Das Rheinische Prinzip_Kern_Final_Druck_19
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The Critical Ass DAS RHEINISCHE PRINZIP Band 1 The Critical Ass DAS RHEINISCHE PRINZIP Band 1 DAS RHEINISCHE PRINZIP – Die Katzen waren zurückgekehrt, besser, sie waren einfach wieder da. Ich fand sie im Treppenhaus jenes Verlags, an den ich später noch oft dachte, und gerade immer noch denke. Und auch wenn ich mir zu jener Zeit noch eingebildet hatte, sie vielleicht aus Trauer verwechselt zu haben, so kam mir doch die Lautfolge ihres Schnurrens tief vertraut vor. Heute, jetzt, hier auf der Felseninsel, wo Crabman Anderson damals im Nebel verschwand, weiß ich endlich, dass es Warnzeichen waren, die sie mir hatten senden wollen. Katzensprache. Da hätte es eine Übertragung geben müssen, als sie meine Beine umstrichen, ein biologisches Blitzen, vielleicht einen Schlag, der alles, was sie gesehen hatten, mit dem hätte synchronisieren sollen, was ich noch zu sehen hatte, und mir hätte mitteilen wollen, wo sie vielleicht schon gewesen, warum sie dann verschwunden und einen ganzen Kontinent weit entfernt, wieder aufgetaucht waren, nun da ich beinahe sicher bin, dass es die beiden Felllappen aus meinem Office waren. Jetzt sitze ich hier nicht weniger nackt als Anderson, noch immer halb 5 ahnungslos, halb steif vor Angst herum, Knie an den Oberkörper gepresst, Fötalstellung, und mit mattem Blick auf die kleinen treibenden Fischerboote der Bay blickend, die einst zur Group gehört hatten und nun, an andere Companies überschrieben, mit den selben Aufträgen versehen, den unendlich leidenden, längst ausgebeuteten Fluss durchkämmend, Staub aufwirbeln, vielleicht eine Metapher, Glasauge, und die ich vielleicht schon in wenigen Stunden nicht mehr sehen werde, wenn die Kälte nicht mehr zu spüren sein wird, und es dann Nacht sein wird, und das Denken endet, alles. Jetzt, jetzt fällt mir dieser Traum wieder ein, und wirklich denke ich dass auch er katzengleich in mich hineingekrochen war, um mir Zusammenhänge mitzuteilen, die mir entgangen waren damals, als ich den Verlag betrat... 6 Prolog Eigentlich müsste die Stadt längst ausgestorben sein. Die Statistiken waren in den letzten Monaten in den Himmel geschossen und die lokalen Fernsehnachrichten eine Zeit lang dazu übergegangen, einfach nur noch Fotos der Vermissten einzublenden. Wenn man das Ganze verstehen wollte, dachte sie, reichten die Namen nicht. Da musste man auch an diejenigen ran, die noch da und noch am Leben waren. Genau deshalb war sie wieder in Trier. Sie war seit Wochen erkältet. Müde lehnte die attraktive Bestsellerautorin Maja an einer Hauswand in der Flussstraße. Die Schritte hinter ihr waren seit wenigen Sekunden verhallt. Sie presste sich etwas dichter an die kalte Wand und hielt den Atem an. Ihre Füße schmerzten. Sie hatte die Nacht bis jetzt damit verbracht, ein paar junge Leute an der Bergstraße zu befragen. Für die Recherche zu ihrem neuen Buch hatte sie sich tief in die Unterwelt dieser mittelgroßen Stadt hineinbegeben. Es ging um mehr als ihre Karriere, auch wenn es tatsächlich Zeit wurde, wieder etwas rauszubringen. Was sie hier tat, erschien ihr 7 wie eine Mischung aus feministischer Aktion und investigativem Journalismus und immer, wenn sie versuchte, es anderen zu erklären, musste sie feststellen, dass es dabei nicht zuletzt um sie selbst ging, um ihre eigenen Beziehungen und ihr eigenes Geld; wäre das Geld erst aufgebraucht, würde sie alles genau wie sie erleben, die Stadt und was es bedeuten mochte, das Leben auf der Bergstraße. Sie stand jetzt so dicht an der Wand, dass ihr Kleid im Schatten verschwand. Es war nichts mehr zu hören von ihrem Verfolger und sie wollte nach Hause. Es war ein guter Abend gewesen, das langsame Aufbauen der Beziehung zu den Boys and Girls begann sich auszuzahlen. Ihr Telefon war voll mit, zum Teil sogar glaubwürdigen Anschuldigungen. Jetzt musste sie nur noch den Hafen verlassen und dann bis zu einer Straße, an der sie unerkannt ein Taxi rufen konnte. Maja wagte endlich einen Schritt nach vorn. Sofort fiel sie auf die nassen Pflastersteine, verletzte sich die Knie, und schlug dann mit dem Kopf am Boden auf. Sie spürte einen dumpfen Schmerz in ihren Beinen und konnte gerade noch den Kopf heben, um die über sie gebeugte Gestalt zu erkennen. Zwei 8 Schüsse in die Brust ließen Maja in der Mitte der Flussstraße zusammensacken. Zwei Wochen später erst, würde sie als vermisst gemeldet werden. Noch später sollte man Fasern ihres Kleids an jener Hauswand in der Flussstraße finden. Sie würden für lange Zeit der einzige Hinweis bleiben. I Nach dem Tod meiner Mutter hatte ich zu trinken begonnen und seitdem nicht mehr aufgehört. Meine Zeitrechnung war einfach, die Leberwerte gaben mir den Takt vor. Regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen strukturierten den Jahreswechsel. Die innere Uhr stellte ich nach meinem Durst, alles Andere nannte ich Arbeit. Ich wußte es damals nicht besser, aber Leergut ist ein teuflisches Zeitmaß. Ich lebte in Trier, Massachusetts, Stadt des Niedergangs, ein gebautes Symbol des Verfalls unweit des Rheindeltas. Hier konnte man Untergehen, der Fluss trieb einen dann irgendwann wieder an die 9 Oberfläche, an Gelegenheiten fehlte es nicht. Man kann wohl sagen, dass ich Menschen nie besonders gemocht habe und so war meine Isolation selbst gewählt. Ich hatte mich für ein Weile aus dem Leben zurückgezogen, mich dem Fluss überlassen, bis der Zufall mich wieder ans Ufer spülte. Mit einem kleinen Erbe bezog ich eine Kanzlei und wärmte einige alte Kontakte wieder auf. Aber hier soll es nicht um diesen Zufall gehen, sondern um eine andere Geschichte. Mein Name ist Private, man nennt mich P. I. Bestimmung? Ich glaube nicht daran, aber es erleichterte die Berufswahl. Anders als beispielsweise der Metzger aus meiner Nachbarschaft, der Bäcker hieß. Mein Name ließ mir kaum eine andere Möglichkeit und so wurde ich Private Investigator. Nicht wie Bäcker, der trotzdem Metzger werden wollte und als Querulant endete. Aber Bäcker ist auch alte Schule, wendet immer alles nach außen. Empörung wäre nicht mein Stil. Lieber würde ich Bäcker eins in die Fresse hauen. Jedenfalls wurde ich Privatdetektiv mit einer eigenen Kanzlei in einer der verwinkelten Nebenstraßen von Trier, Massachusetts und hier beginnt meine Geschichte. 10 Es war ein Vormittag wie jeder Andere und ich hatte schon drei Tassen Grog getrunken, als Elaine meine Kanzlei betrat. Elaine DeGreed war von großer, schlanker Gestalt, und behandelte mich mit jener herablassenden Kühle, die ihr offenbar dazu geeignet schien, meine versoffenen Sinne zu wecken. Kaum hatte sie sich vorgestellt, sagte sie: – Ich bin gekommen um meinen Husband Robert zu diskreditieren. – Wollen sie einen Drink?, fragte ich etwas verwirrt, aber sie ging darüber hinweg als hätte sie nicht gehört, was ich gesagt hatte. So kochte ich also etwas Wasser für mich allein auf und ließ sie weitersprechen. Elaine beschrieb ihren Mann in hastigen Zügen, während sie in ihrer Handtasche nach Zigaretten angelte. Ich konnte ihr kaum folgen und schickte sie zum rauchen vor die Tür. Wie sich später rausstellte, war sie unglücklich verheiratet mit Robert Anderson. Robert war ein warmherziger Mensch, der Anderen mit Offenheit und Freundlichkeit begegnete. Obwohl er aus der reichsten und angesehensten Familie des Ortes kam, ließ er sich bei der Wahl seiner Freunde nie von Standesdünkel leiten. Ob er mit Krabbenfischern 11 fachsimpelte oder mit Großbanken verhandelte, Robert fand stets die richtigen Worte. Dafür musste er sich nicht verstellen; sein Einfühlungsvermögen war nicht berechnend, sondern echt. Der Deichbruch und die Überschwemmung vor einigen Jahren hatten eine Zäsur in seinem Leben bewirkt. Robert war schwer verletzt worden und lag lange Zeit im Koma. Als er wieder aufwachte, war seine Kindheit beendet. Auf Robert wartete eine lange Phase der Regeneration, aber er nahm die Herausforderung klaglos an. Hartnäckig trainierte er, bis er körperlich wieder völlig hergestellt war. Viel schwerer verkraftete er aber die Trennung von Jugendliebe Maja, die ihn schließlich dazu brachte, sich für beziehungs– und liebesunfähig zu halten. Als Robert Elaine einen Heiratsantrag machte, tat er es nicht aus großer Leidenschaft, sondern aus dem Wunsch nach einer festen Partnerschaft, nach Intimität und Kindern. Als er dann jedoch Maja eines Tages wieder begegnete, musste er erkennen, dass er sehr wohl noch zu starker Liebe fähig war. Was die Leitung der familieneigenen Reederei anging, ließ Robert seinem Stiefbruder den Vortritt. 12 Während Kilian sich um die weltweiten Geschäfte kümmerte, träumte Robert derweil davon, zu den Wurzeln des Unternehmens zurückzukehren: Auf einem brachliegenden Hafengrundstück, das seit jeher im Besitz der Familie war, wollte er die traditionelle Werft – die seinerzeit der Grundstein des Reedereibetriebs Anderson gewesen war – wiederaufbauen, um hier Holzbarken herstellen zu lassen. Aber all das erfuhr ich nur bröckchenweise und es half nicht, dass Elaine vor der Tür stand, während sie mit mir sprach. Ich blieb in der Kanzlei und kochte einen weiteren Grog auf: 200 ml heißes Wasser, 4 cl Rum und 3 Teelöffel Zucker. Ich konnte mich gut an Robert erinnern, er war ein Schnösel in den Grundschuljahren und ein Bully als Teenager. Ich hasste ihn, aber das war nichts Besonderes, denn mit meinem Hass war ich durchaus großzügig. Robert aber war ein außergewöhnliches Arschloch, bevor er ins Koma fiel. Er hatte es geliebt, jüngere Schüler zu quälen und war einfach durch und durch Schwein. Nachdem er aber aus dem Koma wieder aufgewacht war, schien er wesensverändert und traf fortan stets den richtigen Ton. Er konnte 13 stundenlang Krabbenfischern erzählen wie gut es wäre, dass sie noch immer rausfahren, um Krabben zu fischen, wo es doch längst keine Krabben mehr zu fischen gab. Den Großbanken trat er selbstbewusst entgegen, und erzählte ihnen von den Krabbenfischern. Er verglich dann Krabben mit Geld, und verstrickte sich in Widersprüche; wenigstens war er echt. Und einfältig, ich kannte ihn. – Elaine, es gibt ein Problem mit Robert, sagte ich, Ihr Robert ist ein anderer als der Robert, den ich kenne. Sofort trat sie in die Kanzlei, wo ich die Schubladen gerade nach braunem Zucker durchsuchte. – Was meinst Du? Du kennst Robert Anderson? Ich erzählte ihr, wie Robert früher kleine Kinder gequält hatte, indem er sie Münzen essen ließ. – Können wir ihn damit diskreditieren?, fragte Elaine hoffnungsvoll, und ihre Augen leuchteten. Während ich mir einbildete, Material für Elaines Case zu sammeln, kam ich Maja in den kommenden Wochen immer näher. Wir trafen uns regelmäßig, ich besuchte sie bei ihren Gastgebern und so wurde ich langsam in den Freundeskreis der Andersons 14 eingeführt. Irgendwann, so dachte ich, würde ich Anderson mit meinem Wissen um seine Vergangenheit ausspielen können. Aber Ausspielen konnte er sich selbst am Besten. Denn Robert hatte eine erotische Lesung auf einer der Felseninseln im Fluss angekündigt. Ich unterstützte ihn bei diesem Entschluss und bei unseren langen Gesprächen fiel mir seine durchaus ernsthafte Auseinandersetzungen mit Ästhetiken des Widerstands auf. Es blieb mir allerdings schleierhaft, wem oder was er eigentlich widerstand. Die Lichter, die am Ufer zwischen den Zuschauern angebracht waren tauchten den Felsen, der in einem gehörigen Abstand aus der Strömung aufragte, in ein grellgelbes Licht. Ich konnte darin Umrisse einer Gestalt ausmachen, doch erst als seine Stimme ansetzte, wusste ich sicher, dass der nackte Mann auf dem Felsen tatsächlich Robert Anderson war. Anderson las mit ruhiger und angenehmer Stimme. Seine Texte waren ein grauenvoller Mix aus Bekenntnissen und Fantasien, die nach jedem Absatz ein betretenes Schweigen hervorriefen. Es wurde weder applaudiert noch gelacht, schockiert sah man einem 15 der prominentesten Vertreter der Stadt dabei zu, wie er sich endgültig selbst dekonstruierte. Maja war ziemlich bald nach den Ereignissen des Anderson–Skandals und Robert Andersons Verschwinden abgereist, sie könne jetzt unmöglich hier sein, das habe auch alles nichts mit ihr zu tun. Sie sprach von sich am Telefon, ausgelaugt und sehr allein ließ sie mich in meiner Kanzlei zurück, aus der jetzt auch noch die Katzen verschwunden waren. II Die Leuchter glommen mit halber Flamme, als er kurz hinter dem Oberst durch die kleine Tür am Ende des Korridors schlüpfend, in den Saal trat. Dieser war nun zur Gänze in allen Schattierungen grüner Farbe ausgeschlagen, wobei das Grün der Wände vom Span alter Kupferpaneele zu stammen schien. Der Raum hatte keine Fenster, lediglich Nischen deuteten auf eine Struktur der Oberflächen und diese niedrigen 16 Ausfaltungen reichten kaum zur Mitte der Wandhöhe. In ihnen waren wunderliche Statuen angebracht, die wohl den Affekten gewidmet worden waren, diese aber, da sie auf erschreckende Weise gänzlich kopflos waren, vermochten die Regungen der Seele lediglich noch mit den Handbewegungen und Verdrehungen der Körper auszudrücken. Der Oberst atmete bereits schwer von dem Gewaltmarsch, den sie durch die schier unzähligen Räume des Hauses zurückgelegt hatten. Er fingerte in seinem Revers nach einem Taschentuch, fand keines, keuchte laut. Auch wenn es doch einige Pausen des Staunens gegeben hatte, so waren nun schon etliche Stunden vergangen, die sie mit zunehmender Hast der Suche nach dem verschwundenen Schreiben gewidmet hatten, denn jeden Augenblick konnte ihre Anwesenheit entdeckt und der Zweck ihres Kommens gänzlich nutzlos geworden sein. Doch aller Eile zum Trotz zwang dieser Saal, der wohl einer fürstlichen Festgesellschaft mit Leichtigkeit Platz geboten hätte, dem soeben Eingetretenen gewaltige Bewunderung ab. Alles war hier fein durchwirkt von Leichtigkeit, und einer gewaltigen, beinahe 17 materiellen Liebe, die von den weder zufällig platziert noch arrangiert wirkenden Objekten ausströmte und deren Wirken sich im Zwielicht der Kerzen und im Widerschein der kupfernen Paneele nun leise glimmend offenbarte, ja welche bei näherer Betrachtung auch aus Gold getriebene Repoussées, kleine Abbilder vielleicht historischer, längst zurückliegender Ereignisse preisgaben. Vielleicht aber, so dachte Ismael, würde dies Schauspiel umso heller strahlen, als er es sich