Trotz alledem - Leben mit Altersabhängiger Makula

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Trotz alledem - Leben mit Altersabhängiger Makula
Trotz alledem!
Leben mit Altersabhängiger Makula-Degeneration
Die „trockene“ AMD und ihre Phasen
PRO RETINA Infoserie Nr. 33, 10/2015
Herausgeber
PRO RETINA Deutschland e. V.
Selbsthilfevereinigung von Menschen mit Netzhautdegenerationen
Vaalser Straße 108
52074 Aachen
Telefon (02 41) 87 00 18
Telefax (02 41) 87 39 61
E-Mail: [email protected]
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Steuer-Nr.: 201/5902/4629
Redaktion
Irene Dänzer-Vanotti, Werner Lechtenfeld
Wir bedanken uns bei Prof. Dr. Steffen Schmitz-Valckenberg, UniversitätsAugenklinik Bonn, für die Unterstützung.
Anmerkung zur männlichen und weiblichen Anrede: In dieser Broschüre nutzen wir zumeist
die männliche oder plurale Form der Anrede „Patient“ oder „Patienten“, weil uns der Text so
flüssiger lesbar scheint.
Wir bedanken uns bei URSAPHARM Arzneimittel GmbH
für die finanzielle Unterstützung zur Erstellung dieser Broschüre.
Die Inhalte werden von PRO RETINA verantwortet. Die Inhalte spiegeln nicht unbedingt
Positionen von URSAPHARM wider.
Gestaltung WILKEDESIGN, Aachen
Druck
Bildernachweis
Thomas Schultze, Düsseldorf; Karin Hörtner, portrait-studio-koegler, Lichtenfels; Mein Fotostudio Dresden; Illmann privat; Wedel-Schwetje privat; Führhundschule Boldhaus, Arnstadt;
Selim Baskan, Kreis Soest; Shutterstock.com: aerogondo2, Andrej Andic, Andrew Bassett,
Pavel L Photo and Video, Pavel Shynkarou, Robert Kneschke, Roger costa morera, wavebreakmedia;
2
❜
„Liebe Leserin,
Lieber Leser,
möglicherweise haben Sie – oder ein
Mensch, den Sie lieben – erst vor kurzer Zeit
die Diagnose erhalten, die Sie sehr erschreckt
hat: AMD, Altersabhängige Makula-Degeneration.
Vielleicht versuchen Sie gerade, sich mit der Krankheit zurechtzufinden. Vielleicht leben Sie aber auch schon länger mit dem
ungewohnten, unvollständigen Seheindruck von der Welt. Dann haben Sie
sich vermutlich schon mit mancher Schwierigkeit arrangiert und andererseits
neue Fähigkeiten entwickelt. Vielleicht sind Sie aber auch als Angehöriger,
als Freund, als Unterstützer oder Pflegekraft von AMD betroffen.
So oder so möchten wir Ihnen mit dieser Broschüre Mut machen zu einem
erfüllten Leben mit dieser Krankheit. Ich kann nach mehr als 20 Jahren mit
sehr geringer Sehkraft sagen, dass ich für viele Erfahrungen, die ich mache,
dankbar bin. Diese Krankheit hat mir sogar Erlebnisse, Begegnungen und
Einsichten verschafft, die ich nicht missen möchte.
Wir wollen jedoch mit dem Anfang beginnen. Zunächst muss man sich mit
der Krankheit, mit Hilfsmitteln und Therapiemethoden beschäftigen. Diese
Broschüre erzählt von Menschen, die – in unterschiedlichem Verlauf – von
AMD und Augenkrankheiten betroffen sind.
Im Mittelteil lesen Sie medizinische Informationen rund um die Frühform und
die so genannte trockene AMD. (Die Tipps und Informationen sind sicher
auch für Patienten der ähnlich ausgeprägten feuchten AMD hilfreich. Beide
Formen unterscheiden sich derzeit vor allem darin, wie sie behandelt werden
können.)
Anschließend haben wir versucht, die wesentlichen Themen des Alltags zu
bearbeiten. Sie werden Tipps und Informationen finden, aber auch Berichte
und Eindrücke der eigentlichen Experten dieser Krankheit, der Betroffenen.
Sie, liebe Leserin und lieber Leser, werden, wenn Sie selbst betroffen sind,
Ihre eigenen Erfahrungen machen. Ich wünsche Ihnen sehr, dass diese
Broschüre hilft, auch positive Seiten des Lebens mit AMD zu entdecken.“
3
Der Begriff:
Die trockene AMD
Umgangssprachlich wurde bisher der Begriff „trockene AMD“ für die Ausprägung der AMD benutzt, die ohne Eindringen von Flüssigkeit in die Netzhaut verläuft. Aber auch die Spätform der feuchten AMD wurde als „trockene
AMD“ bezeichnet.
In jüngster Zeit haben Augenmediziner die Bezeichnungen der Krankheit genauer definiert. Als „trockene AMD“ gilt jetzt nur noch die Spätform der AMD.
Der medizinische Ausdruck für diese Phase ist allerdings nach wie vor „geografische Atrophie“.
Da der neue Begriff noch nicht Allgemeingut ist, werden Sie beim Augenarzt
und in der Öffentlichkeit noch häufiger „trockene AMD“ als Bezeichnung für
die Frühform und die Spätform finden. In diesem Sinne benutzen auch wir
in dieser Broschüre den Begriff.
Näheres zu den genauen Phaseneinteilungen finden Sie auf den Seiten 6
und 27.
4
Trotz alledem!
Leben mit der AMD
Seite
Die AMD – eine Volkskrankheit
Augen kontrollieren
Leben mit der AMD
Ein veränderter Alltag
Der Schock der Diagnose
Sich im Haushalt zurechtfinden
6
7
9
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Stiftung zur Verhütung von Blindheit
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Medizinische Informationen
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28
29
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38
Die Altersabhängige Makula-Degeneration
Die Phasen der AMD
Risikofaktoren
Vorbeugung und Nahrungsergänzungsmittel
Therapeutische Strategien
Erläuterungen
Fachwörter/ Umschreibungen
Tipps – Erfahrungen – Informationen
Selbsthilfe
Makula – Aktivitäten der PRO RETINA
Sich outen – reden
Miteinander umgehen
Alltagssituation – Auto fahren
AMD und Beruf
Rehatraining
PRO RETINA Deutschland e.V.
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45
46
49
51
55
56
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Porträts
Dr. Renate Siebert
10
Marita Schneider*
13
Gerlinde Wedel-Schwetje
40
Peter Krüger*
42
*Name geändert
5
Die AMD – eine Volkskrankheit
Die AMD ist eine Erkrankung der Netzhaut des Auges. Sie tritt mit zunehmendem Alter häufiger auf und kann bis zum Verlust des Sehens in der Mitte
des Blickfeldes führen. Sie beeinflusst Ihr Leben, das Ihrer Angehörigen,
Verwandten und Freunde. Die Altersabhängige Makula-Degeneration „AMD“
ist eine Volkskrankheit.
Diese Augenerkrankung läuft aus Sicht der Medizin und der Betroffenen in mehreren Phasen ab:
Schätzungen zufolge
Zu Beginn, in der Frühform und in der Zwischensind in Deutschland etwa
phase, bilden sich Ablagerungen in der Netzhaut.
3,5 bis 4,5 Millionen EinIn dieser Phase erleben Betroffene kaum Einwohner über 55 Jahren
schränkungen. Meist können sie ihr Leben weivon einer AMD betroffen.
ter gestalten, sie können Texte lesen und Auto
fahren. Allerdings bemerken sie langsam das
Abnehmen ihrer Sehkraft, zunächst können sie vor allem in der Dämmerung
schlecht sehen und brauchen beim Lesen mehr Licht. In den weiteren
Phasen – die sich bei den Patientinnen und Patienten in sehr unterschiedlichen Zeiträumen abspielen – können diese Ablagerungen größer werden
oder zusammenwachsen. Damit nehmen Patienten einen weiteren Teil des
Sehfeldes als fleckig oder neblig wahr.
In der fortgeschrittenen, der sogenannten späten, jetzt „trockenen AMD“ genannten Form bilden sich flächige Veränderungen in der Netzhaut mit Verlust
der örtlichen Sehfunktion, medizinisch ‚geografische Atrophie‘ genannt. Es
wird schwieriger bis unmöglich, Texte zu lesen und Gesichter zu erkennen.
Aber eine Orientierung im Raum bleibt weiter erhalten.
Von der trockenen zur feuchten AMD
Während jeder Phase der AMD kann zusätzlich eine feuchte Form auftreten.
Dann lagert sich Flüssigkeit in der Netzhaut ab, die durch die Bildung von
neuen Gefäßen verursacht wird. Typischerweise merkt dies der Patient an
plötzlich auftretenden Verzerrungen: Gerade Linien werden krumm. In dieser
Phase muss sofort ein Augenarzt hinzugezogen werden. In günstigen Fällen
kann dieser Prozess mit Therapien gestoppt werden.
Trotz erfolgreicher Behandlung der „feuchten“ AMD schreiten die degenerativen Veränderungen in der Regel fort, d. h. Lesen wird immer schwieriger.
Außerdem erkennen Patienten Gesichter immer schlechter. Allerdings bleibt
in der Regel die Fähigkeit erhalten, sich mit restlicher Sehkraft im Raum zu
orientieren. Beide Formen, die trockene und die feuchte AMD, können sich
im gleichen Auge entwickeln. Erste Therapien für die feuchte Form gibt es
seit 15 Jahren. Therapien für die trockene AMD sind in der Vorbereitung.
6
Augen kontrollieren
Erste Anzeichen und Beschwerden bei beginnender AMD
sind die Merkmale: schlechteres Sehen, verzerrtes Sehen,
springende Buchstaben, unscharfe Gesichter und sich
krümmende Linien, wie z. B. die untere Abbildung zeigt.
Diese Anzeichen lassen sich besonders deutlich anhand
des Amsler Gitter-Tests feststellen. Auch ein Blick auf
gerade Fliesenkanten im Badezimmer kann ein Test sein.
Dabei ist es wichtig, beide Augen getrennt zu testen, da
eine Veränderung an nur einem Auge sonst oft unbemerkt bleibt. Ein Augenarzt oder eine Augenärztin sollte
den Befund so bald wie möglich abklären.
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Das Amsler-Gitter
Machen Sie den Test!
Um Ihr Sehen selbst zu überprüfen, halten Sie die Abbildung auf dieser Seite
in bequemer Lesedistanz. Falls Sie eine Lesebrille oder Kontaktlinsen benutzen, tragen Sie diese auch bei dem Test. Decken Sie ein Auge ab und
konzentrieren Sie sich mit dem anderen Auge auf den Punkt in der Mitte.
Sehen Sie die Linien wellenförmig, verschwommen oder verzerrt, könnte dies
ein Hinweis auf eine krankhafte Veränderung sein und Sie sollten unbedingt
innerhalb weniger Tage einen Augenarzt konsultieren, weil diese Symptome
auch auf eine sofort zu behandelnde feuchte AMD hinweisen können.
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Leben mit der AMD
Tipps – Erfahrungen – Informationen
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Alles neu
Neue Fertigkeiten
Neues Engagement
Neue Hilfsmittel
Dr. Renate Siebert berät Patienten und
gibt sich selbst Regeln im Umgang mit der Krankheit
Die AMD spielt im Leben von Dr. Renate Siebert eine große Rolle. Die Krankheit bestimmt ihren Terminplan und viele Gespräche. Die AMD anderer
Patienten beschäftigt sie. Mehr als ihre eigene.
„Jeder Verlauf ist anders.
Bei mir schreitet es sehr langsam fort.
Ich kann noch vieles sehen,
kann mich noch an Bildern freuen und,
wenn auch langsam und mit Lupe, lesen.“
Aber die Geschichten, die sie beim Stammtisch von Betroffenen in Bonn
oder als Beraterin in der Bonner Uni-Augenklinik hört, erschüttern sie. Selten liegen diese Geschichten so genau auf der Grenze zwischen Tragik und
Komik wie die einer Frau, die nur noch Umrisse erkennen konnte.
„In einem Restaurant“, so erzählt Renate Siebert deren Geschichte, „suchte
die Dame nach der Toilette. Mühsam war sie Schildern gefolgt, stand vor
einer Wand und wusste nicht weiter. Aber da stand ein Mensch, den sie fragen konnte. ,Wo sind hier bitte die Toiletten?‘ Keine Antwort. ,Wo sind die
Toiletten?‘ Der oder die Gefragte schwieg beharrlich. Jetzt wurde sie schärfer im Ton: ,Sie könnten mir doch wirklich sagen, wo hier die Toiletten sind!‘
Sprach’s und wandte sich ab. Und an der Bewegung erkannte sie: Es war
sie selbst, die sie gefragt hatte. Im Spiegel.“
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„Ich bin Naturwissenschaftlerin,
ich will immer alles genau wissen und
mich nicht in falschen Hoffnungen wiegen.“
Wie die Frau reagiert hat, weiß niemand. Lachte sie? Erschrak sie? War es ihr
peinlich? So oder so, musste sie erkennen, dass sie mit ihrer Sehschwäche
leben muss und sich dadurch manchmal seltsam verhält. Das muss sie annehmen, was nicht immer leicht ist. Dieses Gefühl kennt auch Renate Siebert.
