, ohne eine explorative Phase durchlaufen zu haben. Diese Personen übernehmen diese Identität meistens von den Eltern. 4. Identitätsdiffusion: Es finden sich in dieser Stufe weder eine Phase des Experimentierens noch eine Festlegung in Bezug auf die Berufswahl, den ideologischen Standpunkt, die sexuelle oder interpersonelle Wertfindung: „Ihr herausragendstes Charakteristikum ist ein Mangel an eigenen Überzeugungen und korrespondierend dazu ein Mangel an Besorgtheit darüber.“167 Wie oben bereits erwähnt, existieren entwicklungsbedingte Identitätsstörungen, die im Zusammenhang mit schweren Persönlichkeitsstörungen auftreten und das Ergebnis einer Identitätsdiffusion sind, die bis weit in die Kindheit zurückreicht. Demnach konnte weder ein „kohärentes Selbstbild“ noch ein „tragfähiges Identitätsgefühl“ entstehen: „Die Selbstwahrnehmung bleibt widersprüchlich, die Wahrnehmung anderer Menschen unscharf und oberflächlich. Meistens besteht das Erleben von Fremdheit gegenüber sich selbst 165 Erikson, Erik H.: Identität und Lebenszyklus. Frankfurt a. M. 1973. S. 156 In: Zenaty, Gerhard: Adoleszente Identitätsbildung unter postmodernen Lebensbedingungen: Neue Freiheit oder Identitätsdiffusion? S. 40 166 Zenaty, Gerhard: Adoleszente Identitätsbildung unter postmodernen Lebensbedingungen: Neue Freiheit oder Identitätsdiffusion? S. 41 167 Marcia 1989 S. 290 In: Zenaty, Gerhard: Adoleszente Identitätsbildung unter postmodernen Lebensbedingungen: Neue Freiheit oder Identitätsdiffusion? S. 41 58 und anderen und ein Gefühl von andauernder Leere. In dieser Form hat Kernberg Identitätsstörungen als ein Kernphänomen der Borderline-­‐
Persönlichkeitsorganisation beschrieben.“168 Insbesondere bei Identitätsstörungen kommt es zu einem Versagen des psychischen Erlebens, sodass man gegensätzliche Wahrnehmungen über das eigene Selbst nicht mehr zu einem Ganzen zusammenfügen kann. Weiterhin werden verschiedene Fragmente gebildet, die je nach Situation aktiviert werden, das Erleben überfluten, im Innern für Chaos sorgen und nach außen hin Orientierungslosigkeit anzeigen. Bei Identitätsstörungen kann die Identitätsdiffusion dazu führen, dass das eigene Selbst, die eigene Identität völlig aufgegeben wird. Die betroffenen Personen leihen sich im weiteren Verlauf Identitäten durch die „unkritische Identifizierung mit Leitbildern und Idolen“ aus.169 Zwischen der hier beschriebenen entwicklungsbedingten Identitätsstörung und der oben genannten phasenspezifischen Identitätskrise siedelt sich, wie bereits erwähnt, die reaktive Identitätsstörung an, die durch schicksalhafte Brüche im Leben ausgelöst wird. Dabei kann es sich beispielsweise um den Verlust einer bedeutsamen Person, den Verlust der Arbeitsstelle, den Verlust der Heimat, Migrationserfahrungen, ein „Coming out einer nicht gesellschaftskonformen Sexualität“, eine schwere Erkrankung oder Behinderung oder die „Begegnung mit den Einschränkungen des Alters“ handeln.170 Gemein ist diesen verschiedenen Situationen der „Verlust der Verankerung als Person in einem dauerhaften mitmenschlichen und kulturellen Gefüge, das uns Halt gibt und schützt“. Die betroffene Person findet sich nun also in einer Umgebung wieder, in der sie sich nicht mehr zurechtfindet, sodass sich die „Kohärenz des Identitätserlebens“ und das „Gefühl von Kontinuität als Person im Bezug zur Welt“ verflüchtigen. 168 Ermann, Michael: Identität, Identitätsdiffusion, Identitätsstörung. S. 7f 169 Vgl. Ermann, Michael: Identität, Identitätsdiffusion, Identitätsstörung. S. 8 170 Vgl. Ermann, Michael: Identität, Identitätsdiffusion, Identitätsstörung. S. 6 59 Die Vorstellung der eigenen Identität und die Vorstellung vom Anderen zerfließen, sodass das Innere und das Äußere nicht mehr zu einem Ganzen verbunden werden können. 171 2.2.5. Gelingende Identitätsbildung In der postmodernen Gesellschaft stellt sich dem Individuum also das Problem des ständig drohenden Identitätsverlustes. Demnach scheint die Fähigkeit immer wichtiger zu werden, das eigene Selbst in verschiedene Teilidentitäten aufzugliedern und diese gleichzeitig miteinander zu verbinden. Luhmann beispielsweise sieht den Auftrag einer Existenz in der Postmoderne vor allem darin, „sich in mehrere Selbsts, mehrere Identitäten, mehrere Persönlichkeiten zu zerlegen, um der Mehrheit sozialer Umwelten und der Unterschiedlichkeit der Anforderungen gerecht werden zu können. Das Individuum wird durch Teilbarkeit definiert“.172 In diesem Sinne ist also die einzige Identitätsform, die angesichts der gegenwärtigen Lebensumstände möglich ist, die Identität im Plural, d.h. die Identität, das Leben „im Übergang zwischen verschiedenen Lebensformen“.173 Heutzutage wird dem Individuum also abverlangt, die Richtung beständig und mühelos wechseln zu können und so verschiedene Rollen überzustreifen. Die beständige Auseinandersetzung mit sich selbst, der Gesellschaft und der Umwelt hat den Anschein einer Bastelexistenz174, die man sich je nach Situation 171 Vgl. Ermann, Michael: Identität, Identitätsdiffusion, Identitätsstörung. S. 6 172 Vgl. Luhmann, Niklas: Copierte Existenz und Karriere. Zur Herstellung von Individualität. In: Beck, Ulrich/ Beck-­‐Gernsheim, Elisabeth (Hrsg.): Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften. Frankfurt a. M. 1994. S. 193. In: Achilles, Friederike: Eine Auseinandersetzung mit Deutschland und der postmodernen Gesellschaft des ausgehenden 20. Jahrhunderts als identitätsstiftendes Moment in Christian Krachts Roman „Faserland“. Norderstedt 2005. S. 16 173 Vgl. Welsch, Wolfgang: Ästhetisches Denken. Leipzig 3. Aufl. 1993. S. 171. In: Achilles, Friederike: Eine Auseinandersetzung mit Deutschland und der postmodernen Gesellschaft des ausgehenden 20. Jahrhunderts als identitätsstiftendes Moment in Christian Krachts Roman „Faserland“. Norderstedt 2005. S. 16 174 Vgl. Hitzler, Ronald/ Honer, Anne: Bastelexistenz. Über subjektive Konsequenzen der Individualisierung. S. 311. In: Beck, Ulrich/ Beck-­‐Gernsheim, Elisabeth (Hrsg.): Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften. Frankfurt a. M. 1994. In: Achilles, Friederike: Eine Auseinandersetzung mit Deutschland und der postmodernen 60 zusammenschneidert oder auftrennt. Diese Patchwork-­‐Identität ist also die aktuelle und unter postmodernen Bedingungen die einzig mögliche Art der Identität. Somit ist sie als Weiterentwicklung der kontinuierlichen und kohärenten Identität in einer traditionellen Gesellschaft zu sehen.175 2.2.6. Ein identitätsstiftendes Element In der postmodernen Gesellschaft ist das moderne Subjekt also nicht mehr in klassische Gruppen eingebettet, so wie es noch Mitte des 20. Jahrhunderts der Fall war. Weiterhin gewinnt die Individualisierung des Einzelnen immer mehr an Bedeutung und es gibt keine kollektiv verbindlichen Wertehorizonte mehr. Das Individuum ist zur Freiheit verdammt und muss beständig zwischen den verschiedenen Angeboten wählen. In diesem Zeitalter wird das Subjekt außerdem beständig mit den Biografien und Lebensentwürfen anderer Menschen konfrontiert, die dann doch einen gewissen Einfluss auf den eigenen Lebensverlauf haben. Daraus resultiert, dass der Mensch sich beständig selbst thematisieren muss, um durch die Abweichung von anderen die gewünschte identitätsbildende Kohärenz und Kontinuität zu erreichen. Mit dem Begriff Distinktion werden diese „Differenz-­‐ und Alteritätserfahrungen“ beschrieben, die dem Subjekt bei der Bildung seiner Identität helfen sollen.176 Diese Erfahrungen sind üblicherweise negativ ausgelegt, demnach weiß das Subjekt stets, welche Merkmale von Personen oder Gruppen für das eigene Selbst vermieden werden sollen. Nach Meuter könnte man das hier Beschriebene verkürzt folgendermaßen ausdrücken: „Das moderne Gesellschaft des ausgehenden 20. Jahrhunderts als identitätsstiftendes Moment in Christian Krachts Roman „Faserland“. Norderstedt 2005. S. 17 175 Vgl. Achilles, Friederike: Eine Auseinandersetzung mit Deutschland und der postmodernen Gesellschaft des ausgehenden 20. Jahrhunderts als identitätsstiftendes Moment in Christian Krachts Roman „Faserland“. Norderstedt 2005. S. 16 176 Vgl. Straub: Personale und kollektive Identität. Zur Analyse eines theoretischen Begriffes. S. 88. In: Assmann, Aleida und Friese, Heidrun (Hg.) Identitäten. Frankfurt a. M. 1998. In: Achilles, Friederike: Eine Auseinandersetzung mit Deutschland und der postmodernen Gesellschaft des ausgehenden 20. Jahrhunderts als identitätsstiftendes Moment in Christian Krachts Roman „Faserland“. Norderstedt 2005. S. 16 61 Individuum muss sich von allen anderen Individuen unterscheiden – andernfalls droht ihm Identitätsverlust.“177 177 Meuter, Norbert: Müssen Individuen individuell sein? S. 199 In: Straub, Jürgen/ Renn, Joachim (Hrsg.): Transitorische Identität. Der Prozesscharakter des modernen Selbst. Frankfurt a. M. 2002. In: Achilles, Friederike: Eine Auseinandersetzung mit Deutschland und der postmodernen Gesellschaft des ausgehenden 20. Jahrhunderts als identitätsstiftendes Moment in Christian Krachts Roman „Faserland“. Norderstedt 2005. S. 18 62 2.3. Die 1990er Jahre 2.3.1. Der Zeitgeist Das Deutschland der 1990er Jahre war zunächst von einschneidenden politischen Ereignissen geprägt, wie z. B. dem Fall der Mauer, dem Ende des Kalten Krieges, der deutsch-­‐deutschen Wiedervereinigung oder dem Eintritt Gerhard Schröders in das Amt des deutschen Bundeskanzlers. Auch das Internet nahm immer größere Dimensionen an. Es brach zu diesem Zeitpunkt eine „Zeit der wachsenden Globalisierung“ und Produkt-­‐ und Marktorientierung, der „sozialen Umbrüche und der Suche nach neuen Werten“ an.178 Heute werden die sozialen Schichten und Klassen, die sich in früheren Epochen ausmachen ließen, vor allem durch sogenannte Milieus ersetzt, die durch Lebensstile, Codes, Besitztümer oder durch ästhetische Neigungen erkennbar sind.179 Allerdings liegt nach Bogdal der Schlüssel für die Literatur der 1990er Jahre nicht in den Geschehnissen um das Jahr 1989, sondern bereits in den siebziger Jahren, da zu diesem Zeitpunkt bereits die „ersten bemerkenswerten Kult-­‐
Bücher der sich allmählich differenzierenden Milieus“ auf den Markt kamen.180 Der Umstand, dass viele Soziologen und Feuilletonisten nach dem Mauerfall im Jahr 1989 der Meinung waren, sie hätten eine neue Generation entdeckt, ist ein wichtiger Aspekt in Bezug auf den Erfolg der neuen deutschen Literatur. In diesem Zusammenhang lässt sich die Definition des Soziologen Karl Mannheim näher betrachten, der 1928 eine Generation „als einen Kreis etwa gleichaltriger Menschen (bezeichnete), der zur Jugendzeit bestimmte prägende Ereignisse erlebe und dadurch ein Gruppengefühl entwickele“.181 178 Vgl. Möckel, Margret: Erläuterungen zu Christian Kracht. Faserland. Hollfeld 2. Aufl. 2010. S. 10 179 Vgl. Bogdal, Klaus-­‐Michael: Klimawechsel. Eine kleine Meteorologie der Gegenwartsliteratur. S. 9-­‐31 In: Erb, Andreas (Hrsg.): Baustelle Gegenwartsliteratur. Die neunziger Jahre. Opladen, Wiesbaden 1998. In: Möckel, Margret: Erläuterungen zu Christian Kracht. Faserland. S. 10 180 Vgl. Bogdal, Klaus-­‐Michael: Klimawechsel. Eine kleine Meteorologie der Gegenwartsliteratur. S. 9-­‐31 In: Erb, Andreas (Hrsg.): Baustelle Gegenwartsliteratur. Die neunziger Jahre. Opladen, Wiesbaden 1998. S. 15 181 Vgl. Ernst, Thomas: Popliteratur. S. 70 63 Demnach spricht man beispielsweise von der „Flakhelfer-­‐Generation“ oder der „Generation HJ“, deren Vertreter noch in den Krieg eingetreten waren und so die schwierigen und bitteren Umstände eines Weltkrieges kennengelernt hatten und diese im Nachhinein durch hartes Arbeiten zu Zeiten des Wirtschaftswunders zu verdrängen versuchten. Weiterhin wird auch von der „68er-­‐Generation“ gesprochen, den Kindern der oben genannten Generationen, die sich kritisch mit der Verdrängung des Nationalsozialismus auseinandersetzten. Auch nach Claus Leggewie, der das Buch „Die 89er“ verfasste, ist der Mauerfall als generationsprägendstes Ereignis der hier beschriebenen deutschen Jugend zu deuten. Er beschreibt diese Jugend als „politisch illusionslos, zugleich aber nachdenklich, stark individualisiert und clever im Umgang mit den neuen Medien“.182 Der Autor sieht im Lebensstil dieser Generation „ein Sampling aus Versatzstücken vergangener Zeiten“183, also eine Neuverarbeitung aus verschiedenen Variablen der Vergangenheit. 2.3.2. Die Generation Golf184 Vor dem Hintergrund vom „Ende der Geschichte“185 wie auch der deutsch-­‐
deutschen Wiedervereinigung erfährt der Begriff „Generation“ einen Aufschwung. Zunächst stellte in Amerika der Autor Douglas Coupland in seinem Werk „Generation X“ die Idee vor, dass die gleichnamige Generation eine sehr flexible sei, welche sich nicht mehr an feste Werte oder starre Lebensentwürfe hält und deren Lebensweg demnach von starken Brüchen gepflastert ist. Nach dem Umzug der deutschen Regierung von Bonn nach Berlin führt der deutsche Soziologe Heinz Bude den Begriff „Generation Berlin“ ein, der passend zu der neuen Zeit der „Berliner Republik“ erscheint. In den 1990er Jahren des 20. Jahrhunderts besteht die Tendenz, nach einer jeweils offiziellen und allgemein angenommenen Benennung für verschiedene 182 Vgl. Ernst, Thomas: Popliteratur. S. 70 183 Ernst, Thomas: Popliteratur. S. 71 184 Siehe: http://generationen-­‐im-­‐
vergleich.jimdo.com/generation_golf_merkmale__beispiele.php, http://www.single-­‐
generation.de/themen/thema_generation_golf_diagnose_als_symptom.htm, http://web.uni-­‐frankfurt.de/fb09/kunstpaed/indexweb/ws0203/genegolf.htm 185 Fukuyama, Francis: The End of History and the Last Man. 1992 64 Gruppierungen und Tendenzen zu streben. Diese lässt sich vor allem in Literatur-­‐ oder Schriftstellerkreisen verzeichnen. Allerdings scheinen meistens nicht kollektive Ereignisse, sondern individuelle Bedürfnisse das Kriterium für die Definition einer Generation zu sein. Beispielsweise wurden so die „Generation X“, die „Generation Berlin“ oder die „Generation @“ definiert und benannt. Fast alle Gruppen, die in den 1990er Jahren hervorstechen, zeichnen sich durch eine Gemeinsamkeit aus: die bemühte Abgrenzung von der 68er-­‐Generation. Im Jahr 2000 entwirft ein Redakteur der FAZ, Florian Illies, das Bild der „Generation Golf“. Zu dieser Generation werden alle Gleichaltrigen gerechnet, also alle zwischen 1965 und 1975 Geborenen. Die Zuordnung erscheint zunächst etwas unbegründet, vor allem da die Erfahrungen der „Golfer“ scheinbar nur auf den gleichen Spielzeugen und Fernsehshows basieren. Diese Generation scheint sich so auch völlig von der 68er-­‐Generation, der Generation ihrer Eltern, abzugrenzen und stellt sich als gänzlich unpolitisch dar. So erstaunt es nicht, dass in Florian Illiesʼ Porträt die bedrohlichen Seiten der 1980er Jahre, wie beispielsweise Tschernobyl oder das Wettrüsten im Zusammenhang mit dem Kalten Krieg, nicht angesprochen werden. Interessiert waren die Vertreter dieser Generation vor allem an Wohlstand, Oberflächlichkeiten und eher „konservativen“ Werten. Ziel war es demnach, sich auf eine angenehme Art und Weise einzurichten. Betrachtet man die Ausführungen von Florian Illies näher, so lässt sich feststellen, dass in seinem Buch die Vertreter einer Generation beschrieben werden, die in den 1980er Jahren, dem scheinbar „langweiligsten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts“186, aufgewachsen sind und in deren Leben Gegenstände, Gewohnheiten, Produkt-­‐ und Markenvorlieben eine große Rolle spielen, wie man bereits an der Bezeichnung „Generation Golf“ erkennen kann. Die Generation Golf könnte weiterhin als konsumorientiert, markenfetischistisch, fernsehgeprägt, aber doch politisch uninteressiert beschrieben werden.187 So verwundert es nicht, wenn in diesem Zusammenhang auch von einer 186 Illies, Florian: Generation Golf. Eine Inspektion. 7. Aufl. Frankfurt a. M. 2002. Siehe Klappentext 187 http://www.welt.de/print-­‐welt/article503196/Ich_und_mein_Playmobil.html 65 „Ästhetisierung der Gesellschaft“ gesprochen wird, in der das Ästhetische quasi vorrangig vor allen politischen oder weltanschaulichen Ansichten steht und letztere sogar nach ästhetischen Aspekten bewertet werden. Beispielsweise wird in Illies’ Werk Joschka Fischer als einer der Lieblingspolitiker genannt, nicht weil er nach Ansicht der Generation-­‐Golfer die passende politische Richtung einschlägt, sondern weil er auf sein Äußeres achtet. Zudem scheint es trotz aller Abgrenzungsbemühungen doch keinen Generationskonflikt zu geben, wie man an einer der Kapitelüberschriften erkennen kann: „Ich wollte alles anders machen als mein alter Herr. Und nun fahren wir das gleiche Auto.“ Natürlich ist hier von einem VW Golf die Rede. In diesem Sinne wird dann auch die ästhetische Ausbildung des Stils, die über Medienereignisse und den Konsum erfolgt, als „generationsstiftendes Ereignis“ wahrgenommen. Weiterhin führt die totale Toleranz, die innerhalb der Generation Golf herrscht, zur Auflösung aller Codes oder Richtlinien, die einem Individuum eine gewisse Sicherheit vermitteln. So ist der Mensch zu Zeiten der Generation Golf frei in allen Entscheidungen, welchen Bereich auch immer sie anbelangen. In Illiesʼ Werk wird also eine Art Flexibilitätswahn beschrieben, der einhergeht mit einer gewissen Bindungs-­‐ und Verantwortungslosigkeit.188 Die Generation Golf erscheint also als individualistisch, wird allerdings nach näherem Betrachten als Massenphänomen entlarvt, denn die Erfahrungen, die als individuell erscheinen oder die ästhetische Ausbildung des Stils, durch die eine gewisse Abgrenzung zu anderen geschaffen werden soll, sind im Endeffekt allgemeingültig oder uniform. So kann also festgestellt werden, dass aus dem verzweifelten Streben nach Individualität sich nur kollektive Identitäten ergeben. 188 http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-­‐15737766.html 66 II. Analytischer Teil In diesem zweiten, analytischen Teil der Arbeit werden die beiden ausgewählten popliterarischen Werke im Hinblick auf die Thematik untersucht. Dabei sollen diese zwar jeweils auch unter einem popliterarischen Aspekt vorgestellt werden, im Fokus der Arbeit steht jedoch die „Identität“. Beide Werke wurden ausgesucht, da sie exemplarisch für die Popliteratur an sich erscheinen. So wird Christian Krachts Debütroman „Faserland“ oftmals als Gründungsmanifest der Popliteratur bezeichnet, während Benjamin von Stuckrad-­‐Barres Erstlingswerk „Soloalbum“ 1998 erschien, also auf dem Höhepunkt der popliterarischen Strömung. Bei der Analyse der beiden Werke wird ähnlich vorgegangen, wobei die Untersuchungen allerdings in verschiedenen Punkten abweichen, da sich die beiden Beispiele dann doch inhaltlich unterscheiden und dies in der vorliegenden Arbeit berücksichtigt werden sollte. 1. Christian Kracht: „Faserland“189 „Faserland“ ist Christian Krachts erster Roman, den er 1995 nach einigen erfolgreichen Jahren der journalistischen Tätigkeit veröffentlicht und an dem sich die Geister der Literaturlandschaft bis heute scheiden. Kracht stellt die Reise eines jungen Mannes, der sich selbst zu finden sucht, durch seine Heimat Deutschland dar. Im Rahmen dieser Arbeit soll der Aspekt der Identitätssuche und -­‐findung in der Popliteratur der 1990er Jahre anhand der Hauptfigur dieses Romans näher betrachtet werden. Zunächst wird jedoch der Autor Christian Kracht vorgestellt, bevor kurz auf die im Buch dargestellten Begebenheiten eingegangen wird. Interessant scheint es auch, die Rezeption des Romans innerhalb der Literaturlandschaft zu ermitteln und die Positionierung von Krachts Erstlingswerk im Bereich der Popliteratur zu ergründen. Vor allem steht jedoch das Thema der Identitätssuche und -­‐findung im Vordergrund, wobei hier zunächst der aktuelle Lebensentwurf des Protagonisten interessant erscheint. Zu 189 Kracht, Christian: Faserland. Köln 1995 67 Zwecken der Charakterisierung werden zunächst der Protagonist und seine Familie, seine Ausbildung und finanzielle Lage, sein Umfeld, seine Freunde und Frauen wie auch seine Einstellung zu Körper und Geist beleuchtet, bevor der Protagonist als Dandy und Flaneur in den Fokus rückt. In einem weiteren Punkt befasst sich die Arbeit dann anhand des hier dargelegten Beispiels mit dem Thema der Identität und des Lebensentwurfs in den 1990er Jahren, wobei der Protagonist zunächst als Suchender wahrgenommen wird. Hier erscheint zunächst der Ausgangspunkt, an dem sich die Hauptfigur zu Beginn von Krachts Roman „Faserland“ befindet, von Bedeutung. Im weiteren Verlauf werden dann seine Erfahrungen in den verschiedenen Städten und mit seinen verschiedenen Freunden wie auch die damit verbundenen Enttäuschungen dargelegt. Darüber hinaus werden die Kindheitserinnerungen und Zukunftsträume des Protagonisten untersucht, die für seine Suche nach sich selbst wichtig erscheinen. Beleuchtet werden ebenfalls die Aspekte der Heimatlosigkeit und der Flucht, die in diesem popliterarischen Beispiel eine besondere Rolle spielen, wie auch das Verhältnis des Ich-­‐Erzählers in Bezug auf Zwischenmenschliches. Danach werden die Probleme des Protagonisten auf dem Weg zur Identität thematisiert, bevor mögliche Lösungen in Betracht gezogen werden. Abschließend soll dann der Zustand des Ich-­‐Verlustes, in dem sich der Protagonist zuletzt befindet, ausführlich dargelegt werden. 1.1. Das Werk 1.1.1. Der Autor: Christian Kracht190 Christian Kracht, Sohn wohlhabender Eltern, wurde am 29. Dezember 1966 im schweizerischen Gstaad geboren. Sein Vater ist zu diesem Zeitpunkt der Generalbevollmächtigte des Zeitungsverlages Springer. In seiner Jugend besucht er zunächst das Lakefield College in Ontario, Kanada, bevor er sein Abitur im Elite-­‐Internat Salem macht. Krachts journalistische Karriere beginnt 1990 mit 190 Nach Möckel, Margret: Interpretation zu Christian Kracht. Faserland. Hollfeld, 2. Aufl. 2010. S. 7ff 68 einem Volontariat bei der Zeitschrift Tempo. Zeitgleich veröffentlicht er mit Eckhart Nickel zusammen Beiträge für die B.Z. 1993 erhält er sogar den Axel-­‐
Springer-­‐Preis für eine Reportage über obdachlose Jugendliche. 1995 erscheint dann sein Erstlingswerk „Faserland“, das die Geister der Leserschaft scheidet. Ab diesem Moment polarisiert Kracht, er begeistert oder fasziniert sein Publikum oder irritiert es. Seit dem Erscheinen seines ersten Romans wird Christian Kracht teils als originelle, aber auch rätselhafte Schriftstellerpersönlichkeit angesehen.191 1997 wird Kracht dann Südasien-­‐Korrespondent für den „Spiegel“. Ein Jahr später richtet er sich in Bangkok, Thailand, häuslich ein und bereist von da aus den asiatischen Kontinent. Im gleichen Jahr erscheint der Reisebericht „Ferien für immer“, den er in erneuter Zusammenarbeit mit Eckhart Nickel verfasst hat. Auch für die Zeitung „Welt am Sonntag“ wird Kracht Kolumnist. 1999 veröffentlicht der Autor einige Werke. Zunächst erscheint die Pop-­‐Anthologie „Mesopotamia“, dann die Sammlung „Der gelbe Bleistift“, in der Kracht eine Reihe von Texten herausgibt, die er während seines Asien-­‐Aufenthaltes geschrieben hat. Nebenbei wirbt er zusammen mit seinem Schriftsteller-­‐
Kollegen Benjamin von Stuckrad-­‐Barre für das Bekleidungshaus Peek & Cloppenburg. Erst 2001 erscheint ein weiterer Roman des umstrittenen Autors: „1979“. Kracht siedelt schließlich nach Sri Lanka über, bevor er sich 2004 dann zwecks Studien in Nordkorea, in Nepal und schließlich in San Francisco aufhält. In diesem Zeitraum gibt er zusammen mit Eckhart Nickel die Zeitschrift „Der Freund“ heraus. 2005 hält er sich teilweise in Afghanistan und Paraguay auf und fungiert als einer der Sprecher in der Hörfassung von Yasushi Inoues „Das Jagdgewehr“. In Zürich wird „1979“ in der Theaterversion aufgeführt. 2006 hält sich Christian Kracht in Tansania, Afrika, auf und besteigt dort mit Ingo Niermann den Kilimandscharo. Gemeinsam arbeiten sie an dem Roman „Metan“. Es erscheinen „Die totale Erinnerung – Kim Jong Ils Nordkorea“ und das Kompendium „New Wave“. Zu dieser Zeit arbeitet er auch erneut als Kolumnist, diesmal für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“. 2007 werden der Roman „Metan“ publiziert und die von Kracht gelesene Hörbuchfassung von Truman 191 Vgl. Birgfeld, Johannes/ Conter, Claude D. (Hrsg.): Christian Kracht. Köln 2009. S. 9 69 Capotes „Frühstück bei Tiffany“. Der Autor siedelt nach Argentinien über, und 2008 wird sein dritter Roman „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ veröffentlicht. 2009 hat er erneut zusammen mit Eckhart Nickel den Reisebericht „Gebrauchsanweisung für Kathmandu und Nepal“ herausgegeben und den Phantastik-­‐Preis der Stadt Wetzlar erhalten. 2010 dann liest er einen Part für die Hörbuchversion von David Schalkos „Weiße Nacht“. Im Jahr 2011 veröffentlicht er zusammen mit David Woodward die Briefsammlung „Five Years: Briefwechsel 204-­‐2009. Band 1: 2004-­‐2007“ und im Februar 2012 seinen aktuellen Roman „Imperium“. Seit 2008 lebt er mit seiner Frau in Buenos Aires. Als Fazit lässt sich sagen, dass es sich bei Christian Kracht um einen jugendlich wirkenden Schriftsteller handelt, der durch seine Verbundenheit zur Oberschicht, aber auch durch das beständige Reisen einen doch recht selektiven Blick auf die Gesellschaft und das Weltgeschehen wirft. Nichtsdestotrotz ist er durch seine Beliebtheit bei einem doch etwas jüngeren Publikum auch gezwungenermaßen relativ häufig in den Medien vertreten, wenn auch nicht ganz so exzessiv wie sein Kollege Benjamin von Stuckrad-­‐Barre, der vor allem auch noch die Marketingmechanismen der Popwelt aktiviert und beispielsweise den Film und die CD zum Buch veröffentlicht. 1.1.2. Der Roman: „Faserland“ – Einleitende Gedanken Der Debütroman des jungen Autors trägt den Titel „Faserland“, was eine Wortneuschöpfung von Christian Kracht ist. Das Wort besteht aus zwei eigenständigen Wörtern „Faser“ und „Land“, die es in der deutschen Sprache auch tatsächlich gibt und bei Christian Kracht erstmals in Form dieser Verbindung verwendet werden. Das Wort „Faser“ steht zunächst für eine kleine Einheit stofflichen, pflanzlichen, tierischen oder menschlichen Gewebes. Mehrere Fasern zusammen können dabei ein Gewebe bilden, das aber, wird es wieder in die einzelnen Fasern aufgetrennt, auch zerfasern kann. Dabei ist das Wort „zerfasern“, genauso wie faserig, meistens negativ konnotiert, spricht man beispielsweise von faserigem Fleisch oder faserigem Stoff. Bezieht man diesen Begriff auf den Protagonisten, so lässt sich auch hier feststellen, dass dieser sich 70 in einem faserigen Zustand befindet, da er in seiner Persönlichkeit kein einheitliches Ganzes darstellt, sondern nur in seinen Einzelheiten erfasst werden kann.192 Wird das Wort „Faser“ nun etymologisch untersucht, erkennt man, dass es auf den althochdeutschen Begriff „fasôn“ zurückgeht, was so viel wie „suchen“ heißt. In Bezug auf den Roman lässt sich in diesem Zusammenhang natürlich bestätigen, dass sich der Protagonist beständig auf der Suche befindet: Er sucht beispielsweise ein neues Hemd, die nächste Zugverbindung, seine Individualität und im Endeffekt den Sinn des Lebens.193 Allerdings kann man von dem Wortstamm „fas-­‐“ noch eine weitere Bedeutungsgruppe ableiten, wie beispielsweise das Verb „faseln“. In Bezug auf den Roman könnte man so beispielsweise das unüberlegte Erzählen des Protagonisten im Plauderton als „faseln“ bezeichnen, was dem Schriftsteller auch des Öfteren seitens der Literaturkritik vorgeworfen wird. Der Titel des Buches besteht allerdings auch noch aus einem zweiten Teil, dem Wort „Land“. Anders als bei dem ersten Teil des Titels hat dieses Wort seine Bedeutung seit dem Althochdeutschen größtenteils beibehalten. Betrachtet man den Titel nun als Ganzes, so liegt die Vermutung nahe, dass mit „Faserland“ ein bestimmtes Land gemeint ist, welches in diesem Fall die Heimat des Ich-­‐Erzählers „Deutschland“ chiffrieren soll. So zieht sich auch die Reise des Protagonisten quer durch das deutsche Land, das ihm aus der schweizerischen Ferne dann doch recht problematisch und zerfasert erscheint. Der Titel des Romans lässt jedoch auch noch eine dritte Assoziierung zu: Spricht man das englische Wort „fatherland“ deutsch akzentuiert aus, ergibt sich daraus der Sinn des deutschen Wortes „Vaterland“. Mehrfort meint dazu Folgendes: „Durch die gebrochene Rezeption des falsch ausgesprochenen Wortes kommt das gestörte Verhältnis des Protagonisten zu seinem hypothetischen Vaterland Deutschland zum Ausdruck.“194 192 Vgl. Mehrfort, Sandra: Popliteratur. S. 78f 193 Vgl. Biendarra, Anke S.: Der Erzähler als ‚Popmoderner Flaneur’ in Christian Krachts Roman Faserland. In: German Life and Letters 55/2 (2002), S. 167. In: Mehrfort, Sandra: Popliteratur. S. 79 194Mehrfort, Sandra: Popliteratur. S. 80 71 In „Faserland“ werden also die Erlebnisse eines jungen Mannes auf Reisen durch das deutsche Vaterland erzählt, die nur durch ihn als erlebendes Subjekt zusammengehalten werden. Er reist von Norden quer nach Süden. Seine erste Station in der Bundesrepublik ist dabei Sylt, dann reist er weiter nach Hamburg, Frankfurt am Main, Heidelberg, München und Meersburg und schließlich endet der Roman nicht im Vaterland, sondern im schweizerischen Zürich. Auf dieser Reise geschieht an sich recht wenig, die Handlung gestaltet sich lediglich durch die subjektiven Berichte des Protagonisten über die besuchten Partys und die konsumierten Drogen, seine Freunde und seine jeweilige Befindlichkeit. Stellenweise unterbricht der Protagonist seinen Bericht, um von seinen eigenen Kindheitserfahrungen zu erzählen. In Krachts Roman, der also an sich eine recht magere Erzählstruktur aufweist, beherbergt fast jede seiner Stationen auch das Ende einer Freundschaft, sodass der Ich-­‐Erzähler am Ende erkennen muss, dass er keine Bezugsperson mehr hat und so in der heutigen, faserigen Gesellschaft nicht überleben kann. Am Ende von Krachts Debüt wird dann auch der Freitod des Protagonisten angedeutet, was nach Mehrfort die Konsequenz der oben genannten Erkenntnis sein muss. In diesem Sinne kann man feststellen, dass der fragmentarisch angelegte Protagonist nicht wirklich eine Entwicklung durchläuft, da er sich jedweder Beeinflussung durch Eindrücke und Personen oder der seiner Ansicht nach degenerierten Kultur entzieht und so stets an seinem eigenen als dem einzig richtigen Standpunkt festhält.195 1.1.3. Zur Rezeption des Romans Christian Kracht war bis zum Erscheinen seines Erstlingswerks „Faserland“ vor allem als Lifestyle-­‐Redakteur aufgetreten. Das Werk rief seitens der Literaturkritik ebenso drastische wie auch ambivalente Reaktionen hervor. So wurde es beispielsweise von Florian Illies, dem Schriftsteller des Buches „Generation Golf“, als „Ausdruck seiner Generation“ hoch gepriesen, wie man auch an folgendem Textauszug erkennen kann: 195 Vgl. Mehrfort, Sandra: Popliteratur. S. 80f 72 „Der Snobismus unserer Generation wurde aber relativ lange unter den Teppich gekehrt, wahrscheinlich auch, weil es an Identifikationsfiguren fehlte. Ende der achtziger Jahre erschien in Amerika der Roman American Psycho von Bret Easton Ellis, der uns weniger wegen der blutrünstigen Gewaltfantasien interessierte als wegen der Dokumentation des Markenfetischismus unserer Generation. Jede Socke einer handelnden Person wurde einer bestimmten Firma zugewiesen und seltsames Verhalten sofort auf die unpassende Krawatte zurückgeführt. Damals war es aber noch nicht so weit wie 1999, als Harald Schmidt im Wiener Burgtheater Auszüge aus Bret Easton Ellis vorlas – hätte er es damals gemacht, hätte man das noch in hundert Jahren als Gründungsveranstaltung unserer Generation feiern können. Weil es aber eben noch zehn Jahre dauern sollte, kam glücklicherweise vorher Christian Kracht. Im Jahre 1995 erschien sein Roman ,Faserland‘. Zum einen war das ein wunderbares Buch, in dem Kracht Bret Easton Ellis’ Markenkompendium kongenial auf die deutsche Produktwelt übertrug. Zum anderen aber las man hier erstmals von einem Sohn aus sehr gutem Haus und von seinen dekadenten Reisen zwischen Sylt und dem Bodensee, [...] und die Ernsthaftigkeit, mit der Kracht Markenprodukte einführte und als Fundament des Lebens Anfang der neunziger Jahre vor Augen führte, wirkte befreiend.“196 So empfiehlt Reinhard Wilczek sogar den Roman als Musterbeispiel zeitgenössischer Literatur in den Deutschunterricht zu integrieren, besonders weil man Parallelen zu Goethes Werther ziehen kann: „Christian Krachts 1995 veröffentlichter Roman ,Faserland‘ könnte das Werther-­‐
Erlebnis dieser Generation sein. Der Prosatext schildert die Irrfahrt eines reichen jungen Mannes, der in einer grünen Barbourjacke und im Zustand zunehmender Betrunkenheit vom äußersten Norden Deutschlands bis zum Bodensee reist; zwischendrin macht der Wohlstandsflüchtling Zwischenstation in teuren Nobelherbergen, Szenekneipen und -­‐diskotheken und besucht seine nicht minder haltlosen Freunde; ein Getriebener, der etwas sucht, aber nicht erkennt, dass es jenseits von Reichtum, Luxus und Schönheit Werte gibt, die man nicht für Geld kaufen kann: Liebe; Geborgenheit und Fürsorge. Die Reflexionen des klassischen Werthers über Literatur, Liebe und Natur werden bei Kracht 196 Illies, Florian: Generation Golf. S. 154 73 aufgelöst in Mode-­‐ und Konsumdiskurse, Beschreibungen von Orgien und Erörterungen über die Vor-­‐ und Nachteile verschiedener Markenartikel. Den Endpunkt dieser seltsamen Reise, die mehr an eine Flucht erinnert, bildet eine einsame Kahnfahrt auf dem Bodensee, die der Protagonist am Ende seiner Fahrt unternimmt. Das Thema des Suizids wird zwar vom Erzähler angedeutet, aber nicht zu Ende gedacht.“197 Demnach scheint der Protagonist in Krachts Werk doch einige Gemeinsamkeiten mit Goethes Werther aufzuzeigen. So zeichnet sich auch dieser hier durch seine Haltlosigkeit, die fehlende Zugehörigkeit und die damit verbundene Distanz zu den wichtigen Aspekten des Lebens aus, was dann zuletzt in der Identitätskrise und der Flucht vor der Gesellschaft und vor sich selbst endet. Neben Florian Illies bewertet aber auch Moritz Baßler den Roman „in seinem Resümee über die Popliteratur der 90er Jahre“ als „Wendepunkt“198: „In der Tat markiert das Erscheinen von Krachts Debüt ,Faserland‘ (1995) die Wende in der hier skizzierten Geschichte des Verhältnisses von Literatur und Pop in Deutschland. Wie Easton Ellis legt Kracht seinen Ich-­‐Erzähler als sprachlich und menschlich defizitäre Figur an, als reichen Schnösel, der gelangweilt bis angeekelt durch die Marken-­‐ und Partykultur Westdeutschlands taumelt. Dennoch verdankt sich die unmittelbare Initialwirkung des Romans merkwürdigerweise einer weitgehend ungebrochenen (also unter hermeneutischen Gesichtspunkten: falschen) Lektüre. ,Faserland‘ spaltete sofort bei Erscheinen die literarische Szene: Befreiend wirkte auf die einen ‚die Ernsthaftigkeit, mit der Kracht Markenprodukte’ – vor allem die Barbourjacke – ‚einführte und als Fundamente des Lebens Anfang der neunziger Jahre vor Augen führte‘ (Illies), andere, wie Matthias Politycki, stellten angesichts der wenig verdichteten Rede des Ich-­‐Erzählers die Frage, ‚was ein vollgeschwalltes Stück Papier von einem literarischen Text unterscheide‘. Den von diesem Roman gemeinsam mit Nick Hornbys High Fidelity (ebenfalls 1995) ausgelösten Boom der Popliteratur hatte jedenfalls niemand vorhergesehen.“199 197 Wilczek, Reinhard: S. 217 198 Möckel, Margret: Interpretation zu Christian Kracht. Faserland. Hollfeld, 2. Aufl. 2010. S. 88 199 Baßler, Moritz: Das Zeitalter der neuen Literatur. S. 193 74 Wie oben bereits erwähnt wird dem Schriftsteller zwar stellenweise sprachliches Vermögen angerechnet, jedoch sorgt der Inhalt des Werkes in weiten Teilen für Ablehnung und sogar Entsetzen, denn das Verhalten des arroganten Protagonisten wird zumeist als reine Provokation empfunden. Die meist sehr abwertenden Urteile basieren auf der an der Alltagssprache orientierten Schreibweise und dem hoch gepriesenen Markenfetischismus, der dazu genutzt wird, die Mitmenschen des Protagonisten in Kategorien einzuteilen. Daher verwundert es nicht, dass ein Großteil der Kritiker empört auf diese oberflächliche Kultur der 1990er Jahre reagierte und viele keinen literarischen Wert in einem solchen Schriftstück sahen. Vermutlich lassen sich diese ambivalenten Reaktionen auf Inhalt und Schreibweise dadurch erklären, dass 1995 deutsche Literatur junger Schriftsteller im Allgemeinen als nicht besonders interessant und dynamisch wahrgenommen wird. Den Nachwuchsschriftstellern wurde hauptsächlich vorgeworfen, dass es ihnen an Talent und Innovationskraft mangele. In diesem Zusammenhang wurde dann auch die amerikanische Unterhaltungsliteratur oftmals als Vorzeigebeispiel vorgeführt, sodass es doch verwundert, dass Krachts Erstlingswerk „Faserland“ größtenteils negative Kritiken erntete. So wurde Kracht auch des Öfteren vorgeworfen, dass er durch den amerikanischen Autor Bret Easton Ellis beeinflusst wurde und er genau wie in „Less than zero“ das Leben der „rich kids“ darstellt. Auch der in „American Psycho“ geschilderte Markenfetischismus findet sich in Krachts Debüt wieder, was die Kritiker dann auch beanstandeten. Besonders die jüngere Leserschaft reagierte jedoch größtenteils positiv, besonders auf die von den Literaturkritikern bemängelten Aspekte. So verwundert es nicht, dass Krachts „Faserland“ bereits kurz nach dem Erscheinen zum Kultbuch der jugendlichen Pop-­‐Generation wurde und er selbst auch durch die häufige Medienpräsenz wie ein Popstar wirkte, was vermutlich gerade durch die zahlreichen Verrisse seitens der Literaturkritik, aber auch durch die Inszenierungs-­‐ und Vermarktungsstrategien der Popwelt begünstigt wurde. 75 1.1.4. Positionierung des Romans im Bereich der Popliteratur Seit dem Erscheinen von „Faserland“ sind knapp fünfzehn Jahre vergangen, sodass die Forschungsliteratur zu diesem Buch dann doch noch relativ begrenzt ist. Der Roman wird meistens in allgemeinen Untersuchungen zum Thema „Popliteratur“ aufgeführt und als eines der typischen Werke der Popliteratur oder als Gründungsmanifest bezeichnet. Demnach können die meisten Merkmale von Popliteratur auch auf „Faserland angewendet werden, obwohl Pop in der Zwischenzeit nicht mehr ganz so einfach zu definieren ist und eine ganze Reihe an Definitions-­‐ und Beschreibungsversuchen existieren, wie bereits oben erwähnt wurde. Die wichtigsten Merkmale der Popliteratur lassen sich auch in Krachts „Faserland“ finden. Anders als bei der Popliteratur der sechziger Jahre geht es hier allerdings nicht um Protest und Provokation, sodass diese Populärkultur bei einer Generation, die mit einer solchen sozialisiert wurde, nicht als solche verstanden werden kann. Demnach wurde aus der Untergrund-­‐Bewegung der sechziger Jahre eine literarische Strömung, die gleichzeitig sehr publikumswirksam, aber auch von der Literaturkritik abgelehnt wird, wie sich auch an der Rezeption von Krachts Debüt feststellen lässt. Die Leserschaft der Popliteratur ist vor allem recht jung, was sich vor allem daraus erklärt, dass in solchen Werken die Abnabelung von der unschuldigen Kindheit und der Eintritt in die Welt der jungen Erwachsenen beschrieben wird – eine Thematik, mit der sich vor allem jugendliche oder junge erwachsene Leser identifizieren können. Krachts Roman kann als eine Art Entwicklungsroman gesehen werden, in dem besonders die Bewegung, in diesem Fall die Bewegung von Ort zu Ort, eine große Rolle spielt. So ist dann auch die Thematisierung der Urbanität hervorzuheben, die durch das flüchtige Besuchen deutscher Städte hervorgerufen wird. In diesem Zusammenhang ist auch die vorrangige Konzentration auf die Oberfläche zu nennen. Der Begriff der „Oberfläche“ lässt sich in diesem Zusammenhang schwierig definieren. Jung bezeichnet sie beispielsweise als die „kollektiv-­‐ bzw. generationsbildend 76 wirkenden Erfahrungsinhalte der zynischen Waren-­‐ und Medienwelt“.200 Bezeichnend für die Popliteratur ist weiterhin die visuelle und mediale Erfahrung der Gegenwart, die auch bei Christian Kracht beschrieben wird, indem durch identitätsstiftende Objekte der Popkultur wie eine Marke, ein Film oder eine Platte ein Lebensgefühl hergestellt wird. Jung bemerkt in diesem Sinne auch, dass sich die Popliteratur beständig auf Musik, Mode, Marken, Filme, Fernsehen und Prominente fokussiert, sodass sie den Eindruck erweckt, die postmoderne Welt, die sich durch die mediale Vermittlung besonders auszeichnet, nachzubauen. Weiterhin wird in Krachts Erstlingswerk das Dasein eines dandyhaften Bohemien beschrieben, der in einer Welt aus ständigem Unterwegssein, Glamour und Drogen, einer ausschweifenden Sexualität, kurz: in einer Welt der Exzesse und Ekstasen im Endeffekt mehr schlecht als recht existieren kann. In dieser Hinsicht kann also auch eine gewisse Kritikbereitschaft des Autors an der Lebensart der 68er-­‐Generation, aber auch ein Aufbegehren gegen die Machtverhältnisse innerhalb der popkulturellen Welt des Journalismus festgestellt werden. Wie viele andere Popautoren hat auch Christian Kracht seine ersten schreiberischen Tätigkeiten im journalistischen Bereich gemacht, was dazu führt, dass immer weniger zwischen Journalismus und Literatur unterschieden werden kann und es zu einer „multiplen Autorschaft“ kommt.201 Demnach sind die popliterarischen Werke durch eine sehr realistische und detaillierte Schreibart des Journalisten geprägt. Bei Frank werden folgende Merkmale der Popliteratur zusammengefasst, die auch auf das hier zu besprechende Werk zutreffen: „Formale Eingängigkeit, [...] Umgangs-­‐ und Szenesprache; inhaltlich ein affirmatives, also bejahendes Verhältnis zur zunehmend medial geprägten Alltagswelt jugendlicher und jung gebliebener Menschen.