karl loser parkett

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karl loser parkett
Neue Z}rcer Zeitung
LITERATUR UND KUNST
Samstag, 27.09.1997 Nr.224
68
Moralisten, Phantasten und Altlasten
Polnische Prosa des 20. Jahrhunderts
Von Ulrich M. Schmid
Im Rahmen des Darmstädter Projekts «Panorama der polnischen Literatur» liegt
nach einem Doppelband zur polnischen Poesie (vgl. NZZ vom 20./21. 7. 96) nun ein
weiterer Doppelband vor, der die polnische Prosa des 20. Jahrhunderts in Auswahltexten dokumentieren will. Der Herausgeber Karl Dedecius vermittelt in diesem Projekt
die Selbstpräsentation einer Nation, die über eine unverkennbare eigene Identität verfügt und dieser auch ihren gültigen literarischen Ausdruck verliehen hat.
Auf dem ohnehin nicht effektarmen Parkett der
Weltliteratur sind die Polen auffällige Tänzer:
Ihre Aufmachung, ihr Reigen, ihre Figuren – alles
dreht sich um einen übermächtigen Götzen: die
polnische Befindlichkeit. Den zahllosen Huldigungen an das Idol stehen nicht weniger Sturzversuche gegenüber. Eines ist aber allen Annäherungen gemeinsam: Kein Autor kann sich der irisierenden Wirkung des nationalen Phantasmas entziehen, das über Polen schwebt und in seiner
obsessiven Präsenz wohl nur dem Schweizer
Geist der Freiheit vergleichbar ist, der im Ratssaal
des Bundeshauses das Rütli umwölkt. Bereits ein
flüchtiger Blick auf die polnische Literaturgeschichte zeigt, dass so manches Hauptwerk als
symbolischer Bericht zur seelischen Lage der
Nation gelten darf. Die Ohnmacht des romantischen Helden vor dem Tyrannenmord (Slowacki:
«Kordian»), der kollektive Realitätsverlust einer
Hochzeitsgesellschaft (Wyspianski: «Die Hochzeit»), die apokalyptische Vision einer selbstgerechten Aristokratie (Tuwim: «Der Opernball»), die Selbstinfantilisierung des Intellektuellen (Gombrowicz: «Ferdydurke»), der absurde
Wartezustand einer ganzen Nation (Konwicki:
«Der polnische Komplex») – alle diese Leitmotive stellen letztlich Varianten der conditio polonica dar, die von jeder Schriftstellergeneration
aufs neue erforscht und literarisch umgesetzt
wird. – Ein eindrückliches Zeugnis von den Gestaltungen des polnischen Mythos bieten zwei
umfangreiche Sammelbände, die im Rahmen des
breit angelegten Projekts «Panorama der polnischen Literatur» des Darmstädter Polen-Instituts
erschienen sind. Der Herausgeber Karl Dedecius
legt darin hundert Texte vor, die verschiedene
Facetten der polnischen Prosa im 20. Jahrhundert
aufzeigen. Über die Auswahl der Texte mag man
im Einzelfall streiten, übers Ganze gesehen gewinnt der Leser dieser Anthologie aber einen
repräsentativen Einblick in die Vielfalt einer Literatur, die nicht selbstverständlich im kulturellen
Bewusstsein Westeuropas präsent ist. Dabei sind
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es oft gerade die «kleineren» Literaturen, die
Roland Barthes' plaisir du texte unbekümmert ins
Werk setzen, während die Schriftstellersöhne der
grossen Nationen sich erst an den übermächtigen
Vätern – an Goethe, an Shakespeare, an Proust –
abarbeiten müssen. Das frische Fabulieren, das
muntere, ja bisweilen alberne Phantasieren stellt
jedoch nur eine Seite der polnischen Literaturproduktion im 20. Jahrhundert dar. Zu katastrophal
ist die historische Erfahrung erst der braunen,
dann der roten Diktatur, als dass man einfach zur
Tagesordnung hätte übergehen können. Für die
polnischen Autoren stellt sich das Problem der
moralischen Verpflichtung von Literatur mit besonderer Dringlichkeit. «Die veränderte Stimme
Settembrinis» – so die Titelmetapher eines einflussreichen Essays von Stanislaw Baranczak aus
dem Jahr 1974 – gehört im Nachkriegspolen
einem Humanisten, der um die Erfahrung des
Totalitarismus reicher und um manche Illusion
ärmer geworden ist.