lediglich mitsamt dem Oberst nur erträumt zu haben schien und er versuchte, etwas Stoffliches, Verbindliches zu erhaschen, einen Moment der Gewissheit auszumachen, auf dass ihm das hier zu Sehende und auch die bereits gesehenen, schon hinter ihnen liegenden Säle, gänzlich real würden. Was aber genau war da alles zu sehen gewesen? Beim Versuch, sich zu erinnern, war so wirklich nur die Büste des Hythlodeus recht eigentlich haften geblieben. Der Alte war zur Gänze entstellt gewesen, aus rauhem Stein gehauen und überhaupt unansehnlich, ungewaschen, soweit dies einer Plastik möglich war. Aber hatte er, Ismael, sie wirklich erblickt? Alles war jetzt scharf, klar, soviel stand fest, doch war das ein 18 Beweis, und wenn ja, ein Beweis für was? Das Keuchen des Obersts hatte sich in den Sekunden seines Abschweifens nicht verbessert, sondern ging nun in ein Röcheln über, das ein Ringen um Luft geworden war, der Kragen der Uniform saß zu fest und schnürte, drückte den geschwollenen Hals, den Kehlkopf des Militärs langsam und unerbittlich zu, dieser wedelte nun mit den Armen, versuchte dann, die Schlinge aufzureißen, würgte, spuckte, indes es gelang ihm nicht, den Todbringer zu zerfetzen. Ismael beugte sich über den nun beinahe verstummten, bläulich, paneelfarben grünlich sich verfärbenden Körper, der schon in das Stadium einer Krampfhaltung überzutreten schien und letzte Atmungen vollführte, keine Frage, es ging zu Ende, das war unübersehbar, und der Gefährte erschauerte stumm, denn nun befand er sich allein in dem fremden Hause, würde sich ohne einen freien Rücken umsehen, und das verborgene Brevier auf eigene Faust suchen müssen. Unnötig, hier auch seine Trauer zu beschreiben. Sie waren ja zusammen in der Schule gewesen, hatten allerhand erlebt, Unfug angestellt, waren mit Delfinen geschwommen, hatten dem präkolumbianischen Goldhandel nachgespürt, 19 der sie von Muisca über Pijao und Popayan bis ganz nach Quillacinga, El Dorado geführt hatte... Dies war nun der Scheideweg. Oder war es noch immer der Scheideweg eines Traumes? Sich vom nunmehr verstorbenen Oberst abwendend, schweifte der Blick noch einmal in den gewaltigen Saal, der sich wundersam verwandelt zeigte. Die Leuchter strahlten viel heller als noch am Anfang, es waren ihrer sieben, Ismael rechnete das vielleicht auch einer Gewöhnung seiner Augen an das Halbdunkel zu, sie mochten nun wohl handtellergroß geweitet sein. Aber niemand war da, ihn zu betrachten oder erstaunt darüber zu sein. III Maja (am Telefon) Vielleicht erinnerst du dich nicht richtig an das letzte Mal. Das ist alles wie beim letzten Mal. Das ist, als würde mir alles immer wieder passieren. Aber jetzt fahre ich weg von hier. Dann kann es auch aufhören. In B... sind dann ganz viele, die mich kennen, die sich 20 an mich erinnern und das wird sicher ganz gut. Ich kann hier nichts machen. Das ist auch nicht meine Sache, was jetzt hier passiert. Vielleicht kannst du das nicht verstehen. Das ist eine bestimmte Erfahrung, die ich mache, die ich immer wieder mache. Als wäre das mein Problem. Das liegt nicht nur an der Art wie ich aussehe, aber auch. Vielleicht kannst du das deshalb nicht verstehen, vielleicht machst du diese Erfahrungen nicht. Aber die, die mich besser kennen, verstehen warum ich jetzt hier weg muss. Robert Er war jetzt die meiste Zeit wach und dachte viel nach. Woran er sich erinnerte, sah er deutlich, alles andere wusste er nicht. Er konnte sich einigermaßen schlüssig erklären, wie die Geschichte, oder Teile der Geschichte passiert waren. Unterschiedene, von einander getrennte Episoden im Innern der Geschichte ließen sich auch ohne analytische Eingriffe nacherzählen, sogar aufschreiben. Das war passiert. Er wusste nicht genau warum, aber so war es. Er hatte es seinem Bruder erzählt, aber der schien schon 21 gewusst zu haben, was passiert war und wann. Es blieb allerdings undeutlich, was nicht mehr dazu gehörte, ob irgendetwas oder irgendjemand nicht mehr zu dem gehörte, was passiert war. Das lag nicht an ihm, das lag in der Natur der Sache. So wie die Unterscheidung im Innern lag. Er konnte immer nur beides meinen, Anfang und Ende, das Beginnende und das Nicht–Endende. Er wusste wie es angefangen hatte und auch, dass zumindest ein Teil geendet hatte. Die beiden Momente waren unterschiedlich, aber nicht gegensätzlich. Sie hatten nicht gleichzeitig stattgefunden und waren mit sehr verschiedenen Erinnerungen verknüpft. Aber kleine Lachen von Zeit hatten sich um sie gebildet, wie Tropfen, die zusammenlaufen, wie auf dem grünen Nylonstoff, der sein Dach gewesen war, vorher und hinterher. Wenn genug Wasser an einer Stelle zusammenkam, dann drang es auch durch. Gerade wenn man den Stoff berührte von der anderen Seite, bekam man nasse Hände, einen nassen Kopf und das ganze Wasser, die ganze Zeit, war angekommen im Innern. Und die Zeit unter und neben dem Zelt hatte angefangen und später aufgehört, das konnte er unterscheiden und 22 beide Momente waren sich nicht ähnlich, was auch bedeutete, dass sie nicht mehr Sinn machten, wenn man sie hintereinander betrachtete. Es gab keinen Moment, der ein Schlüssel war, der die anderen aufschloss, kein durch die Zeit gehen, wie auf einem langen Flur, sondern da waren vor allem Pfützen, durchdringende Nässe, und ein Mehrwerden von Wasser. In den Tagen danach, als er sie wieder zählte, waren diese verschiedenen Augenblicke zum Ereignis geworden. Das Ereignis war nicht ein Moment, es waren mehrere Momente, die keinen Sinn ergaben. Diese Momente zusammen nannte er das Ereignis. Wie eine neue Art zu zählen, gab es nur noch ineinander verlaufende Zeitpunkte in seinem Kopf, auch das war das Ereignis. Immer wenn er in Berührung mit Wasser kam, wünschte er sich, es wäre nicht passiert. Aber mit dem Ereignis hatten auch alle Momente vor dem Ereignis aufgehört von Bedeutung zu sein. Bereuen hieße, das wusste er, darüber nachdenken. Er würde hier und heute darüber nachdenken müssen, was vor einiger Zeit passiert war. Hier und heute wäre ein anderer Tag, an dem andere Entscheidungen möglich wären. Er fühlte noch den Fluss 23 an sich und das Wasser aus den Leitungen in dieser Stadt war von derselben Sorte. Er hatte oft Angst zu ertrinken. Es gab Momente, jetzt, oder dann, wenn er von kurz nach dem Ereignis daran dachte, da dachte er, er wäre eigentlich gerne ertrunken. Er weiss auch, dass das nicht stimmt. Diese Absicht war irgendwie ein Zeichen für irgendetwas, das wusste er auch. Er erinnert sich an den Schleim zwischen seinen Fingern als er aus dem Fluss stieg. Er erinnert sich nicht, gefunden worden zu sein, auch nicht, sich versteckt zu haben. P. I. Am Anfang erinnert er sich selten. Er sieht immer alles mit andern Augen. Vierzehn Stunden Schlaf, die Augen gehen auf und es sind immer andere. Aufwachen am immer gleichen Ort und das trotzdem immer vergessen. Jeden Tag vergessen, wo das noch mal ist, wie die Decke aussieht, und die Wand, und die andere. Irgendwelche Dinge sind in der Zwischenzeit passiert. Der immer gleiche Ort ist falsch, nicht gleich. Während im Kopf alles direkt hintereinander 24 passiert und dazwischen immer noch Sachen, die gar nicht passiert sind auch noch passieren, wo im Halbschlaf Köpfe rollen, manchmal seiner, und manchmal erst nachdem der erste Hieb seiner Henkerin nicht gleich das Ende war. Nie findet die Langeweile dazwischen statt. Da kommen alle auf einmal vor und er ist nie alleine. Hier die Wand und die Decke und die andere, alles gleich. Schlaf ist wie ein guter Freund. Er kann gut Zeit verbringen mit Schlaf. Dann wach sein. Dann die anderen, nicht so gute Freunde. Aus dem Haus, nie aus dem Haus raus, immer nur in den Garten, niemanden sehen. Das ist einsam, aber besser als Freunde treffen und sich gleich beschissen fühlen. Dann lieber niemanden treffen. In wacheren Momenten gibt es Tagträume. Als er einmal aufwachte und nicht wusste, wie er da hin gekommen war, wo er war. Manchmal hätte er sich gerne geschlagen, am liebsten mit ihr. Er weiss auch dass das nicht geht und eigentlich will er das auch nicht, will er etwas ganz anderes. Einmal nachts hatte er Bier auf das Grab seiner Mutter gegossen. Da wollte er einen Drink mit ihr teilen, auch wenn sie Bier nie sonderlich gemocht hatte. Aber dann war ihm klar 25 geworden, wie bescheuert das aussehen musste und er war schnell nach Hause gegangen. Später irgendwann wurden aus den Stunden aus Selbsthass und namenlosen abc–Serien, bei denen er weint, eine Phase seines Lebens. Er fragt sich, was andere Menschen machen, wenn sie so einsam sind wie er. Was sind das überhaupt für Gefühle, fragt er sich, und wechselt die Sender. Gibt es andere Gefühle außer Angst und keine Angst haben? Er fängt an zusammen zu fassen, was er sieht. Er schreibt Kommentare, die niemand liest. Elaine Sie erinnert sich noch daran, als D. das erste mal von ihrem öffentlich geführten Tagebuch erzählte. Das war etwa 2001 und sie hatte es für den grössten selbstverliebten Quatsch gehalten, so verrückt, sie hatte nicht gewusst, was sie sagen soll. Das hatte auch daran gelegen, dass das Internet damals noch nicht so eine Rolle spielte in ihrem Freundeskreis. Auch wenn sie schon immer gerne bescheid wusste über alles Neue und auch neuen Gadgets und 26 Spielzeugen nicht abgeneigt war, war sie keine Visionärin. Heute schrieb sie schon lange keine Briefe mehr und verschwendete auch sonst so wenig Zeit wie möglich. Wie damals ging auch jetzt an jedem Tag, zu jedem Zeitpunkt ein Schnitt durch ihren Bekanntenkreis, genauso wie durch die übrige Bevölkerung. Dieser Schnitt trennte die Öffentlichkeit von allen anderen. Da waren die einen, die schon wussten was passiert war und die anderen, die immer noch ganz mit sich beschäftigt waren. Auch damals schon schaffte man besser irgendwann den Sprung in die Öffentlichkeit, holte Informationsstände auf und wusste bescheid wie alle anderen. Man konnte sich eine Zeit lang wehren, man hatte die Zeitung nicht gelesen, kein Radio gehört, man konnte auch mal für ein paar Tage in den Urlaub fahren und nicht zu erreichen sein. Aber eigentlich gab es nicht mal damals eine gute Entschuldigung, wenn man von etwas nicht wenigstens nach den Abendnachrichten wusste. Ihr erstes Smartphone war ein Blackberry gewesen, das kaufte man damals, oder man ließ es sich schenken, so wie sie. Irgendwann hatte auch sie angefangen Fotos von sich ins Internet zu stellen, nicht als 27 Tagebuch, aber doch Aufnahmen ihrer Ausflüge, Lunches und Treffen. Da wusste sie schon wie das funktionierte. Da war es schon Teil von ihr geworden, ihr Urteil als das Urteil anderer zu verstehen. Sie wusste, dass es manchmal schwer war, einen Körper zu haben und dass es ihre Unsicherheiten waren, die sie gemein zu anderen machten und dass Anerkennung, gerade männliche Anerkennung, manchmal wie ein sicherer Hafen wirken konnte, wenn man auch nicht für immer bleiben konnte, nicht zuletzt weil auch sie älter wurde. Sie hatte keine öffentliche Entschuldigung gewollt. Diese Öffentlichkeit, die jetzt da draußen auf sie wartete, bildete sich ein zu wissen, was es bedeuten musste für sie und ihren Mann, für die Familie. Sie hatte eine ganze Weile versucht, die Blicke, denen ihr zerbrochenes Familienglück ausgesetzt war, zu ignorieren. Es hätte ihr ein Ritual einfallen müssen, ein Ersatz für die Pressekonferenz und den sprichwörtlichen Kniefall, der jetzt von ihm erwartet wurde und den sie, erwartungsgemäß, annehmen würde. Es war ihr nicht eingefallen und sie stand hier und wartete. Er würde jetzt der Öffentlichkeit erklären, wie sein 28 Zusammenbruch passieren konnte, es ihr erklären, aber eigentlich allen anderen und sie würde ihm verzeihen, in dem sie lächelte und ihn wieder aufnahm bei sich zu hause, in dem Haus, das so sehr seins war wie ihres. Sie würde nicht öffentlich sprechen müssen, sie hatte ja schon so viel durchgemacht, aber sie würde sich doch öffentlich erklären, einfach weil sie auch dasteht und er damit sein öffentliches Urteil empfängt, das sie ausspricht oder fällt, indem sie dasteht und sich anhört, was sie nicht verstehen kann oder will, weil sie eben auch nichts damit zu tun haben will, nicht Teil der Geschichte sein will, auch wenn sie es längst ist, will sie es nicht, noch nicht mal, um das Urteil zu fällen. Denn sie hat keine wirkliche richterliche Gewalt, niemand will hören, könnte verstehen, wie sie ihn hasst, auch wenn alle ihr Recht geben und öffentlich bekunden, wie schwer es für sie sein muss, aber es ist nicht schwer. Sie könnte ihn umbringen, das ist alles. Sie betritt hinter ihm den Raum. 29 Robert (einige Zeit später) Er schläft wieder mehr als er wach ist, denkt aber immer noch viel nach. Nicht nur die Zeit, die vor ihm lag war ihm unbegreiflich. Am Anfang, oder irgendwann danach, hatte es Pläne gegeben, davor, und dann hatte sich dieser Abstand einfach verringert, von sich zum Ereignis, und sie waren ineinander gefallen, sein eigenes hier und jetzt, und dann war es wahr geworden, und von innen gesehen war seine Selbstauflösung vor allem furchteinflössend, nicht zuletzt, weil sie ja gar nicht funktioniert hatte. Die Therapie, die er öffentlich versprochen hatte, seiner Frau versprochen hatte, brachte ihm bei, den Fluss als Bild zu verstehen, sich sein Ertrinken von außen an zu sehen, keine Angst mehr zu haben vor dem Wasser. Da konnte er ruhig im Dunkeln sitzen, an der tiefsten Stelle, da sei Ruhe, sagte die Therapie. Von da aus gesehen konnten die tiefen Punkte auch ein Ort der Heilung sein. Den Fluss begann er ganz im Sinne der Bildsprache der Therapie als eine temporäre Position zu verstehen, etwas durch das er durch musste, aber auch etwas, aus dem er irgendwann heraustrat. Im wirklichen Fluss war es sehr kalt gewesen und die 30 Strömung hatte ihn Kilometer weit fortgerissen. Aber der Fluss als Bild, als Position, war ein ruhiger Ort, an dem er noch kurz aushalten konnte. Von hier aus konnte er sich wieder aufbauen, nicht Kraft schöpfen, aber heilen. Wenn er sich konzentriert und nicht versucht, sich nicht zu erinnern, dann kann er es manchmal auch so sehen: Im Moment in dem er sich auflösen wollte, war er er selbst geworden. Er hatte seit dem das Gefühl, eigentlich alle anderen Menschen besser zu verstehen. Nicht dass er besonders viele andere Menschen traf, aber so stellte er es sich vor. Jede seiner alltäglichen Begegnungen ist aufgeladen von diesem Gefühl des Verständnisses. Er denkt viele Stunden über den Blick der Kassiererin nach. Er denkt, dass er sie verstehen kann, dass er weiß, was sie denkt. Das ist alles nicht wahnsinnig komplex, nicht nur deswegen weil es um die Kassiererin geht. Da kann man ruhig von sich auf Andere schließen. Das ist bei allen gleich. Niemand hat Scham für sich gepachtet und jetzt kann er sie in allen lesen. Wie er überhaupt alles lesen kann. Gesichtsausdrücke, Körper, Gesten kann er, als geheilter Mann, wunderbar dechiffrieren. 