“202 Ein weiterer 200 Jung, Thomas: Vom Pop international zur Tristesse Royal (sic!). Die Popliteratur, der Kommerz und die postmoderne Beliebigkeit. In: Jung, Thomas: Alles nur Pop? Anmerkungen zur populären und Pop-­‐Literatur seit 1990. Frankfurt a. M., Berlin 2002. S. 40 201 Schumacher, Eckhart: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart. Frankfurt a. M. 2003. S. 40f 202 Frank, Dirk: Popliteratur. Arbeitstexte für den Unterricht. Stuttgart 2003. S. 22 77 Aspekt, der auch in Krachts Debütroman zu beobachten ist, ist derjenige des Zitierens, Sortierens, Auflistens und Protokollierens der alltäglichen Welt und ihrer Symbole. In dieser Kunst an der Oberfläche und deren Archivieren sehen einige, wie beispielsweise Moritz Baßler, den Verdienst der Popliteratur und das Entstehen eines neuen kulturellen Archives, das die Kultur an sich um die Gesellschaft herum entstehen lässt.203 In dieser Hinsicht ist auch Krachts Werk ein Meisterwerk des Archivierens, indem in exzessiver Art und Weise Marken genannt werden, die des Weiteren dazu dienen, die Personen in seinem Umfeld einer popkulturellen Kontrolle zu unterziehen und schließlich zu kategorisieren. Ferner scheint der Erzähler mit dem Leser zu sprechen, sodass der Schreibstil typische Merkmale von Mündlichkeit aufweist. So vertraut er dem impliziten Leser im Plauderton beispielsweise intime Geheimnisse an, vermittelt ihm seine persönlichen Urteile zu seinen Freunden, gibt Gefühle, Empfindungen und Unsicherheiten preis und begründet oder erklärt auch, warum er beim Erzählen vom Thema abweicht. Auch teilt er dem unsichtbaren Leser seine persönlichen Erkenntnisse mit und denkt über eine mögliche Reaktion dieses Lesers nach. So enthält er diesem aber trotzdem bestimmte Informationen vor und beteuert jedoch beständig, dass er die Wahrheit spreche. Es werden weitere Mittel wie beispielsweise Füllpartikel, Inversionen, Wiederholungen, Einschübe usw. benutzt, um die gesprochene Sprache zu verdeutlichen. Auch wird die Unmittelbarkeit des Geschehens durch den Einsatz der Zeitform Präsens hervorgerufen. Nach Möckel geht die hier genannte zeitliche Nähe Hand in Hand mit dem oben genannten „Gestus der Vertraulichkeit und Intimität“.204 Nicht zuletzt lassen sich durch die Sprache des Erzählers natürlich auch Feststellungen in Bezug auf seine Persönlichkeit machen, wie bei Möckel folgendermaßen verdeutlicht wird: So verwendet der Protagonist beispielsweise eine Vielzahl an Adjektiven, was darauf hinweist, dass ihm die „Genauigkeit der Darstellung“ am Herzen liegt, besonders in Bezug auf äußerliche oder bewertende Angaben. Auch die genaue Angabe der Farben verstärkt den Erzähler in seinem Blick für die modischen 203 Baßler, Moritz: Der deutsche Pop-­‐Roman. S. 22; und vergleiche: Bessing, Joachim: Tristesse Royale. S. 31 204 Möckel, Margret: Interpretation zu Christian Kracht – Faserland. S. 48ff 78 Details, das Aussehen und die Farbnuancen. Seine zeitweise „aggressive Wortwahl“ verdeutlicht den emotionalen Zustand, in dem er sich des Öfteren befindet. Des Weiteren sind in dieser Hinsicht auch die Sinneswahrnehmungen des Protagonisten und besonders die olfaktorischen zu nennen, die häufig mit Erinnerungen oder Farben verbunden sind. 205 Es steht also fest, dass der Autor auch in seiner Sprache der poptypischen Opulenz gerecht wird und durch seine direkte und detaillierte Schreibart das junge Publikum direkt anzusprechen versucht. 205 Vgl. Möckel, Margret: Interpretation zu Christian Kracht – Faserland. S. 56 79 1.2. Identitätssuche und -­‐findung im Roman 1.2.1. Der aktuelle Lebensentwurf des Protagonisten: Eine Charakterisierung 1.2.1.1. Der Protagonist und seine Familie In Krachts Debütroman bleibt der von Norden nach Süden reisende Ich-­‐Erzähler namenlos. Demnach wurde ihm der eigene Name verwehrt oder gestohlen, ihm fehlt also bereits „das formale Minimum für Identitätszuweisung“206. Ebenso wenig erhält der Leser Informationen zum Alter oder zum Aussehen des Protagonisten. Aus seinen Erzählungen kann man allerdings herauslesen, dass er ein junger Erwachsener ist, der die Schule verlassen hat und eigentlich den Einstieg ins Berufsleben geschafft haben müsste, was jedoch bei Krachts Hauptfigur nicht der Fall ist. Über sein Aussehen ist lediglich bekannt, dass er großen Wert auf sein modisches Erscheinungsbild legt.207 Zu Beginn des Romans erscheint der Ich-­‐Erzähler als junger Erwachsener, dessen genaues Alter nicht erwähnt wird und der aus wohlhabenden Verhältnissen stammt. Über die familiäre Situation und die Kindheit des Protagonisten wird Bruchstückhaftes mitgeteilt. Seine Mutter wird nur einmal ganz kurz am Rande des Textes erwähnt, als er Rotwein verschüttet.208 Sein Vater wird ebenfalls nur kurz in den Text eingeführt, zum einen anlässlich eines Aufenthaltes auf Madeira und zum anderen im Zusammenhang mit einer Fahrt in die Schweiz, bei der der Protagonist sieben Jahre alt ist.209 Bemerkenswert ist hier, dass er bereits von Kindesbeinen das Reisen gewohnt war, da er seinen Vater bei Geschäftsreisen begleitete, was sich dann auch in seinem späteren eigenen Erwachsenenleben fortsetzt. Geschwister scheint er nicht zu haben. Die Familie spielt im Allgemeinen keine vorrangige Rolle im Leben des Protagonisten und bietet ihm also weder Stabilität noch Rückhalt. In seiner Kindheit wurde er oft von seinen Eltern sich selbst überlassen. Aus diesem 206 Krätzer, Jürgen: Kommentar. In: Treichel, Hans-­‐Ulrich: Der Verlorene. Mit einem Kommentar von Jürgen Krätzer. Erste Auflage Frankfurt am Main 2005. S. 137-­‐172. In: Virag, Attila: Ich-­‐Konzepte in deutschen Romanen aus den letzten Jahrzehnten. Dargestellt am Beispiel folgender Romane: Christian Kracht: Faserland, Juli Zeh: Adler und Engel, Hans-­‐Ulrich Treichel: Der Verlorene. Saarbrücken 2009. S. 30 207 Vgl. Kapitel 2.2.4. Psychoanalytische Identitätskonzepte 208 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 25 209 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 151 80 Grund ist es nicht verwunderlich, dass ihm die Bindung zu seiner Familie fehlt, besonders da er nie elterliche Fürsorge und Wärme erfahren zu haben scheint. Dies zeigt sich beispielsweise, als sich der Protagonist an ein gemeinsames Weihnachtsfest erinnert.210 Nur an die Haushälterin Bina denkt er mit einer gewissen Wehmut, sodass er zu ihr wohl noch die engste Beziehung in seiner Kindheit pflegte. Sie ist es dann auch, die ihm die Hemden bügelt211 oder sich um seinen Wagen kümmert212 – Tätigkeiten, die ihm dann doch sehr am Herzen liegen.213 Es bleibt also festzustellen, dass es bereits während der Kindheit des Protagonisten an den nötigen Strukturen mangelt, die ihn in die richtigen Bahnen gelenkt und so eine allmähliche Identitätsbildung ermöglicht hätten.214 1.2.1.2. Ausbildung und finanzielle Lage In seinen Rückblicken in die Vergangenheit kommen häufiger die Jugenderlebnisse im Elite-­‐Internat Salem vor, so zum Beispiel, als er sich an ein gewisses Lied erinnert, das er zu diesen Zeiten gehört hat.215 Auch stellen Karin und Alexander, mit denen er gemeinsam die Schule besuchte beziehungsweise das Zimmer teilte, immer noch eine Verbindung zu dieser Zeit in Salem dar. Jedoch musste der Ich-­‐Erzähler das Internat, womöglich aufgrund seines Alkoholkonsums, verlassen und hat somit wahrscheinlich das Abitur nicht geschafft.216 Wie man hier erkennen kann, konnte der Protagonist also die Krisen der Pubertät nicht erfolgreich überwinden, was nach Erikson ein wichtiger Schritt auf dem Weg der Identitätsfindung217 und ein möglicher Grund für den jetzigen Zustand des Ich-­‐Erzählers ist.218 Aufgrund des Besuches eines humanistischen Gymnasiums verfügt er über ein breites Bildungswissen in den Bereichen Musik, Film und Literatur, das jedoch teilweise bruchstückhaft, 210 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 129f 211 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 92 212 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 24 213 Vgl. Möckel, Margret: Interpretation zu Christian Kracht – Faserland. S. 31 214 Vgl. 2.2.4. Psychoanalytische Identitätskonzepte 215 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. ?? 216 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 108 217 Vgl. Kapitel 2.2.4. Psychoanalytische Identitätskonzepte 218 Vgl. 2.2.4. Psychoanalytische Identitätskonzepte
81 unreflektiert oder nicht ganz richtig ist. Die Oberflächlichkeit und der Mangel an Wissen lassen sich beispielsweise erkennen, als er felsenfest behauptet, Walther von der Vogelweide und Bernhard von Clairvaux seien mittelalterliche Maler gewesen.219 Da der Erzähler wohl von Haus aus über gewisse finanzielle Mittel verfügt, muss er sich, wie viele seiner Bekannten, keine Gedanken über Geld machen. Obwohl er keiner Arbeit nachgeht, kann er so jederzeit seine Kreditkarte zücken und sich teure Markenkleidung kaufen, in Luxushotels absteigen, sich mit dem Taxi chauffieren lassen und Bahn und Flugzeug – ohne Rücksicht auf irgendwelche belanglosen Preise – benutzen. Unreflektiert erscheint dieses Verhalten stellenweise, als er beispielsweise seinen Triumph auf Sylt stehen lässt und Alexanders Barbourjacke oder Rollos Porsche einfach ausborgt.220 1.2.1.3. Umfeld, Freunde und Frauen: Die Beziehung zu seinen Freunden scheint, wie sich an dem eben genannten Verhalten erkennen lässt, eher oberflächlich und unreflektiert zu sein. Die Informationen zu den Freunden und Bekannten des Ich-­‐Erzählers werden allesamt aus seiner sehr subjektiven und teils widersprüchlichen Perspektive geschildert. Der Hamburger Nigel ist der erste „richtige“ Freund, auf den der Leser trifft. Der Protagonist erwähnt seine besonders schöne Wohnung, die mit Wertgegenständen ausgerüstet ist, jedoch stellenweise vernachlässigt wirkt. Obwohl die Bekanntschaft zwischen den beiden Figuren bereits lange zu währen scheint, weiß der Protagonist nicht wirklich, was sein Freund überhaupt beruflich macht.221 Bekannt ist ihm nur, dass er mit irgendwelchen Anlageberatern in der ganzen Welt telefoniert. Nigel, der in einer scheinbar guten finanziellen Lage ist, neigt zur Schmuddeligkeit, was sich beispielsweise im Sauberkeitszustand seiner Wohnung und seinem Kleidungsstil ausdrückt. Diesen empfindet er selbst als provokativ, wie er dem Protagonisten erklärt hat. Aus demselben Grund neigt Nigel dann auch zum Drogenkonsum und besucht gerne 219 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 67 220 Vgl. Möckel, Margret: Interpretation zu Christian Kracht – Faserland. S. 31f 221 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 29 82 Partys in schmuddeligen Bars. Dem Ich-­‐Erzähler gefällt dieser Pseudo-­‐
Idealismus seines Freundes anfangs, er schätzt ihn beispielsweise als einen der am wenigsten eingebildeten Menschen ein und lässt sich seinetwegen dann auch auf verschiedene Aktivitäten ein, die eigentlich nicht in sein Konzept passen. Relativ schnell verliert die Freundschaft für den Ich-­‐Erzähler an Wert, besonders da er seinen Freund nun als asozialen, kommunikationsunfähigen Menschen empfindet, nachdem er ihn auf einer Party erlebt hat.222 Der Protagonist entscheidet sich schließlich, die Freundschaft mit Nigel aufzugeben, nachdem er ihn beim Gruppensex überrascht hat – eine äußerst schockierende und für ihn absolut unverständliche Situation. Später begegnet er Nigel noch einmal in Heidelberg auf einer Party, wo er entdecken muss, dass sein ehemaliger Freund zu härteren Drogen greift, was ihn dann emotional sehr mitnimmt.223 Nachdem er sich von Nigel verabschiedet hat, reist der Protagonist nach Frankfurt, wo sein alter Freund Alexander lebt, mit dem er seine Schulzeit in Salem verbracht hat. Ihn bewundert der Ich-­‐Erzähler für seine Wirkung auf Frauen und vor allem dafür, dass er sich durch nichts kränken lässt – eine Eigenschaft, die sich der Erzähler auch für sich selbst wünscht. Genauso wie der Protagonist entstammt Alexander einer vermögenden Familie und hat ebenso einen Hang zu „destruktiven Einstellungen“, zu hohem Alkoholkonsum und zu teurer Kleidung. 224 Aufgrund dieser gemeinsamen Basis und der zusammen verbrachten Zeit in Salem hegte der Ich-­‐Erzähler in vergangenen Zeiten eine intensive Beziehung zu Alexander, was beispielsweise dadurch deutlich wird, dass der Protagonist sich immer noch an die Inhalte der Briefe und Fotos erinnert, die Alexander ihm von seinen Reisen durch die ganze Welt schickte. Der Ich-­‐Erzähler erklärt schließlich, dass ein Streit Grund für den Kontaktabbruch gewesen sei, doch besonders an seiner intensiven körperlichen Reaktion kann man erkennen, dass hier noch stärkere emotionale Gründe unter der Oberfläche schwelen.225 Auch in diesem Fall ändert der Protagonist seine anfangs positive Meinung relativ schnell, wobei Alexanders Beziehung zu Varna der Grund für den erneuten Abschied zu sein scheint. Abschließend entwendet der Ich-­‐
222 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 39ff 223 Vgl. Möckel, Margret: Interpretation zu Christian Kracht – Faserland. S. 36f 224 Vgl. Möckel, Margret: Interpretation zu Christian Kracht – Faserland. S. 38 225 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 80f 83 Erzähler als Erinnerung noch Alexanders Barbourjacke und trägt sie schließlich selbst – ein Hinweis darauf, dass er immer noch an seinem Freund hängt und versucht, durch das Tragen des identitätsstiftenden Gegenstandes dessen Rolle oder Wirkungsweise teilweise zu übernehmen.226 Als letzter, alter Freund begegnet dem Leser Rollo, der aus einer besonders gut situierten Familie stammt und auch zu diesem Zeitpunkt noch über riesige finanzielle Mittel verfügt. Genau wie der Ich-­‐Erzähler war Rollo schon früh sich selbst überlassen, da der Vater ständig als Kunstmäzen in Indien unterwegs war und die Mutter ihren Hang zum Drogenkonsum auslebte. Er verbrachte also bereits als Jugendlicher viel Zeit allein und bildete genau wie seine Mutter seine Vorliebe zum Rauchen und zum Drogenkonsum aus. Hinzu kommt, dass Rollo zu Selbstaggressionen tendiert. So verbrennt er beispielsweise sich selbst mit Zigarettenstummeln und weist psychosomatische Symptome wie das beständige Lidflattern auf. All diese Aspekte lassen auf eine „emotionale Instabilität“227 schließen, die der Protagonist allerdings nicht wahrhaben will. Nicht verwunderlich ist es dann auch, dass Rollo sich beständig mit Beruhigungsmitteln, wie beispielsweise Valium, zu betäuben versucht, Halt und Unterstützung sucht und sich jedoch zeitgleich mit Menschen abgibt, die sich nicht wirklich für seine Person zu interessieren scheinen, denn seine Freunde versuchen nicht, Rollo zu helfen, indem sie ihn unterstützen und mit ihm über seine Probleme sprechen.228 Die gleiche Oberflächlichkeit zeichnet dann auch die Freundschaft zwischen Rollo und dem Ich-­‐Erzähler aus. Dies erkennt man wieder an den widersprüchlichen Aussagen über seinen Freund. Weiterhin hat Rollo ihm aus einer prekären Lage auf einer Party in Heidelberg herausgeholfen und sich des Protagonisten angenommen.229 Auch dieses Thema wird weder angesprochen, noch bedankt sich der Protagonist, da er sich schämt und der Überzeugung ist, sein Freund interessiere sich nicht für seine Person und seine Probleme. So ist der Ich-­‐Erzähler seinerseits auch unfähig, Rollo in seiner Notlage am Bootssteg zu unterstützen, und lässt in unter einem fadenscheinigen 226 Vgl. Möckel, Margret: Interpretation zu Christian Kracht – Faserland. S. 38 227 Möckel, Margret: Interpretation zu Christian Kracht – Faserland. S. 39 228 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 144 229 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 106f 84 Vorwand alleine am See zurück, wo Rollo dann anschließend wahrscheinlich selbst verschuldet und mit Absicht ertrinkt (S. 145).230 Neben diesen drei alten Freunden tauchen noch verschiedene Frauen auf, die dem Ich-­‐Erzähler bekannt sind oder für die er sich interessiert. Zu Beginn trifft er Karin auf Sylt, mit der er seine Schulzeit in Salem verbracht hat und die er gegen Ende seines Aufenthaltes sogar küsst. Zwischen ihnen scheint sich trotz der alten und intimen Bekanntschaft stets eine unsichtbare Wand zu befinden, die beide nicht überwinden können. Karin wendet sich schließlich von ihm ab.231 Anne begegnet der Protagonist bereits auf Sylt, nachdem er bereits in einer Disko mit ihr zu flirten versucht hatte.232 Auf Sylt erkennt sie ihn auch, wie viele seiner Bekannten, nicht wieder und auf einer Party in Hamburg ignoriert sie ihn dann.233 Sergio ist der Begleiter von Anne am Nacktbadestrand von Sylt. Wegen seines Äußeren und seines Kleidungsstils verabscheut ihn der Protagonist aufs Tiefste.234 Bei einer zweiten Begegnung, als er plötzlich als Partner von Karin auftritt, gefällt er dem Protagonisten bereits besser, und er ist ihm nicht mehr ganz so feindselig gegenüber gesinnt.235 Auch Hannah, eine wahre Schönheit, die er genau wie Anne bereits im P1 kennengelernt hatte, erkennt ihn später nicht mehr. Allerdings beobachtet er sie nur aus der Distanz und versucht nicht, mit ihr in Kontakt zu treten.236 Varna, Alexanders Freundin, erscheint dagegen nur in den Gedanken des Protagonisten. Sie stammt offenbar aus Ostdeutschland, geht häufig aus, meistens auf Vernissagen, und kennt somit auch sehr viele Menschen. Der Ich-­‐
Erzähler bezeichnet sie nur als dumm und billig und ignoriert sie absichtlich.237 230 Möckel, Margret: Interpretation zu Christian Kracht – Faserland. S. 39f. 231 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 23 232 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 18 233 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 39 234 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 18f 235 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 140f 236 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 115 237 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 71ff 85 Nadja trifft der Ich-­‐Erzähler auf einer Party, wo er eine gewisse Sympathie aufbaut und stellenweise sogar erotische Gefühle für sie entwickelt.238 Später trifft er sie erneut auf einer Party in Heidelberg, wo er sie zusammen mit Nigel beim Heroin-­‐Konsum beobachtet.239 Dieses Erlebnis irritiert den Protagonisten zutiefst. Auch die Begegnung mit Eugen stürzt den Ich-­‐Erzähler in tiefe Irritationen. Eugen ist ein Student, den er in der Marx-­‐Bar in Heidelberg trifft und der dem Protagonisten anfangs, nicht zuletzt aufgrund seines Äußeren, sympathisch erscheint. Obwohl er ihn für einen Fasler hält240, scheint er ihn nett zu finden, bevor Eugen sich ihm jedoch auf einer Party homosexuell nähert241.242 In Krachts Roman finden sich neben den fiktiven Figuren auch eine ganze Reihe an real existierenden Personen, wie beispielsweise Jürgen Fischer, der ehemalige Chefredakteur der Zeitschrift Tempo243, Matthias Horx, der Trendforscher244, oder Maxim Biller, der Schriftsteller245. Nach Möckel soll durch den Auftritt dieser Personen eine „Illusion von Realität“ erzeugt und zugleich das Milieu charakterisiert werden, in dem sich der Protagonist bewegt. Dabei ist allen Figuren gemein, dass sie sich keine finanziellen Sorgen machen müssen, sie in regelmäßigen Abständen Drogen aller Art konsumieren, sie keine persönlichen Gespräche führen können, sie sich meist an angesagten Orten oder auf hippen Partys befinden und sich so in ganz Deutschland überwiegend auf Vernissagen, in Kneipen oder auf Partys begegnen.246 All diesen Bekanntschaften und Freundschaften zeichnen sich durch Oberflächlichkeit aus. Für den Protagonisten erscheinen diese Personen zeitweise aktuelle zu sein, bis sie nicht mehr passend sind und dann schließlich abgelegt werden. Hier lässt sich also erkennen, dass er nicht fähig ist, tiefe Bindungen zu anderen Menschen aufzubauen, und sich demnach eher ein 238 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 100 239 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 105 240 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 95 241 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 102f 242 Vgl. Möckel, Margret: Interpretation zu Christian Kracht – Faserland. S. 40f und Schallmayer, Peter: Christian Kracht – Faserland. Einfach Deutsch Unterrichtsmodell. Braunschweig, Paderborn, Darmstadt 2011. S. 10f 243 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 39f 244 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 83f 245 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 113 246 Vgl. Möckel, Margret: Interpretation zu Christian Kracht – Faserland. S. 41 86 gewisses Netzwerk an Personen zurechtlegt, die er bei Bedarf aufsucht und schließlich, wenn sie unpassend geworden sind, wieder abstreift.247 1.2.1.4. Körper und Geist Wie viele seiner Bekannten ist Krachts Protagonist wenig an seiner eigenen Gesundheit interessiert, was man daran erkennen kann, dass er starker Raucher ist, ständig Alkohol zu sich nimmt und gelegentlich auch stärkere Drogen wie Ecstasy konsumiert, obwohl er diesen an und für sich ablehnend gegenübersteht: „Trotzdem, langsam werde ich betrunken, und als Nigel aus seinem Tütchen eine Pille nimmt und sie mir in die Hand drückt, denke ich: Na ja, ich kann das ja mal versuchen. Ich weiß auch nicht, warum ich das mache, denn im Grunde finde ich Drogen absolut widerlich, aber ich stecke mir das Ding in den Mund, sieht ja aus wie eine Spalt-­Tablette, und spüle es mit einem großen Schluck Prosecco aus der Flasche runter, obwohl das sonst so gar nicht meine Art ist, aus der Flasche zu trinken, meine ich.“248 So vergisst er dann auch, betäubt von Alkohol oder Drogen, des Öfteren das Essen, sodass sich der Rauschzustand noch verstärkt, jedoch in keiner Weise zu einem anderen Verhalten des Protagonisten führt249: „[...] und dann fällt mir ein, daß ich außer diesen Pfirsich-­Joghurts am Hamburger Flughafen seit Sylt nichts mehr gegessen habe. Ich habe aber auch überhaupt keinen Hunger, wirklich wahr. Deswegen werde ich aber so schnell betrunken, weil natürlich der Magen vollkommen leer ist. Egal. Jetzt trinke ich einfach weiter. Ich kenne das schon. Da muß man durch. Ab und zu eine Zigarette rauchen, dann geht das schon in Ordnung.“250 All diese körperlichen Erfahrungen lösen dabei kein angenehmes, positives Gefühl in dem Ich-­‐Erzähler aus: „Er isst, obwohl ihm schlecht ist (vgl. S. 13), raucht, obwohl es ihm nicht schmeckt (vgl. S. 37f), nimmt Pillen, obwohl er Drogen widerlich findet (vgl. S. 41f).“251 So ist es dann auch nicht verwunderlich, dass sich Krachts Protagonist in einer sehr schlechten körperlichen Verfassung befindet: „Nigel schließt jedenfalls, während mir das alles so durch den Kopf 247 Vgl. 2.2.4. Psychoanalytische Identitätskonzepte 248 Kracht, Christian: Faserland. S. 41f 249 Vgl. Möckel, Margret: Interpretation zu Christian Kracht – Faserland. S. 32 250 Kracht, Christian: Faserland. S. 94f 251 Möckel, Margret: Interpretation zu Christian Kracht – Faserland. S. 32 87 schießt und ich rot werde, wie jedes Mal, wenn ich darüber nachdenke, seine Wohnung auf und geht vor und stellt meinen Koffer in den Flur, und ich bin ganz außer Atem, also setze ich mich erst mal auf den Koffer und zünde mir eine Zigarette an.“ 252 Widersprüchlich ist das Verhalten des Ich-­‐Erzählers weiterhin auch in Bezug auf sein Fühlen und Urteilen, was man auch in anderen Situationen erkennen kann. Beispielsweise ist sein Geruchssinn sehr empfindlich, obwohl er seine Sinne beständig betäubt. So empfindet er die Gerüche von Menschen und Dingen sehr genau, was ihm stellenweise dann auch bei der Orientierung seiner selbst und der Einordnung in sein Umfeld hilft.253 So speichert er verschiedenste Gerüche unter positiven oder negativen Erfahrungen, bestimmten Ereignissen und Erlebnissen ab. Ähnlich verfährt er dann auch mit Geräuschen und optischen Eindrücken, was dazu führt, dass seine Wahrnehmung so selektiv erscheint.254 Diese Art und Weise der Auffassung breitet sich allerdings auch auf die eigene Person aus. So ist der Protagonist zum einen besonders modeorientiert und legt großen Wert auf die richtige Kleidung. Zum anderen kann er sich dann aber selbst nicht im Spiegel betrachten.255 Hier lässt sich also erkennen, dass er eine gewisse Fremdheit gegenüber sich selbst empfindet, was dann auch mit dem andauernden Gefühl der Leere zusammenhängt.256 Mode spielt bei Krachts Protagonist im Allgemeinen eine große Rolle und nimmt einen besonderen Stellenwert ein. Auch selektiert der Ich-­‐Erzähler die Menschen in seinem Umfeld nach ihrem Kleidungsstil. So stört ihn beispielsweise die schäbige Kleidung seines Freundes Nigel, sodass er plötzlich nicht mehr weiß, was ihn eigentlich mit diesem Menschen verbindet. Der Stellenwert der Kleidung für den Erzähler wird ferner dadurch verdeutlicht, dass bestimmte Kleidungsstücke oder Marken detailliert beschrieben werden oder das Umziehen für den Erzähler nahezu eine rituelle und stellenweise auch reinigende Bedeutung erhält: „Ich ziehe mich erst mal um. Da schöpfe ich merkwürdigerweise immer viel Kraft raus, aus dem 252 Kracht, Christian: Faserland. S. 33 253 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 57, S. 77, S. 130, S. 135 254 Vgl. Möckel, Margret: Interpretation zu Christian Kracht – Faserland. S. 32f 255 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 76, S. 128, S. 134 256 Vgl. 2.2.4. Psychoanalytische Identitätskonzepte 88 Umziehen.“ 257 Weiterhin wirkt seine Kleidung verstärkt wie eine Rüstung, durch die er sich vor der Außenwelt schützt und die es dann auch zu hegen und pflegen gilt. Es verwundert also nicht, dass er mit seinen Kleidungsstücken meistens sehr bedacht und sorgfältig umgeht – anders als mit sich selbst.258 Demnach zeigt sich hier also auch die Produkt-­‐ und Markenorientierung der Menschen in den 1990er Jahren, deren Interesse vor allem den oberflächlichen Produkten und der nach außen hin angenehmen Art und Weise des Lebens gilt und nicht dem eigenen inneren Wohlbefinden.259 1.2.1.5. Der Protagonist als Dandy und Flaneur Kracht lässt seinen Protagonisten stellenweise sogar als Dandy auftreten, was nicht zuletzt an dessen finanziellen Mitteln liegt. Demnach kann er so jemanden verkörpern, der gerne gesehen oder wahrgenommen werden möchte.260 Dies drückt sich vor allem in seinem Kleidungsstil aus, der sich auf elegante und teure Kleidung beschränkt. In diesem Zusammenhang vergleicht er sich dann auch beständig mit anderen, wie sich beispielsweise in folgender Situation erkennen lässt, als er seine eigenen Hemden mit denen Sergios vergleicht und seine eigene dezentere Kleidungsweise bevorzugt: „Der Unterschied zwischen Brooks-­
Brothers-­Hemden und Ralph-­Lauren-­Hemden ist natürlich der, dass Ralph Lauren viel teurer ist, viel schlechter in der Verarbeitung, im Grunde scheiße aussieht und man dann noch meistens so ein blödes Polo-­Emblem auf der linken Brust vor sich herumtragen muss.“261 Zudem kristallisiert sich die dem Dandytum zugehörige „blasierte Gleichgültigkeit“ besonders in der diffusen politischen Einstellung des Protagonisten heraus.262 Dies zeigt sich beispiellos an dem Begriff „SPD-­‐Nazi“, den er einem Fluggast zuwispert.263 Dem Dandytum eigen sind dann auch die wenig standfesten Gesellschaftsanalysen, die der Ich-­‐Erzähler gelegentlich von 257 Kracht, Christian: Faserland. S. 91 258 Vgl. Möckel, Margret: Interpretation zu Christian Kracht – Faserland. S. 33f 259 Vgl. Kapitel Die 90er Jahre 260 Vgl. Schallmayer, Peter: Christian Kracht – Faserland. S. 79 261 Kracht, Christian: Faserland. S. 92 262 Vgl. Schallmayer, Peter: Christian Kracht – Faserland. S. 79 263 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 53 89 sich gibt, beispielsweise in folgender Situation: „Gegenüber ist zwar noch ein Bräunungsstudio zu sehen, aber ich denke trotzdem, daß das Hotel ganz gut sein wird, obwohl aus dem Bräunungsstudio immer so Individualisten-­Männer herauskommen und auf ihre Motorräder steigen. Alle sind tätowiert, wie ja inzwischen fast jeder in Deutschland. Und alle sind schön knackig braun und tragen den Keim des Krebses schon in sich.“264 Hier zeigt sich also, wie bei Marcia dargelegt, der Mangel an Überzeugungen des Protagonisten, aber auch der Mangel an Besorgtheit darüber, der darauf hinweist, dass keine wirklich gefestigte Identität zu finden ist. Nach Schallmayer ist der hervorstechendste Charakterzug eines Dandys „die Lust an der Provokation“265. Auf diese Weise versucht der Ich-­‐Erzähler nach Aufmerksamkeit zu haschen und gleichzeitig seine Kommunikationsunfähigkeit zu verschleiern, was wiederum auf seinen Zustand der Orientierungslosigkeit verweist.266 Dies lässt sich besonders gut in folgenden Szenen beobachten: „Die Frau von der Lufthansa gibt mir meine Bordkarte und lächelt verschlafen, und dann guckt sie etwas erstaunt, weil ich mir eine Zigarette anzünde, da ich ihr doch gesagt hatte, ich möchte im Nichtraucher sitzen. Sie zieht eine Augenbraue hoch, und in dem Moment sieht sie sehr gut aus, fast schnippisch oder spöttisch. Ich ringe mir so ein verkrampftes Lächeln ab [...]“267 und „Jedenfalls laufe ich zu dem Rondell, diesem großen Korb mit den Ballistos und den Salamibrötchen, den die Lufthansa neben der Kaffeemaschine aufgestellt hat, weil die Stewardessen zu faul sind, während des Fluges irgend etwas aufzutischen, und hole mir vier Salamibrötchen und sechs Ballistos und zwei Joghurts von Ehrmann und stopfe sie mir in die Taschen meiner Barbourjacke. Plötzlich geht es mir besser.“268 Allerdings geht auch diese Aktion genau wie die oben geschilderte Situation schief: „[...] da merke ich, wie mein Hintern ganz feucht wird, so als ob ich mir in die Hose gemacht hätte. Ich taste sie langsam ab, langsam, damit die alte Frau nichts merkt, aber die liest weiter in ihrem Ernst-­Jünger-­Buch, und tatsächlich, mein ganzer Hosenboden ist naß und klebrig. Ich werde rot, merke aber im selben Moment, daß die Nässe von den Ehrmann-­Joghurts kommt, die mir 264 Kracht, Christian: Faserland. S. 86 265 Vgl. Schallmayer, Peter: Christian Kracht – Faserland. S. 80 266 Vgl. 2.2.4. Psychoanalytische Identitätskonzepte 267 Kracht, Christian: Faserland. S. 52 268 Kracht, Christian: Faserland. S. 52f 90 in der Tasche ausgelaufen sind. Das ist mir natürlich furchtbar peinlich, und mir wird ganz schummrig [...]“269 In dieser Reaktion zeigt sich dann die grundlegende Unsicherheit, die dem Protagonisten innewohnt und die sich vor allem in seinem Drang zum ständigen Rauchen bemerkbar macht.270 Der Protagonist wirkt hier eher wie ein Jugendlicher in der Phase des Moratoriums, der einen Streich gespielt hat und sich also in der Findungsphase der Rebellion befindet.271 Ein weiteres Merkmal, das ihn kennzeichnet, ihn aber auch Züge eines Flaneurs annehmen lässt, ist „der provokant zur Schau gestellte Müßiggang“272. Er selbst praktiziert diesen und spricht die Thematik wie in diesem Beispiel folgendermaßen an: „Es gibt einfach keinen vernünftigen Grund, in Dritt-­Welt-­
Länder zu fliegen, außer man geht einer Beschäftigung nach, die es eigentlich gar nicht mehr gibt: dem Müßiggang.“273 Der Flaneur an sich versucht, Dinge selbst wahrzunehmen, und dies beispielsweise beim Gang durch die Stadt und Bad in der Menge. Der Ich-­‐Erzähler in Krachts Roman dagegen nimmt die Tätigkeit allerdings nicht zu Fuß in Angriff, sondern mittels verschiedener Transportmittel. Dabei verspürt er jedoch vor allem Unwohlsein, keinen Genuss. Vor allem empfindet er aber, anders als der typische Flaneur, keinen sexuellen Reiz in diesen Menschenansammlungen. Er ist in diesem Punkt also nicht als klassischer Flaneur zu sehen: „Der Zug leert sich, und ich schiebe mich an den Menschen vorbei, die alle so einen komischen Reisegeruch haben, halb Schweiß und ungewaschen, halb Metall und Zigarettengeruch.“274 Als klassischer Flaneur ist der Protagonist allerdings in seiner Rolle des Beobachters, in diesem Fall eines Beobachters der Konsumgüter, zu sehen.275 Dies ist besonders am Beispiel der Barbourjacke zu erkennen, wenn der Ich-­‐Erzähler genau registriert, wer welche Jacke besitzt.276 Weiterhin ist er als Flaneur auch auf der Suche „nach Dingen, die seine Aufmerksamkeit noch zu fesseln und seine Identität zu vervollständigen 269 Kracht, Christian: Faserland. S. 59 270 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 125, S. 132 271 Vgl. 2.2.4. Psychoanalytische Identitätskonzepte 272 Vgl. Schallmayer, Peter: Christian Kracht – Faserland. S. 80 273 Kracht, Christian: Faserland. S. 133 274 Kracht, Christian: Faserland. S. 28 275 Vgl. Schallmayer, Peter: Christian Kracht – Faserland. S. 80 276 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 13, S. 29, S. 80 91 vermögen“.277 Auch hier ist wieder die Barbourjacke zu erwähnen, die ihn interessiert und die ihm eine gewisse Identität erlaubt: „So bestimmt sie sein Äußeres, auch indem ihre Taschen wichtige Utensilien beherbergen wie Haargel (vgl. S. 17), Hausschlüssel und Kreditkarte (vgl. S. 50) sowie Sonnenbrille (vgl. S. 60). Die Barbourjacke birgt aber auch nützliche Dinge für sein Inneres wie Lebensmittel (vgl. S. 53) und gibt ihm insgesamt Halt und Trost.“278 Taugt die geliebte Barbourjacke nach außen hin nichts mehr, so entledigt er sich ihrer kurzerhand durch reinigendes Entzünden und besorgt sich gleich darauf eine neue Hülle.279 Allerdings handelt es sich bei dieser um Alexanders Jacke, daher wirkt es beinahe so, als wolle der Ich-­‐Erzähler gleichzeitig in die Identität Alexanders schlüpfen, nachdem er seine alte, untaugliche Verkleidung entsorgt hat: „Ich denke gar nicht lange nach, sondern nehme die Barbourjacke von der Stuhllehne und ziehe sie an . Keiner sieht mir zu, ich merke aber, wie meine Ohren trotzdem rot und heiß werden. Ich klappe den braunen Cordkragen hoch, obwohl ich das normalerweise nie mache, und laufe aus dem Eckstein raus. Keiner kommt mir nach, keiner ruft mir hinterher. Die Barbourjacke ist schön warm, auch wenn kein Futter drinnen ist, und ich stecke die Hände in die Außentaschen und laufe auf dem Kopfsteinpflaster.“280 Mit dem Hochklappen des Kragens und dem Vergraben der Hände in den Taschen hat er sich seiner neuen Hülle angenommen und bereits sein Verhalten verändert. Er tut Dinge, die er bisher nicht getan hat, niemand scheint ihn mehr zu erkennen. Später reißt er noch Alexanders Aufnäher ab, bevor er schließlich nur noch von seiner Jacke spricht. Bereits hier zeichnet sich ab, dass sich der Protagonist seiner Identität keineswegs sicher ist. Er traut sich nach dem Diebstahl kaum mehr, sich selbst im Spiegel anzuschauen und verliert allmählich den Halt. Am Ende bleiben dem dandyhaften Flaneur weder Jacke noch Freunde, sondern nur Empfindungen wie Einsamkeit, Melancholie, Trauer, und er ist voll des Abschieds. Diese Gefühle wohnen dem Protagonisten in Krachts Roman allerdings bereits zu Beginn inne, als der Leser ihm zum ersten Mal begegnet: „Also es fängt damit an, daß ich bei Fisch-­Gosch in List auf Sylt stehe und ein Jever aus der Flasche 277 Vgl. Schallmayer, Peter: Christian Kracht – Faserland. S. 80 278 Vgl. Schallmayer, Peter: Christian Kracht – Faserland. S. 80 279 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 65f 280 Kracht, Christian: Faserland. S. 81 92 trinke.“281 Er sieht sich also bereits in dieser Situation der Einsamkeit und dem Alleinsein gegenüber, befindet sich auch hier bereits, vor Antritt seiner Reise, in einem „Zustand der Entfremdung zur Außenwelt“282. 1.2.2. Identität und Lebensentwurf in den 1990er Jahren 1.2.2.1. Der Protagonist als Suchender 1.2.2.1.1. Ausgangspunkt Krachts Protagonist in „Faserland“ scheint auf den ersten Blick ein gesellschaftsfähiger junger Mann zu sein, der reich und gut gekleidet ist und einiges über die Welt der Marken weiß. Er scheint ebenso viele Freunde und Bekannte zu haben, mit denen er beständig in Szenekneipen, auf hippen Vernissagen oder angesagten Partys zusammentrifft. Der Protagonist führt allerdings eine Scheinexistenz, die er sich selbst auferlegt hat, die sich jedoch durch andauernde Leere auszeichnet und schließlich zur Selbstaufgabe und zum Ausschluss aus der Gesellschaft führen muss, denn nach Erikson ist Identität nur möglich, wenn diese von der sozialen Umgebung anerkannt wird.283 Kracht erzählt hier nicht die Geschichte einer erfolgreichen Selbstsuche, sondern den allmählichen Ich-­‐Verlust und ein Entkommen aus einer Welt, die dem Protagonisten so gar nicht gefällt.284 In Krachts „Faserland“ bricht der Protagonist mit einem Gefühl der Sinnleere von der Insel Sylt auf, wie sich in der atmosphärischen Beschreibung am Ende des ersten Kapitels ablesen lässt: „ Ich schenke mir aus der Champagnerflasche nach, aber der Roederer perlt nicht mehr, und als ich einen Schluck davon trinke, schmeckt er schal und flach und abgestanden und nach Asche. Ich glaube, ich werde nicht mehr nach Sylt fahren.“285 281 Kracht, Christian: Faserland. S. 13 282 Kraus, Stefanie: Sinnsuche und Identitätsproblem in Christian Krachts Romanen „Faserland“ und „1979“ . Eine Analyse der Analogien und Differenzen zwischen den Romanen und ihren literarischen Vorlagen. Norderstedt 2003. S. 24 283 Vgl. 2.2.4. Psychoanalytische Identitätskonzepte 284 Vgl. Virag, Attila: Ich-­‐Konzepte in deutschen Romanen aus den letzten Jahrzehnten. S. 25 285 Kracht, Christian: Faserland. S. 23 93 Der Protagonist befindet sich bereits zu Beginn seiner Deutschlandreise in der Position eines gesellschaftlichen Außenseiters. Diese Entfremdung von der Gesellschaft ist dadurch zu erklären, dass er für sich selbst die Ablehnung der Gesellschaft und somit auch seines sozialen Umfeldes gewählt hat.286 Beispielsweise regt ihn die materialistische Oberflächlichkeit seiner „Freunde“ Karin, Anne und Sergio auf287.288 Seine Aggressivität richtet sich dabei nicht nur gegen seine Bekannten, sondern „gegen Taxifahrer, Werber und Sozial-­‐
demokraten, ebenso wie gegen Neureiche, Autonome und Betriebs-­‐
