Nikolaj Wassiljewitsch Gogol, die russische Seele

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Nikolaj Wassiljewitsch Gogol, die russische Seele
Nikolaj Wassiljewitsch Gogol,
die russische Seele
Literaturessay
von
Hanns-Martin
Literaturessays finden Sie hier)
Wietek
(weitere
Der
„göttliche“
Alexander
Puschkin,
der
„wilddraufgängerische“ Offizier Lermontow und die „Seele“ Gogol –
diese drei Namen stehen für den Übergang von der Romantik zum
Realismus in der Epoche der nicht nur literarischen
Zeitenwende Russlands
Jahrhunderts.
in
der
ersten
Hälfte
des
19.
Puschkin – noch ganz Romantiker – begründete seinen Ruhm noch
mit Poemen, Gedichten, mit Lyrik, und begann erst am Schluss
seines Lebens, in Prosa zu schreiben. Lermontow feierte seine
Erfolge ebenfalls noch mit Lyrik, ging aber sehr bald zu einer
Prosa über, die schon Züge des Realismus trägt. Und Gogol
feierte seinen einzigen, dafür aber großen Misserfolg mit
seiner ersten Veröffentlichung, der Versidylle Hans
Küchelgarten (1829). Er verbrannte die Reste der Auflage und
„flüchtete“ nach Lübeck, Travemünde und Hamburg. Nie wieder
versuchte er sich an der Lyrik; er wurde zum Begründer eines
„fantastischen“, eines grotesken Realismus, der bis in unsere
heutigen Tage zu einem Spezifikum der russischen Literatur
geworden ist.
In der Zeit der russischen Romantik – die 20er-, 30er- und
40er-Jahre des 19. Jahrhunderts – liegen aber nicht nur die
Wurzeln der russischen Prosaerzählung, sondern auch die
Wurzeln dessen, was man bis heute als russischen
„Volkscharakter“ ansieht. Der religiös geprägte Gogol war
maßgeblich an dieser „Selbstfindung“ beteiligt, wenn nicht gar
ihr Protagonist. Er sah in Sankt Petersburg mit seinem
Hofstaat das verkörpert, was er aus tiefster Seele
verabscheute: den westlichen Individualismus mit seiner
Oberflächlichkeit, die Gier nach Geld und Macht, Korruption,
den Geiz, Gottlosigkeit, schlicht das Fehlen jeder
gottverbundenen Menschlichkeit. Dieser Welt stellte er den
Glauben an die tief im russischen Menschen (und darunter ist
der russische Bauer zu verstehen, denn abgesehen von Moskau
und eben St. Petersburg gab es in Russland fast nur
Landbevölkerung) verwurzelte Frömmigkeit und Gottergebenheit
und an dessen Liebe zu „Mütterchen Russland“ gegenüber.
Der bewusst antirationalen Mystik des russisch-orthodoxen
Glaubens – eine Mystik, die sich vollständig mit den
Vorstellungen der Romantik deckt – fügte Gogol einen aus
diesem Glauben geborenen messianischen Grundgedanken hinzu.
Für ihn lebte der Bauer den Glauben beispielhaft vor aller
Welt und bewirkte damit eine geistige Vereinigung der gesamten
Christenheit, eine „Allchristenheit“. Diese Überzeugung
brachte in Verbindung mit der offensichtlichen Liebe des
Bauern zu seinem „Mütterchen“ den Begriff der „Russischen
Seele“ hervor, eine Art Nationalgeist, wie ihn schon der in
Russland sehr verehrte deutsche Romantiker Friedrich Schelling
für eine Nation entwickelt hatte. Von dieser Vorstellung war
es nur noch ein kleiner Schritt zum Empfinden, dass das
russische Volk einen eigenen Weg gehen müsse, unabhängig von
den Regeln und Überzeugungen des Westens. Der Grundgedanke der
Slawophilen war geboren und in den vierziger Jahren fanden sie
sich auch als Gruppe zusammen.
Auch vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, dass Gogol neben
Puschkin zu DEM russischen Schriftsteller wurde und sich viele
nach ihm auf ihn beziehen – von Dostojewski und Tolstoi bis
hin zu Solschenizyn. Zwangsläufig wurde und blieb er bis heute
auch Streitobjekt zwischen Westlern und Slawophilen; so ist
unter anderem die Renaissance zu erklären, die er im heutigen
Russland erlebt.