VERSCHIEDENE MORALSYSTEME
In Polen wird nicht das Problem der Moral an
sich literarisch produktiv – die von Nietzsche beeinflusste Prosa Stanislaw Przybyszewskis (1868
bis 1927) bildet eine Ausnahme –, sondern das
Aufeinanderprallen
verschiedener
Moralsysteme.
Exemplarisch lässt sich diese Thematik an Stefan
Zeromskis (1864–1925) Erzählung «Waldecho»
beobachten: Ein in russischen Diensten stehender
polnischer General muss seinen eigenen Neffen,
der am Aufstand des Jahres 1863 teilnimmt, zum
Tode verurteilen. Bevor der Rebellenführer stirbt,
nimmt er dem Onkel das Versprechen ab, seinen
Sohn als Polen zu erziehen. Wie auch immer der
General handelt – er wird unweigerlich zum Verräter: Wenn er sein Versprechen hält, verletzt er
den bereits geleisteten Fahneneid; wenn er Russland treu bleibt, missachtet er den letzten Willen
seines Neffen.
Das unauflösbare sittliche Paradoxon, das sich
bei Zeromski noch auf einen klassischen Loyali-
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tätskonflikt zurückführen lässt, wird später – etwa
bei Jaroslaw Iwaszkiewicz (1894–1980) – zum
ästhetischen Zustand, in dem das bilderproduzierende Bewusstsein immer nur auf sein eigenes
Suchen stösst. Das träumerische, reflektierende
Subjekt kann sich zwar der Faszination des freien
Tatentschlusses nicht entziehen, verharrt aber selber in Lethargie. Wiederum anders fasst Leszek
Kolakowski (geb. 1927) dieselbe Problematik. In
einer philosophischen Parabel, die um den von
Herodes angeordneten Kindermord kreist, weist
er auf die Unabsehbarkeit der moralischen Folgen
jeder Tat hin.
Eine Besonderheit der polnischen Literatur
liegt darin, dass sie über eine starke Neigung zur
Science-fiction verfügt, die ihrerseits nur den prominentesten Zweig einer ausgeprägten Lust am
Phantastischen
darstellt.
Berühmtheit
erlangt
haben vor allem jene philosophisch anspruchsvollen Texte, die dem imposant ausladenden Hinterkopf von Stanislaw Lem (geb. 1921) entsprungen
sind. Lem, der nach dem Erfolg von «Solaris»
(1961) den Status des meistübersetzten polnischen Autors einnimmt, steht allerdings nicht als
erratischer Block in der polnischen Literaturlandschaft da. Bereits um die Jahrhundertwende experimentiert Jerzy Zulawski (1874–1915) mit der
Extrapolation
des
wissenschaftlichen
Kenntnis
und erwirbt sich mit seinem Raumfahrtsroman
«Der silberne Globus» den Titel eines «polnischen Wells». In Zulawskis Schilderung einer
Mondexpedition verbindet sich die phantastische
Szenerie mit einer psychologisch scharf beobachteten Figurenkonstellation. Später wird Stefan
Grabinski (1887–1936) dieses Konstruktionsprinzip aufgreifen und weiterentwickeln: Auch seine
Erzählungen
decken
grundlegende
Wahrheiten
gerade im Unwahrscheinlichen auf. Das Böse, das
in jeder menschlichen Seele lauert, offenbart sich
bei Grabinski als inkarnierter Doppelgänger, der
das gespaltene Ich verfolgt und schliesslich in sich
aufsaugt. Die phantastische, an Edgar Allan Poe
geschulte Darstellung vergegenwärtigt auf symbolische Weise ein psychisches Doppelleben, das
von der Wirklichkeit in die Zelle des Individuums
gesperrt wird und erst durch die literarische Imagination befreit werden kann.