Die Krankheit verlangt immer neue Reaktionen, weil sie fortschreitet und zwar
im Alter, das an jeden Menschen ohnehin genug Anforderungen stellt. Entweder müssen Patienten neue Hilfsmittel erproben oder ungewohnte Fertigkeiten lernen, oder sie müssen wieder und wieder akzeptieren, mit weiteren
Einschränkungen zu leben: nicht mehr selbst Auto zu fahren, auch das Kochbuch nicht mehr lesen zu können, die Gesichter der Enkelinnen nie mehr zu
sehen. Um all das auszuhalten, meint Renate Siebert, müssten Patienten –
sie selbst eingeschlossen – ihre „Hinnahmefähigkeit“ vergrößern – und das
möglichst ohne zu viel zu klagen. Jammern helfe ja doch nicht viel und strapaziere nur die Nerven der anderen. Statt zu klagen, genießt sie, was noch
möglich ist. Neben den Menschen, die ihr dabei helfen, ist auch ihr Glaube
eine Stütze. So hat sie sich der Krankheit von Anfang an gestellt.
Zur Augenärztin war sie gegangen, weil sie nicht mehr ganz so gut sah.
Renate Siebert war 66. Eine neue Brille könnte helfen, dachte sie. Aber die
Ärztin hatte eine ganz andere Nachricht: trockene AMD. Es gibt noch keine
Therapie und wie die Krankheit verlaufen werde, wisse niemand.
Renate Siebert schätzte diese Klarheit: „Ich bin Naturwissenschaftlerin, ich
will immer alles genau wissen und mich nicht in falschen Hoffnungen wiegen“, sagt sie. Sie ist promovierte Biologin und Chemikerin, arbeitete jahrelang mit Freude und Befriedigung, wie sie erzählt, als Lehrerin an einem
Gymnasium in Bonn.
Ihrer Augenärztin rechnet sie eines hoch an: „Sie hat mich sofort auf PRO
RETINA hingewiesen, und sowohl mein Mann als auch ich – er als Unterstützer – sind sofort eingetreten.“ Inzwischen ist sie eine der PatientenBeraterinnen der PRO RETINA. Dabei erfährt sie in Fortbildungen viel über
die Krankheit, neue Therapiemethoden, rechtliche Fragen und Hilfsmittel.
Dieses Wissen gibt sie an andere Patienten weiter. In den Beratungen lernt
sie nicht nur deren psychische Strategien kennen, mit der Krankheit umzugehen, sondern wird selbst durch beeindruckende Vorbilder ermutigt.
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„Mein Mann und ich haben vereinbart,
dass er mich alles machen lässt und
ich um Hilfe bitte, wenn ich sie brauche.“
So realistisch sie die AMD immer nahm, so selbstverständlich erzählte sie
auch anderen Menschen davon: „Ich wollte schließlich nicht als arrogant gelten.“ Deshalb müssten die Nachbarn wissen, warum sie nicht grüße, wenn
sie ihnen begegnet. Freunden gegenüber käme sie sich unehrlich vor, wenn
sie ihnen die Krankheit verheimlichen würde. Aber sie weiß, dass es manche
Patienten aus Scham schwierig finden, sich als sehbehindert zu outen.
Auch mit ihrem Mann hat Renate Siebert Regeln erarbeitet. „Wir sind 56
Jahre verheiratet. Wir kennen uns ganz gut.“ Er solle ihr keine Hilfe aufdrängen. „Wir haben vereinbart, dass er mich alles machen lässt und ich
um Hilfe bitte, wenn ich sie brauche.“ Beide sind – zumal im Ruhestand –
leidenschaftliche Leser. „Obwohl wir immer noch lieber ein Buch lesen,
hören wir inzwischen gerne gemeinsam Hörbücher. Da kann man die Lesung ab und zu unterbrechen und über das Gehörte unmittelbar reden – die
Möglichkeit hat man beim Lesen kaum, man liest ja nicht parallel!“
In Renate Sieberts Wohnung liegt in jedem Raum eine Lupe und spezielle
Lampen stehen neben dem Sofa und hinter Sesseln. Auch nach 15 Jahren
mit der Krankheit verrät ihre Wohnung fast mehr über ihre Sehschwäche als
Renate Siebert anzusehen ist. Sie ist gespannt, wie sich ihre Augen entwickeln werden, hofft im Stillen auf die Erfolge der Forschung und bereitet
sich vor auf die nächsten Beratungen und Veranstaltungen über AMD. Verändert hat die Krankheit ihr Leben, beeinträchtigt hat sie es kaum.
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Der andere Blick
Ein dramatischer Verlauf der
trockenen AMD
Marita Schneider*
Es war ein Schock. Marita Schneider wollte, wie jeden Tag, zu ihrer Arbeit
fahren mit dem Auto nach Düsseldorf, zu dem Job, den sie so gerne mochte,
in die Großstadt, in der sie sich auskannte. Sie schaute, wie jeden Morgen,
in den Spiegel. Aber nichts war mehr wie jeden Morgen. Wenn sie ein Auge
zukniff, sah sie so gut wie nichts. Schnell zum Arzt. Diagnose: trockene
AMD. Über Nacht. Ein ganz außergewöhnlicher Verlauf. Selbst der Arzt war
erstaunt: Es passiert extrem selten, dass die Sehkraft so abrupt verloren
geht. Hinzu kam, dass das „A“ für Altersabhängige Makula-Degeneration
auf Marita Schneider gar nicht zutraf. Sie war erst Anfang 50. Was blieb ihr
übrig, als das Beste aus ihrer Situation zu machen? Tapfer ging sie es an.
Sie lernte, mit einem Auge zu sehen, und nach ein paar Monaten hatte sie
wieder ein Bild von der Welt, das dem glich, das sie kannte. Es war dreidimensional. Aber nicht lange. Wieder so ein Morgen. Und auch das andere
Auge hatte seine Fähigkeit, ihr die Welt zu zeigen, über Nacht verloren.
Marita Schneider nahm nur noch Umrisse wahr. Zwei Prozent Sehkraft blieben ihr. Damit gilt sie für den Staat – und damit auch für Versicherungen –
als blind, und so nennt sie sich auch.
Dass das schlimm war, und bis heute ist, daran will sie nichts beschönigen.
Was hatte sie nicht alles verloren? Sie konnte, erzählt sie im bunten Garten
ihres Hauses, fotografisch lesen, einen Text und seinen Inhalt auf einen Blick
erfassen. „Das fehlt mir sehr!“ Jetzt hört sie die Tageszeitung dank eines
speziellen Angebots im Telefon und Literatur mit Hörbüchern. Daran erfreut
sie sich. Eines ihrer wichtigsten Hilfsmittel ist das Daisy-Abspielgerät für
Hörbücher, mit dem sie immer leicht die Stelle findet, an der sie den Text
zuletzt unterbrochen hat. Dennoch bleibt die Liste der Verluste lang: Obwohl ihr Arbeitsplatz zunächst mit Hilfe des Berufsförderungswerks in Düren
blindengerecht umgebaut wurde – „Auf meinem Schreibtisch sah es aus
*Name geändert
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wie in einem Cockpit!“ – musste sie ihre Arbeit aufgeben. Nicht die Tätigkeit war das Problem, aber der Weg dorthin. Die Fahrt mit Bussen und Bahnen in die Großstadt war zu anstrengend. „Mir fällt immer wieder auf, wie
viele Menschen kein deutsch können und mich nicht verstehen, wenn ich
sie nach der Nummer eines Busses frage!“
„Ich will trotz allem nicht verzweifeln.
Dazu gibt es zu viele Hilfsmittel.“
Marita Schneider ist auch nicht mehr so sicher wie früher, wem sie trauen
kann. Hat die Haushaltshilfe wirklich geputzt oder sagt sie es nur? Hat ihr
der Verkäufer 50 Euro herausgegeben? Oder vielleicht doch nur 10 Euro?
„Diese beiden Scheine zu unterscheiden, fällt mir manchmal schwer!“ Wenn
Marita Schneider das alles erzählt, ihre Ängste eingesteht, Schwierigkeiten
und Chancen ihres neuen Lebens abwägt, klingt sie kraftvoll. „Ich will trotz
allem nicht verzweifeln. Dazu gibt es zu viele Hilfsmittel“, sagt sie. Und sie
hat auch gekämpft, als das notwendig war. Die Krankenkasse wollte nur
pauschal 20 Stunden Mobilitätstraining mit dem weißen Stock bezahlen.
Marita Schneider erstritt vor Gericht, dass die Zahl der Stunden auf Fähigkeiten und Bedürfnisse jeder und jedes einzelnen Sehbehinderten abgestimmt werden muss: ein Urteil, von dem viele Menschen profitieren.
Auch Essen im Restaurant ist ein größeres Risiko geworden. Salat sagt sie,
bestelle sie schon gar nicht mehr. Nur trockene Sachen, die nicht kleckern.
Essen schmecke ihr aber immer noch gut, auch wenn sie die Speisen nicht
sehen könne. Und sie kocht – „Etwas einfacher als früher!“ – mit ihrem
Lebensgefährten. Er kann mit ihrer Behinderung gut umgehen. Wenn die
Kartoffeln einmal nicht akkurat geschält sind, findet er das ganz gut: „Das
Beste ist doch in der Schale!“ Ohne ihn, da ist Marita Schneider sicher,
ginge es gar nicht. Er ermutigt sie, gleicht aus und nimmt manchen Beschwernissen mit einer lockeren Bemerkung die Spitze.
Dennoch achtet sie darauf, dass ihr Partner ihr nicht alles abnimmt. Selbständigkeit im Alltag bleibt Marita Schneiders wichtigstes Ziel. Und wenn
sie einmal betrübt ist, schaut sie zum Himmel. Seine Weite und Helligkeit
sieht sie immer noch. Auf Reisen – oft in Blindenhotels, von denen sie
schwärmt – erfreut sie sich an der Luft und am Meer. „Das Gehirn setzt dann
die Eindrücke zu einem Bild zusammen.“ Solche Glücksgefühle hat sie oft
auch nachts in Träumen. „Da kann ich sogar Auto fahren!“ Denn da sieht sie
wieder. Und das wird bleiben.
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Ein veränderter Alltag
Tipps, Erfahrungen, Informationen
Die Porträts zeigen: Ein Leben mit der AMD ist nicht einfach. Sorgen, Ängste
und Rückschläge gehören dazu. Aber Sie können, wie viele Menschen vor
Ihnen, Unterstützung, Erfahrungen, Trainingsangebote, Hilfsmittel und die
sogenannten Nachteilsausgleiche nutzen.
Im Folgenden finden Sie die Erfahrungen der Patienten vermischt mit Hinweisen und Tipps entlang einiger Schlüsselbegriffe und Alltagssituationen.
15
Der Schock der Diagnose
und das Gespräch mit Augenärztin oder Augenarzt
❜
„Die Diagnose Makula-Degeneration war für mich ein
Schock. Ich habe mich erst einmal sehr behindert gefühlt
und gar nichts gemacht. Dann habe ich – im Nachhinein
betrachtet – überreagiert: Ich habe meine beiden beruflichen Standbeine, meine Praxis und meine Lehraufträge,
aufgegeben. Ich dachte, mit so schlechten Augen kann ich
das nicht machen. Das war aber überstürzt und ich würde
heute dazu keinem mehr raten. Es geht darum, auszuloten,
welche Arbeit mit geringerer Sehkraft möglich ist. Ich hatte
immer panische Angst zu erblinden. Es ist ja auch nicht
so einfach, wenn die Welt um einen herum verschwindet.
Heute freue ich mich an allem, was ich noch mit den
Augen wahrnehmen kann.“
Gerlinde Wedel-Schwetje
❜
„Bei mir ist der Verlauf der AMD sehr
untypisch. Ich habe auf einem Auge
von einem Moment zum anderen – in
einer Nacht – die Sehkraft verloren und
auf dem anderen kurz danach auch.
Dieser Schock sitzt tief und bleibt auch.
Nur weil es viele Hilfsmittel gibt und
Menschen mich unterstützen, gelingt
es mir, nicht zu verzweifeln.“
Marita Schneider
❜
„Die Diagnose war auch für mich ein Schock. Ich hatte ja gar keine
dramatischen Symptome, sondern nur ein bisschen schlechter gesehen
als bisher. Meine Ärztin gab mir dann den guten Rat, bei PRO RETINA
einzutreten. Das habe ich auch sofort gemacht und mein Mann trat als
Fördermitglied ebenfalls ein. Es war trostreich zu merken, dass ich mich
über Therapien und Hilfsmittel informieren kann.“
Dr. Renate Siebert
16
Die Diagnose ist immer ein Schock. Erst nach und nach wird Patientinnen
und Patienten klar: Das Leben verändert sich grundlegend. Sie werden
nicht mehr sehen wie vor der Erkrankung, werden teilweise auf Hilfe angewiesen sein. Mehr noch: Die AMD verändert im Laufe der Jahre praktisch
alle Alltagsgewohnheiten. Hier setzen Wut und Trauer ein. Je nach Charakter
und Lebensphase bäumen sich Patienten gegen die Krankheit auf oder wollen sie nicht wahrhaben. Zorn und Unverständnis
wechseln einander ab. Das blockiert häufig
In einem Faltblatt haben
Patienten beim Erstgespräch mit dem Augenarzt.