ratsvorsitzende“.289 Um sich gegen die von ihm verzerrt wahrgenommene und verhasste Gesellschaft zu schützen, versucht er, diese beständig auf eine aggressive, verbale Art und Weise zu demontieren oder sich zumindest durch seinen Kleidungsstil, beispielsweise durch seine Barbourjacke, abzugrenzen. Letztere dient ihm jedoch nicht nur zur Abgrenzung, sondern auch, wie bereits erwähnt, zur Wahrung seiner Individualität und Identität: „Karin studiert BWL in München. Das erzählt sie wenigstens. Genau kann man so was ja nicht wissen. Sie trägt auch eine Barbourjacke, allerdings eine blaue. Eben, als wir über Barbourjacken sprachen, hat sie gesagt, sie wolle sich keine grüne kaufen, weil die blauen schöner aussehen, wenn sie abgewetzt sind. Das glaube ich aber nicht. Meine grüne Barbourjacke gefällt mir besser. Abgewetzte Barbourjacken, das führt zu nichts.“290 Im Endeffekt bleibt hier jedoch festzustellen, dass der Protagonist, genau wie alle in dem von ihm abgelehnten Umfeld, diese Jacke trägt, mit der er sich eigentlich abgrenzen möchte. Demnach kann behauptet werden, dass der Protagonist nicht nur andere, sondern auch sich selbst verzerrt und widersprüchlich wahrnimmt, was wiederum zeigt, in welchem Zustand der Orientierungslosigkeit und Unsicherheit sich der Ich-­‐Erzähler befindet.291 286 Vgl. 2.2.4. Psychoanalytische Identitätskonzepte 287 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 14ff 288 Vgl. Kraus, Stefanie: Sinnsuche und Identitätsproblem in Christian Krachts Romanen „Faserland“ und „1979“. S. 25 289 Kraus, Stefanie: Sinnsuche und Identitätsproblem in Christian Krachts Romanen „Faserland“ und „1979“. S. 25 290 Kracht, Christian: Faserland. S. 13f 291 Vgl. 2.2.4. Psychoanalytische Identitätskonzepte 94 1.2.2.1.2. Städte, Freunde und Enttäuschungen Auf seiner gesamten Reise von Nord nach Süd bis zum Überqueren der Landesgrenze am Ende des Romanes befindet sich der Ich-­‐Erzähler „in einer Art Gegenwelt zur durchschnittlichen Gesellschaft“, die er ablehnt.292 So scheint es für den Protagonisten zu keinem Moment möglich, sich in die Welt des Mainstream zu integrieren, sodass seine Entwurzelung demnach selbst gewählt ist, wie man auch an folgender Textstelle erkennen kann: „Ich denke an die Hände der Geschäftsleute und an die der Betriebsräte, wie sie aufeinanderprallen beim Klatschen, die fetten Wursthände, die ganz rosa werden vom vielen Klatschen, und ich wünsche ihnen, mitsamt ihren Swatch-­Understatement-­Uhren, die sie auf dem Rückflug von Pattaya im Dutyfree in Bangkok gekauft haben, den Tod.“ 293 Der Ich-­‐Erzähler bewegt sich in Krachts Roman in einer Art Szene, die gegensätzlich zur Gesellschaft existiert. Demnach begegnet er auf seinen Reisen beständig dem gleichen Netzwerk an Personen, die gleichsam der Szene angehören. Es scheint also hier eine Gegenwelt entworfen zu werden, die parallel zu der Welt der normalen Außenwelt gezeichnet wird.294 Somit besucht der Protagonist dann auch verschiedene Städte, in denen Freunde und Bekannte leben. Die Aufenthalte in diesen Orten werden dann durch verschiedene Kneipenbesuche und Feiern geprägt und sind meistens mit Alkohol-­‐ und Drogenkonsum bis zum Rausch oder zur Ekstase verbunden. Zunächst erwartet der Ich-­‐Erzähler, dass sich in den jeweiligen Zielstädten seine damit verbundenen Hoffnungen erfüllen. Daher erstaunt es nicht, wenn er mit diesen Städten dann auch die Farbe Grün, Barbourgrün, assoziiert.295 Jedoch erfüllen sich die Hoffnungen auf Zugehörigkeit des Protagonisten an keinem dieser Orte, sodass sich anstelle der Hoffnung Gefühle wie Enttäuschung und Sinnentleertheit breitmachen und ihn zum erneuten Aufbruch zwingen.296 Diese Enttäuschungen führen dann auch bei Krachts Protagonisten zu körperlichen Zusammenbrüchen, welche die Folge der psychischen Resignation zu sein 292 Vgl. Kraus, Stefanie: Sinnsuche und Identitätsproblem in Christian Krachts Romanen „Faserland“ und „1979“. S. 33 293 Kracht, Christian: Faserland. S. 64 294 Vgl. Kraus, Stefanie: Sinnsuche und Identitätsproblem in Christian Krachts Romanen „Faserland“ und „1979“. S. 33 295 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 29, S. 85 296 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 23, S. 47, S. 81f, S. 107, S. 145f 95 scheinen und nur in Folge von unangenehmen, desillusionierenden Erlebnissen auftreten297.298 Die Nicht-­‐Zugehörigkeit wird also zum körperlichen Problem. 1.2.2.1.3. Kindheitserinnerungen und Zukunftsträume Der Protagonist lebt in einer für ihn nicht annehmbaren Gesellschaft, in die er sich auch zu keinem Moment integrieren kann. Für ihn bleibt, aufgrund seiner Entfremdung von der Außenwelt, nur die Flucht in seine Traumwelt, die sich in den Kindheitserinnerungen und Rückblenden, die sich durch den ganzen Roman ziehen, widerspiegeln. Diese Erinnerungen vermitteln ihm, anders als die Welt, in der er lebt, Geborgenheit und Wärme299. Der Rückzug in die längst vergangene Kindheit findet sich dann auch in seinem Verhältnis zur Sexualität wieder. Die Phase der sexuellen Wertfindung wurde offenbar nicht abgeschlossen, was eine wichtige Rolle für die Beziehungs(un-­‐)fähigkeit des Ich-­‐Erzählers spielt.300 Der Protagonist erscheint hier nicht als junger, teils erfahrener Mann, der sich für das andere Geschlecht interessiert, sondern als unsicherer, ängstlicher Jüngling, dem die Unschuld eines Kindes anhaftet.301 Diese naive, kindliche Einstellung zeigt sich beispielsweise, als er die goldenen Armhärchen auf Karins Haut betrachtet und dies mit einem Erlebnis aus seiner Kindheit verbindet: [...] und ich erinnere mich daran, wie ich einmal, als kleiner Junge, neben einem kleinen Mädchen auf einem Handtuch am Strand von Kampen gelegen habe, wir beide auf dem Bauch, und das kleine Mädchen war eingeschlafen, und ich habe ihr den weißen Sand über den Arm rieseln lassen und beobachtet, wie sich der feine Sand in ihren Armhärchen verfangen hat.“302 In diesem Zusammenhang interessiert sich der Ich-­‐Erzähler dann auch nur begrenzt für das Sexuelle, wie man an seinen 297 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 50f, S. 75, S. 105f 298 Vgl. Kraus, Stefanie: Sinnsuche und Identitätsproblem in Christian Krachts Romanen „Faserland“ und „1979“. S. 34f 299 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 16 300Vgl. 2.2.4. Psychoanalytische Identitätskonzepte 301 Vgl. Kraus, Stefanie: Sinnsuche und Identitätsproblem in Christian Krachts Romanen „Faserland“ und „1979“. S. 26 302 Kracht, Christian: Faserland. S. 22 96 unbeholfenen Flirtversuchen erkennen kann. Auch hier haftet ihm also das Naive, Kindliche an.303 Es lässt sich anhand der oben beschriebenen Beispiele erkennen, dass der Protagonist, wie bei Marcia beschrieben,304 in dem Spannungsverhältnis zwischen Kindheit und jungem Erwachsenenleben feststeckt.305 Er scheint also immer noch ein Adoleszenter zu sein, dem die kindliche Unschuld, die Orientierungslosigkeit, die ungefestigte Position in der Gesellschaft und die Unsicherheit hinsichtlich seiner zukünftigen sozialen Rolle anhaften. All diese Aspekte versucht der Protagonist durch übermäßiges Trinken und Rauchen zu überspielen oder zu betäuben, sodass er sich also seines eigenen Zustandes vollkommen bewusst ist, besonders da er diesen teilweise selbst gewählt hat. Allerdings kann er sich nicht selbst aus diesem befreien und versucht daher, dieses Gefühl der andauernden Leere zu betäuben. 1.2.2.1.4. Heimatlosigkeit und Flucht Zum Selbstentwurf seines eigenen Lebens gehört dann auch der Punkt, dass der Ich-­‐Erzähler, teilweise aufgrund seiner beständigen Reisen, keinen festen Rückzugsort besitzt und so das Hotelzimmer als eine Art Refugium oder Ersatzheimat umfunktioniert wird. Nur hier kann er sich von den anstrengenden Ausflügen in die für ihn unannehmbare Außenwelt erholen, besonders da sich hier das Personal um ihn kümmert, so wie es früher seine Haushälterin Bina tat. Zwangsweise kommt es dann in diesem Zusammenhang abermals zu Erinnerungen an seine Kindheit: „Ich steige aus der Wanne und trockne mich ab mit den schönen weichen Handtüchern des Hotels und versuche dabei nicht in den Spiegel zu sehen. Dann gehe ich ins Schlafzimmer, um mich anzuziehen. Während ich in der Wanne lag, hat irgend jemand das Bett aufgeschlagen, die Kotze vom Teppich weggewischt, das kaputte Telefon ausgewechselt und meine vollgekotzte Kleidung abgeholt. Das finde ich irgendwie wahnsinnig rührend und nett, und ich 303 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 79f, S. 100f, S. 115f 304 Vgl. 2.2.4. Psychoanalytische Identitätskonzepte 305 Vgl. Kraus, Stefanie: Sinnsuche und Identitätsproblem in Christian Krachts Romanen „Faserland“ und „1979“. S. 27 97 setze mich nackt auf die Bettkante, und plötzlich muß ich daran denken, wie ich als Kind auf Sylt mal bei Hansens in Kampen eingeladen war.“306 Allerdings sorgen die verschiedenen Ausflüge, die er in die Außenwelt unternimmt, dafür, dass er auf seiner Reise in Bewegung bleibt. Dabei ist er weniger ein aktiver Gestalter, sondern tritt eher als Flüchtender in Erscheinung. So reagiert der Protagonist mit Flucht auf die verschiedenen, wenig angenehmen Erfahrungen, die er während seiner Reise macht. Als Beispiele wären hier die Gruppensexszene mit Nigel307 oder die Begegnung mit Heroinabhängigen zu nennen308.309 Der Protagonist wandelt sich auch nicht durch die neuen Erfahrungen, wie in Sennetts Konzept angenommen wird, sondern kann mit diesen überhaupt nicht umgehen. Demnach kann sich der Ich-­‐Erzähler nur schwerlich eine Bastelexistenz, eine Collage an Erfahrungen oder Teilidentitäten aufbauen, wenn er vor diesen zurückschreckt und die Flucht ergreift.310 Es kommt mithin zu keiner Aufarbeitung oder Verarbeitung der Erfahrung, sondern lediglich zur Verdrängung, was nichts zur Identitätsbildung beiträgt und wiederum ein Hinweis dafür ist, dass der Protagonist sich im Zustand der Identitätsdiffusion befindet. Ein weiterer Aspekt, der das Leben und auch seine Reise prägt, ist die Unfähigkeit zu kommunizieren. Obwohl er selbst nur wenig Initiative ergreift, um mit der Außenwelt in Kontakt zu treten, scheint er für das Scheitern der Kommunikation allerdings bedingt selbst verantwortlich zu sein, wenn er beispielsweise nicht erkannt, nicht ernst genommen, ausgeschlossen oder ignoriert wird. Sogar seine angeblichen Freunde erkennen ihn zeitweise nicht wieder: „Das Beste kommt jetzt aber noch: Er sieht mich nicht. Er sieht mich überhaupt nicht, das muß man sich mal vorstellen. Er geht einfach an mir vorbei, obwohl ich direkt an der Bar auf dem blöden Barhocker sitze und ihn anstarre. Alexander geht durch das Eckstein, und ich verfolge ihn mit meinem Blick. Vielleicht sieht er es ja, denke ich, vielleicht sieht er es, wenn ich ihn ansehe. Vielleicht habe ich mich so verändert, daß er mich nicht erkennt, vielleicht liegt es 306 Kracht, Christian: Faserland. S. 76 307 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 49ff 308 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 104f 309 Vgl. Kraus, Stefanie: Sinnsuche und Identitätsproblem in Christian Krachts Romanen „Faserland“ und „1979“. S. 27 310 Vgl. 2.2.4. Psychoanalytische Identitätskonzepte 98 daran. Aber er dreht sich nicht um, wirklich nicht.“311 An der Art und Weise, wie der Protagonist dieses Erlebnis schildert, lassen sich die Bestürzung und die Enttäuschung, teilweise auch die Wut erkennen, die dem Protagonisten in diesem Moment inne ist. Jedoch versucht er gleichzeitig Erklärungen für den Mangel an Beachtung in Bezug auf seinen Freund Alexander zu finden und diesen mit Blicken auf sich aufmerksam zu machen. Konträr zu der hier nachvollziehbaren Reaktion, den Freund an seinem Tisch zu begrüßen, verlässt der Ich-­‐Erzähler das Lokal, nicht ohne vorher die Barbourjacke seines Freundes Alexander zu entwenden. So greift er gewissermaßen nach dessen Identität und liefert ein anschauliches Beispiel für die selbst bedingte scheiternde Kommunikation mit der Außenwelt. In schwierigen Situationen, in denen die Verständigung misslingt, ergreift er die Flucht. Da es immer wieder zu solchen Situationen kommt, findet sich hier ein Grund für die Heimatlosigkeit des Ich-­‐
Erzählers. 1.2.2.1.5. Zwischenmenschliches Weiterhin lässt sich durch das oben Erwähnte am Rande erahnen, dass sich der Protagonist doch insgeheim wünscht, in die Gesellschaft aufgenommen zu werden, doch er kann offensichtlich keine tieferen Kontakte zur Außenwelt aufnehmen. So zeichnet sich auch seine Reise durch die verschiedenen Abschiede von seinen drei engsten Freunden Nigel, Alexander und Rollo aus. Es scheint so, als könne sich der Protagonist immer weniger mit seinem Umfeld identifizieren oder gar Verständnis für seine Bekannten aufbringen. Auf ihn wirkt alles fremd und in keiner Weise nachvollziehbar. In einer ersten Stufe ist ihm Nigel aufgrund seiner sexuellen Interessen zuwider: „Das Ganze ist irgendwie so unglaublich, ich meine, ich bin richtig vor den Kopf geschlagen. Das kann doch gar nicht wahr sein. Nigel macht da tatsächlich mit irgendwelchen Leuten herum, und er ist so breit, daß er gar nicht merkt, daß ich zur Tür hereingekommen bin. Er grunzt nur ab und zu, und schleckt dann weiter zwischen den Beinen von diesem schwarzen Model herum. Die Frau sieht mich immer noch 311 Kracht, Christian: Faserland. S. 80f 99 an und lächelt und ich fahre mir durch die Haare und krame wie verrückt in meiner Tasche nach einer Zigarette [...]“312 Weiterhin beobachtet der Protagonist die ganze Szenerie noch für einige Augenblicke detailliert und ist vor allem vor den Kopf gestoßen, als er bemerkt, dass sich sein Freund Nigel von einem befremdlich aussehenden Mann, dem „Stüssy-­Menschen“, manuell befriedigen lässt. Seine Reaktion darauf ist dann der Abschied: „Ohne irgend etwas zu sagen, ziehe ich die Tür hinter mir zu und nehme mir den Koffer, krame in der Tasche meiner Barbourjacke nach Nigels Hausschlüssel und lege ihn in die Messingschale auf dem kleinen Tischchen neben dem Kleiderständer. Dann gehe ich zur Tür hinaus, hinunter auf die Straße und zünde mir eine Zigarette an.“313 Grund für das Unverständnis des Ich-­‐Erzählers ist vermutlich, dass er selbst nicht zu sich steht und solche Körperlichkeit ein Unwohlsein in ihm auslöst. Auch von Alexander verabschiedet er sich nach seinem Besuch in Frankfurt, obwohl es zwischen ihm und seinem Jugendfreund schon seit Längerem kriselt und die beiden sich immer weiter auseinandergelebt haben. Dies lässt sich beispielsweise erkennen, als der Ich-­‐Erzähler im Flugzeug über einen Streit mit Alexander nachdenkt, den er anlässlich einer Diskussion mit einem anderen Bekannten hatte: „Mit dem habe ich mich nachher, als wir die Paris-­Bar verlassen haben und auf der Straße standen, richtig gestritten, weil der meinte, daß man so Typen wie Wenders überhaupt nichts fragen sollte, nicht mal auf die eingehen sollte man, am besten völlig ignorieren, weil solche wie Wim Wenders eh nur große Arschsäcke seien. Ich hab damals gesagt, nein, man müsse die doch was fragen dürfen, besonders weil die ja die Möglichkeit hätten, viele Menschen mit ihren Filmen zu erreichen. Da hat Alexander gesagt, ich wäre ein blöder Hippie, der glaubt, er könne Sachen verändern durch Diskussionen. Da hab ich gesagt, er solle das Maul halten, und dann haben wir uns gestritten, und dann sind wir zum Bahnhof Zoo gegangen, Junkies gucken, aber es war irgendwie nicht mehr so wie früher. Irgendwas war kaputtgegangen durch diesen Streit. Vielleicht war es gar nicht das genau, aber ich kann mich nicht mehr erinnern, warum wir uns dann nicht mehr gesehen haben.“314 In Frankfurt angekommen, schwirren eine Unmenge an Erinnerungen 312 Kracht, Christian: Faserland. S. 49f 313 Kracht, Christian: Faserland. S. 50 314 Kracht, Christian: Faserland. S. 61f 100 an die Zeit mit Alexander in dem Kopf des Protagonisten herum, sodass er dann in seinem Hotelzimmer aus Versehen Alexanders Telefonnummer wählt, jedoch nicht fähig ist, mit ihm zu kommunizieren. Später, als er Alexander in einer Frankfurter Kneipe sieht, kann er abermals keinen Kontakt zu seinem Jugendfreund aufnehmen, ergreift also wieder die Flucht und beendet die Freundschaft mit Alexander, indem er dessen Barbourjacke von der Stuhllehne zieht und diese mitgehen lässt.315 Am Ende des Romans bricht er dann auch mit seinem besten Freund, da sogar dieser ihm unverständlich und fremd erscheint. Er lässt ihn schließlich allein am See zurück, obwohl Rollo in seinem todtraurigen und nicht zurechnungsfähigen Zustand die Hilfe seines Freundes dringend benötigen könnte: „Er murmelt irgend etwas. Ich verstehe nicht, was er sagt. Ich denke, er sagt irgend etwas von Schlaftabletten, damit das Zittern aufhört, damit er nachts wieder schlafen kann. Ich weiß nicht, ob ich ihn richtig verstanden habe, aber ich sage ihm, daß durch die Tabletten das Zittern doch noch schlimmer werden würde, da könne er mir glauben, wirklich. Mehr sage ich ihm nicht, obwohl ich es vielleicht gekonnt hätte. Ich drücke seinen Arm noch einmal und sage ihm, ich will mir ein Getränk holen, und dann lasse ich ihn da stehen, auf dem Bootssteg. Ich weiß genau, daß ich mir kein Getränk holen werde und noch viel genauer weiß ich, daß ich Rollo nicht wiedersehen werde.“316 Der Ich-­‐Erzähler kann sich also zum Zeitpunkt seiner Reise nicht mehr mit anderen Auffassungen des Lebens anfreunden oder auseinandersetzen317, wobei er selbst keine Idee davon zu haben scheint, wie sein eigenes Leben aussehen soll: [...], daß die Menschen, die ich kenne und gern habe, so eine bestimmte Kampfhaltung entwickelt haben und daß es für sie nicht mehr anders möglich ist, als aus dieser Haltung heraus zu handeln und zu denken. Das verstehe ich ja noch. Aber manchmal verstehe ich den Ansatz dieser Haltung nicht, die Herangehensweise, und dann frage ich mich, ob das immer schon so war und ob ich nicht vielleicht auch so bin, eben für die anderen überhaupt nicht mehr nachvollziehbar.“318 Dabei empfindet der Protagonist die Einsamkeit und 315 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 80f 316 Kracht, Christian: Faserland. S. 145 317 Vgl. Kraus, Stefanie: Sinnsuche und Identitätsproblem in Christian Krachts Romanen „Faserland“ und „1979“. S. 28 318 Kracht, Christian: Faserland. S. 70 101 Anonymität auf seiner Reise nicht nur als negativ, sondern er kommt sich auch wichtig dabei vor.319 Ambivalent scheint auch das Verhältnis zur eigenen Sexualität und zur Gesellschaft im Allgemeinen. Einerseits sucht der Ich-­‐Erzähler nach Möglichkeiten, sich zu integrieren, jedoch sabotiert er sich beständig selbst, indem er sich selbst ausgrenzt oder unpassend verhält. Die Zusammenstöße mit der Außenwelt müssen daher erfolglos und unbefriedigend verlaufen, sodass der Protagonist zu keinem Moment im Roman einen Zugang zur Gesellschaft findet.320 Er besitzt weder Selbst-­‐ noch Wir-­‐Gefühl, sodass er weder als Individuum noch im Kollektiv überlebensfähig erscheint. 1.2.2.2. Zustand der Unsicherheit: Probleme auf dem Weg zur Identität Die Suche des Protagonisten nach Identität scheint sich schwierig zu gestalten, besonders da er von Beginn an eine Scheinexistenz zu führen scheint, die zur Selbstaufgabe und zum Entkommen aus der Welt, die ihn umgibt, führen muss. Gleichwohl sind es auch die Zeichen der Zeit, die es Individuen wie Christian Krachts Protagonisten schwer machen, eine Identität zu konstruieren. Denn der subjektive Prozess der Identitätskonstruktion, wie er in der Postmoderne üblich ist, wird hier durch die zeittypische Enttraditionalisierung unterbrochen und führt so zur Überforderung des Protagonisten. Dieser reagiert auf dieses Phänomen, indem er seine Integrität, die persönliche Kontinuität, die Autonomie und vor allem die innere Sicherheit nicht mehr halten kann, was sich dann auch am Ich-­‐Erzähler in Krachts „Faserland“ festmachen lässt.321 Obwohl der Protagonist in Krachts Roman eine ganze Reihe an Reiseerfahrungen gemacht hat und so nach außen hin auch eine gewisse Weltgewandtheit vermitteln möchte, wirkt er in vielerlei Hinsicht dann doch eher unsicher und unreif. Dies wird beispielsweise durch verschiedene Hinweise in Gestik, Mimik und Haltung deutlich. So weiß er beispielsweise des Öfteren nicht, was er mit seinen Händen anstellen soll, sodass er sich dann an verschiedenen 319 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 52ff 320 Vgl. Kraus, Stefanie: Sinnsuche und Identitätsproblem in Christian Krachts Romanen „Faserland“ und „1979“. S. 29 321 Vgl. 2.2.4. Psychoanalytische Identitätskonzepte 102 Gegenständen, wie Zigaretten, Gläsern oder Flaschen, festhalten muss. Außerdem traut er sich gelegentlich nicht einmal Menschen anzulächeln, wie in folgender Situation im Flugzeug: „[...] auch die alte Frau im Nebensitz bekommt ein Lächeln von mir, allerdings nur in Gedanken, weil ich mich nicht traue, sie in Wirklichkeit anzulächeln.“322 Zwar vertritt der Ich-­‐Erzähler eine klare Meinung in Bezug auf Literatur, Kunst, Kleidung, Werbung usw., doch er drückt häufig trotz aller Entschiedenheit seine Unsicherheit und seinen Mangel an Überzeugungen aus323, indem er Floskeln wie „wenn ich mich nicht irre“ benutzt. Er ist sich der „Richtigkeit seines Urteils“ also nicht immer sicher und drückt so seine Zweifel aus.324 Nach Möckel zeigt sich seine fehlende Selbstsicherheit in seinem „widersprüchlichen Verhalten“, in seiner „Selbstüberschätzung und in seinen „übertrieben scharfen Urteilen“, wie man auch an zahlreichen Textstellen erkennen kann.325 Weiterhin scheint auch sein „Hang zur Fäkalsprache“ in diese Reihe einzuordnen zu sein.326 In dieser Unsicherheit und den fehlenden Standpunkten zeigt sich dann auch das Problem der Identitätsdiffusion, in der sich der Protagonist wiederfindet. Es ist auch nicht verwunderlich, dass sich die Unsicherheit des Protagonisten immer dann einstellt, wenn etwas neu ist oder überraschend auftritt oder auch wenn seine sexuelle Identität in Frage gestellt wird, worauf der Protagonist dann meistens mit Flucht reagiert, wie man auch anhand verschiedener Situationen erkennen kann.327 Ist der Protagonist mit der jeweiligen Situation total überfordert, so zeigt sich dies im Zittern der Hände, Erbrechen oder sogar in Ohnmachtsanfällen. Er lässt sich dabei allerdings zu keinem Zeitpunkt von jemandem helfen, sondern verdrängt oder betäubt die unangenehmen Gefühle. Da er seine eigene Realitätsflucht nicht erkennt, ist er auch unfähig, anderen Menschen zu helfen oder sie zu unterstützen. Alles in allem ist er nach Möckel ein Vagabund, der ziellos umherirrt, sich treiben lässt und weder Moral noch Reife aufweisen kann. In diesem Zusammenhang lassen sich hier also die gesellschaftlichen Freisetzungsprozesse der Postmoderne 322 Kracht, Christian: Faserland. S. 63 323 Vgl. 2.2.4. Psychoanalytische Identitätskonzepte 324 Vgl. Möckel, Margret: Interpretation zu Christian Kracht – Faserland. S. 34 325 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 39, S. 61, S. 62, S. 75 326 Vgl. Möckel, Margret: Interpretation zu Christian Kracht – Faserland. S. 34 327 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 46, S. 102f, S. 145 103 erkennen, welche den Protagonisten zu einem Flaneur, Vagabunden werden lassen, der ähnlich einem Chamäleon sehr flexibel in der Ausbildung seiner Identität ist. Trotz allem plagen ihn Ängste, die sich vor allem auf die Fixeophobie, auf die Phobie vor dem Festgelegtsein, beschränken.328 Passt er sich doch einem Gesellschaftsmuster an oder unterwirft er sich dem Gruppenzwang, so tut er dies als Höflichkeit ab. Nichtsdestotrotz ist er auf die Anerkennung von außen angewiesen und sehnt sich nach dieser. Nicht verwunderlich also, dass er gekränkt auf die Missachtung durch andere reagiert – eine Situation, die dann doch häufiger vorkommt. Nicht zuletzt er selbst schafft es nicht, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen und sich selbst, innerlich und äußerlich, anzunehmen. Das eigene Versagen wird zwar kurz durch Reue und Scham registriert, dann aber wieder unterdrückt. So enden solche Versagensmomente meistens damit, dass sich der Protagonist verbal bemerkbar macht oder die Flucht ergreift. Selbstkritik ist allerdings zu keinem Moment die Folge einer solchen Situation.329 Angesichts der gesellschaftlichen Begebenheiten verschärfen sich die Gefahren für einen problemlosen Lebensentwurf, wie man auch hier an diesem Beispiel erkennen kann. Doch obwohl es keinen Identitätszwang mehr zu geben scheint und das Individuum furchtlos verschieden sein darf, kann der Protagonist nicht zu einer für sich selbst gültigen, angenehmen Identität finden. Er versucht sich zwar immer neuen Erfahrungen zu öffnen, sich selbst zu einer Collage von Erlebnissen und Meinungen zusammenzubasteln, doch das Gelingen dieses Unterfangens bleibt äußerst zweifelhaft. Die Umbrucherfahrungen, welche sich zur Enttraditionalisierung und zum Verlust von übernehmbaren Identitätsmustern verdichten, erschweren auch für Krachts Ich-­‐Erzähler die Konstruktion oder den Ausbau einer Identität. Die zehn Aspekte, die einer solchen Enttraditionalisierung inne sind, sollen nun auf den Protagonisten und seine Lebenssituation projiziert werden.330 Zunächst fühlt sich das Subjekt der Postmoderne „entbettet“, sodass es nicht mehr in einen stabilen kulturellen Rahmen eingebunden ist, der ihm Sicherheit, 328 Vgl. Möckel, Margret: Interpretation zu Christian Kracht – Faserland. S. 35 329 Vgl. Möckel, Margret: Interpretation zu Christian Kracht – Faserland. S. 35f 330 Vgl. Keupp, Heiner u.a.: Identitätskonstruktionen. S. 46f 104 Klarheit oder hohe soziale Kontrolle garantiert, oder von diesem Rahmen eingeengt wird und nach eigenen Alternativen und Lösungswegen suchen muss.331 In diesem Fall ist Krachts Protagonist mit allen Aussichten auf eine solche kulturelle Einbettung aufgewachsen. Da er sich jedoch bereits als Kind in diesem Umfeld vernachlässigt fühlte, suchte er angesichts der Instabilität in seiner Familie und in seinem Lebensraum aus diesen Gegebenheiten auszubrechen und für sich selbst neue Optionen zu finden. Allerdings scheint es so, dass der Ausbruch zwar durch den Rauswurf aus dem Elite-­‐Internat Salem gelungen ist, jedoch erstarrte dieser, da nach diesem ersten Schritt keine weiteren wirklichen Versuche unternommen wurden, sich eine Existenz aufzubauen. Er versucht zwar verschiedene Reisen zu unternehmen, wohl alle mit dem Gedanken auf diesen Wegen auch sich selbst zu finden. Da sich der Erzähler bei allen Versuchen jedoch immer mehr von der ihn umgebenden Außenwelt entfernt und immer weniger findet, womit er sich identifizieren kann, muss dieses Unterfangen folglich scheitern. Die selbstbestimmte Politik der Lebensführung steckt also bei Krachts Ich-­‐Erzähler fest. Weiterhin soll es bei dem Subjekt der Postmoderne zu einer Entgrenzung der individuellen und kollektiven Lebensmuster kommen. So scheinen in der Welt der Postmoderne die Tugenden, in einer unveränderlichen, strukturierten Welt leben zu können, weniger notwendig als solche, kluge Entscheidungen zu treffen und „Beziehungsverhältnisse aktiv befriedigend zu gestalten“. So sind die Schnittmuster, nach denen Individuen ihre Biografie entwerfen und umsetzen, weniger wichtig geworden, genau so wie das Arrangement mit den vorgegebenen Normen an Wert verliert. Das Subjekt muss in einer solchen Gesellschaft also nicht mehr „normal“ sein, es muss sich nicht mehr an die gesellschaftlichen Vorrichtungen anpassen, da es sich angesichts einer Vielfalt an verschiedenen Optionen befindet. Es ist also nicht mehr üblich oder selbstverständlich, dass eine Generation die gleichen Überzeugungen oder Meinungen in Bezug auf „Erziehung, Sexualität, Gesundheit, Geschlechter-­‐ oder Generationsbeziehung“ hat.332 Der Protagonist in Krachts Roman entfremdet sich von der Außenwelt. Demnach entgrenzt er sich von den Individuen, welche 331 Vgl. Keupp, Heiner u.a.: Identitätskonstruktionen. S. 46f 332 Vgl. Keupp, Heiner u.a.: Identitätskonstruktionen. S. 47 105 die Tugend besitzen, sich entscheiden zu können und ihre Beziehungsverhältnisse aktiv zu gestalten. Er schafft es allerdings auch nicht sich aufzulehnen, da er selbst keine Vorstellung davon hat, welche Einstellung er in Bezug auf die oben genannten Bereiche hat. Erziehung spielt in diesem Fall keine wichtige Rolle. Seine Gesundheit scheint ihm nur wenig am Herzen zu liegen, da er sie bei jeder Gelegenheit mit Füßen tritt. Sexualität macht ihm in den meisten Fällen Angst. Er steht beiderlei Geschlechtern ähnlich skeptisch gegenüber, sodass er eigentlich nur enttäuschende Erfahrungen in dieser Hinsicht macht, die ihn wiederum zur Flucht drängen. Außerdem hat er auch kein Verhältnis zur vorangehenden Generation. In diesem Zusammenhang ist dann auch eines der Hauptprobleme der Zeit zu nennen, das in Krachts „Faserland“ dargestellt wird: das „Scheinwertesystem“. Nach Virag verblenden diese Schweinwerte „das orientierungslose Ich“ und geben ihm das „Scheingefühl eine Existenz zu haben, so verhindern sie die wahre Ich-­‐Erfüllung“.333 In Krachts Werk werden so also Markenwaren verabsolutiert. Diese geben dem Protagonisten das Gefühl, etwas Wertvolles zu besitzen.334 Kracht selbst hat in diesem Kontext allerdings sogar vom Zerfall des Wertesystems gesprochen: „Der bevorstehende Verfall eines Wertesystems oder einer Gesellschaft kündigt sich immer durch das massenhafte Entstehen sauschlechter Alltagsästhetik an.“335 In diesem Sinne ist dann auch Krachts Titel „Faserland“ zu verstehen, der nach Kracht selbst „so etwas wie Ausfasern“ bedeutet.336 Als einer der Aspekte, die zur Enttraditionalisierung beitragen, zählt auch, dass die Erwerbsarbeit an Wichtigkeit verliert. Sie stellt also nicht mehr wie zu anderen Zeiten die Basis der Identitätsbildung dar, besonders da es in vielen verschiedenen Bereichen keine klaren Funktionen mehr einzunehmen gilt, 333 Virag, Attila: Ich-­‐Konzepte in deutschen Romanen aus den letzten Jahrzehnten. S. 24 334 Vgl. Virag, Attila: Ich-­‐Konzepte in deutschen Romanen aus den letzten Jahrzehnten. S. 24 335 Die legendärste Party aller Zeiten. Christian Kracht über seinen Roman „Faserland“, über Grünofant-­‐Eis, Busfahrer und die SPD. (Ohne Verfasser) In: Berliner Zeitung 19.07.1995. In: Virag, Attila: Ich-­‐Konzepte in deutschen Romanen aus den letzten Jahrzehnten. S. 24 336 Die legendärste Party aller Zeiten. Christian Kracht über seinen Roman „Faserland“, über Grünofant-­‐Eis, Busfahrer und die SPD. (Ohne Verfasser) In: Berliner Zeitung 19.07.1995. In: Virag, Attila: Ich-­‐Konzepte in deutschen Romanen aus den letzten Jahrzehnten. S. 24 106 sondern wechselhaftere und beschränkte Aufgaben erfüllt werden müssen. Die Definition seiner selbst über die Arbeit war in dem Sinne stets erfüllend, da es die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des individuellen Lebens und der Aufgabe in der Gesellschaft vereinfachte.337 Für Krachts Erzähler scheint die Identitätsbildung mittels der Erwerbsarbeit ebenfalls schwierig, besonders weil er keinen Abschluss zu haben scheint und auch keiner geregelten Arbeit nachzugehen pflegt. Demnach fällt dieses Moment als Basis für die Konstruktion seiner Identität und der Beantwortung der Frage nach der individuellen Sinnstiftung für ihn komplett weg. Im Leben des Ich-­‐Erzählers geht es vor allem darum, Spaß zu haben, zu trinken, sich zu langweilen, im Großen und Ganzen eigentlich nichts zu machen. Sein Leben wird also vom Müßiggang bestimmt, welcher besonders für die Dandys des 18./19. Jahrhunderts eine Art Lebensmotto darstellte und dessen einzige Lebensaufgabe die Eleganz war. So ist es nicht verwunderlich, dass der Protagonist in Krachts „Faserland“ in der Sekundärliteratur oftmals als Dandy bezeichnet wird.338 Darüber hinaus scheint in der postmodernen Gesellschaft die multiphrene Situation zur Normalität zu werden. Das Individuum steht der „Komplexität von Lebensverhältnissen“ gegenüber, sodass es gezwungenermaßen zu einer ganzen Reihe an Erfahrungen und Erlebnissen kommt, die allerdings nicht mehr zu einem Gesamtbild zusammengesetzt werden können. Nach Keupp sind diese Erfahrungen mit den Splittern eines zerbrochenen Hohlspiegels zu vergleichen: „Wir haben meist keine andere Chance, als sie unverbunden nebeneinander stehenzulassen. Es sind hohe psychische Spaltungskompetenzen gefordert, um nicht verrückt zu werden.“339 Durch die beständigen multikulturellen Erfahrungen ist der Mensch jedoch nicht nur unfähig geworden, einen stimmigen Erlebniskosmos zu konstruieren, sondern erhält auch zeitgleich die Möglichkeit, den Wert der Heterogenität kennenzulernen. Allerdings läuft der postmoderne Mensch Gefahr, zu einer multiphrenen Persönlichkeit zu werden, deren Charaktereigenschaften nicht mehr die eigenen Entscheidungen und Beziehungen bestimmen, sondern das Ich durch die Beziehung zu anderen 337 Vgl. Vgl. Keupp, Heiner u.a.: Identitätskonstruktionen. S. 47f 338 Vgl. Virag, Attila: Ich-­‐Konzepte in deutschen Romanen aus den letzten Jahrzehnten. S. 26 339 Vgl. Keupp, Heiner u.a.: Identitätskonstruktionen. S. 48 107 geprägt wird. So zersetzt sich das „individuelle Bewusstsein“ in seine Bestandteile und findet nur noch in bestimmten Situationen zu einem Ganzen, „dem charakterlosen Ich“, zusammen.340 Auch der Protagonist in Krachts Roman „Faserland“ macht eine ganze Reihe an Erfahrungen und erlebt so einiges, was nicht in sein Konzept passt. Dem Ich-­‐Erzähler gelingt es angesichts der vielfältigen Erfahrungen und Erlebnisse allerdings nicht, damit umzugehen und daraus ein für sich stimmiges Konzept zu entwickeln, das ihn zu seiner Identität führt, sondern er ergreift beständig die Flucht angesichts der neuen Erfahrungen und lässt sich auf nichts ein. Auch die virtuellen Welten und sozialen, virtuellen Netzwerke, die sich in der Postmoderne ausbreiten, bewirken Konsequenzen für die Lebenswelt des Individuums und die Konstruktion seiner Identität. So fördern sie nach Keupp „den Zweifel an dem einen Realitätsprinzip“.341 Dieser Aspekt stellt für Kracht weniger ein Problem dar, da die virtuellen Welten in seinem Roman nicht thematisiert werden und so auch kein nennenswertes Hindernis bei seiner Identitätskonstruktion darstellen können. Ein weiterer Aspekt, der die Identitätskonstruktion erschwert, besteht im Zeitgefühl, das in der Postmoderne eine „Gegenwartsschrumpfung“ erfährt. Demnach verdichten sich die Ereignisse der Gegenwart, sodass diese bereits veraltet ist, ehe man sie wahrnimmt.342 Auch Krachts Erzähler kommt kaum zur Verarbeitung seiner Erlebnisse. Besonders deutlich wird dies, da er sich nicht mit den neuen Erfahrungen auseinandersetzt, sondern wie gehetzt die Flucht ergreift und zu seiner nächsten Station auf der Suche nach seiner Identität übergeht. Dagegen fokussiert er sich eher auf seine Vergangenheit, indem er beispielsweise Kindheitserinnerungen Revue passieren lässt. Mit seiner Zukunft beschäftigt er sich nicht, besonders da er keine Perspektive hat, welche Form sein zukünftiges Leben annehmen könnte, sondern sich nur in Wunschträumen um ein glückliches Leben zusammen mit Isabella Rossellini und ihren Kindern in der Schweiz verliert. Die Zukunft, die ihm selbst bevorsteht, spiegelt sich in der Figur Rollos: Rollo, der todtraurig ist, sich mit Valium zu betäuben versucht, viele 340 Vgl. http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-­‐13679693.html 341 Vgl. Keupp, Heiner u.a.: Identitätskonstruktionen. S. 49 342 Vgl. Keupp, Heiner u.a.: Identitätskonstruktionen. S. 49f 108 Menschen kennt, die ihn nicht wahrnehmen, was dann schlussendlich zum Selbstmord des Freundes führt. Die Figur Rollo könnte mithin als Doppelgänger des Protagonisten gesehen werden, wobei der Protagonist selbst dies nicht wahrhaben will.343 Auch die Pluralisierung von Lebensformen führt dazu, dass sich das Ich angesichts der schier unendlichen Fülle an Alternativen hilflos fühlt. In der postmodernen Gesellschaft ist es nicht so, dass das Individuum die eigene Lebensform wählen kann, sondern sie wählen muss. Es geht also nicht mehr, dass der Einzelne auf etablierte Denk-­‐ oder Verhaltensmuster zurückgreift, sondern jeder muss sich für eine Möglichkeit entscheiden. Die Lebenskonstruktion des postmodernen Menschen hat also den Anschein einer Serie von Projekten betreffend die Lebenseinstellung, Weltanschauung und Identität, die der Einzelne für sich selbst aussucht.344 Auch Krachts Erzähler kommt mit verschiedenen Lebensmilieus in Kontakt, in denen unterschiedliche Normen, Werte und Rollen gelten. Jedoch kann er selbst sich für keine dieser Welten entscheiden, da er sich in keiner Rolle zu Hause fühlt und sich nicht mit den jeweiligen Werten und Normen identifizieren kann. Zu einer weiteren Hürde auf der Suche nach der eigenen Identität hat die Veränderung bezüglich der Geschlechterrollen geführt. Denn es gibt keine eindeutigen, fest etablierten Verhaltensmuster, nach denen sich Frau und Mann richten können. Auch hier bestehen wiederum viele Alternativen, zwischen denen sich das Individuum entscheiden und für sich selbst definieren muss, welche Position sie oder er bezüglich Sexualität, Erziehung oder Rollenverteilung einnimmt.345 Der Erzähler selbst scheint also auch nur seine Rollen zu spielen, so zum Beispiel beim Flirten.346 Allerdings spricht er von seinen Flirtpartnerinnen eher abwertend, weil ihm die Kontaktaufnahme mittels Flirten dann doch peinlich ist und er sich in dieser Situation wiederum auf unsicheres Terrain begibt.347 Sexualität scheint im Allgemeinen zu einer Alltäglichkeit in den Beziehungen zu werden, es werden folglich keine großen Gefühle mit diesen 343 Vgl. Schallmayer, Peter: Christian Kracht – Faserland. S. 75 344 Vgl. Keupp, Heiner u.a.: Identitätskonstruktionen. S. 50 345 Vgl. Keupp, Heiner u.a.: Identitätskonstruktionen. S. 51 346 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 101 347 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 44f 109 Erlebnissen verbunden.348 So erinnert den Erzähler das aufregende Erlebnis des Flirtens beispielsweise an den von ihm positiv gewerteten Besuch eines Pissoirs.349 Der Protagonist bewegt sich dabei in einem Lebensmilieu, in dem die verschiedensten Formen von Sexualität praktiziert werden, so zum Beispiel Heterosexualität, Homosexualität, Sexualität mit wechselnden oder sich im Alter unterscheidenden Partnern, Gruppensex usw. Es geht hier also um eine „Funktionalisierung der Sexualität für außeremotionale Zwecke“ und es kann hier also keineswegs von Liebesbeziehungen gesprochen werden.350 Zumindest hat der Erzähler für sich festgestellt, dass er heterosexuell ist und beispielsweise nichts mit Homosexualität oder Gruppensex anfangen kann, wie man an seinen Reaktionen in den jeweiligen Situationen erkennen kann351. Auch scheint ihm das Flirten an sich Spaß zu machen, auch die Annäherungsversuche einer Frau auf der Party in Hamburg scheinen ihm zu gefallen, jedoch geht er aus seiner Unsicherheit heraus nie einen Schritt weiter, ergreift selbst keine Initiative und verharrt sozusagen in der Warteschleife. So scheint es auch in diesem Bereich für den Protagonisten unmöglich zu sein, eine Beziehung aufzubauen. Im Allgemeinen ist die Interaktion mit anderen Menschen stets von Unsicherheit geprägt, was dann im Falle des Ich-­‐Erzählers auf die Umverteilung der Geschlechterrollen und die unsicher gewordenen Schemata zurückzuführen ist. So sagt er zu sich selbst: „Nicht, daß ich kompliziert bin, aber es gibt so bestimmte völlig ineinander verschachtelte Muster, die ich anwenden muß, um mit Menschen umzugehen. Na ja, Muster ist vielleicht nicht das richtige Wort. Ich kann das nicht genau beschreiben, was ich meine. Es ist wie so ein Rädchen, das sich dreht, und wenn das richtige Gegenstück auf einem anderen Rädchen gefunden ist, dann rastet das erste Rädchen ein, und es kann losgehen. Das Ganze kann man, glaube ich, sich ein bißchen wie in einem Trickfilm vorstellen.“352 Der Ich-­‐Erzähler erklärt hier auf eine holprige Art und Weise das Schema, das er anwendet, um mit anderen Menschen zu interagieren. Auf sozialer Ebene scheint 348 Kyora, Sabine: Helden wie wir. Tendenzen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Oldenburg 2004. S. 33 In: Möckel, Margret: Interpretation zu Christian Kracht – Faserland. S. 68 349 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. 80 350 Möckel, Margret: Interpretation zu Christian Kracht – Faserland S. 68 351 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 103, S. 49f 352 Kracht, Christian: Faserland. S. 101 110 er doch sehr unter seinen Zwängen zu leiden, sodass es ihm schwer fällt, überhaupt Kontakt aufzunehmen, und ihm das Gefühl menschlicher Nähe ganz und gar fremd ist. Verwunderlich ist es auch nicht, dass er immer wieder von „kommunikativen Fehlleistungen“ berichtet, wie in folgendem Beispiel353: „Ich muß grinsen, wie ich mir das vorstelle, und Karin denkt, ich grinse über den Witz, den sie gerade erzählt hat, und grinst zurück, obwohl ich, wie gesagt, gar nicht zugehört habe.“354 Dies findet sich dann auch in der Interaktion mit seinen Freunden wieder. So schätzt er beispielsweise seinen Freund Nigel, weil dieser ihm das Gefühl vermittelt, er würde ihm zuhören. Er schätzt dies besonders, weil ihm nicht viele Menschen dieses Gefühl geben können. Weiter folgt dann Nigels Beschreibung, woraus sich auch die Diffusion der Beziehungsfähigkeit nach Erikson erkennen lässt355: „Vielleicht mag der Nigel Partys so gerne, weil er in Grunde ein asozialer Mensch ist, Gott, das würde ich ihm nie sagen, aber irgendwie ist er nicht kommunikationsfähig, ich meine, vielleicht mag er Partys, weil das so rechtsfreie Räume sind, wo er funktionieren kann, ohne kommunizieren zu müssen.“ 356 (S. 36f) Dem Ich-­‐Erzähler gelingt es weder bei seinen engsten Freunden noch bei neuen Bekanntschaften, sich auf intime, tiefer gehende Beziehungen einzulassen. Malecha erwähnt in diesem Zusammenhang, dass solche zwischenmenschlichen Probleme in den Sozialwissenschaften als Symptome einer „Kultur des Narzißmus“357 dargelegt werden.358 Weiterhin zeigt der Protagonist hier eine Wahrnehmungsstörung auf, da er seinen Freund Nigel auf zwei unterschiedliche, sogar gegensätzliche Weisen wahrnimmt und beurteilt. Diese Unterschiede in der Wahrnehmung sind nach Malecha auf die „Unstimmigkeiten in der Wahrnehmung seiner selbst“ zurückzuführen.359 Krachts Ich-­‐Erzähler kann sich also für keinen konkreten Weg hinsichtlich seiner Lebensführung entscheiden: „Seine qualitative Identität ist äußerst instabil, er wechselt ständig seine Rollen, 353 Vgl. Malecha, Tom: Ich bin viele. S. 31 354 Kracht, Christian: Faserland. S. 14 355 Vgl. Malecha, Tom: Ich bin viele. S. 31 356 Kracht, Christian: Faserland. S. 36f 357 Lasch, Christopher: Das Zeitalter des Narzißmus. München 1980. In: Malecha, Tom: Ich bin viele S. 31 358 Vgl. Malecha, Tom: Ich bin viele. S. 31 359 Vgl. Malecha, Tom: Ich bin viele. S. 32 111 so dass es ihm auch nicht gelingt, sich selbst im Laufe der Zeit als ein und derselbe wahrzunehmen. Dies stört auch die Interaktion mit seiner sozialen Umgebung.“360 Dies kann man dann auch im weiteren Umgang mit seinem Umfeld und der fehlgeschlagenen Integration in die Gemeinschaft feststellen. Zudem wirkt sich die zunehmende Individualisierung verstärkt auf das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft aus. Der Mensch in der postmodernen Gesellschaft ist zunächst aus Traditionen und etablierten Bindungen losgelöst, die bis dato das eigene Handeln im großen Ganzen leiteten. Der Einzelne muss sich nun selbst um die sinnvolle und vernünftige Steuerung seines Handelns und die Begründung desselben kümmern, ohne sich auf traditionelle Normen stützen zu müssen. So muss sich das Individuum der heutigen Zeit auch für traditionsmächtige Institutionen, wie Gewerkschaften, Parteien oder Kirchen, entscheiden und abwägen, ob diese zu seinen eigenen Vorstellungen passen.361 Betrachtet man nun Krachts Protagonisten, so fällt auf, dass dieser sich nicht in die Gemeinschaft integrieren kann. Obwohl er selbst aus einer gut situierten Familie zu stammen scheint, die vermutlich kaum das Muster für seine später eigene Verantwortungslosigkeit vorgelebt hat, entscheidet er sich nicht für irgendwelche Normen oder traditionsmächtige Institutionen. Erwartungsgemäß scheint Krachts Ich-­‐Erzähler dann auch alles „Politisch-­‐