31 P. I. (zur selben Zeit) Die Schreibfehler sind ein Spaß, den er sich nur kurz durchgehen lässt. Dann geht er zurück und bessert alles wieder aus. Die eingehaltene Ich–Perspektive macht das Anfangen einfacher, trifft aber doch nie ganz den Ton, auch weil er ja keine Bekenntnisse mehr schreiben will. Es soll wütend klingen, es fängt immer mit Wut an und dann ist er meistens zu müde. Es wird dann doch eher wieder eine Introspektion mit eine Prise Selbstironie. Das kann er gut. Witze über sich sind ihm lieber als welche über andere. Er ist ein höflicher Typ. Er erwartet nicht weniger von seinen Mitmenschen. Das ist nur fair. Auf Serien–Fieber.net schreibt er Rekapitulationen schon während der Aussendung und wird beliebter Kommentator. Er sieht sich an, wie die Superhelden ihre Eltern suchen. In der letzten Folge der Staffel geht es darum, wie sie die Stadt unter der Erde finden, die auf den Sternkarten zu sehen war, die alle im Kopf gehabt zu haben schienen. Daran war einiges unlogisch. Er schaut dann alle Folgen noch mal durch. Es erklärt sich nicht besser, aber es ist spät geworden und er schläft ein. Und er sieht sich an, wie die 32 freundlich–ungewöhnliche Familie alle Kinder adoptiert. Wieder hat er angefangen zu weinen, als die beiden Mütter ihren Kindern erzählen, wie stolz sie auf sie sind. Er kann nicht glauben, wie schlicht das ist, und dass ihn so etwas schlichtes so überfällt, dass er weinen muss, auch wenn er nicht will, das enttäuscht ihn tief. Von sich selbst enttäuscht und mit dem Wissen, dass seine Mutter kaum je zu ihm gesagt hat, sie sei stolz auf ihn, schaut er die Folge noch einmal an. Beim zweiten Mal ist die Stimmung zynisch und er gefällt sich besser. Er sieht sich auch an, wie Märchen heute aussehen. Sie haben taillierte Lederjacken an. Das hält noch nicht mal er aus. Er sieht sich an, wie Seifenopern heute aussehen. Es geht um Politik und um dreckige Geschäfte. Das ist alles ziemlich langweilig. Aber er bleibt für die Sex– und Folterszenen. Manchmal wird aus Sex Folter und andersherum. Das ist irritierend. Soll er das aufregend finden? Ist diese Sendung für ihn gemacht? Ist es zu spät sich das zu fragen? 33 Robert (noch etwas später, kurz bevor es wieder losgeht.) Er versteht jetzt einiges viel besser, als er es früher tat. Man darf den eigenen Schmerz nicht verwechseln mit der Welt da draußen, mit dem was wirklich unerträglich ist. Er konnte ja, vielleicht im Gegensatz zu anderen, aber mit genauso viel Recht darauf, wieder glücklich werden, sich mit Liebe und Heilung beschäftigen. Und genau das hatte er vor, jetzt wo er alle anderen so gut verstehen konnte. Manchmal wurde sein Verständnis auch zum Problem, aber er konnte nicht für andere mitwachsen und wenn seine Frau ihm immer weniger erzählte, lag das vielleicht nur daran, dass er aus jedem ihrer Sätze herauslesen konnte, was sie wirklich sagen wollte, also auch ihre Angst und ihre Scham. Vielen war das zunächst unangenehm. Aber er würde seine neuen Fähigkeiten, seine Sensibilität einzusetzen wissen. Er würde versuchen, anderen damit weiterzuhelfen. Darum ging es jetzt. Keine ästhetischen Experimente mehr, keine Kritik an denen, die ihm eigentlich seine Zeit gaben, um über alles nachzudenken. Stattdessen wollte er zuhören und lieber noch ein bisschen besser sprechen lernen. 34 IV We fight from Nine to Five! The Furious Five Nach den Ereignissen des Frühlings hatte sich der Sommer träge dahin geschleppt und wurde von einem frühen Kälteeinbruch geschluckt. Vom Rheindelta stiegen die feuchten Nebel auf, welche Trier über weite Teile des Jahres in eine Schimäre verwandelten. Die Abwinde von den Bergen Massachusetts drückten die Feuchtigkeit in die Stadt, wo sie sich über Wochen festzusetzen drohte. Früher einmal war das Mikroklima des Unterrheins ein wichtiger ökonomischer Faktor für Trier, bot es doch ideale Bedingungen für die Nebelfischer, die außergewöhnlich reiche Fischgründe vorfanden. Eine lebhafte Industrie von Krabbenfischern hatte sich hier im beginnenden 19. Jahrhundert entwickelt, wo die phosphoreszierenden Dunstkrabbenkolonien es ihnen besonders leicht machten. Denn aufgrund seiner Breite und der verschlungenen Serpentinenläufe wurde der Strom gebremst, jedoch nicht ohne regelmäßig die weiten, 35 angrenzenden Auen zu fluten. Nach diesen Hochwassern brauchten die Fischer lediglich leicht gebückt die Wiesen entlang des Ufers abzuschreiten und die kleinen leuchtenden Süßwasserkrabben in Körben einzusammeln. Auf dem Fluss hüllte der Nebel die Fischer ein und half ihnen dabei, ihre Arbeit im Großen und Ganzen recht unmethodisch zu verrichten, ohne dass es sich in den Erträgen niederzuschlagen schien. In seiner Blütezeit kam Trier einer progressiven Utopie recht nahe, es gab Ansätze eines Matriarchats und einen frühen Feminismus, Freikörperkultur, wenn das Wetter es zuließ und eine nahezu klassenlose Gesellschaft. Denn die klimatischen Widrigkeiten hielten die vergnügungssüchtige und zum größten Teil arthritische Oberschicht fern und nur wenige, ausgesprochen onkelige Vorsteher unter den Fischern organisierten den Handel mit den Wirtschaftsbaronen außerhalb der Stadtgrenzen zum Nutzen aller. Der Reichtum in den Fanggründen und die relativ geringen Mühen beim Einfahren der Fische regten die Freizeitkultur unter den Einwohnern Triers an. Institutionen, Zeitschriften und Lesezirkel schossen aus dem Boden, die Schriften 36 Fouriers und Juana Inés de la Cruz zirkulierten und nicht wenige Bewohner übten sich in Kunst und Bogenschießen. Das alte, martialische Stadtwappen wurde abgeschafft und die Symbolpolitik gänzlich an das gemeinschaftliche Leben delegiert. Gesten der Freundschaft und Unterhaltung, Revuenummern, Laientheater, Krabben– und Beerenweinfeste prägten das Gemeinwesen und außergewöhnlicher Produzentenstolz begleitete die tägliche Arbeit. Doch während sich der Liberalismus in den Windungen des Rheins immer weiter ausbreitete, drohte bereits der Niedergang dieser Wohlstandsepoche. Denn unter den begünstigten Fangbedingungen am Fluss dezimierte sich die Zahl der Krabbenkolonien rapide, so dass schließlich nur noch die – in Geschmack und Handelspreis – etwas minderwertigeren Flusskrebse übrig blieben. Die im Kiesbett nistenden Krustentiere erschwerten zusätzlich das Einholen, während gleichzeitig die Preise in den Keller stürzten, da außerhalb der Stadtgrenzen der Handel immer weitere Märkte erschloss. Vielleicht war man in Trier durch das weitgehende Ausbleiben der Jahreszeiten davon ausgegangen man könnte auch der Geschichte 37 entfliehen, vielleicht auch nur zu sehr mit sich Selbst beschäftigt, der wirtschaftliche Niedergang traf die Stadt jedenfalls unvorbereitet. Innerhalb weniger Jahre pflügte eine äußere Wirklichkeit das gewachsene Gemeinwesen um und für Trier folgte ein anhaltender Zustand ökonomischer Strukturschwäche. Mit der Einführung von verfallenden Wertpapieren, ähnlich Silvio Gesells Freigeld, versuchte man eine kurze Zeit dem äußeren Druck standzuhalten, doch der progressive Zustand war nicht lange zu halten. Heute ist die Stadt eine verschuldete Gemeinde ohne Bibliotheken und dem Mikroklima verdankt sie die Eigenart lästiger Wetterbedingungen. An die Vergangenheit erinnert hier wenig – ein gammeliges Stadtarchiv mit seinem angeschlossenem Museum, zwei oder drei Kindergärten, der Rheinische Landbote und ein ständig wechselndes Stadtwappen, welches sich jedoch von erratischem Städtemarketing nicht leicht unterscheiden lässt. Trotzdem haben sich einige Traditionen gehalten, wenn auch eher aus folkloristischer Neigung und regionalem Trotz, denn aus gelebter Realität. An Weihnachten und Ostern findet noch immer das Flusskrebsfest statt, welches 38 ursprünglich als Herzstück ritualisierter Säkularität eingeführt wurde. Die Fischer sahen darin eine Möglichkeit die Kirche hinter sich zu lassen, ohne das Verbindende der Feiertage aufgeben zu müssen. Für dieses Fest wurden die Flusskrebse nach einem speziellen Mondkalender gefangen und ausschließlich nachts verarbeitet, wobei jeweils der dritte Teil des Ertrags schon bei der Zubereitung und roh verspeist wurde. Die übrigen zwei Drittel wurden von ihrer Schale befreit, leicht gesalzen, kurz in Butterschmalz angebraten und dann über den Verlauf zweier Nächte in Apfelcidre weichgegart. Die sich daraus ergebende sämige Soße mit Polenta aufgefüllt, in einer Form zu einer festem Masse versteift, gestürzt und anschließend geschnitten wie eine Torte. Die Tortenstücke schließlich, wurden mit je einer leuchtenden Dunstkrabbe garniert und bildeten jeweils den ersten wie auch den letzten Gang des Festtagsmenüs. Von der Polentatorte, welche auch noch heute als Trierscher Zins bekannt ist, musste ein geringer Teil in einer intimen Zeremonie dem Fluss zurückgegeben werden. Worin diese Zeremonien bestanden, lässt sich nicht mehr so genau sagen, da die vorliegenden 39 Beschreibungen stark voneinander abweichen und den Eindruck vermitteln, dass es sich um eine Praxis disparater Privatmythologien handelte. Alle Überlieferungen stimmen jedoch darin überein, dass die Polentamasse, um Auftrieb herzustellen, in die Form einer Barke gepresst werden musste und anschließend, durch Feuerwerkskörper angetrieben, in die Mitte des Flusses treiben sollte. Was davor und danach passierte, wie viele Menschen den Vorgang begleiten durften, was man dazu trank und wem man eigentlich wirklich was zurückgeben wollte, diese Fragen werden von allen Quellen unterschiedlich oder gar nicht beantwortet. Übereinstimmende Erwähnung findet aber eine Pressform aus verstärktem Leder, die in Größe und Form an einen Schuh erinnert und über Generationen von den Einwohnern Triers geteilt und weitergereicht wurde, um die Polentabarken darin zu formen. Dem Fluss wird schon lange nichts mehr zurückgegeben, dennoch hat sich neben dem Trierschen Zins bis heute dieser grobe Lederstrumpf als regionalspezifisches Zeichen erhalten und wird in großer Zahl auf den Kleinkunstmärkten in und um Trier angeboten. Wie wenig aber tatsächlich von 40 den ursprünglichen Intentionen des Flusskrebsfests überliefert ist, zeigt ein Blick in die weihnachtlichen Wohnzimmer der Stadt, wo die Lederform häufig als Christbaumschmuck oder Kerzenhalter verwendet wird. Ein Stadthistoriker fasste diesen Umstand einmal in folgenreicher Dialektik als historischen Sieg der Massenkultur über die Geschichte zusammen und löste damit eine hitzige Debatte aus. Sein argumentativer Dreisprung hatte die Raffinesse multiple Geschichtlichkeiten zu postulieren und gleichzeitig die animistische Tendenz diese als handelnde Einheiten der Massenkultur an die Seite zu stellen. Denn der Sieg der Massenkultur folge aus der Spaltung der Geschichte in eine faktische, historische Zeit, die permanente Aufarbeitung fordere und eine gelebte Geschichte, welche Gegenwart und Zukunft umfasse. Diese Zeitformen würde die Massenkultur gegeneinander ausspielen, so dass schließlich beide Geschichtlichkeiten in Konkurrenz zueinander träten. Als Agenten der Massenkultur hätten die fragmentierten Geschichtsformen zu ihrer eigenen Marginalisierung beigetragen und die Deutungshoheit der Vergangenheit aus der Hand gegeben. Das Ergebnis sei 41 ein osmotischer Historizismus, der Desäkularisierung, Mittelalterfestivals und überhaupt allen Anachronismen zugrunde läge. Weder die These der Spaltung der Geschichte, ihr Zugriff auf Gegenwart und Zukunft, noch der ihr zugewiesene Subjektstatus wurden öffentlich angezweifelt und man muss wohl davon ausgehen, dass einige Kritiker geringen Sachverstand in die folgende Debatte trugen. Weit vom eigentlichen Gegenstand entfernt, entlud sich eine aggressive, vor allem aber diffuse Diskussion, über die Haltungen des Historikers. Man warf ihm zunächst ressentimentgetriebenen Kulturpessimismus vor, übersah dabei jedoch seine deutlichen Sympathien für die Leistungen der Massenkultur. In einem ausführlichen Feuilletonartikel antwortete dieser seinen Kritikern, indem er ausdrücklich die prometheischen Qualitäten der Massenkultur, ihren Innovationsgeist und insbesondere ihre geschichtsbelebenden Eigenschaften hervorhob. Woraufhin man ihm protofaschistische Erfüllungsfantasien unterstellte, deren er sich ein weiteres Mal sachlich zu erwehren versuchte. Man habe schließlich ein gemeinsames Ziel, schrieb er versöhnlich in 42 einem offenen Brief im Rheinischen Landboten, denn es bestehe kein Zweifel daran, dass Geschichte sich nicht in historischer Linearität erschöpfe. Es gelte vielmehr Modelle zu finden, die der Komplexität der Gegenwart entsprächen. Man sei sich, so glaube er, darüber einig, dass nicht nur die Massenkultur die Geschichte bestimmte, sondern diese auch durch eigene gelebte Formen weitererzähle. Die Teilschuld der Geschichte an ihrem eigenen Vergessen sei es, sich gegen sich selbst zu richten und ihre eigene Trennung voranzutreiben. Das aber sei lediglich eine Analyse der gegenwärtigen Historizität und daran keinerlei Telos, oder gar Erfüllungsfantasien geknüpft. Geschichte sei schließlich genauso gemacht wie jeder mittelmäßige Kellerkuchen, schloss er mit einem etwas unglücklichen Bild. Dieser augenzwinkernde Vergleich wurde unmittelbar als Überheblichkeit ausgelegt. Man fühlte sich belächelt und die Kritikermeute warf sich in die Debatte wie Raubtiere auf ihre Beute, um den Historiker nun endgültig zu zerfleischen. Die Teilschuld der Geschichte wurde dem Akademiker als persönlicher Fehltritt angelastet und die Mittelmäßigkeit bezog man auf sich Selbst. Im 43 Internet fegte ein Shitstorm die letzten sachlichen Argumente von der Oberfläche, dem Historiker wurde in der Folge menschenverachtender Neofeudalismus, Nestbeschmutzung, Kastendenken und Antiamerikanismus vorgeworfen. Bitter enttäuscht zog er sich frühzeitig in den Urlaub nach Imperia