Berater von PRO RETINA
wichtige Fragen an den
Auch für Augenärzte ist es nicht leicht, zuzugeAugenarzt zusammenben, dass sie mit ihrem medizinischen Können
gestellt. Dieses kann bei
am Ende sind. Das kann das Verhalten der Ärzte
der Geschäftsstelle
beeinflussen (kurz angebunden, ausweichend, um
angefordert werden.
den heißen Brei herumredend). Wir empfehlen
nach solch einer Diagnose ein zweites Gespräch
zu verabreden und dieses zusammen mit einer oder einem Angehörigen
wahrzunehmen. Denn vier Ohren hören mehr und vier – wenn auch nicht
gesunde – Augen sehen mehr. Nutzen Sie diese Chance, sich zu informieren.
Einkaufen
❜
❜
„Einkaufen ist mir mit meinem Blindenhund zu anstrengend.
Normalerweise geht mein Mann einkaufen. Wenn es sich aber
nicht vermeiden lässt, versuche ich im Supermarkt schon das
zu finden, was ich kaufen möchte – und wenn ich einmal das
Falsche mitbringe, ist es auch nicht so schlimm.“
Gerlinde Wedel-Schwetje
„Ich kaufe immer mit meinem Partner ein. Ich schreibe auf, was wir
brauchen – das kann ich noch – und er liest mir dann im Supermarkt vor,
was es gibt, welchen Joghurt, welchen Käse, welches Gemüse. Das suche
ich dann aus. Wir bekommen zwar auf diese Weise gutes Essen – aber ich
hasse diese Situationen im Supermarkt. Alles dauert lange und mir wird
bewusst, wie abhängig ich bin. Kleidung bestelle ich aus dem Katalog oder
dem Internet und lasse sie mir schicken. Anprobieren in einem Geschäft
geht gar nicht. In der ersten Zeit habe ich nur schwarz-weiß getragen,
damit meine Kleidung zusammen passt. Inzwischen trage ich auch wieder
Farben. Freundinnen beraten mich dabei manchmal.“
Marita Schneider
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Sich im Haushalt zurecht finden
Wenn alles an seinem Platz liegt, finden sehbehinderte Menschen sich im
Alltag zurecht. Das beschreiben auch die Porträts. Der Haushalt wird gemeinsam organisiert und es wird abgesprochen, was wo liegt. Wer allein lebt,
sollte sich dazu disziplinieren, jedem Gegenstand seinen Platz zu geben.
Lupen
❜
„In meiner Wohnung liegt in jedem Raum eine Lupe und
spezielle Lampen stehen neben dem Sofa und hinter Sesseln.
Das ist sehr praktisch, dann muss ich nicht dauernd danach
suchen oder Lampen herumschleppen. Mir hilft es sehr,
mit kleinen Tricks mein Leben bequem zu machen. In der
Handtasche habe ich immer eine scheckkartengroße Lupe.
Damit lese ich unterwegs. Ich musste ausprobieren, welche
Lupen für mich am besten geeignet sind.“
Dr. Renate Siebert
Lupen und Vergrößerungen
Eine Vielzahl von optischen und elektronischen Hilfsmitteln kann den Lebensalltag erleichtern und verbessern.
Folgende Hilfsmittel werden häufig eingesetzt:
• Handlupen
• Standlupen für Arbeitsplatz oder
Wohnung
• Lesegeräte
• Vergrößerungsprogramme und
Sprachausgaben für Computer
Eine Handlupe kann zum Beispiel beim Lesen von Büchern und Zeitschriften
eingesetzt werden. Sie ist handlich, manchmal klein wie eine EC-Karte.
Unterwegs kann sie helfen, Preise und Produktinformationen, Speisekarten
oder Busfahrpläne zu lesen.
18
Lesen, Fernsehen
Vorlesesysteme
❜
❜
Gerlinde Wedel-Schwetje
Sprechende Geräte
„Fast alles in unserem Haushalt spricht zu mir: die Waage, der Eierkocher,
die Uhren sowieso. Manche dieser Geräte sind ziemlich teuer, aber sie sind
ja notwendig. Wichtig ist mir auch das Daisy-Abspielgerät für Hörbücher.
Damit kann ich das Lesen langsamer und schneller stellen und vor allem
finde ich immer wieder die Stelle, an der ich zuletzt aufgehört habe.
Außerdem habe ich einen lesenden Stift. Auch so ein Zaubergerät. Ich
kann ihn zum Beispiel an einen Buchrücken halten und er liest mir vor,
was da steht. Damit konnte ich meine Akten sortieren, weil ich sie dank
dieses Stiftes immer wieder finde.“
Marita Schneider
❜
❜
„Ich habe ein Vergrößerungssystem und ein Vorlesegerät.
Allerdings nervt mich die mechanische Stimme. Wenn ich
unbedingt einen Text lesen muss und niemand da ist, der ihn
mir vorlesen kann, dann lege ich ihn auf das Vorlesegerät.“
„Einmal kam eine Frau fast zwei Stunden zu früh zu unserem
Stammtisch. Sie konnte die Uhr nicht mehr lesen und wusste
nicht, dass es sprechende Uhren gibt. Das ist doch schade,
wenn Menschen es sich so schwer machen, nur weil sie die
Hilfsmittel nicht kennen!“
Dr. Renate Siebert
Hilfsmittel Smartphone
„Mein Smartphone hilft mir sehr. Im Bus höre ich darauf die Tageszeitung,
die mir vorgelesen wird. Mein Telefon erkennt meine Stimme. Wenn ich
sage: ‚Sohn anrufen!‘ dann macht es das. Der Fortschritt der Technik ist
für uns Menschen mit Sehbehinderung sehr wichtig!“
Peter Krüger
➔ Die Sehbehindertenverbände und ihre örtlichen Gruppen
bieten oder vermitteln Schulungen und Vorführungen dieser Geräte.
19
Alltagshilfen
Vielfältige Alltagshilfen unterstützen Sie in Ihrem alltäglichen Leben. Zu den
technischen Hilfen zählen, wenn einfache Lupen und Vergrößerungen nicht
mehr ausreichen,
• Großdruckausgaben von Büchern,
• Hörbücher und Zeitschriften auf CD oder im Internet,
• Abspielgeräte wie Daisy-Player oder Smartphones.
Zudem erleichtern viele andere, einfache Hilfsmittel den Alltag mit einer Sehbehinderung: von Langstöcken bis hin zu tastbaren oder „sprechenden“ Uhren
und Waagen und vieles andere mehr.
➔ Hinweis: Die „Hilfsmittel-Broschüre“ der PRO RETINA
listet unterschiedlichste Hilfsmittel verschiedenster Anbieter auf.
Licht
❜
„Ein wichtiges Hilfsmittel ist für mich die Kaltlichtlampe. Damit
kann ich lesen. Man kann die Lampe unmittelbar neben dem Kopf
haben, weil sie ja, wie der Name sagt, nicht heiß wird. Diese
Lampen kann man bei guten Optikern oder bei Hilfsmittelfirmen
kaufen. Es gibt auch Low Vision Optiker, die sich auf Menschen,
die sehr schlecht sehen, spezialisieren.“
Dr. Renate Siebert
Tipps und Hinweise
•
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•
•
•
Beleuchtung in Schränken
Arbeitsflächen und Leseecken optimal ausleuchten
Tageslicht und Tageslichtlampen einsetzen
Blendung und Reflexion vermeiden
Helligkeitsunterschiede vermeiden
Kontraste erleichtern die Orientierung
Hindernisse vermeiden
➔ Kontakte zur Beratung siehe Seite 26
20
Kontraste
❜
❜
„Kontraste sind für mich sehr wichtig. Und ich bin ein großer
Fan von dicken Filzstiften. Eine Notiz mit diesen Stiften kann
ich sogar noch lesen.“
Gerlinde Wedel-Schwetje
„Kontraste sind wichtig. Ein Esstisch zum Beispiel sollte mit
verschiedenen, starken Farben gestaltet sein. Dann kann man
die Teller und Speisen besser erkennen.“
Dr. Renate Siebert
Kontraste
Im Alltag hilft oft eine kontrastreiche Gestaltung des Wohnumfeldes. Dies
kann die Alltagsgestaltung und Orientierung deutlich verbessern. Insbesondere gutes (Tages-) Licht und blendfreies Licht helfen, einen Teil des Sehverlustes auszugleichen.
Kontrast
Kontrast
Kontrast
Kontrast
Kontrast
Kontrast
Kontrast
Kontrast
Kontrast
Kontrast
Kontrast
Kontrast
Kontrast
Kontrast
Kontrast
Kontrast
Kontrast
Kontrast
Kontrast
Kontrast
Kontrast
Kontrast
Kontrast
Kontrast
Kontrast
Kontrast
Kontrast
Kontrast
Kontrast
Kontrast
21
Stiftung zur Verhütung von Blindheit
gibt Hoffnung
„Wenn die Therapie für mich zu spät kommt,
so kann ich künftigen Betroffenen helfen.“
Die PRO RETINA-Stiftung zur Verhütung von Blindheit
Im Jahr 1996 haben die Patientinnen und Patienten eine Stiftung zur Förderung von Netzhautforschung gegründet.
Die Stiftung fördert
• zwei Stiftungsprofessuren,
• Forscherkolloquien,
• Forschungspreise,
• Forschungsprojekte und -stipendien.
Ein Wissenschaftlicher und Medizinischer Beirat unterstützt die Stiftung. Er
berät bei der Planung der Förderung und begutachtet die Forschungsanträge.
Ihr Beitrag: Sie können die Forschungsförderung unterstützen durch
• persönliche Spenden,
• den Verzicht auf Geschenke verbunden mit einem Aufruf zu Spenden,
• Kondolenzspenden,
• Vermächtnisse und testamentarische Begünstigungen,
• Informationsweitergabe über die Stiftung.
Haben Sie Fragen?
Wir informieren Sie gerne über unsere Forschungsprojekte und die Arbeit
der Stiftung.
Kontakt
PRO RETINA-Stiftung zur Verhütung von Blindheit
Maria Kretschmer
Am Heideweg 38 c, 85221 Dachau
Telefon (08131) 27 63 66
E-Mail [email protected]
Internet www.pro-retina-stiftung.de
Spendenkonto IBAN: DE517005 1540 0000 0793 27 BIC: BYLADEM1DAH
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Medizinische Informationen
zur Altersabhängigen Makula-Degeneration (AMD)
23
➔ Hinweis: Eine Simulation finden Sie auf www.pro-retina.de.
❜
❜
„Eines ist klar: Wenn mit den Augen etwas nicht stimmt, dann
muss man sofort zum Arzt. Abwarten hilft gar nicht. Manchmal
können die Ärzte noch helfen, wenn eine Störung rechtzeitig
erkannt wird. Ich gehe bis heute zum Arzt, sobald ich irgendeine
Veränderung an meinen Augen bemerke. Wenn der Arzt mich
beruhigt und nichts Schlimmes feststellt, ist das ja umso besser.“
Gerlinde Wedel-Schwetje
„Ich bekomme keine Therapien. Ich achte beim Essen darauf, dass ich die
für die Augen wichtigen Vitamine zu mir nehme, die vor allem in verschiedenfarbigem Gemüse sind. Blaubeerextrakt nehme ich in Tabletten. Was ich
kann, will ich tun, um den Rest meiner Sehkraft zu erhalten.“
Marita Schneider
❜
24
„Meine Krankheit schreitet langsam voran. Auf Rat meiner
Ärztin habe ich eine Katarakt-Operation machen lassen.
Das hat etwas gebracht. Ich habe jetzt glasklare Linsen.“
Dr. Renate Siebert
Medizinische Informationen
Frühform und
trockene Altersabhängige Makula-Degeneration
Auf den folgenden Seiten finden Sie einen medizinischen Informationstext
zur trockenen AMD. Ferner werden Therapieansätze, Forschungsinitiativen,
Studien, Erläuterungen zu den Phasen und Untersuchungsmethoden näher
beschrieben.
➔ Weitere Informationen finden Sie in den PRO RETINA Broschüren:
• „Was ist AMD?“
• „Jetzt erst recht – Leben mit der chronischen AMD“
Basisinformationen
zur trockenen Form der AMD
Fachwörterverzeichnis
In den Gesprächen mit Ihrem Augenarzt hören Sie häufig medizinische Fachbegriffe. Diese haben wir in Klammern hinter die deutschen Begriffe gesetzt
und alle noch einmal auf der Seite 38 alphabetisch aufgelistet.
Quellenangabe
Der folgende Text basiert auf mehrfacher Überarbeitung eines Artikels in der
„Zeitschrift für praktische Augenheilkunde“, Nr. 35 (2014) im Dr. Reinhard
Kaden Verlag, Heidelberg. Schmitz-Valckenberg St, Fleckenstein M, Göbel
AP, Lindner M, von Strachwitz C., Holz FG (2014) Geographische Atrophie:
Differentialdiagnose, Verlauf und aktuelle Therapieansätze. Z. prakt. Augenheilkd 35: 275-286. Hier teilweise zitiert nach dem Newsletter von Blickpunkt Auge Nr. 49 (2014).
25
Die Altersabhängige
Makula-Degeneration (AMD)
Die AMD ist eine Erkrankung der Netzhaut des Auges. Sie wird mit zunehmendem Alter stärker und kann zur Erblindung (im Sinne des Gesetzes, nicht
totale Blindheit) führen. Die Häufigkeit der AMD nimmt – wie der Name sagt –
mit zunehmendem Lebensalter zu. Schätzungen zufolge sind in Deutschland
etwa 3,5 bis 4,5 Millionen Einwohner über 55 Jahren betroffen.
