Rechtsdienst - Bundesvereinigung Lebenshilfe

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Rechtsdienst - Bundesvereinigung Lebenshilfe
Rechtsdienst
der Lebenshilfe
Praxis gestalten – Innovation wagen
Nr. 4/04, Dezember 2004
ISSN 0944–5579
Postvertriebsstück: D 13263 F
Durchbruch für die Verbandsklage in zweiter Instanz!
Aus dem Inhalt:
Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (VGH) München hat
eine richtungsweisende Entscheidung zugunsten der Verbandsklage nach § 63 SGB IX getroffen (Beschluss vom 17.11.2004,
12 CE 04.1580). Es ging um die Frage, ob der Landesverband
der Lebenshilfe Bayern im Wege der Verbandsklage die Rechte eines behinderten Menschen vertreten kann, der die Aufnahme in eine Werkstatt der Lebenshilfe begehrt. Die Vorinstanz VG Augsburg wies die Klage als unzulässig ab (RdLh
03/2004, S. 115 ff.).
 Die Sozialhilfe im Veränderungsprozess
 Was bleibt Werkstattbeschäftigten vom
Einkommen nach Inkrafttreten des SGB XII?
 Zur Kürzung von vereinbarten Entgelten
durch den Sozialhilfeträger
 Kein Anspruch gegen die Schulverwaltung
Der VGH folgte der Argumentation des Landesverbandes Bayern und stellt darauf ab, dass es bei der Frage, ob eine Interessenkollision vorliegt nur darauf ankommen kann, ob der klagende Verband und der behinderte Mensch voneinander
abweichende Prozessziele verfolgen und die Interessen deshalb
kollidieren. Nur in diesen Fällen komme den klagenden Verbänden eine Doppelrolle zu, die der Gesetzgeber verhindern
wolle. Andere Auslegungen würden der Zielsetzung des
Verbandsklagerechts gem. § 63 SGB IX zuwiderlaufen: dieses
solle die gerichtliche Geltendmachung von Rechten behinderter Menschen erleichtern. Der Lebenshilfe Landesverband Bayern habe keine wirtschaftlichen Vorteile aus einer Aufnahme
des Beigeladenen in die rechtlich und tatsächlich unabhängige
Lebenshilfe-Werkstatt. In der Sache selbst wurde der Antragsgegner zur vorläufigen Bewilligung der Aufnahme in die WfbM
verpflichtet. Der Antragsgegner hatte die Aufnahme abgelehnt,
weil der Beigeladene eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit
bezieht.
auf Stellung eines Integrationshelfers
 Grundsatzurteil des BSG zur Leistungspflicht
privater Pflegekassen für Kinder
 Zum Zwischenbericht der Enquetekommission
zur Patientenverfügung
Dies bedeutet eine den Absichten des Gesetzgebers entsprechende und behinderte Menschen stärkende Auslegung des
Verbandsklagerechts, die dieses Instrument erst praktikabel
macht.
Herausgegeben
von der
Bundesvereinigung Lebenshilfe
für Menschen mit
Rechtsdienst der Lebenshilfe 4/04
geistiger Behinderung e. V.
Unter Beteiligung von:
Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie e. V.
(CBP)
Bundesverband Evangelische
Behindertenhilfe e. V. (BEB)
Verband für Anthroposophische Heilpädagogik
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Sozialtherapie und Soziale Arbeit e. V.
INHALT
Sozialpolitik
Die Sozialhilfe im Veränderungsprozess
von Klaus Lachwitz ...................................................................... 147
Diskussionsentwurf eines Gesetzes zur Neuregelung
der Rechtsberatung ..................................................... 151
Beitragszuschlag zur Pflegeversicherung für kinderlose Werkstattbeschäftigte ......................................... 152
Sozialhilfe
Was bleibt Werkstattbeschäftigten vom Einkommen
nach Inkrafttreten des SGB XII?
von Dr. Sabine Wendt ................................................................. 152
Zur Kürzung von vereinbarten Entgelten durch
den Sozialhilfeträger ................................................... 157
Stellung eines Integrationshelfers ist Schulsache
von Norbert Schumacher ........................................................... 159
Kein Anspruch gegen die Schulverwaltung auf
Bereitstellung eines Integrationshelfers .................. 163
Autismustherapie als Hilfe zu einer
angemessenen Schulbildung ..................................... 163
Zur Leistungspflicht der Sozialhilfe für Brillengläser .............................................................................. 164
Grundsicherung
Keine Anrechnung des Kindergeldes auf
Leistungen der Grundsicherung ............................... 166
Grundsicherungsanspruch für Schüler ................... 167
Gesetzliche Krankenversicherung
Zur häuslichen Krankenpflege in Wohngemeinschaften ......................................................................... 168
Zahlungsanspruch für Leistungen nach Auslaufen
der Vergütungsvereinbarung ..................................... 169
Wahlrecht der Versicherten unter verschiedenen
Hilfsmitteln ................................................................... 170
Anspruch auf Bewegungsfreiheit durch tragbares
Sauerstoffsystem ........................................................... 171
Lagerungsrollstuhl kein Hilfsmittel der Krankenversicherung? ................................................................ 171
Schwenkbarer Autositz als Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung ...................................... 172
Heimrecht
Kein Anspruch auf Abschluss eines Heimversorgungsvertrages ......................................................... 176
Zivildienst
Eigenhaftung eines Zivildienstleistenden ................ 178
Strafrecht
Bestellung eines Pflichtverteidigers für einen
Beschuldigten mit geistiger Behinderung im
Ermittlungsverfahren ................................................... 178
Recht und Ethik
Übersicht: Zum Arbeitsprogramm der Enquetekommission „Ethik und Recht der modernen
Medizin“ ........................................................................ 179
Zwischenbericht der Enquetekommission zur
Patientenverfügung ..................................................... 180
Ethikrat empfiehlt (fortgesetztes) Verbot des
therapeutischen Klonens ........................................... 182
Präimplantationsdiagnostik (PID) - Eindrücke
angesichts der Diskussion in Österrreich ............... 183
Bücherschau .............................................................. 185
Impressum .................................................................. 191
Dieser Ausgabe liegt eine Beilage für
Abonnementwerbung für die Zeitschrift
„Neues Arbeitsrecht für Vorgesetzte“, Bonn,
(Postvertriebskennzeichen: G 13439) bei.
Pflegeversicherung
Grundsatzurteil zur Leistungspflicht privater
Pflegekassen für Kinder (Pflegestufe III) ................ 173
Verhinderung übermäßiger Nahrungsaufnahme
als Pflegebedarf ............................................................. 175
Keine Bindung der Pflegekasse an die Feststellungen einer privaten Pflegeversicherung ......... 176
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Rechtsdienst der Lebenshilfe 4/04
SOZIALPOLITIK
Die Sozialhilfe im Veränderungsprozess
Das SGB XII: Noch nicht in Kraft und schon verändert!
von Klaus Lachwitz
Das Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) das ab
01. Januar 2005 an die Stelle des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) treten wird, unterliegt bereits vor seinem Inkrafttreten einem Reformprozess.
Der Deutsche Bundestag hat am 22.10.2004 einige
Änderungen des ab 01.01.2005 geltenden SGB XII beschlossen (Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch
(BT-Drs. 15/3673; 15/3977 und BR-Drs. 811/04)). Der
Bundesrat hat dieser Gesetzesnovelle am 05.11.2004
zugestimmt. Die Änderungen können damit noch
pünktlich zum 01.01.2005 wirksam werden.
Notwendiger Lebensunterhalt in Einrichtungen
Ein zentraler Punkt des Änderungsgesetzes ist die Neuregelung des § 35 SGB XII.
§ 35 Abs. 1 hatte zunächst folgenden Wortlaut: „Der
notwendige Lebensunterhalt in Einrichtungen umfasst
den darin erbrachten sowie in stationären Einrichtungen zusätzlich den weiteren notwendigen Lebensunterhalt.“
§ 35 Abs. 1 wird aufgrund der vom Deutschen Bundestag am 22.10.2004 beschlossenen Änderungen um folgenden Satz 2 ergänzt: „Der notwendige Lebensunterhalt in Einrichtungen entspricht dem Umfang der
Leistungen der Grundsicherung nach § 42 Satz 1 Nr.
1-3 SGB XII.“
Nach dem bisher geltenden – zum 31.12.2004 außer
Kraft tretenden – § 27 Abs. 3 BSHG umfasste die Hilfe
in besonderen Lebenslagen, zu der gem. § 27 Abs. 1 Nr.
3 BSHG die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen und gem. § 27 Abs. 1 Nr. 5 BSHG die Hilfe zur
Pflege gehören, auch den in Einrichtungen gewährten
Lebensunterhalt, d. h. insbesondere die Kosten der
Unterkunft und Verpflegung. Damit galt hinsichtlich des
Einsatzes von Einkommen die besondere Einkommensgrenze des § 81 Abs. 1 BSHG, wonach dem Hilfesuchenden die Aufbringung der Mittel nicht zuzumuten
ist, wenn das monatliche Einkommen eine Einkommensgrenze nicht übersteigt, die sich aus einem Grundbetrag in Höhe von 809,63 EURO pro Monat zuzüglich der Kosten der Unterkunft und einem
Familienzuschlag ergibt. Dennoch mussten sich viele
vollstationär betreute behinderte Menschen an den
Rechtsdienst der Lebenshilfe 4/04
Kosten der stationären Eingliederungshilfe einschließlich Lebensunterhalt beteiligen, weil gem. § 85 Abs. 1
Nr. 3 BSHG der Einsatz des Einkommens auch unter
der Einkommensgrenze verlangt werden kann, soweit
aufgrund der vollstationären Unterbringung Aufwendungen für den häuslichen Lebensunterhalt erspart
werden (§ 85 Abs. 1 Nr. 3 Satz 1 BSHG) bzw. eine
Kostenbeteiligung in angemessenem Umfang verlangt
werden kann, soweit die/der Hilfebedürftige einen anderen nicht überwiegend unterhält (§ 85 Abs. 1 Nr. 3
Satz 2 BSHG).
Für die Eltern eines vollstationär betreuten Menschen
hatte die Vorschrift des § 27 Abs. 3 BSHG zur Folge,
dass sie gem. § 91 Abs. 2 BSHG für die Kosten der
vollstationären Eingliederungshilfe (einschließlich Lebensunterhalt - § 27 Abs. 3 BSHG) nur zu einem Unterhaltsbeitrag in Höhe von monatlich 26 EURO herangezogen werden konnten.
Aufgrund der Streichung des § 27 Abs. 3 BSHG kommt
ab 01.01.2005 der durch BT-Beschluss vom 22.10.2004
neu gefasste § 35 SGB XII zur Anwendung.
Danach legt der Gesetzgeber fest, dass der Anteil des
notwendigen Lebensunterhalts, der in einer stationären Einrichtung gewährt wird, dem Umfang der Leistungen der Grundsicherung nach § 42 Abs. 1 Nr. 1-3
SGB XII entspricht, d. h. sich rechnerisch aus dem für
den Leistungsberechtigten maßgebenden Regelsatz nach
§ 28 SGB XII, den angemessenen tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung in Höhe der
durchschnittlichen angemessenen tatsächlichen Aufwendungen für die Warmmiete eines Ein-PersonenHaushaltes und aus Mehrbedarfen entsprechend § 30
SGB XII sowie einmaligen Bedarfen entsprechend §
31 SGB XII zusammensetzt.
Der Verweis in § 35 Abs. 1 Satz 2 SGB XII auf die
Grundsicherung verwundert auf den ersten Blick, weil
der Träger einer vollstationären Einrichtung, in der behinderten Menschen Eingliederungshilfe oder Hilfe zur
Pflege gewährt wird, vom Träger der Sozialhilfe eine
Vergütung erhält, die sich aus einer Grundpauschale
für Unterkunft und Verpflegung, einer Maßnahmepauschale und aus einem Betrag für betriebsnotwendige
Anlagen einschließlich ihrer Ausstattung (Investitionsbetrag) errechnet.
Die Grundpauschale orientiert sich der Höhe nach nicht
am Grundsicherungsanspruch des vollstationär betreuten Leistungsberechtigten, sondern an dem zwischen
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SOZIALPOLITIK
dem Träger der Einrichtung und dem Sozialhilfeträger
verhandelten und vereinbarten Vergütungsanteil für
Unterkunft und Verpflegung. Das Gleiche gilt für den
Investitionsbetrag, der sich auch auf die betriebsnotwendigen Anlagen erstreckt, die der Sicherung des
Lebensunterhalts dienen (Beispiel: Küche).
Der neu eingeführte § 35 Abs. 1 Satz 2 SGB XII ändert
nichts daran, dass die tatsächlich in einer Einrichtung
anfallenden Kosten für den Lebensunterhalt nach Maßgabe des § 76 Abs. 2 SGB XII (bisher § 93 Abs. 2 SGB
XII) vergütet werden. Da es jedoch sehr aufwändig wäre,
für jeden in einer Einrichtung untergebrachten behinderten Menschen zu ermitteln, welcher Anteil aus der
Grundpauschale und dem Investitionsbetrag hinsichtlich des in der Einrichtung gewährten Lebensunterhalts
auf ihn entfällt, hat sich der Gesetzgeber entschlossen,
bei der Berechnung des Kostenanteils für den notwendigen Lebensunterhalt in der Einrichtung nicht auf die
Vergütung gem. § 76 Abs. 2 SGB XII, sondern auf die
Leistungen der Grundsicherung bei Erwerbsminderung
gem. § 42 Satz 1 Nr. 1-3 SGB XII abzustellen.
Die Leistungen der Grundsicherung sind also nur eine
Rechengröße, die dazu dient, die Höhe des notwendigen Lebensunterhalts zu bestimmen, für den der
leistungsberechtigte behinderte Mensch einen Kostenbeitrag aus Einkommen und Vermögen an den Träger
der Sozialhilfe entrichten muss.
Ob das Verfahren zur Berechnung der Kostenbeteiligung für den notwendigen Lebensunterhalt durch die
Einfügung des § 35 Abs. 1 Satz 2 SGB XII tatsächlich
wesentlich erleichtert wird, ist zweifelhaft. Zum einen
verweist der Gesetzgeber in § 35 Abs. 1 Satz 2 auch auf
§ 42 Nr. 3 SGB XII, d. h. auf die „Mehrbedarfe entsprechend § 30 SGB XII“. Diese Mehrbedarfe knüpfen
jedoch gem. § 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII bei voll erwerbsgeminderten Personen unter 65 Jahren an den
Nachweis an, dass ein Schwerbehindertenausweis mit
dem Merkzeichen „G“ vorliegt. Dies wird die Frage
aufwerfen, ob bei der Bestimmung der „Rechengröße“
Grundsicherung der Mehrbedarf gem. § 30 Abs. 1 Nr. 2
SGB XII (nur) bei den in einer Einrichtung betreuten
behinderten Menschen zu berücksichtigen ist, die über
das Merkzeichen „G“ verfügen. Plausibel wäre dies
nicht, denn höhere Mehrbedarfe führen durch den Verweis in § 35 Abs. 1 Satz 2 SGB XII n. F. auf § 42 Satz 1
Nr. 3 i. V. m. § 30 SGB XII zu einem höheren Kostenanteil für den notwendigen Lebensunterhalt, obwohl
in der Praxis der durch das Merkzeichen „G“ nachgewiesene Mehrbedarf nicht den Lebensunterhalt, sondern den Bedarf an Betreuung und Unterstützung bei
der Fortbewegung betrifft.
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Zum anderen verweist § 35 Abs. 1 Satz 2 auch auf § 42
Nr. 1 SGB XII und damit auf den für den Grundsicherungsberechtigten maßgebenden Regelsatz nach
§ 28 SGB XII. Dieser umfasst gem. § 28 Abs. 3 i. V. m.
§ 2 Abs. 2 Nr. 2 der Regelsatzverordnung vom
03.06.2004 auch die Bekleidung. Diese zählt jedoch
gem. § 35 Abs. 2 Satz 1 erster Halbsatz SGB XII zum
„weiteren notwendigen Lebensunterhalt“, zu dessen
Kosten der vollstationär betreute Leistungsberechtigte
ebenfalls aus eigenem Einkommen und Vermögen beitragen muss.
Recht schwierige Detailfragen stellen sich nicht nur bei
der Bestimmung der „Rechengröße“ Grundsicherung
i. S. d. § 35 Abs. 1 Satz 2 SGB XII, sondern auch bei
der Heranziehung Unterhaltspflichtiger zu Kostenbeiträgen für die behinderten Menschen, die die Kosten des notwendigen Lebensunterhalts in Einrichtungen nicht aus eigenen Mitteln finanzieren können.
Auch hier schwebt dem Gesetzgeber eigentlich eine
„einfache“ Lösung vor: Ab 01.01.2005 sollen die Eltern volljähriger unterhaltsberechtigter Personen, die
behindert i. S. v. § 53 SGB XII (Eingliederungshilfe)
oder pflegebedürftig i. S. v. § 61 SGB XII (Hilfe zur
Pflege) sind, einen Unterhaltsbeitrag für die Kosten der
Eingliederungshilfe/Hilfe zur Pflege von bis zu 26
EURO pro Monat zahlen und zusätzlich einen Betrag
von 20 EURO pro Monat für die Kosten des Lebensunterhalts aufbringen (vgl. § 94 Abs. 2 Satz 1 SGB XII).
Dies setzt allerdings voraus, dass ein Unterhaltsanspruch
des leistungsberechtigten behinderten Menschen gegenüber seinen Eltern besteht. Ein derartiger Anspruch
entfällt, wenn der behinderte Mensch bereits aus eigenem Einkommen und Vermögen für die Kosten des
notwendigen Lebensunterhalts i. S. d. § 35 SGB XII
aufkommen kann.
Diese Fallkonstellation kann z. B. auftreten, wenn ein
behinderter Mensch nach 20-jähriger Tätigkeit in einer
Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) über eine
Erwerbsunfähigkeitsrente verfügt, die höher ist als der
Gesamtbetrag, der sich aus der Berechnung des notwendigen Lebensunterhalts i. S. d. § 35 SGB XII nach
folgendem Schema ergibt:
Grundsicherungsleistungen i. S. d. § 35 Abs. 1 Satz 2
SGB XII zuzüglich der Kosten des weiteren notwendigen Lebensunterhalts i. S. d. § 35 Abs. 2 SGB XII, d. h.
insbesondere zuzüglich der Kosten für Bekleidung und
angemessenem Barbetrag (89,70 EURO pro Monat)
Ein Unterhaltsbeitrag gem. § 94 Abs. 2 SGB XII in Höhe
von 20 EURO monatlich für die Kosten des Lebensunterhalts kann von den Eltern des Leistungsberechtigten
nur verlangt werden, wenn das von diesem für den notRechtsdienst der Lebenshilfe 4/04
SOZIALPOLITIK
wendigen Lebensunterhalt einzusetzende Einkommen
und Vermögen den Gesamtbetrag aus dem notwendigem Lebensunterhalt i. S. d. § 35 Abs. 1 SGB XII und
dem weiteren notwenigen Lebensunterhalt gem. § 35
Abs. 2 SGB XII unterschreitet, d. h. eine ungedeckte
Lücke verbleibt.
Liegt der Differenzbetrag zwischen den tatsächlichen
Kosten des notwendigen Lebensunterhalts gem. § 35
Abs. 1 und Abs. 2 SGB XII und dem vom Leistungsberechtigten aus eigenem Einkommen und Vermögen
finanzierten Kostenbeitrag für den Lebensunterhalt im
Einzelfall unter 20 EURO pro Monat (Beispiel: Der
Differenzbetrag beläuft sich lediglich auf einen ungedeckten Restbetrag von 10 EURO monatlich), so kann
von den Eltern ein Unterhaltsbeitrag nur in Höhe von
10 EURO monatlich verlangt werden. Viele Eltern werden angesichts des Grenzbetrags für den Lebensunterhalt in Höhe von 20 Euro monatlich gem. § 94 Abs. 2
SGB XII auf eine „kleinliche“ Berechnung ihres Unterhaltsbeitrags verzichten; dennoch ist es angebracht,
vor dem Inkrafttreten des SGB XII auf die korrekte
Berechnungsmethode für den Unterhaltsbeitrag hinzuweisen.
Besonderheiten sind zu beachten, wenn der behinderte Mensch grundsicherungsberechtigt i. S. d. § 41 ff. SGB
XII ist.
Beispiel: Ein vollstationär untergebrachter volljähriger
behinderter Mensch erhält Eingliederungshilfe und verfügt über keinerlei Einkommen und Vermögen.
In einem solchen Fall ist zu prüfen, ob der behinderte
Mensch Grundsicherung bei Erwerbsminderung gem.
§ 42 SGB XII beanspruchen kann. Dies ergibt sich daraus, dass gem. § 19 Abs. 2 Satz 3 SGB XII die Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem 3.
Kapitel (§§ 27-40 SGB XII) vorgehen.
Besteht ein solcher Anspruch und wird die Grundsicherungsleistung gem. § 41 Abs. 1 SGB XII beantragt,
so deckt die Grundsicherung zwar den notwendigen
Lebensunterhalt in Einrichtungen gem. § 35 Abs. 1 SGB
XII, weil – wie ausgeführt – der notwendige Lebensunterhalt i. S. d. § 35 Abs. 1 SGB XII der Höhe nach dem
Umfang der Leistungen der Grundsicherung entspricht.
Sie reicht jedoch nicht aus, um den weiteren notwendigen Lebensunterhalt (insbesondere Bekleidung und
Barbetrag) i. S. d. § 35 Abs. 2 SGB XII zu finanzieren.
Insoweit wird in all den Fällen, in denen der Leistungsberechtigte (ganz oder teilweise) Grundsicherung beanspruchen kann, eine Heranziehung der Eltern zu einem Unterhaltsbeitrag in Höhe von 2 0 EURO
monatlich gem. § 94 Abs. 2 SGB XII in Betracht kommen.
Rechtsdienst der Lebenshilfe 4/04
Einen Unterhaltsbeitrag in Höhe von 20 EURO monatlich für Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt
nach dem SGB XII müssen auch diejenigen Eltern leisten, deren behinderte Tochter/behinderter Sohn keine Leistungen der Grundsicherung erhält, weil ihr jährliches Gesamteinkommen i. S. d. § 16 SGB IV einen
Betrag von 100.00 EURO übersteigt.
Die Zahl dieser Fälle dürfte allerdings gering sein, weil
gem. § 43 Abs. 2 Satz SGB XII vermutet wird, dass das
Gesamteinkommen der Eltern im Regelfall jährlich
unter 100.000 EURO liegt.
Erleichterungen der Zuzahlungspflichten
von Heimbewohnern für nicht verschreibungspflichtige Medikamente, Heil- und
Hilfsmittel u. a.
Für große Unruhe haben in den letzten Monaten Berichte gesorgt, wonach viele Bewohner von Alten- und
Behindertenheimen aus dem ihnen zur Verfügung stehenden „Barbetrag“ (Taschengeld) in Höhe von 89,70
EURO monatlich einen erheblichen Teil für Zuzahlungen an die gesetzlichen Krankenkassen aufbringen
müssen. Der Gesetzgeber hat sich deshalb entschlossen, die Träger der Sozialhilfe zu verpflichten, den Zuzahlungsbetrag als Darlehen zu gewähren.
Die entsprechenden Regelungen sind in § 35 Abs. 3-5
SGB XII n. F. enthalten. § 35 Abs. 3 n. F. sieht vor,
dass der Sozialhilfeträger für Leistungsberechtigte nach
§ 35 Abs. 2 Satz 2 SGB XII, also für Personen, die das
18. Lebensjahr vollendet haben und einen Barbetrag
(Taschengeld) in Höhe von mindestens 26 v. H. des
Eckregelsatzes erhalten, die Zuzahlungen in Form eines ergänzenden Darlehens (§ 37 SGB XII) übernimmt,
sofern der Leistungsberechtigte nicht widerspricht.
Die Zuzahlungsverpflichtung beläuft sich für in Heimen lebende barbetragsberechtigte Menschen, die an
einer schwerwiegenden chronischen Erkrankung leiden,
im Jahr 2005 auf 41,40 EURO (alte Bundesländer) bzw.
39,72 EURO (neue Bundesländer).
Für barbetragsberechtigte Heimbewohner, die nicht
wegen einer chronischen Erkrankung in Dauerbehandlung sind, aber dennoch zuzahlungspflichtige Leistungen in Anspruch nehmen, ist die jährliche Zuzahlungsgrenze doppelt so hoch: 82,8 0 E U R O (alte
Bundesländer), 78,44 EURO (neue Bundesländer).
In Höhe der von den einzelnen Heimbewohnern bis
zur Belastungsgrenze (vgl. § 62 SGB V) zu leistenden
Zuzahlungen gewährt der Sozialhilfeträger ein sogenanntes ergänzendes Darlehen i. S. d. § 37 SGB XII,
das er direkt an die zuständige Krankenkasse auszahlt,
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SOZIALPOLITIK
sofern der Leistungsberechtigte nicht widerspricht. Erfolgt kein derartiger Widerspruch und wird das Darlehen an die Krankenkasse ausgezahlt, so erfolgt die Rückzahlung in gleichen Teilbeträgen über das ganze
Kalenderjahr (§ 37 Abs. 2 SGB XII n. F.), d. h. für chronisch kranke Heimbewohner, deren Zuzahlungsgrenze
bei jährlich 41,40 EURO (West) oder 39,72 EURO (Ost)
liegt, müssen monatliche Teilbeträge von 3,45 EURO
(alte Bundesländer) bzw. 3,31 EURO (neue Bundesländer) an den Sozialhilfeträger zurückgezahlt werden.
Der Sinn des Widerspruchsrechts besteht darin, dass
einige Heimbewohner die Zuzahlung, die sie leisten
müssen, selbst leisten wollen, indem sie die erforderlichen Beträge entweder direkt aus ihrem Barbetrag aufbringen wollen oder darauf vertrauen, dass Dritte (Verwandte, Freunde u. a.) die Zuzahlung übernehmen.
Der Widerspruch setzt keine Geschäftsfähigkeit voraus,
weil es sich bei dem vom Sozialhilfeträger zu gewährenden Darlehen um einen geringfügigen Betrag i. S. d.
§ 105 a BGB handelt: Diese Vorschrift regelt, dass auch
die von einer geschäftsunfähigen Person abgegebene
Willenserklärung wirksam ist, wenn sie sich auf ein
Geschäft des täglichen Lebens von geringfügigem Wert
bezieht.
Das vom Sozialhilfeträger zur Erfüllung der Zuzahlungsverpflichtungen gewährte Darlehen schützt den
leistungsberechtigten Heimbewohner nur dann vor
weiteren Zuzahlungen über der Belastungsgrenze des
§ 62 SGB V, wenn er von seiner Krankenkasse rechtzeitig eine Bescheinigung erhält, aus der sich ergibt, dass
für den Rest des Kalenderjahres keine Zuzahlungen
mehr zu leisten sind (§ 62 Abs. 1 Satz 1 SGB V).
§ 35 Abs. 4 SGB XII n. F. sieht deshalb vor, dass die
Krankenkassen den Trägern der Sozialhilfe für die Personen, die sich spätestens bis zum 01.11. des Vorjahres
als leistungsberechtigt gemeldet haben, die Befreiungsbescheinigung zur Weitergabe an den Leistungsberechtigten zuleiten. Da sich dieses Verfahren für das
Jahr 2005 nicht mehr umsetzen lässt, gilt gem. § 35 Abs.
5 SGB XII n. F. die Sonderregelung, dass die Befreiungsbescheinigung von der Krankenkasse direkt an die
barbetragsberechtigten Heimbewohner erteilt wird, die
der Träger der Sozialhilfe der zuständigen Krankenkasse
spätestens bis zum 01.01.2005 mitteilt.
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Dies wird die Frage aufwerfen, wie es den Sozialhilfeträgern gelingen kann, die für die Leistungsberechtigten
zuständigen Krankenkassen rechtzeitig zu ermitteln,
denn die Heimbewohner in den einzelnen Einrichtungen gehören häufig ganz unterschiedlichen Krankenkassen an. Es wäre deshalb sehr hilfreich, wenn die
Träger der Einrichtungen, denen die Krankenkassenmitgliedschaft ihrer Bewohner in der Regel bekannt
ist, die entsprechenden Informationen sammeln und
noch im Dezember 2004 an die zuständigen Sozialhilfeträger weiterleiten.
Bestandsschutz für den Zusatzbarbetrag
Der Anspruch auf einen zusätzlichen Barbetrag nach
§ 21 Abs. 3 Satz 4 BSHG ist nicht in das SGB XII
übernommen worden. Auch diese Leistungsstreichung
hat zu Protesten geführt. Der Gesetzgeber hat darauf
reagiert und durch Einfügung eines § 133 a SGB XII n.
F. geregelt, dass „für Personen, die am 31.12.2004 einen Anspruch auf einen zusätzlichen Barbetrag nach
§ 21 Abs. 3 Satz 4 des Bundessozialhilfegesetzes haben, diese Leistung in der für den vollen Kalendermonat Dezember 2004 festgestellten Höhe weiter erbracht
wird.“
Die Folge dieser Regelung ist eine „Zwei-Klassen-Gesellschaft“ in Alten- und Behindertenheimen: Die Heimbewohner, die vor dem 31.12.2004 vollstationäre Hilfe
in einem Heim erhalten haben und einen zusätzlichen
Barbetrag gem. § 21 Abs. 3 Satz 4 beanspruchen konnten, erhalten diesen Geldbetrag weiter (allerdings nur
in Höhe des Betrages, den sie im Dezember 2004 erhalten haben); alte und behinderte Menschen, die erst
nach dem 01.01.2005 in einem Heim betreut werden,
müssen dagegen auf den Zusatzbarbetrag verzichten,
obwohl sie möglicherweise höhere Kostenbeiträge aus
eigenem Einkommen und Vermögen an den Sozialhilfeträger abführen als ihre Mitbewohner, die in den Genuss
der Besitzstandsregelung des § 133 a SGB XII n. F.
kommen.
Rechtsdienst der Lebenshilfe 4/04
SOZIALPOLITIK
Diskussionsentwurf eines Gesetzes zur Neuregelung der Rechtsberatung
Das Bundesministerium der Justiz hat einen
Diskussionsentwurf eines Rechtsdienstleistungsgesetzes
(RDG) vorgelegt. Mit der beabsichtigten Neuregelung
soll das aus dem Jahre 1935 stammende Rechtsberatungsgesetz abgelöst werden. Der Gesetzentwurf
regelt die unentgeltliche Rechtsberatung. Nach geltendem Recht (Art. 1 § 1 Abs. 1 des Rechtsberatungsgesetzes) bedarf die Rechtsberatung ohne Unterschied
zwischen haupt- und nebenberuflicher oder entgeltlicher und unentgeltlicher Tätigkeit der behördlichen
Erlaubnis. Von wenigen Ausnahmen abgesehen – etwa
Mietervereine und Verbraucherschutzverbände – ist die
Rechtsberatung nahezu ausschließlich zugelassenen
Rechtsanwälten vorbehalten. Das Bundesverfassungsgericht hat diese sehr restriktive Regelung der Rechtsberatung mehrfach in Frage gestellt (zuletzt im
Beschluss vom 29.07.2004, AZ. 1 BVR 737/00 – Zulässigkeit der unentgeltlichen Rechtsberatung eines pensionierten Richters).