zurück, wo er in der Hitze Liguriens für einige Zeit verstummte. Zweimal am Tag schleppte sich ein gebrochener Mann die Felsen zum Strand herunter und man sah ihn tief in Gedanken versunken, ohne dass er selbst zu wissen schien, was ihn gerade beschäftigte. So hatte der Sommer weitere Eskalationsstufen dieser Debatte verhindert und im Herbst war die Aufregung allgemeiner Indifferenz gewichen. In Frühsommer, während der Historikerstreit noch die Feuilletons beschäftigte, entlud sich, gewissermaßen auf einer Nebenbühne, ein ebenso emotionaler, wenn auch um einiges intimerer Konflikt, welcher die lokale Kunstszene betraf. Denn auch in dem überschaubaren Kreis regionaler Künstler hatte sich ein Diskurs entlang der Themen Historizität und Geschichtserfahrung, Kitsch und Craftsmanship entwickelt und 44 man hielt es sich zugute einen ästhetischen Zugang zur Geschichte der Massenkultur zu ermöglichen. In nicht ganz ironischer Begeisterung für die Authentizismen der Tradition, behaupteten zwei eifersüchtig befreundete Maler die Erinnerung an die säkularen Bräuche Triers in ihrer Arbeit erfahrbar zu machen. Im Rückgriff auf die ledernen Pressformen des Flusskrebsfestes begannen beide ungefähr um den Jahreswechsel 2013/14 damit, ihre Bilder auf gestärktem Leder zu malen. Die amorphen Lederstücke wurden dafür vernäht, auf Keilrahmen aufgespannt und anschließend mit Knochenleim grundiert. Während aber der eine der beiden Maler, Serge Wenzel, kleinere, rechteckige Formate bevorzugte, die mit aggressiven Krusten von Essenresten überzogen waren und in seiner Produktion Figuratives gänzlich ablehnte, hatte sich Krailsheimer, der zweite Maler, darauf kapriziert menschengroße Shaped Canvases aus dem vernähtem Leder zu produzieren, die er wie in einem monströsen Fries unter die Decke hängte. Leicht anthropomorphe Formbilder wechselten sich mit den Konturformen von Seefahrtmotiven ab. Das Leder war an den meisten Stellen mit Sandpapier aufgeraut und 45 die Oberfläche dadurch hell und unregelmäßig. Vereinzelt fanden sich etwa faustgroße Schmauchspuren auf den Bildern, die aus der Nähe betrachtet den zarten Eindruck äußerst kontrollierter Explosionen vermittelten, auf Entfernung aber die Willkür von Kaffeeflecken ausstrahlten. An einigen Stellen waren die Bilder perforiert, wobei Krailsheimer in einem Künstlergespräch darauf bestand, dass diese Perforationen dem Produktionsprozess geschuldet waren und das vernähen erst ermöglichten, also ihre Relevanz einzig aus ihrer Nützlichkeit zögen. Hier aber sah Serge Wenzel, der befreundete Maler mit den Essensresten, die wirkliche Schwachstelle der Arbeiten und verwies auf seine Bilder, die ja durchaus auch vernäht seien, ohne gleichzeitig penetrante Perforationen aufzuweisen. Ein offener Produktionsprozess müsse ja nicht immer gleich buchstäblich verstanden werden, rief Wenzel mit überheblichem Lächeln aus dem Publikum. Und einigen Anwesenden erschien es so, als habe er sich diese Pointe schon zu einem früheren Zeitpunkt und für eine größere Öffentlichkeit zurechtgelegt. Übertrieben selbstbewusst bezeichnete Wenzel den Einsatz von Produktionsästhetik in der Malerei 46 als Gebrauchswertfolklore und er behauptete Nützlichkeit sei ohnehin eine debile Kategorie. Deutlich in die Defensive gedrängt, konnte Krailsheimer nicht anders als ebenfalls zurückschlagen und er bestand nun seinerseits darauf, dass Essensreste in der Gegenwartskunst nichts weiter als regressive Theatralität darstellten. Eine Position die er persönlich einzig und allein einem wiederauferstandenen Antonin Artraud zugestehen würde. Alles andere sei für ihn nichts weiter als die Vermeesung der Kunst, wobei er die mittlere Silbe unnatürlich lang betonte. Wenzel, mittlerweile äußerst gereizt, wurde jetzt laut und behauptete, dass Krailsheimer gerade wieder seine Ignoranz unter Beweis gestellt habe, indem er gute 70 Jahre Kunstgeschichte oder welchen Zeitraum auch immer er unter Gegenwartskunst verstünde, unter eine banale Position subsumiere und damit wunderbare Regressionen schlicht und einfach missachte. Von der Peinlichkeit der Szene bereits vollkommen eingenommen, sah das schweigende Publikum jetzt einen aufgestachelten Wenzel mit tiefrotem Kopf zum nächsten Schlag ausholen. Dieter Roth, setzte er nach, die unbekannten Nahrungsmittelexperimente 47 von Forest Bess und insbesondere Trevor Davies seien doch mit Meese nicht zu vergleichen. – Wieso Trevor Davies? Welcher Trevor Davies? murmelte der nun angezählte Krailsheimer und man sah ihm an, dass er zu taumeln drohte. Jetzt erst griff die Kuratorin ein, die zuvor das Gespräch recht souverän moderiert hatte. Für einen Moment war sie von der Verletzlichkeit der beiden Maler regelrecht enttäuscht gewesen, so dass sie zunächst nach Worten rang. Doch bald wieder im Besitz ihrer Souveränität und sichtlich um Ausgleich bemüht, lenkte sie das Gespräch auf das regionale Brauchtum, welchem schließlich beide hier anwesenden Künstler ihr Ausgangsmaterial schuldeten. Beim Wort Ausgangsmaterial verzogen jedoch, sowohl der angeschlagene Krailsheimer, als auch der nun stark schwitzende Serge Wenzel nahezu synchron ihre ohnehin schon verbitterten Mienen. Beiden waren die Gefühle von Ekel und Ablehnung deutlich abzulesen. Man ahnte, dass man es mit einem gereiften Urheberschaftskonflikt zu tun hatte und allen Anwesenden wurde unweigerlich klar, dass diese Spannungen hier auf diesem Nebenschauplatz ausgetragen wurde. Angesichts dieses 48 Grundkonflikts war allerdings jeglicher Schlichtungsversuch zum Scheitern verurteilt. Tatsächlich gelang es aber der nun wieder eloquent moderierenden Kuratorin den beiden Malern einige übellaunige und einsilbige Antworten zu entlocken. Nach kurzer Zeit wurde allerdings das Gespräch äußerst schroff von Wenzel beendet, der nur auf den richtigen Moment gewartet hatte, grußlos die Ausstellung verlassen zu können. Die Kränkung saß auf beiden Seiten tief, so dass man nicht nur das anschließend geplante Abendessen vermied, sondern auch in den folgenden Sommermonaten kein Wort miteinander sprach, während die lokale Kunstszene in dieser Zeit kaum ein anderes Gossipthema fand. Krailsheimer und Wenzel nahmen zentrale Positionen in Triers Kunstszene ein und so war es selbstverständlich, dass alle an ihren Auseinandersetzungen Anteil nahmen. Der impulsive Serge Wenzel hatte, seitdem er in den frühen 80er Jahren nach Trier gekommen war, eine beachtliche Produktivität an den Tag gelegt und sich insbesondere in den letzten Jahren mit seinem Podcast Nicht hinauslehnen große Aufmerksamkeit verschafft. In diesem einstündigen 49 Format konnte man Wenzel dabei zuhören, wie er sich mit abwesenden Malern unterhielt, indem er ihre Stimmen imitierte. Er tat das empathisch, wenn auch ohne besonderes Talent für die Feinheiten der Imitation. Männerstimmen wurden meistens gepresst oder mit falschem Bass ein sonores Brummen erzeugt, welches Wenzel für Künstler reservierte die vor 1980 verstorben waren. Frauenstimmen verlegte er in ein überschaubares Repertoire an Kopfstimmen, was Serge Wenzel allerdings zu einer Klarheit im Ausdruck zwang, die man von ihm sonst nicht kannte. Weit entfernt von der Virtuosität ausgebildeter Countertenöre, klangen diese Stimmen angestrengt und hoch artifiziell. In guten Momenten gelang es ihm aber mit den Kopfstimmen die prekäre Theatralität des späten Allessandro Moreschi herzustellen und der Imitation dadurch ihre Lächerlichkeit zu nehmen. Aus diesem Grund sprach er besonders gerne mit Künstlerinnen während seiner Sendung. In den Gesprächen ging es um die Grundprobleme der Malerei; Malerei und Gesellschaft, Malerei und Krankheit, Malerei als Waffe, Malerei und Mord oder Malerei als Meterware, wobei sich diese Themen 50 immer spontan aus dem Interviewverlauf entwickelten. Wenzel verließ sich in der Regel auf seine Assoziationskraft und die initiale Idee, dass die Malerei, als kommentierende Disziplin, in einem redaktionellen Verhältnis zum Weltgeschehen stehe und mit gelenkter Faszination zu eigentlich allem in Bezug gesetzt werden könne. Im Rahmen dieser Malereimetapher sah er für sich selbst die Position eines leitartikelschreibenden Gonzojournalisten vor, der ausgewählten Lesern Erfahrungen vermittelte, welche Wenzel nie gemacht haben konnte. Diese Annahmen hatten Serge Wenzel dazu gebracht eine unmethodische Hermeneutik in die Gespräche einzuführen, die alle besprochenen Themen seiner persönlichen Perspektive unterzuordnen schien, dabei – und das war Wenzel wichtig – aber nicht ohne Weltinteresse auskam. Auf dem Höhepunkt der Aufmerksamkeit hatte sich Nicht hinauslehnen in ein routiniertes Talking–Heads–Format entwickelt, mit der entscheidenden Besonderheit, dass alle Gesprächsteilnehmer Wenzels Kopf entsprungen waren und bestenfalls die blassen Konturen ihrer Vorbilder wiedergaben. Dennoch war an diesen Gesprächen nichts unmittelbar 51 Satirisches auszumachen und er vermittelte großes Interesse an seinen jeweiligen Gesprächspartnern. Allgemein Umstritten war ein mehrstündiges Gespräch, welches Wenzel mit der schweigenden Lee Lozano führte, deren Beiträge er durch lautes Atmen füllte. Das Interessante dabei war vor allem, wie Wenzel die verschiedensten Stufen der Frustration durchlief, die das totale Schweigen seiner Gesprächspartnerin bei ihm auslöste. Mit Lee Lozano durchwatete Serge Wenzel sämtliche Zustände der Vier–Säfte– Lehre und das war an sich schon bemerkenswert, für den Sanguiniker aber eine vollkommen unerwartete Erfahrung. Von ursprünglicher Sympathie für die Konsequenz ihrer Haltung getragen, leitete er die Sendung durch lockere Assoziationen und persönliche Erfahrungen der Stille ein, was Lozano mit gleichmäßigem Atmen aufnahm. Er sprach vom Regenerationstourismus in Kartäuserklöstern und dem Missverständnis der weißen Leinwand als Schweigen der Malerei, um anschließend ausführlich von der Erfahrung der Stille in seinen Fieberträumen zu berichten. Lozano atmete. Anfangs noch kumpelhaft belustigt, stimmte Wenzel gelegentlich über die Dauer einiger 52 Minuten in ihr Schweigen ein, wohl auch um sich zu Sammeln und mit weiteren Gedanken und Anekdoten abermals anzusetzen. Wenzel verlor sich für einige Zeit in der detaillierten Beschreibung der Badeszene des taubblinden Harald und seines Lehrers in Werner Herzogs Land des Schweigens und der Dunkelheit. Deutlich von seiner Sensitivität ergriffen, sprach er über die braunen Fliesen des westdeutschen Schulbades, Haralds erregte Spannung im Wasser, die Synchronität der Abläufe zwischen Lehrer und Schüler beim Duschen, das Einsetzen der Bach Suite beim Baden und die Anteilnahme der ebenfalls taubblinden Fini Straubinger vom Beckenrand. Es schien Wenzel jetzt deutlich zu irritieren, dass Lee Lozano auch hierzu nur schwieg. Streng und traurig kündigte er für die kommenden Minuten die Geräusche seiner Abwesenheit an. Im Hintergrund konnte man die Waschmaschine laufen hören und Serge Wenzel ging sich einen Kaffee kochen. Als er zurück kam, hatte er sich wieder ein wenig gesammelt und er begann sofort das Gespräch mit weiteren Themen wieder aufzunehmen. Wenzel sprach jetzt monotoner, er sprach von Schildkröten 53 als Haustieren, dem Unterschied von Stille und Schweigen, Lippenlesern im modernen Fußball und Gesprächen in den Techno–Clubs der 90er Jahre, von denen er behauptete nicht das geringste verstanden zu haben. Offensichtlich hatte er sich nun vorgenommen seine Gesprächspartnerin herauszufordern, indem er die Gedankenbrücken ausbaute und seine Monologe mit nervenzehrendem Phlegma und immer weiteren Einfällen in die Länge zog. Von den Lippenlesern und den Techno–Clubs der 90er Jahre führte ihn sein Monolog zum Torfall in Madrid, wo 1998 vor dem Anpfiff ein Fußballtor in Richtung der Zuschauertribüne geknickt war und den Spielbeginn um 76 Minuten verzögerte. Lee Lozano gähnte und Wenzel wurde launischer. Ist Gähnen ein Beitrag oder nur reines Symptom der Müdigkeit? Serge Wenzel wirkte verunsichert und stolperte in ein Netz von Plattitüden, die er sich niemals zugetraut hatte und sich deshalb still und unerbittlich vorwarf. Er sprach vom Geräusch der Wolken, vom Geräusch der Stille, von Synästhesie und Auslassungen in der Musik. Kam von John Cage zu Joseph Cornell, weil die geteilten Initialen das nun mal nahelegten und hielt eine begeisterte 54 Rede über Rose Hobart. Cornells Found–Footage– Film sei das bedeutendste Stück Langeweile, welches Obsession jemals hervorgebracht habe, so Wenzel, während er sich insgeheim darüber ärgerte Cage überhaupt erwähnt zu haben. Wäre Satie nicht passender gewesen? Lozano hatte er zu diesem Zeitpunkt fast vergessen, es schien sie nicht zu stören. Wenzel aber sah jetzt nur noch Störendes, vor allem an sich Selbst und für die Dauer einer halben Stunde richtete er sich ausschließlich an sein Über–Ich. Dieses Superego entfaltete sich als vernichtend kritische Richtinstanz ohne Erbarmen und Wenzel sprach jetzt schneller als gewöhnlich. Er wirkte fahrig und sprunghaft, verhaspelte sich zunehmend. Umständlich und unnötig ausführlich, erklärte er, was ein McGuffin sei. Sein Superego antwortete: Lame. In fast panischer Reaktion verschleuderte er nun Pointe um Pointe, verschwendete Gesprächsthemen, die er sich für den Höhepunkt der Sendung aufgehoben hatte. Wenzel sprach von der asozialen Tat als ästhetisches Prinzip, er schwitzte stark. Wenzel sprach vom Anteil der Nichtkunst in der Kunst; wo war dabei noch der gute Gedanke? Er sprach von Selbstmord und Selbstbild 55 und schämte sich seiner Vorliebe für Alliterationen. Serge Wenzel zitierte Rainald Goetz, wie dieser Heidi Paris zitiert: Die Lücke, die wir hinterlassen, ersetzt uns vollkommen und der Überwenzel antwortete ihm: Boring, boring, boring. Dieser innere Sadist hatte nun den Grad seiner größten Souveränität und Vernichtungskraft erreicht. Er bediente sich nur noch kleiner Gesten, welche seine Überlegenheit jedoch um so stärker hervorhoben. Räuspern, nervöses Husten, unruhig auf dem Stuhl nach vorne rutschen, all das reichte aus, um Serge Wenzel kalt zu stellen. Der Selbstvernichter gähnte schon bevor Wenzel den Namen Rimb… ausgesprochen hatte. Das war der Polizeigriff. Das Superego triumphierte endgültig und Wenzel stockte. Er schwieg länger als zuvor und da die Waschmaschine im Hintergrund nicht mehr lief, konnte man ihn leise atmen hören. Als