WENDUNG NACH INNEN
Den entscheidenden Schritt zur literarischen
Moderne vollzieht jedoch Karol Irzykowski (1873
bis 1955), indem er die Phantastik der menschlichen Existenz nach innen wendet. In seinem
Roman «Die Vogelscheuche» beobachtet der
Autor seinen Protagonisten in der «Garderobe
der Seele», wo sich Halbbewusstes mit einem
schicklichen Gewand bekleidet. Die psychologisch komplexe Handlung des Romans kann
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jedoch das Leserinteresse nicht vollständig absorbieren. Beinahe wichtiger als der Plot sind nämlich die formalen Neuerungen, mit denen Irzykowski seinen Text ausstattet. Dazu gehört als
auffälligstes Element ein dem eigentlichen Romantext nachgeschalteter Kommentar, in dem der
Autor fünf verschiedene Ebenen des Romans
unterscheidet: «1. die Fakten; 2. die Meinungen,
Theorien, welche die handelnden Personen über
diese Fakten haben; 3. die Dialektik der Fakten
selber; 4. was ich als Autor über alle diese drei
vorausgegangenen Punkte denke; 5. der Hintergrund meiner philosophischen und ästhetischen
Ansichten.» Irzykowski gilt deshalb nicht nur als
Begründer einer tiefenpsychologischen Prosa in
Polen, sondern auch als Initiator einer neuen Poetik, in der sich Erzählung und Metaerzählung auf
vielfache Weise durchdringen. Gerade der potenzierte Bruch mit der Literaturgeschichte ist aber
dafür verantwortlich zu machen, dass sich eine
angemessene
Rezeption
der
«Vogelscheuche»
lange Zeit auf den engen Kreis von Spezialisten
beschränkt hat.
Eine weniger schleppende Anerkennung ist
Stanislaw Witkiewicz (1885–1939) zuteil geworden,
einem
Revolutionär
der
künstlerischen
Form, der ironischerweise heute selber als Klassiker der Moderne gelten darf. Sein Lebenswerk
kann man kaum anders als mit der Vokabel multimedial charakterisieren: Witkiewicz ist als Maler,
Kunsttheoretiker, Dramatiker und Erzähler hervorgetreten und hat in allen Bereichen Hochkarätiges geschaffen. Die Spannbreite seiner Interessen spiegelt sich zusätzlich in ausgedehnten Experimenten zur Bewusstseinserweiterung, die auch
Drogen als Hilfsmittel nicht verschmähen. Welch
beklemmende Aktualität dieser sonderbaren, ja
teilweise
spinnerhaften
Vorstellungswelt
später
zugekommen ist, lässt sich an der Tatsache ermessen, dass der Nobelpreisträger Czeslaw Milosz
(geb. 1911) in seinem ideologiekritischen Buch
«Verführtes Denken» (1953) das Verhältnis der
Intellektuellen zur totalitären Macht unter Rückgriff auf Witkiewiczs Konzepte charakterisiert.
Während der Zwischenkriegszeit haben sich
neben Witkiewicz zwei weitere Exzentriker dauerhaft ins kollektive polnische Bewusstsein eingeschrieben: Bruno Schulz (1892–1942) und Witold
Gombrowicz (1904–1969). Beide Autoren protestieren je auf ihre Weise im Namen des Chaos
gegen eine Ästhetik des Harmonischen – Schulz
schafft einen Mythos des wuchernden Sinns, der
jeden Gedanken sogleich in phantastische Realität umsetzt; Gombrowicz hingegen zertrümmert
den Mythos einer Kunst, die sich als klassisch
ausgibt, und stellt ihr seinen eigenen Entwurf als
bewusste Provokation gegenüber. Gombrowiczs
«pubertäres» Aufbegehren gegen etablierte For-
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men hat in der polnischen Prosa Schule gemacht:
Stanislaw Dygat (1914–1978) handelt in seinem
unorthodoxen
Lagerroman
«Der
Bodensee»
(1946) die Kriegsthematik in einem ironischen
und leichten Parlando ab und zieht deshalb den
Ärger des polnischen Establishments auf sich;
Slawomir Mrozek seinerseits (geb. 1930) gelingt
in «Moniza Clavier» (1967) eine analytische Parodie auf den übersteigertem polnischen Geltungsdrang.