Regelungsbereich des Entwurfs
Der Regelungsbereich des geplanten Gesetzes beschränkt sich auf außergerichtliche Rechtsdienstleistungen. Auch wird an der bisherigen rechtlichen
Konstruktion des Verbotsgesetzes mit Erlaubnisvorbehalt festgehalten. Unter Rechtsdienstleistungen versteht
der Diskussionsentwurf nur Tätigkeiten in konkreten
fremden Angelegenheiten, die eine umfassende rechtliche Prüfung erfordern (§ 2 Abs. 1 des Entwurfs). Nicht
in den Anwendungsbereich des Gesetzes fallen damit
allgemeine Rechtsinformationen oder Bagatelltätigkeiten sowie jede Geschäftsbesorgung, die ohne individuelle rechtliche Prüfung erfolgt. Damit soll Rechtssicherheit im Bereich der Medien, insbesondere für
Ratgebersendungen, die beispielhaft Rechtsinformationen vermitteln, geschaffen werden.
Zulässigkeit unentgeltlicher Rechtsdienstleistungen
Nach der vorgeschlagenen Neuregelung sind unentgeltliche Rechtsdienstleistungen erlaubt (§ 6 Abs. 1 des Entwurfs). Der Entwurf unterscheidet zwischen Rechtsberatung innerhalb der Familie, der Nachbarschaft oder
ähnlich enger persönlicher Beziehungen und Rechtsberatung außerhalb dieses Personenkreises. Im ersteren Fall bedarf es keiner beruflichen Qualifikation. Wer
sich in diesem persönlichen Umfeld beraten lässt, weiß
in der Regel, auf was er sich einlässt. Im letzteren Fall –
Rechtsdienst der Lebenshilfe 4/04
also außerhalb des vorstehenden Personenkreises – darf
unentgeltliche Rechtsberatung nur durch Volljuristen
oder unter deren Aufsicht erfolgen (§ 6 Abs. 2 des Entwurfs).
Mitgliederberatung durch Vereine
Mit § 7 des Gesetzentwurfs wird die Befugnis zur Rechtsberatung über die berufsständischen Vereinigungen hinaus auf alle zur Wahrung gemeinschaftlicher Interessen
gegründeten Vereinigungen ausgeweitet. Erfasst werden
damit nunmehr neben den bereits bisher unter den Begriff der berufsstandsähnlichen Vereinigungen gezählten Mieter- und Grundbesitzervereine alle Vereinigungen mit gesellschaftlicher, sportlicher oder kultureller
Zielsetzung, darunter fallen auch die großen Automobilclubs. Ferner sind unentgeltliche Rechtsdienstleistungen durch anerkannte freie Träger der Jugendhilfe gemäß § 75 SGB VIII und Träger der freien
Wohlfahrtspflege nach § 5 SGB XII erlaubt, soweit sie
innerhalb des jeweiligen Aufgaben- und Zuständigkeitsbereichs erbracht werden (§ 8 Nr. 5 des Entwurfs).
Rechtsdienstleistung aufgrund besonderer Sachkunde
Rechtsdienstleistungen können auch wie bisher von
Personen mit besonderer Sachkunde erbracht werden,
die nicht die Qualifikation von Volljuristen aufweisen.
Hierunter fallen etwa Rentenberater und Inkassounternehmer. Die bisherige Erlaubnispflicht wird durch eine
Eintragung in ein elektronisches öffentliches Rechtsdienstleistungsregister ersetzt.
Anmerkung
Die Aussichten, dass dieser Diskussionsentwurf zumindest in seinen wesentlichen Inhalten das Gesetzgebungsverfahren übersteht, sind als gar nicht so schlecht zu
betrachten. Zwar hat die Bundesrechtsanwaltskammer
sich gegen einige Neuregelungen ausgesprochen, so etwa
gegen die Erbringung von Rechtsdienstleistungen durch
Interessenvereinigungen und Verbände, und Bedenken
geäußert gegen eine zu enge Definition des Begriffs der
Rechtsdienstleistung, aber an dem grundsätzlichen Monopol der Rechtsberatung für Rechtsanwälte scheint
auch die Rechtsanwaltschaft nicht festhalten zu wollen. Darüber hinaus wird sich der Gesetzgeber dem
Änderungsdruck in Folge der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kaum entziehen können. (Di)
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SOZIALPOLITIK/SOZIALHILFE
Beitragszuschlag zur Pflegeversicherung für kinderlose Werkstattbeschäftigte
Ab Januar 2005 soll der Beitragssatz für kinderlose
Mitglieder der Pflegeversicherung ab dem 23. Lebensjahr um 0,25 Beitragspunkte erhöht werden, der von
den beitragspflichtigen Versicherten alleine zu erbringen ist (kein Arbeitgeberbeitrag).
Dies sieht das Gesetz zur Berücksichtigung der Kindererziehung im Beitragsrecht der sozialen Pflegeversicherung (Kinderberücksichtigungsgesetz, KiBG,
BT-Drs. 15/3837, BT-Drs. 15/3671) vor, das nach Einspruch des Bundesrats dem Vermittlungsausschuss zugewiesen und inzwischen vom Bundestag verabschiedet wurde.
Nach einer Empfehlung des Ausschusses für Gesundheit und Soziales sollen neben Mitgliedern, die vor dem
01.01.1940 geboren sind, Wehr- und Zivildienstleistenden auch Bezieher von Arbeitslosengeld II von der erhöhten Beitragszahlung ausgenommen werden. Nicht
erwähnt werden Sozialhilfe- und Grundsicherungsleistungsbezieher nach dem SGB XII, die demnach die
höheren Beiträge an die Pflegeversicherung zu zahlen
haben, wenn sie nicht nachweisen, dass sie Kinder haben, § 55 Abs. 3 SGB XI.
Für diese werden nach § 32 SGB XII die Beiträge für
die Pflegeversicherung im Rahmen der Hilfe zum Lebensunterhalt oder als Bedarf der Grundsicherung nach
§ 42 Nr. 4 SGB XII übernommen. Die Werkstätten tragen diese Beiträge für behinderte Beschäftigte mit einem die Geringfügigkeitsgrenzen nicht überschreitenden Verdienst alleine, erhalten sie aber von dem
zuständigen Kostenträger erstattet, § 251 Abs. 2 Satz 2
SGB V, § 20 Abs. 1 Nr. 7 SGB XI.
Auch wenn behinderte Menschen selbst nicht mit den
höheren Beiträgen belastet werden, weil diese von dem
Sozialleistungsträger übernommen werden, ist unverständlich, warum sie nicht in die Befreiungsregelung
einbezogen worden sind. Nur eine kleine Minderheit
hat Kinder, für viele ist dies aufgrund ihrer Behinderung ausgeschlossen.
(We)
Was bleibt Werkstattbeschäftigten vom Einkommen nach Inkrafttreten des SGB XII?
von Dr. Sabine Wendt
Mit dem neuen Sozialhilferecht ändern sich im kommenden Jahr die Leistungsansprüche behinderter Beschäftigter in Werkstätten. Nachfolgend soll eine Bilanz gezogen werden, welche finanziellen Auswirkungen dies hat (siehe dazu auch: Lachwitz, RdLh 4/
04 S. 149 und Wendt, RdLh 3/04 S. 102 ff.).
Änderungen bei einer ambulant betreuten Wohnform
Die Grundsicherungsleistung kann von Werkstattbeschäftigten nicht erst bei Beschäftigungsbeginn in der
Werkstatt beantragt werden, sondern bereits, wenn der
Fachausschuss eine Stellungnahme dazu abgegeben hat,
§ 45 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII.
Sofern Werkstatteinkommen und Rente niedriger sind
als der Bedarf an Grundsicherungsleistungen nach
§ 42 ff. SGB XII, wird die Leistung auch bewilligt werden. Bezugsgröße für die Berechnung sind weiterhin
die Regelsätze der Hilfe zum Lebensunterhalt. Die
Regelsätze werden nach § 28 Abs. 2 Satz 1 SGB XII
auf Landesebene festgesetzt. Noch unklar ist, in welchem Umfang die Bundesländer von dieser Kompetenz
Gebrauch machen, oder ob sie sich an den in § 20 Abs.
152
2 SGB II vorgegebenen Werten der Regelleistung zur
Sicherung des Lebensunterhalts von 345 EURO West
bzw. 331 EURO Ost orientieren.
Neu ist der Wegfall des Zuschlags von 15 v. H. für die
einmaligen Beihilfen, die jetzt im Regelsatz integriert
sind. Statt der einmaligen Beihilfen für Bekleidung etc.
werden nur noch die in § 31 SGB XII genannten einmaligen Bedarfe gewährt, wobei für das ambulant betreute Wohnen die Erstausstattung der Wohnung einschließlich Haushaltsgeräten übernommen wird. Der
Mehrbedarf für vollerwerbsgeminderte Personen mit
einem Schwerbehindertenausweis mit dem Merkzeichen G ist von 20 auf 17 v. H. abgesenkt worden.
Der Mehrbedarf für Krankenkost nach § 30 Abs. 5 SGB
XII ist jetzt Teil der Grundsicherungsleistung und muss
nicht mehr zusätzlich im Rahmen der Hilfe zum Lebensunterhalt beantragt werden.
Das Arbeitsförderungsgeld von 26 EURO bleibt in Zukunft anrechnungsfrei, § 82 Abs. 2 Nr. 5 SGB XII. Dies
wird sich aber nicht einkommenssteigernd auswirken,
weil der Freibetrag vom Werkstatteinkommen für die
Hilfe zum Lebensunterhalt in Form von Grundsicherung und für die Eingliederungshilfe für die ambulante
Rechtsdienst der Lebenshilfe 4/04
SOZIALHILFE
Unterstützung beim Wohnen von einem Drittel auf ein
Achtel des Eckregelsatzes nach § 82 Abs. 3 SGB XII
abgesenkt wurde. Damit wurde die bisher nur für den
stationären Bereich geltende Freibetragsregelung auch
für das Leben außerhalb von Einrichtungen übernommen. Die Bedarfslage ist jedoch nicht die gleiche: Die
Bekleidung wird in der Einrichtung als weiterer notwendiger Lebensunterhalt extra vergütet, muss aber
ambulant aus dem pauschalierten Regelsatz finanziert
werden.
Hinzu kommt ab Dezember 2005 der Wegfall der
Weihnachtsbeihilfe in Höhe von 10 v. H. des Regelsatzes. Damit wären 34 EURO von der in den meisten
Werkstätten gezahlten Weihnachtsprämie anrechnungsfrei geblieben, so dass dies einen weiteren Einkommensverlust bedeutet.
Der Vermögensfreibetrag für die Eingliederungshilfe und
Hilfe zur Pflege sowie für den Lebensunterhalt von
Leistungsberechtigten für die Grundsicherung wird nach
§ 1 Abs. 1 a und b der Verordnung zur Durchführung
von § 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII von 2301 auf 2006
EURO angehoben. Ein Vermögenseinsatz wird jedoch
nur verlangt, wenn keine der in § 92 Abs. 2 SGB XII
genannten Hilfen gewährt werden. Für diese (z. B. Beschäftigung in einer Werkstatt, § 92 Abs. 2 Nr. 7 SGB
XII oder einer Tagesförderstätte, § 92 Abs. 2 Nr. 8 SGB
XII) kann nur ein Kostenbeitrag aus dem Einkommen
für den in der Einrichtung gewährten Lebensunterhalt
beansprucht werden. Voraussetzung ist allerdings, dass
das Einkommen die Höhe des doppelten Eckregelsatzes
übersteigt, § 92 Abs. 2 Satz 4 SGB XII.
Ein Übergang eines Unterhaltsanspruches für geleistete Eingliederungshilfe nach § 94 Abs. 2 SGB XII in der
Werkstatt oder einer Tagesförderstätte findet nicht statt,
da für diese Hilfen kein Einkommens- und Vermögenseinsatz vorgesehen ist. Dies gilt auch für den dort geleisteten Lebensunterhalt. Hat die leistungsberechtigte
Person ein so niedriges Einkommen, dass die Kosten
des Lebensunterhaltes in der Einrichtung von ihr nicht
bezahlt werden können, fehlt es an einem Anspruch
des Sozialhilfeträgers auf finanzielle Beteiligung, der auf
die Eltern als Unterhaltsforderung übergehen könnte.
Ist das Einkommen höher, kann ein möglicher Unterhaltsbedarf durch den Einsatz des Einkommens für das
Mittagessen als Lebensunterhalt in der Einrichtung von
der leistungsberechtigten Person selbst abgedeckt werden, so dass kein darüber hinausgehender Unterhaltsbedarf gegenüber den Eltern geltend gemacht werden
kann (§ 92 Abs. 2 Satz 4 SGB XII).
Berechnungsbeispiel für ambulante Betreuung
Berechnungsbeispiel für einen Werkstattbeschäftigten mit einem Schwerbehindertenausweis G und einem
Werkstattlohn von 120 EURO einschließlich Arbeitsförderungsgeld, der in Nordrhein-Westfalen bei
einer Warmmiete von 250 EURO alleine wohnt. Er erhält zusätzlich Eingliederungshilfe durch einen ambulanten Dienst in Höhe von 300 EURO monatlich (zur besseren Übersicht wird auf Cent-Beträge verzichtet,
abgerundete EURO-Beträge).
Bedarf Grundsicherung 2005 SGB XII
Bedarf Grundsicherung 2004 GSiG/BSHG
Regelsatz (West) Haushaltsvorstand 345 EURO
Regelsatz NRW Haushaltsvorstand
davon Zuschlag 15 v. H.
Warmmiete
Mehrbedarfszuschlag Merkz. G
Summe
abzgl. einzusetzendes Einkommen
Grundsicherungsleistung
Warmmiete
Mehrbedarfszuschlag Merkz. G
Summe
abzgl. einzusetzendes Einkommen
Grundsicherungsleistung
250 EURO
58 EURO
653 EURO
35 EURO
618 EURO
Kostenbeitrag 2005
Kostenbeitrag 2004
Werkstatteinkommen
120 EURO
abzgl. Arbeitsmittelpauschale
5 EURO
abzgl. Arbeitsförderungsgeld
26 EURO
nach § 82 (2) bereinigtes EK
89 EURO
abzgl. 1/8 Regelsatz
43 EURO
verbleiben
45 EURO
davon 25 v. H.
11 EURO
ergibt Freibetrag § 82 (3)
54 EURO
einzusetzendes Einkommen
35 EURO
(bereinigtes Einkommen von 89 EURO
abzgl. Freibetrag von 54 EURO)
Verbleibendes Einkommen
85 EURO
Werkstatteinkommen
abzgl. Arbeitsmittelpauschale
nach § 76 (2) bereinigtes EK
Rechtsdienst der Lebenshilfe 4/04
296 EURO
44 EURO
250 EURO
59 EURO
649 EURO
13 EURO
636 EURO
120 EURO
5 EURO
115 EURO
abzgl. 1/3 Regelsatz
98 EURO
verbleiben
17 EURO
davon 25 v. H.
4 EURO
ergibt Freibetrag § 76 (2) Nr. 2a
102 EURO
einzusetzendes Einkommen
13 EURO
(bereinigtes Einkommen von 115 EURO
abzgl. Freibetrag von 102 EURO)
Verbleibendes Einkommen
107 EURO
153
SOZIALHILFE
Mit dem SGB XII tritt für den Werkstattbeschäftigten
damit ein Einkommensverlust (geringerer verbleibender Werkstattlohn) von 22 EURO ein. Die Grundsicherungsleistung wird um 18 EURO niedriger ausfallen. Der finanzielle Nachteil durch die Neuregelung
beträgt nach diesem Beispiel 40 EURO. Für den Lebensunterhalt stehen damit 2005 bei dem ambulant
betreuten Wohnen 703 EURO (Grundsicherungsleistung von 618 EURO und verbleibendes Einkommen von 85 EURO) zur Verfügung, gegenüber 743
EURO 2004 (Grundsicherungsleistung von 636 EURO
und verbleibendes Einkommen von 107 EURO).
Bedarf Eingliederungshilfe 300 EURO:
Kein Einkommenseinsatz, da das verbleibende Einkommen von 85 EURO die Einkommensgrenze nach § 85
Abs. 1 SGB XII von 940 EURO nicht übersteigt. Die
Einkommensgrenze berechnet sich aus dem Grundbetrag in Höhe des zweifachen Eckregelsatzes (690
EURO) und der Miete von 250 EURO, ein Familienzuschlag entfällt, da keine weitere Person unterhalten
wird.
Änderung gegenüber BSHG:
Der Grundbetrag war mit 853 EURO nach § 81 Abs. 1
BSHG höher, ebenfalls kein Einkommenseinsatz, da
das verbleibende Einkommen unter der Einkommensgrenze liegt.
Bedarf Lebensunterhalt in der Werkstatt (Mittagessen), § 92 Abs. 2 Nr. 7 SGB XII:
Da das Einkommen den zweifachen Eckregelsatz von
690 EURO nicht überschreitet, wird kein Mitteleinsatz
verlangt, § 92 Abs. 2 Satz 4 SGB XII.
Änderung gegenüber BSHG:
Die Regelung in § 43 Abs. 2 Satz 2 BSHG ist gleichlautend. Ein Einkommenseinsatz wird nicht verlangt, wenn
es den zweifachen Regelsatz des Haushaltsvorstands
nicht überschreitet. Der doppelte Regelsatz war mit 592
EURO jedoch niedriger, so dass Personen mit einem
um 98 EURO geringeren Einkommen einen Kostenbeitrag leisten mussten.
Unterhaltsbeitrag der Eltern
Den Eltern verbleibt nach überwiegender Ansicht der
Rechtsprechung das Kindergeld von 154 EURO, das
danach nur bei einer tatsächlichen Zuwendung an das
Kind als dessen Einkommen angerechnet werden darf.
Der Leistungsanspruch auf Grundsicherung setzt vor154
aus, dass ihr Jahreseinkommen 100.000 EURO nicht
überschreitet, so dass darüber hinaus kein Unterhaltsbeitrag für den Lebensunterhalt zu leisten ist. Sie müssen sich aber an dem Bedarf der Eingliederungshilfe
für das ambulant betreute Wohnen mit einem Unterhaltsbeitrag von 26 EURO nach § 94 Abs. 2 SGB XII
beteiligen.
Es ist damit keine Änderung gegenüber der Unterhaltszahlung 2004 gegeben.
Änderungen bei dem stationär betreuten
Wohnen in einem Wohnheim
Der Lebensunterhalt in der Einrichtung ist nicht mehr
Bestandteil der Eingliederungshilfe, sondern wird neben dieser erbracht, § 35 SGB XII. Der notwendige
Lebensunterhalt ist aber weiterhin gemeinsam mit der
Eingliederungshilfe Bestandteil der Vergütung, die von
dem Sozialhilfeträger an die Einrichtung gezahlt wird,
§ 75 ff. SGB XII. Durch das SGB XII ÄndG wurde in
§ 35 Abs. 1 SGB XII festgelegt, dass dieser notwendige
Lebensunterhalt in der Einrichtung dem Umfang nach
der Leistung der Grundsicherung in § 42 Satz 1 Nr. 1
bis 3 entspricht. § 82 SGB XII wurde um einen Abs. 4
ergänzt, der den Einkommenseinsatz für den Lebensunterhalt in der Einrichtung auf die häusliche Ersparnis begrenzt, und darüber hinaus bei längerer Zeit der
Pflege eine Aufbringung der Mittel im angemessenen
Umfang vorsieht. Damit wurde eine Regelung im Wortlaut von § 88 Abs. 1 Nr. 3 SGB XII übernommen, die
diesen Einkommenseinsatz auch unterhalb der Einkommensgrenze der Eingliederungshilfe und Hilfe zur Pflege vorsieht.
Durch diese Ergänzung soll sichergestellt werden, dass
das Einkommen bei stationärer Betreuung sowohl für
den Lebensunterhalt als auch für die Eingliederungshilfe und Hilfe zur Pflege unter Berücksichtigung der
nach § 82 Abs. 2 und 3 SGB XII abzusetzenden Beträge in angemessenem Umfang einzusetzen ist. Die Prüfung der Angemessenheit ergibt sich nach § 87 Abs. 1
SGB XII aus der Art des Bedarfs, der Art oder Schwere
der Behinderung oder der Pflegebedürftigkeit, der Dauer
und Höhe der erforderlichen Aufwendungen sowie der
besonderen Belastungen der nachfragenden Person. Damit sind die bereits in § 84 Abs. 1 BSHG benannten
besonderen Belastungen gemeint, die gesondert geltend
gemacht werden müssen, um eine Überprüfung der Angemessenheit zu ermöglichen.
Die Trennung des Lebensunterhaltes von der Eingliederungshilfe hat für die Bedarfsdeckung in der Einrichtung keine Folgen, da diese weiterhin durch die
Einrichtungsvergütung gewährleistet ist, wohl aber für
den Einsatz von Einkommen und Vermögen.
Rechtsdienst der Lebenshilfe 4/04
SOZIALHILFE
Für den Leistungsberechtigten selbst ergibt sich kein
Unterschied, weil er sein Einkommen auch unterhalb
der Einkommensgrenze einsetzen muss, § 88 SGB XII.
Ist er aber mit einer Person verheiratet, die nicht in der
Einrichtung lebt und über Einkommen verfügt, gilt für
diese der Schutz der Einkommensgrenze für die Eingliederungshilfe nach § 85 Abs. 1 SGB XII nicht mehr;
Das Einkommen muss mit den in § 82 SGB XII genannten Freibeträgen voll für die Bedarfsdeckung des
Lebensunterhalts des Ehepartners eingesetzt werden.
Dies kann z. B. auf Werkstattbeschäftigte zutreffen, die
aufgrund eines Unfalls oder einer Krankheit erst nach
einer Eheschließung behindert wurden.
Die Kleidung und ein angemessener Barbetrag zur persönlichen Verfügung in Höhe von 26 v. H. des
Eckregelsatzes wird als weiterer notwendiger Lebensunterhalt in § 35 Abs. 2 SGB XII definiert.
Der bisher nach § 21 Abs. 3 Satz 4 BSHG erbrachte
Zusatzbarbetrag von bis zu 44 EURO (5 v. H. des Einkommens) ist als notwendiger Lebensunterhalt in Einrichtungen nach § 35 Abs. 2 SGB XII nicht mehr genannt. In dem Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur
Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch ( SGB XII -ÄndG) ist jetzt eine Besitzstandsregelung in § 133 a SGB XII vorgesehen. Danach erhalten Personen, die am 31.12.2004 einen Anspruch
auf einen Zusatzbarbetrag hatten, diesen Betrag auch
in Zukunft. Dies schafft jedoch eine sachlich nicht zu
rechtfertigende Ungleichbehandlung von Heimbewohnern.
Durch die Begrenzung des Umfangs des Lebensunterhaltes in der Einrichtung in § 35 Abs. 1 SGB XII durch
das SGB XII ÄndG auf die Leistung der Grundsicherung entfällt für Eltern vollstationär betreuter
Grundsicherungsberechtigter zwar ein Unterhaltsbetrag
für den Lebensunterhalt in der Einrichtung nach § 43
Abs. 2 SGB XII, wenn ihr Jahreseinkommen unter
100.000 EURO liegt. Für den weiteren notwendigen
Lebensunterhalt, für den Barbetrag und die Bekleidung
nach § 35 Abs. 2 SGB XII, der den Grundsicherungsbedarf übersteigt, muss nach § 94 Abs. 2 SGB XII ein
Unterhaltsbeitrag in Höhe von 20 EURO gezahlt werden. Dies gilt jedenfalls dann, wenn insoweit ein ungedeckter Bedarf besteht, der nicht durch den Einkommenseinsatz des behinderten Menschen abgedeckt
wird.
Der Vermögensfreibetrag von 2600 EURO wird nach
§ 1 Abs. 1 a der Verordnung zur Durchführung von
§ 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII auch bei der Hilfe zum Lebensunterhalt für Personen über 60 Jahre sowie voll
Erwerbsgeminderte gewährt, so dass Werkstattbeschäftigte für den Lebensunterhalt in der Einrichtung
keinen höheren Vermögenseinsatz leisten müssen als
im Rahmen der Eingliederungshilfe.
Berechnungsbeispiel für stationäre Betreuung
Berechnungsbeispiel für einen Werkstattbeschäftigten mit einem Schwerbehindertenausweis mit dem Merkzeichen G, der in einem Wohnheim in Westdeutschland betreut wird. Er hat eine EU-Rente in Höhe von 800
EURO und ein Werkstatteinkommen von 120 EURO einschließlich des Arbeitsförderungsgeldes. Die Vergütung der Einrichtung beträgt 2000 EURO monatlich, die Pflegeversicherung zahlt Leistungen nach § 43 a
SGB XI in Höhe von 256 EURO. Die durchschnittliche Warmmiete eines Einpersonenhaushaltes als Berechnungsgrundlage für die stationären Unterkunftskosten im Rahmen der Grundsicherung nach § 42 Nr. 2 SGB
XII beträgt 250 EURO. Es wird ein Barbetrag von 89 EURO gewährt sowie eine monatliche Pauschale für
die Bekleidung von 25 EURO.
Kostenbeitrag für den Lebensunterhalt in der Einrichtung in Höhe der Grundsicherungsleistung, § 35
Abs. 1 SGB XII und für den weiteren notwendigen Lebensunterhalt, § 35 Abs. 2 SGB XII (Barbetrag und
Bekleidung)
Bedarf Lebensunterhalt in der Einrichtung
Regelsatz eines Haushaltsangehörigen
(ab 14 Jahren 80 v. H. des Eckregelsatzes West 345 EURO)
Unterkunftskosten
Mehrbedarf § 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII
Summe Bedarf
276 EURO
250 EURO
46 EURO
572 EURO
Kostenbeitrag
EinkommenEU-Rente
Werkstattlohn
Summe
Rechtsdienst der Lebenshilfe 4/04
800 EURO
120 EURO
920 EURO
155
SOZIALHILFE
Bereinigung nach § 82 Abs. 2 SGB XII
abzgl. Arbeitsmittelpauschale
abzgl. Arbeitsförderungsgeld
Bereinigtes Einkommen aus Abs. 2
Freibetrag aus dem Werkstattlohn nach § 82 Abs. 3
(s. Berechnung Fallbeispiel ambulant)
Bereinigtes Einkommen aus Abs. 3
abzgl. Bedarf Lebensunterhalt in der Einrichtung
Verbleibendes Einkommen
abzgl.
Bedarf Barbetrag (89 EURO) und Bekleidung (25 EURO)
Verbleibendes Einkommen
5 EURO
26 EURO
889 EURO
54 EURO
835 EURO
572 EURO
263 EURO
114 EURO
149 EURO
Da der Bedarf für den Lebensunterhalt vollständig aus dem Einkommen abgedeckt werden kann, entfällt
ein Unterhaltsbeitrag der Eltern in Höhe von 20 EURO nach § 94 Abs. 2 SGB XII.
Kostenbeitrag für die Eingliederungshilfe, § 54 SGB XII
Bedarf:
Vergütung für die Einrichtung nach §§ 75 ff. SGB XII
Abzgl. Grundsicherungsleistung für den
Lebensunterhalt in der Einrichtung
abzgl. Leistungen nach § 43 a SGB XI
Ungedeckter Bedarf
2.000 EURO
572 EURO
256 EURO
1.172 EURO
Nach § 88 Abs. 1 Nr. 3 einzusetzendes Resteinkommen
149 EURO
Es werden keine besonderen Belastungen geltend gemacht, so dass nach Berücksichtigung des Arbeitsförderungsgeldes und des einheitlichen Einkommensfreibetrages nach § 88 Abs. 2 und 3 SGB XII das gesamte
Resteinkommen einzusetzen ist.
Da der Bedarf aus dem Einkommen nicht abgedeckt werden kann, kann zusätzlich ein Unterhaltsbeitrag von
26 EURO von den Eltern nach § 94 Abs. 2 SGB XII verlangt werden.
Von dem Werkstattlohn von 120 EURO verbleibt der gleiche Restbetrag von 85 EURO wie bei der ambulanten Wohnbetreuung, hinzu kommt der Barbetrag von 89 EURO, insgesamt steht ein Einkommen von 174
EURO für die persönlichen Bedürfnisse des täglichen Lebens zur Verfügung.
Berechnung nach BSHG
Bei der Berechnung eines Kostenbeitrags bei vollstationärer Betreuung wurde nicht unterschieden, ob
Hilfe zum Lebensunterhalt oder Eingliederungshilfe
erbracht wurde, da der Lebensunterhalt in der Einrichtung nach § 27 Abs. 3 BSHG als Hilfe in besonderen
Lebenslagen von der Eingliederungshilfe mit umfasst
war. Es wurde daher nur ein einheitlicher Kostenbeitrag
für die gesamte Hilfe in der Einrichtung nach § 85 Abs.
2 BSHG verlangt. Dieser entspricht betragsmäßig der
Regelung in § 88 Abs. 1 Nr. 3 und Abs. 2 SGB XII, so
dass sich keine Mehrbelastung für den Leistungsberechtigten durch das SGB XII ergibt
156
Hinzu kam ein Barbetrag nach § 21 Abs. 3 BSHG in
Höhe 89 EURO (30 v. H. des Regelsatzes von 296
EURO), der dem Barbetrag nach § 35 Abs. 2 SGB XII
entspricht, und ein Zusatzbarbetrag in Höhe von 15 v.
H. des Regelsatzes von 296 EURO, der 44 EURO beträgt.
Dieser Zusatzbarbetrag wird nach § 133 a SGB XII für
Personen, die vor dem 01.01.2005 im Wohnheim aufgenommen waren, weiter gewährt. Die Einkommensverschlechterung gegenüber der BSHG-Regelung in
diesem Fallbeispiel beträgt somit für Personen, die später in das Wohnheim ziehen, 44 EURO.
Der Unterhaltsbeitrag für die Eltern war nach BSHG
auf 26 EURO für die Eingliederungshilfe beschränkt,
Rechtsdienst der Lebenshilfe 4/04
SOZIALHILFE
es ergibt sich somit keine Mehrbelastung in dem Fallbeispiel gegenüber dem Unterhalt nach SGB XII. Bei
einem niedrigeren Einkommen müsste allerdings bei
einem ungedeckten Bedarf für den Lebensunterhalt in
der Einrichtung ein weiterer Unterhaltsbeitrag von 20
EURO geleistet werden.
Für die ambulante Wohnbetreuung muss jedoch ab 2005
nach diesem Beispiel 40 EURO mehr gezahlt werden,
als bisher. Für eine vollstationäre Betreuung macht der
Einkommensverlust 44 EURO aus.
Zur Kürzung von vereinbarten Entgelten durch den Sozialhilfeträger
VG Augsburg, Urteil vom 28.09.2004 – Az: Au3 K 04.854
Sachverhalt
Urteil
Der Bezirkstag Schwaben (einer von sieben überörtlichen Sozialhilfeträgern in Bayern) hat im März 2004
während der Laufzeit von Vergütungsvereinbarungen
im Bereich Altenhilfe und Eingliederungshilfe (September 2003 bis September 2004) beschlossen, aufgrund
der angespannten Finanzlage die vereinbarten Entgelte ab 01.04.2004 pauschal um 5 % zu kürzen. Der
Beschluss wurde trotz zahlreicher Proteste der
Leistungserbringer und der Verbände durch die Verwaltung des Bezirks Schwaben umgesetzt: seit dem 01.04.