Gesellschaftliche [...] im Bewusstsein aufgelöst“ zu haben.362 So tritt der Protagonist politisch desinteressiert auf, für ihn gibt es so zum Beispiel nichts Uninteressanteres als Tageszeitungen.363 Auch zeigt sich dieses politische Desinteresse in seinen Hasstiraden, die er im Laufe der Handlung gleichermaßen gegen rechts und links abfeuert.364 Er verabscheut beispielsweise Varna, Alexanders Freundin, weil sie sich für die Grünen einsetzt, oder zieht über Rentner her, die er dann auch beschimpft. Weiterhin schließt er beispielsweise von der Kleidung eines Taxi-­‐Fahrers auf dessen politische Gesinnung. Er geht also von ästhetischen Merkmalen aus, um diese mit der politischen Einstellung 360 Malecha, Tom: Ich bin viele. S. 32 361 Vgl. Keupp; Heiner u.a.: Identitätskonstruktionen. S. 52 362 Vgl. Neue Deutsche Popliteratur, Sendung der GumboYaYa-­‐Schow vom 12.11.2000. In: Kraus, Stefanie: Sinnsuche und Identitätsproblem in Christian Krachts Romanen „Faserland“ und „1979“. S. 47 363 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 149 364 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 72ff, S. 19f 112 eines Individuums zu verbinden. Durch seinen „Rundumschlag“ wird also deutlich, dass er ohne Reflexion und ohne jegliche „Auseinandersetzung mit der verhaßten Umwelt“ abrechnet.365 Seine politische Ignoranz und Unreflektiertheit wird besonders deutlich, wenn er beispielsweise das Wort „Nazi“ als allgemeines Schimpfwort benutzt und sogar mit der politischen Partei SPD in Verbindung bringt. Hier zielt er vermutlich unbewusst auf die Kollektivschuld der Deutschen insgesamt ab, auf die Unsicherheit, die in Deutschland unter der Oberfläche schwelt. In diesem Zusammenhang stellt er dann auch Überlegungen dazu an, wie Deutschland sein könnte, wenn es keinen Krieg gegeben hätte, und schildert dazu die ästhetisch perfekte Vorstellung der Neckarauen. In diesem Sinne verwundert es nicht, dass er das neutrale Land Schweiz als die Traumvorstellung seines Lebens auserkoren hat. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der Protagonist einfach Ästhetizismus mit Politik zu vertauschen scheint.366 So verlieren dann auch die traditionellen Instanzen der Sinnvermittlung in der heutigen Zeit allmählich ihre Bedeutung, was allerdings nicht heißt, dass die Sehnsucht und die Suche nach dem Sinn hinfällig geworden sind. Das Individuum der Postmoderne muss sich also wie in vielen anderen Bereichen auch selbst als Konstrukteur der eigenen Sinndeutung verstehen.367 Bezieht man dies nun abermals auf Krachts Ich-­‐Erzähler, so lässt sich erkennen, dass er sich während seiner Reise nicht nur auf der Suche nach seiner eigenen Identität befindet, sondern auch nach dem Sinn dieses multioptionalen Lebens, das er sich zusammenzubasteln versucht, was ihm offensichtlich allerdings nicht gelingt. Betrachtet man diese verschiedenen Aspekte, welche die Identitätskonstruktion in der heutigen Zeit erschweren, zusammenfassend, so lässt sich sagen, dass die Individuen einer gewissen Bodenlosigkeit entgegensehen müssen und ihnen nicht anderes übrig bleibt, als sich selbst als Darsteller auf einer gesellschaftlichen Bühne zu verstehen und das Drehbuch des eigenen Lebens zu schreiben – Punkte, die bei Krachts Hauptfiguren gründlich scheitern, da hier in diesem Fall die erforderlichen Ressourcen nicht vorhanden sind und die Notwendigkeit der Selbstgestaltung also zu einer unerfüllbaren und untragbaren 365 Vgl. Kraus, Stefanie: Sinnsuche und Identitätsproblem in Christian Krachts Romanen „Faserland“ und „1979“. S. 48 366 Vgl. Malecha, Tom: Ich bin viele. S. 34 367 Vgl. Keupp; Heiner u.a.: Identitätskonstruktionen. S. 52f 113 Aufgabe wird, unter welcher die Hauptfigur zusammenzubrechen droht und der sie sich schließlich entzieht.368 1.2.2.3. Lösungen In Krachts Roman „Faserland“ probiert der Protagonist auf verschiedenste Weise, den Verlust der menschlichen Beziehungen, der Werte und die damit verbundene innere Leere auszugleichen. Zum einen versucht er dies durch den künstlich hervorgerufenen Rausch. Der Ich-­‐Erzähler zeigt sich während seiner ganzen Reise als starker Alkoholkonsument und Kettenraucher. Bis auf eine Ausnahme greift er jedoch nicht auf andere Drogen zurück, wie zum Beispiel seine Freunde Nigel und Alexander, bei denen es zum totalen Selbstverlust kommt. Durch den Verlust der Werte kommt es zur „Kommunikationslosigkeit“ und zur „Isolation des Ichs“.369 So ersetzt das Ich in der Isolation „die in der Verbindung – sei es in der Liebe, im Glauben oder in einer Idee – erreichbare Selbsterhöhung und Einheit, durch künstlich – eben in der Isolation herbeigeführte Ekstase“.370 Der Ich-­‐Erzähler ist also durch den gesteigerten Alkoholkonsum ähnlich wie seine Freunde auf dem Weg zum Ich-­‐Verlust, sodass der Rauschzustand keine Lösung in seiner Lage bietet. Weiterhin versucht der Protagonist seine innere Leere durch Äußerlichkeiten zu verdecken. In diesem Sinne lässt sich auch der Leitsatz „Kleider machen Leute“ auf Krachts Roman anwenden und in „Marken machen Leute“ umwandeln. So versucht sich also der Protagonist anhand der Markennamen zu definieren. Durch die Erinnerungen des Protagonisten wird deutlich, dass sogar seine Kindheit bereits von der Markenkrankheit angesteckt war, wenn er schildert, dass sich sein Jugendfreund Henning immer nur das billigere Eis Berry, statt Grünofant, leisten konnte – ein Grund für den Abbruch der Freundschaft zu Henning. Das extreme Markenbewusstsein des Protagonisten ist das Ergebnis 368 Vgl. Keupp; Heiner u.a.: Identitätskonstruktionen. S. 53 369 Vgl. Virag, Attila: Ich-­‐Konzepte in deutschen Romanen aus den letzten Jahrzehnten. S. 28 370 Széll; Zsuzsa: Ichverlust und Scheingemeinschaft. Gesellschaftsbild in den Romanen von Franz Kafka, Robert Musil, Hermann Broch, Elias Canetti und George Saiko. Budapest 1979. S. 72. In: Virag, Attila: Ich-­‐Konzepte in deutschen Romanen aus den letzten Jahrzehnten. S. 28 114 seiner jahrelangen „Sozialisation durch Medien und Werbung“, welche seine Wahrnehmung extrem geprägt haben.371 Nach Marschik konstruiert Werbung die „Ideale, Mythen und Stereotype eines perfekten Lebens“, das der Konsument durch den Kauf des Produktes teilweise erreichen kann. 372 So liegt es dann auch in der Strategie der Werbung, dass eine Assoziation zwischen dem Produkt und einem gewissen Lebensstil hervorgerufen wird. Der Ich-­‐Erzähler ist bereits in seiner Kindheit von dieser Werbestrategie infiziert, wie man an dem oben genannten Beispiel erkennen kann. Auch später in seinem Erwachsenenleben hat er die Erzählungen vom guten Leben, welche von der Werbung propagiert werden, gut angenommen. Sie stellt für ihn eine Möglichkeit dar, sich in der Gesellschaft zu positionieren, frei nach dem Motto „Ich bin, was ich konsumiere“.373 Der Protagonist möchte sich, wie man an verschiedenen Stellen im Text erkennen kann, genau durch sein Konsumverhalten von der Gemeinschaft abheben, ein Verhalten, das ihn meistens wiederum aus der Gesellschaft ausgrenzt. Als eine weitere mögliche Lösung wird die ständige Träumerei des Protagonisten angewendet. An einer Stelle träumt er von einer Realität, in der es nur Kinder gibt. Er stellt sich dabei eine Welt vor, die er gegen das ungeliebte Deutschland ausspielen kann, und ist darum besorgt, für die eigenen Kinder einen Sinn im Leben zu finden: „Jetzt, wenn der Sommer kommt, würden die Bienen summen, und dann würde ich mit den Kindern Ausflüge machen bis an die Baumgrenzen [...] Ich könnte ihnen alles erklären, und die Kinder könnten niemand fragen, ob es denn wirklich so sei, weil sonst niemand da oben wäre [...] Vielleicht bräuchte ich das alles nicht zu erzählen, weil es die große Maschine ja nicht mehr geben würde [...] und die Kinder würden nie wissen, daß es Deutschland jemals gegeben hat, und sie wären frei auf ihre Art.“374 Auf dem Höhepunkt seiner sozialen Isolation stellt er sich ein Leben mit seiner Traumfrau Isabella Rossellini vor, die er wegen ihrer Natürlichkeit, im Gegensatz zur künstlichen Schönheit 371 Vgl. Malecha, Tom: Ich bin viele. S. 30 372 Vgl. Marschik, Matthias: Kleines Glück: Botschaften der Werbung als Rückgrat des Selbst. In: Hepp, Andreas/ Winter, Rainer (Hrsg.): Kultur – Medien – Macht – Cultural Studies und Medienanalyse. Opladen 1997. S. 220. In: Malecha, Tom: Ich bin viele. S. 32 373 Vgl. Malecha, Tom: Ich bin viele. S. 30 374 Kracht, Christian: Faserland. S. 148f 115 von Karin, anziehend findet.375 So lebt er in seinen Wunschvorstellungen beispielsweise zusammen mit ihr auf einer einsamen Insel, außerhalb der Gesellschaft.376 (S. 57) Nach Hütelin stellt Isabella Rossellini für den Ich-­‐Erzähler eine „Sehnsucht nach asozialer Einfachheit und Geborgenheit“ dar, welche er in seinem Umfeld nicht finden kann. Schließlich träumt er davon, mit Isabella Rossellini und seinen Kindern in einer einsamen Hütte in den Schweizer Bergen zu leben: „Dort oben müßte man wohnen auf einer Bergwiese, in einer kleinen Holzhütte, am Rande eines kalten Bergsees, [...]. Vielleicht müßte ich noch nicht einmal auf diese Insel mit Isabella Rossellini, vielleicht würde es auch reichen, wenn ich mit ihr und den Kindern in dieser kleinen Hütte wohnen würde. [...] Ich könnte ihnen alles erklären, [...].“ (S. 152) In diesem Fall lässt sich also die Sehnsucht des Protagonisten nach Geborgenheit und einem richtigen Zuhause erkennen, also die Sehnsucht nach dem Ausgang aus der ihm verhassten Welt, welche durch „einen Ausbruch in die idyllische, unzivilisierte Fremde“ erreicht werden könnte.377 Da sich diese Befreiung nur in den Träumen des Protagonisten vollzieht und nicht in Wirklichkeit, befindet er sich beständig auf der Flucht vor dem „grauenhaften Nazi-­‐Leben“ in Deutschland (S. 70). In Reaktion auf die uninteressante, verhasste Gesellschaft reist der Protagonist quer durch Deutschland auf der Flucht vor der ihm verhassten Gesellschaft und natürlich auf der Flucht vor sich selbst: „Vor dem Unbehagen, vor dem Durcheinander der aktuellen Wirklichkeit flieht er in eine Pseudogemeinschaft, in die schöne Markenwelt. Diese Pseudowelt scheint für ihn eine nach verständlichen Spielregeln funktionierende Heimat zu sein.“378 Zuletzt könnte die innere Leere durch die Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Gruppe überwunden werden, wobei sich die Menschen in Krachts Roman beispielsweise über Markennamen oder maskierende Rollen in 375 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 56f 376 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 57 377 Vgl. Kraus, Stefanie: Sinnsuche und Identitätsproblem in Christian Krachts Romanen „Faserland“ und „1979“. S. 31 378 Brinkmann, Martin: Unbehagliche Welten. Wirklichkeitserfahrungen in der neuen deutschsprachigen Literatur dargestellt anhand von Christian Krachts „Faserland“. In: Weimarer Beiträge 53 2007. S. 17-­‐46. S. 22. In: Virag, Attila: Ich-­‐Konzepte in deutschen Romanen aus den letzten Jahrzehnten. S. 29 116 der Gesellschaft definieren, die nach Virag austauschbar sind379: „Aber das würde der Taxifahrer nicht verstehen, weil er sonst ja auch ein Jackett von Davies & Sons tragen würde, sich die Haare anständig schneiden und kämmen und seinen Regenbogen-­Friedens-­Nichtraucher-­Ökologen-­Sticker von seinem Armaturenbrett reißen würde.“380 Um seine Besonderheit hervorzuheben, ist es dem Protagonisten allerdings nicht möglich, sich über den Hass an der Massenkultur zu definieren. Dieser Hass wurde bereits vermarktet und popularisiert. Noch weniger kann er wie Nigel durch T-­‐Shirts mit Firmenlogos provozieren, da dies im Endeffekt doch immer Werbung für dieselbe bleibt und „den Widerspruch des Protests gegen die Massenkultur“ symbolisiert.381 Nach Virag sieht der Ich-­‐Erzähler das ganze, deutsche Land als eine „identitäts-­‐ und ziellose Masse“382: „Es sind demnach „Auserwählte, die im Inneren der Maschine leben, die gute Autos fahren müssen und gute Drogen nehmen [...] müssen, während um sie alle dasselbe tun, nur eben ein ganz klein bißchen schlechter“.383 Der Protagonist kann sich also auch nicht durch seinen Hass auf die Außenwelt und Massenkultur definieren, sodass er hier ein klares Feindbild finden könnte, das ihm die eigene Identität verdeutlichen würde.384 Nicht einmal durch die Revolte gegen das Verhasste kann der Protagonist sich definieren. Schließlich lässt sich also feststellen, dass keine der möglichen Lösungen wirklich zu fruchten scheint. 379 Vgl. Virag, Attila: Ich-­‐Konzepte in deutschen Romanen aus den letzten Jahrzehnten. S. 29 380 Kracht, Christian: Faserland. S. 30 381 Vgl. Virag, Attila: Ich-­‐Konzepte in deutschen Romanen aus den letzten Jahrzehnten. S. 30 382 Vgl. Virag, Attila: Ich-­‐Konzepte in deutschen Romanen aus den letzten Jahrzehnten. S. 30 383 Kracht, Christian: Faserland. S. 153 384 Vgl. Berger, Jan: Verloren im Faselland. Woher kommt die Traurigkeit der neuen deutschen Pop-­‐ Romane. In: Süddeutsche Zeitung 276. 30.11.1998. S. 13. In: Virag, Attila: Ich-­‐Konzepte in deutschen Romanen aus den letzten Jahrzehnten. S. 30 117 1.2.2.4. Ich-­‐Verlust Die postmoderne Gesellschaft beherbergt das Problem, dass sich das Individuum dem ständigen Identitätsverlust ausgesetzt sieht. Wichtig ist es in diesem Zusammenhang, dass es dem Subjekt gelingt, sich aus einer Reihe von Teilidentitäten oder Rollen eine Bastelexistenz, eine Patchwork-­‐Identität zusammenzusetzen. Nur so kann Identitätsbildung in der Postmoderne gelingen und als Weiterentwicklung der Identität der traditionellen Gesellschaft gesehen werden. Nach Erikson muss der Mensch, damit er eine Ich-­‐Identität bezeugen kann, jedoch dazu fähig sein, in der postmodernen Gesellschaft Kohärenz und Kontinuität zu konstruieren und zu wahren. Des Weiteren entsteht in Beziehung zu seinem sozialen Umfeld das, was als qualitative Identität des Individuums bezeichnet wird, also als Selbstdefinition des Menschen in Beziehung zu anderen. Der Mensch entscheidet so also durch Differenz-­‐ und Alteritätserfahrungen, was er sein will, und konstruiert aus der Gesamtheit seiner Rollen seine eigene Individualität. Für Erikson entsteht das Grundproblem allerdings darin, in der postmodernen Gesellschaft mit ihren zahlreichen Möglichkeiten Gleichheit und Kontinuität zu wahren, einen festen Kern aufzubauen und also eine Identität zu konstruieren. So ist es also nicht unwahrscheinlich, dass das Individuum in eine Identitätskrise gerät, wenn es ihm nicht gelingt, Gefühle von Kohärenz und Kontinuität herzustellen. Demnach befindet sich das Subjekt in der postmodernen Gesellschaft angesichts des instabilen Konstrukts von Identität stets in Gefahr des Identitätsverlustes und bildet in der Gesellschaft der 1990er Jahre also keine Ausnahme mehr. Auch Krachts Protagonisten kann man getrost diesen Zustand zugestehen, da er es von Beginn an nicht geschafft hat, angesichts der vielen Möglichkeiten eine wirkliche Identität aufzubauen und zu wahren. Der Protagonist an sich scheint jedoch eine gewisse Scheinidentität aufgebaut zu haben, die er aufrechtzuerhalten versucht. Es gelingt ihm jedoch nicht, „dem Imperativ der Identität zu gehorchen und sich stabil in der Welt zu positionieren“; auch sein „psychosoziales Wohlempfinden“ scheint enorm gestört zu sein.385 So befindet er sich zu Beginn seiner Reise bereits in einem Zustand der Identitätsdiffusion, die sich durch Orientierungslosigkeit, 385 Vgl. Malecha, Tom: Ich bin viele. S. 34 118 Ratlosigkeit und Unsicherheit im Handeln und in Entscheidungen äußert. Es kommt also zu einem Zerfließen des (Schein-­‐)Identitätsgefühls, einer phasenspezifischen Identitätskrise. In Krachst Roman wird der Identitätszerfall bereits dadurch deutlich, dass jegliche persönliche Informationen zu dem Protagonisten fehlen, so zum Beispiel Name, Alter oder Herkunft.386 Durch das Fehlen des Namens ist ihm so beispielsweise „das formale Minimum für Identitätszuweisung“387 versagt geblieben. Auf den ersten Blick erscheint er als ein verwöhnter Schnösel, der zur Upperclass gehört. Nach Brinkmann trifft der Ich-­‐Erzähler in Krachts Werk „mit dieser speziellen Mischung aus selbstverständlichem Snobismus, popkulturellem Konsumismus und anarchistischem Konservatismus“ genau den Zeitgeist der 1990er und „bringt den Generations-­‐ und Mentalitätswechsel zum Ausdruck“388. Kracht selbst hat in einem Interview seine Figur als „moralisches Intelligenzvakuum“389 bezeichnet, was sich hier dann in dem zerfallenden Subjekt äußert, das nur wenig oder kein Innenleben zu besitzen scheint und dessen (Schein-­‐)Identität sich nur in Abhängigkeit oder Abgrenzung von anderen manifestiert.390 Nach Frank kann die Figur in „Faserland“ als „Marionette ihres pseudoindividuellen Designs“ bezeichnet werden.391 Ein selbständiges Individuum macht Krause aus, das zur Handlung fähig ist, sich jedoch in der Auflösung befindet, da es aufgrund seiner Indifferenz keinerlei Entscheidungen treffen kann und zu keiner inneren Reflexion imstande ist. Dem Protagonisten 386 Vgl. Kraus, Stefanie: Sinnsuche und Identitätsproblem in Christian Krachts Romanen „Faserland“ und „1979“. S. 56 387 Krätzer, Jürgen: Kommentar S. 150. In: Virag, Attila: Ich-­‐Konzepte in deutschen Romanen aus den letzten Jahrzehnten. S. 30 388 Brinkmann, Martin: Unbehagliche Welten. S. 17. In: Virag, Attila: Ich-­‐Konzepte in deutschen Romanen aus den letzten Jahrzehnten. S. 30 389 Reents, Edo/ Weidermann, Volker: „Ich möchte ein Bildverbot haben“ – Christian Kracht über die Askesen des Islam, die Tränen von Goldie Hawn und seinen neuen Roman „1979“, der morgen erscheint. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 30.09.2001. In. Kraus, Stefanie: Sinnsuche und Identitätsproblem in Christian Krachts Romanen „Faserland“ und „1979“. S. 56 390 Vgl. Krause, Stefanie: Sinnsuche und Identitätsproblem in Christian Krachts Romanen „Faserland“ und „1979“. S. 56 391 Vgl. Frank, Dirk: „Talking about my generation“. Generationskonstrukte in der zeitgenössischen Popliteratur. In: Der Deutschunterricht. Heft 5, Oktober 2000, S. 143-­‐
159. S. 157. In: Kraus, Stefanie: Sinnsuche und Identitätsproblem in Christian Krachts Romanen „Faserland“ und „1979“. S. 56 119 bleibt in seiner Sinnsuche, da er in seinen Handlungen eingeschränkt ist, nur noch seine Orientierungslosigkeit entgegenzuhalten.392 Die Figur des Erzählers ist also von seiner Perspektivlosigkeit und der Unsicherheit geprägt, die sich beispielsweise auch in seiner Ausdrucksweise bemerken lässt. Er scheint in seiner Aussage und seinem Ausdruck stets unsicher zu sein, wie man an folgendem Beispiel erkennen kann: „Ich meine, ich kenne das, was unter der Insel liegt oder dahinter, ich weiß nicht, ob ich mich da richtig ausgedrückt habe. Ich kann mich natürlich auch täuschen.“393 Weiterhin zeigt sich der Ich-­‐Verlust des Protagonisten in der Diffusion seines Werksinns, also einer Störung der Leistungsfähigkeit. Er ist nicht fähig, sich auf eine Berufstätigkeit zu konzentrieren, und geht demzufolge auch keiner Erwerbsarbeit nach. Außerdem fallen ihm bereits einfachste Dinge schwer. Dies äußert sich dann auch in seiner Passivität, die sich sogar in seiner Art zu reisen manifestiert. Dabei ist er nie wirklich wach und zu keinem Zeitpunkt nüchtern. So nickt er beispielsweise auf der Toilette des ICEs ein, wird in Heidelberg ohnmächtig und erwacht dann erst wieder in München auf einer Wiese. Der Ich-­‐
Erzähler befindet sich fast immer im betrunkenen Zustand, weswegen er dann auch des Öfteren an der „Genauigkeit seiner Wahrnehmungen“ zweifelt und dies dann auch zu den oben genannten Schwierigkeiten in der Ausdrucksweise führt. Hingegen scheint sein Geruchssinn dann doch etwas verlässlicher zu sein, denn oft werden seine Erinnerungen an die Vergangenheit durch einen gewissen Geruch hervorgerufen. Nach Virag nimmt er also nur die „Oberfläche und den Schein der Welt“ wahr.394 Dazu passt dann auch, dass er sich zu Beginn seiner Reise noch an einem Scheinwertesystem der Konsumgesellschaft orientiert, sich diesem ohne Schwierigkeiten anpasst und so eine Scheinidentität konstruiert hat. Er ist modisch gekleidet, fährt einen teuren Wagen, flirtet mit schönen Mädchen und konsumiert Markengetränke der gehobenen Klasse wie Roederer-­‐Champagner. Zu diesem Zeitpunkt scheint er sich auch noch einigermaßen glücklich zu fühlen, 392 Vgl. Kraus, Stefanie: Sinnsuche und Identitätsproblem in Christian Krachts Romanen „Faserland“ und „1979“. S. 56f 393 Kracht, Christian: Faserland. S. 15 394 Vgl. Virag, Attila: Ich-­‐Konzepte in deutschen Romanen aus den letzten Jahrzehnten. S. 31 120 bis Karin ihn verlässt und er wieder mit seiner inneren Leere allein und in betrunkenem Zustand zurückbleibt. So zeigt er sich dann auch gleich zu Beginn von seiner eigenen Szene entfremdet, nimmt sein Umfeld insgesamt als oberflächlich und langweilig wahr und empfindet den gesamten Aufenthalt als ernüchternd. Aus diesem Grund beschließt er dann auch Sylt hinter sich zu lassen und zu seiner Sinnsuche aufzubrechen. Ein Hunger nach neuen Erfahrungen und Erlebnissen lässt sich bei Krachts Protagonisten allerdings nicht feststellen.395 Ihn interessieren weder Partys396 noch Drogen397 und heruntergekommene Bars kann er überhaupt nicht leiden398. Obwohl er sich bereits zu diesem Zeitpunkt erheblich von dieser Welt, die genau wie er von Langeweile und Orientierungslosigkeit geprägt ist, entfernt hat, hält er sich während seiner gesamten Reise in diesen Kreisen auf, zieht von einer Party zur anderen und ergibt sich seinen Rauschzuständen.399 In Hamburg konsumiert er dann trotz seiner Abneigung erstmals die Droge Ecstasy, welche den Prozess der gestörten Selbstwahrnehmung natürlich noch verstärkt und zum weiteren Ich-­‐Verlust beiträgt. So sieht er beispielsweise auf einmal im Spiegel ein fremdes Bild seiner selbst, das ihn mit riesengroßen Pupillen anstarrt. In diesen Zusammenhang passt dann auch das Erbrechen, das allerdings nicht wirklich als psychosomatische Reaktion gewertet werden kann, sondern eher als Protest gegen die verhasste Welt verstanden werden muss: „mit dem Nahrungsbrei ergießen sich Ströme von Verachtung auf die Welt“.400 Aber auch in Hamburg endet die Begegnung mit Nigel in einem desillusionierten Verlassen der Station und einem Aufbruch zur nächsten Etappe. 395 Vgl. Kraus, Stefanie: Sinnsuche und Identitätsproblem in Christian Krachts Romanen „Faserland“ und „1979“. S. 62 396 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 32 397 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 37 398 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 31 399 Vgl. Kraus, Stefanie: Sinnsuche und Identitätsproblem in Christian Krachts Romanen „Faserland“ und „1979“. S. 62f 400 Hüetlin, Thomas: Das Grauen im ICE-­‐Bordtreff. In: Der Spiegel 20.02.1995. S. 23-­‐24. S. 24. In: Virag, Attila: Ich-­‐Konzepte in deutschen Romanen aus den letzten Jahrzehnten. S. 31 121 Später protestiert der Protagonist dann auch gegen die Scheinwelt und den „Markenartikel-­‐Fetischismus“401, indem er beispielsweise in Frankfurt seine Barbourjacke verbrennt. Nach Aussage von Ehrenberg „reißt der respektlose Ich-­‐Erzähler dem Bürgertum die Maske vom Gesicht, und mit der Vernichtung der Barbourjacke vergreift er sich an d[en] Symbolen der Konsumgesellschaft“402. Allerdings befreit er sich noch nicht endgültig von diesem identitätsstiftenden Symbol, da er kurze Zeit später Alexanders Barbourjacke entwendet, der ihn überhaupt nicht mehr zu kennen scheint. Die Barbourjacke kann symbolhaft als eine Art Kostümierung gesehen werden, hinter der sich der Ich-­‐Erzähler in seiner inneren Leere zu verstecken vermag. Auch die modische Kleidung kann als Teil dieser Kostümierung, aber auch als „altes Symbol für gesellschaftliche Anerkennung und Ich-­‐Bezogenheit“ gedeutet werden.403 In Heidelberg ist er dann bereits zum völligen Außenseiter geworden, besonders da er hier nicht einmal alte Freunde besuchen kann. Er hält sich allerdings mit einigen Bekannten auf, die seine Unsicherheit und Naivität ausnutzen und versuchen, erniedrigende Spiele mit ihm zu treiben. Nach seinem Partybesuch bei Eugen erleidet er sogar einen Zusammenbruch, als er Nigel und Nadja mit Heroinnadeln im Arm entdeckt. Auf der folgenden Rave-­‐Party ist er zusammen mit Rollo nun vollends in die Position des gesellschaftlichen Außenseiters geraten, da er sich nun auch nicht modisch integrieren kann und die modischen Symbole der Rave-­‐Kultur ignoriert. Im Verlauf der Reise wird er immer öfter von Freunden und Bekannten ignoriert oder nicht erkannt, was ein Zeichen für den allmählichen Ich-­‐Verlust oder die Selbstauslöschung sein könnte. Schließlich kann er sich sogar nicht mehr in die soziale Gruppe integrieren, der er eigentlich angehört, wie das Beispiel von Rollos Party vor Augen führt. Der Ich-­‐Erzähler observiert hier einsam und allein 401 Vormeg, Christoph: Trübe Erden. „Faserland“, Phrasenkatalog eines vermögenden Twen. In: Süddeutsche Zeitung 80. 05.04.1995. S. 902. In: Virag, Attila: Ich-­‐Konzepte in deutschen Romanen aus den letzten Jahrzehnten. S. 31 402 Ehrenberg, Birgit: Nachdenken als Klischee über sich selbst. In: Hamburger Abendblatt 113. 16.05.1995. S. 7. In: Virag, Attila: Ich-­‐Konzepte in deutschen Romanen aus den letzten Jahrzehnten. S. 31 403 Vgl. Virag, Attila: Ich-­‐Konzepte in deutschen Romanen aus den letzten Jahrzehnten. S. 32 122 die Oberflächlichkeit der gut situierten Menschen, während er selbst nun weniger Wert auf das äußere Erscheinungsbild zu legen scheint: „Ich fühle mich zwar etwas schlechter angezogen als alle anderen, aber eigentlich macht es ja doch nichts.“ 404 Hier äußert sich dann die Diffusion der Beziehungsfähigkeit. Es wird immer sichtbarer, dass der Protagonist von Anfang an große Schwierigkeiten hatte, sich auf Beziehungen, sei es zu Freunden und Bekannten oder auf intime Weise zu Frauen, einzulassen und diese zu wahren. Dies lässt sich daran erkennen, dass er nur oberflächliche Beziehungen selbst zu seinen engsten Freunden unterhält, da er eigentlich kaum etwas über sie weiß. So scheinen beispielsweise ernste, tiefer gehende Gespräche in seinem Umfeld nicht mehr möglich zu sein. Themen sind lediglich solche über Kleidung und das Wetter.405 In seiner Identitätsdiffusion kritisiert er dann auch verstärkt seine Freunde und gibt schließlich die Freundschaft mit ihnen auf. Im weiteren Verlauf seiner Reise muss der Ich-­‐Erzähler dann auch erkennen, dass sich „seine Hoffnungen auf Identitäts-­‐ und Sinnfindung an den verschiedenen Stationen seiner Reise nicht erfüllen“.406 Auch kann er zu keiner seiner weiblichen Bekanntschaften eine intime Beziehung aufbauen, was verstärkt darauf hinweist, dass er in seiner Beziehungsfähigkeit erheblich gestört ist. Des Weiteren wird er immer stärker mit seiner inneren Leere konfrontiert, je größer die Distanz zu dem Scheinwertesystem und der Konsumgesellschaft wird.407 So ist es nicht verwunderlich, dass die Distanzierung von seinem ehemaligen Wertesystem allmählich dann auch zur Auflösung seiner Identität führt. Eben auf dieser Party ist dann auch Karin anwesend, die ihn zu Beginn seiner Reise verlassen hat. Allerdings kann er nicht einmal oberflächlichen Kontakt zu ihr aufnehmen, was wiederum auf die fortschreitende Distanzierung von dieser Scheinwelt und seine Beziehungsunfähigkeit beweist.408 Stattdessen sinniert er über seine Erlebnisse auf der Insel Mykonos: „Nur erkenne ich das erst jetzt, Jahre später, in diesem Augenblick, auf der Party am Bodensee, neben Rollo 404 Kracht, Christian: Faserland. S. 140 405 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 13f 406 Vgl. Kraus, Stefanie: Sinnsuche und Identitätsproblem in Christian Krachts Romanen „Faserland“ und „1979“. S. 64 407 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 128 408 Vgl. Virag, Attila: Ich-­‐Konzepte in deutschen Romanen aus den letzten Jahrzehnten. S. 32 123 stehend. Es hat etwas mit dem Dampfer zu tun, mit dem Stillstehen, während der Dampfer selbst weiterfährt [...]“409 Er glaubt, in diesem Stillstehen seine Existenz gefunden zu haben, wobei diese Sehnsucht nach dem Stillsein auch als Sehnsucht nach einem Entkommen aus der Welt, also nach dem Tod, gedeutet werden kann410 : „Es ist ein bisschen so, als finde man seinen Platz in der Welt. Es ist kein Sog mehr, kein Ohnmächtigwerden angesichts des Lebens, das neben einem so abläuft, sondern ein Stillsein.“411 Nach Hüetlin spiegelt sich im Selbsthass und der damit verbundenen Todessehnsucht des Ich-­‐Erzählers die bevorzugte Kunst der Dandys: die Auslöschung.412 In seinem Freund Rollo, der genau so leer ist wie der Rest der Welt der „Auserwählten“413, erkennt er sein eigenes Zukunftsbild, was das Verlangen nach einem Entkommen aus der Welt nur verstärkt, sodass er schließlich mit dessen Wagen die Grenzen des deutschen Landes verlässt und in die Schweiz fährt. Allerdings tritt der Protagonist selbst als Teil der sinnentleerten, von ihm abgelehnten Gesellschaft auf: „Die oberflächliche Lebenshaltung, Langeweile und Selbstinszenierung, die er bei seinen Bekannten immer wieder beklagt und die ihm die Sinnentleertheit seines Umfeldes immer neu vor Augen führt, werden für ihn kein Anlaß zur Selbstreflexion.“414 Diese Widersprüchlichkeit taucht dann auch in den verschiedensten Bereichen auf. So regt er sich beispielsweise über die Oberflächlichkeit der Gesellschaft auf, ist selbst aber nicht fähig, ernste Gespräche zu führen415. Er verabscheut Drogen, konsumiert jedoch in Hamburg selbst welche und ist aufgrund des enormen Alkoholkonsums selbst nur selten nüchtern.416 Weiterhin stören ihn die sinnfreien Beziehungen in seinem Umfeld417. Dabei kann er selbst keine Beziehungen aufbauen und noch nicht einmal die bestehenden zu seinen 409 Kracht, Christian: Faserland. S. 137 410 Vgl. Virag, Attila: Ich-­‐Konzepte in deutschen Romanen aus den letzten Jahrzehnten. S. 32 411 Kracht, Christian: Faserland. S. 137f 412 Vgl. Hüetlin, Thomas: Das Grauen im ICE-­‐Bordtreff S. 24. In Virag, Attila: Ich-­‐
Konzepte in deutschen Romanen aus den letzten Jahrzehnten. S. 32 413 Kracht, Christian: Faserland. S. 153 414 Kraus, Stefanie: Sinnsuche und Identitätsproblem in Christian Krachts Romanen „Faserland“ und „1979“. S. 64 415 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 14 416 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 37 417 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 149 124 Freunden aufrechterhalten.418 Zuletzt zeigt sich dies, als er seinen Freund in seiner schwersten Stunde alleine lässt und die Flucht in die Schweiz ergreift. Betrachtet man die Reise des Protagonisten und seine Erlebnisse und Erfahrungen insgesamt, so ist feststellen, dass bis zu diesem Zeitpunkt keinerlei Entwicklung im Verhalten des Ich-­‐Erzählers zu entdecken ist. Monotonie und Gleichförmigkeit bleiben bestehen, und er betrachtet die Welt weiterhin „durch ein Isolierglas aus Langeweile und Haß“419, wobei sich an den seltenen Reflexionen und der zunehmenden Desillusionierung doch eine minimale Veränderung erkennen lässt, die Hoffnung auf Besserung anlässlich der letzten Flucht in die Schweiz verspricht. Dort angekommen, scheint dieser Ort im Allgemeinen für ihn seine eigene Idealvorstellung zu verkörpern und steht also im Gegensatz zu Deutschland und der ihm verhassten Welt. So verändert er beispielsweise seine Lebensweise, verzichtet auf Alkohol und ernährt sich zum ersten Mal seit seiner Abreise von Sylt und dazu noch gesund: „Seit zwei Tagen wohne ich im Hotel Baur au Lac in Zürich. Morgens esse ich ein paar Spiegeleier mit Toast. Dazu trinke ich einen ausgepressten Grapefruitsaft und zum ersten Mal in meinem Leben Kaffee.“420 Erstmals erkundet er den Ort zu Fuß und lässt sich nicht dauernd chauffieren.421 Zudem versucht er auch das Rauchen aufzugeben, was ihm jedoch nicht gelingt, sondern sieht sich in der Lage, erstmals Rauchringe zu blasen.422 Weiterhin träumt er dann auch von einem Leben mit Isabella Rossellini in einer Berghütte und sucht in der Dunkelheit nach Thomas Manns Grab, das er leider nicht finden kann.423 Hier vergisst er dann auch erstmals seine geliebte Barbourjacke, was als eine Art Befreiung, ein Ausgang aus der verhassten Scheinwelt und die Befreiung von seiner Scheinidentität gelesen werden kann.424 418 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 35, S. 77f 419 Burger, Jörg: Faktenhuber auf Selbsterfahrungstrip. In: Süddeutsche Zeitung. 15.5.1995. In: Kraus, Stefanie: Sinnsuche und Identitätsproblem in Christian Krachts Romanen „Faserland“ und „1979“. S. 66 420 Kracht, Christian: Faserland. S. 147 421 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 147, S. 152 422 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 148f 423 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 156f 424 Vgl. Virag, Attila: Ich-­‐Konzepte in deutschen Romanen aus den letzten Jahrzehnten. S. 33 125 Schließlich findet Krachts Erzähler ein Boot am Zürichsee, dessen Besitzer er Geld gibt, damit er ihn zur Mitte des Sees rudert. Aufgrund des offenen Schlusses erfährt der Leser allerdings nicht, ob der Erzähler am anderen Ufer ankommt. Es kann jedoch angenommen werden, dass er im See, genau wie sein Freund Rollo, ertrunken ist, sich also selbst ausgelöscht hat. In diesem Zusammenhang kann dann auch der Ruderer als Charon gesehen werden, der die Toten gegen Entgelt über den Styx, den Fluss der Unterwelt, rudert. So scheint dem Ich-­‐Erzähler am Ende, nach Aufgabe seiner Scheinidentität, nicht anderes übrig zu bleiben als der Selbstmord, die Hoffnung auf Erlösung.425 Untersucht man die letzte Station des Ich-­‐Erzählers jedoch genauer, so lässt sich erkennen, dass sich an seiner „oberflächlichen Grundhaltung und Wahrnehmung“ auch in Zürich im Endeffekt nichts geändert hat.426 Er empfindet die Stadt als „sauber und appetitlich“427 und die Menschen erscheinen ihm sogar „auf eine ganz bestimmte Art attraktiver“428. Weiterhin achtet er sehr auf sein Äußeres und vergleicht sich selbst auch immer noch mit anderen Menschen, innerlich triumphierend, wenn er diesen stilistisch überlegen ist. Auch das Vorhaben, mit dem Rauchen aufzuhören, gibt er nach wenigen Augenblicken wieder auf. Sogar die Nachricht vom Selbstmord seines Freundes Rollo, den er möglicherweise hätte verhindern können, bringt ihn nicht dazu, in sich zu gehen, sondern ist nach kurzer Zeit und einem Glas Scotch wieder vergessen. Auch hier ist „keinerlei Erkenntnis über die Verfehltheit der eigenen Lebenshaltung“ festzustellen. Lediglich eine „äußere Distanzierung“ von seinem Umfeld und dem verhassten „Faserland“ ist in seinen Reflexionen zu bemerken, wenn er über ein Leben mit seinen Kindern in der Schweiz sinniert429.430 So wird auch in der Schweiz keine enorme physische oder psychische Veränderung erkennbar und die Zukunft des Protagonisten scheint ungewiss, wie sich an dem offenen Ende des Romans herauslesen lässt. Nach Krause ist hier auch keine Hinausdeutung 425 Vgl. Virag, Attila: Ich-­‐Konzepte in deutschen Romanen aus den letzten Jahrzehnten. S. 33 426 Vgl. Kraus, Stefanie: Sinnsuche und Identitätsproblem in Christian Krachts Romanen „Faserland“ und „1979“. S. 69 427 Kracht, Christian: Faserland. S. 147 428 Kracht, Christian: Faserland. S. 151 429 Vgl. Kracht, Christian: Faserland. S. 152f 430 Vgl. Kraus, Stefanie: Sinnsuche und Identitätsproblem in Christian Krachts Romanen „Faserland“ und „1979“. S. 70 126 auf den Selbstmord des Ich-­‐Erzählers zu interpretieren, sondern im Gegenteil: Obwohl der Protagonist sich durchaus vorstellen kann, in der Schweiz zu leben, bringt die Überschreitung der Grenze für ihn selbst kein Überdenken seiner Haltung. Auch ist bei genauerer Betrachtung keine Verzweiflung über seine sinnlose Existenz oder ein einschneidendes Ereignis spürbar, das in ihm den Entschluss zum Selbstmord begründen könnte.431 In diesem Zusammenhang lässt sich dann auch die Bootsfahrt des Ich-­‐Erzählers nicht als Symbol eines physischen Todes, sondern als Überfahrt von einer Existenz in die nächste deuten. Demnach hätte die Hauptfigur bei Erreichen der Mitte des Sees nicht den Freitod erreicht, sondern verharre „zwischen der zurückgelassenen Vergangenheit und der noch unbekannten Zukunft“ und sei somit wieder am Ausgangspunkt ihrer Reise angelangt.432 Die Reise durch das verhasste „Faserland“ hat den Protagonisten also seinem Ziel, nämlich das Finden einer sinnerfüllten Identität und eines Platzes in der Gesellschaft, gänzlich verfehlt. Mangels klarer Ideale und Vorstellungen scheint ihm die Fähigkeit abzugehen, eine Entwicklung oder Veränderung seiner Lebenshaltung zu durchlaufen. So muss Krachts Erzähler also „eingemauert in Einsamkeit“433 verbleiben, besonders da ihm eine Rückkehr in die verhasste Gesellschaft aufgrund seines Dranges nach Abgrenzung verwehrt bleibt. Seine Suche nach sich selbst erscheint zuletzt also als „eine Folge von Ersatzhandlungen“.434 431 Vgl. Kraus, Stefanie: Sinnsuche und Identitätsproblem in Christian Krachts Romanen „Faserland“ und „1979“. S. 72 432 Vgl. Freese, Peter: Die Initiationsreise. Studien zum jugendlichen Helden im modernen amerikanischen Roman. Tübingen 1998. S. 169f. In: Kraus, Stefanie: Sinnsuche und Identitätsproblem in Christian Krachts Romanen „Faserland“ und „1979“. S. 72 433 Hüetlin, Thomas: Das Grauen im ICE-­‐Bordtreff. In: Kraus, Stefanie: Sinnsuche und Identitätsproblem in Christian Krachts Romanen „Faserland“ und „1979“. S. 73 434 Vgl. Reents, Edo/ Weidermann, Volker: „Ich möchte ein Bildverbot haben“ – Christian Kracht über die Askesen des Islam, die Tränen von Goldie Hawn und seinen neuen Roman „1979“, der morgen erscheint. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 30.09.2001. In. Kraus, Stefanie: Sinnsuche und Identitätsproblem in Christian Krachts Romanen „Faserland“ und „1979“. S. 73 127 2. Benjamin von Stuckrad-­‐Barre: „Soloalbum“435 In Benjamin von Stuckrad-­‐Barres Erstlingswerk „Soloalbum“, das 1998 erschien, steht ein junger Mann, der sich nach der Trennung von seiner Freundin Katharina in einem äußerst bedenklichen Zustand der Identitätsdiffusion befindet, im Fokus der Darlegungen. Im weiteren Verlauf dieser Arbeit soll dieses Werk als weiteres Beispiel der Popliteratur unter dem Aspekt der Identitätssuche und -­‐findung in der Popliteratur der 1990er Jahre anhand der Hauptfigur in diesem Roman näher untersucht werden. Auch bei diesem Beispiel wird zunächst der Autor Benjamin von Stuckrad-­‐Barre vorgestellt, bevor kurz auf die im Buch dargestellten Begebenheiten eingegangen wird. Interessant scheint es auch hier, die Rezeption des Romans innerhalb der Literaturlandschaft zu ermitteln und die Positionierung von Stuckrad-­‐Barres Erstlingswerk im Bereich der Popliteratur nach einigen Jahren der schriftstellerischen Tätigkeiten innerhalb dieser Strömung zu ergründen. Vor allem soll jedoch das Thema der Identitätssuche und -­‐findung im Mittelpunkt stehen, wobei auch hier einführend der aktuelle Lebensentwurf des Protagonisten betrachtet wird. Zu Zwecken der Charakterisierung werden zunächst der Protagonist und seine Familie, seine Ausbildung und finanzielle Lage, sein Umfeld, seine Freunde und Frauen wie auch seine Einstellung zu Körper und Geist beleuchtet, bevor der Protagonist als Dandy und Flaneur wahrgenommen wird. Des Weiteren befasst sich die Arbeit dann anhand des hier dargelegten Beispiels mit dem Thema der Identität und des Lebensentwurfs in den 1990er Jahren, wobei der Protagonist zunächst als Suchender in den Blick rückt. Hier erscheint zunächst der Ausgangspunkt von Bedeutung, an dem sich die Hauptfigur zu Beginn von Benjamin von Stuckrad-­‐Barres Werk „Soloalbum“ befindet und der sich im Wesentlichen von dem in Krachts Roman Dargestellten unterscheidet. Weiterhin werden dann seine Erfahrungen und sein Umgang mit verschiedenen Frauen und mit der Liebe und Sexualität dargelegt. 435 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. Köln 1998 128 Im weiteren Verlauf werden Aspekte wie Männlichkeit, Einsamkeit und Lebensart untersucht, die auf seiner Suche nach sich selbst wichtig erscheinen. Ferner werden die Probleme des Protagonisten auf dem Weg zur Identität beleuchtet, bevor auch hier mögliche Lösungen in Betracht gezogen werden. Abschließend soll dann der Zustand des Ich-­‐Verlustes, wie bereits im ersten Beispiel durchgeführt, ausführlich dargelegt werden. 2.1. Das Werk 2.1.1. Der Autor: Benjamin von Stuckrad-­‐Barre436 Benjamin von Stuckrad-­‐Barre wurde am 27. Januar 1970 als viertes Kind einer Pastorenfamilie in Bremen geboren. Er wuchs in Rotenburg auf und besuchte dort zwischen 1987 und 1990 das Gymnasium. Bereits seit 1993 arbeitet er als freier Autor und beginnt nach seinem Abitur 1994 das Studium der Germanistik in Hamburg. Nach dem Abbruch dieses Studiums absolviert er verschiedene Praktika bei taz, L’Age d’Or, NDR usw. 1995 folgt dann die Anstellung als Redakteur beim Rolling Stone in Hamburg, 1996 als Produktmanager bei Motor Music ebenfalls in Hamburg. 1997 zieht Stuckrad-­‐Barre nach Köln um, wo er in der Redaktion der ARD-­‐Sendung „Privatfernsehen“ arbeitet. 1998 ist er als Autor für die Harald-­‐Schmidt-­‐Show und als freier Mitarbeiter für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften, wie FAZ, Die Woche, Stern usw. tätig. In dem Jahr erscheint dann auch sein Debüt „Soloalbum“, wodurch er einen gewissen Grad an Bekanntheit erreicht. Es folgen die ersten Lesungen und 1999 der Umzug nach Berlin. Im selben Jahr erscheinen auch die Sammlung „Remix 1“, die Erzählung „Livealbum“ und das Hörbuch „Liverecording“. Die umfangreiche Lesereise durch Deutschland wird bis 2000 fortgesetzt, und er erscheinen die Erzählungssammlung „Blackbox“ und das Hörbuch „Bootleg“. Daraufhin startet erneut eine weitreichende Lesereise. 2001 wird dann „Transkript“ und ein weiteres Hörbuch „Voicerecorder“ veröffentlicht. Gleichzeitig arbeitet Stuckrad-­‐