Nikolaj Wassiljewitsch Gogol entstammt einer ukrainischpolnischen Gutsbesitzersfamilie, die eigentlich Janowskij
hieß, und kam am 20. März jul / 1. April greg 1809 im
ukrainischen Gouvernement Poltawa zur Welt; den Namen Gogol
(dt. Schellente) legte sich die Familie 1792 zu, um ihren
(etwas fragwürdigen) Adelsstatus nach russischem Recht
bestätigt zu bekommen. Sein Vater war ein „Heimatdichter“ und
so wuchs Nikolaj mit ukrainischen Geschichten und Märchen, vor
allem aber auch in einer sehr religiösen Familie auf; diese
Religiosität hat sein ganzes Leben geprägt. Auf sie ist
zurückzuführen, dass er die Menschen seiner Erzählungen nicht
sozialkritisch bissig, sondern immer menschlich unzulänglich
darstellt, wobei er seine Kritik humorvoll durch eine bis ins
Groteske reichende Überzeichnung ausdrückt.
Natürlich enthalten die in den Petersburger Erzählungen
zusammengefassten Erzählungen „Petersburger Skizzen“, „Der
Newskij Prospekt“, „Das Porträt“, „Aufzeichnungen eines
Wahnsinnigen“, „Die Nase“ und „Der Mantel“ oder das Stück Der
Revisor (1836) und selbstverständlich auch Die toten Seelen
Sozialkritik – und je nachdem, aus welcher politischen Ecke
der jeweilige Interpret kommt, wird das mehr oder weniger
betont –, in erster Linie aber sind es die Personen, die
Charaktere, die er – im doppelten Sinn des Wortes – vorführt.
Keinesfalls will Gogol – vielleicht gar revolutionär – das
System umstürzen; er will die Menschen erziehen, was ihn, wenn
er wie im zweiten Teil der Toten Seelen die Humoreske
zugunsten des Predigerhaften zurückdrängen wollte, in seinem
Schaffen fast scheitern ließ.
1828, siebzehnjährig, kam Gogol nach St. Petersburg, um
Beamter oder Schriftsteller zu werden. Da er jedoch nur mit
sehr mäßigen Zeugnissen aufwarten konnte, wurde er als
›Kollegienregistrator‹ der untersten Rangstufe (XIV.)
zugeordnet und versuchte, sich sein Geld unter anderem als
Hauslehrer, Geschichtslehrer und Hilfsprofessor zu verdienen,
wobei er stets scheiterte. Dann folgte der schon oben erwähnte
grandiose Misserfolg mit der Versidylle Hans Küchelgarten,
worauf Gogol nach Deutschland floh – ein Verhalten, das Zeit
seines Lebens für ihn typisch war. Zurück in St. Petersburg
begann er, Erzählungen über seine dörfliche Heimat in der
Ukraine zu schreiben. Malorossija (dt. Kleinrussland), wie man
die Ukraine damals nannte, war für die Petersburger in ihrem
kalten Norden südlich-exotisch, dazu schilderte Gogol noch
ganz im Sinne der Romantik dörflich-bäuerliches Leben. Seine
acht Erzählungen vom Imker Rudi Panko, zusammengefasst unter
dem Titel Abende auf dem Vorwerke bei Dikanka (1831/1832),
wurden ein Riesenerfolg – sie dienten unter anderem Mussorgski
(1874 bei Jahrmarkt von Sorotschinzy) und Rimski-Korsakow
(1879 bei Mainacht) als Vorlagen für ihre Kompositionen. 1835
folgten vier weitere ukrainische Erzählungen unter dem Titel
Mirgorod (1835): „Altväterliche Gutsbesitzer“ (auch:
„Gutsbesitzer der guten alten Zeit“), „Taras Bulba“ (eine
heroische Erzählung vom Kampf der Kosaken gegen die polnische
Herrschaft im 16. und 17. Jahrhundert), die Gruselgeschichte
„Wij“ (dt. Erdgeist) und die erste russische Humoreske „Die
Geschichte, wie sich Ivan Ivanowitsch mit Ivan Nikiforowitsch
verzankte“.
Danach folgten
Erzählungen.
die
schon
oben
erwähnten
Petersburger
Es waren die ukrainisch bedingte Farbigkeit seiner Erzählungen
und die humorvolle Groteske, die Gogol im kühlen, ja kalten,
höfischen St.
verschafften.
Petersburg
einen
durchschlagenden
Erfolg
Letztere war auch der Grund, weswegen er im Vergleich zu
anderen Schriftstellern weniger Ärger mit der Zensur bekam.