Wenzel nach quälend langer Zeit wieder ansetzte war auch Lozano wieder anwesend. Die Malerin zeigte sich noch immer nicht Gesprächsbereit, aber Wenzel bedrängte sie mit Fragen. Wo warst Du all die Jahre? Warum sprichst Du nicht mit mir? Warum machen wir das hier eigentlich? Serge Wenzel hatte 56 die Auszeit dazu genutzt seine Unsicherheit in einem unerwarteten Kunstgriff nach Außen zu stülpen, wo sie jetzt als ungesteuerte Aggression schubweise abgegeben wurde. Wo beginnt Verachtung? Was ist die Farbe der Wut? Wie malt man Ablehnung? Warum sprichst Du nicht mit mir? Kennst Du Trevor Davies? Warum sprichst Du nicht mit mir? Wenzels erratisches Fragengewitter blieb natürlich unbeantwortet und diese Stille ließ seinen gereizten Ton äusserst despotisch erscheinen. Und wirklich unangenehm, wirklich despotisch wurde es mit der nächsten Tirade. Wenzel schleuderte mit Ressentiments um sich, er wurde anklagend und warf ihr den Rückzug ins Verweigereridyll vor, ihre texanische Trailer–Park– Seligkeit, bescheinigte Lozano ein phallozentrisches Weltbild, nannte sie misogyn, äh misanthrop und es klang als wütete er vor seinem Bücherregal. Einige Bücher fielen krachend zu Boden und Lozano hyperventilierte, denn Wenzel war nun vollkommen außer Atem geraten. Asthmatisches Röcheln füllte zwei unerträgliche Minuten. Wenzels Podcasthörer durchliefen in dieser Phase Fremdscham nach Fremdscham. Er schien das zu spüren und er beschloss, die Sache 57 doch nochmals anders anzugehen. Als Lee Lozano nicht mehr nach Luft schnappte, war plötzlich auch Serge Wenzel erstaunlich gefasst und ruhig, er wirkte jetzt müde. Beide atmeten leise und gleichmässig. Das sei nicht schön gewesen, entschuldigte er sich, aber nicht schön sei es auch sein Programm hier ganz allein bestreiten zu müssen. Er frage sich schon, warum sie überhaupt gekommen sei, wenn sie von Beginn an vor hatte, hier nichts beizutragen. Aber apropos Schweigen, das erinnere ihn an ein Spiel aus seiner Kindheit, dabei sass man sich gegenüber und…Lee Lozano war erschöpft eingeschlafen, Serge Wenzel erzählte noch eine Weile weiter und sein Superego ging sich einen Kaffee kochen. Nachdem Wenzel diese Podcastfolge veröffentlicht hatte, nahm man ihm allgemein sein chauvinistisches Selbstdestruktionstheater übel und er frass diese Kritik still in sich hinein. Über eine kurze Zeit zeigte er für ihn ungewöhnliches soziales Unbehagen und arbeitete zurückgezogen an einer Nachfolgesendung, in welcher er die aufgeregten Reaktionen selbstkritisch aufzuarbeiten gedachte. Zu dieser Sühnesendung kam es nicht mehr, denn am Ende 58 war es Krailsheimer, sein Freund und Nemesis, der ihn überall leidenschaftlich verteidigte. Diese 130 minütige Aufnahme sei gelebter Liebesentzug und Theater nur wenn man Theater als Dokumentation des Möglichen verstehen möchte, so Krailsheimer. Serge Wenzel verfüge über die paranoiden Erkenntnisse des Spieltheoretikers, dazu die Sensibilität eines Hypochonders und das offene Herz eines großen Pathetikers. Wenigstens Wenzel schien zu verstehen, was er damit meinte, es beruhigte ihn und man einigte sich darauf, die Freundschaft um ein weiteres Jahr zu verlängern. Triers Kunstszene, die all das mit Spannung verfolgte, schien von den Konflikten des Frühsommers für eine Weile äusserst angeregt zu sein. Man fühlte sich ein bisschen wie Damals, wobei dieses Damals sich nicht genauer bestimmen ließ. Es musste jedenfalls zwischen 1978 und dem Beginn der neunziger Jahre liegen, denn in ihrem Kern reichte die Szene bis in die späten siebziger Jahre zurück und seit dem letzten Jahrzehnt vor dem Jahrtausendwechsel hatte Trier vor allem künstlerische Apathie erlebt. Man zog 59 sich zurück, die wenigen Galerien schloßen nach und nach und die individuelle Produktion vieler Künstler litt unter der Notwendigkeit Geldjobs nachzugehen. Einige wenige, darunter Krailsheimer und Wenzel, nutzten diesen allgemeinen Eskapismus als künstlerische Weichenstellung für das was sie später die Radikalisierung ihrer Praxis nennen sollten. Im wesentlichen Bestand diese Radikalisierung aus einer gewissen Freude an der Apathie und kleineren Exklusionsspielchen, die vor allem diejenigen unter Triers Künstlern zum Ziel hatten, welche sich auf Festanstellungen eingelassen hatten. In einer der wenigen Ausstellungen die Krailsheimer in den 1990er Jahren hatte, zeigte er unter dem Titel Der Kunst ihre Zeit die freigelegten Stromleitungen des Ausstellungsraumes und eine kleine Serie ungerahmter Zeichnungen auf Bierdeckeln. Damit hatte Krailsheimer für die folgenden Acht Jahre alles gesagt. Auch Serge Wenzel zog sich stärker zurück und konzentrierte sich für eine Weile aufs Schreiben. Er sprach gerne davon, dass diese Texte nur für ihn selbst bestimmt seien und er dachte darüber nach, seine bisherige Produktion restlos zu zerstören. Dann aber erbte er ein Haus aus 60 Familienbesitz und hatte fortan nicht nur kein Lagerproblem mehr, sondern noch dazu ein regelmäßiges, wenn auch geringes Einkommen aus den Mieteinnahmen des Mehrparteienkomplexes. Wenzel wurde Vermieter, gab darüber aber seine Produktion nie gänzlich auf. Zum überwiegenden Teil bestand die Szene aus zugezogenen Künstlern, die irgendwann dem irrtümlichen Ruf Triers gefolgt waren, eine Stadt mit Potenzial zu sein. Hatte man sich ursprünglich noch eine Lower Eastside Entwicklung vorstellen können, so wurde ab Anfang der nuller Jahre von Trier als dem neuen Berlin gesprochen. Doch während man in der Stadtverwaltung eher von einem neuen Bilbao träumte, war man in der Folge unter Triers Hipstern dazu übergegangen die Stadt, wenn nicht als das neue Berlin, so doch wenigstens als das neue Detroit abzüglich der Musikkultur anzusehen und Detroit immerhin war schließlich das neue Berlin, was das neue New York war usw. Angesichts dieser Erbfolgeaussichten war es nicht unüblich sich unter den Künstlern Triers gegen alle Widerstände als Pioniere zu verstehen. Lebte man doch in einer Stadt, die weder 61 Bilbao, noch Berlin ähnelte, vielmehr den Charme von New Jersey ausstrahlte, das Klima von Oslo erduldete und das Nahverkehrsnetz von Los Angeles, die Kriminalitätsrate Johannesburgs, die Umgangsformen von Wien, sowie die Fremdsprachenkenntnisse von Paris aufwies. Dafür waren die Mietkosten seit Anfang der neunziger Jahre stetig gesunken und erreichten alle 6 Monate ein neues Rekordtief. (Ein Tatbestand, der dazu führte, dass Serge Wenzel sich wieder stärker um Teilhabe am Kunstmarkt bemühte). Hier kann man was machen, hieß es mal wieder zum Jahrtausendwechsel, doch auch die letzte Euphorie war nach den Krisen der nuller Jahre einem Phlegma gewichen, was dem Selbstbild der Pioniere deutlich zugesetzt hatte. Dennoch waren es im Grunde diese Krisenerfahrungen, die das Bewusstsein für die eigenen Pionierleistungen über Jahrzehnte am Leben hielt. Denn wie die Siedlertracks des 19. Jahrhunderts durchlitt man Plagen und Krisen mit erstaunlicher Resilienz, niemand zählte die Opfer und die unerfüllten Hoffnungen kamen und gingen mit jedem Coffeeshop, wie sie hier und da in der Nachbarschaft auf und bald wieder zu machten. Nicht dass man unter den Pionieren die 62 Gentrifizierung kaum erwarten konnte, es wäre nur nett gewesen irgendwo einen guten Kaffee trinken zu können. Es gab viel Platz in Trier und ein paar der intakteren Innenstadtviertel erlebten den Zuzug kleinerer Start–Ups, was zumindest die Stadtverwaltung begrüßte und mit Subventionen, billigen Immobilien und Steuerentlastungen großzügig förderte. Die New Economy Triers schuf sich in den verfallenden Gemeindebauten, eine Entsprechung der Garagenmythen des Valleys, und man versäumte es auch nicht, die sorgfältig gepflegte Geek–Kultur und die Armut des Anfangs durch ausgewählte Fotografen dokumentieren zu lassen. Ein Schachzug, welcher sich unmittelbar als Ambitionsnachweis und in Form von Start–Up–Credibility auszahlte, lange bevor man die Geschäftsräume nach zeitgenössischen, selbstverständlich ironischen Farbenlehren umgestaltet hatte und die alten Schreibtischböcke Egon–Eiermann– Gestellen gewichen waren. Neben der Gründungsromantik hatte man aus dem Silicon Valley die durchaus sinnvolle Idee, dass es bei einem Start–Up–Produkt 63 irgendwie um Kommunikation gehen sollte, mitgebracht. So entstanden eine Reihe von Derivatanwendungen für bereits etablierte soziale Medien, die sich vor allem durch ihre spezifischen, besser noch beschränkten Anwendungsmöglichkeiten auszeichneten. Triers New Economy schuf eine App, welche leise akustische Signale verstärken konnte und unter dem Namen ASMRtist den wachsenden Markt des Product–Unboxings, von Youtube–Flüsterkanälen und Sprachtutorials in Elbisch erschließen sollte. Man produzierte hochsensibilisierte Mousepads für manuelles High–Speed–Trading und erwarb sogar Anteile der Smartphone Application Thummy, welche einzig dazu diente, alleine mit dem Daumen Bilder beschneiden und in Webauflösung umrechnen zu können. Es überraschte die wenigsten, dass sich diese Produkte auf längere Sicht nicht durchsetzten, so dass bald der Verdacht aufkam, es handele sich bei diesen Unternehmensgründungen lediglich um eine realistische Aufführung gegenwärtiger ökonomischer Bedingungen. Zwar wurden intern die jeweiligen Ziele mit einer gewissen Identifikationsbereitschaft verfolgt, aber den meisten Außenstehenden erschien es über 64 weite Strecken wie eine undurchsichtige Farce, bei der sich leptosome Jungunternehmer zu lauter Musik auf Sitzsäcken fläzten, während sie irgendwas in ihren Laptop hackten. Ein so gewöhnlicher, wie undurchschaubarer Prozess, der im grossen und ganzen aber sehr gut zu Trier als wirtschaftlichem Standort im Nebel passte. Erst viel später sollte sich herausstellen, dass man tatsächlich einer Komödie aufgesessen war und die strategischen Fäden hinter diesen Unternehmensgründungen allesamt in der Anderson Group zusammenliefen. Nachdem schließlich der Vorhang gefallen war, öffnete sich für Trier, Massachusetts – einen kurzen und erschütternden Moment lang – der Blick in die tiefschwarze Krämerseele des Überunternehmers Kilian Anderson. Der Patron der Anderson Group hatte in einem innovativen Geschäftstreflex kurzerhand das Prinzip des Creatio ex nihilo ex nihilo erfunden und die gebündelte Unproduktivität immaterieller Arbeit eingesetzt, um Werte zu schöpfen, die einzig aus der Darstellung von Unproduktivität hervor gingen. Als überzeugter Malthusianer richtete sich seine gesamte Schöpfungskraft gegen die Symptome der Nutzlosigkeit und so war 65 es aus seiner Perspektive nur folgerichtig den Anteil von vermeintlicher Nicht–Arbeit in postfordistischen Beschäftigungen wiederum für seine Produktivität einzuspannen. All das Fläzen, Netzwerken, Pitchen und Kaffee trinken hatte bei ihm einen ungleich direkteren Zugriff auf das Geld, operierte gar nicht erst im dunstigen Reich des Möglichen, sondern war immer schon kalkulierbare Dividende, die es nur noch abzuschöpfen galt. Man musste die Geeks nur gut sichtbar im städtischen Raum ausstreuen und die Subventionstöpfe der Stadt öffneten sich von ganz allein. Nachhaltigkeit? Ja. Entwicklung? Ja. Projektarbeit? Ja, Ja, aber nur in eigener Sache, mit dem größtmöglichen Nutzen und einem berechenbaren Ergebnis. Trier zahlte Andersons Eigensinn mit großen Fördersummen, welche in den verschachtelten Finanzmodellen diverser Offshore Gesellschaften seines Wirtschaftsimperiums versickert waren, während der Haushalt dieser ohnehin schon hoch verschuldeten Stadt immer weiter in einem Meer von roten Zahlen zu versinken drohte. So sehr sich der Rheinische Landbote auch darum bemühte die Verstrickungen zu enthüllen, so komplex 66 waren die Finanzkanäle gelegt und selbst Maja, für kurze Zeit der Star unter den investigativen Journalisten Triers, hatte größte Schwierigkeiten Kilian Anderson Profite nachzuweisen, die im unmittelbaren Zusammenhang mit den Subventionsdrainagen von Triers New Economy standen. Es blieb bei vagen Vermutungen und Anderson antwortete auf diese Anklagen, indem er kurzerhand den Mutterverlag der Zeitung erwarb, eine Seilbahn auf den nahegelegenen Katzenbuckel stiftete und ein Privatmuseum eröffnete, welches seinem Werdegang gewidmet war. Beim Pressetermin kurz vor der Eröffnung erschien ein bestens gelaunter Kilian Anderson, der sich angesichts einiger Exponate einzelne Rührungstränen wegdrückte und den Journalisten einfühlsam von seiner Familiengeschichte zu erzählen vermochte. Bei den ausgestellten Objekten handelte sich um eine große Zahl interaktiv erfahrbarer Familienfotos aus dem Anderson–Clan und Reliquien eines global agierenden Wirtschaftslebens. Gezeigt wurden unter anderem die Gehhilfen, auf welche Anderson, als Folge einer Sportverletzung, während einer Geschäftsreise nach Mumbai angewiesen war und eine Auswahl 67 von Serviettenzeichnungen, wie er sie bei langatmigen Verhandlungen gerne machte. Die versammelte Presse lobte am folgenden Tag einhellig die mutige Präsentation seiner Tagebuchfaksimiles als große Geste der Transparenz. Der Sturm hatte sich gelegt und Kilian Anderson segelte der Sonne entgegen. Doch man sollte sich von diesem Subventionsfiasko nicht täuschen lassen, denn es gab durchaus auch Erfolge, oder besser Teilerfolge auf Seiten der Stadtregierung. Es war Trier gelungen in der Nähe des alten Hafenareals eine Blindenstudienanstalt anzusiedeln und dadurch neue Einwohner anzulocken, sowie einige bitter notwendige Arbeitsplätze zu schaffen. Die sehbehinderten Akademiker halfen dabei den Mietmarkt etwas zu stabilisieren und das Institut entwickelte sich in kurzer Zeit zu einem Epizentrum interkultureller Begegnung. Die Blinden belebten die Stadt nachhaltig. Doch wie jede städtebauliche Maßnahme immer auch Widerstände provoziert, so gab es auch bei diesem Projekt unvorhergesehene Probleme. Denn kurz nachdem die ersten Studenten ihr Studium aufgenommen hatten, erlebte 68 die Stadtverwaltung eine Springflut an gerichtlichen Verfügungen, die allesamt auf Diskriminierungsklagen beruhten. Beim Bau des Hauptgebäudes hatte man grundlegende Gleichstellungsmaßnahmen aus Kostengründen vernachlässigt und auch die marode Infrastruktur Triers hatte deutlichen Verbesserungsbedarf an Verkehrsanlagen, Bodenbelag und Straßenführung. Die Ampeln mussten mit akustischen und vibrierenden Warnanlagen versehen, Straßenübergänge durch Schwellen