Wie der ganze Körper besteht auch die Netzhaut aus Zellen. Die Ursache
für den Sehverlust liegt im Abbau von Zellen in der Netzhaut des Auges.
Durch den Zellabbau ist die Netzhaut nicht mehr voll funktionstüchtig. Betroffen ist die Makula, auch Gelber Fleck genannt. Durch sie verläuft die Sehachse. Die Makula ist für das Scharfsehen und Farbsehen zuständig.
Hornhaut
vordere
Augenkammer
Iris
Retina
(Netzhaut)
Glaskörper
Gelber Fleck
(Makula)
Linse
Sehnerv
Zonulafasern
blinder Fleck
Ziliarmuskel
Aderhaut
Querschnitt des Augapfels
Die fortgeschrittene Krankheit wird in zwei Formen unterschieden:
• die trockene AMD (geografische Atrophie)
• die feuchte AMD (neovaskuläre AMD)
Beide Formen können sich im gleichen Auge entwickeln. Symptome der
feuchten AMD können behandelt werden. Noch stehen der Augenmedizin
keine Therapien gegen die trockene AMD zur Verfügung.
26
Die Phasen der AMD
Die trockene AMD
wird in drei Phasen unterteilt:
1. Die Frühform
Das erste Stadium der Erkrankung wird Frühform genannt. Folgende Merkmale der AMD können dem Augenarzt bei ersten Untersuchungen auffallen:
• geringfügige Seheinschränkungen
• farbliche Veränderungen am Augenhintergrund (Pigmentveränderungen)
• Ablagerungen von Abbau-Material unter der Netzhaut (Drusen)
2. Die Zwischenform (intermediäre AMD)
Die Zwischenform bezeichnet das nach der Frühform folgende Stadium.
Die Druse hat bzw. Drusen haben sich vergrößert. Es liegen mittlere oder
sogar große Drusen vor, die teilweise verschmelzen können. Außerdem gibt
es zunehmende Pigmentveränderungen.
3. Die Spätform (geografische Atrophie)
Im weiteren Verlauf kommt es zum Zelluntergang. Der flächige Schwund
des Netzhautgewebes in der Makula wird „geografische Atrophie“ genannt.
Der Untergang lichtempfindlicher Sinneszellen in der Netzhaut, der Fotorezeptoren, führt zum örtlichen Verlust der Sehfunktion.
Die feuchte AMD
Zusätzlich zum reinen Zelluntergang kann es zur Bildung von neuen Gefäßen kommen. In diesem Zusammenhang spricht man von der „feuchten“
(exsudativen oder neovaskulären) Spätform der AMD. Diese ist die aggressivere Variante. Sie kann unbehandelt schneller zu einer Sehverschlechterung
führen. Das Wachstum der neuen Blutgefäße aus der Aderhaut (chorioidale
Neovaskularisation) ist ein krankhafter Prozess. Aus diesen neuen, undichten Gefäßen tritt Flüssigkeit unter und in die Netzhaut. Infolgedessen schwillt
die Netzhaut an. Das führt zu einer Verzerrung des auf die Netzhaut geworfenen Bildes. Gerade Linien werden dabei von Patienten als gebogene Objekte wahrgenommen (Metamorphopsien). Im Verlauf wächst die Zahl der
27
beschädigten Zellen. Blut oder andere Flüssigkeit fließen in und unter die
Netzhaut. Dabei bilden sich Felder, die im Seheindruck als „graue“ oder
„blinde“ Flecken wahrgenommen werden. Zunehmend trennt die Flüssigkeit
die Netzhaut von der Gefäßhaut ab und sorgt damit für die schnelle Verschlechterung der Sehfunktion. Manchmal können Blutungen aus den neu
gebildeten Gefäßen unter der Netzhaut zu einer plötzlichen akuten Sehverschlechterung führen.
➔
Über diese Form der AMD und die Therapien informiert
die Broschüre „Was ist AMD?“ der PRO RETINA.
Man nimmt heute an, dass die degenerativen Prozesse im Rahmen der
„trockenen“ Spätform zwangsläufig im fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung entstehen. Die Entwicklung der feuchten AMD stellt dagegen eine
zusätzliche mögliche Form dar.
Risikofaktoren
Für die AMD gibt es eine Reihe von Risikofaktoren. Von diesen sind allerdings nur einige beeinflussbar. Nicht beeinflussbar sind folgende Faktoren:
• vererbte Voraussetzungen, die unveränderlich im Erbgut verankert sind
• der Risikofaktor „Alter“: je älter, desto anfälliger
• das Geschlecht: Frauen sind etwas häufiger betroffen als Männer
• die Haut- und Augenfarbe: Menschen mit heller Haut und blauen Augen
erkranken häufiger als Menschen mit dunkel pigmentierter Regenbogenhaut.
• Folgende Faktoren sind beeinflussbar:
• das Rauchen (Nikotinkonsum)
• die Sonne bzw. starkes UV-Licht. Starke Lichteinstrahlung lässt die ungeschützte Netzhaut schneller altern. Sonnenschutz hilft.
• die Ernährung (siehe nächste Seite)
Werden diese Faktoren berücksichtigt, können Sie sich und Ihr Augenlicht
schützen. Der Krankheit kann vorgebeugt werden oder sie wird verlangsamt.
Wenn Bluthochdruck oder eine Zuckerkrankheit vorliegen, ist es auch für die
Netzhaut wichtig, Blutdruck und Blutzucker gut einzustellen. Insbesondere
Rauchen ist für die Augen gefährlich. Studien belegen, dass Raucher einem
3,5-fach höheren Risiko unterliegen, an AMD zu erkranken als Nichtraucher.
28
Die nachstehenden Folgen des Rauchens sind für das erhöhte Risiko einer
Erkrankung verantwortlich:
• verminderte Bildung von sogenannten Radikalfängern, die den Körper im
Gleichgewicht halten und vor überschüssigen Radikalen und somit Schadstoffen schützen
• Verringerung von Abwehrstoffen gegen schädliche Sauerstoffanteile
(Antioxidanzien)
• Sauerstoffmangel in den Zellen
• Bildung von für den Organismus schädlichen Formen des Sauerstoffes
• gestörte Durchblutung der Aderhaut
Studien weisen nach, dass es einen Zusammenhang zwischen einem erhöhten AMD-Risiko und Ernährungsgewohnheiten gibt, insbesondere fettreichem
Essen und Übergewicht.
Vorbeugung und Nahrungsergänzungsmittel
Der AMD vorbeugen oder ihr Fortschreiten verzögern
Zwei Wirkstoffe, Lutein und Zeaxanthin, konnten in der Medizin als gelbes
Pigment in der Netzhaut identifiziert werden. Zum einen binden beide Substanzen freie Radikale und zum anderen filtern sie bestimmte Wellenlängen
des Lichts aus und fangen so die schädliche UV-Strahlung ab, quasi als
Sonnenbrille im Auge. Große Mengen der beiden Stoffe finden sich in verschiedenem rohem oder schonend gegartem Gemüse.
Andere Nährstoffe und Vitamine sind ebenfalls als wichtige Nahrungsbestandteile erkannt worden. In umfangreichen Studien (vor allem den „AREDStudien“) haben Patienten in der mittleren Phase der trockenen AMD von
der Einnahme einer Kombination hoher Dosen bestimmter Vitamine und
Mineralstoffe profitiert: Vitamin C, Beta-Karotin, Vitamin E und Zink konnten
das Risiko für die Entwicklung einer Spätform verringern. Raucher sollten
diesen Cocktail nicht einnehmen, da die dauerhafte Einnahme von Betakarotin das Lungenkrebsrisiko erhöhen kann.
Eine vitamin- und ballaststoffreiche Ernährung kann einer AMD möglicherweise vorbeugen. Die Ernährung beeinflusst den Stoffwechsel. Entscheidend ist, dem Körper und damit auch dem Auge ausreichende Mengen
Nährstoffe und Vitamine zuzuführen, denn gezielte, gesunde Nahrung regt
den Stoffwechsel an. Das Auge ist ein sehr komplexes und kompliziertes
Gebilde mit vielerlei Bedürfnissen. Ist sein Stoffwechsel gestört, kann das
in der Folge die AMD fördern.
29
Grundsätzlich spielen die Vitamine A, C und E eine wichtige Rolle. Alle drei
gelten als Radikalenfänger und schützen so unsere Zellen. Achten Sie daher darauf, sich ausgewogen zu ernähren, vor allem vitaminreich, zusätzlich
mit den beiden Karotinoiden Lutein und Zeaxanthin sowie dem Spurenelement Zink.
Obst und Gemüse sind in einer gesunden Ernährung besonders wichtig. So
enthalten vor allem dunkelgrüne Blattgemüse für das Auge wichtige Antioxidantien (Substanzen, welche die im Körperstoffwechsel entstehenden
aggressiven Sauerstoffradikale neutralisieren und dadurch schützend wirken). Früchte und Gemüse enthalten wichtige Karotinoide, die der Körper
nicht selber herstellen kann und die nur über die Nahrung aufgenommen
werden können. Die Karotinoide haben eine schützende Wirkung. Ob Nahrungsergänzungsmittel bei Ihnen in Frage kommen, sollte in jedem Fall mit
Ihrem behandelnden Augenarzt geklärt werden.
Bei einer unausgewogenen Ernährung stehen entsprechende Nahrungsergänzungsmittel für die Augen zur Verfügung. Wichtig ist, dass Sie mit
dem Augenarzt die Dosierung absprechen.
➔
Weitere Informationen zu den Fragen einer richtigen Ernährung
erhalten Sie in unserer Broschüre „AMD und Ernährung“.
Das Sehen verändert sich
Mit der AMD verändert sich Ihre Sicht. Im Frühstadium ist die Sehschärfe
in der Regel sehr gut. Einschränkungen können allerdings dazu führen,
dass Sie beim Lesen mehr Licht benötigen. Außerdem kann es sein, dass
es länger dauert, sich zurechtzufinden, wenn Sie an einem hellen Sonnentag in einen dunklen Raum gehen. Als erstes Anzeichen einer sogenannten
„feuchten“ AMD wird immer wieder verzerrtes Sehen genannt. Gerade
Linien werden plötzlich krumm oder gebogen wahrgenommen. Springende
Buchstaben und Unschärfe in der Mitte des normalen Sehfeldes sind weitere Alarmsignale. Verschwimmende Gesichter, in der Ferne nicht zu entziffernde Schilder oder dunkle Flecken beim Zeitunglesen können erste
Hinweise auf eine AMD geben. Die Folge ist ein Abnehmen der Sehfähigkeit in der Netzhautmitte. Dabei erscheint die betrachtete bzw. fixierte Stelle
unschärfer. Schließlich nimmt man in der Mitte des Gesichtsfeldes nur
noch einen dunklen Fleck wahr. Das äußere, periphere Sehen außerhalb der
Mitte des Sehfeldes bleibt dagegen erhalten.
30
Natürlicher Verlauf
Die Spätform der trockenen AMD bringt ein kontinuierliches Wachstum des
Zellabbaus. Gleichzeitig kommen neue Abbaugebiete hinzu. Typisch ist dabei, dass einzelne Flächen, die Merkmale der trockenen AMD aufzeigen,
zusammenfließen.
➔
App Sehbehinderungssimulator: https://appsto.re/de/tzSgL.i
Nachweisbare Beschwerden
Teile des Gesichtsfeldes (absolutes Skotom) gehen verloren. Wenn auch die
Stelle des schärfsten Sehens (Fovea) vollständig betroffen ist, kommt es zu
einem großen Abfall des Fernvisus. Damit ist die eine Sehleistung über einen größeren Abstand hinweg gemeint. Entsprechend verläuft die Einschränkung des Fernvisus bei Patienten in der Spätform der AMD typischerweise
schrittweise: Anfangs wird nur eine langsame Verschlechterung des Fernvisus beobachtet. Wenn die Fovea von dem Gewebeschwund (Atrophie) erfasst ist, kommt es zu einem schnelleren Abfall der Sehschärfe. Die Fovea
befindet sich im Zentrum des Auges und ist der Bereich des schärfsten
Sehens. Dieser Übergang äußert sich jedoch meistens nicht so plötzlich
wie das Auftreten eines Gefäßwachstums bei der feuchten AMD. Also handelt es sich um einen Verlust der zentralen Sehschärfe über einen längeren
Zeitraum, eher über Monate als über Wochen.
Häufig werden auch folgende Symptome genannt:
• größerer Bedarf von hellem, intensivem Licht beim Lesen
• reduziertes Dämmerungssehen
Therapeutische Strategien
Eine Therapiemöglichkeit für die Spätform der trockenen AMD besteht noch
nicht. Die Forschung ist jedoch zu grundlegenden Informationen über Entstehung und Entwicklung der Krankheit gelangt. Diese werden zurzeit in
klinischen Studien geprüft.