In seiner Komödie Der Revisor nimmt er zum Beispiel die
gesamte Bürokratie und Adelsgesellschaft (in der Provinz)
heftigst aufs Korn. Bei der Uraufführung in St. Petersburg in
Anwesenheit des Zaren herrschte nach der Aufführung
Grabesstille; das Schweigen brach Nikolaus I. selbst, indem er
demonstrativ als erster Beifall klatschte. Die Betroffenen
knirschten allerdings im Stillen mit den Zähnen. Man kann
vermuten, dass Zar Nikolaus, der nach dem Dekabristenaufstand
für ängstliches Schweigen unter den Schriftstellern und
Kritikern gesorgt hatte, das Stück bei seinem rigorosen
Vorgehen gegen Korruption nicht ungelegen kam.
In einem Brief an den berühmten Schauspieler Michail
Semjonowitsch Schtschepkin schreibt Gogol am 29. April 1836
dazu:
„Machen Sie, was Sie wollen, mit meinem Stück, ich werde mich
nicht darum kümmern. Die Wirkung, die es erzeugt hat, war groß
und geräuschvoll. Alle sind gegen mich. Betagte und ehrwürdige
Beamte schreien, mir sei nichts heilig, da ich die
Dreistigkeit besaß, über Staatsdiener zu sprechen. Die
Polizisten sind gegen mich, die Kaufleute sind gegen mich, die
Literaten sind gegen mich. Man schimpft, geht aber ins
Theater; für die vierte Vorstellung waren keine Billetts zu
bekommen. Wäre die erhabene Fürsprache des Herrschers nicht
gewesen, mein Stück wäre nicht mehr auf der Bühne, und es
haben sich schon Leute gefunden, die sich um ein Verbot
bemühen. Ich sehe jetzt, was es bedeutet, ein komischer
Schriftsteller zu sein. Der geringste Anschein von Wahrheit –
und gegen dich erheben sich alle, und zwar nicht nur einer,
sondern ganze Stände. Ich stelle mir vor, was wäre, wenn ich
etwas aus dem Petersburger Leben genommen hätte, das ich heute
besser kenne als das in der Provinz.“
(Urban, Peter: Gogols Petersburger Jahre – Gogols Briefwechsel
mit Aleksandr Puškin, 2003)
Gogols Reaktion auf den Riesenerfolg seines Stücks – die
Aufführungen waren (und sind bis heute) meist restlos
ausverkauft – war typisch für den Schriftsteller: Verärgert
verließ er erneut das verhasste Petersburg und reiste nach
Deutschland, Frankreich, in die Schweiz und vor allem nach
Italien (Rom wurde in den Jahren 1837 bis 1839 zu seiner
zweiten Heimat), denn er betrachtete das Stück im Kern als ein
moralisches Drama und nicht als ein oberflächliches Lustspiel.
Hinzu kam, dass man in ihm, dem religiös geprägten
Konservativen, plötzlich einen politisch Liberalen sah – und
das war in seinen Augen das Schlimmste, wessen man ihn
bezichtigen konnte.
Was auch immer Gogols Intention beim Schreiben dieses Stückes
gewesen ist, das Thema und die fantastische Überzeichnung der
Charaktere machen die Komödie bis in die Gegenwart zu einer
der gefragtesten klassischen Komödien. Der Held des Stückes,
Chlestakov, ein Beamter niederster Rangstufe, wird ohne
eigenes Zutun in einem Provinzstädtchen für einen von
Petersburg gesandten Revisor (Kontrolleur) gehalten und
entsprechend bis in die höchsten Rangstufen hinauf hofiert.
Als er dies begreift, nutzt er die Dreck am Stecken habenden
Honoratioren kräftig aus – bis hin zur Verlobung mit der
Tochter des Stadthauptmanns – und verschwindet, als es
brenzlig wird, kurz bevor der echte Revisor erscheint.
Chlestakov ist ein ausgesprochen sympathischer Hochstapler,
der den korrupten Beamten zur Freude der Zuschauer richtig
eins auswischt. Sein Name ist, wie Oblomow als Synonym für
russische Faulenzer, als Synonym für Hochstapler in die
russische Sprache eingegangen.
Gogols Erzählungen, Novellen und Stücke haben immer kleine,
manchmal sogar banale Ereignisse zum Thema, nie beschreibt er
ausufernde, verzweigte, vielschichtige Handlungen. Mit
witzigen, verrückten Situationen, skurril überzeichneten
Personen und pittoresken Milieus spießt er ein Thema auf und
bringt es auf den Punkt; das macht Gogol so einzigartig,
weshalb er auch heute noch mit Genuss zu lesen ist.