436 Nach http://www.stuckradbarre.de/ und http://de.wikipedia.org/wiki/Benjamin_von_Stuckrad-­‐Barre 129 Barre als Moderator der MTV-­‐Sendung „Lesezirkel“, bevor Ende des Jahres 2001 die Sammlung „Deutsches Theater erscheint“. Im darauffolgenden Jahr siedelt er nach Zürich um und wird „writer in residence“ bei der Zeitung „Weltwoche“. 2002 folgt dann wieder eine Lesereise und es werden die CD „BvS-­‐B trifft Johannes Brahms“ und die Hörfassung „Deutsches Theater“ veröffentlicht. Zwischen 2002 und 2003 entsteht dann der NDR-­‐Dokumentarfilm „Ich war hier“ und im Anschluss die Verfilmung des Erstlingswerks „Soloalbum“ und der Kinostart. Im Frühjahr 2004 erscheinen eine weitere Textsammlung „Festwertspeicher der Kontrollgesellschaft – Remix 2“ und das dazugehörige Hörspiel. Eine weitere Lesereise schließt sich an und Ende des Jahres die Herausgabe des Hörbuchs „Poesiealbum Udo Lindenberg“. Im selben Jahr sendet der WDR den Porträtfilm „Ruhm und Rausch“ von Herlinde Koelbl, der über Stuckrad-­‐Barres Aufenthalt in der Entzugsklinik und die Folgen seines Entzugs detailliert berichtet. Das Bekanntwerden seiner jahrelangen Kokainsucht schadet seinem Ruf als medienwirksamer Autor nachhaltig. 2005 wird für das Schweizer Fernsehen die neunteilige TV-­‐Serie „Stuckrad bei den Schweizern“ ausgestrahlt, und im September desselben Jahres erscheint das Buch „Was.Wir.Wissen.“. Auch hier folgt wieder eine Lesereise Ende des Jahres 2005. 2006 zieht Stuckrad-­‐Barre nach Frankfurt am Main um, wo er die Sendung „Nightline“ beim Radio-­‐Sender You-­‐Fm moderiert. Weiterhin arbeitet er an der Jubiläumsausgabe der Zeitschrift „Tempo“ mit. Nach seinem erneuten Umzug nach Berlin arbeitet er zusammen mit Helmut Dietl an einem Drehbuch für einen Kinofilm. Zwischen 2006 und 2007 folgt dann die Lesereise zu „Die Werkshow“, bevor dann 2008 eine Neuausgabe von „Deutsches Theater“ und die Lindenberg-­‐
Sammlung „Am Trallafitti-­‐Tresen“ erscheint. Ab 2008 arbeitet er außerdem exklusiv für Zeitungen des Springer-­‐Verlages. Zwischen 2008 und 2009 entsteht das Buch „Auch Deutsche unter den Opfern“, das im Februar 2010 erscheint. In jenem Jahr unternimmt Stuckrad-­‐Barre zusammen mit Christian Ulmen eine Lesereise und Ende des Jahres eine weitere mit Jörg Thadeusz. Ab dem 16. Dezember 2010 moderiert Benjamin von Stuckrad-­‐Barre dann auch eine neue wöchentliche TV-­‐Show auf ZDFneo, die nach 20 Folgen endete und im Februar des Jahres 2012 wieder aufgenommen wurde. 130 Auch Benjamin von Stuckrad-­‐Barre hat sich durch seine Schreibart und seine doch recht exzessive Medienpräsenz die Nähe zu seinem jungen Publikum bewahrt. Weiterhin scheint er dem Vorwurf der Dienstleistung innerhalb der Unterhaltungsindustrie gerecht zu werden, besonders da er die erfolgversprechenden Inszenierungs-­‐ und Vermarktungsmechanismen der Popindustrie zu bedienen weiß und so auch alle Medienbereiche abdeckt, indem er Hörspielfassungen und Filme seiner Bücher, also ein Text-­‐Bild-­‐Sound-­‐
Ensemble, ein Kunstkonzept, produziert. Benjamin von Stuckrad-­‐Barre scheint jedoch anders als sein Kollege Christian Kracht diese Öffentlichkeit und den Ruhm eines Popstars zu genießen, was sich allerdings zu gewissen Zeitpunkten seines Lebens ins Negative verkehrte, wie man in dem Dokumentarfilm „Ruhm und Rausch“ zu seinem Drogenentzug verfolgen kann. 2.1.2. Der Roman: „Soloalbum“ – Einleitende Gedanken Das Erstlingswerk des jungen Schriftstellers Benjamin von Stuckrad-­‐Barre ist mit dem Titel „Soloalbum“ überschrieben, welcher der Musikindustrie entstammt und eine Platte bezeichnet, die von einem Künstler allein, also solo, aufgenommen wurde. Dabei impliziert diese Schaffensphase, dass es eine Zeit in der Karriere des Künstlers gegeben hat, in der dieser nicht allein zu Werke gegangen ist. So ist es besonders in der Musikbranche nicht ungewöhnlich, wenn ein Künstler nach dem Ausscheiden aus einer Gruppe allein ein Album aufnimmt. In diesem Sinne könnte dieses Soloalbum den Übergang von der Mitgliedschaft in einer Gruppe zu einem Solokünstler darstellen. Überträgt man dies auf den Roman, so stellt sogar der Erzähler selbst fest, dass er sich nach der Mitgliedschaft in einem Duo nun auf Solopfaden durch das Leben schlagen muss.437 Auch bezeichnet ein Solo im Musikjargon den Moment, wenn ein einziges Instrument ohne andere Begleitinstrumente spielt. Diese Deutung lässt sich hier in diesem Fall auch auf den Protagonisten übertragen, der nach der Trennung von seiner Freundin Katharina wieder alleine, ohne Begleitung auftreten muss. 437 Vgl. Mehrfort, Sandra: Popliteratur. S. 143 131 Das Wort „Album“ bezeichnet hingegen ein Sammelbuch für Fotos, Postkarten, Briefmarken oder Lieder u. Ä., also ein Sammelbuch, in dem hauptsächlich Erinnerungen festgehalten werden.438 Überträgt man dies auf den hier zu besprechenden Roman, so kann auch hier von einem Sammelbuch geredet werden, besonders da das Werk „aus Bildern, oft Einzelaufnahmen [besteht], die zusammen eine bunte Collage ergeben“.439 Dabei gestaltet sich ein Album meist auf ganz individuelle, subjektive Art und Weise, da jeder es nach seinen eigenen Wünschen und Vorlieben zusammenstellt. So lässt sich auch von Stuckrad-­‐Barres Roman behaupten, dass es sich hier um eine doch recht subjektive Momentaufnahme der späten 1990er Jahre und des Übergangs des Protagonisten von einem Zweiergespann zu einem Soloprojekt handelt.440 Wie bereits erwähnt wurde der junge, erfolgreiche Musikjournalist in Stuckrad-­‐
Barres Erstlingswerk „Soloalbum“ von seiner Freundin verlassen und muss nun lernen, mit der Trennung umzugehen, besonders da ihn die Ablehnung Katharinas kalt erwischt. Allerdings trägt er wohl selbst Mitschuld an diesen Ereignissen, denn er hat seine langjährige Freundin mehrfach hintergangen – Seitensprünge, die seiner Ansicht nach jedoch eher unwichtig waren. Nach dieser Trennung versucht der Protagonist allerdings, seine Exfreundin zurückzugewinnen oder sie zu vergessen – so ganz hat er sich noch nicht entschieden. Auch unternimmt er die üblichen Ablenkungsversuche, schaut fern, hört Musik – besonders Oasis, trifft Freunde, geht zu Partys, versucht seine körperliche Fitness aufzubereiten und entscheidet schließlich, in einer anderen Stadt sein Glück zu versuchen. 2.1.3. Zur Rezeption des Romans Durch den Bestseller „Soloalbum“, den Benjamin von Stuckrad-­‐Barre 1998 als sein Erstlingswerk veröffentlicht, wird der Autor innerhalb kürzester Zeit zum Idol der deutschsprachigen Popliteratur, besonders da seine Medienpräsenz 438 Vgl. Mehrfort, Sandra: Popliteratur. S. 142 439 Vgl. Mehrfort, Sandra: Popliteratur. S. 142 440 Vgl. Mehrfort, Sandra: Popliteratur. S. 142f 132 äußerst hoch ist. Vor allem ist er in den Medien vertreten, die in der Literatur eher am Rande existieren und eher dem Lifestyle-­‐Journalismus zuzuordnen sind. Die zahlreichen Lesungen des Autors, mit denen er seine neusten Werke präsentiert und bewirbt, sind immer gut besucht. Zu Beginn seines Erfolges waren noch Buchhandlungen für seine Veranstaltungen angemessen, 2000 mussten als Veranstaltungsort allerdings bereits kleinere Konzerthallen herhalten. Der Schriftsteller las sogar bereits auf dem dreitägigen Musikfestival „Rock am Ring“ in einem kleineren Konzertzelt aus seinen Büchern vor. Dies weist darauf hin, dass die Werke von Benjamin von Stuckrad-­‐Barre und vor allem sein Debüt „Soloalbum“ doch ein weites Publikum ansprechen, insbesondere eines, das sich bis zu diesem Zeitpunkt nur wenig oder überhaupt nicht der Literaturszene gewidmet hat.441 Dieses Medienereignis, das ein so weitreichendes „unliterarisches“ Publikum anlockt, hat natürlich ebenfalls die Aufmerksamkeit der Schreiberlinge aus den Stuben des Feuilletons aufhorchen lassen. Das Phänomen „Stuckrad-­‐Barre“ wurde also auch von der klassischen Literaturkritik aufgegriffen und ausgiebig diskutiert, ist er doch der Schreiber der wohl am meisten rezipierten Texte der Popliteratur. So lässt sich auch die „Konjunktur“ der Popliteratur zumindest teilweise auf den Erfolg Stuckrad-­‐Barres zurückführen.442 Jedoch ist in erster Linie die Literaturkritik dem Autor nicht immer durchweg positiv gestimmt. Besonders das Erstlingswerk „Soloalbum“ wurde zu diesem Zeitpunkt sehr häufig kritisiert. So wurde beispielsweise von einem „Helden der Pose“443 oder von „Geschmacksterrorismus“ gesprochen.444 Das Werk des bis dato unbekannten Autors wird so bereits in der ersten Kritik am 11.08.1998 bei „Spiegel online“ verrissen. Nicol Lubic überschreibt seine Rezension mit dem Titel „Der Meinungsmissionar“ und wirft dem jungen Popliteraten vor allem „Oberflächlichkeit und Nicht-­‐Reflexion“ vor. In der Druckversion des „Spiegels“ geht der Rezensent einen Schritt weiter und betitelt seinen Text „Amoklauf eines Geschmacksterroristen“. Weiterhin heißt es, der Debütroman Stuckrad-­‐Barres 441 Vgl. Malecha, Tom: Ich bin viele. S. 36 442 Vgl. Malecha, Tom: Ich bin viele. S. 36 443 Radisch, Iris: „Mach den Kasten an und schau. Junge Menschen unterwegs: Die neue deutsche Popliteratur reist auf der Oberfläche der Welt.“ In: Die Zeit Nr. 42, 21.10.1999. In: Malecha, Tom: Ich bin viele. S. 36 444 Vgl. Malecha, Tom: Ich bin viele. S. 36 133 sei langweilig und nicht sonderlich klug. Im „Stern“ erscheint dagegen am 10. September 1998 eine doch positiver gestimmte Rezension von Christian Seidl. Er zumindest beurteilt den Roman als erstaunlich und misst ihm sogar das Potential bei, „repräsentativ für die Odyssee eines jungen Provinzlers durch die Wirrungen der modernen Großstadt“ zu sein. Es folgt im September noch ein weiterer Verriss des Journalisten Raul Zelik in der Zeitung „Junge Welt“, bevor weit ausgeglichenere Rezensionen überwiegen. 445 Vor allem wird aber deutlich, dass der Ton der meisten Kritiken dann doch eher subjektiv ist, beispielsweise in den Kritiken der folgenden Zeitungen: So weist etwa fast der gesamte Text der „Welt“ einen sarkastischen, schon beinahe verhöhnenden Nachhall auf, wie die nachstehende Textstelle belegen mag: „Vielleicht wird Benjamin ... ja irgendwann erwachsen. Was nicht altklug klingen soll oder so naiv, daß dann alles gut wird ...“ (Z. 139-­‐144). Auch die Kritik im „Spiegel“ wirkt subjektiv, wenn beispielsweise die Wirkung auf den Leser eingeschätzt oder der Schreibstil als „schnoddrig“ beurteilt wird, aber vor allem eine äußerst negative Wortwahl getroffen wurde. Auch im „Prinz“ wird Stuckrad-­‐Barres Werk sehr subjektiv beurteilt, jedoch auf eine eher positive Art und Weise, da sich keine negativen Aspekte finden lassen. Im „Stern“ dagegen werden dann Argumente beider Seiten dargestellt, wobei die positiven Stimmen wirkungsvoller erscheinen als die negativen, so zum Beispiel bei folgenden Urteilen: „Wer in seinem Alter kann schon Harry Rowohlt als Klappentext-­‐Rhapsoden präsentieren oder für die Premieren-­‐Lesung Elke Heidenreich als Dialog-­‐Partnerin gewinnen?“ (Z. 90-­‐95), „[...] entschied sich für die vornehmste Lösung – und schrieb einen Roman.“(Z. 13-­‐15) oder „[...] und malt auf diese Weise ein um so schärferes Bild von Mode und Verzweifelung in den späten 90ern.“ (Z. 57-­‐62) Das Negative wird in dieser Kritik dann als eher nebensächlich dargestellt: „Klar rennt er mit seiner Verachtung für [...] reihenweise offene Türen ein. Dies aber pointiert und stets im Dienst der Story.“ (Z. 75-­‐82) Nicht zuletzt lässt sich aber auch feststellen, dass die Kritiker in den Kultur-­‐ und Musikzeitschriften, wie beispielsweise „Spex“ oder „the gap“, wesentlich 445 Vgl.: http://fachdidaktikdeutsch.hu-­‐berlin.de/unterrichtsprojekt 134 freundlicher gesinnt waren als die Rezensenten der klassischen Feuilletons. Im Allgemeinen ändert sich jedoch im Laufe des Erscheinungsjahres der Tenor der Kritiken. Stuckrad-­‐Barres Buch verkauft sich gut, seine Lesereisen sind stets gut besucht und seine Präsenz in den Medien nimmt beständig zu. Zeitgleich wächst allerdings auch der Drang des Popdandys nach Selbstvermarktung, sodass er sogar zusammen mit seinem Schreiberkollegen Christian Kracht Werbung für das Bekleidungshaus Peek & Cloppenburg macht, was vielen Literaturkritikern zu unseriös anmutet. So verwundert es nicht, dass die Texte über Stuckrad-­‐Barre und die Politeraten im Allgemeinen in Sachen Polemik und Gehässigkeit allmählich nicht mehr zu übertreffen sind. Es geht nun nur noch selten um Literatur und seine Produkte, sondern meistens um die Selbstinszenierung der jungen Wilden und ihre Skandale.446 2.1.4. Positionierung des Romans im Bereich der Popliteratur Das Erstlingswerk Stuckrad-­‐Barres löste genau wie das Debüt seines Kollegen Christian Kracht Diskussionen über die Subjektivität von Literatur aus. Der britische Autor Nick Hornby und sein Roman „High Fidelity“ gelten als Vorbild für Stuckrad-­‐Barre und sein Debüt „Soloalbum“. Verwunderlich ist also auch nicht, dass sich gewisse Parallelen zu diesem Buch wiederfinden und der junge Autor des Öfteren des Plagiats bezichtigt wurde. Das Hauptziel Benjamin von Stuckrad-­‐Barres, der sein Popstarimage im Rahmen des popkulturellen Quintetts rund um Joachim Bessing nur allzu gründlich pflegt, ist die Unterhaltung, sodass er auch das Medium der Musik nutzt, um beispielsweise seine Lesungen aufzulockern. Dies spiegelt sich dann auch in der großen Nähe seiner Romane zur Popmusik wider, einem Merkmal der Popliteratur an sich. In „Soloalbum“ wird die Geschichte eines jungen Erwachsenen geschildert, der vor nicht allzu langer Zeit von seiner letzten Freundin verlassen wurde. Er muss sich nun also wieder in seinem Leben als Solist zurechtfinden und kann sein Leben nicht mehr auf einen anderen Menschen als sich selbst fokussieren. Der 446 Vgl.: http://fachdidaktikdeutsch.hu-­‐berlin.de/unterrichtsprojekt 135 gesamte Text verweist auf verschiedene Aspekte der Popkultur, so zum Beispiel auf die Musik, die eine sehr wichtige Rolle spielt, wie man auch an der Benennung der Kapitel nach Songtiteln erkennen kann. Weiterhin typisch für die Popliteratur ist die Beschäftigung mit einfachen, alltäglichen Themen, wie beispielsweise die Liebe, die berufliche Tätigkeit, das soziale Leben usw. und die damit verbundenen Konflikte, die im individuellen Alltag zum Ausdruck kommen. Auch erscheint der Ich-­‐Erzähler recht oberflächlich, wenn er seine Vorliebe für Markenanzüge ausbreitet und auch ansonsten recht eitel zu sein scheint oder er kaum tiefer gehende Beziehungen zur Familie, zu Freunden oder Frauen hegt. Die Menschen in seiner Umgebung werden nicht differenziert gezeichnet, sondern eher typisiert und in Kategorien eingeteilt, so zum Beispiel die Gruppe der Studenten, die nach verschiedenen Merkmalen als Typen entlarvt werden. Die verwendete Sprache ähnelt der Sprechweise in Krachts „Faserland“, wenn auch Stuckrad-­‐Barres Werk von einer noch stärkeren Mündlichkeit und Affinität zur Jugendsprache geprägt ist und durch die besondere Schreibart eine unmittelbare Realität suggeriert. Allerdings wird diese nicht wie bei Kracht durch die Wahl der Zeitform oder das Vorgaukeln einer Vertrauensbeziehung zum Leser hervorgerufen, sondern durch den Erzähler, der inmitten des Geschehens steht und „der fiktiven Wirklichkeit durch sein Erzählen seine subjektive Prägung verleiht“.447 Außerdem kommentiert der Erzähler fortwährend das Geschehen, sodass diese Wirklichkeit als die unmittelbare vor dem Auge des Lesers auftaucht. Die Sprache an sich ist relativ einfach gehalten, erinnert jedoch an die Sprache des Journalismus oder der Werbebranche und ist stellenweise stark der Jugend-­‐ oder Vulgärsprache entlehnt, wie bereits oben angedeutet wurde. Der Schreibstil wirkt in diesem Sinne auch leger, spontan und laut und gewinnt dadurch an Tempo. Des Weiteren kann man auch hier eines der Merkmale der Popliteratur erkennen: das Archivieren, das in diesem Fall allerdings als „Mittel zur Selbstverortung“ dient, denn „der Erzähler gewinnt durch die Aufstellung von 447 Vgl. Mehrfort, Sandra: Popliteratur. S. 144 136 Listen und die Tätigkeit des Sammelns Stabilität in seiner infolge der Trennung fragil gewordenen Konstitution“.448 In diesem Sinne entsteht in „Soloalbum“ ein eigenes Archiv, da der Ich-­‐Erzähler, der aufgrund seiner Tätigkeit als Musikjournalist es gewohnt ist, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden, ständig zwischen „Top“ und „Flop“ steht und so zwangsläufig eine ganze Reihe an Listen zusammenstellt, beispielsweise zu seinen Freunden, zu den Merkmalen einer Traumfrau oder zu seinen zehn Lieblingssongs zum Verlieben.449 Popmusik spielt nicht nur eine Rolle bei der Aufstellung von Listen, sondern dient auch der Gliederung des Romanes, wie bereits erwähnt. So ist jedes Kapitel nach einem Musikstück der britischen Gruppe „Oasis“ benannt. Ferner ist das Debüt Stuckrad-­‐Barres in zwei Seiten gegliedert, eine A-­‐ und eine B-­‐Seite, was den Roman wie eine Schallplatte wirken lässt. Weiterhin bezeichnend für die Popliteratur ist auch die Nähe zwischen dem Ich-­‐
Erzähler und dem Schriftsteller, die fälschlicherweise oftmals gleichgesetzt werden. Nichtsdestotrotz lassen sich gewisse Parallelen zwischen beiden feststellen, so die Auswahl der beruflichen Tätigkeit im Bereich der Medien oder die große Verehrung der Britpopband „Oasis“. Oftmals wird der Ich-­‐Erzähler, und durch den Gleichsetzungsmechanismus dann auch Benjamin von Stuckrad-­‐
Barre, als repräsentativ für eine ganze Generation angesehen – ein Fakt, gegen den sich Stuckrad-­‐Barre genau wie sein Kollege Christian Kracht vehement wehrt: „Als Symbol für ein Lebensgefühl stehe ich nicht zur Verfügung.“450 448 Vgl. Mehrfort, Sandra: Popliteratur. S. 147 449 Vgl. Mehrfort, Sandra: Popliteratur. S. 148f 450 Vgl.: http://fachdidaktikdeutsch.hu-­‐berlin.de/unterrichtsprojekt 137 2.2. Identitätssuche und -­‐findung im Roman 2.2.1. Der aktuelle Lebensentwurf des Protagonisten: Eine Charakterisierung 2.2.1.1. Der Protagonist und seine Familie In Stuckrad-­‐Barres Erstlingswerk „Soloalbum“ geht es um einen ebenfalls namenlosen Ich-­‐Erzähler, der also genau wie Krachts Protagonist des Minimums an Identitätszuweisung beraubt wurde. Zum Alter des Protagonisten kann man annehmen, dass er genau wie Krachts Erzähler Anfang bis Mitte Zwanzig ist und demnach als junger Erwachsener einzustufen ist, der seine Adoleszenzphase bereits hinter sich gelassen hat. Anders als Krachts Protagonist hat er den Einstieg ins Berufsleben geschafft, wobei ihm seine Arbeit an sich egal ist.451 In Bezug auf sein Aussehen wird deutlich, dass er selbst mit seinem Gewicht und seiner Figur sehr unzufrieden ist. Aus diesem Grund möchte er mit einer Diät und einem täglichen Joggingprogramm beginnen, was er jedoch nur sehr inkonsequent durchzieht. Er hält sein Vorhaben zwar immer mal wieder einige Tage durch, jedoch nie so kontinuierlich, wie er es sich vorgenommen hat. Trotz allem legt er sehr großen Wert auf sein Äußeres und die Kleidung, die er trägt, und setzt diesen Aspekt auch als Bewertungskriterium für die Menschen in seinem Umfeld ein. Aus seinen Erzählungen kann man außerdem herauslesen, dass er sich selbst und seine Meinung immer am wichtigsten erachtet und diese ständig als bestes Beispiel nimmt. Meinungen und Ansichten anderer Menschen interessieren ihn kaum bis überhaupt nicht. In seinem oft unreflektierten und abfälligen Gemecker kann man demnach seine Intoleranz gegenüber anderen Menschen und Dingen erkennen. Wahrscheinlich hat sich sein Charakter in diese Richtung entwickelt, da ihn in seiner Kindheit und Jugend niemand etwas anderes gelehrt hat, ihm also kein Kontra geboten wurde.452 Über seine Familie erfährt der Leser relativ wenig, sodass man daraus schließen kann, dass er nur wenig Kontakt zu ihnen hat und seine Familie ihm nicht sonderlich viel bedeutet. Allerdings besucht er sie nach langer Zeit an Weihnachten. „Familiäres oder Emotionales“ scheint hier 451Vgl. 2.2.4. Psychoanalytische Identitätskonzepte 452Vgl.:http://de.soloalbum.wikia.com/wiki/Charakterisierung_des_Protagonisten 138 also ausgegrenzt zu bleiben, Kontakt hat er somit höchstens zu seinem Bruder.453 Sein Zuhause bietet ihm also keine Stabilität. Er kann sich weder in dieses zurückziehen, noch scheint er wirklich in dieses integriert zu sein.454 Es entsteht also der Eindruck, dass er nichts in seinem Leben wirklich ernst nimmt, weder seine Familie, seine Freunde noch seine Arbeit oder seine ständigen Geldprobleme. Auch ist er nicht fähig, sich um sich selbst und seinen Ein-­‐Mann-­‐
Haushalt zu kümmern. Er schafft es nicht, einkaufen zu gehen und sein Geschirr zu spülen, weswegen er lieber außer Haus isst, was dann wiederum zu seinen finanziellen Problemen beiträgt: „Ich kaufe nur noch wenig ein. Manchmal noch Platten und Bücher, aber kaum noch Lebensmittel, man kann nicht von einem Haushalt sprechen. Ich frühstücke unterwegs, und abends nehme ich von irgendwo ein Brötchen mit und was zu trinken. Ich kann und will nicht mal abwaschen. Es geht überhaupt nicht. Ich sehe das schmutzige Geschirr, den Berg, ich gucke ihn an, stundenlang, vom Sofa aus. Seit kurzem hat der Geschirrberg nach meinem Empfinden übel zu riechen begonnen.“455 Zudem ist er auch nicht in der Lage, seine Wohnung zu reinigen Er besitzt nur wenige brauchbare Möbel in seiner Wohnung. Zumindest ist es ihm wichtig, jeden Tag frische Unterwäsche anzuziehen: „Mit meiner Wäsche klappt es gerade noch. Da müßte schon noch einiges passieren, bis ich das auch noch lasse. Nein, eine frische Unterhose und frische Strümpfe jeden Tag, daran führt kein Weg vorbei, sonst kann man es ja gleich lassen und im Bett bleiben.“456 Seine Lebensweise verschlimmert sich dann auch allmählich, als er sich nach der Trennung von Katharina in einem Zustand des Selbstmitleids und der Depressionen wiederfindet.457 Es lässt sich also eine gewisse Instabilität in den einfachsten Strukturen seines Daseins feststellen, sodass ihm die einfachsten Tätigkeiten schwerfallen und sein Verhalten eher an das eines Jugendlichen erinnert, der seinen Weg noch nicht gefunden hat. Hier ist dieses Verhalten dann eher symptomatisch als Ausdruck der reaktiven Identitätsdiffusion zu werten. 453 Vgl. Gast, Nicole: Die
Initiationsthematik im deutschsprachigen Pop-Roman der
Jahrtausendwende. Potsdam 2007. S. 35
454 Vgl. 2.2.4. Psychoanalytische Identitätskonzepte 455 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 154 456 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 154 457 Vgl.http://de.soloalbum.wikia.com/wiki/Charakterisierung_des_Protagonisten 139 2.2.1.2. Ausbildung und finanzielle Lage Nach seinem Schulabschluss hat sich der Protagonist in Stuckrad-­‐Barres „Soloalbum“ zunächst dafür entschieden, ein Studium zu beginnen. Allerdings hat er dieses bereits nach einem Semester abgebrochen, weil er nicht mit all der Zeit hat umgehen können.458 Grund für sein Scheitern ist vermutlich die Trägheit und Antriebslosigkeit, die dem Ich-­‐Erzähler inne ist und die dafür verantwortlich ist, dass er kein höheres Ziel anstrebt. Weiterhin bieten auch die zahlreichen Möglichkeiten der Identitätskonstruktion ein Risiko, sodass sich der Protagonist auch hier bereits in einem Zustand der Orientierungslosigkeit befindet und in dem Moment der Krise gefangen bleibt.459 Anders als Christian Krachts Hauptfigur geht der Ich-­‐Erzähler in „Soloalbum“ jedoch daraufhin einer geregelten Erwerbsarbeit nach. So arbeitet er anfangs bei einer Zeitschrift, wechselt dann aber die Arbeitsstelle, um bei einem Musikverlag in Hamburg anzufangen. Einen Grund dafür scheint es nicht zu geben, der Ich-­‐
Erzähler selbst sagt Folgendes zu dieser Veränderung: „Einfach so, damit mal wieder was passiert, denn eigentlich war es bei der Zeitschrift mehr als in Ordnung.“460 Auf der neuen Arbeitsstelle muss er eigentlich nur eine Woche im Monat richtig arbeiten, den Rest der Zeit kann er damit verbringen, „Einladungen abzusagen, Post zu öffnen, neue Platten zu hören und sie dann irgendwie zu finden“461. Die Arbeit hat für den Ich-­‐Erzähler anscheinend keine existenzielle Bedeutung mehr, sie ist verfügbar und kann nach Belieben gewechselt werden. Demnach macht sich auch bei Stuckrad-­‐Barres Protagonist die Diffusion des Werksinns bemerkbar, wenn er zwar einer geregelten Arbeit nachgeht, sich jedoch nicht über diese identifizieren kann. Obwohl das Geld aufgrund seines hohen Konsums in allen Lebensbereichen, aber hauptsächlich von Alkohol und Drogen, meistens knapp ist, kennt er keine echte Not. Geld an sich hat für ihn keinen wirklichen Wert, sondern wird als „virtuelles Etwas“ empfunden462: „Wenn das Geld weg ist, 458 Vgl. Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 207 459 Vgl. 2.2.4. Psychoanalytische Identitätskonzepte 460 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 17 461 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 17 462 Vgl. Malecha, Tom: Ich bin viele. S. 47 140 dann ist das Geld weg, so unsentimental sollte man das sehen.“463 Seinen Lebensunterhalt verdient er als Quereinsteiger in der Medienbranche. Seinen Job hat er, wie bereits erwähnt, nicht durch eine Ausbildung oder ein Studium gelernt, wie viele seiner Kollegen auch: „Wir können unseren Job alle nicht.“464, so seine Meinung über seine Kompetenz und die seiner Kollegen. So setzt sich nach Malecha auch sein Umfeld aus denselben jungen, ungelernten Menschen zusammen, wie er einer ist, und lässt ihn zu folgender Aussage kommen465: „Ich glaube, 70% der Herrschaften meines Alters arbeiten in einer Agentur.“466 Dabei scheint er zu keinem Zeitpunkt das Gefühl zu haben, einer richtigen Arbeit nachzugehen, wie er selbst dazu meint.467 2.2.1.3. Umfeld, Freunde und Frauen Nach einer vierjährigen Beziehung wurde der Ich-­‐Erzähler von seiner Freundin Katharina verlassen und bemerkt in diesem Moment, was sie ihm dann doch eigentlich bedeutet. In den vier Jahren zuvor scheint er sie nie wirklich schätzen gelernt zu haben, denn er hat sich kaum um seine Partnerin gekümmert, sie betrogen und sich zeitweise und immer mal wieder von ihr getrennt, was ihn nicht weiter störte. Er war immer der Meinung, dass sie wieder zusammenfinden würden, sodass er sich so verhalten konnte, wie er es wollte, ohne ernsthafte Konsequenzen zu befürchten. Bereits hier zeigt sich ein gewisser Grad an Beziehungsunfähigkeit. Nach dieser Trennung, welche bei dem Ich-­‐Erzähler eine reaktive Identitätsstörung auslöst, wird ihm allerdings bewusst, dass nun endgültig Schluss ist und es kein Zurück mehr gibt, was er nicht verkraften kann. So drehen sich seine Gedanken dann ständig darum, wie sehr er sie doch liebt und dass er sie nun mehr liebt als während ihrer Beziehung. Er selbst merkt dabei, dass dies nicht ganz richtig sein kann. Nach dieser Trennung befindet er sich zunächst wochenlang in einer Trauerphase, in der er sich für nichts, bis auf seine Lieblingsgruppen wie Oasis, 463 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 54 464 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 85 465 Vgl. Malecha, Tom: Ich bin viele. S. 47 466 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 230 467 Vgl. Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 84 141 Blur und die Pet Shop Boys, interessieren kann, da diese seine schwankenden Gefühle untermalen. Weiterhin verlässt er die Privatsphäre seiner Wohnung nicht, antwortet nicht auf Anrufe seiner Freunde und vegetiert so vor sich hin, bis schließlich seine Wohnungstür aufgebrochen wird. Er hat dabei große Mühe, in sein Leben zurückzukehren, konsumiert übermäßig viel Alkohol und versucht des Öfteren, seine Ex-­‐Freundin zurückzugewinnen. 468 Nach einiger Zeit versucht er sich mit Alkohol, Partys und Drogen abzulenken und wendet sich schließlich auch seinen Soloprojekten zu. Er versucht also fortwährend, neue Beziehungen aufzubauen, was ihm jedoch nicht gelingt. So enden die meisten seiner Eroberungen in One-­‐Night-­‐Stands, außer einer: Nadja. Mit ihr geht er eine kurzweilige Beziehung ein, die jedoch nach Vergleichen mit seiner Traumfrau „Katharina“ in die Brüche geht. Er fühlt sich schnell von ihr eingeengt und beendet schon bald die Beziehung. Auch nach einiger Zeit scheint seine Sehnsucht nach Katharina noch zu bestehen, was sich in den unzähligen Gedanken erkennen lässt, die er sich um ihre Person macht. Trotz allem versucht er von ihr loszukommen, indem er versucht, seine Wut auf sie zu verstärken oder eine gewisse Gleichgültigkeit ihr gegenüber zu bewirken, was ihm jedoch nicht gelingt. So bleiben die beiden dann doch in Kontakt. Um seinem Leben eine neue Wendung zu geben, entscheidet sich der Protagonist, an die Nordsee zu fahren, wo er dann auch Sport treibt und sogar flirtet. Allerdings reißt ihn ein Fax von seiner Ex-­‐Freundin wieder zurück in die Wirklichkeit und bewirkt einen erneuten Rückfall, der wieder nichts an der Trennung ändert. Nach diesem letzten negativen Erlebnis versucht der Ich-­‐
Erzähler sein Leben wieder in die Hand zu nehmen, sein Selbstwertgefühl zu steigern und sich abzulenken. Der Ich-­‐Erzähler scheint aus seinen Negativ-­‐
Erfahrungen zumindest etwas gelernt zu haben, sodass er versucht, sich eine neue Existenz aufzubauen.469 Gegen Ende des Romans muss der Protagonist dann die Stadt verlassen und in eine andere ziehen, was ihn dazu bewegt, ein neues Leben beginnen zu wollen. Er schafft es in der neuen Stadt sogar, seine Wohnung gemütlich einzurichten und eine einigermaßen gesunde Lebensweise zu verfolgen. So scheint er sich auf dem Weg der Genesung zu befinden, was sich 468 Vgl.http://de.soloalbum.wikia.com/wiki/Charakterisierung_des_Protagonisten 469 Vgl. 2.2.4. Psychoanalytische Identitätskonzepte
142 auch daran erkennen lässt, dass er sich schließlich mit der Tatsache abfindet, nicht mehr mit Katharina zusammenkommen zu können.470 In seinem Rückzug versucht der Protagonist, wie bereits weiter oben erwähnt, verschiedene Ablenkungsmöglichkeiten anzuwenden, die jedoch alle erfolglos bleiben. So gelingt es ihm beispielsweise nicht, sich neu zu verlieben, was eine immer tiefer greifende Vereinsamung mit sich bringt und den Protagonisten schließlich in die „soziale Abgeschiedenheit“ treibt.471 Außerdem fühlt er sich in seiner Lage von seinen Freunden unverstanden, obwohl er erkennt, dass er sich dem „völligen Beklopptsein“472 unaufhaltsam nähert. Natürlich begrenzt sich die Interaktion des Protagonisten auf eingeschränkte Kreise, in diesem Fall handelt es sich um die Mittelschicht der Großstadt. Mit Menschen, die der Unter-­‐ oder Oberschicht entstammen, hat er nur wenig zu tun. Fast täglich wird er mit den Problemen der Gesellschaft konfrontiert: „Ich mag die Schwulen und ihr Cafe ganz gerne [...], reden über alles, was von eigentlicher Bedeutung ist: Sex, Liebe, Kleidung, Frisur und Gewicht.“473 Als Neu-­‐Single, herausgerissen aus dem Milieu der Paare, betrachtet er seine Umwelt allerdings als skeptischer, reflektierender Außenstehender, der sich mit nichts wirklich identifizieren kann. So sinniert er beispielsweise über das tägliche Fernsehprogramm, sein eigenes Gewicht, Geld, Kleidung, aber auch über sein Umfeld, dessen Verhalten, Nichtigkeit, Gestörtheit und Ausgebranntheit. In diesem Zusammenhang analysiert er dann auch jede Person, die neu auf der Bildfläche erscheint, und ordnet sie in verschiedene Kategorien ein. So scheut er nicht davor, spöttisch Fehltritte aller Art, sei es modischer, sprachlicher oder musikalischer Natur, in seiner Umgebung zu beschreiben. Diese permanente Nörgelei ist jedoch nicht nur auf seine pessimistische Weltsicht zurückzuführen, sondern zeugt auch noch von Arroganz, die verhindert, dass er sich genauer mit sich selbst beschäftigen muss. Demnach reflektiert der Protagonist in „Soloalbum“ nur auf oberflächliche Art und Weise, wenn er beispielsweise sein 470Vgl.http://de.soloalbum.wikia.com/wiki/Charakterisierung_des_Protagonisten 471 Vgl. Nürnberg, Sylvia: Benjamin v. Stuckrad-­‐Barre: Soloalbum – Die Überschreitung der romantischen Liebessemantik. In: Mauerschau 1/2008. Unter: http://www.uni-­‐
due.de/imperia/md/content/germanistik/mauerschau/stuckrad-­‐
barre_liebessemantik.pdf. S. 34 472 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 97 473 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 69 143 Aussehen oder sein pubertäres Verhalten überdenkt. So ist auch er ein Teil der oberflächlichen Medienwelt und kann den Vorwurf an die Branche auch für sich selbst geltend machen.474 Da Musik Hauptbestandteil seines Lebens ist, verwundert es dann auch nicht, dass der Ich-­‐Erzähler seine zwischenmenschlichen Beziehungen je nach Musikgeschmack auswählt und sich selbst durch diese abzugrenzen versucht.475 Die Musik entscheidet somit über „Sympathie oder Antipathie. Gemeinsamkeiten werden über die Band Oasis definiert476. So charakterisiert er seine wenigen Freunde über die Musik. Martin, der ‚Oasis-­‐Fan‘, David, der ‚Platiktechnohörer‘ und Christian, von Beruf ‚Britpoper‘477 . So wie der Ich-­‐Erzähler Freundschaften mit einer Ikea-­‐Anleitung vergleicht478, handelt er auch seinen Liebeskummer nach einem Schema ab. Wahre Gefühle lassen sich hier nicht erkennen.“479 Auch hier zeigt sich also, dass der Protagonist in Stuckrad-­‐Barres „Soloalbum“ nicht zu echten Beziehungen fähig ist, diese also für ihn immer oberflächlich bleiben, da er nicht fähig ist, sich auf einen anderen Menschen einzulassen.480 2.2.1.4. Körper und Geist Einer der Grundwerte des Protagonisten in „Soloalbum“ scheint das gepflegte Äußere zu sein, sodass nur Menschen ernst genommen werden, die sich durch ihren Kleidungsstil und ihr Aussehen auszeichnen oder so schlau sind, dass dem Äußeren im Endeffekt keine größere Bedeutung mehr beigemessen wird.481 474 Vgl. Nürnberg, Sylvia: Benjamin v. Stuckrad-­‐Barre: Soloalbum – Die Überschreitung der romantischen Liebessemantik. S. 34 475 Vgl. 2.2.4. Psychoanalytische Identitätskonzepte 476 Vgl. Jung, Thomas: Die Geburt der Popliteratur aus dem Geiste von Mozart und MTV. Anmerkungen zu Benjamin von Stuckrad-­‐Barres Roman Soloalbum. In: Jung, Thomas (Hrsg.), Alles nur Pop? Anmerkungen zur populären und Pop-­‐Literatur seit 1990. Frankfurt am Main 2002, S. 151. In: Nürnberg, Sylvia: Benjamin v. Stuckrad-­‐Barre: Soloalbum – Die Überschreitung der romantischen Liebessemantik. S. 34 477 Vgl. Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 38f 478 Vgl. Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 39
479 Nürnberg, Sylvia: Benjamin v. Stuckrad-­‐Barre: Soloalbum – Die Überschreitung der romantischen Liebessemantik. S. 34f 480 Vgl. 2.2.4. Psychoanalytische Identitätskonzepte 481 Vgl. Schmitt, Sascha: Männlichkeit in Benjamin von Stuckrad-­‐Barres „Soloalbum“. Norderstedt 2008. S. 7 144 Dies zeichnet sich dann auch in seiner Einstellung zum Konsum ab, denn der Ich-­‐