2004 erhalten die Einrichtungsträger nur noch um 5 %
geringere Entgelte.
Die Klage wurde mit Urteil vom 28.09.2004 abgewiesen.
Daraufhin klagte die Diakonie Augsburg, ein Träger von
Alten- und Behindertenheimen, und beantragte, zum
einen den Bezirk zur Zahlung der – bezifferten - ausstehenden Beträge zu verurteilen sowie zum anderen
festzustellen, dass die pauschale Kürzung der Gesamtentgelte von 5 % durch den Beklagten rechtswidrig ist
und dementsprechend der Beklagte verpflichtet ist, die
Pflegesätze nebst Kosten der Unterkunft, Verpflegung
und Investition gemäß den bestehenden Vergütungsvereinbarungen ungekürzt an den Kläger auszuzahlen.
Das Gericht ließ erhebliche Zweifel an der Aktivlegitimation des Klägers zur Geltendmachung des Zahlungsanspruchs erkennen. Es bezweifelte also, ob der Einrichtungsträger überhaupt befugt sein kann, vom
Beklagten die vollständige Zahlung der Vergütung zu
verlangen. Deshalb wurde hilfsweise beantragt festzustellen, dass die aus den Vergütungsvereinbarungen
zwischen den Parteien resultierenden Pflichten vom
Beklagten über den 01.04.2004 hinaus in voller Höhe
zu erfüllen sind.
Der Beklagte beantragte Klageabweisung wegen fehlender Aktivlegitimation. Der Kläger könne den Anspruch auf Gewährung von Sozialleistungen nicht in
eigenem Namen geltend machen. Der Anspruch stünde allein den jeweiligen Hilfesuchenden zu.
Rechtsdienst der Lebenshilfe 4/04
Der Kläger habe keinen Anspruch auf Zahlung des Differenzbetrages zwischen den Entgelten gemäß der
Vergütungsvereinbarung und den tatsächlich – um 5 %
gekürzten – ausbezahlten Beträgen. Zur Begründung
führte das VG Augsburg folgendes an:
a) Das sozialrechtliche Dreiecksverhältnis erlaube keinen direkten Zahlungsanspruch des Einrichtungsträgers
gegen den Kostenträger. Die Vergütungsvereinbarungen
seien abstrakte Regelungen, die den Sozialhilfeanspruch
des Hilfeempfängers ausgestalten.
b) Der Heimträger erbringe nicht gegenüber dem
Sozialhilfeträger eine Leistung, sondern nur gegenüber
dem Hilfeempfänger. Hier seien die gegenseitigen Ansprüche im Heimvertrag geregelt. Der Heimbewohner
wiederum habe einen Anspruch gegen den Sozialhilfeträger auf Deckung seines sozialhilferechtlichen Bedarfs,
der in einem entsprechenden Bescheid anerkannt werde. Grundlage für die Aufwendungen, die mit der Bedarfsdeckung notwendig sind, seien wiederum die
Vergütungsvereinbarungen zwischen Sozialhilfeträger
und Heimträger. Daraus ergebe sich aber kein direkter
Leistungsanspruch des Heimträgers gegen den Sozialhilfeträger.
c) Gegen einen direkten Leistungsanspruch spreche die
Tatsache, dass bei sich nachträglich herausstellender
Rechtswidrigkeit der Hilfegewährung, etwa wegen fehlender Bedürftigkeit, die Rücknahme und Kostenerstattung nur im Verhältnis zum Hilfesuchenden erfolge.
d) Die Vergütungsvereinbarung habe in erster Linie angebotssteuernde Wirkung als Maßnahme zur sinnvollen Begrenzung des Angebots an Sozialeinrichtungen
und solle der Tendenz zur stationären Hilfe entgegenwirken.
157
SOZIALHILFE
e) Die Vergütungsvereinbarungen stellen keinen Vertrag zugunsten Dritter (hier des Heimbewohners) dar.
f) Die Übersendung einer Kopie des Bewilligungsbescheides über die Sozialhilfe an den Heimträger begründe wegen mangelnden Rechtsbindungswillens keine eigene Verpflichtung des Sozialhilfeträgers. Die
Übersendung des Bescheides bewirke lediglich eine Erleichterung des Zahlungsverkehrs zur Vermeidung unangemessenen Verwaltungsaufwandes.
g) Eine Abtretung des sozialhilferechtlichen Anspruchs
des Heimbewohners an das Heim durch die Regelung
im Heimvertrag, dass der Heimträger direkt mit dem
öffentlichen Leistungsträger abrechnen könne, könne
nicht angenommen werden. Ansprüche auf Sozialhilfe
können gem. § 4 Abs. 1 Satz 2 BSHG nicht abgetreten
werden.
h) Auch in den §§ 85 ff. SGB XI sei wohl ein eigener
Leistungsanspruch des Heimträgers gegen die Pflegekasse nicht gegeben. Die Grundsätze des SGB XI seien
aber ohnehin nicht auf das Sozialhilferecht übertragbar, selbst wenn man im SGB XI von einem direkten
Zahlungsanspruch des Heimträgers ausginge.
i) Die Feststellungsklage wurde aus Gründen der Subsidiarität abgewiesen.
j) Der hilfsweise gestellte Feststellungsantrag wurde abgewiesen, weil gem. § 43 Abs. 1 VwGO nur das Feststellen des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses begehrt werden könne. Die Vergütungsvereinbarungen stellten zwar einen öffentlich-rechtlichen Vertrag dar, jedoch fehle es an einem daraus ableitbaren Recht des Klägers gegen den Beklagten, weil
nach Ansicht des Gerichtes eben kein Leistungsanspruch begründet wird. Es bestehe eben keine Rechtsbeziehung dergestalt, dass bei den Abrechnungen die
vereinbarten Entgelte beachtet werden müssen. Dem
Feststellungsantrag fehle es insgesamt am Rechtsschutzbedürfnis.
k) Die Berufung wurde wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Angelegenheit zugelassen, da die zu entscheidenden Rechtsfragen bislang obergerichtlich nicht
geklärt sind.
Bewertung
Das VG Augsburg hat mit seiner Entscheidung ein völlig praxisfernes Verständnis des sozialrechtlichen Dreiecksverhältnisses zugrundegelegt. Wenn diese Auffassung Bestand hat, verlieren die Vergütungsvereinbarungen nach §§ 93 ff. BSHG dramatisch an Bedeu158
tung, weil sie mangels effektiver Durchsetzbarkeit für
den Einrichtungsträger keine verlässliche Grundlage
mehr bilden. Sie würden allenfalls noch einen Richtwert
für die Einrichtungsvergütung darstellen, der durch den
Sozialhilfeträger faktisch in Gutsherrenart gekürzt werden kann, wogegen der Einrichtungsträger keine selbstständige Möglichkeit der gerichtlichen Durchsetzung
der vereinbarten Vergütung hat.
Die einzige Möglichkeit der Träger, die vereinbarte Vergütung geltend zu machen, bestünde über den Umweg
des Heimbewohners. Der Träger müsste den Heimbewohner auffordern, die vollständige – im Heimvertrag
festgelegte – Vergütung zu bezahlen, also die gekürzten
5 % aus eigener Tasche zu ersetzen. Dazu ist dieser nicht
in der Lage und müsste sich deshalb an den Sozialhilfeträger wenden und beantragen, die Leistung vollständig zu übernehmen. Wenn der Sozialhilfeträger dies
ablehnte, könnte der Heimbewohner den Sozialhilfeträger verklagen, weil nur durch die vollständige Zahlung der Vergütung sichergestellt ist, dass der mit dem
Kostenübernahmebescheid anerkannte sozialhilferechtliche Bedarf erbracht wird. Einer derartigen Klage
würde – nach Aussagen des Vorsitzenden Richters im
Laufe der mündlichen Verhandlung – höchstwahrscheinlich stattgegeben.
Die vom Kläger vorgebrachten Argumente, die für einen eigenen Leistungsanspruch des Einrichtungsträgers
sprechen, fanden keine Berücksichtigung. Der Sozialhilfeträger bedient sich des Einrichtungsträgers wie eines Beauftragten, wenn er den Leistungsanspruch des
Hilfeempfängers in dessen Einrichtung erfüllen lässt.
Dann muss er dem Einrichtungsträger aber auch die
verursachten Aufwendungen voll erstatten. Die Aufwendungen, die bei der Erfüllung des Auftrags erstattungspflichtig sind, werden vorher in den Vergütungsvereinbarungen festgelegt und müssen dann auch vom
Auftragnehmer eingeklagt werden können. Zumindest
konkludent und gefestigt durch jahrelange Praxis tritt
der Sozialhilfeträger durch die Übersendung einer Kopie des Kostenübernahmebescheides der Schuld des
Heimbewohners bei. Jede andere Auffassung ist völlig
praxisfern und erschwert die Beziehungen im
sozialhilferechtlichen Dreiecksverhältnis dramatisch,
weil ein Beteiligter – der Leistungserbringer – letztlich
nur Risiken trägt und kaum realistisch durchsetzbare
Rechte hat.
Unzutreffend ist jedenfalls der Hinweis auf eine „angebotssteuernde Funktion“ der Vergütungsvereinbarung.
Dies ist nach den seit 1996 geltenden §§ 93 ff. BSHG
gerade nicht der Fall: nach dem Willen des Gesetzgebers sollte ein Wettbewerb zwischen den potentiellen
Anbietern entstehen. Eine Bedarfsprüfung ist nicht bezweckt. Die Frage des Bedarfs darf kein EntscheidungsRechtsdienst der Lebenshilfe 4/04
SOZIALHILFE
kriterium bei der Ermessensprüfung sein, ob eine
Vergütungsvereinbarung abzuschließen ist. Ziel war lediglich, zu verhindern, dass Einrichtungen unwirtschaftlich arbeiten.
Durch die Entscheidung des VG Augsburg wird nunmehr eine Klagewelle der Heimbewohner gegen den
Sozialhilfeträger, ausgelöst durch die vertragswidrige
Kürzung der Entgelte, die durch Zahlungsaufforderungen der Leistungserbringer an die Bewohner weitergegeben werden müssen, entstehen. Es bleibt zu hoffen,
dass diese Klagen dann zeitnah behandelt werden und
der beklagte Sozialhilfeträger durch die zu erwartende
Verurteilung zu rechtmäßigem und vertragstreuem Han-
deln zurückfindet. Daneben wird der Kläger durch Einlegung der Berufung beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eine grundsätzliche obergerichtliche Rechtsprechung herbeiführen. Dies ist aus Gründen der
Rechtssicherheit für die Einrichtungsträger dringend
geboten. Es bleibt zu hoffen, dass der VGH eine der
Praxis entsprechende Auffassung zum sozialrechtlichen
Dreiecksverhältnis vertritt. Mit der Auffassung des VG
Augsburg wäre staatlicher Willkür und Leistungsgewährung nach Kassenlage der Kostenträger Tür und
Tor geöffnet.
(Ursula Schulz, Rechtsanwältin, Lebenshilfe Landesverband Bayern, Erlangen)
Stellung eines Integrationshelfers ist Schulsache
Erläuterungen zu den Urteilen des OVG für das Land NRW vom 09.06.2004 – Az: 19 A
1757/02 und 19 A 2962/02
von Norbert Schumacher
Das OVG hatte in zwei ähnlich gelagerten Fallgestaltungen über die Frage zu entscheiden, ob der
Sozialhilfeträger gegenüber dem Träger der Grundschule
einen Anspruch auf Kostenerstattung (zzgl. Zinsen)
wegen der Finanzierung eines Integrationshelfers für
einen behinderten Schüler hat. In den genannten Verfahren hatte der örtliche Sozialhilfeträger die Kosten
gemäß § 44 BSHG vorläufig übernommen.
Im Verfahren 19 A 1757/02 hatte das Gericht über folgenden Sachverhalt zu entscheiden:
Der im Februar 1990 geborene Schüler ist schwerbehindert und besuchte in der Zeit vom August 1997 bis
Juli 2001 eine Gemeinschaftsgrundschule. Nach dem
Besuch einer integrativen Kindertagesstätte bei Zurückstellung vom Schulbesuch für ein Jahr wurde der Schüler im August 1997 eingeschult. Zuvor hatte der Schulleiter der Grundschule einen Antrag auf Feststellung
des sonderpädagogischen Förderbedarfs wegen einer
geistigen Behinderung gestellt. Der Träger der Grundschule hatte dem Antrag der Eltern auf integrative
Beschulung unter dem Vorbehalt zugestimmt, dass die
Personalkosten des Integrationshelfers für die Betreuung in der Schule nicht übernommen werden könnten.
Sozialhilfeträger zur Kostenübernahme
verurteilt
Die Eltern beantragten beim Sozialamt im Juni 1997
die Übernahme der Kosten für den Einsatz eines Zivildienstleistenden. Das Sozialamt lehnte die Gewährung
von Eingliederungshilfe mit der Begründung ab, dass
eine Selbsthilfe im Sinne des § 2 Abs. 1 BSHG durch
Rechtsdienst der Lebenshilfe 4/04
die vorrangige Inanspruchnahme des Schulträgers möglich sei, der in Kenntnis der Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Zivildienstleistenden der Beschulung des
Schülers zugestimmt und somit auch die notwendigen
Kosten zu tragen habe. Auf die hiergegen gerichtete Klage verpflichtete das VG Arnsberg den Sozialhilfeträger,
dem Schüler Leistungen der Eingliederungshilfe für den
zu seiner schulischen Betreuung eingesetzten Integrationshelfer zu gewähren. In den Gründen führte das
Gericht aus, dass zwar der Schulträger die Kosten für
den Integrationshelfer grundsätzlich tragen müsse, da
die schulbegleitende Betreuung durch einen Zivildienstleistenden in den Pflichtenkatalog des Schulträgers falle. Dieser Anspruch gegen den Schulträger genüge allerdings nicht, um den Nachrang der Sozialhilfe greifen
zu lassen. Denn der Schüler habe keine rechtliche Handhabe, einen Anspruch gegenüber dem Schulträger kurzfristig durchzusetzen (Urteil vom 19.05.1999 – Az. 9 K
2297/98). Die hiergegen gerichtete Berufung wies das
OVG NRW mit Urteil vom 15.06.2000 zurück (Az. 16
A 3108/99 – RdLh Nr. 4/2000, S. 168 f.).
Mit der Klageerhebung macht der Sozialhilfeträger geltend, dass der beklagte Schulträger für die vorfinanzierten Kosten des Integrationshelfers erstattungspflichtig
sei, weil dieser nach dem Schulfinanzgesetz für das Land
NRW sämtliche Personalkosten für die nicht als Lehrer im Schuldienst tätigen Bediensteten zu tragen habe.
Mit der Entscheidung des Schulamtes, den Schüler
integrativ zu beschulen, sei ein Bedarf entstanden, der
nicht durch den Träger der Sozialhilfe, sondern allein
durch den Schulträger zu decken sei. Aufgrund der Erteilung der Zustimmung zur integrativen Beschulung
sei der Schulträger nicht befugt gewesen, die Übernah-
159
SOZIALHILFE
me der Personalkosten für den Einsatz von Integrationshelfern auszuschließen.
Das Verfahren 19 A 2962/02 betraf eine ähnliche Fallgestaltung. Der Schulträger hatte dem Besuch der
Grundschule unter dem Vorbehalt zugestimmt, dass die
Finanzierung einer Betreuungsperson während der
Schulzeit gesichert sei. Zunächst war als schulischer
Förderort eine Schule für geistig Behinderte bestimmt
worden. Für das 1. Schuljahr erfolgte die Finanzierung
durch eine Spende, zum Beginn des 2. Schuljahres hatten die Eltern einen Antrag auf Sozialhilfe gestellt.
Kostenerstattungspflicht des
Schulträgers?
Das VG Arnsberg hat die Klagen abgewiesen (Urteile
vom 20.03.2002 – Az. 10 K 1529/00 und 10 K 2035/
01), das OVG hat die erstinstanzlichen Entscheidungen bestätigt: Dem Sozialhilfeträger stehe der mit der
Klage geltend gemachte Erstattungsanspruch gegen den
Schulträger nicht zu.
1. Auf etwaige Kostenerstattungsansprüche des Schülers könne der Sozialhilfeträger sein Erstattungsbegehren schon deshalb nicht stützen, weil er einen vermeintlichen Anspruch des Schülers gegenüber dem
Schulträger nicht auf sich übergeleitet habe (Anmerkung: Zur Verwirklichung des für die Sozialhilfe geltenden Nachrangprinzips hat der Sozialhilfeträger die
Möglichkeit, Ansprüche des Hilfeempfängers gegenüber
anderen, vorrangig verpflichteten Dritten gemäß § 90
BSHG auf sich überzuleiten).
2. Ob die sachlichen Voraussetzungen für einen dem
Grunde nach bestehenden Erstattungsanspruch aus eigenem Recht nach den Grundsätzen der Geschäftsführung ohne Auftrag erfüllt seien oder sonst eine sonstige
Anspruchsgrundlage in Betracht komme, könne dahinstehen. Denn dem Erstattungsbegehren stehe der Einwand unzulässiger Rechtsausübung entgegen. Nach dem
Grundsatz von Treu und Glauben sei die Geltendmachung von Ansprüchen unzulässig, wenn sie
missbräuchlich erscheinen. Eine solche unzulässige
Rechtsausübung liege dann vor, wenn die Voraussetzungen eines Anspruchs in objektiv rechtswidriger Weise
begründet worden seien und der Anspruchsteller im
Falle der Durchsetzung des Anspruchs grundlos Rechtsvorteile erhielte. Das sei hier der Fall, weil die Entscheidung des Schulträgers über den sonderpädagogischen
Förderort objektiv rechtswidrig sei und der Sozialhilfeträger im Verhältnis zum Schulträger für die finanziellen Folgen der rechtswidrigen Entscheidung des Schulamtes aufzukommen habe.
160
3. Die Entscheidung des Schulamtes über den sonderpädagogischen Förderort sei objektiv rechtswidrig, weil
die Voraussetzungen für eine Unterrichtung des behinderten Schülers in der Grundschule nicht vorlagen.
Gemäß § 7 Abs. 2 Schulpflichtgesetz NRW könne in
der Primarstufe mit Zustimmung des Schulträgers die
sonderpädagogische Förderung auch in der Grundschule erfolgen, soweit die Grundschule hierfür über die erforderliche personelle und sächliche Ausstattung verfüge. Diese Voraussetzungen haben nicht vorgelegen,
weil die Grundschule nicht über die erforderliche personelle Ausstattung für die integrative Beschulung verfügte. Die Grundschule verfüge nur dann über die für
eine integrative Beschulung erforderliche personelle
Ausstattung, wenn die Integrationshelfer entweder
durch das Land NRW als Lehrer oder durch den
Schulträger als sonstige Bedienstete der Schule eingestellt worden seien.
4. Nach den Vorschriften des Schulfinanzgesetzes NRW
gehörten die Kosten für den Einsatz von Integrationshelfern in Grundschulen und in weiterführenden allgemeinen Schulen zu den Schulkosten, bei denen eine
ausschließliche Kostenträgerschaft des Landes NRW
oder der Schulträger bestehe. Dies lasse eine Kostenträgerschaft durch Dritte, insbesondere private Dritte,
nicht zu. Die Personalausgaben für den Einsatz von
Integrationshelfern seien Schulkosten i. S. des
Schulfinanzgesetzes NRW. Ohne ihren Einsatz hätte
der Schüler die Grundschule nicht besuchen können.
5. Der Zuordnung der Personalausgaben für die
Integrationshelfer zu den Schulkosten stehe nicht entgegen, dass die Kosten für eine Einzelbetreuung eines
Schülers über das gewöhnliche Maß der pädagogischpflegerischen Betreuung erheblich hinausgingen. Ebenso wenig stehe entgegen, dass die Kosten im Zusammenhang mit der Deckung eines – vom Schulbesuch
unabhängigen – allgemeinen Lebensbedarfes entstünden. Denn der allgemeine Lebensbedarfes eines Schülers sei kein zur Auslegung des Begriffs Schulkosten geeignetes Kriterium. Die Schule sei aufgrund ihres
Erziehungs- und Bildungsauftrages verpflichtet, in der
Schule einen „allgemeinen Lebensbedarf“ der Schüler
zu decken. Erziehung und Bildung durch die Schule
seien nämlich Teil des „allgemeinen Lebensbedarfs“
ihrer Schüler. Die im Schulorganisationsgesetz normierten Ziele verdeutlichten, dass die Unterscheidung zwischen einem vom Schulbesuch abhängigen Bedarf und
dem allgemeinen Lebensbedarf kein für die Bestimmung
der Schulkosten geeigneter Anknüpfungspunkt sei.
Rechtsdienst der Lebenshilfe 4/04
SOZIALHILFE
Integrationshilfeleistungen sind Schulkosten
Rechtsfolge der Zuordnung der Personalausgaben für
den Einsatz von Integrationshelfern zu den Schulkosten
sei, dass die Kosten vom Land NRW oder dem
Schulträger zu tragen seien. Eine Kostenträgerschaft
durch Dritte kenne das Schulfinanzgesetz nicht. Die
Aufnahme eines Schülers in den gemeinsamen Unterricht dürfe nicht von der Erklärung der Eltern abhängig gemacht werden, die Kosten für eine Einzelbetreuung selbst zu tragen. Der Einsatz von Integrationshelfern aufgrund eines Auftrags der Erziehungsberechtigten eines Schülers sei deshalb mit den Vorgaben des Schulfinanzgesetzes nicht vereinbar. Die ausschließliche Kostenträgerschaft des Landes oder des
Schulträgers in Bezug auf Personalkosten der Schule
diene dem Zweck, sicherzustellen, dass zur Erfüllung
des Erziehungs- und Bildungsauftrags der Schule nur
solche Lehrer und andere Bedienstete tätig seien, auf
deren Auswahl und konkrete Tätigkeit ein rechtlich hinreichend gesicherter Einfluss ausgeübt werden könne.
Darüber hinaus müsse ein hinreichend rechtlich gesichertes Weisungsrecht des Lehrers gegenüber dem
Integrationshelfer gewährleistet sein. Der Erziehungsund Bildungsauftrag der Schule werde gefährdet, wenn
es dem Lehrer nur über Dritte möglich sei, dem
Integrationshelfer verbindliche Anweisungen zu erteilen.
Keine Pflicht zum Einsatz von Integrationshelfern
Schließlich sei der Schulträger auch nicht verpflichtet
gewesen, die personellen Voraussetzungen für eine
integrative Beschulung des Schülers durch Begründung
eines Dienstverhältnisses mit Integrationshelfern zu
schaffen. Eine Verpflichtung zur Einstellung von Integrationshelfern ergebe sich nicht aus den schulrechtlichen Vorschriften. Die Verpflichtung des Schulträgers,
Grundschulen zu errichten, begründe keine Verpflichtung zur Schaffung der personellen Voraussetzungen
für die integrative Beschulung von Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Eine Pflicht der Beklagten zur Schaffung der Voraussetzungen für eine
integrative Beschulung lasse sich weiter nicht aus dem
Gemeindefinanzierungsgesetz 1999 herleiten. Der
Schulträger sei schließlich nicht aus verfassungsrechtlichen Gründen verpflichtet, die personellen Voraussetzungen für eine integrative Beschulung von Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf zu
schaffen.
Rechtsdienst der Lebenshilfe 4/04
Für integrative Beschulung besteht Finanzierungsvorbehalt
Zwar sei der Staat grundsätzlich gehalten, für behinderte Kinder und Jugendliche schulische Einrichtungen
bereitzuhalten, die auch ihnen eine angemessene schulische Erziehung, Bildung und Ausbildung ermöglichten. Staatliche Maßnahmen zum Ausgleich einer Behinderung oder Beeinträchtigung stünden allerdings
auch in Bezug auf die integrative Beschulung von Schülern unter dem Vorbehalt des finanziell, personell, sachlich und organisatorisch Möglichen. Die Überweisung
in eine Sonderschule, die der Schüler besuchen müsse,
wenn eine integrative Beschulung nicht in Betracht komme, stelle nur dann eine unzulässige Benachteiligung i.
S. des Grundgesetzes dar, wenn der Besuch der allgemeinen Schule durch einen vertretbaren Einsatz von
sonderpädagogischer Förderung ermöglicht werden
könne, was sich im vorliegenden Fall nicht feststellen
lasse.
Berücksichtigung von Gemeinschaftsbelangen
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts obliege dem Gesetzgeber ein gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbarer Einschätzungsspielraum bei
der Entscheidung über die Einführung über Möglichkeiten integrativer Beschulungen, weil er bei seinen
Entscheidungen auch andere Gemeinschaftsbelange
berücksichtigen und sich die Möglichkeit erhalten müsse, die nur begrenzt verfügbaren öffentlichen Mittel für
andere Belange einzusetzen, wenn er dies für erforderlich halte (BVerfG, Beschluss vom 08.10.1997 –
Az. 1 BVR 9/97 – RdLh 4/1997, S. 187 ff.). Ein solcher
Einschätzungsspielraum obliege auch dem Schulträger.
Dieser müsse bei seiner Entscheidung nicht nur die
grundrechtlichen Schutzwirkungen zugunsten der Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf, sondern
auch andere Gemeinschaftsbelange berücksichtigen und
abwägen. Der Träger der Schule habe eine Vielzahl von
Selbstverwaltungs- und Pflichtaufgaben zu erfüllen. Die
Haushaltswirtschaft sei so zu planen und zu führen, dass
die stetige Erfüllung ihrer Aufgaben gesichert sei. Angesichts der nur begrenzt zur Verfügung stehenden
gemeintlichen Mittel müsse der Träger Prioritäten setzen sowie unter Berücksichtung des Erfordernisses des
gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts die zahlreichen
Aufgaben und die ihr hieraus entstehenden finanziellen Aufwendungen in eine umfassende Gesamtplanung
einfügen.
161
SOZIALHILFE
Einzelfallprüfung erforderlich
Der Schulträger überschreite seinen Einschätzungsspielraum, wenn die Ablehnung, die personellen Voraussetzungen für eine integrative Beschulung zu schaffen, unter Berücksichtigung seiner finanziellen
Möglichkeiten den Verhältnissen des Einzelfalls ersichtlich nicht gerecht werde, weil der Besuch einer Sonderschule anstelle einer integrativen Beschulung in einer allgemeinen Schule für die Entwicklung des
jeweiligen Schülers offensichtlich nachteilig sei. Dies
lasse sich im vorliegenden Fall nicht feststellen. Es sei
nicht geltend gemacht, dass allein eine gemeinsame Unterrichtung an einer allgemeinen Schule gewährleiste,
dass der Schüler eine angemessene Schulausbildung erhalte.
Zustimmung zur Integration setzt Bereitschaft zur
Kostentragung voraus
Die Entscheidung des Kreisschulamtes über den schulischen Förderort sei auch deshalb rechtswidrig, weil
die erforderliche Zustimmung des Schulträgers zur
integrativen Beschulung nicht vorgelegen habe. Zwar
habe dieser seine Zustimmung erteilt, sie sei jedoch unwirksam. Die Zustimmung habe den Vorbehalt enthalten, dass der Schulträger keine Personalkosten für den
Einsatz von Integrationshelfern trage. Ein derartiger
Vorbehalt verstoße gegen höherrangiges Recht, weil der
Schulträger seine Zustimmung nur dann erteilen könne, wenn er zur Tragung der sächlichen und personellen Mehrkosten der gemeinsamen Unterrichtung eines
Schülers mit sonderpädagogischem Förderbedarf bereit
und in der Lage sei. Wenn zur gemeinsamen Unterrichtung von Schülern mit sonderpädagogischem
Förderbedarf der Einsatz von Lehrern nicht genüge,
sondern zusätzlich der Einsatz von Integrationshelfern
erforderlich sei, müsse der Schulträger außerdem prüfen und entscheiden, ob er die personellen Mehraufwendungen durch den Einsatz von Integrationshelfern
trage. Das Erfordernis der Zustimmung gemäß § 7 Abs.
2 und Abs. 4 Schulpflichtgesetz NRW habe den Zweck,
den Schulträger vor der Entscheidung über den
Förderort eines Schülers mit sonderpädagogischem
Förderbedarf die Prüfung zu ermöglichen, ob und inwieweit Mehrkosten bei der integrativen Beschulung
anfielen, und ob er bereit und in der Lage sei, die Mehrkosten zu tragen.
Nach Treu und Glauben seien die Folgen der objektiv
rechtswidrigen Entscheidung des Schulamtes über den
schulischen Förderort nicht dem Schulträger, sondern
dem Sozialhilfeträger zuzurechnen. Ansonsten würde
dieser grundlos einen Rechtsvorteil zu Lasten des
Schulträgers erhalten. Aus § 18 Abs. 8 Schulverwal162
tungsgesetz NRW folge, dass der Kläger für die finanziellen Folgen sämtlicher Entscheidungen des Schulamtes aufzukommen habe. Nichts anderes ergebe sich daraus, dass der Kläger als örtlicher Sozialhilfeträger bei
der Gewährung von Eingliederungshilfe an die Entscheidung des Schulamtes über den schulischen Förderort
gebunden sei. Die Bindungswirkung bestehe nur im
Verhältnis des Sozialhilfeträger zum Hilfeempfänger.
Landesgesetzgeber muss Voraussetzungen für
integrative Beschulung schaffen
Der Senat verkenne nicht, dass angesichts der gesetzlichen und verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht auszuschließen sei, dass Schulträger in Anbetracht der allgemeinen kommunalen Haushaltslage aus Kostengründen nur noch in Einzelfällen die in ihrem Ermessen
stehende Zustimmung zur integrativen Beschulung von
Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf erteilten und deshalb ein Rückgang der an sich wünschenswerten integrativen Beschulung zu verzeichnen sein
könnte, obwohl die integrative Beschulung gemäß § 7
Abs. 1 Satz 2 Schulpflichtgesetz NRW gleichrangig neben der sonderpädagogischen Förderung in einer Sonderschule stehe. Es sei Sache des Landesgesetzgebers,
entweder das Land oder die Schulträger zu verpflichten, die personellen und sonstigen finanziellen Voraussetzungen für eine integrative Beschulung von Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf zu
schaffen. Gegen die Entscheidungen hat der Senat die
Revision nicht zugelassen.
Bewertung
Die Urteile stellen eine Kehrtwende in der Rechtsprechung des OVG zur Integrationshilfe in der Schule dar.
Ziemlich genau vier Jahre vorher hatte der gleiche Senat für den gleichen Schüler die Stellung eines
Integrationshelfers rechtlich als Eingliederungshilfe
nach dem BSHG bewertet und eine vorrangige
Leistungspflicht des Schulträgers verneint. Jetzt wendet der Senat das Territorialitätsprinzip an: Soweit und
solange es um Integrationshilfe in der Schule gehe, sei
dies Angelegenheit des Schulträgers, dem im Falle der
Zuerkennung des Anspruchs auch die Kostentragungspflicht obliege. Die Entscheidung über die Bereitstellung einer Integrationshilfe stehe im Ermessen des
Schulträgers, der fiskalische Gesichtspunkte berücksichtigen darf.