gekennzeichnet, Flusspromenaden gesichert werden und insbesondere die üppige Glas–Stahl–Architektur der Blindenuniversität erwies sich in ihrem Aufbau als labyrinthisches Enigma für Nicht–Sehende. Der vollkommene Verzicht auf ein Leitsystem in Braille–Schrift war relativ leicht nachzubessern, größere Probleme bereiteten die Drehtüren, ausladende Betonplateaus, welche in die Architektur gestreut waren, sowie die diffuse Akustik, die das Navigieren nach Gehör in diesem postmodernen Schachtelbau unmöglich machte. Nach diesen Klagen etablierte die Opposition im Stadtrat kurzerhand den Begriff der Blindförderung und nutzte jede Gelegenheit, die erfolgreiche Anwerbung des Instituts 69 als Pyrrhussieg des Oberbürgermeisters Huebler zu diskreditieren. Es half auch nicht, dass dieser eine Integrationsdebatte dahin gehend eröffnete, dass es den Nicht–sehenden gestattet werden müsse, ein Leben nach den Bedingungen der Sehenden zu leben. Belastend kam hinzu, dass Huebler sich kurz darauf bei einem intimen Empfang in den Hinterzimmern des Presseballs im Gespräch mit einem Betriebsrat der Anderson Print & Media Inc. etwas zu laut über die Blindensignale beschwert und dabei von Lärmbelästigung gesprochen hatte. Sei es aus Hybris oder als Folge seiner gegenwärtigen Proseccolaune, Mayor Huebler hatte sich jedenfalls nicht zuvor über die Schultern geschaut. Denn hätte er das getan, so wäre ihm sicherlich aufgefallen, dass direkt hinter ihm Maja auffällig konzentriert mit ihrem iPhone beschäftigt war und so servierte er ihr an diesem Abend einen wahren Scoop, für den sie nicht einmal das Haus hatte verlassen müssen. Maja tat was sie am besten konnte und machte in kürzester Zeit aus der Integrationsdebatte eine folgenreiche Chauvinismusdebatte, Trier erlebte einen weiteren Skandal und OB Huebler eine kurze Amtszeit. Gab es in dieser Stadt auch 70 sonst nicht besonders viel verlässliches, so konnte sich wenigstens Maja sicher sein, dass Trier genug Konflikte bereitstellte, um in ihrem Job wohlgenährt durch die Jahre zu kommen. Als attraktive Bestsellerautorin war Maja der Quereinstieg in die Redaktion des Rheinischen Landboten äusserst leicht gefallen. Nach dem Verschwinden von Robert Anderson und der Trennung von P.I. hatte sie sich für einige Zeit in B… mit einem neuen Buchprojekt beschäftigt, irgendwann aber festgestellt, dass ihr der Feldherrenhügel der Ratgeber– und Femmeliteratur zu wenig Selbstbegegnung ermöglichte. Ihrer Agentin erklärte sie, dass sie zwar noch über die gesamte Fülle ihrer Talente verfüge, sich jedoch beim Schreiben nicht mehr spüre – der Erfolg tue ihr einfach nicht gut. Sie habe darüber hinaus feststellen müssen, dass Ihr Lebenslauf ohnehin zu komplex und aufregend sei für die Top–Down–Logiken der Selbstoptimierungspraxis. Das sei keine Produktionspanik, versicherte Maja, Schreibblockaden kenne sie nur aus Fernsehserien und für Sinnkrisen habe sie nun wirklich keine Zeit. Tatsächlich war sie viel zu 71 sehr Kraftwerk, um ins Zaudern zu geraten und so stürzte sie sich in einen weiteren Neuanfang. Im Sommer 2013 war sie nach Trier zurückgekehrt, um sich, wie sie sagte, in bekannter Umgebung neu zu orientieren. In der Hoffnung auf unmittelbare Selbstbegegnung durch Andere, machte sie sich mit einem kleinen Unternehmen unter dem Namen ConsuLife selbstständig und im Register der Wirtschaftskammer bot sie ganzheitliche Lebensberatung, allgemeines Coaching, Hilfestellung zur Erreichung einer körperlichen bzw. energetischen Ausgewogenheit mittels der Methode von Dr. Bach, mittels Biofeedback oder Bioresonanz, mittels Auswahl von Farben, mittels Auswahl von Düften, mittels Auswahl von Lichtquellen, mittels Auswahl von Aromastoffen, mittels Auswahl von Edelsteinen, mittels Auswahl von Musik, unter Anwendung kinesiologischer Methoden, mittels Interpretation der Aura, mittels Magnetfeldanwendung, durch sanfte Berührung des Körpers bzw. gezieltes Auflegen der Hände an bestimmten Körperstellen, mittels Cranio– Sacral–Balancing, durch Berücksichtigung bioenergetischer, geobiologischer, elektrobiologischer, baubiologischer und geomantischer Gesichtspunkte, 72 durch Berücksichtigung der Auswirkungen der energetischen Geometrie und Lichtphysik, mittels Feng Shui, Zen, Vastu bzw. anderer lebensraumrelevanter Aspekte verschiedener Epochen und Kulturen, mittels Numerologie, mittels Wassersuche sowie radiästhetischen Untersuchungen mit Rute, Pendel etc., mittels Wahrnehmung raumenergetischer Phänomene mit und ohne Geräteunterstützung, durch Berücksichtigung von Planetenkonstellationen und lunaren Energien an. Wie nebenbei heilte sie auch die ein oder andere Neurodermitis und manchen ihrer Klienten gab sie gelegentlich auch Anlagetipps mit auf den Weg. Für eine Weile machte sie sich auf die Suche nach einem gemütlichem Büro, bis sie feststellte, dass sie in Sportkleidung die viel bessere Wirkung erzielte und so nahm sie ihre Klienten für Anwendungen mit auf ausgedehnte Walkingtouren durch die Parkanlagen der Stadt. Ihr Anspruch passte einfach nicht in geschlossene Räume und frische Luft steigerte ihre Luzidität. Ein Grundstamm von Ratsuchenden fiel ihr praktisch in den Schoss, als sie beim Einkaufen eine ehemalige Schulfreundin traf, die nur auf die Gelegenheit 73 gewartet zu haben schien, mit ihr Zeit zu verbringen. In der stillen Hoffnung mit einem Celebrity befreundet zu sein, konsultierte sie Maja regelmäßig und verrichtete eigenmächtige, aber durchaus erfolgreiche Akquisearbeit in ihrem Freundeskreis. Der Wert von Mundpropaganda, so Maja, ist nicht zu überschätzen und so lud sie die Schulfreundin gelegentlich zu Fingerfood auf ihre Terrasse ein. Sie wusste aber, dass sie vorsichtig sein musste mit diesen Verhältnissen, denn ihre Leistungen waren von Freundschaftsdiensten teilweise ununterscheidbar und in diesen Beziehungen wuchsen Missverständnisse wie Sporen in feuchten Kellern. Um ihre Integrität zu wahren und professionell abrechnen zu können, hatte Maja sich die freundliche Distanz einer Hebamme zugelegt und so sprach sie auch gerne von sich als Geburtshelferin eines neuen Lebens. Kaum eine Intimität war ihr zu krass, denn im Grunde interessierte sie sich nicht allzu sehr für die Leben der Anderen und drohte doch einmal ein Gespräch einen deprimierenden Verlauf zu nehmen, so hatte sie immer ein gut bestücktes Arsenal von Lifechangern – kurze, optimistische Parabeln über ihre Lebensentscheidungen – zur Hand und 74 konnte damit das Gespräch elegant, aber bestimmt an sich reißen. Für eine Person mit ihrem Selbstbewusstsein hatte sie jedoch eine außerordentliche Fähigkeit Projektionsflächen zu bilden und ihre Klienten schätzten ihre umfassende Lebenserfahrung. Und wirklich, sie schien die widersprüchlichsten Dinge erlebt zu haben. Unerfüllter Kinderwunsch und das schwinden des Eros in Langzeitbeziehungen mit Kindern, Tier– und Objektliebe, Singleleben und Dreiecksbeziehung, Hetero– und Homosexualität, Dom und Sub, für alles hatte sie glaubhafte Erfahrungen aus erster Hand aufzubieten. Auch deshalb schien es ihr ratsam eine gewisse Distanz zu ihren Klienten aufrecht zu halten und ihr Privatleben etwas geschützter zu leben als es ihr sonst eingefallen wäre. Nach einem guten Jahr im Wohlstand, hatte die Langeweile sie eingeholt und ihre Angst vor einer möglichen Steuerprüfung bewog sie dazu, sich abermals umzuorientieren. Ihren Klienten schrieb sie in einer SMS, dass es jetzt um sie gehen müsse und sie unmöglich ihre weiteren Talente länger brachliegen lassen könne. Nun sei die Zeit gekommen wieder etwas Neues zu wagen. Maja dankte allen für ihr Vertrauen 75 in sie und jedem einzeln für ihr jeweiliges Vertrauen in ihre je eigenen Entscheidungsfähigkeiten. Wenige Wochen später hatte sie schon in der Redaktion des Rheinischen Landboten angeheuert. Maja fühlte sich das erste mal seit langer Zeit wieder richtig frei – ihre Ohren, ihr Mund und Herz gehörten einfach auf die Straße. Sie hatte das Schreiben vermisst. Majas Einstieg in die Redaktion des Rheinischen Landboten fiel mit dem allgemeinen Niedergang der Lokalpresse zusammen. War sie von Seiten der Redaktionsleitung noch als Kolumnistin eingeplant, die mit ihrer Popularität den fallenden Absatz etwas abfedern mochte, so gelang es Maja aber beim Vorstellungstermin mit der ihr eigenen Suggestivkraft und einer mitreißenden Rede zur Bedeutung redaktioneller Arbeitswirklichkeit, so etwas wie Optimismus zu verbreiten. Ihr ging es um nicht weniger, als die Rettung des Print– und Qualitätsjournalismus und von den Logenplätzen der Kolumnisten sei ein solches Vorhaben unmöglich durchzusetzen. Auf ihren Wunsch richtete man ihr einen Arbeitsplatz im Zentrum des noch immer pulsierenden Redaktionsalltags ein. Im Großraumbüro 76 der Zeitung, dem Bauch der Redaktion, spüre man, bevor man überhaupt wissen könne, behauptete sie gegenüber dem Chefredakteur Erlich, der sich unmittelbar in sie verliebt hatte. Dieses Antizipationswissen, gewissermaßen über die Haut von Redakteurin zu Redakteur übertragen, sei die Grundlage anspruchsvoller tagesaktueller Realitätsbewältigung und ein wesentlicher Wettbewerbsvorteil gegenüber der Isolation der Blogger. Was das Blatt jetzt benötige sei ein pumpendes Herz im Zentrum dieser Übertragungen, um die Informationen schnell und geleitet zirkulieren zu lassen. Dem Gehirn sei eine solche Funktion nicht zusätzlich zuzumuten und demnach würde sie den Chefredakteur auch nicht in die Pflicht nehmen wollen, so Maja, sie könne sich aber durchaus vorstellen diese Aufgabe zu übernehmen, um mit ihren Möglichkeiten auch gleich noch die grauen Zellen in der Chefetage mit Sauerstoff zu versorgen. An diesem Tag bezog sie ihren Schreibtisch inmitten der Redaktion und die einzelnen Ressorts des Rheinischen Landboten wurden um sie herum angeordnet, als befände man sich nicht in den Büros einer Zeitung, sondern erlebte das Innere eines Benthamschen Panoptikums. 77 Wenn Maja morgens aus dem Nebel der Stadt trat und mit der Hand über ihren Arbeitsplatz strich, genoss sie für einen kurzen Moment jenen Zustand, den sie das Blätterrauschen nannte, es knisterte um sie herum, die Poren öffneten sich, osmotisch zogen ihre Zellen die Informationen aus der Luft, Serotonin schoss durch ihren Körper und das Herz begann kräftig zu schlagen; ein neuer Tag konnte beginnen. Mit Maja hatte sich der Erfolg eingestellt und zum Jahresende konnte Erlich der, um einigen Druck erleichterte Chefredakteur des Rheinischen Landboten, die beste Quartalsbilanz seit Jahren vorweisen, er fühlte sich so leicht wie schon lange nicht mehr. Mit seinen Gefühlen gegenüber Maja, waren auch die Absatzzahlen der Zeitung gewachsen. Das kommende Jahr lag wie ein großes Versprechen vor ihm, wann hatte er das letzte Mal solche Zuversicht gespürt? Erlich dachte jetzt kaum mehr an seine Exfrau und er genoss die Arbeit wie nie zuvor, mit Maja in der Redaktion fühlte er sich als Chef unter Gleichen. Sanfte Hände, fester Griff hatte sie ihm einmal in einer Kaffeepause, während eines ausgiebigen Gesprächs 78 über Führungsstile, als Rat mit in sein Büro gegeben und da es aus ihrem Munde kam, war Erlich bereit dieses Prinzip auf sein ganzes Leben anzuwenden. Er übte sich in bestimmter Zurückhaltung, sah sich als sanften Mentor, während gleichzeitig seine Fantasie die Grenzen ihrer Möglichkeiten abtastete. In Erlichs Tagträumen breitete sich ein zeitloser, arbeitsfreier Zustand vor ihm aus, in dem sie beide, Maja und Erlich, im Bett lümmelnd, frühstückten, als seien sie Jennifer und Jonathan Hart, die aus reiner Muße aufklärerisch in die Gesellschaft hineinwirkten – einfach nur weil ihre Liebe nun mal Überschüsse produzierte. So lange war es her, dass Erlich ferngesehen hatte, ein Defizit, welches seine Fantasie deutlich zu beschränken schien. Maja hingegen hatte sich, nicht zuletzt mit Hilfe von Erlich, Zugang zu den Hinterzimmern der Gesellschaft erschlossen, aus denen sie in der Folge Skandal um Skandal ans Tageslicht zerrte. Der Rheinische Landbote entwickelte unter ihrer Zugkraft das Profil einer vierten Gewalt, die diesen Namen auch verdiente und selbst ihre Feinde mussten rückwirkend anerkennen, dass sie es geschafft hatte in nur einem 79 Jahr in dieser Redaktion, fast schon eine eigene Ära zu prägen. Man lobte Majas Integrität und es fanden sich nicht wenige unter ihren medialen Opfern, die zumindest ihre Hartnäckigkeit zu schätzen wussten. Doch selbstverständlich beförderte diese kompromisslose Härte auch Widerstände und wie jede ehrgeizige Persönlichkeit, kam auch sie nicht ohne das ein oder andere Karrierescharmützel aus. Ihr Auftrag verlangte es von ihr, hier und da auch mal jemand hinter sich zu lassen und so wuchs das Lager derjenigen, die sie am liebsten am Boden gesehen hätten. Ehemalige ConsuLife–Klienten von denen sie zu viel wusste, die Zielpersonen ihrer zahlreichen Scoops, Kolleginnen und Kollegen, die ein oder andere Sekretärin, halbseidene Gewerkschafter und Luden, Krabbenfischer und Postboten, sie alle hegten ihre je eigenen Abneigungen gegenüber der kompromisslosen Journalistin. Doch wie auch Krankheiten sich gegenseitig in Schach zu halten vermögen und dadurch das Ausbrechen einzelner Symptome gelegentlich verzögern, hatte die heterogene Zusammensetzung dieses Lagers wirksame Allianzen gegen sie verhindert und so war es am Ende ein einzelner, 80 dafür ungleich mächtigerer Gegenspieler, welcher ihrer Karriere beim Rheinische Landboten ein schnelles Ende bereitete. Noch am Morgen ihrer Entlassung im Oktober 2015 erschien ein kämpferischer Leitartikel in welchem Maja schrieb, das Problem und das Glück des Lebens im Spätkapitalismus sei die soziale Vergleichbarkeit, das eigentliche Problem aber die Last der Vielen, die das Glück nur als fehlendes Glück kannten, die Probleme des sozialen Vergleichs dafür tagtäglich und ausschließlich antrafen. Dort aber wo das Glück mit vollen Händen ausgestreut war, setze der soziale Vergleich aus, da man sich letztlich nur noch mit sich selbst vergleichen konnte und man diese Spiegelsucht wohl kaum mehr als soziale Angelegenheit betrachten könne. So werde das Problem des sozialen Vergleichs ein weiteres Mal zum Problem des weitaus größeren Teils der Gesellschaft, da Probleme nun mal nicht einfach von selbst verschwinden, sondern lediglich verlagert würden. Dadurch entkoppele sich aber letztlich das