Erzähler richtet sein Konsumverhalten und seinen Kleidungsstil nach ästhetischen Kriterien aus. Weiterhin sind ihm Menschen zuwider, die nützliche und qualitativ hochwertige Waren kaufen. Genau wie in „Faserland“ sind auch hier dem Protagonisten primär Markenartikel wichtig, und er „ist äußerst sensibel für die kleinen Unterschiede der Konsumwelt“: So spricht er beispielsweise von „H&M-­‐Mädchen“ oder von „IKEA-­‐Möbeln“.482 Auch scheint hier der Warenkonsum eng mit dem dazu passenden Lebensstil verbunden zu sein. Eine mögliche Erklärung hierfür könnte die ständige Rezeption von Werbung sein. Demnach ist es auch nicht verwunderlich, wenn die Werbung auch auf die Vorstellung von seinem eigenen Körper Einfluss nimmt: „So demonstriert beispielsweise ein Werbespot für Mode ‚die Vorstellung eines perfekt gestylten Körpers in seinen ‚race‘, ‚class‘ und ‚gender‘-­‐Konnotationen und vermittelt die Einsicht, dass das beworbene Produkt Teil dieses Codes ist‘483 .“484 Nach Malecha spielt Werbung weiterhin eine primäre Rolle, wenn es um die Etablierung oder Verfestigung der Idealvorstellungen hinsichtlich des menschlichen Körpers geht. Demnach werden mit diesen Idealen dann auch „Assoziationen wie soziales Prestige, beruflicher Erfolg und Gefühle des Glücks und der Zufriedenheit“ verbunden.485 Die werbewirksame Vorstellung von den „schönen und glücklichen Menschen“486 und die Fokussierung auf das Äußere wirkt sich gezwungenermaßen auch auf die Wahrnehmung des Ich-­‐Erzählers seiner Selbst aus, wie sich in den Reflexionen des Protagonisten in Bezug auf sein eigenes Aussehen erkennen lässt, wenn er beispielsweise meint, dass er zu dick und hässlich ist und auf Fotos immer schrecklich aussieht. Grund dafür ist Folgendes: „Das kommt daher, weil ich ja nun mal scheiße aussehe, ganz einfach. Denn Fotos sind Fotos, die bilden den Ist-­Zustand ab, da gibt es nichts dran zu rütteln [...]“487 So verbringt er auch einen Großteil seiner Zeit damit, über sein 482 Vgl. Malecha, Tom: Ich bin viele. S. 46 483 Marschik, Matthias: Kleines Glück: Botschaften der Werbung als Rückgrat des Selbst. In: Hepp Andreas/ Winter, Rainer (Hrsg.): Kultur – Medien – Macht – Cultural Studies und Medienanalyse. Opladen 1997. S. 220. In: Malecha, Tom: Ich bin viele. S. 46 484 Malecha, Tom: Ich bin viele. S. 46 485 Vgl. Malecha, Tom: Ich bin viele. S. 46 486 Malecha, Tom: Ich bin viele. S. 46 487 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 34 145 Aussehen nachzudenken, sich an oberflächlichen Scheinwerten der Gesellschaft zu orientieren und sich selbst zu kritisieren: „Zwei Drittel meiner Zeit sinne ich darüber nach, warum nun wieder der Pickel da (den ja alle pausenlos anstarren, das ist sicher!) und die Haare nicht dort und warum der Hintern so und nicht so in der Hose steckt, und wenn ich den Kopf senke, kann ich die Kinne zählen, jedes Jahr eins mehr.“488 So ist es dann auch nicht verwunderlich, dass auch sein Aussehen schuld an der Trennung von Katharina ist. Ihr Neuer sieht in seinen Gedanken sehr viel besser aus und plagt sich nicht mit kleinen Schönheitsfehlern herum: „Einziehen [des Bauches] nützt auch nichts, da ist zuviel Masse, da muß ganz viel weg, wenn das erst weg ist, dann ist sie auch wieder da, logisch, das hat miteinander zu tun, der Neue, ach, sie hat ja ganz bestimmt einen Neuen, so eine Frau wird nicht ein Wochenende in Ruhe gelassen, zack, der Nächste, und bald hat sie mich vergessen, obwohl ich der beste war, für sie allemal, aber er ist bestimmt Sportler, und sie freut sich gerade auf und an seinen Muskeln, während ich hier sitze, und mein Bauch schwappt, und es ist zum Kotzen.“489 Der Protagonist ist der Überzeugung, dass sich sein Leben schöner und besser gestalten würde, wenn er abnehmen würde, und leidet stellenweise sogar „an dem Zwang zur körperlichen Selbstdisziplinierung“490: „Ich meide Aufzüge und mache den ganzen Terror mit, den die Frauenzeitschriften aussäen. Ich bin unglücklich. Ich stehe vor dem Spiegel, strecke den Bauch raus und lege das Kinn so auf die Brust, daß ich auch garantiert mindestens der mit den drei Kinnen bin. Sind sogar vier. Wenn mich jemand in den Arm nimmt, das passiert ja trotz allem noch manchmal, rein freundschaftlich, zucke ich zusammen und spanne die Muskeln an. Naja, was heißt Muskeln. Jede Mahlzeit ist von Selbsthaß begleitet.“491 Der Protagonist scheint alles in allem ein schlechtes Verhältnis zu seinem Körper zu haben, da er keinen besonderen Wert auf seine Gesundheit legt, sich so zum Beispiel größtenteils schlecht ernährt, viel zu viel Alkohol trinkt und Drogen konsumiert. 488 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 35 489 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 55 490 Malecha, Tom: Ich bin viele. S. 46 491 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 79 146 Die Beschränkung auf den äußerlichen Schein und die hohe Bewertung desselben begrenzt sich jedoch nicht nur auf die eigene Person, sondern weitet sich auf das Umfeld des Protagonisten aus. Die Menschen werden nach ihrem Erscheinungsbild eindeutig in Kategorien eingeteilt und dies meistens in negativer Hinsicht, „so etwa der ‚Theologe‘, der aufgrund von Aussehen und Auftreten als solcher identifiziert wird492, die schlecht aussehende und zudem noch ‚furchtbar ungebildete’493 Arbeitskollegin, Katharinas Eltern ‚in ihren Regenjacken und Hawaihemden’494, die sich von der Wahrsagerin das Geld aus der Tasche ziehen lassen, oder die ‚bekifften Sweatshirt-­‐Doofies’495 auf der Gartenparty“496. Weiterhin spielen auch bestimmte Marken eine große Rolle, wenn es darum geht, Menschen über ihr Äußeres zu definieren. So ist beispielsweise die Rede von „Aldi-­Menschen“497 oder von einer Frau, die sich als Nichte des „größten Willi-­Bogner-­Abnehmers in der Schweiz“498 präsentiert. Der Ich-­‐Erzähler bewertet diese Erlebnisse selbst mit dem Kommentar „was es so für Kategorien gibt“499. Neben den Marken, Verhaltensmustern und den Klischees ist auch die Musik als Beschreibungs-­‐ und Bewertungskriterium von Bedeutung, wie sich in folgendem Beispiel feststellen lässt: „Sie hört gerne Reggae. Scheiß Pearl Jam findet sie ‚superintensiv‘, auf ihre CDs von Tori Amos und PJ Harvey hat sie mit Edding geschrieben ‚♀-­Power rules‘, selbst einem Comeback von Ina Deter stünde sie aufgeschlossen gegenüber.”500 Durch das Benennen der verschiedenen Bandnamen soll demnach ein bestimmtes Bild dieser Frau gezeichnet und dem Leser vermittelt werden. Dieselbe Vorgehensweise des Protagonisten findet sich dann auch bei der Beschreibung eines Gartenparty-­‐Gastes wieder: „In seiner Hand: Eine alte Faith-­ 492 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 81f 493 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 88 494 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 177 495 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 216 496 Schmitt, Sascha: Die Hauptfigur in Benjamin von Stuckrad-­‐Barres „Soloalbum – ein typischer Vertreter der Generation Golf nach Florian Illies. Norderstedt 2003 S. 7f 497 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 34 498 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 212 499 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 212 500 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 30 147 No-­More-­CD. Auf seiner Hose steht mit Edding: ‚Leben ist wie Zeichnen ohne Radiergummi‘. In seinem Gesicht haben sich 10 Jahre Haschisch und ca. 28 Jahre Langeweile eingefräst.“ [...] „Bevor ich dann vielleicht doch die erste richtige Schlägerei in meinem Leben verantworten und auch durchführen kann, kommt gerade noch rechtzeitig eine Frau mit einem samtenen Wickelrock und sagt ‚Spiel doch mal die Kruder & Dorfmeister‘. Das ist so ein Satz wie ‚Na, wie geht’s‘ oder ‚Das Wetter könnte auch besser sein‘ oder ‚Aldi ist scheiße, bis auf den Champagner, also der ist schon super!‘ – das kann man immer sagen. Platten wie eben sie oder auch Portishead, Daft Punk, Massive Attack oder so sind ein echtes Problem – gute Musik, aber eben doch von allen so gnadenlos gerngemocht, dass man wirklich wieder dieses gymnasiale Abgrenzungsproblem aufkeimen spürt: Die sind blöd, die können also auch keine gute Musik hören. Und Umkehrschluß: Dann ist ja vielleicht doch die Musik doof?“501 Wie anhand dieses Textauszuges zu erkennen ist, werden Menschen oder ganze Gruppen von Menschen in „Soloalbum“ anhand verschiedener Marken oder ihres Musikgeschmacks beschrieben oder beurteilt. Allen oben erwähnten Figuren ist gemeinsam, dass sie einer soziologischen Gruppierung, hier der Gruppe der Alternativen, zugehören und verschiedene Dinge aus einer Zugehörigkeit heraus anhäufen. Marken und Musik sind in diesem Fall für den Protagonisten also auch eine Frage von Geschmack und Stil502 und dienen dem Protagonisten der Einordnung seiner Mitmenschen und der Distinktion seiner selbst von diesen.503 2.2.1.5. Der Protagonist als Dandy und Flaneur Genau wie in Christian Krachts „Faserland“ tritt der Protagonist in „Soloalbum“ zeitweise als Dandy auf. In diesem Fall sind allerdings weniger die finanziellen Mittel ausschlaggebend, besonders da der Protagonist in ständiger Geldnot ist. Grund dafür ist allerdings, dass er über seine finanziellen Mittel lebt, sein Geld für Kleidung, CDs und Drogen ausgibt und also aufgrund dieser kalkulierten 501 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 209 502 Vgl. Schmitt, Sascha: Die Hauptfigur in Benjamin von Stuckrad-­‐Barres „Soloalbum – ein typischer Vertreter der Generation Golf nach Florian Illies. S. 9 503 Vgl. Kapitel 2.2.6. Ein identitätsstiftendes Element 148 Verantwortungslosigkeit in einer Notlage steckt. All die oben genannten Dinge dienen dem Protagonisten dazu, seine Maskerade, seine Fassade aufrechtzuerhalten. Kleidung ist für ihn also eine Art Panzer, von Armani oder –
wenn er pleite ist – aus dem Secondhandladen. Hier tritt dann das Dandyhafte des Ich-­‐Erzählers zu Tage, wenn ihm die äußere Erscheinung besonders wichtig ist und die übermäßige Verschwendung zum Tagesgeschäft dazugehört. Der Dandy an sich und so auch der Ich-­‐Erzähler kleiden sich nicht nach der Mode, sondern nach Stil. Der Protagonist liebt beispielsweise Anzüge und ist der Meinung, dass Anzüge „einfach das perfekte Kleidungsstück“504 sind. Auch dient ihm diese Kostümierung dazu, sich vor der Gesellschaft zu schützen und seine eigene Unsicherheit zu verschleiern. Der Dandy in Stuckrad-­‐Barres Erzähler tritt ebenfalls durch seine zynische, blasierte Art zu Tage, die sich in verschiedenen Bereichen äußert. Er fühlt sich demnach stellenweise der Gesellschaft an sich überlegen, hegt Verachtung für sie und fühlt sich ihr fremd. Dies wird beispielsweise auch in seinem aggressiven Verhalten anderen Menschen und gar Gegenständen gegenüber deutlich. Er redet meistens alles schlecht, bezeichnet beispielsweise Cocktails als „Zahnstocherscheiß“505 oder das, was sein Freund Alf ihm erzählt, als „Akademieschnöselelektrodreck“506. Obwohl der Protagonist sein Umfeld größtenteils verachtet, braucht der Dandy in ihm Anerkennung, zum Beispiel durch seinen Kleidungsstil oder sein Auftreten an sich, etwa, als er auf einer Vernissage der einzige Nichtraucher zu sein scheint. Kurzum entschließt er sich dazu, sich Zigaretten zu kaufen, nur um von der Gesellschaft anerkannt zu werden und sich in diese einzufügen zu können507, denn Identität ist nur möglich, wenn diese von der sozialen Umgebung akzeptiert wird. Jedoch: Nur wer innerlich eine gewisse Distanz zur Gesellschaft aufgebaut hat, kann über diese reflektieren und sie kritisieren, wie sich dann auch in den einzelnen Gesellschaftsanalysen des Protagonisten zeigt. Hier wird ihm dann 504 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 86 505 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 72 506 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 72 507 Vgl. Nehl, Stefan: Männlichkeit in Benjamin von Stuckrad-­‐Barres „Soloalbum“. S. 11 149 auch ein Merkmal des Flaneurs zuteil, wenn er in seiner Rolle des Beobachters aufgeht, mag dies auch auf eine aggressive Art und Weise geschehen.508 Innerlich muss der Dandy, und zeitweise auch der Ich-­‐Erzähler in „Soloalbum“, unerfüllt bleiben. Beispielsweise steht er der Liebe zwiespältig gegenüber, was sich aus der Angst vor Nähe und Intimität erklärt. Eigentlich sehnt er sich danach, jedoch kann durch diese Intimität seine Maskerade zu Fall und seine Selbstkontrolle in Gefahr gebracht werden. Durch die Trennung von Katharina gibt der Dandy in dem Protagonisten seine Fassade, seine stoische Gelassenheit und Gleichgültigkeit auf und wird somit verletzbar. In diesem Zusammenhang wird dann auch die nihilistische Weltsicht, der Glaube, dass die Welt im Inneren nichts zusammenhält, und die damit verbundene innere Leere des Protagonisten deutlich. Außerdem wird dem Protagonisten auch das Flaneurhafte zuteil, wenn er sich beispielsweise dem Müßiggang hingibt, was für ihn allerdings zeitweise uninteressant und langweilig ist. Der Flaneur an sich versucht auch, die Dinge selbst wahrzunehmen, und empfindet beim Bad in der Menge einen gewissen Reiz, wie sich auch bei Stuckrad-­‐Barres Ich-­‐Erzähler feststellen lässt, wenn er bei einem Konzert von Oasis das Aufgehen im Kollektiv als ekstatisch erlebt und dieses für ihn das ultimative Erlebnis seines bisherigen Daseins darstellt: „Und dann ist es passiert, schon beim ersten Gitarrenton, also ganz kurz davor sogar, geht ein monströser Ruck durch Adlon-­City, und die ersten kippen um. Das gehört dazu, hier besteht den Elchtest nur, wer umfällt, die anderen sind Weicheier. Oder Mädchen, das ist dann ok. Wir hüpfen, singen, fallen natürlich auch, Domino im Prinzip. [...] Hinterher, viel später, in einer anderen Zeitrechnung, in der Stunde soundso nach Oasis, werden wir bemerken: Uhr verschrammt, Schlüssel weg, Hose schmutzig, Schuhe nicht wiederzuerkennen, und das T-­Shirt – this one’s for the Müll. Aber merken wir jetzt gar nicht, da ein Ton, kennen wir, ist Lied Nummer 6 von der ersten Platte, eines der besten, aber sind ja alle gut, im Grunde. Und es ist so laut. Wir wollen es noch lauter. Lauter!“509 508 Vgl. Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 55f, S. 82f 509 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 242 150 2.2.2. Identität und Lebensentwurf in den 1990er Jahren 2.2.2.1. Der Protagonist als Suchender 2.2.2.1.1. Ausgangspunkt In Benjamin von Stuckrads-­‐Barres Roman „Soloalbum“ wird zunächst eine „Liebesgeschichte ohne Liebe“510 erzählt. Dem Leser begegnet ein Ich-­‐Erzähler, der zu Beginn des Romans nach einer vierjährigen Beziehung von seiner Freundin Katharina verlassen wurde und dies nur schlecht verkraftet, besonders weil das Ende per Fax eingeleitet wurde: „Per Fax ist natürlich gemein. Dafür hatte ich das Ding nun wirklich nicht angeschafft. Bei aller Geringschätzung meine ich auch, man hat schon das Anrecht auf eine staatstragende Beendigungszeremonie mit Heulen und Umarmen und allem. Oder wenigstens ein Brief. Aber doch kein Fax!“511 Der Protagonist, der in seiner Trauer Distanz zur Außenwelt gewinnen möchte, befindet sich zunächst in einem Zustand der Betäubung, bevor die Welt, vor der er sich verstecken möchte, auf ihn hereinbricht: „Gleich stehen sie vor meinem Bett. Gronkwrömm. Das klingt nach Kieferchirurg, schwerer Eingriff, Kasse zahlt kaum was dazu. Ein grauenhaftes Schmirgelgebrumm, und das kann ich nun nicht mehr ignorieren, schließlich kreischt das (was auch immer!) deutlich lokalisierbar direkt vor meiner Wohnungstür. Ich ziehe mir ein T-­Shirt an, mache Licht und gucke durch den Tür-­Spion. Draußen stehen viele Leute. Es ist ungefähr 2 Uhr nachts, die Leute tragen Uniformen, und ich glaube, gleich steckt der Bohrer oder die Dampframme, oder was auch immer das ist, direkt in meinem Bauchnabel. Sie klingeln übrigens auch Sturm, das wird aber durch das Gruselwerkzeug weitestgehend übertönt. [...] Hallo, hallo, ist da jemand? rufen die Menschen da draußen. Es hat keinen Zweck, entweder brennt es oder sie holen mich ab oder ich träume das alles nur, das wäre schön, jetzt ist es sowieso egal, vielleicht wache ich ja gleich auf, jedenfalls mache ich dann mal die Tür auf. Vor mir auf dem Boden sitzt ein Mann mit einem riesigen Bohrer in der Hand, er guckt an mir hoch, als sei 510 Fritz, Stadtmagazin für Göttingen: Nicht kleben – geklebt werden. Oktober 1998. In: Schmitt, Sascha: Die Hauptfigur in Benjamin von Stuckrad-­‐Barres „Soloalbum – ein typischer Vertreter der Generation Golf nach Florian Illies. S. 5 511 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 16 151 ich gerade irgendwo ausgebrochen. Hinter ihm stehen Feuerwehrleute, Polizisten, Sanitäter. Zwei Männer schieben mich zur Seite und laufen in meine Wohnung.“512 Zu Beginn des Romans wird dann auch aus Sorge um das seelische und körperliche Wohl des Ich-­‐Erzählers versucht, dessen Wohnungstür aufzubrechen, da sich der verlassene, postadoleszente Protagonist in einem seelisch instabilen Zustand befindet, der „von einem Suchen nach Orientierung“ bestimmt wird.513 Einige Wochen muss der Ich-­‐Erzähler bereits orientierungslos, ratlos und unsicher in seiner neuen Rolle als Single verharren, wobei es ihm große Mühe bereitet, „den Betrieb aufrechtzuerhalten“514. Das „Ergebnis von ein paar Wochen Depression und Trunksucht“515 lässt sich darin erkennen, dass sich in seiner Wohnung Berge von Schmutzwäsche, Zeitschriften und Schallplatten stapeln und das Telefon ausgehängt wurde. Weiterhin lässt sein Zustand der Vereinsamung und allmählichen Verwahrlosung ebenfalls auf die Orientierungslosigkeit des Protagonisten und das Zerfließen seines Identitätsgefühls schließen, welche reaktiv durch die Trennung ausgelöst wurde.516 Er verbringt anfangs den Großteil des Tages in absoluter Abgeschiedenheit, indem er seine Wohnung kaum verlässt und diese nur in abgedunkelter Weise und ohne Kontakt zur Außenwelt ertragen kann. So muss auch die zwischenmenschliche Kommunikation zunächst einmal ausgeklammert bleiben. Hier hat also der Verlust der Partnerin zu einer gefühlsintensiven Reaktion, begleitet von Selbstzweifel und Depression, geführt. 2.2.2.1.2. Frauen, Liebe und Sexualität Nach dem Ende seiner Beziehung zu Katharina scheint die Liebe zu ihr am größten zu sein, auf jeden Fall größer als zuvor. Er selbst meint dazu: „So gerne würde ich die Liebe, die ich jetzt spüre, die sich jetzt erst freizusetzen scheint (im 512 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 11 513 Vgl. Jacobs, Jürgen: Zwischenbilanzen des Lebens. Zu einem Grundmuster des Bildungsromans. Bielefeld 2005. S. 15. In: Gast, Nicole: Die Initiationsthematik im deutschsprachigen Pop-­‐Roman der Jahrtausendwende. Norderstedt. 2007. S. 147 514 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 13 515 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 12 516 Vgl. 2.2.4. Psychoanalytische Identitätskonzepte 152 Moment der Ballabgabe quasi, wie bei der Abseitsregel), diese nie gekannte Zuneigung und Verbundenheit noch mal beweisen dürfen, aber ich darf SIE nicht mal mehr sehen. Was natürlich den klaren Hintergedanken hat: Sonst überlegen wir es uns noch mal anders und verlängern das Sterben durch kurzzeitiges Wiederauflebenlassen.“517 Wenn auch die Verliebtheit an sich einen gewissen Grad der Reife voraussetzt, da dies bedeutet, dass man sich auf den Partner einstellen muss, Eigenheiten und Freiheiten einschränken und dem Partner gegenüber Rücksicht und Toleranz walten muss, so ist das Verhalten des Protagonisten im Hinblick auf seine Beziehung zu Katharina und die darauffolgende Trennung nicht gerade von Uneigennützigkeit und Rücksichtnahme geprägt518: „Ich habe sie betrogen, ich habe mich anderweitig umgeschaut, mich nicht um sie gekümmert, schubweise dann wieder sehr – jedenfalls war es nie ganz zu Ende.“519 Allerdings scheint das Ende der Beziehung den Ich-­‐Erzähler nicht über die „verändernde Kraft der Liebe nachsinnen“520 zu lassen, denn es kommt nicht wirklich zu einer inneren Veränderung, zur Einsicht und „Akzeptanz des eigenen Fehlverhaltens“521. Demnach kann die Depression und die selbstverschuldete Einsamkeit des Protagonisten nicht als Reaktion auf die gescheiterte Liebesbeziehung verstanden werden, sondern als Reaktion auf die Veränderung an sich.522 Die Beziehung zu Katharina an sich war seit Jahren unglücklich und wie er selbst dazu meint, wurde die „Zweisamkeit wechselseitig immer wieder vernachlässigt, ausgesetzt, beendet, und so weiter“523. Er selbst brachte jedoch nie die Kraft auf, die Beziehung zu beenden, wobei er in anderen Bereichen, so beispielsweise in 517 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 14 518 Vgl. Gast, Nicole:
Die Initiationsthematik im deutschsprachigen Pop-­‐Roman der Jahrtausendwende. S. 150 519 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 14 520 Vgl. Esselborn-­‐Krumbiegel, Helga: Der „Held“ im Roman. Formen des deutschen Entwicklungsromans im frühen 20. Jahrhundert. Darmstadt 1983. S. 66. In: Gast, Nicole:
Die Initiationsthematik im deutschsprachigen Pop-­‐Roman der Jahrtausendwende. S. 150 521 Gast, Nicole: Die Initiationsthematik im deutschsprachigen Pop-­‐Roman der Jahrtausendwende. S. 150 522 Vgl. Gast, Nicole: Die Initiationsthematik im deutschsprachigen Pop-­‐Roman der Jahrtausendwende. S. 150f 523 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 14 153 seinem Beruf, keine Probleme hat, eine Veränderung herbeizuführen und so ohne größere Bedenken seinen Job wechselt. Nichtsdestotrotz scheint er unter der Trennung zu leiden und seine Beziehung zu vermissen, obwohl er es während der Partnerschaft mit der Treue nicht so genau nahm, denn er hat „während der Zeit mit Katharina [...] verschiedentlich an Soloprojekten gearbeitet. Sie heißen Isabell, Susanne, Katinka zum Beispiel“524. Obwohl er sich bewusst war, eine Freundin zu haben, ließ er sich neben seiner eigentlichen Beziehung auf andere Frauen ein und erklärt seine Bedürfnisse folgendermaßen: „Als es mit Katharina noch lief, war die Faszination, die von ihr ausging, groß. Da hatte ich eine Homebase und konnte in Ruhe herumstreunen und -­küssen.“525 Demnach scheint der Protagonist eher die alltägliche Routine und die Gewohnheit zu vermissen, so also „seine Freundin auf der einen und seine ‚Soloprojekte‘ auf der anderen Seite“.526 Also vermisst er nicht Katharina im Speziellen, was dadurch deutlich wird, dass er weder auf ihren Charakter, ihr Aussehen oder die gemeinsam gemachten Erfahrungen eingeht, sondern die Gelegenheit des Verlustes dazu nutzt, sich selbst von der Welt abzugrenzen und über sich und die Welt zu sinnieren. Nach dem Beziehungsende scheint er jedoch eine völlig andere Sichtweise bezüglich des Herumstreunens einzunehmen. Er kann es zu diesem Zeitpunkt nicht nachvollziehen, dass verlassene Männer sich direkt nach dem Beziehungsende mit anderen Frauen vergnügen. Ihm selbst würde so etwas nicht in den Sinn kommen. Jedoch ändert sich seine Einstellung relativ schnell, da ihn die Angst plagt, nie wieder Geschlechtsverkehr haben zu können. Schließlich stimmt er dem Vorhaben seines Freundes Alf zu und begleitet ihn in ein Bordell: „Der Puff ist ein überheiztes Mietshaus. Im Erdgeschoß sitzen auf zerschlissenen Cordsofas lauter zahnlose Türken und rühren im Tee. Dauernd kommen Frauen rein und zeigen uns ihre Titten und kratzen sich an der Unterhose, das soll dann wohl sexuelle Provokation sein. Muß ja schrecklich sein vor einem Haufen breiter Idioten: Sie sagen gleichgültig – Wer will? Die Türken klatschen immer, das ist sehr 524 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 23 525 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 23 526 Gast, Nicole:
Die Initiationsthematik im deutschsprachigen Pop-­‐Roman der Jahrtausendwende. S. 151 154 schön, da machen wir mit. Jetzt müssen wir aber auch mal anfangen, denke ich, man ist ja auf Koks immer ungeduldig. Lust auf Sex habe ich eigentlich überhaupt nicht. Ich gehe jetzt aber mit einer Frau mit, sie hat große Titten, daß sie auch sonst ganz hübsch ist, bemerke ich erst im Zimmer. Ist ja auch egal. Ich lege mich aufs Bett.“527 Besonders hier wird deutlich, dass Stuckrad-­‐Barres Ich-­‐Erzähler die Frau an sich als Lustobjekt wahrnimmt, sie besonders in dieser Situation auf das Körperliche und genauer ihre Brust reduziert. Ferner versucht er seine Erfolgschancen zu steigern, indem er sich interessanter macht und sie anlügt. Ziel ist es also hauptsächlich, die Fassade zu wechseln, den Frauen zu gefallen, um sie schließlich für seine Zwecke zu nutzen: „Ich sehe immer zu, daß ich Erstsemesterdamen anspreche, denen kann man alles erzählen, und sie haben sehr große Augen und denken, das sei nun aber aufregend hier. Sie haben noch keinen Vergleich, und das nutzt man dann eben aus.“528 Das gleiche Verhalten legt er an den Tag, als er Nadja kennenlernt, die ihn nicht sonderlich beeindruckt, wie sich hier erkennen lässt: „Wenn man das D in der Mitte wegläßt, heißt sie Naja.“529 Obwohl er sein Desinteresse sehr deutlich macht, indem er behauptet, sie sei langweilig und uninteressant und sie oftmals am liebsten loswerden möchte, nutzt er sie zur Befriedigung seiner sexuellen Bedürfnisse aus: „Das Ficken mit ihr macht nicht sonderlich viel Spaß, aber der wenige Spaß ist angesichts der monatelangen Totalflaute natürlich immer noch kosmisch.“ 530 Auch entspricht sie nicht seinem Idealbild von einer Frau, das sich aus einem für ihn ansprechenden Aussehen und der nötigen Intelligenz zusammensetzt und scheinbar nicht mit Nadjas Person korrespondiert: „Sie hat kleine Titten, ist dann aber mittig sehr fett, das ist also schon mal genau verkehrt herum.“531 Da sie ihm körperlich gesehen überhaupt nicht zusagt, kann er nur im Dunkeln mit ihr schlafen und muss beim Geschlechtsakt an Katharina denken, die das genaue Gegenteil von Nadja darzustellen scheint. Zudem ist Nadja für den 527 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum S. 112f 528 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 116 529 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 119 530 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 179 531 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 179 155 Protagonisten nicht nur äußerlich nicht anziehend, sondern auch innerlich, denn er bezeichnet sie als eine „abartig dumme Frau“532. Geschlechtsverkehr an sich spielt für den Protagonisten eine große Rolle und so behauptet er selbst, dass er „wirklich oft und gerne an Sex“533 denkt. Da er seine sexuellen Bedürfnisse nicht immer mit einer Frau befriedigen kann, ist die Selbstbefriedigung für ihn zu einer üblichen Verhaltensweise geworden534, besonders da diese „ja immer zu kurzfristiger Klarsicht“535 führt. An und für sich werden seine Gedanken meistens von seinen Trieben bestimmt, da er oftmals und überall nichts anderes im Kopf hat als Sex. So beispielsweise auch im Urlaub, als er zuallererst Kondome kauft und schließlich eine Frau kennen lernt, mit der er Geschlechtsverkehr hat. Er schildert die Situation wie folgt: „Wir liegen morgens am Strand unter einer Schaukel und ficken ein bißchen. Ficken ist ja vollkommen schwierig, wenn man es monatelang nicht getan hat.“536 Durch seine Darstellungsweise und besonders durch den Gebrauch des Wortes „ficken“ wird verdeutlicht, dass es sich für den Protagonisten beim Geschlechtsverkehr in den meisten Fällen nicht um einen Akt der Liebe handelt, sondern dass er die Frauen nur dazu benutzt, um seine männlichen Triebe zu befriedigen.537 In diesem Zusammenhang ist dann auch die meist abwertende Darstellung der Frau durch den Ich-­‐Erzähler erwähnenswert, besonders wenn diese nicht seinem Idealbild entspricht, wie in folgendem Beispiel: „Ich gehe am Croque-­Laden vorbei, da kaufe ich manchmal nachts noch Getränke, bloß weil da die Verkäuferin so schön ist, für die schwärmt der ganze Bezirk, vor kurzem hat sie sich die Haare abgeschnitten und sieht sogar NOCH besser aus. Heute bedient da aber eine hagere Häßliche mit Brille und Schwitzflecken auf dem ausgeleierten T-­Shirt. Ich denke mal, wenn die Dienst hat, geht der Umsatz der Bude sofort um 80% zurück.“538 Alles in allem wird hier deutlich, dass der Ich-­‐Erzähler eine Art Hierarchie erzeugt hat, indem die Frau an sich, und besonders diejenige, die nicht seinen 532 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 181 533 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 180 534 Vgl. Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 45, S. 126 535 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 190 536 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 127 537 Vgl. Nehl, Stefan: Männlichkeit in Benjamin von Stuckrad-­‐Barres „Soloalbum“. S. 5f 538 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 24 156 Idealvorstellungen entspricht, unter ihm als dem Mann rangiert.539 Diese abwertende Haltung gilt jedoch in einigen wenigen Fällen nicht, so zum Beispiel bei Alfs Freundin540 oder bei seiner Ex-­‐Freundin Katharina. 2.2.2.1.3. Männlichkeit Seit in den Medien bestimmte Männlichkeitsbilder propagiert werden, befassen sich immer mehr Männer mit ihrem äußeren Erscheinungsbild, dessen Wirkung und ihrer Männlichkeit an sich.541 Nicht weniger von Bedeutung sind die Zweifel, die im Vergleich mit diesem Männlichkeitsmuster bei vielen Männern der Postmoderne aufkommen und eine gewisse Unsicherheit erzeugen. Wie oben geschildert wurde, hat der Protagonist in Stuckrad-­‐Barres „Soloalbum“ zumindest eine Vorstellung davon, was seine Rolle als Mann im Hinblick auf die Geschlechterfragen zu sein scheint. Gleichwohl vergleicht auch er sich mit den gängigen Männlichkeitsmustern und ist in diesem Zusammenhang äußerst unzufrieden mit seinem Äußeren, besonders da er sich als zu dick und unattraktiv empfindet. Seiner Ansicht nach gehört er nicht zur „dominierenden Klasse von Männern“542 und beachtet um sich herum nur die scheinbar perfekten Menschen: „Um mich herum nehme ich bloß noch all die Menschen [...] mit ordentlichen Haaren (also mit einer Art Farbe und einer Art Sitz und überhaupt Form und Fülle, nicht so Drahtborsten wie ich) wahr, mit schöner weicher Haut und ohne Gewichtssorgen. Wie muß es denen gutgehen, wenn sie sich im Spiegel angucken, wenn sie sich auf Fotos sehen oder in der Schaufensterscheibe oder im Fenster der Straßenbahn, wenn die gerade im Tunnel ist und das Neonlicht anflackert.“543 So verbringt der Protagonist einen Großteil seiner Zeit damit, über sein Äußeres nachzudenken; darüber, dass er seine Körperfülle verachtet und er darauf bedacht ist, durch Veränderung seines Körpers Katharina zurückzugewinnen: „Letztendlich beschließt er eine Diät, um seiner Traumfigur näher zu kommen. Sein Diätprogramm umfasst, keinen Alkohol mehr zu trinken, 539 Vgl. Nehl, Stefan: Männlichkeit in Benjamin von Stuckrad-­‐Barres „Soloalbum“. S. 6 540 Vgl. Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 73ff 541 Vgl. Nehl, Stefan: Männlichkeit in Benjamin von Stuckrad-­‐Barres „Soloalbum“. S. 7 542 Nehl, Stefan: Männlichkeit in Benjamin von Stuckrad-­‐Barres „Soloalbum“. S. 8 543 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 34f 157 mehr Obst und keinen Toast zu essen, sowie viel Wasser zu trinken. Zudem beschließt er Sport zu treiben, um abzunehmen und sich somit in Richtung des in den Medien propagierten Idealbildes eines Mannes zu bewegen. Auch hätte er gerne, wie die Männer in Männermagazinen wie Men’s Health, einen ‚gestählten body‘544.“545 Der Ich-­‐Erzähler lässt sich also ebenfalls von den Medien beeinflussen, wenn er sich an dem dort vorgekauten Idealbild des muskulösen, ästhetischen Mannes orientiert. Er verbindet mit diesem Bild vor allem die Eigenschaft, begehrenswert zu sein und demnach auch von Frauen begehrt und geliebt zu werden. Um diesen Status zu erreichen, nimmt er zunächst den Plan in Angriff, sein Körperbild im Fitnessstudio zu verbessern, wobei er diesen jedoch schnell aufgibt. Er hat Angst, wegen seiner fülligeren Körpermitte von den Men’s-­‐Health-­‐
Männern verspottet zu werden und sich so also der Lächerlichkeit preiszugeben. Hier wird deutlich, dass der Ich-­‐Erzähler ein Außenseiter zu sein scheint, was das Idealbild eines Mannes angeht, und aufgrund seiner Nicht-­‐Zugehörigkeit zu den „derzeitig dominierenden Männlichkeitsmustern“ einer Randgruppe zugeordnet werden kann.546 Neben seinem Versuch, sich beim Joggen und Radfahren sportlich zu betätigen, entscheidet er sich auch, seine Ernährung umzustellen und seine Mahlzeiten im Allgemeinen zu reduzieren, wobei es ihm allerdings nicht immer gelingt, konsequent zu bleiben. Durch sein verändertes Verhalten versucht er ebenfalls, aus der Randgruppe herauszutreten und sich aus seiner Außenseiterposition heraus in die Gruppe der fitten und trainierten Männer zu integrieren und sich also auch der von der Gesellschaft propagierten Norm anzupassen. Nichtsdestotrotz ist die zunehmende Veränderung seines Äußeren und seines Auftretens als Mann auch ein Zeichen dafür, dass er darauf bedacht ist, die Selbstzweifel an sich selbst und seiner Rolle als Mann und demnach auch seine reaktive Identitätsstörung, welche durch das Verlassenwerden verursacht worden war, zu überwinden.547 544 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 223 545 Nehl, Stefan: Männlichkeit in Benjamin von Stuckrad-­‐Barres „Soloalbum“. S. 8 und Vgl. Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 55 546 Vgl. Nehl, Stefan: Männlichkeit in Benjamin von Stuckrad-­‐Barres „Soloalbum“. S. 8 547 Vgl. Nehl, Stefan: Männlichkeit in Benjamin von Stuckrad-­‐Barres „Soloalbum“. S. 10f 158 2.2.2.1.4. Einsamkeit Der verlassene Ich-­‐Erzähler befindet sich, wie bereits erwähnt, zu Beginn des Romans in einem Zustand der Orientierungslosigkeit, in dem er sich von der Gesellschaft zurückzieht und sich zu Hause versteckt. Dabei bleibt zunächst alles, was eine Privatsphäre, z.B. Emotionen, vorgeben könnte, außen vor. Kommunikation mit anderen Menschen kommt indes höchst selten vor, allenfalls mit irgendwelchen Bekanntschaften auf Partys oder mit dem Bruder, sodass man hier von einer gestörten Kommunikation sprechen kann, wie auch Pattensen dazu meint: „Die Personen nehmen einander wahr, kommunizieren aber nicht wirklich und kommen selten über einen Small Talk heraus. Der Autor verweist jedoch subtil auf das Bedürfnis nach Sozialität. Was den Aufbau zwischenmenschlicher Beziehungen angeht, scheinen die traditionellen interpersonalen Kommunikationswege gestört. Die Personen sind abhängig von einem ‚System informeller Netzwerke‘. Dazu gehören vor allem das Telefon und das Abhören von Anrufbeantwortern.“548 Der Ich-­‐Erzähler in „Soloalbum“ verlangt jedoch nach Kontakt, wenn er beispielsweise darauf wartet, von seiner Ex-­‐Freundin angerufen zu werden.549 Allerdings befindet er sich in einem passiven, abwartenden Zustand, da es ihm zunächst nicht gelingt, aktiv Kontakt zu anderen Menschen herzustellen. In diesem Zusammenhang ist es auch nicht erstaunlich, wenn sich in seiner Gedankenwelt alles auf die eigene Person und das eigene Schicksal fokussiert und er sich freiwillig von der Außenwelt isoliert. Um diese selbstgewählte Einsamkeit jedoch besser ertragen zu können, hat sich der Protagonist zunächst einige Ablenkungsspiele ausgedacht, beispielsweise stellt er Listen zu seinen „zehn Singles zum Verlieben“550 und Kataloge zu den BILD-­‐Mädchen zusammen: „Ich sammel die nackten Girls aus der BILD-­Zeitung. Die grotesken Textpassagen trage ich in Tabellen ein. [gute Namen, erlernter Beruf, bestes Alter, gottgegebene Berufe, Hobbies, Grund für die Nacktheit, Zurufe der Redaktion, Was passiert 548 Pattensen, Henryk: Jugend und Sucht. Drogenkonsum im aktuellen Jugendroman. In: Ewers, Hans-­‐Heino (Hrsg.): Jugendkultur im Adoleszenzroman. Jugendliteratur der 80er und 90er Jahre zwischen Moderne und Postmoderne. Weinheim, München 1994. S. 87-­‐
106. S. 98. In: Gast, Nicole: Die Initiationsthematik im deutschsprachigen Pop-­‐Roman der Jahrtausendwende. S. 147 549 Vgl. Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 15 550 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 214f 159 gleich?]“551 Weiterhin zählt er auch seine zweite Ablenkungsmöglichkeit, die Soloprojekte, nacheinander auf und bewertet sie. Auch hier bleibt er inaktiv und wartet auf Impulse aus der Außenwelt, die dann schließlich von einer Frau namens Isabell kommen, die ihn auf eine Party einlädt. Auf dieser Feier in Isabells Wohngemeinschaft wird ihm schließlich sein Zustand der Isolation bewusst, in dem er sich bis dato befunden hatte. Allerdings fühlt er sich stellenweise auch deplatziert und hoffnungslos angesichts der vielen schönen Frauen, die er nie ansprechen wird. Aus dieser Stimmung heraus ergreift er dann erneut die Flucht in die Isolation, wenn er sich in Isabells Zimmer zurückzieht, um dort MTV zu schauen. Allerdings wird hier deutlich, dass der Protagonist sich bis dato nicht wirklich mit seinem eigentlichen Problem, der Trennung von Katharina, auseinandergesetzt hat, was ihn dann auch allmählich körperlich zerreißt: „Dieses pochende Wachmüdesein halte ich nicht länger aus.“552 Allmählich scheint ihm dann trotz allem die Gefahr der Vereinsamung klar zu werden, sodass er beginnt aktiv zu werden und aus der selbst gewählten Isolation herauszutreten. Obwohl er sich als Beobachter am wohlsten fühlt, versucht er stellenweise auch in Gesellschaft gesellig zu sein, wobei ihm dies nicht immer gelingt. Vielleicht auch aus diesem Grund sucht er gelegentlich ein Schwulencafé auf: „Ich gehe in das Schwulencafé, da schmeckt es am besten, und manchmal kommen sogar Frauen, die keine Lesben sind. Ansonsten haben die Schwulen inzwischen begriffen, daß ich hier nur Nahrung gegen Geld will, sonst gar nix, ein bißchen Zeitunglesen noch und etwas Geselligkeit, die nicht in Konversation zu münden droht, zu keiner Zeit, einfach nur schönes, manchmal etwas zu schnattriges Hintergrundgesumme, das braucht man manchmal.“553 Er braucht diese Umgebung, wie er selbst sagt, weil er bemerkt, dass er sich allmählich in der Einsamkeit verliert und so Nähe zu Menschen aufbauen kann, ohne ihnen dabei zu nahe zu kommen. Dabei sind hier keine tiefer gehenden Bindungen gefragt, sondern netzwerkartige Strukturen, welche nicht auf Langfristigkeit ausgelegt sind.554 Auch beim Verfolgen der TV-­‐Telenovela „Lindenstraße“ hat er das Gefühl, allein durch das Beobachten, am Leben anderer 551 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 39ff 552 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 33 553 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 68f 554 Vgl. 2.2.4. Psychoanalytische Identitätskonzepte 160 Menschen teilhaben zu können. Dies „nimmt ihm die Angst eine verschwendete Existenz zu führen. Er tröstet sich mit dem Gedanken, durch das Miterleben fremder Existenzen seine Daseinsberechtigung gefunden zu haben – zumindest solange wie er – wenn er sich mit Kassettenrekordern vergleicht – noch auf ‚Pause‘ steht“.555 2.2.2.1.5. Lebensart Zur Lebensart des Protagonisten ist zu erwähnen, dass die Zuordnung zu einer bestimmten Gruppe, zu einem Kollektiv größtenteils durch Konsum geschieht. In diesem Sinne definiert sich der Erzähler in „Soloalbum“ durch Musik, Kleidung und seinen Lebensstil im Allgemeinen. So spielt beispielsweise Musik und besonders britische Popmusik eine große Rolle, nicht der ästhetischen Kriterien wegen, sondern aufgrund der Möglichkeit zur Abgrenzung: „Mithilfe von Ein-­‐ und Ausschlussmechanismen eignet sich das Ich bestimmte Formen von Musik zwecks Selbstbeschreibung an und erklärt diese zu ‚seiner Musik‘.“556 Demnach entscheidet der Protagonist nicht nach irgendwelchen objektiven Kriterien über gute oder schlechte Musik, sondern nach dem Kriterium, inwiefern er durch diese eine treffende Aussage über sich selbst vermitteln kann. Allerdings müssen dabei die Regeln der Kulturindustrie beachtet werden, denn ein Produkt kann nur als identitätsstiftendes Element angenommen werden, wenn es „ein bestimmtes Maß an Andersartigkeit“557 erfüllt. Mithin kann ein kulturelles Produkt nicht mehr als Element zur Identitätskonstruktion erachtet werden, wenn dieses von einer großen Masse, dem Mainstream, für gut befunden wird, besonders da bei der Selbstbeschreibung auch auf Individualität geachtet werden muss. 558 So versucht der Protagonist, sich auch durch seine Kleidung einem gewissen Lebensstil oder einer Subkultur zuzuordnen. Er trägt hauptsächlich Anzüge, die ihm erlauben, „im sicheren Gefühl richtig gekleidet zu sein, sich den anderen 555 Gast, Nicole:
Die Initiationsthematik im deutschsprachigen Pop-­‐Roman der Jahrtausendwende. S. 149 556 Malecha, Tom: Ich bin viele. S. 43f 557 Malecha, Tom: Ich bin viele. S. 44 558 Vgl. Malecha, Tom: Ich bin viele. S. 44 161 Dingen des Lebens zuzuwenden“559. Der Anzug stellt für den Ich-­‐Erzähler jedoch nicht nur ein Mittel der Zuordnung zu einem Kollektiv und der Abgrenzung dar, sondern dient ihm auch noch als Rüstung gegen die Außenwelt: „Anzüge sind einfach das perfekte Kleidungsstück, alles ergibt sich, das Hemd, die Schuhe, sogar der Mantel, Schluß mit langem Kombinationsherumgedenke, die Hose, die Jacke, alles klar, vielleicht sogar eine Weste, und schon ist man gepanzert, und so soll es sein.“560 Meistens kommt es dann auch noch auf die Marke an oder zumindest auf den Schein: „Man kaufte gute Qualität, aber es reichte, wenn man beim Ärmelhochkrempeln das Joop-­‐Zeichen sah oder beim Jacke-­‐Aufhängen den Kookai-­‐Schriftzug. Noch wichtiger war, daß alle anderen dachten, daß man beim Aufhängen Joop oder Kookai-­‐Schriftzüge sehen könnte. Dann konnten die Sachen in Wirklichkeit auch von H&M sein oder von Gap.“561 Produkten aus dem Secondhandladen oder von H&M steht der Protagonist dann auch ablehnend gegenüber.562 In „Soloalbum“ versucht er sich durch seine Schwäche für britische Popmusik und stylische Anzüge einem bestimmten Kollektiv zuzuordnen, in diesem Fall vergleichsweise dem der Mods, obwohl dieses ihm nur stellenweise Halt gibt und ihm in gewisser Weise ein wenig Schutz vor der Außenwelt bietet. Daneben bietet auch seine Wohnung ihm die Möglichkeit, sich zurückzuziehen, aber auch gleichzeitig seinen Lebensstil zu demonstrieren und sich so einer Gruppe zuzuordnen. Nach Illies lassen sich die Angehörigen der Generation Golf beispielsweise vorzugsweise in Großstädten nieder. Nichtsdestotrotz muss auch hier zwischen zwei Gruppen unterschieden werden, und zwar denjenigen, die Neubauwohnungen beziehen, und denjenigen, die sich eher für Altbauwohnungen entscheiden. Die Neubaubewohner richten sich eher funktional ein, wobei die Wohnungen eher mit Hotelzimmern verglichen werden können, da sie oftmals einen sterilen und kühlen Eindruck vermitteln. Die Altbaubewohner bevorzugen dagegen Stuckdecken, Parkettböden und hohe 559 Illies, Florian: Generation Golf. Frankfurt a. M. (7. Aufl.) 2002. S. 121. In: Schmitt, Sascha: Die Hauptfigur in Benjamin von Stuckrad-­‐Barres „Soloalbum – ein typischer Vertreter der Generation Golf nach Florian Illies. S. 13 560 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 86 561 Illies, Florian: Generation Golf. Frankfurt a. M. (7. Aufl.) 2002. S. 145. In: Schmitt, Sascha: Die Hauptfigur in Benjamin von Stuckrad-­‐Barres „Soloalbum – ein typischer Vertreter der Generation Golf nach Florian Illies. S. 14 562 Vgl. Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 86, S. 189 162 Räume und verbinden damit in gewisser Weise Wohnkultur. Beide Typen richten ihre Wohnungen in erster Linie mit IKEA-­‐Möbeln ein und ergänzen diese mit geerbten Möbeln von den Großeltern oder benutzten Stücken vom Flohmarkt.563 Auch der Ich-­‐Erzähler in „Soloalbum“ hat sich in Hamburg niedergelassen und lebt in einer Neubauwohnung, die eher spartanisch eingerichtet und ständig unordentlich ist. Dabei gibt es nur wenig Mobiliar, das sich aus neuen und alten, ergo kaputten, Möbelstücken zusammensetzt: „Ich habe 3 IKEA-­Regale und 1 antikes (also kaputtes) holzwurmdurchfressenes Vertiko vom Sperrmüll. 1 Schlafsofa, DAS Schlafsofa. [...] Dann einen Tisch, der mir nicht mal bis zum Knie geht. Das ist so ein Studententeetrink-­Klassikermöbel. Ich habe Zeitungen draufgelegt und Bierflaschen drauf abgestellt. Gegessen habe ich im Bett oder am Schreibtisch. Meistens aber doch beim Trash-­Italiener. Folgende Haushaltsgegenstände habe ich zu verpacken: 3 Gläser, 2 Messer, 5 Löffel, 1 Gabel, 1 Brotmesser, ein paar Teller, 1 Salzstreuer, 5 Becher, alle verschieden in Größe und Farbe. Nichts paßt zusammen. Der Korkenzieher mit Flaschenöffner, stummer Zeuge. Ein Aschenbecher, den ich in London beim Pulp-­Konzert mitgenommen habe. [...] Die Platten und Bücher sind das einzige von Wert. Und die paar schönen Sachen zum Anziehen. Das meiste ist Schrott.“564 Obwohl seine Einrichtung doch eher dürftig ist, hat der Protagonist große Probleme, seine Wohnung sauber zu halten, und denkt aus diesem Grund darüber nach, eine Putzfrau einzustellen. Auch in anderen Bereichen des alltäglichen Lebens ist es für den Ich-­‐Erzähler üblich, für sich arbeiten zu lassen, so beispielsweise in Bezug auf die Nahrungsaufnahme: „Ich gehe frühstücken, führe überhaupt keinen Haushalt mehr, nix mehr im Kühlschrank, nicht mal Bier [...] Etwas in Alutütchen portionierter Kleinbürgercappuccino ist noch da, mit Amarettogeschmack, na herrlich. [...] Ich habe nie gekocht.“565 An anderer Stelle erwähnt er, dass er sich meistens ein Brötchen und ein Getränk mit nach Hause nimmt oder eine Tiefkühlpizza, wobei ihm hier im Nachhinein der Aufwand zu groß war, da er Besteck hätte abwaschen müssen. Alles in allem 563 Illies, Florian: Generation Golf. Frankfurt a. M. (7. Aufl.) 2002. S. 103-­‐ 117. In. Schmitt, Sascha: Die Hauptfigur in Benjamin von Stuckrad-­‐Barres „Soloalbum – ein typischer Vertreter der Generation Golf nach Florian Illies. S. 14f 564 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 192f 565 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 68 163 kann hierzu festgestellt werden: „Es wird nicht selbst gekocht, sondern essen gegangen.“566 2.2.2.2. Zustand der Unsicherheit: Probleme auf dem Weg zur Identität Der Protagonist in Benjamin von Stuckrad-­‐Barres „Soloalbum“ sucht, nachdem er mit dem Ende seiner Liebesbeziehung zu Katharina seine „zentrale Stütze der Identitätskonstruktion“ verloren hat, sich selbst.567 Er befindet sich durch diesen Verlust in einem Zustand der Identitätsdiffusion, welcher sich durch die Unzufriedenheit, aber auch durch die Orientierungslosigkeit des Ich-­‐Erzählers äußert. Jedoch muss das Scheitern der Beziehung zu Katharina bereits als Schwäche der Identitätskonstruktion des Protagonisten gesehen werden, besonders wenn deutlich wird, dass er sich selbst nur über andere Personen und Gegenstände definieren kann und so also einen Halt sucht, den er in seiner eigenen Person nicht finden kann. Die Hauptfigur in „Soloalbum“, die fortwährend versucht, sich irgendwelchen Kollektiven zuzuordnen, leidet schließlich auch unter denselben Zeichen der Zeit wie Krachts Protagonist in „Faserland“. Auch hier führt die postmoderne Enttraditionalisierung zur Überforderung des Protagonisten angesichts der Trennung von Katharina, was sich in dem Verlust der Integrität, der persönlichen Kontinuität, der Autonomie und der inneren Sicherheit äußert. So verwundert es nicht, dass er sich zu Beginn des Romans, nach der Trennung – dem Auslöser für die Identitätsdiffusion – in einer absolut desolaten Verfassung befindet, indem er sich weder um sich selbst kümmern noch seinen Alltag aufrechterhalten kann und sich so in einem von Unsicherheit und Orientierungslosigkeit geprägten Zustand wiederfindet. Nichtsdestotrotz werden auch in diesem Beispiel die Gefahren für einen problemlosen Lebensentwurf zu postmodernen Zeiten größer. Dem Protagonist selbst gelingt es nicht, während der in „Soloalbum“ beschriebenen Episode der Identitätsdiffusion die Möglichkeiten der Postmoderne und der damit 566 Schmitt, Sascha: Die Hauptfigur in Benjamin von Stuckrad-­‐Barres „Soloalbum – ein typischer Vertreter der Generation Golf nach Florian Illies. S. 16 567 Vgl. Malecha, Tom: Ich bin viele. S. 48 164 verbundenen Popkultur zu nutzen und sich selbst zu entfalten. Obwohl er versucht, sich, besonders durch den Konsum, verschiedenen „kollektiven Identitäten“ zuzuordnen und so eine „Basis für soziale Distinktion“ zu schaffen568, gelingt es ihm letztlich nicht, sein eigenes Ich zu definieren. Malecha beschreibt den Versuch der Identitätskonstruktion folgendermaßen: „Das Subjekt partizipiert somit an einer Vielfalt von Diskursen und nutzt diese, um Sinnzuschreibungen und auch Selbstbeschreibungen vorzunehmen. Dabei zeigen die großen Erzählungen jedoch keine Wirkung. Vielmehr ist der Blick des Protagonisten auf die Welt antiutopisch und insofern unpolitisch, als dass er Engagement und kritisches Denken als zwecklos verwirft und stattdessen das Ästhetische aufwertet.“569 Auch hier versucht das Ich, sich verschiedenen Erfahrungen und Ablenkungen auszusetzen und sich selbst wieder zu einer annehmbaren Existenz „zusammenzubasteln“, wobei auch dieses Unterfangen zweifelhaft erscheint. Weiterhin wird die Identitätskonstruktion des Ich-­‐Erzählers insofern erschwert, als dass sich die Umbruchserfahrungen zur Enttraditionalisierung und zum Verlust von übernehmbaren Identitätsmustern verdichten. Die verschiedenen Aspekte, welche die Enttraditionalisierung zu Zeiten der Postmoderne verdeutlichen, sollen auch hier im Hinblick auf den Protagonisten und dessen Lebensentwurf gesetzt werden. Einer der Aspekte, die zur Enttraditionalisierung führen, ist die Entbettung des Subjektes aus dem kulturellen Rahmen, welche bei vielen Menschen zu einer erlebten „ontologische[n] Bodenlosigkeit“ führt.570 Demnach wurde in der Postmoderne eine Art Wechsel aus dem stabilen, kulturellen Rahmen der Traditionen hin zu einer „selbstbestimmten Politik der Lebensführung“ vollzogen.571 Dieser Aspekt lässt sich auch in Bezug auf den Protagonisten in Benjamin von Stuckrad-­‐Barres „Soloalbum“ diagnostizieren, da auch diese Figur angesichts der gesellschaftlichen Veränderungen mit der eigenen Bastelexistenz zu kämpfen hat. Zwar versucht er sich verschiedenen Kollektiven zuzuordnen beziehungsweise von anderen Gruppen abzugrenzen, so beispielsweise durch 568 Vgl. Malecha, Tom: Ich bin viele. S. 48 569 Malecha, Tom: Ich bin viele. S. 48 570 Vgl. Keupp, Heiner u.a.: Identitätskonstruktionen. S. 46f 571 Vgl. Keupp, Heiner u.a.: Identitätskonstruktionen. S. 47 165 seine Kleidung, seine Berufswahl oder seinen Musikgeschmack. Allerdings scheint er in keiner dieser einzelnen Gruppen seine Erfüllung zu finden, wobei ihn doch die Zusammensetzung der verschiedenen Kollektive allmählich zu einer Patchworkidentität führen wird. Allerdings fühlt sich der Protagonist zum Zeitpunkt der im Buch dargestellten Ereignisse aus seiner für ihn wichtigsten Stütze der Identitätskonstruktion, der Gruppe der Beziehungsmenschen, entbettet und befindet sich dadurch im Zustand der Identitätsdiffusion. Weiterhin kommt es auch zu einer „Entgrenzung von individuellen und kollektiven Lebensmuster[n]“572. Demnach sind nun Tugenden und Vorstellungen, beispielsweise Erziehung, Gesundheit, Geschlechterbeziehungen, Sexualität, usw. betreffend, weniger wichtig geworden und nicht mehr selbstverständlich. Da die Prägekraft dieser fest vorgegebenen Vorstellungen verloren gegangen ist, ist es für das Individuum nun wichtiger, sich auf sinnvolle und kluge Art und Weise zu entscheiden. Auch der Ich-­‐Erzähler in „Soloalbum“ ist demnach dieser Situation ausgesetzt, in der es darum geht, eigenständige Entscheidungen angesichts der oben genannten Themenbereiche zu treffen. Der Aspekt der Erziehung bleibt in diesem Fall unwichtig. Hinsichtlich der Gesundheit lässt sich erkennen, dass der Protagonist durch die veränderten Lebensumstände nach dem Beziehungsende mit Katharina zunächst unter äußerst ungesunden Bedingungen lebt. Er ernährt sich äußerst unbewusst und überhaupt nicht ausgewogen, treibt keinen Sport, sondern gammelt nur in seiner Wohnung herum, konsumiert Drogen und in hohem Maße alkoholische Getränke. Allmählich fasst er jedoch den Entschluss, seine Lebensweise zu ändern, sich also gesünder zu ernähren oder vor allem abzunehmen, etwas Sport zu treiben und weniger legale oder illegale Drogen zu konsumieren. Einerseits möchte er durch dieses Programm in gewisser Weise Katharina zurückgewinnen, andererseits auch seinen verletzten Männerstolz wiederherstellen. Obwohl er seine Vorsätze nur bedingt umsetzen kann, trägt seine getroffene Entscheidung im Endeffekt dann doch Früchte und er fühlt sich besser in seiner Haut. Was die Geschlechterbeziehungen betrifft, so lässt sich erkennen, dass vor allem die Beziehung zu Katharina die Stütze seiner Identität darstellte, denn er definierte sich größtenteils über seine Beziehung und die 572 Keupp, Heiner u.a.: Identitätskonstruktionen. S. 47 166 Rolle, die er darin spielte. Als diese Stütze einbricht, schwindet auch seine Konstruktion von Identität. Um sich von dieser Tatsache abzulenken und möglicherweise auch um eine Identität oder zumindest eine äußerliche Scheinexistenz aufzubauen, beschäftigt er sich mit einigen Frauen, die jedoch alle nicht zu seinem Lebensmuster zu passen scheinen. In diesem Zusammenhang spielt dann auch Sexualität nur insoweit eine Rolle, dass sie ihn in der hier dargestellten Zeitspanne von seinen eigentlichen Problemen ablenken kann und ihm dazu verhelfen soll, als Mann wieder auf die Beine zu kommen. Obwohl der Protagonist zeitweise auch inaktiv in einer abwartenden Position verharrt, trifft er dann doch allmählich Entscheidungen, die ihm dazu verhelfen sollen, zumindest eine Scheinexistenz aufzubauen. Denn trotz allem gelingt es ihm nicht, aus all seinen Entscheidungen und Zuordnungsversuchen eine kohärente und kontinuierliche Identität zu basteln. Eine weitere Umbruchserfahrung, welche zur Enttraditionalisierung führt, ist die, dass die Erwerbsarbeit an sich nicht mehr als Basis der Identitätskonstruktion standhält.573 In vergangenen Zeiten stellte die Erwerbsarbeit einen zentralen Aspekt in Bezug auf die Identitätskonstruktion dar, sodass man einen Beruf, den man erlernt und ergriffen hatte, auch eine längere Zeit oder sogar das ganze Leben lang ausübte. Demnach stellte der Arbeitsalltag „ein Kohärenz stiftendes Element des menschlichen Lebens [dar], da durch diese Tätigkeit verschiedene Lebensphasen und -­‐sphären miteinander verbunden wurden“574. Allerdings hat sich dieser Aspekt in der postmodernen Gesellschaft verändert: Arbeit hat weitgehend nicht mehr die Aufgabe, festgelegte Funktionen oder klare Karrierewege zu definieren, denn in der postmodernen Gesellschaft gilt es oftmals nur noch beschränktere und wechselhaftere Aufgaben zu übernehmen. Dies lässt sich auch am Beispiel des Ich-­‐Erzählers in „Sololabum“ feststellen, der zunächst bei einer Zeitschrift arbeitet, um kurze Zeit später zu einem Musikverlag zu wechseln. Obwohl seine Arbeitsstelle bei der Zeitschrift, wie er selbst sagt, „mehr als in Ordnung“575 war, scheint es ihm an der Zeit, eine neue 573 Vgl. Keupp, Heiner u.a.: Identitätskonstruktionen. S. 47 574 Malecha, Tom: Ich bin viele. S. 47 575 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 19 167 Aufgabe anzutreten, denn Arbeit scheint ständig verfügbar zu sein. Die Erwerbsarbeit hat somit keine Bedeutung für die Existenz und Identität des Protagonisten, sodass er seine Arbeitsstellen je nach Belieben wechseln kann. Des Weiteren wird in der postmodernen Gesellschaft die „multiphrene Situation“576 zur Normalerfahrung, sodass also die ständig wachsende Komplexität von Lebensverhältnissen oder Netzwerken zu einer Menge an Erfahrungen und Erlebnissen führt, die sich allerdings nicht mehr zu einem Ganzen zusammensetzen lassen. Auch der Ich-­‐Erzähler macht eine ganze Reihe von Erfahrungen und erlebt so einiges, nimmt an verschiedenen Diskursen teil und versucht sich bestimmten Kollektiven zuzuordnen, um so also sich selbst zu beschreiben und seiner Existenz einen Sinn zuzuschreiben. Allerdings gelingt es dem Protagonisten nicht, angesichts der „fragmentierten Welt“ seine Erfahrungen zu einem Ganzen zusammenzufügen und so die Möglichkeiten der multiphrenen Popkultur zur Selbstkonstruktion und -­‐entfaltung zu nutzen.577 Auch erschwert die Entstehung von virtuellen Welten und Gemeinschaften die Identitätskonstruktion in der postmodernen Gesellschaft, da dadurch die Zweifel an dem einen „Realitätsprinzip“ gefördert werden. Demnach ist es in dem Zeitalter der sozialen Netzwerke möglich, dass viele Wirklichkeiten nebeneinander existieren oder sogar miteinander konkurrieren oder zuweilen sogar durchdringen.578 Außerdem eröffnet die Entstehung der virtuellen Welten neue Spielräume, die es erlauben, verschiedene Lebensentwürfe zu gestalten und so verschiedene Facetten dabei auszuleben. Die Gefahr besteht allerdings darin, dass man diese Wege nicht dazu nutzt, die eigene Identität zu einem Ganzen zusammenzufügen, sondern sich in den virtuellen, irrealen Welten zu verlieren. Da diese Thematik zum Erscheinungsdatum von Stuckrad-­‐Barres „Soloalbum“ noch nicht ganz so populär war wie zum jetzigen Zeitpunkt, gerät dieser Aspekt jedoch eher in den Hintergrund. Für den Protagonisten in „Soloalbum“ jedenfalls stellt er noch keine Hürde auf dem Weg der Identitätskonstruktion dar. 576 Keupp, Heiner u.a.: Identitätskonstruktionen. S. 48 577 Vgl. Malecha, Tom: Ich bin viele. S. 48 578 Vgl. Keupp, Heiner u.a.: Identitätskonstruktionen. S. 49 168 Ein weiterer Aspekt, der zu den Umbruchserfahrungen der Postmoderne gehört und die Identitätskonstruktion erschwert, ist die Gegenwartsschrumpfung, welche der Zeitgeist erfährt. Demnach hat sich auch das Zeitempfinden des Subjektes verändert, besonders da sich die Gegenwartsereignisse derart verdichten, sodass diese bereits veraltet sind, ehe man sie wahrgenommen hat. Dies kann dann zu einem gewissen Zeitdruck oder zu einer Zeitnot führen.579 Der Protagonist in „Soloalbum“ leidet zunächst nicht unter Zeitdruck, da er aufgrund seines verstörenden Erlebnisses der Trennung in seiner desolaten Verfassung verharrt und sich nur auf die Vergangenheit mit seiner Identitätsstütze Katharina fokussiert. Er scheint zunächst überhaupt nicht mehr aktiv zu sein und sich in seinem Elend zu suhlen. Schließlich beginnt er mit einer Diät und Sport, was allerdings einerseits Teil seiner Verdrängungs-­‐ und Ablenkungstaktik ist, andererseits seine „Hoffnung auf eine Wiederbelebung der Beziehung“ schürt.580 Als er jedoch erfährt, dass seine Ex-­‐Freundin durch einen Umzug nach Passau die „Totaltrennung“581 vollzogen hat, verfällt er wieder in seinen anfänglichen Zustand der Passivität. Nach kurzer Zeit gibt er diesen allerdings auf und stürzt sich in verschiedene Aktivitäten, die sich aneinanderreihen: „Ich mache jetzt lauter Dinge, die nichts, gar nichts mit mir zu tun haben. Sonst wird das nichts. Ich gehe zum Friseur, ich setze meine Brille ab. Ich werfe sie in den Fluß. Tschüß, Brille, tschüß, Vergangenheit. Es geht auch ohne. Ohne Brille. Ohne Haare. Ohne Freundin? Hoffentlich. Ich arbeite wie ein Bekloppter, ich mache alles. Ich gehe mit auf Parties, ich bin nicht mehr zu Hause.“582 Hier überschlagen sich also die Ereignisse der Gegenwart, welche der Protagonist nur zulässt, um sich nicht mehr mit der Vergangenheit zu befassen und sich allmählich auf ein Leben als eigenständiges Ich zu konzentrieren: „Ich bin jetzt ich, ich bin nicht mehr halb-­wir, nicht mehr vollwirr, ab jetzt geht es wieder aufwärts, ich zerstreue mich und sammle mich später wieder ein, wieder auf, dann bin ich erneuert und lebensmutig, und ich werde lachen über dieses MÄDCHEN, das so dumm war, mich nicht zu erhören. MICH! [...] Aber ich muß einen 579 Vgl. Keupp, Heiner u.a.: Identitätskonstruktionen. S. 49f 580 Gast, Nicole:
Die Initiationsthematik im deutschsprachigen Pop-­‐Roman der Jahrtausendwende. S. 152 581 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 133 582 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 133f 169 Plan B nicht nur in der Tasche haben, ich muß ihn leben, sie ist weg, das ist jetzt mal so.“583 Schließlich ist er tatsächlich in der Lage, Abstand von Katharina zu gewinnen, vernünftig und konsequent zu handeln. Kurze Zeit später zieht er dann auch in eine neue Stadt und beginnt einen neuen Lebensabschnitt, dem er voller Optimismus und mit einer gewissen Reife entgegenblickt: „Ich werde Katharina nicht mehr anrufen, ganz bestimmt nicht. Es ist nun vorbei. Es hat eine solche Furche in mein Leben gezogen, aber ein Jahr und mehr, das reicht, das ist nun wirklich genug. Der Blick geht nach vorne.“584 Allerdings sieht sich das Ich der postmodernen Gesellschaft zwischendurch auch einer ganzen Pluralität an Lebensformen und Milieus ausgesetzt, sodass es zwischen den zahlreichen Alternativen aktiv wählen muss und sich quasi eine ganze Reihe von Projekten – Leben, Weltanschauung, Identität – zum Ziel auf dem Weg zur Patchworkidentität setzen muss.585 Somit stellt auch ein Großteil der Handlungen des Protagonisten ein „Durchspielen verschiedener Milieus und Subkulturen“586 dar: „Der Ich-­‐Erzähler besucht studentische WG-­‐Partys, Rockdiskos, Raves und Vernissagen, kann sich jedoch nirgends identifizieren“587, was sich allerdings gegen Ende des Werkes ändert, als er sich in Berlin ein Konzert seiner Lieblingsgruppe Oasis anschaut. Hier lässt er alle Vorbehalte fallen, benimmt sich absolut ungezwungen und geht im Kollektiv auf. Auch ist er hier auf unbegründete und irrationale Weise begeistert, sogar vom Kopf der Gruppe, der in seinen Tennissocken und mit seinem Bierbauch absolut nicht dem richtigen Kleidungs-­‐ und Inszenierungscode entspricht. Neben Aussehen, Kleidung und Inszenierung stellt auch noch das Alter und somit auch die Zugehörigkeit zu einer Generation eine ausschlaggebende Rolle bei der Auswahl und Bestimmung von Lebensform, Weltanschauung und Identität.588 Auch die Veränderung der Geschlechterrollen ist ein wichtiger Aspekt mittels der Umbruchserfahrungen in der postmodernen Gesellschaft. So wurden gerade durch die Frauenbewegung die alten Geschlechterrollen aufgebrochen, die nun einerseits im privaten Bereich, andererseits in der Öffentlichkeit neu diskutiert 583 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 134 584 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 202 585 Vgl. Keupp, Heiner u.a.: Identitätskonstruktionen. S. 50 586 Malecha, Tom: Ich bin viele. S. 44 587 Malecha, Tom: Ich bin viele. S. 44 588 Vgl. Malecha, Tom: Ich bin viele. S. 44f 170 und definiert werden. Männer wie auch Frauen werden auf ihrer Suche nach der Identität des Weiteren mit den traditionellen Lebensmustern der jeweiligen Geschlechter konfrontiert und können sich zeitgleich den neu eröffneten Möglichkeiten stellen.589 Der Ich-­‐Erzähler in „Soloalbum“ hat sich, zumindest was die Sexualität anbelangt, auf die heterosexuelle Lebensform festgelegt, die er zunächst in einer Partnerschaft mit Katharina auslebt. Er verkörpert dabei eher die traditionelle Rolle der männlichen Hauptfigur, für die Sexualität ein wichtiger Aspekt des Lebens an sich ausmacht. So ist der Protagonist auch von Natur aus an sexuellen Eroberungen interessiert und geht aus diesem Grund auch verschiedenen Soloprojekten nach. Ziel dieser Eroberungen ist es, besonders nach dem Ende der Beziehung mit Katharina, seine Triebe zu befriedigen, aber keine Liebesbeziehung einzugehen. Zu diesem Zeitpunkt sieht er Frauen also größtenteils als „Mittel zum Zweck“ und nutzt sie zur Triebbefriedigung aus.590 Grund dafür ist, dass er sich durch die emanzipierte Entscheidung Katharinas, ihn zu verlassen, in seiner Männlichkeit und seinem Stolz angegriffen fühlt und so versucht, seine Rolle als Mann wiederherzustellen. Um sich als Mann zu definieren, orientiert er sich hauptsächlich an dem Männlichkeitsbild, das von den Medien und der Gesellschaft an sich propagiert wird. Da er sich nach der Trennung seiner Identität als Mann nicht mehr sicher ist, beginnt er verstärkt, sich mit diesem Bild zu vergleichen. Als er entdeckt, dass er diesem nicht wirklich entspricht, ergreift er einige Maßnahmen, um sich diesem Bild des perfekten Mannes anzunähern. So ist es auch nicht verwunderlich, dass auch die Frau gewisse Kriterien erfüllen muss, um als potentielle (Sex-­‐)Partnerin in Frage zu kommen. Primäres Kriterium ist das Aussehen, sodass vor allem die Attribute hübsch, schön oder sexy von Bedeutung sind. Als weiterer Maßstab seiner Beurteilung spielt dann zwar auch die Intelligenz eine Rolle, der nicht zuletzt in Verbindung mit dem Konsumverhalten der Frau Bedeutung beigemessen wird. Doch neben den Frauen, die nicht diesen Kriterien entsprechen und also nur 589 Vgl. Keupp, Heiner u.a.: Identitätskonstruktionen. S. 51 590 Vgl. Nehl, Stefan: Männlichkeit in Benjamin von Stuckrad-­‐Barres „Soloalbum“. S. 15 171 seine Geringschätzung verdienen, gibt es kaum eine Frau, die er nicht als Lustobjekt ansieht.591 Nicht zuletzt verändert auch die zunehmende Individualisierung das Verhältnis des Individuums zum Kollektiv. Die zunehmende Herausbildung einer Ego-­‐
Gesellschaft bringt natürlich die Solidaritätsgemeinschaft in Gefahr, besonders da das postmoderne Subjekt sich losgelöst von Traditionen und gesellschaftlichen Bindungen wiederfindet und demnach ohne Interesse und Engagement für die Gemeinschaft nur die Einzelinteressen verfolgt.592 Betrachtet man nun den Protagonisten in „Soloalbum“, fällt auf, dass er sich nicht in besonderer Weise für die Gemeinschaft engagiert, wenn er auch, anders als Krachts Protagonist, durch seine Arbeit einen gewissen Beitrag zur (Unterhaltungs-­‐)Gesellschaft leistet. Nichtsdestotrotz ist ihm jedoch jedes „politische und kritische Denken suspekt“.593 So ist es auch nicht verwunderlich, dass auch die Generationenzugehörigkeit von Bedeutung ist und in besonderer Weise mit der vorherigen Generation der 68er verknüpft ist. „Die apolitische, den Konsum bejahende Haltung“, die auch der Protagonist in „Soloalbum“ vertritt, steht so in krassem Kontrast zu der Haltung der 68er, die er aufs Äußerste verabscheut594, was in folgendem Textauszug deutlich wird: „Dann steigt ein Vollidiot ein. Genauer: noch einer. Ich schätze mal: Theologe, eine fette Frau mit unrasierten Beinen, mindestens zwei ungewaschene Kinder. Natürlich mit einem Trekking-­Rad, mit dem man mühelos die Taiga durchqueren könnte, aber er muß damit natürlich durch die Stadt fahren (Helm auf, ist klar!) und uns allen zeigen, daß es auch ohne Auto geht. Warum er dann allerdings mit dem Fahrrad in den Bus steigt, ist mir nicht ganz klar. Wahrscheinlich, damit die Einkäufe nicht naß werden. Denn natürlich hat er eingekauft, die Frau liegt wahrscheinlich schon wieder schwanger auf dem Sofa, hat keine Lust auf Sex und riecht nach Gemüserülps. Für die nächsten Rülpse ist gesorgt, der Fahrradkorb hinten ist voll mit lauter Frischundgesund. Einkaufen heißt für diese Menschen immer nur: Fressen ranschaffen, und zwar möglichst günstig oder aber möglichst verträglich 591 Vgl. Nehl, Stefan: Männlichkeit in Benjamin von Stuckrad-­‐Barres „Soloalbum“. S. 15 592 Vgl. Keupp, Heiner u.a.: Identitätskonstruktionen. S. 51f 593 Vgl. Malecha, Tom: Ich bin viele. S. 45 594 Vgl. Malecha, Tom: Ich bin viele. S. 45 172 für Mama Erde und für die Familie, dann gerne auch teurer, was muß, das muß.“595 Die gedanklichen Aggressionen des Protagonisten entladen sich in diesem Fall auf die hier beschriebene Figur des „Theologen“, der ihm jedoch keinerlei Anlass dazu gegeben hat. In diesem Zusammenhang scheint es hier also „die Sehnsucht nach einem Feindbild, das einem die eigene Identität klar werden lässt“596, zu sein, die aus dem Ich-­‐Erzähler spricht. Er spinnt sich hier lediglich aus den Assoziationen, die er aufgrund der Kleidung, des Aussehens und des Auftretens des Theologen macht, ein Feindbild zusammen, das überhaupt nicht zu seinem apolitischen und unkritischen Wesen passt. Besonders zuwider ist ihm auch das „ökologische Bewusstsein“, das durch die oben beschriebene Figur verkörpert wird und als einzigen Sinn und Zweck hat, anderen Menschen ein schlechtes Gewissen einzureden und den Spaß zu verderben.597 So nimmt es nicht wunder, dass sich der Protagonist in keiner Weise politisch engagiert oder für die Umwelt kämpft, besonders da er sich von dieser von ihm verhassten Gruppe abgrenzen möchte. In diesem Sinne sind dann auch die traditionellen Instanzen der Sinnvermittlung unbedeutend geworden. Das Individuum muss als „Konstrukteur seines eigenen Sinnsystems“598 agieren. Auch der Ich-­‐Erzähler in „Soloalbum“ muss nach dem Einbrechen seines Identitätsgerüstes durch das Beziehungsende mit Katharina nach dem Sinn des multiphrenen, postmodernen Lebens suchen und sich aus den verschiedenen Möglichkeiten eine neue Identität zusammenbasteln und somit seine Existenz sichern. Obwohl es ihm zeitweise schwerfällt, sich mit den einzelnen Kollektiven zu identifizieren, gelingt es ihm später jedoch teilweise, sein Leben in den Griff zu bekommen, sein eigenes Drehbuch zu konzipieren und für sich eine alternative Lebensform, einen Plan B in Angriff zu nehmen, wenn dies zunächst auch nicht immer aus den richtigen Gründen geschieht. 595 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 81f 596 Berger, Jan: Verloren im Faselland – Woher kommt die Traurigkeit der neuen deutschen Pop-­‐Romane? In: Süddeutsche Zeitung. 30.11.1998. S. 13. In: Malecha, Tom: Ich bin viele. S. 45 597 Vgl. Malecha, Tom: Ich bin viele. S. 45 598 Keupp, Heiner u.a.: Identitätskonstruktionen. S. 52 173 2.2.2.3. Lösungen In Benjamin von Stuckrad-­‐Barres Roman erlebt der Ich-­‐Erzähler zunächst eine durch die Trennung ausgelöste Identitätsdiffusion. Nachdem er sich wochenlang in seiner Wohnung selbst bemitleidet hat, trifft er zunächst die Entscheidung, sich mit Sport und Diät abzulenken und darin seine Erfüllung zu finden. Da er jedoch zeitgleich darüber nachdenkt, dass diese Maßnahmen einen positiven Effekt auf die Wiederbelebungsversuche der Beziehung haben könnten, kann hier also nicht von einer Lösung seines Problems, der Identitätsdiffusion, die Rede sein. Allerdings versucht er seine innere Leere, welche durch den Verlust seiner Freundin verstärkt wurde, zu betäuben, indem er sich einerseits vor allem dem Alkohol hingibt und andererseits in vielfachen Situationen in die Welt der Musik abzutauchen versucht. Beide Beschäftigungsmaßnahmen haben für den Protagonisten den Sinn und Zweck, aus seiner trostlosen Welt zu entfliehen und sich selbst eine „andere, verbesserte Realität zu schaffen“599. Auch hier geht es in erster Linie darum, die Trennung von seiner Freundin und seine eigenen Fehler, die er im Vorfeld der Trennung gemacht hat, zu verdrängen und sich davon abzulenken, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Demnach steht hier die Ablenkung im Vordergrund und nicht die Reflexion. In den Ausführungen des Schriftstellers wird jedoch bereits zu Beginn deutlich, dass der Protagonist ein massives Alkoholproblem zu haben scheint, wenn er beispielsweise erwähnt, dass er die Wochen nach der Trennung in Depression und Trunksucht verbracht hat.600 Nichtsdestotrotz scheint er selbst erkannt zu haben, dass er ein Problem hat: „Es gibt Alkohol. Und alle trinken. ALLE. Früher gab es etliche, die nie getrunken haben. Das waren Glaubenskriege! Jetzt können alle mit Alkohol umgehen (bis auf David und mich vielleicht) [...]“601 Genau wie in Krachts „Faserland“ dient auch hier der Alkoholkonsum dem Protagonisten als „Mittel der Verdrängung, des Trostes und der Realitätsflucht“602. Sinn und Zweck des Konsums von Alkohol und in diesem Fall 599 Vgl. Gast, Nicole:
Die Initiationsthematik im deutschsprachigen Pop-­‐Roman der Jahrtausendwende. S. 155 600 Vgl. Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 12 601 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 169 602 Gast, Nicole: Die Initiationsthematik im deutschsprachigen Pop-­‐Roman der Jahrtausendwende. S. 156 174 auch von Drogen ist es, den Protagonisten in einen Zustand der Indifferenz gegenüber sich selbst und anderen Menschen zu bringen. Weiterhin soll die Exzessivität des Konsums hier die Passivität und Antriebslosigkeit des Ich-­‐
Erzählers hervorheben603: „Ein Bekannter von gegenüber hat per Anrufbeantworter angefragt, was denn bei und mit mir los sei, warum denn die Flaschen auf dem Balkon immer mehr würden, ich aber nie zu sehen sei und die Jalousien immer unten blieben. Ich habe nicht zurückgerufen, ich lasse die Welt draußen, nur manchmal mache ich kurz die Tür auf und werfe mehr Flaschen auf den Balkon.“604 Auch der stellenweise beschriebene Kokainkonsum soll unterstreichen, dass es ihm in seiner Lage nur durch Rauschmittelgenuss gelingt, die Dinge zu genießen, obwohl ihm dann auch in diesem Zustand seine innere Leere und Traurigkeit immer noch bewusst sind: „Dann holt sie ein bißchen Koks raus, und das ist so beruhigend und aufregend zugleich – she’s kaputt too! Und sieht trotzdem noch super aus, da macht Mut. Es geht noch drunter! Und drüber sowieso. Es ist phantastisch. Wir kippen hintereinander hintenüber, und dann brabbeln wir und schniefen, und die Welt klang lange nicht so gut.“ […] „Aber erst mal machen wir it happen. Wir gehen noch mal auf die Party, da bin ich dabei aber nicht zugegen, ich kriege nichts mit, bin mit mir selbst beschäftigt, der Rausch hebt alles an, auch die Sicht, ich sehe nur noch Wolken.“605 Der Drogenkonsum insgesamt schafft es, durch den wirkungsvollen Rausch und den damit verbundenen Zustand der verzerrten Realitätswahrnehmung dem Protagonisten in gewisser Weise Trost zu spenden. Dagegen erreicht es auch die Musik, und besonders die der Brit-­‐Pop-­‐Band Oasis, ihm – vor allem durch die realistischen und gefühlsechten Beschreibungen von Stimmungen – Trost und Beruhigung zu spenden. In diesem Zusammenhang kann dann die ausgewählte Musik als „Stimmungsbarometer des „Erzähler-­‐Ichs“ und als „Illustrationsfolie für die innere Gefühlslage des Erzählers“ gesehen werden.606 603 Vgl. Gast, Nicole:
Die Initiationsthematik im deutschsprachigen Pop-­‐Roman der Jahrtausendwende. S. 156 604 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 148 605 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 74f 606 Vgl. Jung, Thomas: Die Geburt der Popliteratur aus dem Geiste von Mozart und MTV. Anmerkungen zu Benjamin von Stuckrad-­‐Barres Roman Soloalbum. In: Jung, Thomas (Hrsg.): Alles nur Pop? Anmerkungen zur populären und Popliteratur seit 1990. 175 So können die Musik und die damit verbundenen Songtexte beispielsweise ein bestimmtes Gefühl auslösen oder ein vorhandenes verstärken. Im Falle des Protagonisten spiegelt die ausgewählte Musik dann auch meistens seinen Gemütszustand oder die beschriebene Atmosphäre wider: „Am Wochenende habe ich nur 15 Mark ausgegeben. Ich bin nicht rausgegangen. Ich habe hier gesessen, gelegen, an die Wand geguckt und traurige Musik gehört. Die Musik wird – wie ich – immer trauriger. Am Anfang konnte ich nicht lauten Krach hören, der hat mich fortgetragen. Nun lasse ich nur noch alte Männer für mich singen, in der Hoffnung, vielleicht selbst noch einer zu werden, möglichst bald. Elvis Costello, Neil Young. Letzterer quäkt zu sehr, da muß ich dann doch immer lachen, und das will ich ja gar nicht. Tom Waits, Nick Cave, Tindersticks. Oasis sogar sind mir zu laut, das ist ein schlimmer Moment, ohne die wollte ich eigentlich nie sein [...]“607 Meistens jedoch kann ihm die Gruppe Oasis Trost spenden, besonders da vor allem die Mitglieder der Band, die „sich als biertrinkende, fußballliebende, spaß-­‐ und streitsüchtige Radaubrüder darstellen“608, als Helden verehrt werden. Nach Gast stehen sie weiterhin „für das Verlangen nach ironiefreier Unmittelbarkeit, für Spaß und kompromissloses Fan-­‐Sein, für ‚Prollerei und Dosenbier und überhaupt Schweinerock‘609, für Coolness und Arroganz, für angenehmen Zeitvertreib ohne mitgelieferte Ideologie“610. Zum einen tragen die Musik der Band Oasis und die Begeisterung für sie in gewisser Weise einen großen Teil zur Identität des Protagonisten bei, zum anderen kann sie als „ordnungsstiftendes Lebens-­‐Prinzip“611 angesehen werden. Frankfurt am Main 2002. S. 137-­‐156. In: Gast, Nicole: Die Initiationsthematik im deutschsprachigen Pop-­‐Roman der Jahrtausendwende. S. 157 607 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 105 608 Gast, Nicole: Die Initiationsthematik im deutschsprachigen Pop-­‐Roman der Jahrtausendwende. S. 157 609 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 243 610 Vgl. Appen, Ralf von: Kein Weg aus dem Dilemma von Rock und Ironie. Die Musik in den Schriften Benjamin v. Stuckrad-­‐Barres. In: Pankau, Johannes G.: Pop-­‐Pop-­‐Populär. Popliteratur und Jugendkultur. Oldenburg 2004. S. 158-­‐162. In: Gast, Nicole: Die Initiationsthematik im deutschsprachigen Pop-­‐Roman der Jahrtausendwende. S. 157 611 Jung: Die Geburt der Popliteratur aus dem Geiste von Mozart und MTV. Anmerkungen zu Benjamin von Stuckrad-­‐Barres Roman Soloalbum. In: Jung, Thomas (Hrsg.): Alles nur Pop? Anmerkungen zur populären und Popliteratur seit 1990. Frankfurt am Main 2002. S. 137-­‐156. S. 149. In: Gast, Nicole: Die Initiationsthematik im deutschsprachigen Pop-­‐Roman der Jahrtausendwende. S. 157 176 Weiterhin bringt die Musik von Oasis auch die Unmittelbarkeit, die Echtheit der Rock-­‐Musik an sich mit, die besonders durch das Erleben auf der Tanzfläche oder bei einem Live-­‐Konzert durch den Lärm und die Lautstärke eine gewisse Präsenz vermittelt. Aufgrund dieser Echtheit ist Oasis nach Gast also für den Protagonisten „zu einer Anlaufstelle in Zeiten emotionaler Unsicherheit geworden, denn durch seine jeweilige Reaktion auf die Musik bekommt er selbst gezeigt, wie er gerade empfindet“612: „Bin sehr einsam. Manchmal glücklich. Ich höre immer nur noch Oasis.“ „[...] Das Stück ‚All Around the World‘ dauert 10 Minuten, es ist wunderbar, das schönste Stück im Moment. Zum Schluß ist da alles sehr durcheinander, und durchs Megaphon wird geechot ‚And I know and I know – it’s gonna be alright‘. Das und auch das Hymnische Scheitern ‚These are crazy days but they make me shine/ Time keeps rolling by’ beruhigt mich ungemein.“613 Wichtig für die Verehrung der Band ist auch das Gruppengefühl, das den Protagonisten in „Soloalbum“ mit anderen Fans verbindet. Obwohl dieses Gefühl einerseits das Ziel ist, bringt es andererseits auch Probleme mit sich, weil er sich dadurch in die Masse eingliedern muss und sich, was seinen Musikgeschmack betrifft, nicht mehr von dieser unterscheidet. Zunächst ist er jedoch der Überzeugung, dass gerade er als Kenner der Band sich vom Mainstream unterscheidet und somit anders ist: „Wenn man sie morgens in der U-­Bahn sieht, die Eiligen, die kaum älter sind als ich, so dicht nebeneinander gedrängt, im Cocktail aus Schweiß und brünftigen Rasierwässerchen die Pest der Gemeinschaft inhalierend – dann weiß man ja, daß sie keine Oasis-­Platten kennen, nur ‚Wonderwall‘ vom Kuschelrock-­Sampler.“614 Allerdings wird mit fortschreitender Beschreibung der Ereignisse im Buch deutlich, dass es immer schwieriger wird, Oasis oder ähnliche Gruppen zu verehren und sich dadurch von der Masse abzuheben, besonders weil diese Bands dann doch von allen gehört und gemocht werden. Dies bringt für den Protagonisten also das Problem der Abgrenzung mit sich, das an sich sowieso im Kontrast zu seinem Bedürfnis, sich einem Kollektiv anzuschließen, steht. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass er in einer Zwickmühle steckt, denn 612 Gast, Nicole:
Die Initiationsthematik im deutschsprachigen Pop-­‐Roman der Jahrtausendwende. S. 157 613 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 203f 614 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 45 177 „einerseits besteht das Ziel darin, im Gruppengefühl aufzugehen, andererseits geht es darum, gleich und anders in einem zu sein“615. Gegen Ende des Romans zeigt sich jedoch, dass sich seine Einstellung gewandelt hat, als er seine Erfüllung bei einem Oasis-­‐Konzert in Berlin findet. Der Protagonist hat sich nicht etwa in eine neue Partnerschaft gestürzt oder krampfhaft versucht, neue Freundschaften zu schließen – nein, um der Einsamkeit zu entgehen, sucht er schließlich Trost im Kollektiv der Fangemeinde von Oasis. Er gibt die Distanz, die er in seiner Außenseiterposition innehatte, und demnach auch sein individuelles Ich auf, vergisst das „Halb-­‐Wir“ und geht über zum kollektiven Wir-­‐Erlebnis.616 Die Musik fungiert hier nicht nur als Möglichkeit, sich zu trösten oder abzulenken, sondern gleichzeitig auch als Möglichkeit, die Einsamkeit aufzugeben, sich in ein Kollektiv einzufügen und so also ein Stück weit Identität wiederzufinden. 2.2.2.4. Ich-­‐Verlust In der postmodernen Gesellschaft besteht permanent die Gefahr des Identitätsverlustes, dem nur dadurch entgegengewirkt werden kann, dass sich das Ich aus einer Reihe von Teilidentitäten eine Bastelexistenz oder Patchwork-­‐ Identität zusammensetzt, denn nur so scheint Identitätskonstruktion in der Postmoderne gelingen zu können. Wie bereits erwähnt wurde, muss der Mensch jedoch die Fähigkeit aufweisen, eine gewisse Kohärenz und Kontinuität zu wahren, um überhaupt eine Ich-­‐Identität aufweisen zu können. Nichtsdestotrotz spielt auch seine Beziehung zu seinem sozialen Umfeld eine Rolle, die als qualitative Identität zu bezeichnen ist. Der Mensch muss also durch Differenz-­‐ und Alteritätserfahrungen selbst entscheiden, was er sein will, und ist also dazu bestimmt, aus einer ganzen Vielfalt an Rollen seine eigene Individualität „zusammenzubasteln“. Das Problem dabei ist allerdings, einen festen Kern zu 615 Gansel, Carsten: Adoleszenz, Ritual und Inszenierung in der Pop-­‐Literatur. In: Arnold, Heinz Ludwig und Jörgen Schäfer (Hrsg.): Pop-­‐Literatur. München: Text + Kritik. Sonderband X/03, 2003. S. 234-­‐257. S. 251: In: Gast, Nicole: Die Initiationsthematik im deutschsprachigen Pop-­‐Roman der Jahrtausendwende. S. 158 616 Vgl. Gast, Nicole: Die Initiationsthematik im deutschsprachigen Pop-­‐Roman der Jahrtausendwende. S. 158f 178 konstruieren, sodass es nicht unwahrscheinlich ist, dass das Ich in eine Identitätskrise gerät, wenn es ihm misslingt, Kohärenz und Kontinuität herzustellen oder zu wahren. Demnach ist es nicht verwunderlich, dass sich das Subjekt in der Gesellschaft der 1990er Jahre der ständigen Gefahr des Identitätsverlustes ausgesetzt sieht. Demnach scheint auch das Ich in Benjamin von Stuckrad-­‐Barres „Soloalbum“ dieser stetigen Gefahr ausgesetzt zu sein, besonders da es durch das einschneidende Erlebnis der Trennung von seiner Freundin Katharina in gewisser Weise eine Säule seiner Identitätskonstruktion verliert und sich zu Beginn des Romans in einem Zustand der Identitätsdiffusion wiederfindet, der sich durch die Orientierungslosigkeit, Depressionen und allgemeine Unsicherheit ausdrückt. Allerdings ist bei dem Protagonisten in „Soloalbum“, anders als in Krachts „Faserland“, eine reaktive Identitätsstörung zu erkennen, die durch den schicksalhaften Bruch, die Trennung von seiner Freundin Katharina, bewirkt wurde. Allerdings wird die Identitätsstörung bereits dadurch deutlich, dass sich keine genauen persönlichen Informationen zum Protagonisten finden lassen, wie zum Beispiel Name, genaues Alter oder Herkunft. Auch ihm fehlt also, genau wie dem Protagonisten in „Faserland“, das „formale Minimum für Identitätszuweisung“617. Auf den ersten Blick scheint der Ich-­‐Erzähler eine arme, bemitleidenswerte Gestalt zu sein, die sich in ihrem Selbstmitleid in ihrer Wohnung verkriecht und es nicht schafft, den Alltag zu meistern. Während der ganzen Darstellung der Ereignisse wird jedoch klar, dass die Trennung allein nicht der Grund für seine Identitätsdiffusion sein kann, auch wenn – zumindest hat es den Anschein – sein einziges Ziel es zunächst ist, die Trennung zu vergessen und sich durch diverse Methoden abzulenken oder die Beziehung mittels zahlreicher Versuche wiederzubeleben. Der Ich-­‐Erzähler scheint weiterhin imstande zu sein, Entscheidungen zu treffen, auch wenn er diese unreflektiert oder ganz und gar grundlos trifft. Allerdings gestaltet sich sein Leben eher passiv, sodass er es meistens nicht selbst aktiv in die Hand nimmt, sondern sich treiben lässt. Da er also in seiner Handlungsfähigkeit in gewisser Weise eingeschränkt ist, befindet 617 Krätzer, Jürgen: Kommentar. S. 150. In: Virag, Attila: Ich-­‐Konzepte in deutschen Romanen aus den letzten Jahrzehnten. S. 30 179 er sich in einer orientierungslosen Verfassung, wobei er sich seiner ambivalenten Situation hinsichtlich seines sinnlosen Handelns oder Nicht-­‐