Angesichts leerer Haushaltskassen wird damit de facto
vielen behinderten Schülern in NRW der Zugang zur
allgemeinbildenden Schule massiv erschwert. Schon die
Notwendigkeit der Hilfe für den Toilettengang kann das
Aus für die integrative Beschulung bedeuten. Jetzt ist
Rechtsdienst der Lebenshilfe 4/04
SOZIALHILFE
der Landesgesetzgeber gefordert. Ansonsten würde der
viel beschworene Paradigmenwechsel in der Behindertenhilfe durch die Schaffung von SGB IX und Gleichstellungsgesetzen geradezu konterkariert. Die Weichen
für eine möglichst umfassende Teilhabe am Leben in
der Gesellschaft werden in der Kindheit gestellt.
Kein Anspruch gegen die Schulverwaltung auf Bereitstellung eines Integrationshelfers
OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 16.07.2004 – Az: 12 A 10701/04.OVG
Der im Juni 1995 geborene Schüler leidet an Autismus
verbunden mit einer leichten Intelligenzminderung und
Verhaltensstörungen in Form von Angstzuständen. Den
Antrag auf Kostenübernahme für einen Integrationshelfer als schulbegleitende Maßnahme in der Grundschule lehnte der Jugendhilfeträger mit der Begründung
ab, dass Leistungen der Schulverwaltung gegenüber der
Jugendhilfe vorrangig seien. Im gerichtlichen Eilverfahren wurde daraufhin der Jugendhilfeträger verpflichtet, dem Schüler vorläufig die Kosten für einen Integrationshelfer zum Besuch der Schule zu gewähren.
Mit der Klage macht der Jugendhilfeträger im Wesentlichen geltend, dass es sich bei den Kosten des
Integrationshelfers um Schulkosten handele. Die Schulbehörde sei verpflichtet, Kinder mit Lernschwierigkeiten und Lernstörungen in der Grundschule besonders
zu fördern. Die Schule selbst habe einen uneingeschränkten Integrationsauftrag für behinderte Kinder.
Die Förderpflicht nach dem Schulgesetz gehe Leistungen nach dem SGB VIII vor. Die Entscheidung einer
Schulbehörde, Kinder, die einer besonderen Förderung
bedürften, in einer Regelschule auf Kosten der Jugendhilfe zu unterrichten, greife unzulässig in die
Selbstverwaltungsgarantie des Landkreises nach Art.
28 Grundgesetz ein. Ihm fehlten so die Mittel für die
Erfüllung weiterer Selbstverwaltungsaufgaben. Schon
jetzt könne der Kreis seine Selbstverwaltungsaufgaben
wegen des defizitären Haushaltes nicht alle erfüllen.
Das OVG hat die erstinstanzliche Entscheidung des
VG Neustadt an der Weinstraße vom 26.02.2004 (Az.
2 K 2673/03.NW) bestätigt und einen Anspruch gegen
die Schulver waltung auf Bereitstellung eines
Integrationshelfers oder auf Übernahme der dadurch
bedingten Kosten zum Besuch der Grundschule verneint. Zunächst lasse sich aus den landesrechtlichen
Schulgesetzen keine dahin gehende Verpflichtung her-
leiten. Auch seien Beschränkungen der Selbstverwaltung mit Art. 28 Grundgesetz vereinbar, soweit sie deren Kernbereich unangetastet ließen. Die zum Kernbereich zählende Finanzausstattungsgarantie sei erst
dann verletzt, wenn das Selbstverwaltungsrecht ausgehöhlt und einer sinnvollen Betätigung der Selbstverwaltung die finanzielle Grundlage entzogen werde. Eine
Verletzung der Finanzausstattungsgarantie im oben beschriebenen Sinne liege nicht vor.
Kritik an der gegenwärtigen Rechtslage
Schließlich stehe dem Kläger auch kein Erstattungsanspruch zu, weil er nach dem SGB VIII kompetenzmäßige Hilfe leiste. Der Senat verkenne allerdings nicht,
dass die geltende Rechtslage für die Träger der Sozialhilfe und der öffentlichen Jugendhilfe unbefriedigend
sei. Die vermehrte integrative Unterrichtung behinderter Kinder außerhalb von Sonderschulen führe zu einer
Kostenverlagerung aus dem Bereich der Schulverwaltung auf die Träger der Sozialhilfe und der öffentlichen
Jugendhilfe. Dem könne dadurch Rechnung getragen
werden, indem weitergehende Förderverpflichtungen
der Schule oder Erstattungsverpflichtungen des Landes
eingeführt werden. Andernfalls werde zu prüfen sein,
in wieweit das Land nach seiner Verfassung den Gemeinden und Gemeindeverbänden die zur Bereitstellung von Integrationshelfern erforderlichen Mittel im
Wege des Lasten- und Finanzausgleichs zu sichern habe.
Anmerkung
Vergleiche hierzu auch die vorstehend erläuterten und
im Ergebnis anders lautenden Urteile des OVG für das
Land NRW.
(Sch)
Autismustherapie als Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung
OVG Lüneburg, Beschluss vom 19.04.2004 – Az: 12 ME 78/04
Der 1992 geborene und an frühkindlichem Autismus
leidende Antragsteller begehrt im Wege der einstweiligen Anordnung die Gewährung einer ambulanten
Autismustherapie als Hilfe zu einer angemessenen
Rechtsdienst der Lebenshilfe 4/04
Schulbildung im Sinne der §§ 39, 40 Abs. 1 Nr. 4 BSHG.
Die Vorinstanz (Urteil des VG Braunschweig vom
03.02.2004, Az. 3 B 384/03) hatte entschieden, dass es
sich bei der vom Antragsteller begehrten Autismus163
SOZIALHILFE
therapie um eine Leistung zur Teilnahme am Leben in
der Gemeinschaft im Sinne der §§ 40 Abs. 1 Nr. 8 BSHG
i. V. m. § 55 SGB IX handele, die nur einkommensabhängig zu gewähren sei.
Das OVG hat dem Antrag stattgegeben und den Leistungsträger zur einkommensunabhängigen Hilfeleistung
verpflichtet. Entgegen der Einschätzung des Verwaltungsgerichtes handele es sich vorliegend um eine Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung. Wie das Gericht bereits in seiner Entscheidung vom 17.12.2002 (vgl.
RdLh 1/03, S. 17 f.) entschieden habe, genüge für die
Annahme einer Verpflichtung des Sozialhilfeträgers, die
Kosten einer Autismustherapie als Eingliederungshilfeleistung i. S. der §§ 39, 40 Abs. 1 Nr. 4 BSHG zu
übernehmen, wenn diese Therapie als heilpädagogische
Maßnahme erforderlich und geeignet sei, den Schulbesuch im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht in dem
Sinn zu erleichtern, dass das betroffene Kind in die Lage
versetzt werde, die Schule erfolgreicher zu besuchen.
Dass diese Voraussetzung erfüllt sei, könne jedenfalls
für das Eilverfahren mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit angenommen werden.
Bei dem Anspruch handele es sich um eine sog. MussLeistung. Der zunächst nur begrenzte Leistungszeitraum
ermögliche eine zeitnahe Erfolgskontrolle. Im Übrigen
müsse die eingliederungshilferechtliche Behandlung von
Autismustherapien bei schulpflichtigen behinderten
Kindern und Jugendlichen nicht stets als Hilfe zu einer
angemessenen Schulbildung qualifiziert werden. Voraussetzung hierfür sei vielmehr einerseits eine genaue
Untersuchung des bestehenden individuellen
Förderbedarfs und dessen Abdeckung durch die jeweils
besuchte Einrichtung, andererseits die Geeignetheit und
Erforderlichkeit der Therapie für einen jedenfalls erleichterten bzw. erfolgreicheren Schulbesuch. Weiterhin müsse auch der Gesichtspunkt einer etwaigen Überforderung des behinderten Kindes oder Jugendlichen
durch mehrere Therapieformen Berücksichtigung finden. Diese Gesichtspunkte seien jedoch im Eilverfahren
nicht zu prüfen.
Anmerkung
Die Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung sind
ab dem 01.01.2005 in § 54 Abs. 1 Nr. 1 SGB XII geregelt. Die Vorschrift ist weitgehend unverändert aus dem
BSHG übernommen worden. Die einkommensunabhängige Leistungsgewährung bei Vorliegen der
Tatbestandsvoraussetzungen ergibt sich ab 01.01.2005
aus § 92 Abs. 2 Nr. 2 SGB XII.
(Sch)
Zur Leistungspflicht der Sozialhilfe für Brillengläser
Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 02.09.2004 – Az: 12 CE 04.979 und
VG Regensburg, Beschluss vom 27.05.2004 – Az: RO 8 E 04.1007
Bedürftige können auch weiterhin einen Anspruch darauf haben, dass ihre Kosten für Brillengläser durch das
Sozialamt getragen werden. Das haben der Bayerische
VGH und das VG Regensburg in den o.g. Beschlüssen
festgestellt.
Dem beim Bayerischen VGH anhängigen Verfahren lag
folgender Sachverhalt zugrunde: Der Antragsteller ist
im Alltagsleben und bei der Arbeit nach fachärztlichem
Attest auf eine Bifocalbrille (Brillengläser mit Leseteil)
angewiesen. Sein Sehfehler liegt bei mehr als 4 Dioptrien. Der Antragsteller bezieht Arbeitslosenhilfe und erhält vom Sozialamt ergänzende Sozialhilfe. Das Sozialamt hatte die Kostenübernahme für die Brillengläser
in Höhe von 212 EURO abgelehnt, weil nach § 1 der
Regelsatzverordnung seit dem 1. Januar 2004 die Kosten für Brillengläser aus dem Sozialhilfe-Regelsatz zu
bestreiten seien.
Das VG München hatte den Sozialhilfeträger mit
Beschluss vom 17.03.2004 (Az. M 15 E 04.736) verpflichtet, die Kosten für die Brillengläser vorläufig als Darlehen zu gewähren.
164
Brillengläser zählen zum notwendigen
Lebensunterhalt
Nach Ansicht des VGH hat der sozialhilfebedürftige
Antragsteller nicht nur einen Darlehensanspruch, sondern einen weitergehenden Anspruch auf Gewährung
von Hilfe zum Lebensunterhalt in Form einer einmaligen Geldleistung für die Kosten der Brillengläser (§§
11, 12, 21 Abs. 2 BSHG). Die Brillengläser gehörten
zum notwendigen Lebensunterhalt i. S. von § 12 BSHG.
Gemäß § 21 Abs. 2 Satz 1 BSHG seien einmalige Leistungen auch zu gewähren, wenn der Hilfesuchende
zwar keine laufenden Leistungen zum Lebensunterhalt
benötige, den Lebensunterhalt jedoch aus eigenen Kräften und Mitteln nicht voll beschaffen könne. Nach § 1
Abs. 1 Satz 2 der Regelsatzverordnung gehörten zu den
persönlichen Bedürfnissen des täglichen Lebens auch
die laufenden Leistungen u. a. für Kosten bei Krankheit. Der Gesetzgeber habe mit den am 1. Januar 2004
in Kraft getretenen Neuregelungen deutlich gemacht
und klargestellt, dass u.a. notwendige Sehhilfen vom
Leistungskatalog des BSHG erfasst werden, bzw. dass
Rechtsdienst der Lebenshilfe 4/04
SOZIALHILFE
es sich um einen sozialhilferechtlich anzuerkennenden
Bedarf handele, der durch Leistungen des Sozialhilfeträgers zu decken sei. Insofern sei es unerheblich, dass
einem Sozialhilfeempfänger diese Leistungen nicht
mehr wie bisher als Leistungen der „Hilfe bei Krankheit“ gemäß §§ 36 bis 38 BSHG, sondern als Leistungen der „Hilfe zum Lebensunterhalt“ gewährt werden.
Der notwendige Bedarf bestimmt sich
nicht nach dem Recht der Krankenversicherung
Der Umstand, dass die gesetzlichen Krankenkassen diese Leistung ihren Versicherten nicht mehr gewährten,
diene deren finanzieller Entlastung, um das System der
gesetzlichen Krankenversicherung aufrecht zu erhalten.
Eine Begrenzung oder Minderung der von den
Sozialhilfeträgern zu erbringenden Leistungen habe der
Gesetzgeber mit den Neuregelungen nicht gewollt. Die
Hilfe zum notwendigen Lebensunterhalt habe den im
Einzelfall notwendigen Bedarf in voller Höhe zu befriedigen. Deshalb könne es auch nicht darauf ankommen, welche Kosten von der gesetzlichen Krankenkasse nach früherer Rechtslage übernommen worden seien.
Maßgebend sei allein der tatsächlich notwendige Bedarf.
Der Senat ist der Überzeugung, dass Art. 29 des Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GMG) mit § 22 Abs. 1 BSHG nicht vereinbar und § 1 Abs. 1 Satz 2 der Regelsatzverordnung
deshalb nicht anwendbar ist.
Der von der Landesregierung gemäß § 22 Abs. 2 BSHG
festgesetzte Regelsatz decke entgegen Art. 29 GMG keine einmaligen Bedarfe ab. Der Verordnungsgeber konnte und kann „Leistungen für Kosten bei Krankheit“ bei
der Festsetzung der Regelsätze nicht berücksichtigen.
Nach § 22 Abs. 3 Satz 1 BSHG seien die Regelsätze so
zu bemessen, dass der laufende Bedarf dadurch gedeckt
werden könne. Eine Regelsatzleistung, mit der auch einmalige Bedarfe abgedeckt werden, gebe es nicht und
könne nach der geltenden Rechtslage nicht festgesetzt
werden. Für das geltende Recht regele Art. 29 GMG
folglich etwas nicht Mögliches. Die Vorschrift sei mit §
22 BSHG nicht zu vereinbaren, da sie mit dem
Leistungssystem des Bundessozialhilfegesetzes nicht in
Einklang zu bringen sei. Zu den Gegebenheiten, die
bei der Gestaltung eines Gesetzes beachtet werden
müssten, gehöre auch die Rücksichtnahme auf die gebotene Einheit der Rechtsordnung. Die Rechtsordnung
dürfe nicht in sich widersprüchlich sein.
Neue Regelsatzverordnung ist mit dem
BSHG nicht vereinbar
Die Änderung des § 1 Abs. 1 Satz 2 der Regelsatzverordnung durch Art. 29 GMG bringe eine gesetzliche Ungereimtheit mit sich. Nach dem bisherigen
Leistungssystem des BSHG würden nur die laufenden
Leistungen zum Lebensunterhalt nach Regelsätzen gewährt, wobei die Regelsätze so zu bemessen seien, dass
der laufende Bedarf und nicht der einmalige Bedarf dadurch gedeckt werden könne. Nach dem gesetzgeberischen Willen sollen nunmehr auch alle im Einzelfall
nicht mehr von der Krankenkasse gewährten medizinischen Leistungen und damit auch einmalige Bedarfe
von Beziehern von laufender Hilfe zum Lebensunterhalt aus den ihnen gewährten Regelsätzen bestritten
werden. Der Gesetzgeber belaste damit die Regelsätze
mit Anteilen einmaliger Leistungen der Krankenhilfe
und habe dazu keinerlei Regelungen über eine etwaige
Anpassung der Regelsätze getroffen. Das sei systemwidrig und widersprüchlich.
Nach allem weiche der Gesetzgeber mit § 1 Abs. 1 Satz
2 der Regelsatzverordnung von dem Leistungssystem
der §§ 21 und 22 BSHG ab, ohne dieses zu ändern. Die
Vorschrift sei mit dem BSHG nicht vereinbar. Die Abweichung von einem sonst befolgten Prinzip indiziere
einen Verstoß gegen das Gleichheitsgebot. Der Zwang,
Geld zu sparen, berechtige nicht dazu, eine systemwidrige Abweichung vorzunehmen, sondern mache es
erforderlich, das ganze System zu korrigieren.
Der VGH sieht nur im Hinblick darauf, dass es sich um
ein Verfahren des vorläufigen Rechtschutzes handelt,
von einer Vorlage nach Art. 100 GG zum Bundesverfassungsgericht ab.
Auch das VG Regensburg hat den Sozialhilfeträger zur
Kostenübernahme verpflichtet. Die Antragstellerin habe
einen Anspruch auf eine einmalige Leistung der Sozialhilfe für die Anschaffung einer neuen Brille. Sie könne die angemessenen Kosten für die erforderliche Anschaffung einer neuen Brille im Rahmen der Hilfe zum
Lebensunterhalt geltend machen. Die Versorgung mit
einer notwendigen Sehhilfe gehöre zu den elementaren Bedürfnissen, deren Befriedigung Aufgabe der Hilfe zum Lebensunterhalt sei.
Die Kosten für die erforderliche Anschaffung einer Brille
aus dem Regelsatz aufzubringen, würde Sinn und Zweck
des Rechtsinstitutes „Regelsatz“ zuwider laufen, der lediglich den laufenden Bedarf decken solle.
Der Höhe nach sei der Anspruch beschränkt auf die
notwendige Bedarfsdeckung. Es sei davon auszugehen,
dass eine ausreichende Versorgung mit den Festbeträ-
Rechtsdienst der Lebenshilfe 4/04
165
SOZIALHILFE/GRUNDSICHERUNG
gen gewährleistet werde, die im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung gelten. Nach der vom Gericht eingeholten Auskunft beliefen sich die Festbeträge für die der Antragstellerin zustehenden
Bifokal-Gläser auf ca. 80 EURO. Zu diesem Preis seien
die Gläser auch tagsächlich bei den großen Optikanbietern erhältlich. Setze man die Kosten für ein einfaches Brillengestell mit ca. 20 EURO an, so ergebe sich
ein der Antragstellerin zu gewährender Betrag von 100
EURO.
Anmerkung
Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof kritisiert in beachtenswerter Deutlichkeit die Gesetzgebungstätigkeit
des Gesetzgebers im Rahmen der jüngsten Gesundheitsreform. Im Hinblick auf Sozialhilfeempfänger sei unpraktikables Recht geschaffen worden (vgl. hierzu auch
den Beitrag im Rechtsdienst der Lebenshilfe Nr. 3/04,
S. 123 ff.: Das Dilemma der Rechtsprechung zur Kostenübernahme von Gesundheitsleistungen durch die
Sozialhilfe).
Das vom Gericht angesprochene Leistungssystem des
BSHG mit der Unterscheidung zwischen laufenden
Leistungen (Regelsatz) und einmaligen Bedarfen wird
im Rahmen der Einordnung der Sozialhilfe in das
Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) geändert.
Gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 SGB XII wird künftig der
gesamte Bedarf des notwendigen Lebensunterhalts mit
Ausnahme von Leistungen für Unterkunft und Heizung
und der Sonderbedarfe nach den §§ 30 bis 34 SGB XII
nach Regelsätzen erbracht. Nach Abs. 3 Satz 1 der Vorschrift werden die Regelsätze so bemessen, dass der
Bedarf nach Abs. 1 dadurch gedeckt werden kann. Da
nicht davon ausgegangen werden kann, dass Sehhilfen
im Wert von mehreren 100 EURO wie im vorliegenden
Fall von den Regelsätzen erfasst werden, dürfte nach
neuem Recht für derartige Fallkonstellationen § 28 Abs.
1 Satz 2 SGB XII gelten: Danach werden die Bedarfe
u.a. abweichend festgelegt, wenn im Einzelfall ein Bedarf unabweisbar seiner Höhe nach erheblich von dem
durchschnittlichen Bedarf abweicht.
(Sch)
Keine Anrechnung des Kindergeldes auf Leistungen der Grundsicherung
Niedersächsisches OVG, Urteil vom 30.09.2004 – Az: 12 LC 144/04 (nicht rechtskräftig,
Revision ist eingelegt)
Die Klägerin ist eine vollerwerbsunfähige Behinderte,
die im Haushalt ihrer Eltern lebt. Der beklagte Landkreis Gifhorn gewährt ihr Leistungen nach dem Grundsicherungsgesetz unter Anrechnung des für sie an ihre
Eltern gezahlten Kindergeldes. Der hiergegen gerichteten Klage hat das Verwaltungsgericht Braunschweig mit
Urteil vom 11.03.2004 (Az. 3 A 406/03) mit der Begründung stattgegeben, Kindergeld sei Einkommen der
Eltern, nicht des Kindes, und könne nur dann angerechnet werden, wenn es in einem gesonderten, zweckorientierten Zuwendungsakt weitergegeben werde.
Die vom Verwaltungsgericht wegen grundsätzlicher
Bedeutung der Rechtssache zugelassene Berufung des
Beklagten hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht zurückgewiesen. Es hat sich der Auffassung angeschlossen, dass das nach § 31 EStG und §§ 62 ff.
EStG gezahlte Kindergeld nicht Einkommen des Kindes sei, für das es gezahlt werde, sondern es sich grundsätzlich um Einkünfte des Kindergeldberechtigten,
d. h. regelmäßig der Eltern, handele. Nach der – zur
Berücksichtigung von Kindergeld bei Sozialhilfeleistungen – ergangenen Rechtsprechung des Bundes166
verwaltungsgerichts hänge die Möglichkeit, Kindergeld
als Einkommen des Kindes auf gewährte Sozialleistung
anrechnen zu können, davon ab, ob im Einzelfall die
zweckorientierte, mit Rücksicht auf das Kind dem jeweils Anspruchsberechtigten gewährte Sozialleistung an
das Kind weitergereicht werde, ihm also zugewendet
werde. Voraussetzung für die Anrechnung sei daher die
unverzichtbare Feststellung, dass die zweckorientierte
Leistung dem Kind zugewendet werde. Das sei nicht
schon dann der Fall, wenn das Kindergeld dem Kind
im Rahmen des ihm im Haushalt gewährten Familienunterhalts als Naturalleistung, wie z. B. Unterkunft, Kost
oder Bekleidung, zugute komme. Es genügt deshalb
nicht, dass das Kindergeld in einen „gemeinsamen Topf“
fließe, aus dem der Aufwand für den Lebensunterhalt
der Haushaltsgemeinschaft insgesamt bestritten werde.
Erforderlich sei vielmehr, dass der Lebensunterhalt des
Kindes gerade mittels des zweckorientierten und mit
Rücksicht auf das Kind gewährten Kindergelds, d. h.
gerade aus dem Kindergeld, bestritten werde. Diese
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts
(BVerwGE 60, 18 ff.) sei auf die EinkommensanRechtsdienst der Lebenshilfe 4/04
GRUNDSICHERUNG
rechnung bei Leistungen nach dem Grundsicherungsgesetz übertragbar.
Die Vermutung der Vorteilszuwendung könne auch
nicht auf eine entsprechende Anwendung von § 16
BSHG gestützt werden. Denn die im Gesetzentwurf
noch vorgesehene Verweisung auf diese Rechtsvorschrift
sei im Gesetzgebungsverfahren gestrichen worden
(ebenso: VGH München, Urteil vom 09.02.2004, Az.
12 B 03.2299).
Auch aus der künftigen Gesetzeslage nach § 82 Abs. 1
Satz 2 SGB XII könne eine Anrechnung des Kindergelds nicht abgeleitet werden, da diese nur für Minderjährige, aber nicht für volljährige Grundsicherungsbezieher gelte.
Darüber hinaus halte es der Senat nicht für zulässig,
die Entscheidung des Gesetzgebers, Unterhaltsansprüche behinderter Kinder gegenüber ihren Eltern in
den Fällen des § 2 Abs.1 S.3 GSiG nicht zu berücksichtigen, dadurch zu unterlaufen, dass Teile des Elterneinkommens, wie etwa das Kindergeld oder der Ortszuschlag, unabhängig von der Einkommenshöhe auf die
nach dem Grundsicherungsgesetz gewährten Leistungen angerechnet würden.
Für die Nichtanrechnung des Kindergelds spreche auch
ein Vergleich zu den stationär untergebrachten Behinderten. Diesen verbliebe der Kindergeldanspruch, ihr
Unterhaltsbeitrag sei auf 26 EURO beschränkt. Eine
Anrechnung des Kindergelds benachteilige daher finanziell erwachsene Behinderte, die von ihren Eltern zu
Hause betreut werden. Dies könne auch einen ökonomischen Anreiz für eine stationäre Unterbringung bedeuten, die der Gesetzgeber verhindern wollte (BR-Drs.
764/00).
Die abweichende Ansicht des OVG NRW (Beschluss
vom 02.04.04, Az.12 B 1577/03), das Kindergeld sei
zwar nicht als Einkommen, wohl aber bedarfsmindernd
zu berücksichtigen, vermöge nicht zu überzeugen. Die
nicht näher belegte Annahme, bei „lebensnaher Betrachtung“ liege eine tatsächliche Unterhaltsgewährung in
Höhe gerade des Kindergeldes vor und begründe faktisch eine „unwiderlegbare Vermutung der Vorteilszu-
wendung“, sei mit der Rechtsprechung des BVerwG
nicht vereinbar, wonach das Kindergeld keine zu einem ausdrücklichen Zweck gewährte Leistung i. S. d. §
77 Abs.1 BSHG sei, (Urteil vom 22.12.98, BVerwGE
108, 222). Für den Fall der Erziehung eines Kindes in
einer betreuten Wohnform habe das BVerwG entschieden, dass im Rahmen eines fortbestehenden Eltern/
Kindkontaktes auch eine Heimunterbringung Raum
gebe für eine besondere Zweckbestimmung des Kindergelds, zur wirtschaftlichen Entlastung der kindbedingten Mehrkosten der allgemeinen Lebensführung
beizutragen. Dies gelte in gleicher Weise, wenn das Kind
mit den Eltern in häuslicher Gemeinschaft lebt. In diesem Fall seien die von den Eltern zu tragenden Aufwendungen (z. B. für gemeinsame Unternehmungen,
erhöhte Haushaltskosten, Kosten für Fahrten zu Ärzten und Therapien) regelmäßig erheblich höher als bei
einer Heimunterbringung.
Die Anrechnung von Kindergeld sei auch nicht, wie
nach Ansicht des OVG NRW, geboten, um eine nicht
gerechtfertigte Besserstellung gegenüber Grundsicherungsbeziehern zu vermeiden, an die das Kindergeld nach § 74 Abs. 1 EstG unmittelbar ausgezahlt werde. Dass behinderte volljährige Kinder, deren Eltern
ihrer Unterhaltspflicht nachkommen, materiell besser
gestellt seien, sei zwar zutreffend. Derartige Unterschiede wurzelten jedoch ausschließlich im familiären Bereich, es sei aber nicht Aufgabe des Grundsicherungsgesetzes, diese Unterschiede zu nivellieren.
Die von dem Beklagten geltend gemachte Verfassungswidrigkeit des Grundsicherungsgesetzes aufgrund der
Regelung des § 4 GSiG sei nicht entscheidungserheblich,
da die dort getroffene Zuständigkeitszuweisung landesrechtlich überlagert sei durch § 1 des niedersächsischen
Ausführungsgesetzes zum Grundsicherungsgesetz
(NdsAG-GSiG), der die Zuständigkeit der Leistungsgewährung auch dem Beklagten zugewiesen habe. Die
finanziellen Folgen würden im Rahmen des kommunalen Finanzausgleichs nach § 2 NdsAG-GSiG berücksichtigt.
(We)
Grundsicherungsanspruch für Schüler
VG Halle, Urteil vom 23.08.2004 – Az: 4 A 266/04 HAL
Die Klägerin ist geistig behindert, sie erhält Leistungen wegen Pflegebedürftigkeit der Pflegestufe 2 und
hat einen Schwerbehindertenausweis mit den Merkzeichen G, H und RF. Es wurde nach Volljährigkeit
noch während der Schulzeit ein Antrag auf Grundsicherungsleistungen für sie gestellt. Dies wurde von
dem beklagten Grundsicherungsamt abgelehnt, da der
Antragsberechtigung der Klägerin nach § 1 Nr. 2 GSiG
der Besuch einer Sonderschule für geistig Behinderte
entgegenstehe. Dies ergebe sich im wesentlichen aus
Rechtsdienst der Lebenshilfe 4/04
einer vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung herausgegebenen Broschüre. Dort sei
ausgeführt, dass bei behinderten jungen Menschen, die
das 18. Lebensjahr vollendet hätten, von einer Erwerbsminderung und damit von einer Antragsberechtigung
im Sinne der Grundsicherung noch nicht auszugehen
sei, solange sich diese Menschen in Schul- oder Berufsausbildung befänden.
167
GRUNDSICHERUNG/GESETZLICHE KRANKENVERSICHERUNG
Dieser Auffassung folgte das Verwaltungsgericht nicht.
Zu dem Personenkreis des § 1 Nr. 2 GSiG gehörten
Personen, bei denen das Kriterium der Dauerhaftigkeit
der vollen Erwerbsminderung vorliegen müsse, sodass
der Betroffene auf Dauer nicht in der Lage sei, seine
Arbeitskraft zum Erwerb des Lebensunterhaltes einzusetzen. Weitere Voraussetzungen bestünden für die
Antragsberechtigung nicht. Nach den vorgelegten Unterlagen sei ersichtlich, dass bei der Klägerin eine volle
Erwerbsminderung vorliege, da sie vermutlich nicht in
der Lage sei, auf Grund der Schwere ihrer Behinderung in einer Werkstatt für behinderte Menschen beschäftigt zu werden. Da die Eltern der Klägerin ihr
gleichwohl die Teilnahme an einer Sonderschule ermöglicht hätten, dürfe die Klägerin nicht gegenüber solchen
Behinderten benachteiligt werden, die über eine ähnliche Grunderkrankung verfügten, bei denen aber mangels Erfolgsaussicht von dem Besuch einer Sonderschule
abgesehen werde, die dann aber nach Auffassung der
Beklagten antragsberechtigt für Grundsicherungsleistungen seien. Vor diesem Hintergrund bestünde auch
für die Klägerin für die Zeit des Schulbesuchs ein Anspruch auf Leistung nach dem Grundsicherungsgesetz.
Hierbei dürfe das ausgezahlte Kindergeld in Höhe von
monatlich 154 EURO nicht als Einkommen der Klägerin bedarfsmindernd in Einsatz gebracht werden.
(Mitgeteilt von Rechtsanwalt Döpke, Lutherstadt Eisleben)
Zur häuslichen Krankenpflege in Wohngemeinschaften
LSG Berlin, Urteil vom 05.05.2004 – Az: 9 KR 759/01
Die 1931 geborene Klägerin bedarf infolge eines im Jahre 1999 erlittenen Schlaganfalls der Pflege. Sie bewohnt
in einer insgesamt 145 qm großen Wohnung ein 14 qm
großes Zimmer. Neben der Klägerin wohnen in der
Wohnung regelmäßig fünf weitere Menschen, die, wie
die Klägerin, ebenfalls pflegebedürftig sind. Alle Bewohner der Wohngemeinschaft zahlen ein monatliches Entgelt in eine Haushaltskasse. Aus dieser Kasse werden
u. a. die Lebensmitteleinkäufe bezahlt. Soweit sie dazu
gesundheitlich in der Lage sind, nehmen die Bewohner am Einkauf und auch an der Zubereitung der Speisen teil. Über die Ausstattung und Möblierung der Wohnung entscheiden sie allein, ebenso darüber, wer bei
Auszug oder Tod eines Bewohners neu einzieht. Die
Tagesstrukturierung erfolgt entsprechend den individuellen Wünschen und Bedürfnissen. Durch den Mietvertrag ist der Vermieter neben der Überlassung des Gebrauchs der Mietsache lediglich zur ordnungsgemäßen
Instandhaltung und Instandsetzung der Mietsache verpflichtet.