Glück des weitaus geringeren Teils der Gesellschaft vom sozialen Vergleich und damit dem Problem, um letztlich nur noch problembereinigten 81 Eigensinn zu produzieren. Irgendwie rettete sie dieses Gleichnis noch über die gesamte Artikellänge von 6.500 Zeichen und endete, in Antizipation dessen was geschehen sollte, mit dem Satz: ich war, ich bin, ich werde gewesen sein. Im ganzen Artikel hatte sie nicht einen einzigen Namen genannt und dennoch wussten ihre Leser gegen wen sich dieses Plädoyer richtete. In den Wochen zuvor war kaum ein Tag vergangen, an dem der Rheinische Landbote nicht weitere Enthüllungen zu Triers New Economy Skandal veröffentlichte und Kilian Anderson stand im Zentrum dieser Anklagen. Von da an ging alles sehr schnell. Der Mutterverlag des Rheinischen Landboten hatte der Finanzkraft Andersons nichts entgegen zu setzen und selbst wenn man das üppige Übernahmeangebote abgelehnt hätte, sprach alles für eine feindliche Absorption durch die Anderson Media & Print Inc. Kilian hatte sich buchstäblich über Nacht den Verlag einverleibt und richtete mit Hilfe einer schlagkräftigen Bande von White–Collar–Criminals und pedantischen Winkeladvokaten, ein arbeitsrechtliches Massaker an. Majas Arbeitsplatz wurde als erstes geräumt, Chefredakteur Erlich wurde mit dem Vorwand 82 des familiären Eigenbedarfs freigestellt zu kündigen oder seinen laufenden Vertrag unter der Führung des wieder aufgetauchten Robert Anderson zu vollenden, das Politikressort geschlossen. Am Ende einer Woche hatte Kilian nahezu die gesamte Redaktion durch die Kinder von Celebrities ersetzt, die allesamt das Zeug hatten, Triers traditionsreichste Zeitung innerhalb kürzester Zeit zu ruinieren. In den folgenden Wochen berichtete der Rheinische Landbote umfassend von den Fortschritten am Bau der neuen Seilbahn auf den Katzenbuckel und die gesamte Redaktion schien nichts sehnlicher zu erwarten, als die Eröffnung des Andersonschen Privatmuseums. Maja war es nicht möglich loszulassen, hatte sie sich einmal festgebissen und so beschloss sie, ihre Recherche eigenmächtig weiter zu führen. Sie besann sich auf ihre Fähigkeiten als Bestsellerautorin und von diesem Tag an arbeitete sie fiebrig an einem Enthüllungsbuch über die kriminellen Geschäftspratiken des Globalunternehmers, Krabbenbarons und Zeitungsverlegers Kilian Anderson. Sie betrat damit einen Pfad, der sie später in die dunkle Sackgasse der Bergstraße führen sollte. 83 Unweit der Bergstraße, im inneren Altstadtring, steckte sich Elaine DeGreed ihre noch nassen Haare mit einer strassbesetzten Nadel hoch. Es war ein feuchtkalter Morgen, sie schlüpfte in ihren Mantel und verließ ihr Townhouse in Richtung Norden. Als sie vor die Tür trat, fiel ihr Blick auf eine übergewichtige Frau am Ende der Straße, die einen kleinen Terrier spazieren führte. Ein Apfel auf Zahnstochern, dachte sie und lächelte grimmig in sich hinein. Endstation Schlaganfall, hätte Robert zu ihr gesagt, wäre er noch hier und noch immer der sprühende junge Mann, in den sie sich einmal verliebt hatte. Und sie hätte gelacht, während er sofort losgegangen wäre, um der Dicken einen Krabbencocktail mit besonders viel Mayo zu kaufen, nur um sie ein bisschen verlegen zu sehen. So war Robert eben bevor er ins Koma gefallen war, ein Mann mit Humor. Elaine drängte sich an der Dicken vorbei und dann war sie die Einzige in dieser ganzen verschissen Stadt, die Elaine zulächelte. Im weitergehen dachte Elaine, dass vielleicht dieser mächtige Leib nur dazu da war, ein mächtiges Herz zu tragen. Sie wäre am liebsten zurückgeeilt und hätte sich mit der Dicken auf eine Bank gesetzt und ihr von Robert 84 erzählt, von Robert wie er war und wie er geworden ist und wie er schlussendlich verschwand, um sie allein auf einem Haufen wertloser Geschäftsanteile sitzen zu lassen und wie er seinen Businessplan vergessen hatte. Klar, sie mochte seinen Humor, aber wegen ein paar Witzen hatte sie ihn nicht geheiratet. Der Businessplan war sicherlich nicht alles, aber er hatte ihr die Entscheidung erleichtert und dann nach der Hochzeit war ihr irgendwann aufgefallen, dass er gar nichts mehr verfolgte, weder Business noch Plan in seinen Handlungen auszumachen war und er auf einmal vor hatte, Holzbarken zu bauen und das konnte ja nicht der Businessplan sein, für den sie ihn geheiratet hatte. Die Dicke hätte ihr aufmunternd zugenickt und gesagt, dass sie Holzbarken eigentlich ganz gern habe. Elaine hätte kurz gelacht, sich für ihre Tränen entschuldigt und gefragt, ob ihr Kajal auch nicht verronnen sei. Sie hätte dann weitererzählt, dass sie ja eigentlich gar nicht die Zeit habe hier mit ihr, der Dicken, am Morgen auf einer Bank zu sitzen, denn eigentlich müsste sie schon längst zur Arbeit, denn ja, seitdem Robert verschwunden war und sie auf einem Haufen wertloser Papiere sitzen gelassen hatte, 85 musste sie in einer Eventagentur arbeiten. Die Dicke hätte sie dann gefragt, was das denn sei, eine Eventagentur und sie hätte geantwortet hauptsächlich Fun, aber trotzdem würde sie das Nicht–Arbeiten jederzeit dem Spaß auf der Arbeit vorziehen, allein schon wegen der Nachbarn. Die Dicke hätte nur still ihren Terrier gekrault und Elaine hätte die Möglichkeit genutzt ihren Kopf an ihre fleischigen Schultern zu lehnen und die Gedanken zu ordnen. Robert sei an sich ein sehr guter Schwimmer und deshalb sein Verschwinden als Unfall kaum denkbar. Den Fluss kannte er in– und auswendig, so dass es natürlich ein leichtes für ihn gewesen sein musste, nach seiner beschämenden Lesung einfach in das Wasser zu steigen und im Schutz der Dunkelheit auf der anderen Seite wieder heraus zu klettern. Die Dicke hätte zu bedenken gegeben, dass ihr Terrier auch einmal den Fluss zu durchqueren versuchte, dann aber hätte er plötzlich aufgegeben und sei so weit abgetrieben worden, dass sie, die Dicke, schon innerlich Abschied von ihm, dem Terrier, genommen hatte. Elaine hätte ihr den Finger auf den Mund gelegt und den Kopf in ihren Schoß sinken lassen. Sie wäre kurz eingenickt, 86 dann aber wieder aufgewacht, weil der Terrier sie eifersüchtig von der Seite angeknurrt hätte. Für einen Selbstmord hatte Robert keinen Grund, er hatte ja sie, Elaine und seine Liebe zu Maja kannte keinerlei existenzielle Dimension. Kurz hätte sie den Kopf angehoben und dann weitergesprochen, indem sie die schweigende Dicke mit schmalen Augen fixierte. Es war ihr gutes Recht nach dem Businessplan zu suchen und Private I sollte da nur ein bisschen nachhelfen, sein – Roberts – Glück etwas schütteln, damit am Ende womöglich diese Wohlstandsaussicht wieder irgendwo in seinem – Roberts – vernebelten Hirn aufgetaucht wäre. Als Ehefrau eines Minderbemittelten sei es ihre Pflicht das Beste aus ihrem Mann heraus zu holen, hätte Elaine der Dicken und ihrem Terrier erklärt. Ja, ja die Liebe verpflichtet, hätte die ihr zugestimmt und Elaine hätte sich für einen Moment ganz leicht gefühlt, beinahe so als versinke sie in dem mächtigen Schoss der Hundehalterin. Elaine hätte die Beine angezogen. Dann erst wäre ihr aufgefallen, dass die Dicke von Liebe gesprochen hatte und sie hätte die Stirn in Falten gelegt und gesagt Liebe vielleicht nicht gerade, aber das was danach 87 kommt, eine gut verwaltete Partnerschaft. Und die Dicke hätte zu sich selbst gesagt, der Charakter einer Frau zeigt sich nicht, wo die Liebe beginnt, sondern wo sie endet. Das hätte Elaine verwirrt, aber gleichzeitig hätte sie gespürt, dass sie diesen Schoß nicht mehr würde verlassen können und sie sich hier neben diesem Terrier für die Ewigkeit würde einrichten müssen, dass sie diesen Schoß eigentlich nie verlassen hatte. Elaine DeGreed schüttelte sich, die Kälte kroch in ihr hoch, sie hatte die U–Bahnstation erreicht und fuhr zur Arbeit, im Büro erwarteten sie acht Stunden Spaß. Während Trier nach dem Mord auf der Rheinland und dem Verschwinden der Anderson Brüder, in kurzer Zeit zur alten Ordnung zurück gefunden hatte, erlebte Private I die unproduktivste Phase seines an Produktivität nicht eben reichen Lebens. Der fortschreitenden Verwahrlosung ausgesetzt und dem Wahn näher als dem Leben, durchlitt er die Leere, welche Maja hinterlassen hatte, als sie ihn zurück ließ, um in B… an einem neuen Buchprojekt zu arbeiten. Sie mochte B… für die Unruhe dort und erklärte ihm 88 beim Abschied, diese Stadt, B…, sei niemals Sein, sondern immer nur Werden. Dafür hasste er B… und dafür, dass Maja es vorzog dort zu sein und nicht hier bei ihm. Er litt, sie hätte gewusst wie er mit seiner Schuld umzugehen hätte, dessen war er sich sicher. Doch statt ihn zu unterstützen hatte sie ihm die Bronchitis hinterlassen, einen Fernseher vor sein Bett geschoben und war nach B... gereist, um sich nicht mehr bei ihm zu melden. Es blieb ihm nichts anderes übrig als obsessiv diese Lücke zu bearbeiten, in dieses unendliche Loch immer mehr Alkohol zu gießen, solange bis es sich nicht mehr so leer anfühlte. Er zog sich dann seine Socken aus und stieg in einen See aus Ethanol, um langsam mit ihm zu verdampfen. Die Nächte durchwälzte er in Schuldgefühlen und fand er irgendwann doch in den Schlaf, so träumte er den immer gleichen Traum von Glasauge. Dieser saß auf einem Billardtisch und hatte die Beine übereinander geschlagen. Mit gekrümmten Rücken trank Glasauge ein großes Bier, welches er in einem unendlich langen Zug leerte. Während er trank schoss das Bier in Fontänen aus seinen tödlichen Wunden und verteilte sich in einer schäumenden Lache auf dem Filz des 89 Tisches. P.I. verspürte dann jedes Mal einen unnachgiebigen Drang den Billardtisch zu schützen und die Lache aufzuwischen. Wohlwissend, dass er mit diesem Stück Stoff unmöglich die Bierfontänen versiegen lassen konnte, riss er sich sein Hemd vom Körper. Meistens wachte er dann schweißgebadet auf und fand für den Rest der Nacht nicht mehr in den Schlaf zurück. Die Wachzustände verbrachte er damit Majas Bücher zu streicheln und da sie es war, die ihm den Fernseher vor sein Bett gestellt hatte, war er bereit diesem Bildschirm seine gesamte Aufmerksamkeit zu opfern. Eines Tages begann P.I. zu glotzen. Der geschichtsbewusste Kilian Anderson hatte sich nach dem CO2–Emissionsskandal unbemerkt nach Elba abgesetzt, um dort, in erreichbarer Nähe des Europäischen Festlands und im Kreis enger Mitarbeiter, auf den richtigen Moment zu warten das Steuer seiner Unternehmensgruppe wieder an sich zu reißen. Die Anderson Group wurde nach dem Verschwinden von Kilian und Robert einer Treuhandgesellschaft übereignet. Eine Meinungsverschiedenheit im Verwaltungsrat der Treuhänder verhinderte jedoch 90 zunächst die Zerschlagung des Konzern und einzig der als besonders toxisch geltende Reedereibetrieb wurde abgestossen, um Insolvenzmasse aus der Unternehmensgruppe herauszulösen und angefallene Schulden zu tilgen. Arthur Wessely, der Vorsitzende des Verwaltungsrates, hatte soziales Feingefühl bewiesen, als er gegenüber Leberecht Sücher, seinem Vorgesetzten und engsten Vertrautem in der Führungsriege, einen schrittweisen Stellenabbau durchsetzte. Er verteidigte seinen Plan der schleichenden Gesundung unter Verweis auf die Fehler, welche man in der ehemaligen DDR gemacht hatte. Mit den Erfahrungen der historischen Misere konfrontiert, zog Sücher zähneknirschend seinen Shock–Treatment– Entwurf der Massenentlassung zurück, nicht ohne aber im Stillen weiterhin an diesem Szenario festzuhalten. Die Zwei, zwischen die nach eigenen Aussagen eigentlich kein Blatt passen sollte, hatten aufgrund dieser Differenzen plötzlich wieder reichlich Platz zwischen sich und diese Spannung übertrug sich seismographisch nach unten. Somit war auch ein wesentlicher Teil von Wesselys Plan gefährdet, ging es doch in erster Linie darum Vertrauen aufzubauen, 91 um die notwendigen Reformen auf einem gefestigten Fundament durchführen zu können. Bald kursierten erste Gerüchte zur fehlenden Arbeitsplatzsicherheit und befeuerten das Mistrauen der Angestellten. Diese Nachrichten erreichten Kilian auf Elba über ein diskretes Netz von Informanten, die ihre Loyalität zu ihm nicht ausgesetzt hatten. Solche Neuigkeiten kurbelten seinen Geschäftstrieb an, doch es bedurfte schon noch etwas mehr als das Gerücht von Unzufriedenheit unter den Angestellten, um seinem Wahnsinnsplan zum Erfolg zu verhelfen. Kilian musste sich gedulden, seine Zeit würde kommen, da war er sich sicher. Sein Blick senkte sich auf den Staub von Elba, der all das war, was er bald schon nicht mehr sein würde. Nachdem P.I. den Fernseher eingeschaltet hatte, setzte ein neues Zeitmaß ein. Die Tage und Nächte wirkten nun ununterscheidbar, ganze Vormittage vergingen, ohne dass sich der Zeiger seines Weckers auch nur um Millimeter bewegt zu haben schien, während er es an anderen Tagen kaum schaffte auf die Toilette zu gehen, da die Zeit so schnell verflog. Sein 92 Körper hatte sich ganz dem Fließen der Zeit angepasst und so lag er meist hingegossen auf seiner Matratze und durchlebte einen Alltag, der vollkommen vom Fernsehprogramm und gelegentlichen Fieberträumen bestimmt wurde. P.I.s phantastische Gegenwart war durchsetzt von der Fernsehwirklichkeit der Vormittage wo Richter auf Angeklagte, Gerichtsvollzieher auf Schuldner, Polizisten auf Verkehrssünder und Mediatoren auf Choleriker trafen. Er trieb durch die redundanten Konflikte des Nachmittags und da er immer wieder einschlief, den Abspann durchdöste, erfuhr er die Programmabfolge wie eine unendliche Überstruktur gesellschaftlichen Elends. Supernannies hackten auf Patchworkfamilien ein, Patchworkfamilien schimpften auf homosexuelle Beamte, öffentliche Angestellte falteten Sozialhilfeempfänger zusammen und die Richterin verteilte an alle Verwarnungen. Es war überwältigend wie Alles mit Allem zusammen fiel. Die Konflikte gingen in Liebe über, die Liebe endete im Streit, nach der Trennung ging es ins Wüstencamp und am Ende wartete wieder ein Sturm des Begehrens. P.I. sah kochende Celebrities, tanzende Skifahrer, kackende Kleinunternehmer, 93 er sah die Lieblingsmaler der kochenden Prominenten beim Wettmalen, sah Serge Wenzel wie er ein Kamerateam aus seinem Atelier scheuchte, sah Glasauge beim Russisch Roulette, Antworten ohne Fragen und sprechende Köpfe, die in immer neuen Zusammensetzungen aufeinander eindroschen, er sah Nasen, Beine, Münder, Hände, Augen, Ärsche. Fernsehen offenbarte sich als ekstatischer