Handelns bewusst ist, wenn er beispielsweise meint: „Ich würde gerne lauter sinnvolle Dinge tun. Also ihrem Wesen nach sind sie sinnvoll: aufräumen, den Papierscheiß erledigen (oder doch wenigstens damit anfangen!), ein und sogar auch zwei Bücher lesen, sich mit klugen Menschen treffen, abwaschen, staubsaugen, Sport treiben, es mit einer Frau treiben, lüften, Altglas weg, Altpapier gleich mit. Aber zu all dem bin ich heute nicht in der Lage, war es gestern nicht, wage gar nicht an morgen zu denken. Sonst ja auch nicht, aber dann fällt es mir auch nicht weiter auf. Heute türmt es sich, nicht nur das Geschirr, das ist normal, nein, ständig liste ich all diese formalen Versäumnisse auf. Um mir so alles zu erklären. Vielleicht ist es auch bloß ein niedlicher Versuch, dem schütter ausgefransten Dahingelebe Struktur überzustülpen, das ist ja ein beliebter Trick.“618 Es scheint demnach so, als ob das „permanente Sinnbasteln“ [...] „zum eigentlichen Lebenssinn“ wird.619 Die Gemeinsamkeit der verschiedenen Komponenten muss dann allerdings in der Ästhetik liegen, „die alle Lebensbereiche überformt und eigene Stilsphären schaffen kann“620: „Dass dabei eine Joghurtsoße, eine Britpopband und eine Hosenmarke zur Weltanschauung werden können, zeigt nur den Umstand, dass sonstige Globalisierungstendenzen nicht gefragt sind.“621 Auch der Protagonist geht einem gewissen Ästhetikfetischismus nach, der sich in einer „wertezertrümmerten Umwelt“ an seinem eigenen individualisierten Wertekodex zu orientieren sucht, um so Halt und Orientierung zu erreichen. Er richtet sich also nach dem Scheinwertesystem der Konsumgesellschaft der 1990er Jahre und definiert sich so beispielsweise durch seine Kleidung, durch seine Musik, aber auch durch seinen Sprachgebrauch. Ziel ist es dabei, sich verschiedenen Kollektiven zuzuordnen, aber auch sich gegenüber anderen, nicht tolerierten Menschen und Gruppen 618 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 44 619 Kern, Björn: Postmoderne Bastelexistenzen im Zeichen von Pop: Benjamin von Stuckrad-­‐Barres „Soloalbum“ und die „Generation Golf“. Norderstedt 2001 S. 6 620 Kern, Björn: Postmoderne Bastelexistenzen im Zeichen von Pop: Benjamin von Stuckrad-­‐Barres „Soloalbum“ und die „Generation Golf“. S. 6 621 Köhnen, Ralph: Selbstbeschreibungen jugendkultureller Selbstästhetik. In: Deutschunterricht 5 1999. S. 5. In: Kern, Björn: Postmoderne Bastelexistenzen im Zeichen von Pop: Benjamin von Stuckrad-­‐Barres „Soloalbum“ und die „Generation Golf“. S. 6 180 abzugrenzen. Die Sinnstiftung erfolgt in diesem Sinne also nicht mehr auf eine positive Art und Weise, beispielsweise anhand von bestimmten Idealvorstellungen, sondern auf eine negative, durch die Abgrenzung von anderen. Der Protagonist hat für sich selbst gewählt, sich durch seinen Kleidungsstil, die Musik und seine Sprechweise von denjenigen abzugrenzen, die ihm zuwider sind. Nichtsdestotrotz scheint er sich einem Kollektiv zuordnen zu wollen, um wenigstens in der Gruppe ein gewisses Gefühl der Identität spüren zu können. Hier lässt sich dann wiederum die Orientierungslosigkeit, die den Ich-­‐
Verlust oder die Identitätsdiffusion des Protagonisten verstärkt unterstreicht, erkennen, wenn er beispielsweise verschiedene Milieus und Subkulturen durchspielt, sich aber nirgends wirklich zu Hause fühlt und sich zunächst mit keiner dieser Gruppen identifizieren kann. Trotz allem versucht er beispielsweise, sich durch die Auswahl der richtigen Kleidung und Musik eine Scheinidentität zu bewahren, die ihn übergangsweise am Leben erhält. Allerdings scheint er zumindest zu Beginn der Handlung völlig von seiner eigenen Szene entfremdet zu sein und nimmt sein Umfeld überhaupt nicht mehr wahr. Offenbar lebt er in seiner eigenen Blase, in der nur noch die Gedanken rund um die Ex-­‐Freundin schweben. Als er schließlich unsanft aus seiner Blase gerissen wird, indem seine Wohnungstür von einer ganzen Horde von besorgten Menschen aufgebrochen wird, beschließt er, zumindest wieder einer geregelten Arbeit nachzugehen. Da er einen Neuanfang gebrauchen kann und ihm der alte Job sowieso langweilig geworden ist, entscheidet er, in die Musikbranche zu wechseln. Er interessiert sich zu diesem Zeitpunkt verstärkt für Musik und obwohl er in diesem Job nur eine Woche im Monat richtig arbeiten muss, geht er zumindest einer geregelten Tätigkeit nach. Genau diese Art der Arbeitsstelle passt dann auch zu seiner Störung bezüglich des Werksinns, denn es ist für ihn im Allgemeinen schwer, sich zu konzentrieren und seine Arbeit ordentlich zu erledigen. Dies fällt jedoch besonders auf, wenn ihm beispielsweise die einfachsten Dinge wie Putzen, Aufräumen, Müllentsorgung usw. äußerst schwerfallen und so auch trotz aller To-­‐do-­‐Listen unerledigt liegen bleiben. Sein ganzes Leben ist von dieser Passivität bestimmt, sodass der Protagonist nichts in seinem Leben wirklich und autonom in Angriff zu nehmen scheint. Seine eigenen 181 Handlungen beruhen somit meistens nur auf Entscheidungen und Aktionen anderer und sind somit größtenteils eher als Reaktionen zu werten. Obwohl die verschiedenen Milieus und Subkulturen nicht identitätsstiftend auf den Protagonisten wirken, besucht er zahlreiche Veranstaltungen wie Partys, Rockdiskos, Raves und Vernissagen. Dies geschieht jedoch meistens nicht auf eigene Initiative hin, sondern auf die eines Freundes, der ihn aus seinem Loch befreien will. Die Partys an sich interessieren ihn relativ wenig, aber er kann dort zumindest seine Langeweile, Orientierungslosigkeit und seine Sehnsucht nach Halt mit Alkohol und Drogen betäuben und sich so seinen Rauschzuständen ergeben, welche dann allerdings seine gestörte Selbstwahrnehmung weiter verstärken und vermehrt auch zum fortschreitenden Ich-­‐Verlust beitragen. Seine Identitätsdiffusion äußert sich jedoch auch in den sprachlichen Äußerungen des Protagonisten, welche stellenweise auf parodierende Art und Weise verschiedene Klischees aufdecken und welche sich besonders auf den Bereich der Medien und besonders der Musikkritik ausweiten. So meint er beispielsweise über seine Arbeit bei der Zeitschrift Folgendes: „Zwar hatte ich überhaupt keine Lust mehr Leuten, die seit 20 Jahren dabei sind und die auch diese 20 Jahre älter waren als ich, regelmäßig mitteilen zu müssen, daß es nicht nur unnötig, sondern auch verboten ist, über neue Platten Sätze zu schreiben wie: Der Titel ist Programm, die pumpernden, durchaus zeitgemäßen Clubsounds gemahnen an das und das, die zuckersüßen, schwärmerischen Beatlesmelodien verzaubern, die Texte sind kantiger geworden, man darf gespannt sein auf die Tournee, doch klingt das Ganze inzwischen runder und somit auch poppiger, weniger gewagt als zuvor, die Mannen um die charismatische Frontfrau haben eine magische Bühnenpräsenz. Diese Art Text kam jeden Tag aus dem Fax geschnurrt, egal von wem, egal worüber, das konnte einen schon runterziehen.“622 Der Ich-­‐Erzähler kritisiert hier die Inhaltslosigkeit und das Floskelhafte der Medienbranche, welche sich vor allem in den Texten der Musikkritiken äußern und so der Welt ihre Gegenstandslosigkeit offenbaren. Ähnlich floskelhaft geht es dann auch in der zwischenmenschlichen Kommunikation zu, wie der Protagonist in folgendem Beispiel schildert: „Also diese Nadja. Sie ist wieder da aus Frankreich. Sie hat angerufen und da kam der ganze Pärchenscheiß (habe dich 622 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 17 182 vermißt/was hast du gemacht/hast du an mich gedacht/ohne dich ist es so langweilig/wir müssen uns sehen/ich möchte mal wieder neben dir einschlafen) aus dem Hörer, das hat mich ziemlich erstaunt[...]“623 Es ist besonders die mangelnde Originalität und Individualität, die er hier kritisiert und die den Protagonisten bis aufs Äußerste reizt und ihn dazu veranlasst, Nadja anzuschreien und darum zu bitten ihm „ENDLICH MAL WAS SPANNENDES“624 zu erzählen. Nichtsdestotrotz verfällt auch er selbst stellenweise in verschiedene, klischeehafte Rollen, so zu Beispiel in die Rolle des Verlassenen, und greift demnach auch selbst bereits bestehende Verhaltens-­‐ und Sprechweisen auf, obwohl ihm diese sozialen Rollenklischees absolut zuwider sind625: „Man verhält sich ja doch nur blödlangweilig und wie alle begossenen Pudel. Da ist Essig mit all den Individualistenträumen, da wird man blödes Mitglied im Club der gebrochenen Herzen, vernichtet Fotos, ruft an, legt auf, fährt am Fenster vorbei, sucht trinkend nach schnellem Ersatz, hört genau die Musik, die gerade noch fehlte, zerreißt die Briefe und verbrennt lauter Krempel oder gibt ihn portionsweise dem Wind oder den Fluten mit.“626 Hiermit ordnet sich der Protagonist den ihm vorgegebenen Verhaltensschemata unter, die ihm aufgrund seiner Persönlichkeit eigentlich sehr suspekt sind und denen er sich in seiner Verfassung der Identitätsdiffusion zumindest zu Beginn der Handlung nicht entziehen kann. Zumindest trägt der er meistens noch seine geliebten Anzüge, die als eine Art Panzer gegen die abstoßende Außenwelt dienen und es ihm einfacher machen, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, aber auch als Verschleierung der eigenen inneren Leere eingesetzt wird. Zeitweise schafft er es allerdings auch nicht mehr, diesen Teil seiner Persönlichkeit aufrechtzuerhalten, und schlüpft zunehmend weniger in seine Kostümierung. Weiterhin scheint er zunehmend zum gesellschaftlichen Außenseiter zu werden, obwohl er noch einige Freunde hat, die sich um ihn kümmern und ihn gelegentlich zu belanglosen Partys oder irgendwelchen anderen Unternehmungen mitschleppen. Schließlich gibt er jedoch auch fast alle Freundschaften auf, die seiner eigenen Aussage nach nicht wirklich viele sind, 623 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 179 624 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 182 625 Vgl. Malecha, Tom: Ich bin viele. S. 42 626 Stuckrad-­‐Barre, Benjamin von: Soloalbum. S. 37 183 indem er in eine andere Stadt zieht. Mit dem Fortschreiten der Handlung wird allmählich auch deutlich, dass alle Bemühungen, sich abzulenken, abzugrenzen oder zuzuordnen, von dem Leid, der Unsicherheit und Orientierungslosigkeit des Protagonisten zeugen, welcher sich nirgends zugehörig fühlen kann und es nicht versteht, die Möglichkeiten der Popkultur zu nutzen. Bis auf den kleinen Moment der Glückseligkeit, des Aufgehens in der Masse beim Oasis-­‐Konzert in Berlin, weist nichts darauf hin, dass sich der Protagonist in irgendeiner reflektierten Art und Weise selbst wirklich in Frage gestellt hat, sondern der Welt immer noch hilflos und ohne Orientierung gegenübersteht. 184 Abschließende Gedanken Im Laufe der Beschäftigung mit dem Thema dieser Arbeit stellte sich heraus, dass der Begriff „Pop“ an sich nicht einfach zu definieren ist. Vorrangig ist hier vor allem, dass das Phänomen „Pop“ und damit die dazugehörige Literatur ein Phänomen seiner Zeit ist. Für das Feuilleton scheint die Popliteratur der 1990er Jahre nur ein begrenztes Phänomen der Spaßgesellschaft gewesen zu sein, das mit den Ereignissen des 11. September gewisserweise zu Grabe getragen wurde. Dies lässt sich an den deutlichen literarischen Veränderungen ab dem Jahre 2002 hin zu einer wieder ernsthafteren Literatur festmachen. Im Zuge dieser gesamtgesellschaftlichen Katastrophe scheinen die Zeiten von Oberflächlichkeiten, Hedonismus und Luxus vorbei zu sein und die popmoderne Kultur also auch sein Milieu verloren zu haben. In dieser Arbeit wurden dabei dieses zeitlich sehr kurze Phänomen der Popliteratur und die Schwierigkeit der Identitätssuche und -­‐findung angesichts einer spaßorientierten Gesellschaft anhand zweier Werke untersucht. Zunächst wurde jedoch das Phänomen „Pop“ an sich näher betrachtet und dabei versucht, einige Definitionen des Begriffs zu betrachten. „Pop“ und die dazugehörige Literatur ist ein Produkt seiner Zeit und kann im Endeffekt alles sein. Festzustellen war hier, dass der deutsche Begriff „populär“, von dem der Begriff „Pop“ abstammt, einen eher negativen Beigeschmack vermittelt und gleichzeitig auf die ebenfalls negativ empfundene Massenkultur verweist. Nichtsdestotrotz bezeichnet dieser Begriff ebenfalls einen künstlerischen Prozess, der vorgefundene Oberflächen neu gestaltet und somit eine positive Wirkung erzielt. Popliteratur erscheint aufgrund seiner positiven, lebensbejahenden Struktur für jeden Leser zugänglich, aber nicht für jeden absolut verständlich. Betrachtet wurde weiterhin der Ursprung der Popliteratur, welcher Mitte des 20. Jahrhunderts festzumachen ist. Die Popliteratur an sich hat ihren Ursprung in der amerikanischen Literatur, wurde Ende der 1960er Jahre erstmals von Leslie A. Fiedler eingeführt und schließlich von Rolf Dieter Brinkmann in Deutschland populär gemacht. Oftmals wurde der Begriff verwendet, um diese Form der Literatur von der ernsthaften Nachkriegsliteratur 185 abzugrenzen. Weiterhin bot die Popliteratur während der Studentenrevolten der Jugend an sich die Möglichkeit, sich auf ihre eigene Art und Weise auszudrücken und sich gegen die Elterngeneration abzugrenzen. In den weiteren Jahrzehnten der 1970er und 1980er Jahre entwickelte sich diese Art der Literatur zu einem subversiven Spiel mit bereits vorhandenen Zeichen und Texten. Nach der Politisierung der Popliteratur und den eher gesellschaftspolitischen Ideen wurde nun der Rückzug ins Private verdeutlicht, bis die einstmals rebellische Note der Popliteratur schlussendlich in den 1990er Jahren definitiv verloren ging. Innerhalb der Unterhaltungsindustrie verkam die Popliteratur zu diesem Zeitpunkt immer mehr zu einer Dienstleistung und wurde oftmals mit dem Begriff „Easy Reading“ in Verbindung gebracht. Christian Krachts Erstlingswerk, das hier zum Gegenstand der Analyse wurde, verhalf der Popliteratur Mitte der 1990er Jahr zu einem erneuten Boom, der sich, wie bereits erwähnt, bis in die 2000er Jahre fortsetzte und eine Handvoll Schriftsteller, vor allem die des popkulturellen Quintetts, umfasste. Themen dieser Art der Literatur in den 1990er Jahren waren vor allem Musik, Drogen, Reisen, Medien usw. Ziel war es vorrangig, einen Ausschnitt der Welt und das Lebensgefühl einer Gruppe von jungen Erwachsenen, also den Zeitgeist, darzustellen. Die Popliteraten versuchten, in den Zeiten des Umbruchs einen neuen Weg zu beschreiten und sich mit den bestehenden Zuständen der 1990er zu arrangieren, sodass die daraus resultierende Literatur zumindest für kurze Zeit erfolgreich war. Wie bei allen Literaturströmungen ließen sich auch hier verschiedene Merkmale erkennen. Inhaltlich sind oftmals Darstellungen aus der Popwelt zu finden, die sich auf das junge Erwachsenenalter konzentrieren, sodass also das Lebensgefühl dieser Altersgruppe im Fokus steht. In vielen Werken spielt auch der Alltag in den 1990er Jahren sowie die Marken-­‐ oder Produktwelt eine große Rolle. Formalsprachlich lassen sich beispielsweise die einfache syntaktische Struktur oder der Gebrauch der Vulgär-­‐ oder Jugendsprache ebenso wie das Recycling oder Re-­‐Modeling von verschiedenen Motiven oder Erfahrungen in vielen popliterarischen Werken festmachen. Typisch für die Popliteratur ist ebenfalls, dass sich Produzenten und Rezipienten dieser Art der Literatur durch ihre Jugendlichkeit auszeichnen und von anderen abgrenzen. Weitere merkmalhafte Aspekte sind beispielsweise eine gewisse Lust an der 186 Oberflächlichkeit, die Verbundenheit zur Oberschicht und die zumeist apolitische Grundhaltung. Weiterhin wirken die Autoren der Popliteratur selbst wie Popstars, was auf ihre dauerhafte Präsenz in den Medien und die geschickten Vermarktungsstrategien zurückzuführen ist. In diesem Sinne erinnern beispielsweise auch die popliterarischen Werke in punkto Design an CDS und die Schriftsteller versammeln und inszenieren sich, in Anlehnung an die Pop-­‐Bands, in Kollektiven. Wie bereits erwähnt, ließ die Aufmerksamkeit, welche der Popliteratur zuteilwurde, nach den Ereignissen des 11. September 2001 deutlich nach. Festgestellt werden konnte auch, dass sich nun eine Entwicklung zu einer verstärkt politisierten Literatur verzeichnen lässt, die sich dann auch in den Werken der Popliteraten niederschlägt. Wenn diese Literaturströmung auch relativ kurz war, so lässt sich die Bedeutung derselben jedoch nicht bestreiten, was sich auch in den zahlreichen Diskussionen um dieses Thema erkennen lässt. Im weiteren Verlauf dieser Arbeit erfolgte schließlich auch eine Auseinandersetzung mit dem Begriff „Identität“, besonders da dieses Thema doch im Fokus der hier vorliegenden Arbeit steht. Zunächst wurde deutlich, dass der Begriff, der sich von dem lateinischen „identitas“ und „idem“ ableitet, erst Mitte des 20. Jahrhunderts von Erik Erikson in die Psychologie eingeführt und von anderen wissenschaftlichen Bereichen aufgegriffen wurde. Es konnte festgestellt werden, dass es nahezu unmöglich erscheint, eine einzige Definition des Begriffs aufzuführen, wobei jedoch meistens zumindest zwischen personaler und kollektiver Identität unterschieden wird. Unter Letzterer wird meistens verstanden, dass sich bestimmte gruppenspezifische Formen der Kultur herausbilden, die sich von anderen unterscheiden lassen. Bei Erikson selbst liegt der Fokus bezüglich der personalen Identität auf dem Jugendalter, da das Individuum zu diesem Zeitpunkt aus seiner Rolle des Kindes heraustritt und nun die eigene Identität konstruieren muss. Nach dieser Phase soll der Mensch eigentlich einen soliden Kern herausgebildet haben. Bei James Marcia, der ebenfalls für diese Untersuchung herangezogen wurde, wird allerdings noch zwischen Identitätsbildung, die sich aus Äußerlichkeiten zusammensetzt, und Identitätskonstruktion, die durch eigenständige Entscheidungen zu Stande kommt, unterschieden. Wichtig schien es auch zu beleuchten, wie sich 187 Identitätsbildung oder -­‐konstruktion unter postmodernen Lebensbedingungen der Individualisierung, Pluralisierung und Globalisierung entwickeln kann. Im Gegensatz zur Moderne ist es hier nicht wichtig, zwanghaft nach einer Identität zu suchen, sondern einen fortschreitenden Individualisierungsprozess zu durchlaufen. Das Subjekt der Postmoderne soll so besonders flexibel sein und seine Identität täglich und lebenslänglich weiter konstruieren. Es ließ sich also verdeutlichen, dass die Subjekte sich als Schausteller auf einer gesellschaftlichen Bühne ohne fertiges Drehbuch erleben. In Bezug auf den Begriff „Postmoderne“ war es zunächst auch wichtig, sich die Merkmale und identitätsstiftenden Aspekte der postmodernen Gesellschaft, also des Kollektivs, wie das Leben im Überfluss, die Mechanisierung und Technisierung des Alltags, die soziale Mobilität usw., näher anzuschauen. Weiterhin wird Leistung als Hauptkriterium zur sozialen Einordnung genutzt und in diesem Zusammenhang auch das kommunikatorische Talent eines jeden Einzelnen als erstrebenswerte Qualifikation in den Vordergrund gestellt. In Bezug auf die personale Identität wurden verschiedene Konzepte betrachtet. In der Phase der selbstreflexiven Spätmoderne ist vor allem das Reflexivwerden aller Lebensverhältnisse vordergründig. Alles erscheint veränderbar und nichts ist mehr selbstverständlich. Das Subjekt zeichnet sich zwar durch Kohärenz, Dauerhaftigkeit und Bindung aus, muss sich aber stärker individualisieren. Die Vertreter der radikalen Postmoderne dagegen befürworten das eigene Projekt, das ständig erneuert werden muss und so also die Notwendigkeit der Selbstinszenierung und Vermarktung des eigenen Selbst stetig wächst. Bei der Betrachtung der psychoanalytischen Identitätskonzepte fielen verschiedene auf, wobei das Konzept der hermeneutisch rekonstruierten Identität, das Erikson vertritt, zunächst wichtig erscheint. Seiner Ansicht nach kann das Leben eines Menschen in acht Phasen eingeteilt werden, denen bestimmte Anforderungen an die Identitätskonstruktion zuteilwerden. Für Erikson nimmt die Phase der Adoleszenz eine besonders wichtige Rolle ein, da sich hier der Kern der Identität ausbildet und nach dem Überstehen der normativen Krisen dieser Phase am Ende das Identitätsgefühl steht. Das Grundproblem seines Konzeptes ist allerdings, Gleichheit und Kontinuität aufrechtzuerhalten, was angesichts der postmodernen Bedingungen unmöglich 188 erscheint. Es muss also zu einer Identitätskrise oder gar einer Identitätsdiffusion kommen, bei der der Zustand eines tragenden Identitätsgefühls verloren geht. Es entsteht also ein Zustand der Orientierungslosigkeit, der Ratlosigkeit und Unsicherheit. Diese Identitätskrise kann phasenspezifisch sein oder mit einer entwicklungsbedingten Identitätsstörung zusammenhängen. Weiterhin kann es auch zu einer reaktiven Identitätsstörung, also zu einer Anpassungsstörung mit Identitätsdiffusion kommen, die durch schicksalhafte Brüche im Lebenslauf ausgelöst wird. Die Identitätsdiffusion umfasst dabei verschiedene Ebenen, wie die der Diffusion der Beziehungsfähigkeit, der Zeitperspektive oder des Werksinns. James Marcia, der bekannteste Nachfolger Eriksons, baut das Konzept seines Vorgängers um die Polarität Identität – Identitätsdiffusion zu einem 4-­‐Feld-­‐
Schema aus. Hier gibt es dann also noch die Felder Exploration und Selbstverpflichtung. Neben diesen Konzepten gibt es noch das neokleinianische Konzept, wobei es um Spaltung und projektive Identifizierung geht, und die konstruktivistischen und narrativistischen Konzeptionen, auf die hier allerdings nicht im Detail eingegangen wurde. In der postmodernen Gesellschaft besteht also beständig die Gefahr des Identitätsverlustes. Gelingen kann Identitätsbildung allerdings, wenn das eigene Selbst in verschiedene Teilidentitäten aufgegliedert wird. Die einzig mögliche Identitätsform scheint also die Identität im Plural oder in Form einer Patchwork-­‐
Identität zu sein. Als weiteres identitätsstiftendes Element kann die Distinktion gegenüber anderen fungieren. Nur so kann die gewünschte identitätsbildende Kohärenz und Kontinuität erreicht werden. Das moderne Individuum muss sich also dauernd von anderen unterscheiden, ansonsten droht ihm der Verlust seiner Identität. In einem weiteren Schritt wurden der Zeitgeist der 1990er Jahre wie auch die daraus resultierende Generation Golf betrachtet. Dies erschien im Vorfeld der Analyse wichtig, besonders da die Protagonisten der beiden untersuchten Werke dieser Zeit entstammen. Bei der Beschäftigung mit den 1990er Jahren konnte man trotz allem eine Generation, die Generation Golf, erkennen, die sich angesichts der postmodernen Bedingungen herausgebildet hat. Auch wenn es fortwährend um Abgrenzung 189 gegenüber anderen und die beständige Weiterentwicklung der eigenen Identität geht, so geht es doch auch um das Dazugehören. So ließen sich auch Merkmale erkennen, welche die Individuen zu einem Kollektiv zusammenschließen. Die Individuen, die im scheinbar langweiligsten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts aufgewachsen sind, lassen sich vor allem durch folgende Gemeinsamkeiten erkennen: Konsumorientierung, Markenfetischismus, Fernsehprägung, politisches Desinteresse usw. Da es durch die totale Toleranz zur Auflösung aller Codes und Sicherheiten kommt, ist der Mensch in den 1990er Jahren frei in allen Entscheidungen. Die Generation Golf, die zunächst als individualistisch erscheint, kann bei näherem Betrachten dann doch nur als Massenphänomen entlarvt werden. Da alle dann doch die gleichen Ziele von Ästhetisierung, Abgrenzung usw. verfolgen, können sich aus dem Streben nach Individualität und personaler Identität dann doch nur kollektive Identitäten ergeben. Bei der Analyse der beiden Werke hat sich zunächst insgesamt ergeben, dass die beiden Protagonisten in Krachts und Stuckrad-­‐Barres Werken den Zeitgeist der 1990er Jahre widerspiegeln und stellenweise als Vertreter der Generation Golf gewertet werden können. Beide Hauptfiguren zeichnen sich dadurch aus, dass sie beispielsweise politisch desinteressiert sind, was typisch für diese Generation erscheint. Nach den multiplen Ereignissen der vorangehenden Jahre steht Politik nicht mehr im Vordergrund des Interesses dieser Generation, nicht zuletzt auch, um sich von der Generation der 68er abzugrenzen. Das Interesse der beiden Protagonisten konzentriert sich eher auf andere Bereiche, sodass beide sehr konsum-­‐ und markenorientiert auftreten und stellenweise auch stark durch den Einfluss der Medienlandschaft geprägt sind. Beide leben in einer Zeit der sozialen Umbrüche und der fehlenden Strukturen, die es ihnen aufgrund der Auflösung bestimmter Codes und Strukturen schwer macht, eine Identität zu bilden, zu konstruieren und zu wahren. Obwohl sich beide in ihrer Identitätssuche und -­‐findung unterscheiden, kann trotz allem festgestellt werden, dass die Hauptfiguren in den zwei untersuchten Werken beispielsweise nur netzwerkartige Bindungen unterhalten und nicht wirklich zu intakten festen Beziehungen fähig sind. Angesichts der vielen Möglichkeiten und der dadurch drohenden Identitätslosigkeit suchen sie, allerdings aus verschiedenen Antrieben, nach neuen Werten, wobei dies oftmals auf eher oberflächliche Art 190 und Weise geschieht, wenn sich die Suche etwa auf Bereiche wie Lebensstil, Ästhetik und Besitztümer begrenzt. Angesichts des Flexibilitätswahns dieser Zeit ist es dann trotz allem auch nicht verwunderlich, wenn die beiden Ich-­‐Erzähler zur Bindungs-­‐ und Verantwortungslosigkeit neigen. Obwohl beide Protagonisten darauf bedacht sind, sich möglichst zu individualisieren, haben sie dann doch Schwierigkeiten, eine eigene Identität, die nicht nur wie ein Sampling aus Versatzstücken erscheint, zu finden und zu erhalten. Das verzweifelte Streben nach Individualität, das sich dann vor allem auch durch die Möglichkeit der Abgrenzung erzielen lässt, endet schließlich darin, dass beide, wenn auch auf eine andere Art und Weise, immer wieder doch einer kollektiven Identität zugehörig erscheinen. Da die beiden Hauptfiguren Produkte des Zeitgeistes der 1990er Jahre und nicht zuletzt auch des Pop sind, ist es nicht weiter auffällig, dass sie sich in einigen Punkten ähnlich sind. Nichtsdestotrotz ließen sich auch einige Unterschiede feststellen, die besonders bei der Beschäftigung mit dem Thema Identität deutlich wurden. Zunächst wurden Christian Kracht und sein Erstlingswerk „Faserland“ vorgestellt, in dem die Ereignisse um die Reise eines jungen Mannes durch das deutsche Vaterland erzählt werden. Die Reise gestaltet sich von Norden nach Süden mit verschiedenen Stationen in Sylt, Hamburg, Frankfurt am Main, München und Meersburg, bevor die Reise schließlich in Zürich in der Schweiz endet. Auf dieser Reise geschieht an sich recht wenig, es ist vor allem eine Reise auf der Suche nach sich selbst, während der der reisende und zutiefst desorientierte Dandy verschiedene Freunde und Partys besucht in der unbewussten Hoffnung, sich selbst und den Sinn seines Daseins ein Stück weit zu finden und so also aus der Identitätsdiffusion herauszufinden. Bewusst ist es ihm, wie bereits erwähnt, nicht, dass er sich auf einer solchen Suche befindet, und darüber hinaus weiß er ebenfalls nicht, wonach er sucht, sodass sich diese Reise eher als Zeugnis tiefster Orientierungslosigkeit darstellt, als dass man hier von einer Suche sprechen könnte.627 In einem weiteren Schritt wurde also versucht, die Identitätssuche oder -­‐reise des Protagonisten darzustellen, indem zunächst sein aktueller Lebensentwurf beleuchtet wurde. Dabei ließ sich feststellen, dass der namenlose Ich-­‐Erzähler, 627 Vgl. Mehrfort, Sandra: Popliteratur. S. 117 191 der in eine multioptionale Gesellschaft hineingeboren wurde, vor allem ohne Strukturen ist, die ihm Halt geben können. Dies gründet vor allem darin, dass es ihm von Haus aus zwar nicht an Materiellem fehlt, er selbst aber offenbar von Kind an unter emotionaler Vernachlässigung leidet. So ließ sich erkennen, dass er in seiner Kindheit oftmals von seinen Eltern allein gelassen und also sich selbst überlassen wurde. Erzogen hat ihn vor allem die Haushälterin Bina, die ihm dann auch immer noch sehr am Herzen liegt. Seine Jugend verbrachte er im Internat, aus dem er aufgrund eines Vergehens gegen das schulinterne Reglement frühzeitig und mit einer aus familiären und gesellschaftlichen Gründen unterentwickelten Individualität in die Welt der Oberflächlichkeiten entlassen wird. Er, der bisher selbst nur an der Oberfläche existiert, erkennt, dass es unter dieser noch mehr geben muss, etwas, das ihn im Innersten zusammenhält. Auf seiner Reise trifft er dann verschiedene Freunde, die zu seinen engsten gehören, Bekannte und Frauen, die ihn auf seinem Weg nicht weiterbringen können. Gemein ist allen Bindungen und Beziehungen allerdings, dass sie oberflächlich und nur phasenweise aktuell sind, bis der Ich-­‐Erzähler wiederum zur Erkenntnis kommt, dass er keine tiefergehenden Beziehungen zu den einzelnen Menschen aufrechterhalten oder neu eingehen kann und so jeweils, getrieben aus verschiedentlichen Gründen, die Flucht ergreift. Genau so wenig wie er seine Beziehungen und Kontakte pflegt, achtet er auch auf sich selbst. Dies lässt sich daran festmachen, dass er wenig an seiner eigenen Gesundheit interessiert ist und diese durch den starken Konsum von Alkohol und Nikotin malträtiert. Der Einnahme von stärkeren Rauschmitteln steht er ablehnend gegenüber, obwohl er dann nicht konsequent bleibt und bei Gelegenheit doch welche konsumiert. Seine Orientierungslosigkeit lässt sich auch feststellen, wenn er sich beim Betrachten im Spiegel fremd erscheint und seine Kleidung als eine Art Rüstung gegen die über ihn hereinbrechende Außenwelt einsetzt. Nicht verwunderlich ist es da, dass das Umziehen eine gewisse reinigende Funktion hat, Kleidung an sich eine wichtige Rolle in seinem Leben spielt und diese zum Teil seine oberflächliche Scheinidentität aufrechterhält. Passend dazu sind dann auch die dandyhaften Züge, welche die Figur in Krachts Roman aufzeigt, was nicht zuletzt an letztgenanntem Aspekt und seiner finanziellen Unabhängigkeit liegt. Bezeichnend sind aber vor allem die 192 Gefühle der Einsamkeit, der Leere und Trauer, die dem Protagonisten bereits zu Beginn seiner Reise inne sind. Diese rühren vor allem aus seiner selbstauferlegten Scheinexistenz, die jedoch zur Selbstaufgabe und zum Ausschluss aus der Gesellschaft führen muss. Demnach wird hier nicht die Geschichte einer erfolgreichen Selbstsuche geschildert, sondern der allmähliche Ich-­‐Verlust und das Entschwinden aus einer Welt, mit der sich der Protagonist in keiner Weise identifizieren kann. Dabei versucht er sich im Zuge seiner Identitätskonstruktion gleichermaßen in die von ihm abgelehnte Gesellschaft zu integrieren und sich von ihr abzugrenzen – ein Versuch, der scheitern muss. In diesem Sinne sind seine oftmals oberflächlichen oder gar überheblichen Gedanken als Mittel der Abgrenzung zu werten, wobei seine Orientierung an Markenartikeln eher als integrierendes Element zu sehen ist. Indem der Ich-­‐
Erzähler in Krachts Werk beständig seine Abneigung gegenüber anderen Menschen äußert und so auf der Suche nach einem Feindbild ist, versucht er sich gleichermaßen seiner eigenen (Schein-­‐)Identität zu versichern, was jedoch nicht wirklich gelingen mag. Dabei muss er eine ganze Reihe an enttäuschenden Erfahrungen erleben, die es ihm schwer machen, sich in diese Welt zu integrieren und sich irgendwo heimisch zu fühlen. Stets schwingt jedoch eine gewisse Sehnsucht nach Tiefe und Bedeutung, vielleicht sogar nach traditionellen Werten mit, wenn er sich beispielsweise in seine Kindheitserinnerungen und Zukunftsträume flüchtet. Alles in allem gestaltet sich die Suche des Protagonisten, der als Repräsentant für diese Generation im Allgemeinen steht und die Zeichen der Zeit verdeutlicht, schwierig. In dieser multioptionalen Gesellschaft, in die der Protagonist hineingeboren wurde, ist allein das Individuum verantwortlich für die Positionierung seiner selbst in einer Zeit, in der es zu viele Möglichkeiten, zu viel Freiheit und zu wenig traditionelle Werte oder Strukturen oder zu wenig Tiefe und Halt gibt. Diese Unsicherheit und Ratlosigkeit angesichts der enttraditionalisierten Gesellschaft lässt sich auch bei Krachts Ich-­‐Erzähler in seinem orientierungslosen Umherirren und seinem insgesamt widersprüchlichen Verhalten verzeichnen. Obwohl er durch verschiedene Strategien versucht, die identitätsbildenden Strukturen und die aus der Identitätsdiffusion resultierende Leere auszugleichen, schafft er es nicht, sich 193 selbst und eine für ihn annehmbare Identität zu finden, und muss aus dieser für ihn sinnentleerten und inakzeptablen Welt entschwinden. In einem zweiten Teil der Analyse wurden Benjamin von Stuckrad-­‐Barre und sein Erstlingswerk „Soloalbum“ genauer betrachtet, indem die Geschichte eines jungen Mannes in der Postmoderne erzählt wird, der versuchen muss, mit der Trennung von seiner Freundin Katharina umzugehen, besonders da die Beziehung an sich eine Stütze seiner Identität darstellte. Der orientierungslose Protagonist versucht sich also in einer Welt zurechtzufinden, in der er nicht mehr zum Kollektiv der Pärchen dazugehört und nun einiges unternimmt, um sich einerseits von seinem neuen Zustand abzulenken, anderseits um seine ehemalige Freundin Katharina zurückzuerobern. Weiterhin versucht er, der doch eher ein unzureichend ausgebildetes Individuum darstellt, sich neu in der Gesellschaft der Postmoderne zu positionieren. Um die Identitätssuche und -­‐findung des Protagonisten genauer zu betrachten, wurde auch hier zunächst versucht, seinen aktuellen Lebensentwurf darzulegen, wobei sich feststellen ließ, dass dieser genau wie der Ich-­‐Erzähler in Krachts Roman keinen Namen trägt und ebenfalls keinen wirklichen Bezug zu seinem Elternhaus oder anderen Familienmitgliedern hegt, sodass auch ihm diese Halt gebenden Strukturen fehlen. Anders als Krachts Hauptfigur ist er jedoch in die Berufswelt eingebettet, wenn auch der Beruf an sich für den Protagonisten keine wirkliche Rolle spielt oder gar von identitätsstiftender Bedeutung ist. Mit sich selbst und seinem Äußeren ist er dann auch nicht wirklich zufrieden, besonders da er beständig versucht, seine Lebensweise auf halbherzige Art und Weise und vor allem aus den falschen Gründen heraus zu ändern. Trotz allem legt er großen Wert auf seinen Kleidungsstil und ein gepflegtes Äußeres und setzt diesen Aspekt dann auch als Bewertungskriterium bei seinen Mitmenschen ein. Obwohl er sich selbst am wichtigsten erachtet und beständig als bestes Beispiel nimmt, kann er aus sich heraus nicht wirklich agieren, sondern reagiert nur auf externe Einflüsse und Eindrücke. Weiterhin zeichnet sich das Leben des Protagonisten nach der Trennung von Katharina durch Leere aus, denn das ist es, was ihm im Endeffekt geblieben ist. Dieses Symptom der reaktiven Identitätsdiffusion äußert sich vor allem in seiner Unfähigkeit, sich um sich selbst und seinen Haushalt zu kümmern, und in seiner allgemeinen Unsicherheit und Orientierungslosigkeit. 194 Diese von der Hauptfigur empfundene Leere wird versucht, durch verschiedene Oberflächenstrukturen und Ablenkungsstrategien zu füllen. In den eher aggressiven Darstellungen seines Umfeldes scheint sich dann auch seine Wut zu entladen, die er insgeheim gegen die Gesellschaft, der er auch angehört, hegt. Die spöttische, teilweise arrogante Nörgelei, die er in Bezug auf sein Umfeld an den Tag legt, verhindert dabei gleichermaßen, dass er sich mit sich selbst beschäftigen muss. Denkt er über sich selbst und sein Verhalten nach, so tut er dies nur auf oberflächliche Art und Weise und gehört demnach unter anderem auch aufgrund dieses Aspektes der von ihm kritisierten oberflächlichen Gesellschaft an. Allerdings kann er nicht aus dieser ausbrechen, da er nur diese kennt und nicht fähig ist, aus sich heraus zu handeln. Obwohl er durch das Abgrenzen von der Massenkultur und den großen Trends beständig versucht, eine gewisse Individualität herauszubilden, so hegt er doch einen gewissen Wunsch nach Zugehörigkeit, welcher sich dann auch während des Oasis-­‐
Konzerts erfüllt. Alles in allem lässt sich hier erkennen, dass der Ich-­‐Erzähler in „Soloalbum“ mit dem Ende seiner Liebesbeziehung auch eine seiner wichtigsten Stützen der Identitätskonstruktion verliert. Das Scheitern der Beziehung an sich ist allerdings bereits auf eine latente Identitätsschwäche des Protagonisten zurückzuführen, der in anderen Menschen den Halt sucht, den er in seinem Innersten nicht finden kann. Indem er den richtigen Konsum als Auswahlkriterium für mögliche Bindungen und Beziehungen einsetzt, demonstriert er gleichzeitig das Problem, das sich in seinem Innersten darstellt. Einerseits ordnet er sich und sein Umfeld so gewissen kollektiven Identitäten zu, andererseits möchte er gerade dadurch eine gewisse soziale Abgrenzung bewirken. Insgesamt betrachtet findet er sich einer multioptionalen Gesellschaft und demnach einer Vielzahl an Diskursen und Wegen gegenüber, aus denen er sich seine eigene Identität zusammenbasteln soll. Jedoch gelingt es dem Ich-­‐
Erzähler während seiner hier dargestellten Phase der reaktiven Identitätsdiffusion nicht, diese Gesellschaft der 1990er Jahre und des Pop als Chance zur Selbstfindung und -­‐entfaltung zu verstehen. Der Protagonist verharrt dieser multiphrenen Welt gegenüber in seiner Unsicherheit und 195 Orientierungslosigkeit, bis er schließlich sein Leben stellenweise verändert und im Kollektiv einen kurzen Moment der Selbsterfahrung erlebt. Abschließend konnte also festgestellt werden, dass beide Protagonisten der hier untersuchten Werke Produkte ihrer Zeit sind, denn sie spiegeln den Zeitgeist der 1990er Jahre und der Popkultur an sich wider. Bezeichnend für diese Zeitperiode ist es mithin auch, dass sich die Subjekte dieser Zeit mit ihrer Identitätsbildung und -­‐konstruktion schwer tun. Derweil gestaltet es sich angesichts der multioptionalen Gesellschaft weiterhin schwierig, eine gewisse Kontinuität und Kohärenz zu wahren und einen festen Kern herauszubilden. Beide Protagonisten sind demnach Beispiele für die vielen Individuen der 1990er Jahre, die auf unterschiedliche Weise mit den postmodernen Bedingungen zu kämpfen haben und denen es im Endeffekt auch nicht gelingt, zu einer Identität oder zumindest zu einer Collage an Identitäten zu finden. Nicht zuletzt können demnach die beiden hier behandelten Darstellungen stellenweise auch als kritische Zeugnisse dieser postmodernen und multiphrenen Gesellschaft und ihrer Produkte gelesen werden, wobei beispielsweise in Stuckrad-­‐Barres „Soloalbum“ jedoch versucht wird, Kritik geschickt in Unterhaltung zu hüllen. So wird allerdings in beiden Werken eine Welt gezeichnet, welche keine Möglichkeiten für individuelle Schicksale bereithält und demnach die Erkenntnis aufwirft, dass die von allen gesuchte Identität, die sich vor allem durch Individualität auszeichnet, unter den postmodernen Bedingungen, die doch vor allem die Toleranz aller möglichen Stile und Wege suggeriert, nur noch schwierig zu leben ist. 196 Literaturverzeichnis Primärliteratur •
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