31
Therapieforschung
Der Krankheitsverlauf der Spätform der trockenen AMD ist noch nicht transparent, wird aber weiter erforscht. Zurzeit geht man von einem Zusammenwirken von Erbgut und Umweltfaktoren aus. Es wird darüber diskutiert und
geforscht, ob die folgenden Punkte AMD fördern:
• eine durch den Zellabbau verminderte Fähigkeit der Netzhautzellen
Zellbelastungen standzuhalten
• eine chronische Entzündungsreaktion
• eine außerordentliche Anhäufung von giftigen Abbauprodukten
• eine gestörte Immunabwehr
• eine verminderte Durchlässigkeit der Aderhaut
Therapeutische Ansätze
Das erste Ziel in der Behandlung der AMD ist es, das Fortschreiten der Erkrankung und den Sehverlust zu verhindern bzw. wenigstens zu verlangsamen. Wie bereits genannt, gibt es mittlerweile Behandlungsansätze – immer noch in Studien. Es stehen mehrere medikamentenbasierte Therapien
mit unterschiedlichen Angriffspunkten zur Verfügung. Zurzeit werden diese
in groß angelegten klinischen Prüfungen auf ihre Wirksamkeit und Sicherheit
untersucht. Zu ihnen zählen:
•
•
•
•
Verminderung retinaler Gifte (Toxine)
entzündungshemmende Wirkstoffe (anti-inflammatorische Substanzen)
Bewahren der Nervenzellen vor dem Absterben (Neuroprotektion)
Verwenden von Substanzen, die schädliche Sauerstoffmoleküle abfangen
(Antioxidanzien)
Wie die Medikamente verabreicht werden, ist verschieden. Sie können systemisch über eine Infusion (orale, intravenöse) verabreicht werden, aber auch
lokal (topisch) per Augentropfen ins Auge. Außerdem besteht die Möglichkeit,
sie unter die Bindehaut (subkonjunktival) und hinter die Lederhaut (transskleral) zu verabreichen. Das Gleiche gilt für die Medikamentenaufnahme in
den Glaskörper (intravitreal).
32
Trans-skleral
(subconjuntivale Injektion/Implantat)
Intravitreal
(Injektion)
Topisch
(Augentropfen)
Ziel
(Makula mit Fovea)
Systemisch
(oral, intravenöse Infusion)
Intravitreal
(Intravitreales Implantat)
Trans-skleral
(Parabulbäre Injektion)
Schematische Darstellung von unterschiedlichen Formen der Medikamentenaufnahme. Diese werden zurzeit in klinischen Studien bei Patienten mit
geografischer Atrophie bei AMD untersucht.
Verminderung retinaler Gifte
Durch Medikamente könnte die Anhäufung giftiger Nebenprodukte verhindert
werden. Dadurch verlangsamt sich das Wachstum der Atrophie. Dies lässt
sich am Beispiel eines Motors genauer erläutern. Durch die Gabe dieser Substanzen sind „hohe Drehleistungen“ des „Motors Sehzyklus“ nicht mehr möglich. Dieser kann nur noch „in Normalbetrieb laufen“, um ihn vor Schaden zu
schützen. Ähnliche Behandlungsstrategien werden in vielen Bereichen der
Medizin angewendet, wie beispielweise mit Beta-Blockern bei der chronischen Herzinsuffizienz. Ganz entscheidend bei diesem Therapieansatz ist
die richtige Dosierung.
Fenretinide ist ein dem Vitamin A ähnlicher, abgeleiteter Stoff, der als Tablette
eingenommen werden sollte. Die Ergebnisse der Phase-II-Studie haben jedoch nicht die gewünschte Wirkung für die Netzhaut aufgezeigt.
Emixustat ist ein Medikament, das ebenfalls als Tablette eingenommen wurde. Es greift direkt in den Sehzyklus ein, wirkt also direkt in der Netzhaut.
Es wurde allerdings gezeigt, dass diese Effekte nach Absetzen der Therapie
und innerhalb einiger weniger Tage vollständig rückläufig waren.
33
Entzündungshemmende Wirkstoffe
(anti-inflammatorische Substanzen)
Lampalizumab ist ein Medikament, das alle ein bis zwei Monate in das
Auge verabreicht wird. Das Medikament dient als Antikörper, der gezielt den
Krankheitsverlauf verlangsamen soll.
Dagegen konnte Eculizumab, wenn es als Infusion gegeben wird, noch
keine positiven Effekte zeigen.
Weitere Wirkstoffe werden an Patienten untersucht. Dazu zählen Präparate
mit entzündungshemmender (Iluvien, Alimera Sciences) und immununterdrückender Wirkung (Sirolimus, Wyeth) oder mit Einfluss auf die Proteine,
die das Zellwachstum steuern (Copaxone, Teva Pharmaceuticals).
Bewahren der Nervenzellen vor dem Absterben
(Neuroprotektion)
Bereits 2009 wurden erste Ergebnisse im Sinne einer Sehschärfen-Stabilisierung (Visus-Stabilisierung) und Zunahme der Netzhautdicke berichtet.
Dabei wird in einem operativen Eingriff ein Implantat in den Glaskörper eingesetzt. Dieses enthält eine genetisch veränderte Zellkultur. Dort wird das
Protein CNTF (Ciliary Neutrophic Factor) in den Glaskörper abgegeben.
Außerdem liegt mit Brimonidin (Allergan) ein aus der Glaukomtherapie seit
Jahren bekannter Wirkstoff vor. Er soll schützende Wirkung vor dem Zelltod
haben. Eine Studie läuft noch.
Substanzen, die schädliche Sauerstoffmoleküle abfangen
(Antioxidanzien)
Die ARED-Studie (Age-Related Eye Disease) kommt zu dem Ergebnis, dass
die Möglichkeit besteht, den Übergang von der Zwischen- zur Spätform der
AMD zu verzögern. Dabei ist eine orale, hochdosierte Einnahme von Zink
und Antioxidanzien notwendig. Ein Effekt für die Spätform der trockenen
AMD konnte dabei nicht gezeigt werden.
34
Netzhaut-Implantat
Seit einiger Zeit wird an einem Implantat zur Wiederherstellung (von Teilen)
der Sehfähigkeit geforscht. Das Implantat ist im Ansatz vergleichbar mit einem Cochlearimplantat bei Hörgeschädigten. Erstmals wurde im Juli 2015
einem Patienten mit trockener AMD eine Netzhautprothese implantiert. Nach
Implantation eines „bionischen Auges“ könne er wieder Silhouetten von Menschen erkennen, so ein britischer Augenarzt.
Das System wandelt Videoaufnahmen einer Minikamera (in die Brille des
Patienten eingebaut) in Serien kleiner elektrischer Impulse um, die kabellos
auf implantierte Elektroden auf der Netzhautoberfläche übertragen werden.
Die Impulse stimulieren die noch vorhandenen Netzhautzellen und bewirken
eine entsprechende Wahrnehmung von Lichtmustern im Gehirn. Die Muster
von Seh-Eindrücken lernt der Patient zu interpretieren; er erlangt so eine
gewisse Sehfunktion. In ersten Tests konnte er mit dem System unterschiedlich verlaufende, schwarze und weiße Muster auf einem Bildschirm
beschreiben, zum Beispiel die unterschiedliche Ausrichtung von diagonalen und horizontalen Linien.
Bis zu einem Wirksamkeitsnachweis
aller neuen Ansätze sind Patienten auf
vergrößernde Sehhilfen und alle anderen Hilfsmittel angewiesen.
In der PRO RETINA Zeitschrift
„Retina aktuell“ wird laufend
über die Entwicklung dieser
Forschungen informiert.
Wer berät mich?
Eine Sehbehinderung wirft viele Fragen auf. Erster Ansprechpartner ist natürlich der behandelnde Augenarzt, aber gerade im Bereich Brillen und Sehhilfen sollte man sich baldmöglichst auch an einen auf Sehbehinderungen
spezialisierten Optiker wenden. So wird man bei einem zertifizierten Low
Vision Optiker nicht nur kompetent beraten, sondern kann Hilfsmittel auch
in Ruhe testen und anpassen lassen.
➔
Die spezialisierten Augenoptiker sind aufgelistet unter
www.amd-netz.de/versorgungsatlas
Bei der Suche nach einem erfahrenen Augenoptiker wenden Sie sich an die
Makula-Berater der PRO RETINA. Bei Fragen zu sozialen Themen und zur
Selbsthilfe wenden Sie sich an die Sozialberater der Selbsthilfe.
35
Erläuterung
– zu den Stufen einer Arzneimittelstudie
Arzneimittel dürfen in Deutschland nur zugelassen werden, wenn sie in klinischen Studien am Menschen geprüft worden sind. Diese Studien umfassen
mehrere Stadien:
• Phase I: Etwa 20 bis 80 (in der Regel) gesunde Personen nehmen den
Arzneistoff ein. Es wird geprüft, wie sie ihn vertragen und welche Hauptund Nebenwirkungen auftreten.
• Phase II: In der „klinischen Prüfung“ nehmen 50 bis 200 Personen den
Arzneistoff ein. Wirkung und Nebenwirkung werden geprüft, die Dosis für
Phase III getestet.
• Phase III: In dieser Phase wird die Wirkung des Arzneistoffes mit der eines anderen Medikamentes sowie eines Stoffes ohne Inhalt (Placebo)
verglichen. An dieser Studie werden meist etwa 1000 Menschen beteiligt,
die in Gruppen aufgeteilt werden. Manche erhalten das Arzneimittel, manche bekommen andere Medikamente, wieder andere das Placebo. Weder
sie selbst noch die Ärzte wissen in dem Moment, wer welchen Stoff erhält.
• (Phase IV): Wenn das Arzneimittel zugelassen ist, wird es weiter in Langzeitstudien untersucht.
Die meisten experimentellen Arzneimittel scheitern im Verlauf der klinischen
Prüfung. Nur ca. 8 % der in Phase I untersuchten Mittel erreichen am Ende
die Zulassung.
(Aus dem Newsletter Blickpunkt Aktuell 13/26, dort zitiert nach Wikipedia vom 13.11.2013:
http://de.wikipedia.org/wiki/Medikament)
– zu den Untersuchungen des Auges
Einfache Sehtests
Mit Hilfe einfacher Sehtests, beispielsweise mit Sehtafeln, untersucht der
Augenarzt die Sehschärfe (Visus) und die Farb- und Kontrastwahrnehmung.
Augenspiegelung
Bei einer Augenspiegelung (Ophthalmoskopie, Funduskopie) betrachtet der
Arzt den Augenhintergrund (Fundus). Die Untersuchung erfolgt mit einer Lupe
und einer Lichtquelle oder mit speziellen Instrumenten. Untersucht werden
die Netzhaut, die Netzhautgefäße und der Sehnervenkopf.
36
Spaltlampe
Eine Spaltlampe besteht aus einer vergrößernden Optik und einer verstellbaren Beleuchtung. Eine Spaltlampe ist normalerweise in eine Untersuchungseinheit integriert. Bei fast jeder augenärztlichen Untersuchung erfolgt auch
eine Betrachtung des Auges an der Spaltlampe. So kann der Arzt viele Erkrankungen des vorderen Augenabschnittes sowie unter Verwendung einer
zusätzlichen Lupe auch Veränderungen des Augenhintergrundes feststellen.
Fluoreszenz-Angiographie
Mit Hilfe eines speziellen Farbstoffes und einer Spezialkamera stellt der
Augenarzt die Feinstrukturen der Netzhaut besonders gut dar. Die Fluoreszenz-Angiographie gehört zu den Standarduntersuchungen bei der Altersabhängigen Makula-Degeneration.
Darstellung der Netzhautschichten
(optische Kohärenztomographie)
Die optische Kohärenztomographie (OCT) ermöglicht einen Blick auf die einzelnen Schichten der Netzhaut. Dadurch erkennt der Arzt frühzeitig typische
AMD-Schäden wie beispielsweise Ablagerungen oder Flüssigkeitsansammlungen in der Netzhaut.
➔
Wichtiger Hinweis: Eine OCT gehört derzeit
nicht zum Standard-Leistungspaket der Krankenkassen.
Fragen Sie daher sicherheitshalber bei Ihrer Kasse nach,
ob die Kosten dafür übernommen werden.
Fundusautofluoreszenz
Die Fundusautofluoreszenz erlaubt eine einfache Dokumentation der Struktur
von Netzhautzellen ohne Anwendung von Farbstoff (im Gegensatz zur Fluoreszenz-Angiografie). In bestimmten Fällen zeigen sich in der Fundusautofluoreszenz bereits Veränderungen, während die Augenspiegelung noch unauffällig ist.