Wegen eines Stauungsekzems erhielt die Klägerin aufgrund ärztlicher Verordnung häusliche Krankenpflege
in Form von Behandlungspflege. Die beklagte Krankenkasse lehnte die Übernahme der Kosten mit der Begründung ab, dass Behandlungspflege nur in dem eigenen Haushalt des Versicherten gewährt werden könne.
Bewohner therapeutischer Wohngemeinschaften führten jedoch keinen eigenen Haushalt, so dass Leistungen der häuslichen Krankenpflege nicht gewährt werden könnten.
168
Eigener Haushalt in Wohngemeinschaft
möglich
Das SG Berlin hat die hiergegen gerichtete Klage mit
Urteil vom 23.07.2001 abgewiesen (Az. S 87 KR 803/
01). Die Klägerin verfüge über keinen eigenen Haushalt, da ein solcher schon begrifflich ein gewisses Maß
an eigenwirtschaftlichem Haushalten voraussetze, wozu
die Klägerin aber nicht fähig sei. Das LSG hat der Berufung stattgegeben und die Krankenkasse zur Kostenerstattung für die Behandlungspflege verurteilt. Denn
die Klägerin habe die Behandlungspflege in ihrem eigenen Haushalt erhalten. Das von der Klägerin angemietete Zimmer sowie die von ihr genutzten Gemeinschaftsflächen seien ihr Haushalt im Sinne des Gesetzes.
Nach Ansicht des Senats ist nicht Voraussetzung für
die Gewährung von Behandlungspflege als häusliche
Krankenpflege, dass ein gewisses Maß an eigenwirtschaftlichem Haushalten gegeben sein müsse. Diese
Auffassung hätte zur Folge, dass Versicherte wegen der
möglicherweise fehlenden Fähigkeit, eigenverantwortlich Entscheidungen zu treffen, Behandlungspflege
selbst in ihrer eigenen Wohnung nicht erhalten könnten. Dies würde u.a. dem gesetzgeberischen Zweck des
Betreuungsrechts, dem zu Betreuenden ein Höchstmaß
an Autonomie zu belassen, widersprechen.
Bei der Umschreibung des Aufenthaltsortes des Versicherten im Rahmen der Behandlungspflege sei es dem
Gesetzgeber vor allem um die Abgrenzung zur
Leistungserbringung im stationären Bereich gegangen.
Der Anspruch des Versicherten auf Behandlungspflege
Rechtsdienst der Lebenshilfe 4/04
GESETZLICHE KRANKENVERSICHERUNG
könne deshalb ebenso wie im Bereich der Pflegeversicherung nicht davon abhängen, ob er sich zu Hause aufhalte. Im Hinblick auf den vorrangigen Zweck
der Behandlungspflege, das Ziel der ärztlichen Behandlung zu sichern, sei der Aufenthaltsort des Versicherten
– sofern nicht Krankenhausbehandlung oder vollstationäre Pflege vorliegen – ohne Belang. Dies sei hier
der Fall, da die der Klägerin gewährte Behandlungspflege nicht in einem Krankenhaus und auch nicht im
Rahmen einer Heimpflege erfolge.
Die Heimunterbringung setze schon begrifflich neben
der Überlassung einer Unterkunft die Gewährung oder
Vorhaltung von Verpflegung und Betreuung voraus
(§ 1 Abs. 1 Heimgesetz). Zu einer solch umfassenden
Leistungserbringung „aus einer Hand“ sei der Vermieter der Klägerin nicht verpflichtet. Die von der Klägerin gewählte Wohnform stelle schließlich auch keine
unzulässige Umgehung des Heimgesetzes dar. Zwischen
dem Abschluss des Mietvertrages und dem Abschluss
des Pflegevertrages bestehe kein zwingender Zusammenhang. Der Bestand des Mietvertrages sei von dem
Bestand des Pflegevertrages nicht abhängig. Die
Leistungspflicht des Pflegeunternehmens beschränke
sich im Übrigen auf die Erbringung ambulanter Pflegeleistungen. Nach alledem handele es sich in dem hier
vorliegenden Fall um eine Form des sog. betreuten
Wohnens, die auch nach dem Willen des Gesetzgebers
von der stationären Heimunterbringung abzugrenzen
sei.
Anmerkung
Das LSG macht den Anspruch auf häusliche Krankenpflege gemäß § 37 SGB V davon abhängig, ob es sich
bei der gewählten Wohnform um ein Heim i. S. des
Heimgesetzes oder um betreutes Wohnen handelt, das
nicht dem Heimgesetz unterstellt ist. Das Gericht hat
in diesem Zusammenhang die Frage offen gelassen, ob
bei einer doppelten Funktion des Leistungsanbieters als
Vermieter und als Pflegeanbieter oder sofern der Vermieter die Versorgungs- und Betreuungsleistungen
durch Dritte erbringen lässt, von einer Heimbetreuung
i. S. des Heimgesetzes auszugehen ist.
Siehe hierzu auch das Urteil des SG Münster vom
09.12.2002 (RdLh Nr. 2/2003, S. 68 f.).
(Sch)
Zahlungsanspruch für Leistungen nach Auslaufen der Vergütungsvereinbarung
BSG, Urteil vom 13.05.2004 – Az: B 3 KR 2/03 R
Streitig ist die Vergütung für ambulante Leistungen der
häuslichen Krankenpflege. Die Klägerin bietet häusliche Krankenpflegedienste an, die Beklagte ist eine Krankenkasse. Der bestehende Rahmenvertrag und die damit verbundene Vergütungsvereinbarung waren von der
Beklagten zum Ende des Jahres 1997 gekündigt worden. Die Klägerin versorgte gleichwohl in den Jahren
1998 und 1999 weiterhin auch Versicherte der Beklagten und stellte dafür die früheren Beträge in Rechnung.
Die beklagte Krankenkasse zahlte daraufhin nur deutlich niedrigere Beträge mit der Begründung, zu diesen
Preisen hätte sie die Versorgung ihrer Versicherten
durch andere Pflegedienste sicherstellen können.
Mit der Klage begehrt der Pflegedienst die Verurteilung
der beklagten Krankenkasse zur Zahlung der in dem
gekündigten Rahmenvertrag festgelegten (höheren)
Vergütung. Die Klage hatte in allen Instanzen Erfolg.
Die Beklagte sei unter dem Gesichtspunkt der ungerechtfertigten Bereicherung zur Zahlung verpflichtet.
Ebenso wie die Vorinstanzen verneinte das BSG jedoch
einen vertraglichen Anspruch. Die bloße Behandlung
von Versicherten trotz Kenntnis der fehlenden Einigung
über die Bezahlung könne nicht als schlüssige AnnahRechtsdienst der Lebenshilfe 4/04
me des Angebots der Beklagten bewertet werden. Der
Senat hat offen gelassen, ob der objektive Wert der
Leistung der Klägerin nach den geltend gemachten
marktüblichen Preisen zu bemessen sei, die die Mehrzahl der Krankenkassen zahlten, oder ob es subjektiv
auf den Aufwand ankomme, den die Beklagte durch
die Leistung der Klägerin erspare. Denn beides stimme
hier überein.
Die Beklagte habe den Nachweis versäumt, dass ihr die
Versorgung ihrer Versicherten durch Vereinbarungen
mit anderen Leistungserbringern zu niedrigeren
Vergütungssätzen möglich gewesen wäre. Mit der Benennung nur eines Pflegedienstes, der zu den von ihr
angebotenen Preisen die häusliche Pflege durchführe,
habe sie nicht den Nachweis erbracht, dass sie damit
ihren gesetzlichen Auftrag zur Versorgung ihrer mit
häuslicher Krankenpflege bei Auswahlmöglichkeiten
der Versicherten und mehreren Leistungserbringern
hätte erfüllen können. Der Fall möge anders zu beurteilen sein, wenn die beklage Krankenkasse weitere
Pflegedienste benannt hätte, mit denen sie in dem hier
streitigen Zeitraum ebenfalls Vergütungsvereinbarungen
zu niedrigeren Sätzen abgeschlossen hatte, und wenn
sie zudem nachgewiesen hätte, dass dadurch die Ver169
GESETZLICHE KRANKENVERSICHERUNG
sorgung ihrer Versicherten gesichert gewesen wäre. Die
Folgen dieses fehlenden Nachweises treffe nach den
Grundsätzen der objektiven Beweislast die beklagte
Krankenkasse. Deshalb könne auch von einer „aufgedrängten Bereicherung“ keine Rede sein.
aller Sozialgesetzbücher verneint, soweit keine anders
lautende spezialgesetzliche Regelung vorhanden ist. Das
Gleiche gilt für das Verneinen eines „allgemeinen Fortgeltungsgrundsatzes“ dergestalt, dass die bisherige
Vergütungsvereinbarung trotz Kündigung bis zum
Abschluss einer neuen vertraglichen Übereinkunft fortbesteht.
Anmerkung
Diese zum Recht der gesetzlichen Krankenversicherung
ergangene Entscheidung ist nicht ohne weiteres auf
andere Sozialleistungsbereiche übertragbar. Es kann
jedoch davon ausgegangen werden, dass das BSG das
Vorliegen vertraglicher Ansprüche nach einer rechtswirksamen Kündigung eines Vertrages für Leistungen
Zahlungsansprüche können wegen Fehlens einer vertraglichen Grundlage dann ausschließlich auf
Bereicherungsrecht gestützt werden. Grundsätzlich ist
bei Vorliegen der Voraussetzungen der Bereicherte zur
Herausgabe des Erlangten verpflichtet. Da dies wegen
der Beschaffenheit des Erlangten nicht möglich ist, muss
Wertersatz geleistet werden.
(Sch)
Wahlrecht der Versicherten unter verschiedenen Hilfsmitteln
LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 05.05.2004 – Az: L 4 KR 277/01 (nicht rechtskräftig)
Die 1968 geborene Klägerin wohnt auf der Insel Borkum. Sie leidet an einer spastischen Lähmung beider
Beine, ein Laufen ist ihr ohne Gehhilfen nicht möglich. Mit Gehhilfen kann sie eine Strecke von max. 500
m zurücklegen. Die beklagte Krankenkasse hat den Antrag auf Kostenübernahme für ein Versehrten-Fahrrad
mit der Begründung abgelehnt, dass es sich bei dem
beantragten Fahrrad nicht um ein Hilfsmittel i. S. des
Krankenversicherungsrechts handele. Mit der Klage
macht die Klägerin u.a. geltend, dass ein Rollstuhl, der
sonst als Hilfsmittel zu bewilligen wäre, zum einen sehr
viel teurer sei, zum anderen bei dessen Benutzung das
für sie absolut notwendige Training der noch vorhandenen Beinmuskulatur entfalle.
Das SG Aurich hat der Klage stattgegeben (Urteil vom
13.11.2001, Az. S 8 KR 106/00). Das LSG hat die Berufung der beklagten Krankenkasse zurückgewiesen.
Die Klägerin habe einen Anspruch auf das VersehrtenFahrrad, bei dem es sich um ein Hilfsmittel i. S. des
§ 33 Abs. 1 SGB V handele. Insbesondere sei es kein
Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens, da ein Versehrten-Fahrrad von Gesunden regelmäßig nicht benutzt werde.
Nach der Rechtsprechung des BSG würden nur mittelbar die Organfunktionen ersetzende Mittel lediglich
dann als Hilfsmittel i. S. der gesetzlichen Krankenversicherung angesehen, wenn sie die Auswirkungen der
Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigen
oder mildern und damit ein Grundbedürfnis des täglichen Lebens betreffen. Hierzu zähle auch die „Erschließung eines gewissen körperlichen Freiraums“. Allein
mit Unterarmgehstützen sei das Grundbedürfnis der
Klägerin auf Bewegungsfreiheit nicht gewährleistet.
170
Da inzwischen viele kleine Geschäfte durch große Supermärkte im Außenbereich ersetzt würden, Poststellen geschlossen seien und überdies der öffentliche Nahverkehr erheblichen Einschränkungen unterliege,
müssten regelmäßig deutlich größere Entfernungen als
max. 500 m zurückgelegt werden, um seine Alltagsgeschäfte erledigen zu können. Außerdem könne die Klägerin die üblichen Alltagsgeschäfte wie Einkaufen von
Lebensmitteln und Gegenständen des täglichen Bedarfs
mit den beiden Unterarmgehstützen nicht bewerkstelligen. Sie habe beim Gehen mit den Unterarmgehstützen
bereits ohne Belastungen Schwierigkeiten. Mit dem
Versehrten-Fahrrad könne sie die Alltagsgeschäfte ohne
weiteres bewältigen. Zu berücksichtigen sei überdies,
dass ihr die Krankenkasse dauerhaft die Versorgung mit
einem Rollstuhl zugesagt, sie jedoch eine derartige Versorgung nicht gewollt habe, weil sie nur mit einem
Versehrtenfahrrad das noch verbliebene Restleistungsvermögen ihrer Beine erhalten könne.
Zwischen der Versorgung mit einem Rollstuhl und einem Versehrten-Fahrrad stehe der Klägerin ein Wahlrecht zu. Der Versicherte habe unter verschiedenartigen, aber gleichermaßen geeigneten und wirtschaftlichen Hilfsmitteln, von denen zur ausreichenden
Deckung des Bedarfs aber nur das eine oder andere
erforderlich sei, die Wahl (§ 33 SGB I – Allgemeiner
Teil). Die Vorschrift entfalte ihre besondere Bedeutung
auch in den Fällen eines bloßen Auswahlermessens. Die
Klägerin habe in zulässiger Weise von dem ihr zustehenden Wahlrecht Gebrauch gemacht. Denn das Versehrten-Fahrrad sei in gleicher Weise wie ein Rollstuhl
zum Ausgleich ihrer Beeinträchtigung geeignet und
überdies deutlich billiger.
(Sch)
Rechtsdienst der Lebenshilfe 4/04
GESETZLICHE KRANKENVERSICHERUNG
Anspruch auf Bewegungsfreiheit durch tragbares Sauerstoffsystem
LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 17.03.2004 – Az: L 4 KR 217/01
Die Klägerin leidet an einer schweren chronisch-obstruktiven Lungenerkrankung, ist aber völlig mobil. Die
beklagte Krankenkasse hat ein stationäres Sauerstoffsystem für den häuslichen Bereich zur Verfügung gestellt. Der Sauerstoff wird dem Patienten über eine max.
15 m lange Zuleitung in die Nase eingeführt. Das Gerät
erzeugt einen erheblichen Geräuschpegel. Daneben
versorgte die beklagte Krankenkasse die Klägerin mit
einer tragbaren Einheit, die dem Patienten bis zu 8 Stunden völlige Mobilität ermöglicht. Das Tragegerät hat ein
geringes Gewicht und wird ähnlich einer Handtasche
über der Schulter getragen.
sauerstoff außerhalb der eigenen Wohnung gewährleistet werde. Auch die Bewegungsfreiheit innerhalb der
eigenen Wohnung sei ein Grundbedürfnis der Lebensbetätigung. Außerhalb der Versorgung mit dem mobilen Tragegerät sei die Klägerin an den max. 15 m langen Schlauch der stationären Versorgungseinheit
gebunden. Dadurch sei die völlig mobile Klägerin in
unzumutbarer Weise in ihrer freien Beweglichkeit eingeschränkt. Sie wäre in dieser Zeit wie eine Gefangene
an eine Leine gefesselt.
Den Antrag auf Versorgung mit zwei bis drei Tankfüllungen pro Monat mit Flüssigsauerstoff für das tragbare Sauerstoffsystem lehnte die Beklagte ab. Das SG
Hannover hat die hiergegen gerichtete Klage mit Urteil
vom 28.08.2001 (Az. S 11 KR 310/00) abgewiesen: Die
monatliche Tankfüllung ermögliche es der Klägerin, sich
an neun Tagen im Monat für jeweils bis zu acht Stunden außerhalb der Wohnung zu bewegen. Bei einer geringeren Befüllung des mobilen Gerätes sei ein mehrstündiger Aufenthalt außerhalb der Wohnung an allen
Tagen des Monats zu bewerkstelligen.
Ein solches Ergebnis widerspreche der Pflicht der Krankenkasse zur humanen Krankenbehandlung, wie sie in
§ 70 Abs. 2 SGB V ausdrücklich verankert sei. Mit einer humanen Krankenbehandlung sei es unvereinbar,
eine völlig mobile Versicherte innerhalb ihrer Wohnung
dermaßen an die Kette zu legen. Das gelte um so mehr,
als der finanzielle Aufwand, mit dem ein solcher Zustand vermieden werden könne, im Verhältnis zu den
Zumutungen für die Klägerin gering sei. Für die zweite
Tankfüllung fielen monatliche Kosten von nicht einmal 100 EURO an. Hinzu komme, dass die Klägerin
nach ihrem übrigen Gesundheitszustand nach den Bekundungen ihrer behandelnden Ärzte ihre Beweglichkeit unbedingt trainieren solle, um ihre Mobilität aufrecht zu erhalten. Mit der Gewährung einer zweiten
monatlichen Tankfüllung Flüssigsauerstoff sei die Klägerin für insgesamt 10,8 Stunden täglich mobil. Damit
werde das Maß des Notwendigen nicht überschritten.
(Sch)
Bewegungsfreiheit in der eigenen Wohnung ist ein Grundbedürfnis
Das LSG hat das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und
einen Anspruch auf Versorgung mit einer zweiten monatlichen Tankfüllung Flüssigsauerstoff bejaht. Aus Sicht
des Senats kommt es nicht allein darauf an, in welchem
Umfang die Bewegungsfreiheit durch den Flüssig-
Pflicht zur humanen Krankenbehandlung
Lagerungsrollstuhl kein Hilfsmittel der Krankenversicherung?
BSG, Urteil vom 22.07.2004 – Az: B 3 KR 5/03 R
Im Rechtsdienst der Lebenshilfe Nr. 2/04 (S. 72 f.) haben wir über ein aus Sicht der Klägerin positives Urteil
des LSG für das Land NRW berichtet, das der in einem
Pflegeheim lebenden schwerstpflegebedürftigen Frau
(Pflegestufe III) einen Lagerungsrollstuhl zugesprochen
hat.
Das BSG hat das Urteil aufgehoben und einen Anspruch
verneint. Die Krankenkasse sei nicht zur Leistung verpflichtet, weil der Rollstuhl zum Ausgleich der verlorenen Geh- und Sitzfähigkeit nur noch von untergeordneter Bedeutung sei und die Pflege ganz im Vordergrund
stehe. Zur Pflege gehörten auch aktivierende MaßnahRechtsdienst der Lebenshilfe 4/04
men, um vorhandene Fähigkeiten zu erhalten und der
Gefahr einer Vereinsamung des Pflegebedürftigen entgegenzuwirken. Dafür sei die gesetzliche Krankenkasse als Rehabilitationsträger nicht mehr zuständig.
Die Abgrenzung der Leistungsverpflichtung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) von der Vorhaltepflicht des Heimträgers bei der Hilfsmittelversorgung
in Pflegeheimen habe danach zu erfolgen, ob noch eine
Krankenbehandlung und ein Behinderungsausgleich i.
S. medizinischer Rehabilitation stattfinde oder aber ganz
überwiegend die Pflege im Vordergrund stehe, weil eine
Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe am
171
GESETZLICHE KRANKENVERSICHERUNG
Leben in der Gesellschaft nicht mehr möglich sei. Nach
diesen Grundsätzen sei eine Krankenkasse nicht verpflichtet, einen sog. Lagerungsrollstuhl zu gewähren,
wenn die Heimbewohnerin nicht mehr zur aktiven Teilhabe am Gemeinschaftsleben fähig sei. Da der Klägerin eine verantwortungsbewusste Bestimmung über das
eigene Schicksal nicht mehr möglich sei, sei sie wegen
Fehlens eigengesteuerter Bestimmungsmöglichkeiten
quasi zum „Objekt der Pflege“ geworden.
Diese Abgrenzung zwischen der Leistungsverpflichtung
der GKV und der Vorhaltepflicht des Heimträgers
verstoße auch nicht gegen das verfassungsrechtliche
Verbot der Benachteiligung behinderter Menschen.
Anmerkung
Das Urteil wird in der Behindertenhilfe große Besorgnis hervorrufen:
1. Ob ein Heimbewohner gegenüber seiner Krankenkasse einen Anspruch auf Versorgung mit Hilfsmitteln
hat, hängt nach Ansicht des 3. Senats beim BSG davon
ab, ob die betreffende Person noch zur aktiven bzw.
selbstbestimmten Teilhabe am Leben in der Gesellschaft
fähig ist. Wird dies verneint, kommt im Ergebnis allein
eine Leistungspflicht des Heimträgers in Betracht. Da
Rollstühle keine Pflegehilfsmittel sind, scheidet ein direkter Anspruch des Pflegebedürftigen gegenüber seiner Pflegekasse aus.
Das Gericht gesteht zu, dass die vom Heimträger vorzuhaltenden Hilfsmittel zum einen vom Versorgungsauftrag und den Leistungs- und Qualitätsvereinbarungen abhängen und zum anderen zum großen Teil
von den Heimbewohnern refinanziert werden. Wird ein
Anspruch gegenüber der Krankenkasse verneint, bedeutet dies für viele Heimbewohner zumeist, dass sie auf
das Hilfsmittel verzichten oder es aus der eigenen Tasche finanzieren müssen.
2. Menschen mit sehr hohem Hilfebedarf sind auf die
besondere Fürsorge des Staates angewiesen. Das im
Grundgesetz verankerte Sozialstaatsgebot und das
Diskriminierungsverbot behinderter Menschen verpflichten den Staat, gesetzliche Vorkehrungen dafür zu
treffen, dass Ansprüche von Menschen wegen ihres
hohen Hilfebedarfs nicht verkürzt werden.
Das gegliederte System der sozialen Sicherung ist auf
den Prüfstand zu stellen, wenn es zu einer Zweiklassengesellschaft unter behinderten Menschen führt.
Dies ist der Fall, wenn die passive Teilhabe am Leben
im Verhältnis zur aktiven Teilnahme im Sozialleistungsrecht nicht nur als ein Aliud, sondern als ein Weniger
angesehen wird („Nur passives Reagieren, nicht Agieren“). Für den, dem die aktive Teilhabe am Leben nicht
(mehr) möglich ist, kann passive Teilhabe eine sehr große Bedeutung haben.
3. Bei Abgrenzungsversuchen stellt sich zwangsläufig
die Frage der klaren und eindeutigen Grenzziehung:
Wann, z. B. ab welchem Grad von Demenz, Pflegebedürftigkeit oder geistiger Behinderung, ist der kranke
oder behinderte Mensch nicht mehr in der Lage, aktiv
am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen? Wer hat das
Recht, dies festzulegen? Dürfen Gerichte eine rein wertende Betrachtungsweise zur Grundlage von Ansprüchen machen?
4. Ab dem 01.01.2005 ist das BSG auch für die Sozialhilfe zuständig. Für fast alle geistig behinderten Menschen stellt die in der Sozialhilfe verortete Eingliederungshilfe die weitaus bedeutsamste Rechtsgrundlage
dar. Für die Behindertenhilfe stellt sich die bange Frage, ob das Gericht auch einen Anspruch auf Eingliederungshilfe für geistig und körperlich schwerstbehinderte
Menschen verneinen wird, weil diese zu einer aktiven
Teilhabe am Gemeinschaftsleben nicht mehr fähig sind.
Gemäß § 53 Abs. 1 SGB XII (bis 31.12.2004: § 39 Abs.
1 BSHG) erhalten Personen, die durch eine Behinderung wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft
teilzuhaben, eingeschränkt sind, Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalls, insbesondere nach Art und
Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die
Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann.
Damit ist die Aufgabe der Eingliederungshilfe nicht auf
die Verwirklichung einer aktiven Teilhabe beschränkt.
Für noch nicht eingeschulte schwerstbehinderte und
schwerstmehrfachbehinderte Kinder folgt dies unmittelbar aus § 56 Abs. 1 Satz 2 SGB IX.
(Sch)
Schwenkbarer Autositz als Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung?
BSG, Urteile vom 16.09.2004 – Az: B 3 KR 19/03 R und B 3 KR 15/04 R
In beiden Verfahren ist zwischen den Beteiligten des
Rechtsstreits die Ausstattung eines PKW mit einem
schwenkbaren Autositz zu Lasten der gesetzlichen
Krankenversicherung streitig.
172
Im Verfahren B 3 KR 19/03 R beantragten die Kläger
für ihre Tochter, die nach einem Atemstillstand im
Wachkoma und schwerstpflegebedürftig war, die Kostenübernahme für einen schwenkbaren Autositz,
Rechtsdienst der Lebenshilfe 4/04
GESETZLICHE KRANKENVERSICHERUNG/PFLEGEVERSICHERUNG
die Möglichkeit zu haben, die Tochter zum Klinikum
und zu Therapeuten zu fahren. Der behinderungsgerecht
angepasste Autositz sollte es ermöglichen, die Versicherte vom Rollstuhl in den PKW zu befördern und dort zu
fixieren.
Die Klage hatte in den Vorinstanzen keinen Erfolg. Das
LSG für das Land NRW hat ausgeführt, der Autositz
sei nicht als Hilfsmittel zu gewähren, weil weder das
Autofahren als solches noch die Möglichkeit, damit
Ärzte und Therapeuten aufzusuchen, zu den Grundbedürfnissen zählten. Der Sitz diene auch nicht der Krankenbehandlung (Az. L 5 KR 234/02, Urteil vom
11.09.2003).
Die Revision der Kläger hatte Erfolg. Die beklagte Krankenkasse habe es zu Unrecht abgelehnt, den Autositz
als Hilfsmittel zu bewilligen. Es handele sich um ein
Mittel zum Behinderungsausgleich bei einem Grundbedürfnis. Dazu gehöre auch das Bedürfnis, bei Krankheit oder Behinderung Ärzte und Therapeuten aufzusuchen. Die Vorschriften über die Leistungen der
Krankenversicherung für Krankentransporte (§ 60 SGB
V) seien nicht abschließend in dem Sinn zu verstehen,
dass Hilfsmittel zu Transportzwecken nicht in Betracht
kämen. Der Verweis auf die Inanspruchnahme von professionellen Krankentransporten sei nur dann berechtigt, wenn die genannte Alternative möglich, zumutbar
und mit geringeren Kosten verbunden wäre. Eine überschlägige Berechnung der Transportkosten ergebe aber,
dass schon nach einem Jahr die Kosten des Autositzes
erreicht worden wären.
Im Verfahren B 3 KR 15/04 R hatte das Gericht über
folgenden Sachverhalt zu entscheiden: Die 1964 geborene Versicherte leidet an einer chronischen Polyarthritis
und ist ständig auf einen Rollstuhl angewiesen. Ihren
Antrag auf Ausstattung des PKW ihres Ehemannes mit
einem schwenkbaren Beifahrersitz lehnte die beklagte
Krankenkasse mit der Begründung ab, Autofahren gehöre nicht zu den Grundbedürfnissen. Das LSG für das
Land NRW hat in der vorinstanzlichen Entscheidung
zusätzlich ausgeführt, dass das Grundbedürfnis der Klägerin nach Mobilität durch den zur Verfügung gestellten Rollstuhl mit Hilfsantrieb sowie das Rollfiets sichergestellt sei (Urteil vom 12.02.2004, Az. L 5 KR 77/03).
Mit der Revision macht die Klägerin u.a. geltend, das
Bedürfnis nach menschlichen Kontakten dürfe nicht auf
den Nahbereich beschränkt werden. Nach Ansicht des
BSG, das die vorinstanzliche Entscheidung bestätigt hat,
ist das bloße Bedürfnis, mit dem Auto zu fahren, um
damit den Bewegungsspielraum zu vergrößern und
menschliche Kontakte zu erleichtern, kein Grundbedürfnis, für das die Krankenkasse im Wege der
Hilfsmittelversorgung einzutreten hätte. Das Gleiche
gelte für den Zweck, von fremder Hilfe unabhängiger
zu werden.
Anmerkung
Nach Ansicht des BSG hängt der Anspruch gegenüber
der Krankenkasse somit davon ab, ob durch das Hilfsmittel ein Grundbedürfnis befriedigt wird.
(Sch)
Grundsatzurteil zur Leistungspflicht privater Pflegekassen für
Kinder (Pflegestufe III)
BSG, Urteil vom 13.05.2004 – Az: B 3 P 7/03 R
Die Klägerin, bei der Beklagten privat pflegeversichert,
hatte im Dezember 1998 erstmals einen Antrag auf
Höherstufung des Pflegegelds von Pflegstufe 2 auf 3 für
ihren im November 1994 geborenen Sohn beantragt.
Die daraufhin von der Beklagten beauftragte Gesellschaft für medizinische Gutachten (Medicproof) sah im
Gutachten vom Januar 1999 die Voraussetzungen für
die Pflegestufe 3 nicht als gegeben an. Die Klägerin widersprach dieser Beurteilung, so dass die Beklagte ein
weiteres Gutachten einholte, dass im Juli 1999 zu dem
gleichen Ergebnis kam. Die Beklagte lehnte deshalb im
August 1999 den Antrag ab. Die daraufhin von der Klägerin erhobene Klage wurde zunächst vom Sozialgericht abgewiesen, noch während des erstinstanzlichen
Verfahrens hatte die Beklagte ein weiteres Gutachten
Rechtsdienst der Lebenshilfe 4/04
eingeholt, welches im Januar 2001 die Voraussetzungen für die Pflegestufe 3 bestätigte. Die Beklagte erklärte sich daraufhin zur Erbringung von Pflegegeld nach
der Pflegestufe 3 rückwirkend ab November 2000 bereit.
Im Berufungsverfahren verfolgte die Klägerin ihren
Antrag weiter, wonach Leistungen in der Pflegestufe 3
seit 18.11.1999, nämlich dem Erreichen des 5. Lebensjahres des Sohnes, zu gewähren seien. Das Landessozialgericht gab der Berufung statt.
Die Beklagte rügte mit ihrer Revision in erster Linie,
dass für die Gewährung von Leistungen nach der Pflegestufe 3 seit 18.11.1999 kein Antrag vorgelegen habe, da
173
PFLEGEVERSICHERUNG
der im Dezember 1998 gestellte Antrag der Klägerin
mit der Leistungsablehnung im August 1999 seinen
Abschluss gefunden habe. Die gerichtliche Überprüfung
habe sich deshalb nur auf den Zeitraum bis zur ablehnenden Entscheidung durch die private Pflegeversicherung zu beschränken.
Das Bundessozialgericht sah dies anders und nahm
gleichzeitig noch zu einer Vielzahl weiterer im Bereich
der Pflegeversicherung bedeutsamer Fragen Stellung.