ZWEIERLEI ABNEIGUNG
Es hätte nicht des Zweiten Weltkriegs und seiner Folgen bedurft, um das Verhältnis Polens zu
seinen westlichen und östlichen Nachbarn nachhaltig zu stören. Seit der dritten Teilung 1794, die
den polnischen Staat für mehr als hundert Jahre
von der politischen Landkarte Europas getilgt
hat, trauen die Polen den Deutschen und Russen
nicht mehr. Die Abneigung beruht indessen auf
Gegenseitigkeit: Jene zwei «Polen aus der Polakkei» mit den nicht eben appetitlichen Namen
Krapülinski und Waschlapski, die in Heinrich
Heines «Romanzero» (1851) auftreten, entsprechen einem weitverbreiteten deutschen Stereotyp;
in Russland gehört die berühmteste diffamierende
Stimme Dostojewski – die Polen gelten ihm
durchwegs als geldgierige Lackaffen. Unter diesen
denkbar
ungünstigen
Voraussetzungen
entfaltet
die kumulierte Erfahrung des deutschen Einmarschs, der Errichtung der Vernichtungslager
auf polnischem Boden, des sowjetischen Massakers von Katyn, des Verlusts alter polnischer Gebiete und schliesslich der Trennung Europas
durch den Eisernen Vorhang eine geradezu verheerende Wirkung auf das polnische Bewusstsein.
Berühmt geworden als moralisch engagierter
Autor, der ein eindringliches Bild des Kriegsgeschehens zeichnet, ist Jerzy Andrzejewski (1909
bis 1983). Den Grundstein zu seiner Karriere legt
der Roman «Asche und Diamant» (1948), dessen
Kultstatus durch Andrzej Wajdas erfolgreiche
Verfilmung aus dem Jahr 1958 eine zusätzliche
Bestätigung findet. Andrzejewski zeichnet hier
das psychologisch komplexe Bild eines Kämpfers
der bürgerlichen Heimatarmee (AK), der in fatalem Gehorsam einen hohen kommunistischen
Funktionär erschiesst und kurz darauf einen sinnlosen Tod stirbt, in dem sich sein eigener Zu-
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kunftsverlust spiegelt. Andrzejewskis künstlerisches Interesse verschiebt sich in seinem weiteren
Schaffen indessen entscheidend: In den späten
fünfziger Jahren profiliert sich Andrzejewski als
einer der wichtigsten Exponenten der gesellschaftskritischen Abrechnung mit dem Stalinismus, und bereits in den sechziger Jahren tritt er
als
Experimentator
mit
neuen
Darstellungsformen auf – eine Entwicklung, die ihren Höhepunkt in Andrzejewskis letztem Roman, «Brei»
(1979), findet.
Während sich Andrzejewski allmählich von der
traumatischen
Kriegserfahrung
löst,
verbleibt
Tadeusz Borowski (1921–1951) im Bannkreis des
Bösen. Die Häftlingserfahrungen aus Auschwitz
und Dachau verfolgen Borowski nach dem Krieg
weiter und bestimmen seine literarische Produktion bis zu seinem Selbstmord. Ähnlich wie in
Tadeusz Rózewiczs Gedichten setzt sich bei
Borowski die Sprache selbst dem Verdacht der
Kollaboration aus. Eben jene Sprache, mit deren
Verben und Substantiven gemordet wurde, kann
nicht mehr zum Instrument einer Kritik des Geschehenen werden. Deshalb präsentieren sich
Borowskis Lagererzählungen in einer stilistischen
Nüchternheit, die nicht analysiert oder verurteilt,
sondern nur Zeugnis ablegt. Dieselbe Entheroisierung des Kriegs prägt auch Miron Bialoszewskis (1922–1983) «Tagebuch vom Warschauer
Aufstand». Das Aufsehen, das Bialoszewskis unprätentiöse Chronik noch bei ihrem Erscheinen
im Jahr 1970 erregt – also fast dreissig Jahre post
factum –, ist symptomatisch für die ungebrochene
Wirkungskraft des alten polnischen Traumas –
des ohnmächtigen Aufbegehrens gegen die tyrannische Besatzung. Das Phänomen Bialoszewski
zeigt deutlich, dass die Polen ihre tragische Geschichte stets aufs neue erzählt bekommen wollen. Es besteht also weiterhin Schreibbedarf – und
dass das Geschriebene die Lektüre lohnt, gilt
nicht nur in Polen, sondern auch in Westeuropa.
Panorama
der
polnischen
Literatur
des
20. Jahrhunderts.
Herausgegeben
von
Karl
Dedecius.
Deutsches
Polen-Institut
Darmstadt. 5 Abteilungen in 7 Bänden. 2. Abteilung: Prosa.
2 Bände im Schuber. Ammann-Verlag, Zürich 1997. Zusammen
1728 S., Subskriptionspreis bei Abnahme des Gesamtwerks Fr.
148.–,
Subskriptionspreis
bei
Einzelabnahme
Fr.
168.–,
nach
Ablauf der Subskriptionsfrist Fr. 198.–.
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