➔
Weitere Augenuntersuchungen finden Sie
auf der Webseite des AMD-Netzes beschrieben:
www.amd-netz.org
Quellen: www.ratgeber-makula.de, www.amd-netz.org,
www.miomedi.de/gesundheit/untersuchungen/augen/spaltlampe/spaltlampe.html
37
Fachwörter Umschreibung
absolutes Skotom
Antioxidanzien
ARED-Studien
(Age-Related-Eye-Disease)
Atrophie-Areale
CNV (choroidale
Neovaskularisation)
Drusen
Exsudativ
Fovea
Funduskopise
geografische Atrophie
Abwehrstoffe gegen schädliche Sauerstoffanteile
Studien zu den Nahrungsergänzungsmitteln
scharf begrenzte, flächige Gebiete mit Gewebsverlust von
äußeren Netzhautschichten
Krankhafte Gefäßneubildungen in der Aderhaut
Ablagerungen von Abbauprodukten in der Netzhaut
flüssige Einsprossung
Stelle des schärfsten Sehens in der Netzhaut
Betrachtung des Augenhintergrundes
flächiger Schwund von Netzhautgewebe
intermediäre Drusen
mittlere Drusen
IVOM (intravitreale
Medikamentengabe)
Medikamentengabe in den Glaskörper
Metamorphopsie
Mikroperimetrie
neovaskuläre AMD
Neuroprotektion
Ophthalmoskopie
oxidativer Stress
Pigmentepithelabhebungen
Pigmentveränderungen
Radikale
Retina
retinales
Pigmentepithel (RPE)
Sklera
Subkonjunktival
Systemisch
Toxine
VEGF-Hemmer
(vascular endothelial
growth factor)
38
Verlust von Teilen des Gesichtsfeldes
verzerrte Wahrnehmung
Gesichtsfelduntersuchung
feuchte AMD
Bewahren der Nervenzellen vor dem Absterben
Augenspiegelung
Zellbelastungen
Abhebung der äußersten Netzhautschicht
farbliche Veränderungen am Augenhintergrund
biologische Teilchen im Körper, die Zellschäden bewirken
können
Netzhaut
äußere Schicht der Netzhaut
Lederhaut
unter die Bindehaut
oral und intravenös, über den Mund oder in die Vene gespritzt
retinale Gifte
lokaler Wachstumsfaktor der Gefäß-Neuentstehung
Tipps, Erfahrungen,
Informationen
Leben mit der AMD
9
39
„Ich freue
mich über alles,
was ich noch mit den
Augen erkennen kann.“
Gerlinde Wedel-Schwetje
berät AMD-Patienten in Rendsburg
Morgens früh aufstehen, schnell duschen, einen Apfel schnappen, Ecki,
ihren Blindenhund, an die Leine nehmen und dann den Nord-Ostseekanal
entlang gehen! Alles ist noch ruhig, gefährdende Fahrradraser sind kaum
unterwegs. Jetzt genießt Gerlinde Wedel-Schwetje jeden Schritt. Die Bewegung, der Wind, der Geruch des Wassers, die Umrisse eines Segelbootes.
„Ich nehme alles, was meine Augen noch sehen, bewusst wahr.“ Und sie
freut sich an allem. Das ist überhaupt ihr Leitstern: die Freude an dem, was
da ist. Natürlich, erzählt sie, gibt es auch gelegentlich dunkle Stunden, aber
dann rafft sie sich bewusst zur Freude auf, befiehlt ihrem Gehirn inne zu
halten, wenn es Selbstvorwürfe oder Ängste produziert. Und dazu neigt das
Gehirn gelegentlich, denn Gerlinde Wedel-Schwetje hat nur noch ein Prozent Sehfähigkeit, vor dem Gesetz gilt sie als blind. Aber sie findet meistens
noch einen Teil ihres Geistes, der düsteren Gedanken Mut und Zuversicht
entgegenhält.
„Ich nehme alles,
was meine Augen noch sehen,
bewusst wahr.“
40
„Ich stand im Schwarzen.“
„Ich stand im Schwarzen.“ Das war ihr größter Schock. Sie war erst 34 Jahre
alt, war stark kurzsichtig, aber Kontaktlinsen täuschten darüber hinweg. Sie
glaubt sogar zu wissen, was die Sehstörungen verursacht hat: „Ich habe
als Kind viel gelesen, auch nachts unter der Bettdecke. Bücher waren mein
Leben!“ Damit könnte sie sich die Augen kaputt gemacht haben. Außerdem
habe sie in ihrem Beruf als Sozialarbeiterin und Logopädin nie auf sich geachtet, im Gegenteil: „Ich habe mich selbst überholt!“ So „fiel eines Tages
die Netzhaut ,runter‘“, wie sie es nennt, und es war dunkel um sie. Immerhin
hatte sie einen guten Augenarzt, der sie erstens beruhigte – „Mädchen, das
kriegen wir wieder hin!“ – und zweitens erfolgreich mit Laserstrahlen die Netzhaut wieder befestigte. So sah sie wieder, bis sie später nach einem erneuten
Netzhautabriss und mehreren Operationen mit der Diagnose „dem Gesetz
nach blind“ leben musste. Ihre erste Ehe hielt der Belastung durch die Behinderung nicht stand. Umso schöner ist es für Gerlinde Wedel-Schwetje, dass
sie mit ihrem zweiten Mann viele Schwierigkeiten bewältigen kann. Das sei
überhaupt das Beste an der Krankheit, dass ihre Beziehung dadurch so intensiv sei und auch Freundschaften mehr Tiefe erfahren hätten. Dass sich
Freunde abgewandt hätten, weil sie nicht mit ihren Einschränkungen umgehen könnten, habe sie nicht erlebt. Nur manchmal muss sie ihren Mann
bremsen, wenn er ihr zu viel helfen will: „Da legt man sich allzu leicht in eine
Hängematte, aus der man nicht wieder herauskommt“, sagt sie.
Natürlich vermisst sie auch manches in ihrem Leben ohne Bilder. Mit einem
Buch in der Sofaecke sitzen und lesen, das sei durch das schönste Hörbuch nicht zu ersetzen. Die Arbeit in ihrer Praxis hat sie so lange wie möglich fortgesetzt, sich therapeutisch weitergebildet, u. a. zur Visiopädin (Sehlehrerin). Nach Aufgabe ihrer Praxis arbeitet sie mit sehbehinderten und blinden Menschen (Augenentspannung, Stressabbau, Lebensmut) in Seminaren
und hält Vorträge zum angemessenen Umgang mit ihnen. Neben praktischen
Tipps rät sie allen, die lernen, mit einer Sehbehinderung zu leben, geduldig
zu sein und lieber etwas länger nach neuen Möglichkeiten zu suchen, auch
mit schlechten Augen einer Arbeit nachzugehen oder ein Hobby zu pflegen,
als zu früh aufzugeben. Was aufgegeben ist, gewinne man nicht mehr zurück, sagt sie.
Gerlinde Wedel-Schwetje berät AMD-Patienten für PRO RETINA. So hat ihr
die Krankheit auch eine Aufgabe gegeben, die eine Berufung ist und ihr
Freude macht.
41
„Da ist das
ganze Leben!“
Peter Krüger*
hört Verhandlungen im Sozialgericht
Wenn das eine nicht mehr geht, macht Peter Krüger eben etwas anderes.
Da lässt er sich nicht lange hängen. „Wenn Plan A nicht mehr funktioniert,
habe ich Plan B oder Plan C.“ Als er nicht mehr lesen konnte und – da war
er dann doch entnervt – die Zeitung in die Ecke gepfeffert hat, wusste er:
Ich will etwas hören. Hörbücher schienen ihm noch nicht angemessen. „Und
so fand ich das Sozialgericht.“ Beruflich hatte Peter Krüger als Personalchef
immer mit Menschen zu tun, deshalb interessieren ihn die Fälle, die vor dem
Sozialgericht verhandelt werden. Klagen von Arbeitslosen, Streit um Hartz
IV, Gezerre mit der Rentenversicherung: „Ich gehe mehrmals in der Woche
in das Gericht, höre zu und überlege, wie ich entscheiden würde“, erzählt er.
„Da ist das ganze Leben!“
Peter Krügers Frau war vor ein paar Jahren verwundert: „Warum fährst du
so langsam“, fragte sie ihn. Er musste gestehen, dass er die Straßenschilder
nicht mehr auf Anhieb erkennen konnte und ging zum Augenarzt. Diagnose:
trockene AMD. Für eine Krankheit, die ihrem Namen nach „altersabhängig“
ist, hielt er sich für zu jung. Er war noch für 500 Mitarbeiter eines Betriebes
im Personalbereich mitverantwortlich. „Die Diagnose war schlimm. Auf einem
Auge habe ich schon immer schlecht gesehen, nur 10 Prozent!“ Er musste,
nach und nach, seine Arbeit aufgeben. Für das Rentenalter hatte er auch
schon Pläne: Peter Krüger wollte sich ehrenamtlich betätigen. Er versuchte
das auch. Fast ein Jahr lang betreute er einen demenzkranken Mann und
spielte im Altenheim regelmäßig mit einer Gruppe von Bewohnern. „Aber
auch das ging dann nicht mehr. Ich habe die Punkte auf den Würfeln nicht
mehr gesehen.“ Wenn er davon erzählt, rutscht schon mal das Sch-Wort aus
ihm heraus. Bei aller Kraft und dem Willen, immer wieder Plan B und Plan C
zu finden, tut es Peter Krüger doch weh, dass er immer wieder neue Einschränkungen hinnehmen muss.
*Name geändert
42
Auch im Sport. 20 Jahre lang spielte er Tischtennis im Verein. Nicht professionell, aber regelmäßig und gerne. Das ging nicht mehr. Er sah den Ball
nicht. Alternativen? Selbst ein Fitnessstudio ist für Menschen, die schlecht
sehen, nicht geeignet. „Ich müsste dann immer fragen, wie die Übungen, die
der Gruppenleiter vormacht, aussehen. Das will ich nicht.“ So verzichtet
er auf Sport. Sein Mobilitätstraining mit dem Blindenstock ist ihm zurzeit
Herausforderung genug. „Dazu braucht man volle Konzentration“, sagt
Peter Krüger nach der ersten Stunde und schwärmt von der Trainerin: „Sie
macht das ganz toll!“ Überhaupt sei es doch schön, wie viel er dank verschiedener Hilfsmittel noch erleben könne. Die Zeitung, deren Papierausgabe er einst in die Ecke gepfeffert hat, hört er jetzt in aller Ruhe am Telefon oder Smart Phone. Dafür gibt es ein besonderes Abonnement.
„Meine Frau unterstützt mich sehr.
Im Haus ordnet sie alles so,
dass ich mich gut zurechtfinde.“
So hat er sein Leben neu eingerichtet. Nein, depressive Phasen hätte er nicht.
Das sei vor allem seiner Frau zu verdanken. Sie helfe und stützte ihn bei
allem, organisiere die Wohnung so, dass er sich zurechtfindet. Das gilt für
die Hälfte des Tages, in der er daheim ist. In seinem zweiten Zuhause, dem
Sozialgericht, kennt er sich ohnehin aus.
Bild Partnerschaft
43
Selbsthilfe
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44
„Die Selbsthilfegruppen haben mir enorm geholfen, mit der
Krankheit umzugehen. Von Betroffenen bekommt man die besten
Tipps. Deshalb berate ich heute Menschen, die neu erkranken.“
Gerlinde Wedel-Schwetje
„Ich mache Beratungen an der Uni-Augenklinik Bonn und leite
einen Stammtisch für Betroffene. Die Geschichten der anderen
Erkrankten gehen mir manchmal sehr nahe. Ich brauche dann
immer wieder Abstand, sonst kann ich keine gute Beraterin sein.
Menschen, die ich in der Beratung kennen lerne, sind für mich
selbst eindrucksvolle Vorbilder im Umgang mit der Krankheit.
Ich schätze es aber vor allem, in den Fortbildungen viel zu lernen:
über neue Therapien, über Hilfsmittel, rechtliche Fragen und
Gesprächsführung.“
Dr. Renate Siebert
„Nachdem ich die Diagnose bekommen habe und mir dämmerte, dass ich
diese Krankheit nicht ignorieren kann, besuchte ich das AMD Seminar der
PRO RETINA für Betroffene und deren Angehörige. Hier begriff und
akzeptierte ich endlich meine Augenkrankheit. Der Austausch mit
Betroffenen war wie ein Geschenk des Himmels und zugleich Therapie.
Hier wurde mir bewusst, dass nicht alle Betroffenen die Krankheit verstehen,
geschweige denn akzeptieren. Wir alle haben eines gemeinsam: Angst.
Zur eigenen Angst kommt noch die des Partners. Mein Mann begleitet mich
immer zum Augenarzt. Wir verschweigen die Krankheit nicht.“
Gertraud Arndt
Makula – Aktivitäten der PRO RETINA
Im Arbeitskreis Makula haben sich interessierte Mitglieder der PRO RETINA
zusammengeschlossen. Sie tauschen sich untereinander aus und veranstalten Aktivitäten für die Patienten:
• Sie gestalten jährlich mindestens ein Patientenseminar und ein Seminar
für die Angehörige
• Seminare zur Aus- und Fortbildung für Makula-Berater
• erstellen Veröffentlichungen und planen öffentliche Veranstaltungen
Zurzeit beraten 32 Makula-Berater interessierte Patienten. Sie kennen sich
mit der Erkrankung aus, haben sich fortgebildet in medizinischen und sozialen Fragen und stehen als Gesprächspartner zur Verfügung. Sie leben alle
schon länger mit dieser Erkrankung, haben jeder für sich gelernt, mit dem
nachlassenden Sehvermögen zu leben. Diese Erfahrungen können sie mit
den Ratsuchenden teilen und ihnen so helfen, die Makula-Degeneration zu
verarbeiten.
➔
Kontakt zum Arbeitskreis:
Heike Ferber
PRO RETINA Deutschland e.V.
Arbeitskreisleitung Makula
Telefon (0 29 25) 81 75 41
[email protected]
45
Sich outen – reden
„Bin ich behindert?
Wem hilft es, wenn ich mich erkennbar mache?“
❜
❜
„Am Anfang fiel es mir sehr schwer, mich zu der
Krankheit zu bekennen. Als ich den Blindenstock hatte,
riefen mir einmal Kinder ,blinde Kuh‘ hinterher.