Leistungspflicht ab Antragstellung bis zur
letzten mündlichen Verhandlung
Zwar sei für den Beginn der Leistungen aus der Pflegeversicherung sowohl bei der gesetzlichen Pflegeversicherung als auch bei der privaten Pflegeversicherung ein Antrag notwendig, dieser Antrag sei
aber nicht durch die ablehnende Entscheidung der
Pflegeversicherung erloschen bzw. abschließend erledigt. Grundsätzlich sei für die Beurteilung des Klagebegehrens bei sozialrechtlichen Verpflichtungs- und
Leistungsklagen der Zeitpunkt der letzten mündlichen
Verhandlung maßgeblich, was der ständigen Rechtsprechung des BSG entspreche und auch einhellige Meinung in der rechtswissenschaftlichen Literatur sei. Der
Umstand, dass die Beteiligten einen dem Privatrecht
unterfallenden Versicherungsvertrag geschlossen haben,
vermöge diesen Grundsatz nicht in Zweifel zu ziehen,
denn auch im Zivilprozess sei jedenfalls bei Leistungsklagen die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der
letzten mündlichen Verhandlung entscheidend, so dass
eine Verurteilung zur Leistung selbst dann erfolgen
könne, wenn der Klageanspruch erst nach Rechtshängigkeit entstehe oder fällig werde. Insofern sei auch
im Zivilprozess anerkannt und stoße auf keine Bedenken, dass eine Verurteilung zulässig sei, obwohl sich
der zur Leistung Verurteilte zunächst vertragsgemäß
verhalten habe und seine Leistungsverweigerung zunächst zu Recht erfolgt sei. Später eintretende tatsächliche Änderungen der Verhältnisse müssten deshalb
noch in die abschließende Entscheidung mit einbezogen werden. Dies entspreche der Prozessökonomie, folge aber auch zwingend aus der Rechtskraftwirkung von
Urteilen, und zwar sowohl im Sozial- wie im zivilgerichtlichen Prozess, was sich aus § 141 Abs. 1 SGG
und § 322 Abs. 1 ZPO ergebe. Für das sozialrechtliche
Verfahren habe der Antrag eine Doppelnatur, weil er
zumeist sowohl für die Einleitung in den Gang des Verfahrens als auch materiell-rechtlich für die Entstehung
des Anspruches selbst erforderlich sei. Das durch den
Antrag in Gang gesetzte Verfahren werde in der Regel
erst durch den Erlass einer abschließenden Verwaltungsentscheidung im Sinne von § 8 SGB X beendet. Dies
gelte jedoch nicht, wenn die ergangene Verwaltungs-
174
entscheidung in einem gerichtlichen Verfahren angefochten werde, also nicht in Rechtsbindung erwachse.
In diesem Fall wirke der Antrag weiter fort, dass
Verwaltungsverfahren werde erst mit dem Abschluss des
Gerichtsverfahrens beendet. Die Grundsätze würden
zwar unmittelbar nur für den Bereich der sozialen
Pflegeversicherung gelten, sind jedoch auch auf die private Pflegeversicherung zu übertragen, denn auch § 6
Abs. 1 Satz 1 MB/PPV 1996 setze im Bereich der privaten Pflegeversicherung einen Antrag voraus, der auch
hier auf die Gewährung einer Dauerleistung abziele.
Richterliche Ergänzung der
gutachterlichen Feststellung: Löffeltraining und Hautpflege als Pflegebedarf
Das BSG bestätigt sodann noch einmal seine Rechtsprechung, wonach gemäß § 64 Abs. 1 Satz 1 VVG Versicherer und Versicherungsnehmer an die Feststellungen des ärztlichen Sachverständigen gebunden seien,
wenn dies – wie durch § 6 Abs. 2 MB/PPV 1996 –
vertraglich vereinbart wurde. Die Feststellungen des
Arztes seien allerdings nur dann nicht verbindlich,
„wenn sie offenbar von der wirklichen Sachlage erheblich abweichen“, wobei auf den Sachstand und die Erkenntnismittel zum Zeitpunkt der Begutachtung abzustellen sei. Dabei sei grundsätzlich das Gesamtergebnis
des Sachverständigengutachtens maßgeblich; seien
abgrenzbare Teilbereiche der gutachterlichen Feststellungen fehlerhaft, so seien diese – soweit „offenbar erheblich“ – selbstständig angreifbar und nur der Rest bleibe verbindlich. Liege der Fehler indessen in der
Unvollständigkeit des Gutachtens, weil bestimmte
Sachverhaltselemente gar nicht angesprochen und berücksichtigt worden seien, so sei insoweit der Weg offen für eine richterliche Entscheidung, soweit die Unterlassung durch den Sachverständigen unbewusst
erfolgt sei. Diese Voraussetzung sah das BSG als gegeben an, weil der Sachverständige weder das Einreiben
mit Öl und Fett im Zusammenhang mit der Körperhygiene noch das Löffeltraining berücksichtigt habe. Es
handele sich dabei also um erhebliche Abweichungen,
da die zusätzlich zu berücksichtigenden Pflegezeiten
nach den Feststellungen des LSG im Verhältnis zu den
vom Sachverständigen festgestellten Werten eine höhere Pflegestufe begründeten und einen Umfang von
mehr als 25 % hätten, womit sie über dem Richtwert
der Rechtsprechung der Zivilgerichte lägen (etwa 15 %
– BGH, Urteile vom 01.04.1987 – IV a ZR 139/85 –,
VersRecht 1987, 601 und vom 28.02.1986 – IX a ZR
138/84 –, VersRecht 1986, 482). Die Abweichung sei
zudem auch offensichtlich gewesen, da die Unvollständigkeit des Gutachtens für einen sachkundigen und
unbefangenen Beobachter nach gewissenhafter Prüfung
klar und deutlich zutage getreten sei. Das Einreiben mit
Rechtsdienst der Lebenshilfe 4/04
PFLEGEVERSICHERUNG
Öl bzw. Fett sei als verrichtungsbezogene Tätigkeit im
Zusammenhang mit der Verrichtung des Waschens zu
sehen, das Löffeltraining, das darauf abziele, den Sohn
der Klägerin bei der Nahrungsaufnahme zum selbständigen Umgang mit dem Löffel anzuleiten, sei ebenfalls
als verrichtungsbezogene Anleitung zu sehen. Einen erhöhten Mehraufwand bei der hauswirtschaftlichen Versorgung (Reinigen des Orts der Nahrungsaufnahme und
des Therapiestuhls sowie erhöhter Wäscheaufwand) sah
das BSG ebenfalls als gegeben an, nachdem die Klägerin in den Vorinstanzen den Aufwand dargelegt hatte.
Das BSG stellt dazu fest, dass der Umfang dieses Mehraufwandes der tatrichterlichen Feststellung unterliege
und die Möglichkeit der freien Schätzung gemäß § 287
ZPO eröffnet sei.
Begutachtungsrichtlinien sind
Verwaltungsbinnenrecht
Das BSG sah sich in dem Urteil auch veranlasst, zu der
rechtlichen Qualität der Begutachtungsrichtlinien noch
einmal Stellung zu nehmen. Es betont, dass die Richtlinien keinen nach außen verbindlichen Rechtscharakter
aufweisen und weder die Qualität einer Rechtsverordnung noch einer Satzung besäßen, sie stellten lediglich
sogenanntes Verwaltungsbinnenrecht dar. Deshalb sei
die Vorinstanz auch im Rahmen einer pauschalierenden Betrachtungsweise befugt gewesen, den Zeitabzug
für den Hilfe- und Erziehungsbedarf nicht beeinträchtigter Kinder entsprechend ihrem Entwicklungsfortschritt stufenweise zu bestimmen, ohne dabei an die
tabellarischen Mittelwerte der Richtlinie gebunden zu
sein, zumal es für letztere bislang kein wissenschaftlich
fundiertes Datenmaterial gebe (BSG SozR 3-3300 § 14
Nr. 9 und 10). Der von dem LSG vorgenommene Zeitabzug bei den Tabellenwerten von 5 Minuten pro Lebensjahr im Bereich „Ernährung“ und 10 Minuten pro
Lebensjahr im Bereich „Mobilität“ sei daher nicht zu
beanstanden.
Der für die Pflegestufe 3 erforderlich nächtliche Pflegebedarf sei erfüllt, da das Kind mindestens einmal in der
Nacht umgelagert werden müsse und hierzu aus eigener Kraft nicht in der Lage sei (BSG SozR § 3-3300
§ 14 Nr. 14).
Anmerkung
Das Urteil reiht sich in die bislang nur spärlich vorhandenen Entscheidungen zur privaten Pflegeversicherung ein und verfolgt auch hier wieder die Tendenz, die Versicherten im Bereich der privaten
Pflegeversicherung nicht anders zu stellen, als diejenigen, die gesetzlich pflegeversichert sind. Auch die Darlegungen des Gerichtes zur Verbindlichkeit der
Begutachtungsrichtlinien und die ausdrücklich für zulässig erklärte über die Richtlinie hinausgehende Differenzierung der Abzugswerte für den Hilfe- und Erziehungsbedarf nicht behinderter Kinder dürfte
zukünftig die Einstufung von Kindern in die einzelnen
Pflegestufen der Pflegeversicherung erleichtern. Hinsichtlich der Zuordnung von Versorgungsleistungen zu
den verrichtungsbezogenen Tätigkeiten bestätigt das
BSG seine bisherige Rechtsprechung noch einmal in
erfreulicher Klarheit.
Von besonderer Bedeutung sind indessen die Ausführungen des BSG zu der Frage, welcher Beurteilungszeitraum einer gerichtlichen Entscheidung zu Grunde
zu legen ist. Hier stellt das BSG unmissverständlich
auf den Zeitpunkt der letzten gerichtlichen Tatsachenentscheidung ab. Bliebe das BSG uneingeschränkt bei
dieser Aussage, so ergäben sich daraus weitreichende
Konsequenzen aufgrund der Überführung des
Sozialhilferechtes in die gerichtliche Zuständigkeit der
Sozialgerichtsbarkeit aufgrund des Artikels 38 des Gesetzes zur Einordnung des Sozialhilferechtes in das
Sozialgesetzbuch. In sozialhilferechtlichen Sachen galt
bislang der Grundsatz, dass auch die Gerichte bei ihren Entscheidungen nur den Sachverhalt zu Grunde
legen durften, der zum Zeitpunkt der Widerspruchsentscheidung der Behörde gegeben war. Änderungen
der Tatsachen, die danach eintreten, sind bei der
verwaltungsgerichtlichen Entscheidung in sozialhilferechtlichen Sachen nicht zu berücksichtigen, was in Anbetracht der langen Verfahrensdauern immer wieder
zu Problemen führte.
(Rechtsanwalt Hoffmann, Bremen)
Verhinderung übermäßiger Nahrungsaufnahme als Pflegebedarf
SG Münster, Urteil vom 25.06.2004 – Az: S 6 P 212/02 (rechtskräftig)
Der 1993 geborene Kläger leidet an dem Fragilen XSyndrom, das mit einem nicht beherrschbaren Esszwang
verbunden ist, der zu einem erheblichen Übergewicht
geführt hat. Das Sozialgericht sprach dem Kläger die
Pflegestufe I zu und berücksichtigte dabei auch den
Pflegeaufwand für die Aufsicht bei der unbeherrschten
Nahrungsaufnahme. Zwar habe das BSG in seinem
Rechtsdienst der Lebenshilfe 4/04
Urteil vom 28.06.2001, Az. B 3 P 7/00 R, entschieden,
dass die Beaufsichtigung zur Verhinderung einer übermäßigen Nahrungsaufnahme auch während der Mahlzeit bei der Bemessung des Pflegebedarfs als allgemeiner Aufsichtbedarf unberücksichtigt bleiben müsse.
Maßnahmen zur Verhinderung der Nahrungsaufnahme fielen nicht gewöhnlich in dem Ablauf des tägli175
PFLEGEVERSICHERUNG/HEIMRECHT
chen Lebens an, sondern nur bei uneinsichtigen Personen wie z. B. Kindern oder geistig behinderten Menschen. Solche Maßnahmen zählten zu deren allgemeinem Aufsichtsbedarf, den der Gesetzgeber bislang
bewusst noch nicht in den berücksichtigungsfähigen
Pflegebedarf einbezogen habe.
Dieser Auffassung schloss sich das Sozialgericht nicht
an. Die Verrichtung der Nahrungsaufnahme umfasse
über den rein mechanischen Vorgang des Aufnehmens
von Nahrung hinaus auch die Fähigkeit, Speisen sachgerecht auszuwählen und das Essen und Trinken sinnvoll zu dosieren. Nach diesem Verständnis könnten auch
Maßnahmen zur Begrenzung, Verlangsamung, Beendigung oder Verhinderung von Nahrungsaufnahme als
Hilfen bei der Nahrungsaufnahme aufgefasst werden.
Sei hierzu ein geistig behinderter Mensch nicht in der
Lage, werde eine Hilfeleistung unabweisbar. Dies gelte
auch für die Person des Klägers aufgrund seines bestehenden erheblichen Übergewichts und der damit verbundene gesundheitlichen Risiken. Die von dem Sachverständigen dafür benannten Zeiten von 5 Minuten
für die mundgerechte Zubereitung und 10 Minuten für
die Hilfe bei der Aufnahme der Nahrung sei maßvoll.
Sie könnten auch nicht durch pflegevermeidende Maßnahmen etwa durch die Beschränkung des Essensangebotes begrenzt werden. Im Hinblick auf das Leitbild
der aktivierenden Pflege, die kulturelle Bedeutung des
Essens und die Wichtigkeit von bei den Mahlzeiten in
der Familie gepflegter Kommunikation lasse sich der
Aufsichts- und Anleitungsbedarf im Falle des Klägers
nicht vollständig vermeiden, ohne dessen Menschenwürde zu tangieren.
(Mitgeteilt vom Vorsitzenden der 6. Kammer des Sozialgerichts Münster, Kuß)
Keine Bindung der Pflegekasse an die Feststellungen einer privaten Pflegeversicherung
BSG, Urteil vom 13.05.2004 – Az: B 3 P 3/03 R
Der 1981 geborene Kläger hat das Down-Syndrom und
erhielt zunächst Pflegegeld nach der Pflegestufe I aus
einer privaten Pflegeversicherung, in der er durch seinen beamteten Vater versichert war. Mit der Aufnahme
einer Tätigkeit in einer Werkstatt für behinderte Menschen wurde er pflichtversichert in der sozialen Pflegeversicherung gem. § 20 Abs. 1 Nr. 7 SGB XI. Die beklagte Pflegekasse lehnte die Weitergewährung von
Pflegegeld ab, nachdem der Medizinische Dienst der
Krankenkassen (MDK) lediglich einen Hilfebedarf von
nur 28 Minuten täglich festgestellt hatte.
Die Klage blieb in allen Instanzen ohne Erfolg. Nach
Ansicht des BSG haben die Vorinstanzen zu Recht eine
Bindung der gesetzlichen Pflegekasse an die Leistungszusage eines privaten Pflegeversicherungsunternehmens
verneint. Eine solche Bindung müsse vom Gesetzgeber
ausdrücklich angeordnet werden. Hieran fehle es, so
dass eine Berufung auf Vertrauensschutz nicht möglich
sei. Das Fehlen einer Bindung der Pflegekasse an die
Feststellungen eines privaten Versicherungsunternehmens sei auch verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
(Sch)
Kein Anspruch auf Abschluss eines Heimversorgungsvertrages
LG Memmingen, Urteil vom 08.03.2004 – Az: 2 O 2297/03 (nicht rechtskräftig)
Streitig sind Rechte aus dem Apothekengesetz und dem Heimgesetz.
Der klagende Apotheker beliefert seit über 15 Jahren
Bewohner eines Alten- und Pflegeheims des Heimträgers mit Medikamenten. Im August 2003 trat § 12 a
Apothekengesetz (ApoG) in Kraft. Danach ist Voraussetzung für die Versorgung von Bewohnern von Heimen der Abschluss eines schriftlichen Vertrages der
Apotheke mit dem jeweiligen Heimträger. Der beklagte Heimträger schloss einen solchen Vertrag mit einer
anderen Apotheke ab. Der klagende Apotheker fordert
176
den Abschluss eines solchen Versorgungsvertrages auch
mit ihm. Der Heimträger weigert sich, einen schriftlichen Vertrag gemäß § 12 a ApoG zu schließen und
künftig Medikamente für Heimbewohner entgegenzunehmen, die vom Kläger oder dessen Bevollmächtigten
angeliefert werden.
Das Gericht hat die Klage abgewiesen. Zunächst habe
der Kläger keinen Anspruch gegen den Heimträger auf
die im Hauptantrag geltend gemachte Entgegennahme
und bewohnerbezogene Aufbewahrung von angelieferten Medikamenten.
Rechtsdienst der Lebenshilfe 4/04
HEIMRECHT
§ 11 Abs. 1 Nr. 10 Heimgesetz verpflichte den Träger
eines Heimes zwar dazu, die Medikamente seiner Bewohner bewohnerbezogen und ordnungsgemäß aufzubewahren. Aus den Vorschriften des Heimgesetzes, insbesondere § 2 Abs. 1 Heimgesetz, werde deutlich, dass
durch das Heimgesetz lediglich die Belange der Heimbewohner und der Heimträger geregelt werden sollten.
Apotheker seien in den Schutzbereich des Heimgesetzes
nicht einbezogen.
Der Kläger könne auch aus der Fürsorgepflicht des
Heimträgers für seine Heimbewohner keine Rechte
herleiten. Einerseits seien von der Fürsorgepflicht eines Heimträgers nicht diejenigen Arzneimittelvorräte
erfasst, die der Heimbewohner in Eigenregie erwerbe
und aufbewahre. Andererseits sei zu beachten, dass für
den Heimbewohner die Möglichkeit bestehe, die Medikamente selbst entgegenzunehmen oder durch Personen seines Vertrauens abholen zu lassen. Deshalb sei
von § 12 Abs. 3 ApoG nicht auch die Anlieferung und
daraus folgende Entgegennahme von Arzneimitteln
durch den Heimträger umfasst.
Vertragsapotheke werde der normale Heimbetrieb und
die Versorgung der Heimbewohner am wenigsten beeinträchtigt.
Der hilfsweise geltend gemachte Antrag auf Abschluss
eines Versorgungsvertrages bestehe ebenfalls nicht.
Weder unmittelbar noch im Wege der verfassungskonformen Auslegung ergebe sich ein Anspruch auf
Vertragsabschluss aus § 12 a Abs. 1 Satz 1 ApoG. In
der Vorschrift werde lediglich ein Vertragserfordernis
statuiert. Ein Kontrahierungszwang ergebe sich aus dem
Gesetz nicht. Durch § 12 a Abs. 1 sei nicht die Berufsfreiheit des Apothekers gemäß Art. 12 GG berührt. Die
Vorschrift wahre die Belange der freien Berufsausübung.
Heimbewohner hätten weiterhin die Möglichkeit, bei
der Apotheke ihrer Wahl Arzneimittel einzukaufen oder
zu bestellen.
Zur Neuregelung der Versorgung von Heimbewohnern
mit Arzneimitteln durch das Gesetz zur Änderung des
Apothekengesetzes vom 21. August 2002; vgl. den Beitrag im Fachdienst der Lebenshilfe Nr. 4/2003, S. 21 ff.
(Sch)
Im vorliegenden Fall liege eine Berufsausübungsregelung vor, die zur Rechtfertigung vernünftiger Erwägungen des Allgemeinwohls getroffen worden sei und
Gesichtspunkte der Verhältnismäßigkeit beachte. Sinn
und Zweck der Schaffung von § 12 a Abs. 1 ApoG sei
es gewesen, die wilde Belieferung von Heimen durch
Apotheken einzudämmen und so einen höheren Schutz
der Heimbewohner zu erhalten. Nur besonders ausgewählte Apotheken sollten weiterhin beliefern dürfen.
Berechtigte Belange der Heime wie deren ungestörter
Arbeitsablauf sollten gewahrt werden. Durch die Belieferung von Medikamenten nur noch durch eine
Rechtsdienst der Lebenshilfe 4/04
Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sei eingehalten, da vor der Vergabe des Lieferauftrages eine qualifizierte Ausschreibung stattgefunden habe. Die Vergabe
sei nicht willkürlich erfolgt, sondern chancengleich für
alle Apotheker, die sich am Vergabeverfahren beteiligt
hätten.
Schließlich ergebe sich kein Anspruch aus der Tatsache, dass es einem Heimträger unbenommen sei, mehrere Apotheker an der Versorgung zu beteiligen. Letztlich unterliege es der freien Entscheidung des
Heimträgers, mit wie vielen Apotheken er Versorgungsverträge abschließen möchte. Eine Kontrolle sei nur
durch das Willkürverbot statuiert. Der Heimträger dürfe die Versorgung mit Medikamenten auf einen Anlieferer beschränken, wenn dadurch Vorteile für den
Heimbetrieb entstünden.
Auszug aus § 12 a Apothekengesetz
(1) Der Inhaber einer Erlaubnis zum Betrieb einer öffentlichen Apotheke ist verpflichtet, zur Versorgung von
Bewohnern von Heimen im Sinne des § 1 des Heimgesetzes mit Arzneimitteln und apothekenpflichtigen
Medizinprodukten mit dem Träger der Heime einen
schriftlichen Vertrag zu schließen. Der Vertrag bedarf
zu seiner Rechtswirksamkeit der Genehmigung der zuständigen Behörde.
....
(2) Die Versorgung ist vor Aufnahme der Tätigkeit der
zuständigen Behörde anzuzeigen.
(3) Soweit Bewohner von Heimen sich selbst mit Arzneimitteln und apothekenpflichtigen Medizinprodukten
aus öffentlichen Apotheken versorgen, bedarf es keines Vertrages nach Absatz 1.
177
ZIVILDIENST/STRAFRECHT
Eigenhaftung eines Zivildienstleistenden
BVerwG, Urteil vom 29.04.2004 – Az: BVerwG 2 C 2.03
Ein bei einer Einrichtung beschäftigter Zivildienstleistender überfuhr auf einer Dienstfahrt ein Rotlicht und
verursachte einen Unfall. Die Versicherung der Einrichtung ersetzte den Schaden und verlangt in dem vorliegenden Verfahren den Ersatz von der Bundesrepublik
Deutschland.
Das Gericht kam zu dem Ergebnis, dass der Klägerin
lediglich ein geringer Teil der entstandenen Kosten zu
erstatten ist.
Es führt aus, dass mit der Anerkennung einer Einrichtung als Beschäftigungsstelle nach dem Zivildienstgesetz
zwischen dem jeweiligen Träger und dem Bund ein
verwaltungsrechtliches Schuldverhältnis entstehe. Die
Beklagte habe ihre daraus resultierenden Pflichten verletzt, weil sie die ihr gegenüber dem Zivildienstleistenden zustehenden Rückgriffsansprüche nicht vor deren
Verjährung geltend gemacht hat.
Der Bund ist verpflichtet, einen Zivildienstleistenden,
der dem Träger der Beschäftigungsstelle einen Schaden
zugefügt hat, im Wege der Drittschadensliquidation auf
Ersatz dieses Schadens in Anspruch zu nehmen. Durch
die Fristversäumung habe die Beklagte diese Pflicht grob
fahrlässig verletzt. In Bezug auf die Höhe des zu leistenden Schadensersatzes sei allerdings auch für den Fall
der Drittschadensliquidation die in der Einziehungsrichtlinie vorgeschriebene Haftungsbeschränkung anzuwenden. Diese Haftungsbeschränkung im Innenverhältnis beim Schadensausgleich zwischen Dienstherrn
und Dienstleistendem sei in der Fürsorgepflicht des
Dienstherrn begründet. Danach ist ein Zivildienstleistender, ebenso wie Beamte und Soldaten, zum Schadensersatz nur insoweit heranzuziehen, wie dies angemessen, verhältnismäßig und billig ist. Auch für
Ersatzansprüche wegen eines dem Träger einer
Beschäftigungsstelle zugefügten Schadens gelte die auf
der Fürsorgepflicht des Dienstherrn beruhende Beschränkung von Ersatzansprüchen des Bundes. Die
beklagte Bundesrepublik hat daher Schadensersatz nur
in entsprechend geringer Höhe zu leisten.
(H-G)
Bestellung eines Pflichtverteidigers für einen Beschuldigten mit
geistiger Behinderung im Ermittlungsverfahren
AG Aachen, Beschluss vom 25.02.2004 – Az: 37 Gs 3/04
Die nachfolgende Entscheidungsmitteilung soll das
Augenmerk auf die wenig bekannte, jedoch bei der Verteidigung von Beschuldigten mit geistiger Behinderung
aus mehreren Gesichtspunkten äußerst wichtige Vorschrift des § 141 Abs. 3 StPO lenken, auf deren Grundlage sich die Beiordnung des Verteidigers im Ermittlungsverfahren vollzieht.1
Gegen den Beschuldigten mit geistiger Behinderung
wurde wegen des Verdachts der sexuellen Nötigung
(§ 177 StGB) ermittelt. Ein Glaubwürdigkeitsgutachten
des mutmaßlichen Tatopfers war bereits eingeholt worden und kam zu dem Ergebnis, dass die Angaben des
mutmaßlichen Tatopfers glaubwürdig sind. Nunmehr
stand die Begutachtung des Beschuldigten mit geistiger
Behinderung im Hinblick auf Schuldfähigkeit (§§ 20,
21 StGB) und Gefährlichkeitsprognose (§ 63 StGB) an.
Zu diesem Zeitpunkt wurde eine ausführlich begründete Anregung an die Staatsanwaltschaft gerichtet, einen Antrag nach § 141 Abs. 3 StPO zu stellen. Die
Staatsanwaltschaft folgte dieser Anregung und stellte
bei dem zuständigen Gericht einen entsprechenden
Antrag, dem das Gericht entsprach.
178
Anmerkung
Das Ermittlungsverfahren kann das Hauptverfahren bis
hin zum Urteil in einer für den Beschuldigten nachteiligen Weise prägen – Fehler und Mängel sind in aller
Regel in der Hauptverhandlung nicht mehr ungeschehen zu machen und führen fast zwangsläufig zu einem
objektiv falschen Urteil zu Lasten des Beschuldigten
bzw. Angeklagten.2 Die Gewährleistung der „Waffengleichheit“ bereits im Ermittlungsverfahren ist zur Sicherung der Rechtsstellung des Beschuldigten als
Verfahrensbeteiligtem in den späteren Verfahrensabschnitten daher zwingend erforderlich.
Dies gilt umso mehr, wenn es sich bei dem Beschuldigten um einen Menschen mit geistiger Behinderung handelt. Wie im dargestellten Fall spielen hier häufig Gutachten zu Fragen der Glaubwürdigkeit, der Schuldfähigkeit und/oder der Gefährlichkeitsprognose eine
herausragende Rolle. Aus diesen Gründen kommt der
Vorschrift des § 141 Abs. 3 StPO bei der Verteidigung
von Menschen mit geistiger Behinderung eine zentrale
Bedeutung zu. Die h. M. legt § 141 Abs. 3 StPO dahinRechtsdienst der Lebenshilfe 4/04
STRAFRECHT/RECHT UND ETHIK
gehend aus, dass allein der Staatsanwaltschaft das Recht
zusteht, einen Antrag auf Beiordnung eines Verteidigers im Ermittlungsverfahren zu stellen und ein Antrag
des Beschuldigten lediglich eine Anregung an die
Staatsanwaltschaft darstellt, ihrerseits einen Antrag an
den Vorsitzenden des für das Hauptverfahren zuständigen Gerichts zu stellen.3 Diese h. M. billigt mithin
der Staatsanwaltschaft ein Ermessen zu. Es ist deshalb
Aufg abe der Verteidigung, die Anregung auf
Pflichtverteidigerbeiordnung so zu begründen, dass sich
der Beurteilungsspielraum auf Null reduziert. Argumente können – je nach Konstellation – sein, dass zu wichtigen Gutachten Stellung genommen werden muss4
oder dass eine Fallgruppe gegeben ist, die eine Beiordnung in einem Hauptverfahren zwingend machen würde (insoweit seien insbesondere §§ 140 Abs. 1 Nr. 2;
Nr. 1 i. V. m. § 74 Abs. 1, 2 GVG genannt). Auch die
Persönlich-keitsstruktur des Beschuldigten kann bei der
Begründung Relevanz entfalten. Sollte die Staatsanwaltschaft trotz ausführlicher Begründung die Antragstellung ablehnen, so ist diese Ablehnung nach h. M. nicht
anfechtbar. Nicht zuletzt aus diesem Grund ist die
Rechtssprechung zu § 141 Abs. 3 StPO nicht sehr umfangreich und veröffentlichte Entscheidungen zu der
hier thematisierten Fragestellung erkennbar nicht vorhanden. Der Beschluss des AG Aachen bietet deshalb
Gelegenheit, die große Bedeutung, die Rechtsgrundlage und den Verfahrensgang der Beiordnung eines
Pflichtverteidigers im Ermittlungsverfahren gegen Beschuldigte mit geistiger Behinderung darzustellen, damit dieses Element wirksamen Rechtsschutzes zum
Wohl der Betroffenen in der Praxis weitere Verbreitung
findet.
(Mitgeteilt von RA Oliver Kestel, Echzell-Bingenheim)
1) Auf die Sonderregelungen der §§ 117 IV, 118 a Abs. 2 2, 126
a Abs. 2 138 c Abs. 3, 408 b, 418 Abs. 4 StPO soll hier nicht
näher eingegangen werden.
2) Klemke in StV, 2003, Seite 413 ff. (413)
3) Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 141, Rn. 5; der Diskussionsstand soll hier nicht näher beleuchtet werden, vgl. dazu Klemke
in StV, 2003, Seite 413 ff. (414)
4) Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 141, Rn. 5;
Übersicht: Zum Arbeitsprogramm der Enquetekommission „Ethik
und Recht der modernen Medizin“
Die Einsetzung der Enquetekommission „Ethik und
Recht der modernen Medizin“ (BT-Drs. 15/464) im
Februar 2003 stütze sich im Wesentlichen auf zwei
Motive: Zum einen wollte man auch in der 15. Wahlperiode der Tatsache gerecht werden (können), dass in
Bezug auf Fragen moderner Biomedizin ein nach wie
vor hoher Diskussions- und Entscheidungsbedarf besteht („Zur Fortsetzung und Vertiefung der öffentlichen
Diskussion und zur Vorbereitung politischer Entscheidungen hat die Kommission die Aufgabe, unter angemessener Berücksichtigung aller betroffenen gesellschaftlichen Gruppen, Institutionen und Verbände
sowie der Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, Empfehlungen für gesetzgeberisches
und administratives Handeln in Bezug auf wissenschaftliche Zukunftsfragen und für deren ethische Bewertung
zu erarbeiten.“). Zum anderen hatte die VorläuferEnquete, die Enquetekommission „Recht und Ethik der
modernen Medizin“ in der vorausgegangenen Wahlperiode nicht alle die ihr aufgegebenen Themen ausführlich und abschließend behandeln können; eine Reihe
ungelöster Problembereiche formulierten die Konturen
zukünftiger Themen („Desiderate“, vgl. BT-Drs. 14/
9020, 189 ff.). Zu diesen „Überhängen“ gehören unter
anderem die Forschung an nichteinwilligungsfähigen
Menschen, die Allokationsproblematik in der modernen Medizin, medizinische Perspektiven der NanobioRechtsdienst der Lebenshilfe 4/04
technologie, die Möglichkeiten der Pflanzengenomik zur
Produktion pharmazeutischer Wirkstoffe und deren
Auswirkungen auf den Menschen, die gesellschaftliche
Debatte um Organtransplantation (Xenotransplantation und Lebendspende), Perspektiven der molekularen Medizin zwischen Therapie (treatment) und
Verbesserung (enhancement) sowie Grundlagen und
Kriterien der Selbstbestimmung in allen Lebensphasen
(bereits RdLh 2003, S. 43). Aber auch die schon aufbereiteten Themenfelder sind nicht von der Tagesordnung
verschwunden. Hinzuweisen ist auf die ausstehende
Umsetzung der Biopatent-Richtlinien und das ausstehende Gentest- bzw. Gendiagnostikgesetz.