Auch der Inhalt der Toten Seelen ist schnell erzählt:
Leibeigene Bauern („Seelen“) wurden damals nicht sofort nach
ihrem Tod aus den Listen der Leibeigenen gestrichen, sondern
erst bei periodisch stattfindenden Revisionen; bis dahin
galten sie als lebend und die Gutsbesitzer mussten Steuern für
sie bezahlen.
Tschitschikow, der Sohn eines Gutsbesitzers, kam nun auf die
Idee, diese toten, aber auf dem Papier noch lebenden Seelen
den Gutsbesitzern für ein Spottgeld abzukaufen, teilweise
wurden sie ihm sogar geschenkt. Die Gutsbesitzer mussten nun
keine Steuern mehr für sie bezahlen und Tschitschikow hatte
auf dem Papier viele, viele Seelen, also: ein großes Vermögen,
das er dann versetzen, beleihen wollte – natürlich ohne zu
sagen, dass diese Seelen schon tot sind. Mit dem Geld wollte
er dann auf Nimmerwiedersehen verschwinden; er wollte aus dem
morbiden System der Leibeigenschaft seinen eigenen Nutzen
ziehen. Letztendlich (auch der Leser erfährt erst ganz am
Schluss des Romans, dass Tschitschikow ein Gauner ist, und was
hinter seinem Handeln steckt) fliegt die Sache aber noch auf
und Tschitschikow machte sich mit seiner Troika auf und davon.
Das Werk sollte ein dreiteiliges Epos werden – in Anlehnung an
Dantes Göttliche Komödie – und die Verwandlung Tschitschikows
über seine Bestrafung bis hin zur Läuterung in einen wahren
Menschenfreund zeigen. Von 1836 an arbeitete Gogol am ersten
Teil, hauptsächlich im Ausland, in Rom; das erste Kapitel hat
er, vor dessen Tod im Jahr 1837, noch Puschkin vorgelesen, auf
dessen Anregung die Toten Seelen zurückgehen. Der ältere
Schriftsteller war Gogol immer sehr verbunden gewesen und
hatte ihm mehr als nur diese eine Idee eingepflanzt; auch die
Geschichte des Revisors stammt Puschkin, der selbst einmal in
einer Provinzstadt für einen heimlich zur Aufklärung von
Missbräuchen dorthin kommandierten Beamten gehalten worden
war.
Erschienen ist der erste Teil von Die toten Seelen 1842, und
er wurde ein so großer Erfolg, dass man das Buch heute als
Gogols Hauptwerk bezeichnet. Die nachfolgenden zehn Jahre
arbeitete er am zweiten Band; in dieser Zeit verbrannte er
einmal einzelne, abgeschlossene Teile und zum zweiten Mal kurz
vor seinem Tod den gesamten fertigen Band. Der Nachwelt sind
nur einige wenige Kapitel geblieben, die man zudem nicht als
Originalschriften Gogols werten kann.
Was war geschehen?
Ganz sicher hat ihn – wie auch Lermontow – der Tod Puschkins,
den er bedingungslos verehrte, bis in seine Grundfesten
erschüttert; Puschkin war für ihn der Gott der russischen
Literatur, so etwas wie ein literarischer Übervater. Er erfuhr
davon in Rom, wohin er nach dem Revisor geflüchtet war. An den
Schriftsteller Pletnëv schrieb er kurz darauf:
„Kein Monat, keine Woche vergeht ohne einen neuen Verlust,
aber ich hätte keine schlimmere Nachricht aus Russland
erhalten können. Jede Freude meines Lebens, jede meiner
erhabenen Freuden ist mit ihr verschwunden. Nichts habe ich
unternommen ohne seinen Rat. Keine einzige Zeile ist
geschrieben worden, ohne dass ich mir ihn vorgestellt hätte.
Was er sagte, was er anmerkte, worüber er lachte, wozu er
seine unzerstörbare und ewige Ermunterung gab, nur das hat
mich interessiert und meine Kräfte beseelt. Ein heimliches
Beben des auf Erden nicht erfahrbaren Vergnügens hielt meine
Seele umfangen… Mein Gott! Mein jetziges Werk, das er mir
eingegeben hat, ist sein Geschöpf… Ich habe nicht die Kraft,
es fortzusetzen. Einige Male griff ich zur Feder – und die
Feder fiel mir aus den Händen. Unsagbare Schwermut! …“
(Urban, Peter: Gogols Petersburger Jahre – Gogols Briefwechsel
mit Aleksandr Puškin, 2003)
Aber Gogol ist immer eine schwierige Persönlichkeit gewesen.