Ich konterte aber: ,Lieber blinde Kuh, als einmal so
doof sein wie Ihr.‘ Das ist aber meine einzige schlechte
Erfahrung in all den Jahren. Mir haben die Selbsthilfegruppen sehr geholfen, zu der Krankheit zu stehen
und offen damit umzugehen. Das versuche ich jetzt
in der Beratung weiterzugeben. Das Schlimmste ist,
wenn Menschen sich aus Scham zurückziehen.“
Gerlinde Wedel-Schwetje
„Sich zu der Krankheit bekennen – das kostet Überwindung ohne Ende.
Zum Glück hatte ich meine Selbsthilfegruppe. Ich weiß nicht, was mit mir
geschehen wäre, wenn ich die nicht gehabt hätte.“
Marita Schneider
❜
❜
46
„Ich habe mich sofort zu der Krankheit bekannt. Ich will schließlich
nicht als arrogant gelten, wenn ich meine Nachbarn nicht grüße.
Freunden gegenüber schiene es mir unehrlich, wenn ich meine
Krankheit verheimlichen würde. Ich habe nie schlechte Erfahrungen
im Freundes- oder Bekanntenkreis gemacht. Wo es notwendig ist,
nehmen die Leute gerne Rücksicht.“
Dr. Renate Siebert
„Behindert? Ich sehe mich weder als behindert, noch besitze ich
einen Behindertenausweis. Ich weigere mich, dieses Thema in
mein Gedankengut aufzunehmen. Ist dies falsch? Für mich scheint
diese Gesinnung richtig zu sein. Und wenn ich einmal traurig bin,
dann darf das auch sein. Trauer gehört in so einer
Lebenssituation – und nicht nur da – dazu.“
Gertraud Arndt
Die Angehörigen
„Hilfe, meine Eltern haben AMD.
Wann bekomme ich das?“
Sehr häufig melden sich in Beratungsgesprächen die Angehörigen. Nach
der Anfrage über allgemeine Dinge wie Hilfsmittel, Soziales oder die Sorgen
und Ängste hören Berater dann oft die Frage: „Meine Mutter traut sich nicht
mehr, in der Öffentlichkeit zu essen.“
Später stellt sich oft heraus, dass sich die Angehörigen auch um sich selbst
Sorgen machen, und dies doppelt: auf der einen Seite erfahren sie im Umgang mit den Eltern eine neue Rolle, ihre Hilfe ist gefragt, zu viel Hilfe jedoch
unerwünscht. Die Angehörigen erleben, wie ihre starken Eltern Schwäche
zeigen. Auf der anderen Seite wollen die Kinder selber wissen, ob sie damit
rechnen müssen, auch an einer MakulaDegeneration zu erkranken.
Ja, die Makula-Degeneration
hat einen vererbbaren Anteil.
In diesem Fall können Fachleute nur
Also ist die Erkrankung der
empfehlen, sich regelmäßig beim AugenEltern ein Hinweis, dass sie
arzt untersuchen zu lassen. Durch eine
auch die Kinder ereilen kann.
gesunde Ernährung, gute Lebensführung,
Verzicht auf Nikotin und mit viel Bewegung lässt sich das Risiko minimieren. Aber es gibt (bislang) keine eindeutige Vorhersage über die Wahrscheinlichkeit, an AMD zu erkranken.
PRO RETINA veranstaltet Tagungen für Betroffene und ihre Angehörigen. Das kann vor allem
für Menschen, die neu erkrankt
sind und im Prozess, ihr Leben
umzustellen, hilfreich sein. Auch
die Angehörigen profitieren davon. Sie wünschen nichts mehr,
als dass es den Betroffenen gut
geht. Eigenen Leidensdruck
äußern sie selten – manchmal
aber braucht auch das seinen
Platz.
47
„Was wirklich hilft“
Bericht von der Tagung für
Betroffene und Angehörige im Juni 2015
von Christel Illmann
„Alle Teilnehmer sprachen während des Seminares offen über ihre Ängste
und Gefühle. Ich nehme an, dass wir von den Schicksalen, die uns in den
Gesprächen geschildert wurden, lernen, unsere Lösungen zu finden.
Den ärztlichen Vortrag hielt Dr. Claudia Jochmann (Klinik für Augenheilkunde
des Universitätsklinikums Leipzig). Sie klärte über verschiedene Behandlungsmöglichkeiten auf, gab umfangreiche Hinweise zur Ernährung, zur Selbstkontrolle, das Verhalten in Notfallsituationen, erklärte Operationsmethoden
und sprach von Vererbungsformen und warum ein OCT für die Untersuchungen wichtig sein könnte.
Beim Referat von Beate Bolte staunte ich über die Hilfsmittel. Wir konnten
viele gleich ausprobieren. ,Wie und Wer/Was hilft mir wirklich?‘ Das Thema
der Reha-Lehrerin Ulrike Schade zur Stärkung der Fähigkeiten und zur O&M
und LPF (siehe Seite 56) war für mich Neuland. Mein Mann probierte sogar
einen Langstock aus. Sehr beansprucht wurde meine Psyche während des
Vortrages eines erkrankten Teilnehmers. Wie er seine Erkrankung erlebt,
machte mich sehr betroffen.
Ich bin dankbar und zufrieden, dass ich an diesem Seminar teilnehmen
durfte.“
(Das Seminar war eingebettet in ein entsprechendes Forschungsprojekt des AMD-Netzes.)
➔
48
Hinweis: Die Makula-Seminare von PRO RETINA finden jährlich statt.
Informationen erhalten Sie beim Arbeitskreis Makula.
Miteinander umgehen
Hinweise für Sehbehinderte,
Angehörige und Begleiter
Sehbehinderte Menschen haben das
Problem, dass man ihnen ihre Sehbehinderung meist nicht ansieht und
dadurch im Umgang leicht vermeidbare
Überforderungen oder Kränkungen
auftreten.
Sich in einer fremden Umgebung zurechtzufinden – das fällt schon schwer
genug, wenn die Augen „in Ordnung“
sind. Menschen mit Sehbeeinträchtigungen dagegen benötigen häufig Unterstützung, um ihre Ziele zu erreichen.
Sehende Menschen sind meistens hilfsbereit. Aber sie denken, reden und
gestikulieren nun einmal wie Sehende: Ein ausgestreckter Arm mit dem
Hinweis „hier entlang“ oder ein Fingerzeig nach „da hinten“ hilft dem Fragenden wenig, denn er sieht ja nicht, in welche Richtung sein Gegenüber
zeigt. Präzise Orts- und Wegeangaben sind eine große Hilfe: „die erste Tür
rechts“ oder „links den Flur entlang bis zum Ende“ oder auch: „Ein Meter
hinter Ihnen steht ein Stuhl.“
Sehbehinderte erkennen nicht sofort, wer den Raum betritt oder weggeht.
Sie sehen auch nicht, ob sie angesprochen werden.
• Nennen Sie selbst Ihren Namen, damit Ihr Gegenüber weiß, mit wem er es
zu tun hat.
• Sprechen Sie Ihr Gegenüber möglichst direkt mit seinem Namen an, soweit er bekannt ist.
• Gehen Sie nicht einfach weg, ohne Bescheid zu sagen. Nur so kann sich
ein blinder Gesprächspartner auf die Situation einstellen. Sonst kann es
passieren, dass er ins Leere spricht.
Der Sehbehinderte fasst den Sehenden am Arm an.
49
Fragen helfen, einander zu verstehen
• Fragen Sie nach, was und wie Ihr Gesprächspartner sieht. So gewinnen
Sie einen Eindruck von den individuellen Beeinträchtigungen.
• Fragen Sie, ob und welche Unterstützung Ihr Gegenüber benötigt.
• Bieten Sie an, einen sehbehinderten Menschen zu führen („Darf ich Sie
begleiten?“) – und warten Sie die Zustimmung ab.
• Bieten Sie einen Arm zum Führen an. Die sehbehinderte Person greift
etwa in Ellenbogenhöhe mit der linken Hand Ihren rechten Arm. Auf diese
Weise entsteht automatisch der zum Gehen richtige Abstand. Sie gehen
voran, die zu führende Person folgt. Kündigen Sie Stufen und Hindernisse
ebenso an wie Richtungsänderungen.
• Nennen Sie das Ziel des Weges und beschreiben Sie seinen Verlauf. Dann
kann die geführte Person die Orientierung gewinnen und sich bei weiteren
Besuchen eventuell selbstständig bewegen.
Voraussetzung für die passende Hilfe ist, dass der Hilfsbedürftige sich als
sehbehindert zu erkennen gibt.
Quelle: Die obigen Hinweise basieren auf Empfehlungen des Gemeinsamen Fachausschusses für die Belange Sehbehinderter (FBS) der Sehbehindertenverbände und der Broschüre
„Sehen im Alter“ des gleichnamigen Aktionsbündnisses, in denen PRO RETINA mitarbeitet.
Hilfe zulassen – abhängig werden – Hilfe erbitten
❜
❜
50
„Ich fand es sehr schwer, Hilfe anzunehmen. Ich war es ja
gewöhnt, selbständig zu leben. Heute ist es mir angenehm,
wenn ich auf der Straße freundlich angesprochen werde und
mir jemand Hilfe anbietet. Dann bin ich immer noch frei,
sie anzunehmen oder zu sagen, dass ich alleine klar komme.“
Gerlinde Wedel-Schwetje
„Mit meinem Mann habe ich vereinbart, dass er mir nicht
ständig Hilfe anbieten soll. Ich melde mich, wenn ich seine
Hilfe brauche. Dieses System funktioniert für uns sehr gut.
Ich halte es für sinnvoll, mit nahen Menschen Vereinbarungen
zu treffen, wie man in Bezug auf die Behinderung miteinander
umgeht. Das schafft Klarheit.“
Dr. Renate Siebert
Alltagssituation – Auto fahren
Eine der schwierigsten Entscheidungen für AMD-Patienten ist es, nicht mehr
Auto zu fahren. Das hat persönliche und rechtliche Aspekte. Die Erfahrungen
einer Makula-Beraterin fassen die wesentlichen Fragen zusammen. Sie hier
zu lesen, heißt aber nicht, dass die Entscheidung einfacher wird! Niemand
bestreitet, dass das ein herber Einschnitt in das Leben ist.
Die Gesetzesgrundlage besagt:
Bei einer augenärztlichen Begutachtung ist auf dem besseren Auge mindestens ein Visus von 50 % nötig, wenn auf dem schlechteren Auge mindestens
noch 20 % vorhanden sind. Wenn der Augenarzt empfiehlt, das Auto stehen
zu lassen, sollte dem auch aus haftungsrechtlicher Sicht unbedingt Folge
geleistet werden.
Relevante Gesetzeslage für AMD-Patienten
Die Gesetzeslage in Deutschland ist in der
Fahrerlaubnisverordnung (FeV) formuliert (nachzulesen auf der Webseite der PRO RETINA:
http://www.pro-retina.de/netzhauterkrankungen/
makula-degeneration/altersabhaengige-makula
degeneration/news)
Versicherungen sind klarer als der Gesetzgeber
Die Versicherungen garantieren KEINEN Schutz bei einem Unfall. Ein sehbehinderter Autofahrer trägt an jedem Unfall eine Mitschuld.
51
„Ich muss das
Auto stehen lassen.“
Erfahrungen der Makula-Beraterin der PRO RETINA
Iris Timmer
„Es ist ein ganz normaler Vormittag, aber für Frau H. steht eine der schwierigsten Entscheidungen einer AMD-Patientin an. ,Frau Timmer – ich glaube,
ich werde wohl mein Auto stehen lassen müssen‘, sagt sie am Beratungstelefon. Straßenschilder und Ampeln könne sie nicht mehr richtig erkennen.
Dabei sei sie auf das Auto angewiesen. ,Ich wohne in einer ländlichen Gegend, habe kaum Einkaufsmöglichkeiten, keine Ärzte – und Busse fahren auch
nur selten!‘ Außerdem könne sie nicht gut gehen. Frau H. ist verzweifelt:
,Ich kann doch nicht ständig meine Nachbarn fragen.‘
Ich kann Frau H. aus eigener Erfahrung sehr gut verstehen! Auch mir ist es
sehr schwer gefallen, meine mobile Unabhängigkeit aufzugeben. Dennoch
muss ich Frau H. auf die Risiken hinweisen. Ich selbst bin einmal in kaum
zu verantwortender Weise gefahren: Ich war mit meiner Tochter unterwegs
auf einer mir gut bekannten Strecke. Meine Tochter sagte: „Schau mal, Mama!
Vor uns fährt ein Pferdeanhänger!“ Ich weiß bis heute nicht, wo meine Tochter diesen Pferdeanhänger gesehen hat! Außerdem habe ich als Mutter von
zwei Kindern Angst, wenn ich höre, dass Leute mit einem Visus von 10 %
noch Auto fahren.
Dabei kann ich natürlich verstehen, dass das Auto wichtig ist. Viele Menschen
bauen ihren Alltag darauf auf, Auto fahren zu können. Außerdem gehört das
Auto zum Erwachsensein dazu. Als Beraterin steht es mir aber nicht zu,
Frau H. zu verbieten, Auto zu fahren. Ich kann ihr nur mit meinem eigenen
Beispiel zeigen, dass wir für uns und unsere Mitmenschen verantwortlich sind.