Die neue Enquete steht somit inhaltlich – in weiten
Teilen auch personell – für Kontinuität, indem sie unmittelbar an die Vorgänger Enquete „Recht und Ethik
der modernen Medizin“ (BT-Drs. 14/3011) anknüpft.
Auch der Arbeitsstil setzt sich fort: Wieder sollen in
Zwischenberichten und in einem Abschlussbericht
Empfehlungen für den Gesetzgeber erarbeitet werden.
Während die erste Kommission vor allem den Beginn
des Lebens in den Blick nahm und sich intensiv der
Stammzellenforschung und der Präimplantationsdiagnostik angenommen hat, geht man nun auf die letzte
Lebensphase des Menschen ein; Fragen der Sterbebegleitung und der Palliativmedizin sowie die sozialpo179
RECHT UND ETHIK
litischen Auswirkungen und der Schutz von Patienten
und Probanden in der klinischen Forschung finden sich
in den folgenden vier Themenblöcken, die gleichsam
das noch ausstehende Arbeitsprogramm umschreiben:
1. „Allokation“ (Priorisierung im Gesundheitswesen);
2. „Ethik in der biowissenschaftlichen und medizinischen Forschung“ (Patienten- und Probandenschutz, die
Arbeit der Ethikkommissionen, Beobachtung wissenschaftlicher Entwicklungen in der Stammzellforschung
und innerhalb der Nanotechnologie;
3. „menschenwürdig leben bis zuletzt“ (Patientenverfügung, Strukturfragen in der Palliativmedizin und
Hospizarbeit, Sterbebegleitung);
4. „Transplantationsmedizin“ (hier besonders die
Lebendorganspende).
Zum Thema „Patientenverfügung“ (Abschlussberatung
am 30. August) liegt seit dem 23. September 2004 ein
Bericht (BT-Drs. 15/3700 – vgl. Anmerkung „Zwischenbericht der Enquetekommission zur Patientenverfügung“ in diesem Heft) vor, ein weiterer Zwischenbericht zum dem Problembereich „Lebendorganspende“
ist für das Frühjahr 2005 vorgesehen. Die weiteren Inhalte werden in den Schlussbericht einfließen, der für
April 2006 terminiert ist und dem Bundestag damit fünf
Monate vor der Bundestagswahl zur Verfügung stehen
würde.
(W-K)
Zwischenbericht der Enquetekommission zur Patientenverfügung
Die Diskussion über Art und Umfang der Patientenautonomie am Lebensende bleibt kontrovers (vgl. bereits RdLh 2004, 135 ff.). Zwischenzeitlich hat (auch)
die Enquetekommission „Ethik und Recht in der modernen Medizin“ des Deutschen Bundestags ihren erwarteten (vgl. RdLh a.a.O., 139) Bericht vorgelegt (Zwischenbericht der Enquete-Kommission Ethik und Recht
der modernen Medizin – Patientenverfügungen – vom
13. September 2004, BT-Drs. 15/3700). Mehrheitlich
plädiert die Kommission dafür, die Grundlagen und
Grenzen so genannter Patientenverfügungen auf eine
gesetzliche Grundlage zu stellen. Im Gegensatz zu den
Empfehlungen der von Bundesjustizministerin Brigitte
Zypries eingesetzten „Kutzer-Kommission“ (vgl. RdLh,
a.a.O., 137) und anders als deren Votum für eine umfassende Stärkung des Selbstbestimmungsrechts durch
eine Bundesgesetzgebung, empfiehlt die Enquetekommission, solche Verfügungen, die das Unterlassen
lebenserhaltender Schritte vorsehen, nur eingeschränkt
für verbindlich zu erklären. Nach dem Enquete-Mehrheitsvotum sollen Patientenverfügungen rechtlich nur
dann bindend sein, wenn „eine Krankheit irreversibel
ist“. Die Einzelheiten des Enquete-Mehrheitsvotums
(unten I.) zeigen die Lücken der aktuellen Debatte (unten II.) auf. Eine baldige Gesetzesinitiative erscheint
daher unter vielen Gesichtspunkten verfrüht (dazu unten III.).
Mehrheitsvotum gegen ein umfassendes
Selbstbestimmungsrecht
Die Enquetekommission stellt ihre Befunde und Empfehlungen zum Thema Patientenverfügungen in einen
Gesamtkontext, der Fragen der Sterbehilfe, -begleitung
und Palliativmedizin berührt (BT-Drs., a.a.O., 5). Aufgrund einer umfassenden Analyse der gegenwärtigen
Rechtslage formuliert der Bericht mit Blick auf die
180
BGH-Rechtsprechung (vgl. RdLh, a.a.O.), dass der Einsatzbereich von Patientenverfügungen „nicht abschließend geklärt“ und daher eine Rechtsunsicherheit gegeben sei, da es eben „explizite gesetzliche Regelungen zu
Patientenverfügungen bisher nicht“ gebe (BT-Drs.,
a.a.O.). Daher sieht die Enquetekommission gesetzgeberischen Handlungsbedarf (siehe BT-Drs., a.a.O., 5 u.
38 – auch zu den folgenden Fundstellen) und empfiehlt, „im Rahmen einer gesetzlichen Regelung die
Gültigkeit von Patientenverfügungen, die einen Behandlungsabbruch oder -verzicht vorsehen, der zum Tode
führen würde, auf Fallkonstellationen zu beschränken,
in denen das Grundleiden irreversibel ist und trotz medizinischer Behandlung nach ärztlicher Erkenntnis zum
Tode führen wird.“ Im Vordergrund stehe damit „die
Stärkung der Patientenverfügung“, verstanden als Ausdruck der Selbstbestimmung. Eine Ausweitung über die
genannten Fallgruppen hinaus würde es aber ermöglichen, „Ärzte und Pflegepersonal durch Patientenverfügungen darauf zu verpflichten, in einer Weise zu
handeln, dass der Tod eines Patienten bzw. einer Patientin nicht durch dessen Leiden oder Krankheit verursacht würde, sondern durch ein Unterlassen im Hinblick auf vitale Lebensfunktionen.“ Eine Beschränkung
der Reichweite von Patientenverfügungen ergebe sich
daher aus der objektivrechtlichen Verpflichtung des
Staates zum Lebensschutz, die ihm die Pflicht auferlege, „die Entstehung eines Klimas zu vermeiden, in dem
Druck auf ältere und/oder schwerkranke Menschen
ausgeübt werden kann, ihr Leben mittels einer
Patientenverfügung willentlich beenden zu lassen (…).“
Zudem solle gesetzlich geregelt werden, dass Patientenverfügungen der besonderen (Schrift-)Form bedürfen
(BT-Drs., a.a.O., 40). Im Einzelnen münden diese wie
auch weitere Detailempfehlungen in den Vorschlag eines § 1901 b BGB (BT-Drs., a.a.O., 45), der die Grundlagen und empfohlenen Grenzen einer Patientenverfügung präzisiert (Hat die Patientenverfügung den
Rechtsdienst der Lebenshilfe 4/04
RECHT UND ETHIK
Verzicht oder Abbruch einer medizinisch indizierten
oder ärztlicherseits vorgeschlagenen lebenserhaltenden
Maßnahme zum Ziel, darf der Betreuer die Patientenverfügung nur umsetzen, wenn das Grundleiden irreversibel ist und trotz medizinischer Behandlung nach
ärztlicher Erkenntnis zum Tode führen wird.).
Lücken und Widersprüche
Bereits innerhalb der Enquetekommission sind die zentralen Mehrheitsvorschläge umstritten. Hingewiesen
wird auf den Widerspruch, das Rechtsinstitut „Patientenverfügung“ einerseits stärken, andererseits aber einschränken zu wollen. Zudem hält Rainer Beckmann in
seinem Sondervotum (BT-Drs., a.a.O., 55 ff.) dem
Regelungskonzept der Enquetemehrheit vor, es leiste
mit der Idee einer Stärkung der Patientenverfügung einer schleichenden Selbstentwertung alter und kranker
Menschen Vorschub und verstärke den falschen Eindruck, gerade Patientenverfügungen seien dazu geeignet, „ein menschenwürdiges Sterben zu ermöglichen
bzw. ‚Planungssicherheit am Lebensende’ zu gewährleisten’.“ Andere Enquetemitglieder (Sondervotum
Albers, Mayer, Reimann und Volkmer bzw. Kausch,
Flach, Merkel und Stöckel, BT-Drs., a.a.O., 60 ff. bzw.
66 ff.) bewerten die vorgeschlagene Einschränkung der
Reichweite einer Patientenverfügung hingegen als eine
nicht tragbare Beschneidung des Selbstbestimmungsrechts und empfehlen – im Gegensatz zum Mehrheitsvotum – die Rechtsverbindlichkeit von Patientenverfügungen im Rahmen einer gesetzlichen Regelung
uneingeschränkt anzuerkennen.
Die Kritik weist unabhängig von ihrer inhaltlichen Ausrichtung auf die offensichtlichen Defizite des Mehrheitsvotums hin. Das Papier bleibt einen fundierten Nachweis darüber schuldig, welche Umstände im Detail ein
Gesetzgebungsbedürfnis begründen. Auch fehlt es an
einer nachvollziehbaren verfassungsrechtlichen Rechtfertigung für die vorgeschlagene Einschränkung des
grundrechtlich verankerten Selbstbestimmungsrechts.
Im Dunkeln bleibt die Grundlage für eine kausale Verknüpfung des unterstellten Regelungsbedarfs mit dem
vorgelegten Folgekonzept, das auf die vermeintliche
Stärkung des Selbstbestimmungsrechts (einzig) innerhalb des Betreuungsrechts abstellt, um gleichzeitig das
angeblich gestärkte Selbstbestimmungsrecht derart einzuschränken, dass nur ein irreversibles Grundleiden die
Beachtung autonomer Patientenentscheidungen zulässt.
Allein der Hinweis auf die in der Tat nicht widerspruchs-
Rechtsdienst der Lebenshilfe 4/04
freie Rechtsprechung des BGH (vgl. etwa Oliver
Tolmein Selbstbestimmungsrecht und Einwilligungsfähigkeit, Frankfurt am Main 2004, 255 ff.) vermag nicht
zu erklären, wie das Selbstbestimmungsrecht durch eine
gesetzliche Begrenzung gestärkt werden soll.
Doch auch die spezifischen Einwände gegen ein Tätigwerden des Gesetzgebers im Bereich des Sterbehilferechts müssen reflektiert werden. Beckmanns in der
Presse mehrfach rezipierte Warnung, das „Instrument
der Patientenverfügung“ führe zu einer „schleichenden
‚Selbstentwertung’ alter und kranker Menschen“, verlangt ebenso eine abwägende Überprüfung postulierter
Gesetzgebungsinitiativen wie seine Überlegung, schriftliche Behandlungsverzichtserklärungen würden indirekt
die Botschaft transportieren, dass schwerwiegende
Krankheitszustände mit einem hohen Betreuungs- und
Pflegeaufwand „unerwünscht und vermeidbar“ seien.
Ob auch vor diesem Hintergrund ein (drängendes) Bedürfnis besteht, Verfügungen möglichst bald schon „einen rechtlichen Rahmen zu geben“ (BT-Drs., a.a.O., 56;
vgl. auch Hartmut Kühne, Patientenverfügung/ Ein
Standpunkt zum Votum der Enquete-Kommission,
Rheinischer Merkur vom 23.09.2004), bleibt zumindest
zweifelhaft.
Basis für eine Gesetzgebung?
Die Defizite des Enquetevotums zeigen, dass es noch
immer an einer vertieften Auseinandersetzung gerade
mit den gesellschaftlichen und den verfassungsrechtlichen Implikationen des Sterbe(hilfe)rechts und der in
diesem Kontext diskutierten Patientenautonomie fehlt
(vgl. RdLh, a.a.O., 140). Noch nicht ausreichend scheinen alle Überlegungen zu Akzeptanz, Möglichkeiten
und Grenzen einer Patientenverfügung in den Enquetebericht eingeflossen zu sein. Gefordert bleibt also nach
wie vor eine vielschichtige Verständigung über die gesellschaftlichen verfassungsrechtlichen Grundlagen und
Schranken für ein „Sterbe(hilfe)recht“, dessen Standards an grundrechtlichen Vorgaben ausgerichtet und
nicht von den einfachgesetzlichen Ansprüchen des
Betreuungsrechts her entwickelt werden. Dies verlangt
Zeit, anders: Die Debatte ist breiter anzulegen. Der
Bericht hat hierzu (lediglich) einen Teilbeitrag geleistet;
das Mehrheitsvotum bildet derzeit keine überzeugende
Grundlage für eine an den Kommissionsvorschlägen
orientierte Gesetzgebung.
(W-K)
181
RECHT UND ETHIK
Ethikrat empfiehlt (fortgesetztes) Verbot des therapeutischen
Klonens
Die im September dieses Jahres vorgelegte Stellungnahme des Nationalen Ethikrates (NER) formuliert unter
dem Titel „Klonen zu Fortpflanzungszwecken und Klonen zu biomedizinischen Forschungszwecken“ (hrg. v.
NER, Berlin 2004) Empfehlungen in Bezug auf die
rechtlichen und ethischen Grenzen einer Zulassung des
Klonens beim Menschen. Das Papier will der Ethikrat
nach Auskunft seines Vorsitzenden, Prof. Spiros Simitis,
auch als Material für die Beratungen bei den Vereinten
Nationen verstanden wissen (Ärztezeitung vom
14.09.2004, 6), wo seit längerem über die Reichweite
eines weltweiten Klonverbots gestritten wird (vgl. RdLh
2003, 42 u. 88). Nach über einem Jahr Beratung plädiert das 25köpfige Gremium dafür, reproduktives Klonen (weiterhin) zu verbieten und auch das therapeutische Klonen – zumindest derzeit – nicht zuzulassen.
Darüber hinaus offenbart der vorgelegte Text jenseits
der Erfassung des aktuellen wissenschaftlich-historischen Sach- und Forschungsstandes sowie der gleichsam deskriptiven Darlegung der Rechtslage anderen
Ländern (S. 34 ff. der Stellungnahme) keine Einigungsfähigkeit im Detail, soweit es um die Bewertung der
Grenzen des therapeutischen Klonens geht.
Einstimmigkeit: Das Verbot des reproduktiven Klonens
Hinsichtlich des „reproduktiven“ Klonens, also der
künstlichen Herstellung eines menschlichen Organismus – gerichtet auf die Erzeugung eines Menschen mit
identischen Erbanlagen –, steht der Ethikrat (S. 39 ff.
der Stellungnahme) einmütig für ein Verbot: „Der NER
spricht sich einstimmig für ein weltweites Verbot des
Klonens von Menschen zu Fortpflanzungszwecken und
für eine Präzisierung der deutschen Rechtslage im Sinne eines strafrechtlichen Verbots aus. Ebenso einmütig
ist der NER der Auffassung, dass das Klonen von Menschen zu Fortpflanzungszwecken nicht nur mit Rücksicht auf den gegenwärtigen Stand von Wissenschaft
und Forschung, sondern unbedingt abgelehnt werden
muss.“ Zur Begründung weist der NER darauf hin, dass
das Fortpflanzungsklonen gegen das Selbstverständnis
und die grundlegenden Werte einer Gesellschaft verstößt, „die sich auf die Achtung vor der Unverfügbarkeit
jedes Menschen gründet.“ Auch verstoße das reproduktive Klonen „gegen die Menschenwürde derjenigen
Person, die geklont wird“ und verletze „die im menschlichen Selbstverständnis verankerte Vorstellung davon,
wie Menschen entstehen sollen.“
182
Drei Voten zum therapeutischen Klonen
Drei unterschiedliche Positionen vertreten die Ratsmitglieder zum therapeutischen Klonen: Die entsprechenden Voten reichen von der Forderung nach einer Beibehaltung des strikten Verbots (1.), über ein momentanes Verbot (3.) bis hin zur begrenzten Zulassung des
therapeutischen Klonens (2.).
(1.) Fünf Mitglieder des Ethikrates, unter ihnen HansJochen Vogel und Peter Radtke, haben sich für ein umfassendes Klonverbot ausgesprochen. Sie stellen darauf ab, dass – ebenso wie im Falle des Fortpflanzungsklonens – auch für das Forschungsklonen ein weltweites Verbot anzustreben sei, das im nationalen Bereich,
derzeit im ESchG verankert, als strafrechtliches Verbot
zudem zu präzisieren sei. Der Präzisierung bedürfe ein
solches Verbot „insbesondere durch […] die Klarstellung, dass das Verbot auch für den Fall gilt, dass die
Entwicklungsfähigkeit des Embryos durch Eingriffe vor
und/oder nach dem Kerntransfer begrenzt oder beseitigt wird.“ Falls es nicht zu einem weltweiten Verbot
komme, „sollte außerdem wie beim Stammzellgesetz
die Strafbarkeit deutscher Täter auch für im Ausland
begangene Verstöße gegen die entsprechenden Strafbestimmungen normiert werden.“
(2.) Dem gegenüber formulieren zwölf NER-Mitglieder eine Forderung nach einer „begrenzten Zulassung
des Forschungsklonens“ (S. 63 ff. der Stellungnahme).
„Die Verwendung von durch Klonen hergestellten
menschlichen Blastozysten im Rahmen der Grundlagenforschung mit therapeutischer Zielsetzung“ sei danach, wenngleich es genauer Regelungen bedürfe, „prinzipiell vertretbar“. Es gebe weder ein moralisches Gebot,
„einer derartigen Blastozyste den Status einer Person
zuzusprechen“, noch verlange das Grundgesetz, „sie als
Träger der Menschenwürde und des Rechts auf Leben
anzusehen.“ Die ‚Forschungsbefürworter’ stellen die mit
dem therapeutischen Klonen verbundenen Hoffungen,
in Zukunft schwere Krankheiten und körperliche Schädigungen (z. B. Querschnittslähmung) heilen zu können, in den Vordergrund und verweisen auf die grundgesetzlich garantierte Forschungsfreiheit.
(3.) Schließlich formuliert die dritte Position eine vermittelnde Auffassung. Unter der Maßgabe „Verbot des
Forschungsklonens zum gegenwärtigen Zeitpunkt“ (S.
84 der Stellungnahme“) formuliert eine Fünfergruppe
um den Vorsitzenden Simitis: „Die Herstellung menschlicher Embryonen auf dem Wege des Klonens für wissenschaftliche oder therapeutische Zwecke ist derzeit
ethisch nicht vertretbar. Sie muss durch entsprechende
Rechtsdienst der Lebenshilfe 4/04
RECHT UND ETHIK
rechtliche Regelungen untersagt werden. Sollten sich
in der Forschung ethisch vertretbare Möglichkeiten ergeben, Stammzellen auch ohne die Verwendung von
Embryonen zu gewinnen, sind solche Ansätze zu fördern.“ Diese Position verweist damit auf (zukünftige
bzw. alternative) „Perspektiven der Forschung“, und
zudem wird dem Postulat der Forschungsfreiheit das
Prinzip der „Forschungsverantwortung“ (S. 86 der Stellungnahme) entgegengehalten. Diese verlange, die Zulässigkeit eines Forschungsprojekts an der Verhältnismäßigkeit, an seiner Alternativlosigkeit und an der
Hochrangigkeit des Forschungsvorhabens zu messen.
Derzeit gebe es jedoch „gute Gründe, an der therapeutischen Nutzbarkeit des Klonens zu zweifeln.“
Gemeinsamer Nenner: Verbot zum jetzigen Zeitpunkt
auch zum Forschungsklonen – formuliert auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner: „Der Nationale Ethikrat verständigt sich – unbeschadet der dargestellten divergierenden Voten – auf die Empfehlung, das Forschungsklonen in Deutschland gegenwärtig nicht zuzulassen.“
Mit dieser Formel meint man, eine politische Lösung
gefunden zu haben (Ärztezeitung, a.a.O.).
Der Formelkompromiss kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine Mehrheit im NER einer Öffnung hin
zu einer Zulassung des therapeutischen Klonens offen
gegenübersteht. Die Bezugnahme auf ein Verbot zum
gegenwärtigen Zeitpunkt beendet die Debatte nicht, sondern vertagt sie, ohne den politischen Entscheidungsprozess entscheidend vorangebracht zu haben. Das
Votum des Ethikrates – „ein Baukasten der Beliebigkeit“ (Hanno Kautz, Ärztezeitung vom 15.09.2004) –
offenbart die Grenzen ethischer Beratungsgremien und
formuliert die Frage nach deren Relevanz.
(W-K)
Die vermittelnde Ausrichtung der ‚Simitis-Gruppe’ bildet die Grundlage für eine gemeinsame Empfehlung
Präimplantationsdiagnostik (PID) – Eindrücke angesichts der
Diskussion in Österreich
In Österreich gibt es kein ausdrückliches gesetzliches
Verbot der PID, jedoch wird aus dem bestehenden
Fortpflanzungsmedizingesetz (FMedG) ein Verbot abgeleitet. Befürworter der PID wünschen sich daher eine
Abänderung des FMedG zugunsten einer ausdrücklichen Zulassung der PID innerhalb bestimmter Rahmenbedingungen.
Die Bioethikkommission beim Bundeskanzleramt, welche im Sommer 2001 von Bundeskanzler Wolfgang
Schüssel ins Leben gerufen wurde, hat nun nach mehr
als einjähriger Beschäftigung mit dem Thema am 19.
Juli dieses Jahres ihren ausführlichen Bericht bezüglich der PID veröffentlicht. Zwölf Mitglieder der Kommission empfehlen in diesem Bericht eine beschränkte
Zulassung der PID, sieben Mitglieder sind für eine Beibehaltung der bestehenden Gesetzeslage. Die Kommission betonte den Empfehlungscharakter ihrer Stellungnahme und den Wunsch nach einer breiten öffentlichen
Diskussion zum Thema.
Fand eine Diskussion statt?
Als in Deutschland schon lange über PID in vielen verschiedenen Zusammenhängen (Kongressen, Veranstaltungen) diskutiert wurde, war hierzulande der Begriff
PID noch in den meisten Bereichen ein Fremdwort.
Erst allmählich kam auch in Österreich das Thema auf
– bei verschiedenen Konferenzen, zu allererst in den
medizinischen Bereichen, oder vereinzelt in den Medien.
Rechtsdienst der Lebenshilfe 4/04
Relativ bald – und wohl auch aus der unmittelbaren,
eigenen Betroffenheit heraus – begannen sich die
Behindertenorganisationen mit dem Thema PID zu beschäftigen, doch hier fanden die Diskussionen vor
allem „hinter verschlossenen Türen“, also intern, statt.
Innerhalb der „Behindertenszene“ in Österreich lassen
sich angesichts der PID-Thematik, vereinfacht dargestellt, zwei Meinungsströmungen ausmachen: Da sind
zunächst Menschen mit Behinderung. Sie sind in den
meisten Fällen gegen eine Zulassung der PID, da diese
Untersuchungsmethode in ihren Augen ein „Selektionsinstrument“ darstellt, durch das der eigene Lebenswert
in Frage gestellt bzw. die eigene Lebensberechtigung
abgesprochen wird.
Eine andere Meinungsrichtung findet sich bei vielen
Angehörigen, da von diesen das Leben mit einem behinderten Familienmitglied – verstärkt durch Vorurteile des Umfeldes sowie aufgrund sozialer Isolation – oftmals als Belastung erlebt wurde. Aus diesem persönlichen Erleben heraus sehen sie durch die PID eine mögliche „Garantie“ auf ein gesundes Kind gewährleistet.
Sie wollen Belastungen ersparen: Den Familien und
auch den behinderten Menschen selbst.
Die Professionisten – jene, die in der Behindertenbetreuung arbeiten – befinden sich, soweit das erkennbar ist, mit ihrer Meinung zwischen diesen zwei starken Polen. Da in den Behindertenorganisationen beide
Strömungen aufeinander treffen, verläuft die Diskussion zur PID hier zum Teil sehr emotional und kontrovers.
183
RECHT UND ETHIK
Die österreichweiten Medien – Fernsehen und Zeitung
– griffen das Thema PID erst auf, nachdem die Stellungnahme der Bioethikkommission des Bundeskanzlers mittels Pressekonferenz diesen Sommer bekannt
gegeben wurde.
Was in diesem Zusammenhang gerne verknüpft wird:
In Österreich ist nach derzeitiger Gesetzeslage ein
Schwangerschaftsabbruch bis unmittelbar vor der Geburt aufgrund einer „embryopathischen Indikation“
zulässig, wenn […] die ernste Gefahr besteht, dass das
Kind geistig oder körperlich schwer geschädigt sein
werde (§ 97 Abs. 2 StGB-Ö). PID wird vor diesem Hintergrund als „das kleinere Übel“ angeführt, das Frauen
eine Spätabtreibung erspare. Die Verknüpfung dieser
beiden Problembereiche macht die öffentliche Diskussion in Österreich noch spannungsgeladener, hat doch
das Thema „Embryopathische Indikation“ – oder auch
„Eugenische Indikation“ genannt – in den letzten Jahren immer sofort hitzige politische Debatten um die
Fristenregelung ausgelöst.
Auf die Bekanntmachung der Stellungnahme der
Bioethikkommission des Bundeskanzlers folgten kritische Stellungnahmen der Interessenvertretungen von
Menschen mit Behinderungen sowie der „Aktion Leben“, die im Juli auch 64.000 gesammelte Unterschriften für ein klares Verbot der PID dem Parlament übergab.
Auch von Seiten der Kirche kam massive Kritik. Die
Österreichische Bischofskonferenz spricht sich in ihrer
Stellungnahme vom Juli dieses Jahres gegen eine Zulassung der PID aus; diese sei ein „unmittelbares Instrument zur Selektion und mittelbares Instrument zur
Tötung von Menschenleben […]. Menschen mit Behinderungen würden einem unerträglichen und entwürdigenden Druck ausgesetzt werden“.
In den Medien kamen dann nicht zuletzt auch die führenden Mediziner und Wissenschaftler des Landes zu
Wort – allesamt für eine Legalisierung der PID, zumindest aber für eine begrenzte Zulassung mittels eines
Indikationenkataloges. Und auch bei einigen feministischen Gruppen finden sich Befürworterinnen der PID
im Sinne einer propagierten Selbstbestimmung der Frau.
Eine Planbarkeit der Schwangerschaft solle – wenn
schon die Technologien dafür vorhanden wären – auch
184
eine Planbarkeit des Kindes miteinschließen. Von politischer Seite verkündete die neue Justizministerin Karin Miklautsch diesen Sommer, dass die PID eine „wirklich heikle und politische Frage sei“, über welche sie in
jedem Fall noch eine breite öffentliche Debatte begrüßen und wünschen würde.
Perspektiven: Eine breite öffentliche
Debatte
Nun, wir können nur hoffen, dass die „breite öffentliche Debatte“ noch stattfinden wird. Bisher gab es nur
vereinzelte, heftige, kurze Debatten. Die Materie weckt
viele Emotionen. Das Thema PID schafft sofort unfreiwillige Lager in der öffentlichen Diskussion: Auf der
einen Seite Medizin, Forschung und Wissenschaft, oft
Hand in Hand mit zukünftigen Eltern. Sie alle wollen
„Leid vermeiden“ und aus diesem Blickwinkel heraus
Schwangerschaften „optimieren“ und die Geburt behinderter Kinder weitmöglich verhindern. Der anderen
Seite werden Behindertenverbände, Philosophen, Ethiker und Kirche zugeordnet. Hier ist man besorgt um
neue Möglichkeiten der „Menschenselektion“ bzw. erschreckende Dimensionen einer Lebensrecht/Lebenswert-Diskussion, die nicht zu unrecht eng verknüpft mit
den Erinnerungen an die geschichtliche Vergangenheit
dieses Landes sind.
Die selten stattfindenden öffentlichen Diskussionen
werden polemisiert – „Lager 1“ wird darin gleichgesetzt
mit „der Wissenschaft, die vor nichts zurückschreckt“
– „Lager 2“ mit „jenen, die dem Menschen Leid und
leidvolle Erfahrungen aufzwingen möchten und von ihm
fatalistisches Ergeben in sein Schicksal fordern.“
Wir, die Lebenshilfe Wien, wünschen uns eine differenziertere Diskussion, eine Diskussion,
· in der auch die so genannten „normalen Bürger von
der Straße“ für das Thema sensibilisiert werden;
· die viel mehr Nuancen und Schattierungen in den einzelnen Standpunkten und offene Fragen zulässt;
· in die sich auch die Politik einbringt und ethische Verantwortlichkeiten in den Fragestellungen wahrnimmt.
(Susanne Haslinger Lebenshilfe Wien / Öffentlichkeitsarbeit und Interessenvertretung)
Rechtsdienst der Lebenshilfe 4/04
BÜCHERSCHAU
Bücherschau
Sigrid Graumann u. a. (Hg.): Ethik und Behinderung
– Ein Perspektivenwechsel, „Kultur der Medizin“: Geschichte – Theorie – Ethik, Band 12; Frankfurt am
Main 2004: Campus-Verlag, 197 Seiten, 20 EURO,
ISBN: 3-593-37619-9
Menschen mit Behinderungen leben nach wie vor in
einer Umwelt, die nicht ausreichend auf ihre Bedürfnisse ausgerichtet ist. Im wissenschaftlichen Diskurs
wird ihre Perspektive häufig ausgeblendet, an der ethischen Urteilsbindung in der Gesellschaft werden sie zu
wenig beteiligt. Wie aber kann eine Ethik aussehen, die
Differenz anerkennt und gleichzeitig die Verletzlichkeit
des Menschen berücksichtigt? Diese Frage wird in der
Publikation anhand unterschiedlicher Themen diskutiert: Der Definition von Behinderung, der Idee der
Fürsorgeethik, der Pränataldiagnostik, der Sterbehilfe,
der Frage nach einem „Recht auf Verschiedenheit“ und
mit Blick auf weitere Aspekte; mit Beiträgen unter anderem von Johann S. Ach, Adrienne Asch, Klaus Dörner,
Eva Feder Kittay, Jürgen Link, Elisabeth List, Dietmar
Mieth und Gerhard Wolff, mit einem Geleitwort von
Robert Antretter sowie mit der von Bundespräsident
Johannes Rau gehaltenen Eröffnungsrede zu der Tagung
„Differenz anerkennen – Ethik und Behinderung, ein
Perspektivenwechsel“, die von den Herausgebern dieses Bandes vorbereitet wurde.