Er war ein Hypochonder; er litt mehr und mehr an eingebildeten
und tatsächlichen psychischen und physischen Krankheiten, war
schnell erregt und beleidigt und floh vor und in schwierigen
Situationen (weshalb er die meiste Zeit seines Leben auf
Reisen war!) und verfiel zunehmend einem religiösen
Mystizismus, der Formen eines religiösen Wahns annahm.
1847 gab er Ausgewählte Stellen aus dem Briefwechsel mit
Freunden heraus. Darin begegnete man einem vollkommen anderen
Gogol, als dem, den man aus Der Revisor, Die toten Seelen und
überhaupt allen seinen bisherigen Schriften kannte. Plötzlich
verteidigte er die von ihm bisher angegriffene herrschende
Ordnung des Zarentums und der Orthodoxie und sprach sich auch
für die Leibeigenschaft aus. Er überwarf sich mit allen, die
ihm nahe standen, und selbst seine Feinde schüttelten den
Kopf. Selbst der damals wichtigste Kritiker Belinskij, der ihn
als einen kritischen „realen“ Autor gepriesen und auch
aufgebaut hatte, verfluchte ihn in einem Brief mit den Worten
„Prediger der Knute, Lobsinger tatarischer Sitten, was tun
Sie?“
Über die Gründe für diesen Wandel kann man nur spekulieren.
War es die durch seine fortschreitende religiöse Fanatisierung
bedingte Einsicht in eine gottgewollte Ordnung? War es das
Empfinden, dass er mit seinem zweiten Band der Toten Seelen,
in dem er seinen bisherigen Stil – das ironisch Groteske –
zwangsläufig hinter sich lassen musste (es ging ja nun um die
Wandlung des Tschitschikow zu einem guten Menschen), nicht
angemessen zurecht kam? Böse Zeitgenossen behaupteten gar,
Gogol habe sich bei Nikolaus I. einschmeicheln wollen, um an
den Posten eines Erziehers des Kronprinzen zu kommen – was
ganz sicher eine Verleumdung ist!
Wie gesagt, man kann nur spekulieren.
Wie sehr sich Gogol verändert hatte, geht aus dem einem
Vermächtnis gleichen Vorwort zu Ausgewählte Stellen aus dem
Briefwechsel mit Freunden hervor:
„ … Meine Reise [Pilgerreise nach Jerusalem, hmw] würde ich
gern als guter Christ machen, und ich bitte deshalb alle meine
Landsleute, mir alles zu vergeben, womit ich sie verletzt
haben könnte. Ich weiß, dass ich durch meine unbesonnenen und
unreifen Schriften viele betrübt, andere sogar gegen mich
aufgebracht und überhaupt bei vielen Missvergnügen erregt
habe. Zu meiner Rechtfertigung kann ich nur sagen, dass meine
Absichten gut waren und dass ich niemanden betrüben oder gegen
mich aufbringen wollte; nur meine Unvernunft, nur meine Hast
und Übereilung waren die Ursache, dass meine Werke sich in so
unvollkommener Gestalt präsentierten und fast jedermann über
ihren wahren Sinn täuschten; alles das aber, was an
vorsätzlich Verletzendem darin vorkommen sollte, bitte ich mir
mit jener Großmut zu verzeihen, mit der nur die russische
Seele zu verzeihen vermag. Auch bitte ich alle um Verzeihung,
mit denen mein Lebensweg mich für längere oder kürzere Zeit
zusammengeführt hat. Ich weiß, dass ich vielen
Unannehmlichkeiten bereitet habe, manchen vielleicht auch mit
Absicht. Im Allgemeinen war an meinem Umgang mit Menschen
immer viel unangenehm Abstoßendes. Das kam teils daher, weil
ich Begegnungen und Bekanntschaften aus dem Wege ging, da ich
das Gefühl hatte, ich könne den Menschen noch nichts
Gescheites und für sie Notwendiges sagen (leere und
überflüssige Redensarten jedoch wollte ich nichtmachen), und
da ich zugleich überzeugt war, ich müsse mich wegen meiner
zahllosen Mängel den Menschen etwas fernhalten und mich selber
erst ein wenig erziehen. Zum Teil jedoch kam es auch von
meiner kleinlichen Eitelkeit, wie sie nur denen unter uns
eigen ist, die sich aus den Niederungen des Lebens zu einer
guten gesellschaftlichen Stellung emporgearbeitet haben und
sich nun für berechtigt halten, stolz auf andere
herabzublicken. Wie dem auch sei, ich bitte, mir alle
persönlichen Beleidigungen zu verzeihen, die ich jemandem seit
den Zeiten meiner Kindheit bis zum gegenwärtigen Augenblick
zugefügt haben mag. Auch meine Berufsgenossen, die
Schriftsteller, bitte ich um Verzeihung, falls ich sie je
vorsätzlich oder ohne Absicht geringschätzig oder
unehrerbietig behandelt haben sollte; wem es aber aus
irgendeinem Grund schwerfällt, mir zu verzeihen, den erinnere
ich daran, dass er ein Christ ist. Wie der Fastende vor der
Beichte, die er vor Gott abzulegen sich anschickt, seine
Nächsten um Verzeihung bittet, so bitte ich sie um Verzeihung;
… .“
1848 unternahm Gogol die angekündigte Pilgerreise nach
Jerusalem und ließ sich danach endgültig in Moskau nieder.