Und oft sind Nachbarn und andere Menschen hilfsbereiter, als man denkt.“
52
Kennzeichnung im Straßenverkehr
Ein weiteres heikles Thema ist es, sich selbst mit einer Armbinde, einer Brosche oder einem Stock als sehbehindert zu kennzeichnen. Kennzeichnung
in der Öffentlichkeit, also auf der Straße, hat zwei Seiten: Die anderen Verkehrsteilnehmer können wahrnehmen, dass der Mensch nicht gut sehen kann
und entsprechend reagieren. Das erhöht die Aufmerksamkeit der anderen
Verkehrsteilnehmer. Menschen mit Sehbehinderung signalisieren offen, dass
sie sich möglicherweise unsicher im Straßenverkehr bewegen. Dies schützt
sie also und sichert sie rechtlich ab.
Aber: Sich zu kennzeichnen heißt
auch, sich als sehbehindert zu erkennen zu geben und zu der Einschränkung zu stehen. Das ist für
viele Menschen schwer und oft Ergebnis eines längeren Prozesses.
Eine eindeutige Vorschrift für die Kennzeichnung im Straßenverkehr sieht die
Fahrerlaubnisverordnung (FeV) nicht vor. So heißt es im Gesetzestext:
§ 2 Eingeschränkte Zulassung
(1) Wer sich infolge körperlicher oder geistiger Beeinträchtigungen nicht
sicher im Verkehr bewegen kann, darf am Verkehr nur teilnehmen, wenn Vorsorge getroffen ist, dass er andere nicht gefährdet. Die Pflicht zur Vorsorge,
... durch Begleitung oder durch das Tragen von Abzeichen oder Kennzeichen, obliegt dem Verkehrsteilnehmer selbst.
(2) Körperlich Behinderte können ihre Behinderung durch gelbe Armbinden
an beiden Armen oder andere geeignete, deutlich sichtbare, gelbe Abzeichen
mit drei schwarzen Punkten kenntlich machen. … Wesentlich sehbehinderte
Fußgänger können ihre Behinderung durch einen weißen Blindenstock, die
Begleitung durch einen Blindenhund im weißen Führgeschirr und gelbe Abzeichen nach Satz 1 kenntlich machen.
53
Möglichkeiten der Kennzeichnung
Zur Kennzeichnung stehen offiziell zur Verfügung: der weiße Blindenstock,
die gelben Armbinden mit drei schwarzen Punkten, die an beiden Armen
getragen werden müssen oder der Blindenführhund. Diese erhöhen die
Aufmerksamkeit anderer Verkehrsteilnehmer. Anstecker mit drei schwarzen
Punkten auf gelbem Untergrund oder mit einem weißen Stockmännchen auf
blauem Grund (europäisches Blindenabzeichen) sind im direkten Umgang
hilfreich, so muss einem Busfahrer nicht erklärt werden, warum man die
Buslinie erfragt, in einem Geschäft ist offensichtlich, warum man einen Verkäufer um Hilfe bittet.
➔
Informationen zum Erwerb der Kennzeichnungen
erhalten Sie bei der PRO RETINA oder bei den örtlichen Sehbehindertenund Blindenverbänden oder unter der Hotline (0 18 05) 77 47 78.
54
AMD und Beruf
„AMD – das bekommen doch nur ,ältere Leute‘.“
von Heike Ferber
Es kommt immer wieder vor, dass 50-Jährige mitten im Berufsleben an AMD
erkranken. Vor der Diagnose hat der Patient schon die nachlassende Sehkraft und Schwierigkeiten gespürt. Die Diagnose einer fortschreitenden,
nicht heilbaren Erkrankung stellt sein Leben auf den Kopf. Aber: Gerade für
die Gruppe der berufstätigen Menschen mit Seheinschränkung gibt es vielfältige Hilfen.
Die Rentenversicherung hilft mit Beratung, Training und Arbeitsplatzeinrichtung, aber auch mit Nachteilsausgleich für den Arbeitgeber. So können Sie
lange im Beruf bleiben.
Trauen Sie sich, offen über Ihre Erkrankung zu sprechen. Beschreiben Sie
Ihren Kolleginnen und Kollegen, woran Sie erkrankt sind und wie Sie sehen.
Lassen Sie Ihre Kollegen einmal durch eine Simulationsbrille schauen. Kein
Mensch muss heimlich eine Lupe zücken, um eventuell noch was auf einem
Bildschirm zu erkennen.
Erster Ansprechpartner ist – sofern vorhanden – der Schwerbehindertenvertreter in Ihrem Betrieb oder der sogenannte Integrationsfachdienst. Mit
ihnen können Sie alle weiteren Schritte klären. Auf jeden Fall helfen Ihnen
die Makula-Berater und Sozialberater der Patienten-Selbsthilfe.
Wer noch im Berufsleben steht, hat viele Möglichkeiten, geeignete Hilfsmittel für den Arbeitsplatz zu erhalten. Dafür sind einige Schritte zu gehen.
Wer an AMD erkrankt ist, sollte zunächst einen Antrag auf Schwerbehinderung stellen (örtliche Bürgerbüros nehmen Anträge entgegen und helfen beim
Ausfüllen).
• Liegt der Grad der Behinderung bei 30 oder darüber: einen Antrag auf
Gleichstellung stellen und den Arbeitgeber informieren.
• Kontakt mit Schwerbehindertenvertretung der Firma aufnehmen. Wenn dieser nicht vorhanden, direkt den Integrationsfachdienst ansprechen!
Dieser wird gemeinsam mit Ihnen eine speziell für Sie geeignete Arbeitsplatzausstattung einrichten.
➔
https://www.integrationsaemter.de/Integrationsfachdienste/88c51/
55
Rehatraining
LPF- und Mobilitätstraining
Patientinnen und Patienten können sich selbst mit kleinen Hilfen den Alltag
erleichtern. So gibt es erprobte Techniken für die Orientierung und Mobilität,
Schutztechniken beim Schneiden und Kochen, Methoden zum Sortieren, Aufräumen, Reinigen der Wohnung, für die Körperpflege, z. B. auch zum Schminken. Diese Methoden werden in Schulungen zur Orientierung und Mobilität
(O & M) und zu lebenspraktischen Fähigkeiten (LPF) vermittelt. Die Kosten dafür können nach Verschreibung durch den Augenarzt von den Krankenkassen erstattet werden.
❜
„Dazu muss man innerlich bereit sein. Das hat bei mir eine
Zeit lang gedauert. Mit der Trainerin bin ich sehr zufrieden.
Sie macht das toll. Aber das Training in der Stadt mit dem
Stock ist anstrengend. Es braucht volle Konzentration.“
Peter Krüger
Rehabilitationslehrerinnen und -lehrer
für blinde und sehbehinderte Menschen
Lebenspraktische Fähigkeiten (LPF)
Je nach individuellem Bedarf werden spezielle Techniken und Handlungsstrategien für den Alltag erarbeitet. Hierzu gehört ein Überblick über Hilfsmittel und Hilfen für sehbehinderte und blinde Menschen, zum Beispiel Wohnraumanpassung, Kontraste, sprechende oder gut ablesbare Haushaltsgeräte,
tast- und sichtbare Markierungen. Notwendige Alltags- und Kulturtechniken
(Körperpflege, Haushaltsführung, Kontaktaufnahme zu anderen Menschen,
Lesen, Schreiben etc.) werden somit wiedererlangt.
➔ Ansprechpartner und Kontakt:
Bundesverband der Rehabilitationslehrer/-innen
c/o Regina Beschta
Hartstraße 5/1, 71394 Kernen-Stetten
www.rehalehrer.de
56
Orientierung und Mobilität (O&M)
Bei Schwierigkeiten, sich in fremden Gebäuden und im Straßenverkehr zu
orientieren, kann ein Training Selbstständigkeit und Selbstvertrauen zurückgeben. Es befähigt sehbehinderte und blinde Menschen, sich – mit oder
ohne den weißen Langstock oder mit anderen Hilfsmitteln – wieder selbstständig zu bewegen und öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen.
Nachteilsausgleiche
Soziale Hilfestellungen
Menschen mit Sehbehinderungen werden viele soziale Hilfen angeboten.
Sie sollten auf den Einzelfall zugeschnitten werden.
Nachteilsausgleiche betreffen unter anderem:
•
•
•
•
•
•
•
finanzielle Erleichterungen wie das Sehbehinderten- und Blindengeld
steuerliche Erleichterungen
Abzugsbeträge bei der Beschäftigung einer Haushaltshilfe
freie Fahrten in öffentlichen Verkehrsmitteln
evtl. Minderung von den Rundfunkgebühren
Leistungen der Krankenversicherungen
evtl. Frühverrentung
Eine persönliche Beratung ist dringend zu empfehlen.
➔
Ausführliche Informationen finden Sie
in unserer „Sozial-Broschüre“ und
bei den Sozialberatern der PRO RETINA.
Adressen und Broschüren erhalten Sie
in der Geschäftsstelle der PRO RETINA in Aachen oder
bei unseren Makula-Beraterinnen und -Beratern.
57
PRO RETINA Deutschland e. V.
PRO RETINA Deutschland e. V. ist die Selbsthilfevereinigung von Menschen
mit verschiedenen „degenerativen“ (fortschreitenden) Netzhauterkrankungen
wie Retinitis pigmentosa (RP), Usher-Syndrom, Makula-Degeneration (MD).
PRO RETINA wurde 1977 von Betroffenen und deren Angehörigen als gemeinnütziger Verein gegründet, um sich selbst zu helfen. Es ist eine bundesweit tätige Organisation mit derzeit 60 Regionalgruppen und rund 6.000
Mitgliedern.
PRO RETINA
• informiert und berät betroffene Menschen, ihre Angehörigen und die
Öffentlichkeit
• unterstützt den Erfahrungsaustausch und die gegenseitige Hilfe der
Mitglieder
• fördert die wissenschaftliche Forschung auf dem Gebiet der
Netzhautdegeneration. Ziel ist es, eine Behandlung zu finden.
Die Erkrankungen sind bisher allenfalls in sehr speziellen Fällen,
meist aber gar nicht behandelbar.
Um einen Beitrag zur Entwicklung wirksamer Therapien zu leisten, engagiert
sich PRO RETINA Deutschland e. V. über ihre Stiftung auch in der Forschungsförderung. Ein wissenschaftlich-medizinischer Beirat unterstützt PRO RETINA
durch aktuelle Informationen, fachliche Beratung und durch Auswahl von
Forschungsprojekten.
➔
Weitere Informationen erhalten Sie im Internet unter
www.pro-retina.de.
PRO RETINA Deutschland e. V.
Selbsthilfevereinigung von Menschen mit Netzhautdegenerationen
Vaalser Straße 108
52074 Aachen
Telefon (02 41) 87 00 18
Telefax (02 41) 87 39 61
E-Mail: [email protected]
www.pro-retina.de
facebook.com/proretina
58
Broschüren und Hörbücher
der PRO RETINA
„Was ist AMD?“
ge
Altersabhängi ation
ner
Makula-Dege
Infoserie Nr. 13
• 40 Seiten, DIN lang, Stand Dezember 2014
• eine Einführung in die AMD, Ursachen, Vorbeugung,
Diagnose, Therapie und Kontaktadressen
?
Was ist AMD
Ratgeber
Information und
12-2014
Infoserie Nr. 13,
PRO RETINA
„Jetzt erst recht!
Leben mit der chronischen AMD“
Infoserie Nr. 18
• 60 Seiten, DIN A4, Stand April 2013
• eine Einführung in die feuchte AMD, Ursachen,
Vorbeugung, Diagnose, Therapie und Kontaktadressen
mit Porträts und Berichten von Patienten
Jetzt erst recht!
Leben mit der chronischen AMD
PRO RETINA Infoserie Nr. 18, 4/2013
„AMD und Ernährung“
ge
Altersabhängi ation
ner
Makula-Dege
nährung
AMD undg Er
g
der Ernährun
Bedeutun
g
und Behandlun
für Vorsorge
Infoserie Nr. 17
• 14 Seiten, DIN lang, Stand Oktober 2014
• Die wichtigste Vorbeugung gegen die AMD ist eine
vitaminreiche Ernährung und evtl. Nahrungsergänzung.
Über diese Studien und die nötigen Nahrungsbausteine
informiert diese Broschüre.
10-2014
Infoserie Nr. 17,
PRO RETINA
„Sozial-Broschüre“
Infoserie Nr. 2
• 62 Seiten, DIN A4, Stand Dezember 2012
• Einführung in alle rechtlichen und finanziellen Fragen
rund um die Sehbehinderung – ein unverzichtbarer
Ratgeber
Sozial- Broschüre
Le i tfade n
z u den so zi alen H i lfen
erat i onen
f ü r Menschen mit Net z hautdegen
PRO RETINA Infoserie Nr. 2, 12/2012
59
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• Fo
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e
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heit
ben
e
l
• Krank
t
m
m
besti
• selbst
„Wir wollen
allen Menschen,
die von einer
Sehverschlechterung oder
Erblindung
aufgrund einer
Netzhautschädigung
bedroht sind,
Mut machen,
durch Prävention,
Therapie und
gemeinsames Bewältigen
ein selbstbestimmtes Leben
zu führen.“

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