Veit Müller: Die Normierung der Fortpflanzung – Der
Einfluss eugenischer und humangenetischer Erkenntnisse und Forderungen auf das menschliche
Reproduktionsverhalten; Baden-Baden 2004: NomosVerlagsgesellschaft, 117 Seiten, 41 EURO, ISBN 38329-0543-X
Die Privatisierung der Biopolitik schreitet voran – ihr
Adressat: Die vorsorgende Frau. Die Studie von Veit
Müller geht dieser pointierten These und damit einer –
nicht nur von neoliberaler Seite – verbreiteten Sichtweise moderner Bio-Wissenschaften auf den Grund. Er
setzt sich mit der daraus resultierende Position auseinander, wonach der Zugriff auf die pränatale Diagnostik
(„auf der Grundlage des genetischen Wahrheitsspiels“)
als vernünftiges und verantwortliches Verhalten anzusehen sei. Die damit verknüpfte Begründung, Risiken
seien so minimierbar und Freiheitsspielräume für die
Frau gewonnen, unterzieht der Autor sodann einer eingehenden Kritik. Letztendlich werde, so Müller, durch
diese Zuschreibungen ein vorauseilender Gehorsam der
Frau provoziert, sich und das Ungeborene genetisch
überwachen zu lassen. Diese Reduktion auf Risiken
führe als genetischer Determination zu dem Ergebnis,
dass Angst- und Schuldgefühle zusammen mit einem
Rechtsdienst der Lebenshilfe 4/04
vermeintlichen Gewinn an Sicherheit und Selbstbestimmung entstehen. Mit ihren zugespitzten Thesen ist
Müllers Arbeit ein anregender Beitrag innerhalb der
aktuellen Bioethikdebatte.
Andreas Spickhoff: Aktuelle Rechtsfragen des medizinischen Behandlungsverhältnisses – Zivilrechtsdogmatische Überlegungen de lege lata und de lege
ferenda; München: Verlag C. H. Beck, 64 Seiten, 20
EURO, ISBN 3-406-52081-2
Die gewachsene Bedeutung des Medizinrechts spiegelt
sich im Bereich des Zivilrechts bislang nur eingeschränkt wider. Das gilt insbesondere für genauere Regelungen des medizinischen Behandlungsvertrages.
Spickhoff wirft daher in seiner Schrift die Frage nach
Reform- bzw. Kodifikationsbedarf auf und beleuchtet
zwei problematische Bereiche des Behandlungsverhältnisses im Krankenhaus: Den Honoraranspruch
des privat liquidierenden Arztes (und seine Aktivlegitimation) sowie das Problemfeld der Haftung von Arzt
und Krankenhausträger unter Berücksichtigung der
Frage nach der entsprechenden Passivlegitimation.
Oliver Tolmein: Selbstbestimmungsrecht und
Einwilligungsfähigkeit – Der Abbruch künstlicher Ernährung bei Patienten im vegetative state in rechtsvergleichender Sicht: Der Kemptener Fall und die Verfahren Cruzan und Bland; Frankfurt am Main 2004:
Mabuse-Verlag, 311 Seiten, 32 EURO, ISBN 3935964-73-0
In der aktuellen Debatte um Sterbehilfe und Patientenautonomie am Lebensende wird immer wieder die Notwendigkeit betont, das Selbstbestimmungsrecht der
Patienten zu stärken. Der Autor zeigt am Beispiel der
Wachkoma-Patienten, dass dieser Ansatz zu kurz greift
und in Einzelfällen sogar fatale Konsequenzen haben
kann, weil noch immer diskriminierende Vorstellungen
über Behinderung die Debatte über den Abbruch von
Behandlungen und das Leben und Sterben in Würde
prägen. Gefährlich sei es vor allem, so der Autor, wenn
Angehörige oder Betreuer auf Basis einer „mutmaßlichen Einwilligung“ so entscheiden, wie der Betroffene
angeblich selbst entscheiden würde. Um zu verhindern,
dass gerade Schwerstbehinderte, die sich nicht selbst
artikulieren können, einer neuen Euthanasie zum Opfer fallen, entwickelt Tolmein einen bedürfnisorientierten Entscheidungsstandard. Vor diesem Hintergrund liefert die Studie einen aktuellen Beitrag zur
gegenwärtigen Debatte über ein „Sterbehilferecht“.
185
BÜCHERSCHAU
Birgit Hoffmann, Thomas Klie: Freiheitsentziehende
Maßnahmen – Unterbringung und unterbringungsähnliche Maßnahmen im Betreuungsrecht und –
praxis; mit der Münchener Studie zu Freiheitsentziehenden Maßnahmen in Pflegeheimen von Prof.
Dr. Thomas Klie und Thomas Pfundstein; Heidelberg
2004: C. F. Müller, Verlagsgruppe Hüthig : Jehle :
Rehm, 204 Seiten, 29 Euro, ISBN 3-8114-3106-4
Das Betreuungsrecht regelt seit 1992 Voraussetzungen
und Grenzen eines Eingriffs in Freiheitsrechte durch
eine zivilrechtliche Unterbringung bzw. durch freiheitsentziehende Maßnahmen. Dieses Buch informiert Betreuer, Bevollmächtigte und alle anderen, die an der
Entscheidung über die Anwendung entsprechender
Maßnahmen beteiligt sind, über die rechtlichen Grundlagen. Materiellrechtliche Voraussetzungen, vormundschaftsgerichtliche Genehmigung, vormundschaftsgerichtliches Verfahren und Durchführung der
Unterbringung bis hin zu zivilrechtlicher Haftung und
strafrechtlicher Verantwortung sind verständlich dargestellt. Die „Münchener Studie“ aus dem Jahr 2002
hatte zum Inhalt, sowohl die Erscheinungsformen als
auch die rechtliche Legitimation von freiheitseinschränkenden und –entziehenden Maßnahmen in
Münchener Pflegeheimen realistisch nachzuzeichnen.
Ein Rechtsprechungsteil sowie Mustertexte vervollständigen diese empfehlenswerte Neuerscheinung.
Till Gutenberger: Das Haager Übereinkommen über
den Internationalen Schutz von Erwachsenen –
Schriften zum deutschen, europäischen und vergleichenden Zivil-, Handels- und Prozessrecht, Band 217;
Gieseking-Verlag 2004, 313 Seiten, 78 EURO, ISBN
3-7694-0950-7
In dieser Dissertationsschrift analysiert der Autor das
am 02.10.1999 von der Haager Konferenz für internationales Privatrecht verabschiedete Übereinkommen
über den internationalen Schutz von Erwachsenen. Auf
der Grundlage eines kurzen rechtsvergleichenden Überblicks der Rechtslage zum Erwachsenenschutz in ausgewählten Staaten erfolgt eine eingehende Untersuchung der zentralen Regelungen des Haager
Übereinkommens über die internationale Zuständigkeit
von Behörden in Fürsorgeverfahren, zum anzuwendenden Recht und zur Anerkennung von Entscheidungen
der Mitgliedsstaaten untereinander. Fünf Beispielfälle,
die das praktische Funktionieren des Haager Übereinkommens im Vergleich zur derzeit geltenden Rechtslage illustrieren sollen, runden die Arbeit ab, die an Aktualität gewinnt durch die vom Bundesministerium der
Justiz vorgelegten Referentenentwürfe von Gesetzen zur
Ratifizierung und zur innerstaatlichen Umsetzung des
Haager Übereinkommens.
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Martin Löhnig: Das Recht des Kindes nicht miteinander verheirateter Eltern. Abstammung – Sorgerecht
– Umgangsrecht – Namensrecht – Unterhalt; Berlin
2004: Erich Schmidt Verlag, 2. überarbeitete und erweiterte Auflage, 136 Seiten, 19,95 EURO; ISBN 3
503 07864
Das Kindschaftsrecht unterscheidet seit der Kindschaftsrechtreform im Jahre 1998 nicht mehr zwischen ehelichen und nicht ehelichen Kindern. An die Frage, ob
Eltern verheiratet sind oder nicht, knüpfen sich allerdings nach wie vor wichtige Rechtsfolgen, so dass noch
immer zwischen dem „Recht des Kindes nicht miteinander verheirateter Eltern“ und dem „Recht des Kindes verheirateter Kinder“ unterschieden werden muss.
Bedeutsame Regeln für das Kind nicht miteinander verheirateter Eltern enthalten das Abstammungs-, Sorge-,
Umgangs-, Namens- und das Unterhaltsrecht. Martin
Löhnig erörtert praxisnah die aktuellen Regelungen
unter Dokumentation einschlägiger Rechtsprechung.
Die leicht verständliche Darstellung wendet sich sowohl
an fachlich mit den einschlägigen Rechtsgebieten
befasste Personen als auch an nicht miteinander verheiratete Eltern und deren Kinder.
Jürgen Damrau (Hrsg.): Praxiskommentar Erbrecht;
Angelbachtal 2004: Zerb Verlag, 2125 Seiten mit CDROM, 98 EURO, ISBN 3-935079-15-X
Mit diesem Buch hat der Verfasser einen Kommentar
geschaffen, der sich vorwiegend an Juristen wendet, die
auf dem Gebiet des Erbrechtes arbeiten. In diesem
Praktikerkommentar ist die Rechtsprechung des BGH
und der Obergerichte mit eingearbeitet. Für diejenigen,
die das Buch mit CD-ROM erwerben, besteht die Möglichkeit, auf alle wichtigen Entscheidungen direkt zuzugreifen.
Die Kommentierung zu den einzelnen Vorschriften geht
ausführlich auf Tatbestand, Rechtsfolgen, Verfahrensfragen, steuerrechtliche Folgen etc. ein. Daneben gibt
sie dem Benutzer praktische und prozesstaktische Hinweise. Der Ausrichtung auf den konkreten Praxisbezug
dient auch der Anhang, der eine kurze Einführung in
das Rechtsvergütungsgesetz und eine Übersicht zu den
verschiedenen Gegenstandswerten und Kosten im Erbrecht gibt.
Rechtsdienst der Lebenshilfe 4/04
BÜCHERSCHAU
Michael Bohnefeld/Hanspeter Daragen/Manuel
Tanck: Arbeitshilfe im Erbrecht, Hrsg. Heinrich Nieder; Angelbachtal: Zerb Verlag, 1. Ergänzungslieferung 2004, Kosten des Grundwerkes 68 EURO,
ISBN 3-935079-13-3
Dieses bietet in seiner Komplexität eine ausgezeichnete Arbeitshilfe für im erbrechtlichen Bereich arbeitende Praktiker. Es enthält die Gesetzestexte zivilrechtlich
bedeutsamer Regelungen, wie BGB, FGG, GBO, Höheordnung, aber auch Heimgesetz, BSHG usw. und auch
die steuerlich wichtigen Regelungen, wie insbesondere
Erbschafts- und Schenkungssteuergesetz, aber auch das
Bewertungsgesetz und Auszüge aus dem Einkommenssteuergesetz.
Weiterhin bietet das Werk eine umfangreiche Darstellung über Fristen und Kosten in Erbschaftssachen, gibt
Hinweise zu Berechnungen und Formulierungen. Ergänzt wird es durch Übersichten und Checklisten zur
Klärung des Sachverhaltes und zum Aufbau letztwilliger Verfügungen, durch Tabellen und ein umfangreiches
Adressverzeichnis.
Die 1. EL März 2004 enthielt im Wesentlichen steuerrechtliche Änderungen, u.a. im Erbschafts- und
Schenkungssteuerrecht, in der Abgabenordnung und im
Umsatzsteuergesetz.
Norbert Joachim: Pflichtteilsrecht für die gerichtliche, anwaltliche und notarielle Praxis; Berlin 2004:
Erich Schmidt Verlag, 404 Seiten, 58 EURO, ISBN
3-503-07867-3
Dieses Buch kann und soll juristischen Praktikern Hilfe bei der Bewältigung der rechtlichen Probleme, die
sich aus der Zuwendung des Pflichtteiles für nahe Angehörige ergeben, bieten. Es richtet sich aber auch
durchaus an interessierte Nichtjuristen, die sich einen
Überblick über das Pflichtteilsrecht verschaffen wollen.
Dem Leser wird ein Leitfaden an die Hand gegeben,
der es ihm ermöglicht, sich einen umfassenden Überblick über die vielfältigen Problembereiche des
Pflichtteilsrechtes zu verschaffen. Der Verfasser legt
Wert auf die praktische Anwendbarkeit und trägt dem
durch die Behandlung von in der Praxis wichtigen Fallkonstellationen, zahlreiche Muster und Hilfestellungen
zur Durchsetzung von Ansprüchen Rechnung. Das Buch
behandelt alle Problembereiche, die für die juristische
Praxis wesentlich sind und belegt sie umfangreich mit
Rechtsprechung und Literatur.
Rechtsdienst der Lebenshilfe 4/04
Walter Zimmermann: Erbschein und Erbscheinsverfahren für die gerichtliche, anwaltliche und notarielle Praxis; Berlin 2004, Erich Schmidt Verlag, 440
Seiten, 58 EURO, ISBN 3-503-07838-3
Dieses Buch stellt die wichtigsten Fragen des
Erbscheinsrechtes dar. Es geht sowohl auf das materielle Erbscheinsrecht als auch auf das Verfahrensrecht
ein und legt ein besonderes Gewicht auf Kostenfragen,
weil hier der Erbscheinsantragsteller manchmal sparen
kann. Es werden auch Hinweise auf Sonderregelungen
in den einzelnen Bundesländern gegeben. Daneben
werden Erbscheinsfragen nach dem Tod eines Ausländers ausführlich in die Darstellungen mit einbezogen.
Das Buch berücksichtigt auch die aktuelle Rechtsprechung. Es stellt sowohl für den in der juristischen Praxis tätigen als auch für den interessierten Laien eine
gute Möglichkeit dar, sich umfassend über die Thematik zu informieren.
Jutta Prem, Monika Reinert, Thomas Uhlig: Das neue
Sozialhilferecht – SGB XII Einführung, Text zum SGB
XII, Regelsatz- und Budgetverordnung; Köln: Bundesanzeiger Verlag, 16,80 EURO, 155 Seiten, ISBN
3-89817-392-5
Die Autoren sind Mitarbeiter in dem Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung, Referat Gesetzgebung auf dem Gebiet der Sozialhilfe, Leistungen
an Ausländer, internationale Sozialhilfefragen. Daher
ist die Einführung, die sich mit den inhaltlichen Schwerpunkten des Gesetzes befasst, an der offiziellen
Gesetzesbegründung orientiert. Hilfreich ist die Wiedergabe einer Kurzsynopse BSHG-SGB XII vor dem
Gesetzestext und die Veröffentlichung von vier Verordnungen, die für die Umsetzung des SGB XII maßgeblich sind. Das Buch ist damit eine wichtige Praxishilfe
für den Start des SGB XII. Nicht berücksichtigt sind
allerdings die Änderungen, die durch das SGB XIIÄndG erst im November verabschiedet worden sind.
Katrin Fastabend/Egbert Schneider: Das Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung; Berlin
2004, Erich Schmidt Verlag, 420 Seiten, 49,80 EURO,
ISBN 3-503-07427-9
Das vorliegende Werk vermittelt einen schnellen, aber
dennoch verlässlichen Überblick über das aktuelle
Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung.
Das Buch schließt damit eine Lücke. Entsprechend seinem Charakter als Einführungswerk orientiert es sich
vor allem an der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts. Die Autoren sind als Richter am Sozialgericht
tätig und kennen das Krankenversicherungsrecht aus
187
RECHT UND ETHIK
ihrer eigenen beruflichen Praxis. Allen, die mit dem
Recht der Krankenversicherung befasst sind, steht ein
kompaktes, aktuelles (Rechtsstand 1.1.2004) und gut
lesbares Werk zur Verfügung.
Karl Hauck/Wolfgang Noftz: Sozialgesetzbuch SGB
III – Arbeitsförderung, Kommentar; Berlin: Erich
Schmidt Verlag, 39. bis 42. Lieferung 2004, 150,20
EURO, ISBN 3-503-04341-1
Mit den jüngsten Ergänzungslieferungen wird der Kommentar aktuell und zuverlässig fortgeführt. Zahlreiche
Kommentierungen sind den zwischenzeitlichen Gesetzesänderungen angepasst worden. Weitere Vorschriften (z.B. §§ 404 ff. und §§ 418 ff.) sind neu kommentiert. Mit der 42. EL ist der Kommentar auf dem Stand
vom 1. September 2004. Die Nutzer können somit weiterhin auf eine aktuelle und fundierte Kommentierung
zu allen Fragen der Arbeitsförderung zurückgreifen.
„Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit“
neu erschienen
Neu aufgelegt und herausgegeben hat das Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung die „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem
Schwerbehindertenrecht“. Einbezogen sind die Inhalte
neuer Gesetze wie z. B. des SGB IX und des Infektionsschutzgesetzes. In seiner Pressemitteilung weist das
Ministerium darauf hin, dass die „Anhaltspunkte“ weiter „als antizipierte Sachverständigengutachten wie
untergesetzliche Normen“ gelten. Das Buch kann über
die Homepage des B MG S im Internet
(www.bmgs.bund.de) sowie per Telefax unter 0180/
5151511 zum Preis von 13 EURO zuzüglich Versandkosten bestellt werden.
Kunz/Butz/Wiedemann: Kommentar; München: C.
H. Beck Verlag, 10. Auflage 2004, 574 Seiten, 45
EURO, ISBN 3-406-51694-7
Der bewährte Kommentar zum Heimgesetz orientiert
sich an den Bedürfnissen der Praxis. Die Autoren sind
ausgewiesene Kenner des Heimrechts. Die 10. Auflage
berücksichtigt die tiefgreifenden Änderungen durch das
Dritte Gesetz zur Änderung des Heimgesetzes und beinhaltet
die
Kommentierung
der
neuen
Heimmitwirkungs-Verordnung. Damit sind jetzt im
Werk alle heimrechtlichen Verordnungen mitkommentiert (Heim-Mindestbauverordnung, HeimMitwirkungsverordnung, Heim-Sicherungsverordnung
und Heim-Personalverordnung). Weitere praxisrelevan188
te Vorschriften wie das neu verkündete Altenpflegegesetz runden den Kommentar in gelungener Weise ab.
Stefan Schick: Rechts- und Unternehmensformen; Baden-Baden, 1. Auflage 2 003: Nomos-Verlagsgesellschaft, 101 Seiten (Studienkreis Management
in der Sozialwirtschaft), 19,80 EURO, ISBN 3-83290208-2
Die neuen Rahmenbedingungen in der Sozialwirtschaft
führen dazu, dass vorhandene Organisationsstrukturen
überprüft werden müssen. Die Aufbauorganisation muss
ihrerseits in rechtliche Gestaltungsformen umgesetzt
werden. Dazu ist die Kenntnis der Organisationsstrukturen der verschiedenen Rechtsformen unabdingbar. In
der Praxis stellt man sich darüber hinaus häufig Rechtsfragen im Zusammenhang mit der Rechts- und Organisationsform, die im Einzelfall rasch beantwortet werden müssen. Der vorliegende Band gibt einen
verständlichen Überblick über die verschiedenen
Rechtsformen sozialwirtschaftlicher Einrichtungen.
Behandelt werden u. a. folgende Themen: Grundprinzipien verschiedener Rechtsformen (Aufb auorganisation, Finanzierung, Haftung); Privatrechtliche
Rechtsformen (Personen- und Kapitalgesellschaften,
Vereine, Stiftungen); Vergleiche der Rechtsformen und
ihre Eignung für sozialwirtschaftliche Unternehmen;
Öffentlich-rechtliche Rechtsformen (Stiftungen, Anstalten, Körperschaften). Zahlreiche Schaubilder und Zusammenfassungen erleichtern zudem einen schnellen
Einstieg in die Materie.
Max Troll/Rolf Wallenhorst/Raymond Halaczinsky:
Die Besteuerung gemeinnütziger Vereine, Stiftungen
und der juristischen Personen des öffentlichen Rechts;
München 2004: Verlag Vahlen, 5. Auflage, 907 Seiten, 79 EURO, ISBN 3-8006-2956-9
Das vorliegende Buch enthält eine umfassende Darstellung der praktisch relevanten Aspekte der Versteuerung
gemeinnütziger Vereine, Stiftungen und juristischer
Personen des öffentlichen Rechts. Es beschäftigt sich
auch mit der Besteuerung von wirtschaftlichen Geschäftsbetrieben gemeinnütziger Körperschaften und
setzt Schwerpunkte bei besonders praxisnahen Themen,
wie Sponsoring, Leistungen an Stifter, Stiftungsspenden
und Spendenhaftung. Daneben enthält es umfangreiche Ausführungen zu den Themen steuerliche Gemeinnützigkeit, steuerbegünstigte Zwecke, wirtschaftliche
Betätigungen und Spendenrecht.
Durch seine transparente systematische Darstellung
aller relevanten Steuerarten, bedeutsamer Spezialthemen, der Einarbeitung einschlägiger Gerichtsentscheidungen, Verwaltungs anweisungen und
Rechtsdienst der Lebenshilfe 4/04
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Rechtsdienst der Lebenshilfe 4/04
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BÜCHERSCHAU
Literaturmeinungen und nicht zuletzt dem nützlichen
Anhang, bestehend aus Satzungsmustern, einem Register zum wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb und Rechenbeispielen wird dieses Buch zu einem nützlichen Werk
der jeweils mit der Thematik befassten Fachwelt.
Rudolf Aufhauser, Hanna Brunhöber, Peter Igl:
Arbeitssicherheitsgesetz, Handkommentar; BadenBaden: Nomos-Verlagsgesellschaft, 3. Auflage 2004,
ca. 415 Seiten, 49 EURO, ISBN 3-8329-0428-X
Dieser Kommentar enthält eine umfassende und dennoch komprimierte Darstellung aller Bestimmungen des
Arbeitssicherheitsgesetzes auf aktuellem Stand. Die
Gesetzabschnitte über Betriebsärzte, Fachkräfte für
Arbeitssicherheit und für diesen Bereich geltende
„gemeinsame Vorschriften“ werden anschaulich unter
Berücksichtigung von Rechtsprechung und Schrifttum
erläutert. Der umfangreiche Anhang enthält alle für den
Bereich Arbeitssicherheit wichtigen Gesetzestexte, Unfallverhütungsvorschriften, Verwaltungsvorschriften
und Richtlinien sowie Mustertexte.
Eric Hilgendorf (Hrsg.): Informationsstrafrecht und
Rechtsinformatik; Berlin 2004: Logos-Verlag, 206 Seiten, 39 EURO, ISBN 3-8325-0536-9
Mit der zunehmenden Digitalisierung unserer Lebenswelt und dem damit einher gehenden Wandel hin zur
Informationsgesellschaft beginnt sich ein neues Rechtsgebiet herauszubilden: das Informationsrecht. Es handelt sich um eine Querschnittsmaterie, zu der neben
zivilrechtlichen und öffentlich-rechtlichen Fragestellungen in erheblichem Umfang auch strafrechtliche Probleme gehören. Hilgendorfs Band ist dem Informationsstrafrecht gewidmet. Behandelt werden Probleme mit
Grundlagenbezug ebenso wie Fragen des „Hacking“ und
„e-learning“. Ergänzt wird der Sammelband, dessen
Autoren dem Umkreis des Würzburger Lehrstuhls für
Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtsinformatik entstammen, durch Beiträge zum „Outsourcing von
Versicherungsdaten“ und durch Befunde über „Strafrechtliche Instrumentarien gegen Schadprogramme im
Computer“. In den Beiträgen wird ganz überwiegend
wissenschaftliches Neuland betreten. Gleichzeitig findet der Nutzer moderner Informationsmedien wichtige rechtliche Orientierungspunkte.
190
Hans Jochem Mayer / Ludwig Kroiß (Hrsg.): Rechtsanwaltsvergütungsgesetz. Handkommentar; BadenBaden 2004: Nomos-Verlagsgesellschaft; 1227 Seiten,
69 EURO, ISBN 3-8329-0496-4
Nach fast 50 Jahren löst das neue Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG) die Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung (BRAGO) ab. Das RVG unterscheidet sich wesentlich vom bisherigen Recht.
Anstelle der über 130 BRAGO-Paragraphen wird es nur
noch 61 Paragraphen enthalten, und die Gebührensätze werden in einem gesonderten Vergütungsverzeichnis
(VV) zusammengestellt. Mit der Einführung des RVG
ändert sich z. B. das Recht der Erstberatung und ihrer
kostenmäßigen Begrenzung (Deckelung). Konnten diese
Kostenerleichterung für eine erste Beratung in einer
Rechtsangelegenheit bis 30. Juni 2004 alle Rechtsuchenden in Anspruch nehmen, so haben nunmehr lediglich
noch „Verbraucher“ (§ 13 BGB), also natürliche Personen, diese Möglichkeit (VV 2102). Damit ist eindeutig,
dass unter anderem Idealvereine nicht unter diesen
personalen Verbraucherbegriff fallen. Zudem regelt das
RVG auch die Vergütung in sozialrechtlichen Angelegenheiten neu (§ 3 RVG). Diese und andere Neuerungen lassen sich mit dem Kommentar rasch erschließen.
Der NOMOS-Kommentar bietet damit eine wichtige
Orientierungshilfe für alle, die sich über die Kostenseite rechtlicher Beratung und Vertretung informieren
wollen bzw. müssen.
Peter Mrozynski: SGB VIII Kinder- und Jugendhilfe,
Kommentar; München 2004: Verlag C. H. Beck, 4.
neu bearbeitete Auflage, ca. 500 Seiten, 26 EURO,
ISBN 3-406-51619-X
Das Kinder- und Jugendhilferecht ist nicht nur für Juristen, sondern für alle in der Kinder- und Jugendarbeit
beschäftigen Berufsgruppen von hohem Interesse. Der
Standardkommentar erleichtert den Zugriff auf die komplexe Materie und hebt die Querverbindungen zu den
wichtigen ergänzenden gesetzlichen Bestimmungen
hervor. Die Neuauflage steht im Zeichen der Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch, berücksichtigt werden aber auch Änderungen, die das
Gesundheits-Modernisierungsgesetz gebracht haben.
Das Buch stellt damit ein nützliches Hilfsmittel für alle
in der Jugendhilfe
Tätigen dar.
Rechtsdienst der Lebenshilfe 4/04
BÜCHERSCHAU/IMPRESSUM
Stefan Muckel: Sozialrecht; München 2003: Verlag
C. H. Beck, 507 Seiten, 21 EURO, ISBN 3-406507711-5
Das in der Reihe Grundrisse des Rechts erschienene
Buch stellt den gelungenen Versuch dar, das komplexe
Sozialrecht vollständig, aber dennoch relativ knapp
darzustellen. Es zeigt die gemeinsamen Strukturen der
verschiedenen Bereiche auf und stellt die Materie mit
Hilfe von Details und Beispielsfällen anschaulich dar.
Neben den sozialen Leistungen enthält das Buch auch
eigene Kapitel zum Verwaltungsverfahren und zum
Rechtsschutz. Schließlich sind die in einem eigenen Teil
aufgearbeiteten immer wichtiger werdenden internationalen Bezüge des Sozialrechts positiv zu erwähnen.
Neuerscheinung aus dem
Lebenshilfe-Verlag Marburg
Klaus Lachwitz
Mehr Chancen für ein
selbstbestimmtes Leben?
Das persönliche Budget in Fragen und
Antworten
1. Auflage 2004, DIN A5, Drahtheftung, 72
Seiten,
ISBN 3-88617-521-9, Bestellnummer LER 521
7,50 Euro [D]; 13.– sFr.
Mit dem Persönlichen Budget ist ein Mehr an Selbstbestimmung möglich, es ist aber auch mit mehr Eigenverantwortung behinderter Menschen verbunden.
Neben allgemeinen Informationen und Hinweisen
werden in 34 Fragen und Antworten die wichtigsten Anliegen aus Sicht von Menschen mit Behinderung angesprochen.
Bestellungen bitte an: [email protected]
Gestaltung: Dieter Jeuck
Druck: Andreas Seip, Hausdruckerei
Vertrieb: Lahn-Werkstätten Marburg
Rechtsdienst der Lebenshilfe (RdLh)
Herausgeber:
Bundesvereinigung Lebenshilfe
für Menschen mit geistiger Behinderung e. V.
Raiffeisenstr. 18
35043 Marburg
Telefon: (06421) 491-0
Telefax: (06421) 491-167
Internet: http://www.lebenshilfe.de
E-mail: [email protected]
Vorsitzender: Robert Antretter
Bundesgeschäftsführer: Dr. Bernhard Conrads
Chefredakteur: Klaus Lachwitz (La), Justitiar
Redaktion:
Ulrich Hellmann (He), (geschäftsführender Redakteur)
Peter Dietrich (Di)
Renate Heinz-Grimm (HG)
Norbert Schumacher (Sch)
Dr. Michael Wagner-Kern (W-K)
Dr. Sabine Wendt (We)
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Veröffentlichung dieser Beiträge in Datenverarbeitungsanlagen ohne Einwilligung der Autoren nicht statthaft.
Im Übrigen ist der Nachdruck von Beiträgen mit Quellenangabe honorarfrei gestattet - zwei Belegexemplare
erbeten.
Rechtsdienst der Lebenshilfe 4/04
Postvertriebsstück: D 13263 F
Auflage: 5.150
Redaktionsschluss: 25.11.04
Erscheinungsweise: 1 x pro Quartal
ISSN: 0944 - 5579
Jahresabonnement einschl. Zustellgebühr und gesetzlich
vorgeschriebener MwSt. 20,00 EURO, für Mitglieder der
Lebenshilfe 15,00 EURO; Einzelheft 6,00 EURO;
Mitglieder der Lebenshilfe 4,00 EURO.
Sparkasse Marburg-Biedenkopf
60070 BLZ 533 500 00
Am Rechtsdienst der Lebenshilfe sind ebenfalls beteiligt:
Verband für Anthroposophische Heilpädagogik
Sozialtherapie und Soziale Arbeit e. V.
Tel.: (0 60 35) 81-1 90,
Bundesverband Evangelische Behindertenhilfe e. V.
Tel.: (07 11) 2159-425
Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie
CBP e. V.
Tel.: (07 61) 2 00-0
Die vier Fachverbände repräsentieren über 90 % der
Angebote für Menschen mit geistiger Behinderung und
treffen sich regelmäßig in einem gemeinsamen Arbeitskreis
Behindertenrecht sowie in Kontaktgesprächen.
Dieser Rechtsdienst ist auf chlorfrei gebleichtem Papier
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191
Bundesvereinigung Lebenshilfe
für Menschen mit geistiger Behinderung e.V.
ISSN: 0944 – 5579
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Telefax: (06421) 491-167
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Entgelt bezahlt
Veranstaltungshinweis:
Zukunft der Werkstatt – Werkstatt der Zukunft
Werkstätten der Lebenshilfe im Wandel
11. Treffen der Führungskräfte aus Werkstätten für behinderte Menschen der Lebenshilfe
für Geschäftsführungen, Werkstattleitungen, Leitungen Begleitender Dienste, Verwaltungsleitungen,
Leitungen des QM-Systems
vom 27. – 29. April 2005 in der Musik- und Kongreßhalle, Lübeck
Teilnahmebeitrag zzgl. Übernachtungskosten: 395,00 Euro ; Frühbucherpreis: 355,00 Euro bei Anmeldung
bis zum 07.01.2005 unter der Nummer 05252 bei Heidi Becker, Tel.: (0 64 21) 4 91-1 72,
Direktfax: (0 64 21) 4 91-6 72, E-Mail: [email protected]
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Ihre Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e.V.,
Marburg
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