Hier geriet er unter den Einfluss des fanatischen Erzpriesters
Matvej. Gogols Streben nach Gott artete in einen Kampf gegen
den Körper aus; „in Gott leben heißt außerhalb des Körpers
leben“ hat er einmal in seiner patethischen Art gesagt.
In der Zeit des „Großen Fastens“ im Jahr 1852 beschloss er,
ganz in Gott zu leben und seinen Körper abzutöten, indem er
nichts mehr aß. Dann verbrannte er den zweiten Teil seiner
Toten Seelen; es wird vermutet, dass er mit diesem
„Brandopfer“ – wie Abraham – Gott sein Liebstes opfern wollte.
Er hatte schreckliche Visionen und sehnte den Tod herbei, der
ihn nach weiteren neun Tagen großer Qualen am 21. Februar
jul
/
4. März greg 1852 endlich heimsuchte.
Wie erwähnt steht Gogols Komödie Der Revisor noch heute auf
den Spielplänen der Theater. Sie ist – wie auch viele seiner
anderen Stücke – schon viele Male verfilmt worden, so zum
Beispiel 1932 von Gustaf Gründgens. Alle seine Werke, ob die
ukrainischen Geschichten, die Petersburger Erzählungen oder
Die toten Seelen, können auch in der heutigen Zeit noch mit
großem Vergnügen gelesen werden – und oft kann man dabei
nachdenklich werden. Hat sich wirklich nichts verändert?
Werke von Nikolaj Wassiljewitsch Gogol
Hans Küchelgarten
Abende auf dem Vorwerke bei Dikanka (mit den Erzählungen Der
Jahrmarkt von Soročincy, Der Abend vor dem Johannistag, Die
Mainacht oder Die Ertrunkene, Das verlorene Sendschreiben, Die
Nacht vor Weihnachten, Die schreckliche Rache, Ivan Fëdorovič
Šponka und sein Tantchen und Die verhexte Stelle)
Mirgorod (mit den Erzählungen Altväterliche Gutsbesitzer,
Taras Bulba, Vij und Die Geschichte, wie sich Ivan Ivanovič
mit Ivan Nikoforovič verzankte)
Petersburger Erzählungen (mit den Erzählungen Petersburger
Skizzen, Der Newskij Prospekt, Das Porträt, Aufzeichnungen
eines Wahnsinnigen, Die Nase und Der Mantel)
Der Revisor
Die Heirat
Die toten Seelen
Ausgewählte Stellen aus dem Briefwechsel mit Freunden
Autorenbeichte
Nikolaj Gogol: Petersburger Geschichten. In: Russland lesen.
Herausgegeben von Swetlana Geier. Fischer Verlag (2003)
Nikolai Gogol, Gesammelte Werke, Aufbau Verlag
Nikolai Gogol, Gesammelte Werke, Cotta Verlag
Weiterführende Literatur
Peter Urban: Gogols Petersburger Jahre – Gogols Briefwechsel
mit Aleksandr Puškin (2003)
Alexander Eliasberg: Russische Literaturgeschichte in
Einzelporträts (1922)
Reinhard Lauer: Geschichte der russischen Literatur von 1700
bis zur Gegenwart (2000)
Orlando Figes: Nataschas Tanz. Eine Kulturgeschichte Russlands
(2003)