Rausch, als eklektizistisches Monster, welches sich Unmengen von Ichentwürfen einverleibte, um sie in einem größeren Ganzen aufzulösen. Dieses entwendete Erleben weckte in ihm das Begehren sich dem Monster vollkommen hinzugeben, Teil dieser ichvernichtenden Egomaschine zu sein und sich darin zu verlieren. Er wünschte nichts sehnlicher, als dieses Monster zu füttern, dass es auch ihn verspeiste, seine Biografie vertilgte und mit ihr auch gleich noch die ganze private Misere schluckte, die sein Leben zur Hölle gemacht hatte. Für Kilian war das Warten auf Elba immer mehr zur Willensprobe geworden, die Untätigkeit brannte unter seiner Haut. Gegenüber den treuen Mitarbeitern, die 94 ihm auf die Insel gefolgt waren, verhielt er sich zunehmend unberechenbar und tyrannisch. Er intrigierte und demütigte ohne Muster und es fehlte nicht viel und diese eingeschworene Gemeinschaft wäre unter der Last seiner zynischen Launen eingebrochen. Anderson litt am Machtentzug, er fühlte sich impotent und fürchtete seine angeborenen Führungsqualitäten zu verlieren, sollte er noch länger dazu verdammt sein auf das Mittelmeer zu starren. Umso mehr belebten ihn die Nachrichten, welche ihn über einen befreundeten Wirtschaftsanwalt aus Trier erreichten. Dieser berichtete, man habe exklusiven Zugriff auf ein Privatvideo, in welchem ein sichtlich überarbeiteter, möglicherweise betrunkener Leberecht Sücher behauptete von einem Elefanten geschwängert worden zu sein. Die Empfängnis sei eine Sache weniger Minuten gewesen, so Sücher in dem Video, an sich nicht unangenehm, nur habe er seither unter Kurzatmigkeit, Seitenstechen und einer ungewöhnlich gespannten Bauchdecke zu leiden. Sücher knöpfte sogar noch sein Hemd auf und zeigte auf eine Stelle links neben dem Bauchnabel, wo er gelegentliche Bewegungen wahrgenommen habe. Er frage sich, so Sücher, ob 95 die Austragungszeit der eines Menschen oder der eines Elefanten entsprechen würde, denn lange sei so ein Zustand nicht zu ertragen. Nachdem Kilian das Video einige Male hintereinander angeschaut und der Anwalt ihm wiederholt erklärt hatte, dass es keinen Zweifel über die Echtheit des Dokuments gäbe, war er wie ausgewechselt. Das war es worauf er gewartet hatte, Vitalität durchströmte seinen ganzen Körper. Doch er war nicht herzlos, es tat ihm fast ein wenig leid für Sücher, denn er schätzte ihn menschlich und auch die Scheinschwangerschaft erschien ihm keineswegs allzu abwegig, so etwas konnte unter Hochdruckentscheidern wie ihnen durchaus mal vorkommen. Doch als Unternehmer hatte er Verpflichtungen und seine war es nun mal, nicht weiter beobachten zu müssen, wie die Anderson Group unter der Verwaltung der Treuhänder langsam zu Grunde ging. Dafür musste aber zunächst der Vorstandsvorsitzende Sücher weg und der hatte mit dem Video das makellose Beweismaterial für eine aussichtsreiche Unzurechnungsfähigkeitsklage von sich aus geliefert. Kilian Anderson setzte sein Anwälte in Bewegung und begann damit seine Koffer zu packen. 96 Unterdessen war sich Private I seiner Sache ganz sicher, er musste zum Fernsehen. Diese ganze introspektive Kraftarbeit der vergangenen Zeit sollte ein Ende finden; es musste ihm jetzt darum gehen, sich und all seine Erfahrungen irgendwo sinnvoll einzubringen. Die Anleihe, die ein Leben immer auch sein konnte, endlich auch mal einzulösen. Vielleicht hatte sein ausuferndes Selbstmitleid und die Isolation nur den Zweck gehabt diese Erkenntnis zu befördern. Er sah keine andere Möglichkeit, als sich an das Fernsehen zu verschenken. Zunächst versuchte er es bei zwei Nachrichtenredakteuren, die er einmal bei einem Abendessen über Maja kennengelernt hatte. Als die aber nur höfliche Absagen zurückmeldeten, ging er in die Offensive. Er schrieb sämtliche Sendeanstalten an, die ihm einfielen und deren Programm in den letzten Monaten seinen Lebensraum gestaltet hatte. Sein lückenhafter CV erreichte Game–Show–Caster, Fernsehrichter, Drehbuchautoren, Locationscouts, Kameraleute, Ausstatter, Darsteller und unzählige Fernsehredakteure, die allesamt mit den Skills eines mittelalten Privatdetektivs wenig anzufangen wussten. Doch der Lebenslauf 97 verschwand nicht einfach, tauchte hier und da wieder auf, zirkulierte durch die Abteilungen der Sender und wurde immer weiter nach unten gereicht. Gelegentlich bekam er ein unbezahltes Internship angeboten, auch die Gebäudereinigung brauchte Verstärkung, doch es verlangte ihm nach echter Teilhabe, vielleicht sogar nach etwas Sichtbarkeit. Es war nur ein Zufall, dass Jack Weisser eines Morgens mit schnellen Schritten die Projektentwicklung durcheilte und dabei P.I.s Lebenslauf von einem Schreibtisch wehte. Es war einem weiteren Zufall zu verdanken, dass es Weisser in diesem Moment einfiel, die heruntergewehten Zettel auch wieder einzusammeln. Dabei fiel sein Blick auf die Biografie von Private I und Weissers Miene hellte sich auf. Jack Weisser hatte sich mühsam in den Hierarchien des Senders hochgedient und stand vor seinem ersten eigenständigen Projekt als ausführender Produzent. Gerade hatte er erfolgreich ein Treatment durch die Abteilungen gepitcht und es sollte jetzt darum gehen den Stoff für einen Piloten auszuerzählen. Das Buddy System, sein neues Serienformat, erfüllte alle Voraussetzungen ein echter Quotenhit zu werden, 98 das spürte Weisser. Eine Telenovela mit Privatdetektiven und erotisch knisternder Spannung zwischen den Ermittlern, sowas fällt nicht oft vom Himmel, das war Stoff mit Potenzial. Was Weisser jetzt brauchte war ein bisschen Insiderinformation und einige Tage ruhe. Er faltete P.I.s CV mehrmals und steckte ihn in die Innentasche seines Sakkos. Er würde ihn später anrufen. Der Pförtner Jakob Taubstein saß am Empfangstresen der Anderson Trust, als Kilian Anderson mit einer Delegation von Anwälten das Foyer betrat und direkt auf ihn zusteuerte. K.A.: Erinnern Sie sich an mich? J.T.: Ja, Sie haben vor zwei Jahren meinen Hund überfahren. K.A.: Ich fahre nie, das muss mein Bruder gewesen sein. Ich bin KILIAN Anderson, ich bin ihr Chef. J.T.: So, so. Wissen Sie dieser Hund war mein Ein und Alles, ich hielt ihn für eine Mischung aus Labrador und Riesenschnauzer, bis sich irgendwann herausstellte, dass er ein Englischer Setter war. Da war die Enttäuschung natürlich erst mal groß, aber an 99 solchen Sachen wächst man ja und wir waren danach unzertrennlich. K.A.: Hat mein Bruder Sie kompensiert? J.T.: Nein, Sie sagten damals es wäre meine Schuld. Hunde hätten auf dem Firmengelände nichts zu suchen, ich hielt ihre Aussage für plausibel. K.A.: Mein Bruder sagte das? J.T.: Vielleicht, ich erinnere mich nicht mehr so genau. K.A.: Gut, nehmen Sie das und lassen Sie uns rein. Anderson legte einen Schein auf den Tisch, er zwinkerte Taubstein zu, der Pförtner zwinkerte zurück. Er griff nach dem Schein und betätigte den Türöffner. Kilian Anderson war nach Trier zurückgekehrt. V Doch dieser innere, nun auch äußere Weckruf ist noch nicht alles, was ihn dann beschäftigt. Insgeheim schreitet er dann, in dieser Millisekunde des Zerplatzens, die kleine Kapelle ab, die er sich aus seinen Verfehlungen gebaut hat, in der er dreimal 100 täglich, immer in der Mittagspause, die er stets allein verbringt, am ebenfalls äußeren Ende des Korridors der zu den anderen Offices führt, da hinten beim Kopierraum, leise in sich selbst zurückgezogen Gebete spricht, an den Gott, der er selbst ist, da er nicht an fremde Hilfe glaubt, sein Gott–Ich, diese unter nun trägem Fleisch begrabene Ermächtigungsmaschine, dieses an sich selbst erlahmte Ding. Jetzt, nach endlosen Empowerment–Seminaren, die er in den 90ern in La Gomera besucht hatte, als er noch glaubte, dass da etwas sei, das die Kräfte bewegt und das im Inneren des Lebens wirken sollte, jetzt hatte er die Technik der inneren Einkehr endlich verräumlicht und so externalisiert von sich schieben können, dass es ihm gefahrlos erschien, fortan regelmäßig in sich aufzukreuzen. Da ging er dann wieder hin zu sich, wenn die anderen bei Hard Candy schufteten und kniete nieder vor etwas, dass er die Innere Mitte nannte, aber eigentlich ein ganz weit rechts gelegenes Außen war, in dass er sich also hinein– oder hinausgeschlichen hatte, das unentwegt Hate verbreitete, immer nur Hate, Hate, dahin wo der Weltzorn wohnte, der in ihm wie ein Tier bandwurmartig vor sich hin fraß, 101 wovon er aber die Klappe halten musste, damit Kilian ihn nicht verlachte, der ja hier jetzt der Boss war, und was Robert, der ja aus dem gleichen Stall kam und der wiederum aus dem gleichen Holz geschnitzt war wie er, dieser nur wenige Jahre jüngere Benjamin Blümchen wohl gewusst haben mochte, und nun mit sich fortgenommen hatte, unauffindlich verschwunden, vielleicht von Walen oder Robben verschlungen, es trieb ihn schier zur Raserei, denn wenn er noch an das hier, diesen Kinderzirkus so wirklich geglaubt hätte, hätte es ihm einerlei sein können. So hatte Robert, selbst wenn er nun tot sein mochte, Erlich in jedem Fall etwas voraus. 102 VI Die Charaktere ROBERT – Ende 30, trotzdem jugendlich, naiv– freundlich, hört Stimmen, will dass alle anderen auch bescheid wissen, so bescheid wie er SCHREIBER – mid 50s, Hut, Schreibblock, geht der Story buchstäblich auf den Grund FOTOGRAF – 20–30, junger Fotograf, Profi, macht seinen Job KILIAN – Roberts Stiefbruder, älter als Robert. Geschäftsmann, deutsche Erotik, Art Gerhard Schröder, will – auf lange Sicht – die behämmerte Zeitung loswerden, sein Stiefbruder nimmt wider erwarten den Job in der Zeitung an. Kilian hat auch andere Sorgen. Diese drehen sich um die sonstigen Geschäfte der Familie, um Geld und Krabben. DIE SCHWESTERN B.: CORA – Nacktrodlerin, Tochter des Dschungelkönigs usw. 22, sowie ihre kleine Schwester NORA, 18 – deutlich weniger gut aussehend – trägt Brille o.ä., schreibt, unter anderem über ihre große Schwester (das Verhältnis spiegelt Robert und Kilian) 103 MALER – etwa 50, ist Maler und erfolglos, sichtbar Trinker, Problem der Erdbeernase; als Sohn eines bekannten Malers, will Maler jetzt auch mal was mit der ganzen Bedeutung, die da immer schon um ihn herum war, zu tun haben TUXEDO MASK – alterslos, tatsächlich verrückt, mehr noch als Robert FERDI, ISI usw. – gut, zumeist schwarz gekleidete junge Menschen (also teuer, aber auch: Stil kaputte Unterhemden usw.), sie scheinen vor allem deswegen in der Redaktion zu sein, weil sie noch nicht nach Hause gehen konnten, weil die Substanzen sie noch ein bisschen wach halten (Treer ≠ Berlin), von Beruf sind sie Kunstberater oder Inneneinrichter, Schmuckdesigner, Publizisten, Entrepreneur, Privatier, Self–Published–Author 1.Assistent ERLICH – Mitte 50, dünne Beine, runder Bauch, mit kleinen aber feinen Händen, die auch bei leichteren Belastungen anfangen zu zittern. Weil Kilian keine Ahnung von Zeitungen hat, behält er den Redakteur noch ein paar Tage in der Redaktion. Erlich hat keine berufliche Perspektive, er weiß nicht, wie es weiter geht, er hasst Kilian, aber er kann auch 104 nicht im Call Center oder bei Amazon anfangen. Roberts 2. Assistentin JESSICA ALBERN – jung, dagegen ist kräftig, in jeder Hinsicht, ein Veteran überfordernder Kulturarbeitsschlachtfelder, ihr Haar hat verschiedene Farben; sie könnte einen sächs. Akzent haben, ist aber nicht zwingend. Sie arbeitet für Kilian, doch sie missversteht ihren Auftrag und verfolgt so widersprüchliche Strategien: Für Kilian ist die Zeitung eine Art Abschreibungsobjekt, ein hoffnungsloser Fall – Jessica aber ist ein geradezu idiotisches Arbeitstier mit einem Hang zum Masochismus, sie will ihm beweisen, dass die Zeitung laufen kann, irgendwann auch ohne sie und sich so zugleich überflüssig machen. Nach ihrem Gig bei der Zeitung verliert sie ausgebrannt plötzlich stark an Gewicht. Dies führt zu einer etwa zweijährigen Karriere in einer action–geladenen RTL–Eigenproduktion, danach 3. Karriere, die Körperpflegeprodukt–Serie Ehrliche Creme, Ehrliche Bodylotion usw. nicht ohne dabei an ihren ehemaligen Kollegen in der Redaktion denken zu müssen ELAINE, Roberts Ehefrau, Kilians Schwägerin, ist direkt, nicht subtil, Typ Desperate Housewife, die mit der Affäre. 105 SPURENSICHERUNG SEMINARLEITER FUTURE SEARCH COLD OPEN Draussen. Eine Gruppe Zuschauer am Rand eines Flusses, sie schauen auf den Fluss, man sieht eine beleuchtete Insel, auf der Insel schreit und ruft, singt und tanzt jemand, Art Kurt–Cobain–Gesang: Man versteht kein Wort. ROBERT: kommmmm wuiiiii uuuuuu biasssssddd ZOOM IN/Spy Camera Robert (mitte 30) nackt, alt. in Unterhosen, lächelt unsicher, bevor er zur nächsten unverständlichen Zeile ansetzt. ROBERT: wuiiiii iiiiiichhhhh wuiiiiiiiillllll wuiii uuuuuu biassssdddd 106 Ähhhhhrrrinnnääährunnnnnnn Ähhhhhrrrinnnääährunnnnnnn Ähhhhhrrrinnnääährunnnnnnn Vorne im Publikum, jemand hält einen Flyer Lesung von Robert Anderson. Direkt am Fluss steht Schreiber (Mitte 50, mit Fernglas und Presseausweis um den Hals, Zigarette im Mundwinkel, nicht angezündet, Notizblock in der Hand, Hut) und dreht sich zu Fotograf (late 20s, mit Kamera) um. SCHREIBER: Machst du jetzt Bilder davon? FOTOGRAF: Ich versuche es. Aber es ist schwer – ohne hinzusehen. Fängt an zu fotografieren Robert Anderson hat seine Lesung beendet, er atmet schwer und blickt Richtung Publikum, er scheint aber nichts zu sehen, auch hört er keine Reaktionen, er weiß sichtlich nicht wie er mit dieser Situation 107 umgehen soll, zunächst bleibt er stehen, niemand reagiert, alle scheinen wie gelähmt, man hört die Spiegelreflexkamera klicken, es ist still. Um einen eleganten Abgang bemüht, aber auch mit verletztem Stolz (einzig ein Buh–Ruf war zu vernehmen) geht Robert mit festem Gesichtsausdruck ab, d.h. in den Fluss. Gleichzeitig geht das Licht aus. SCHREIBER: (...) FOTOGRAF: (Kopfschütteln) (lacht) Ist das jetzt Leute oder reicht das für die Titelseite? SCHREIBER: Kommt bisschen drauf an, wo er wieder rauskommt... und wer uns bis dahin bezahlt. Schreiber blickt zu Fotograf, tippt sich mit dem Stift an den Hut und folgt Robert in den Fluss. Fotograf bleibt zurück. 108 1. Akt TITLE: Etwa 2 Jahre später Innenraum. Die Redaktionsräume des Rheinischen Landboten: ein großer Raum mit 2 Reihen kleinerer Schreibtische, darauf Bildschirme, an nur wenigen dieser Arbeitsplätze sitzen Mitarbeiter. Sie sitzen abgewandt von einem grossen Konferenztisch im Vordergrund. Auf dem Konferenztisch stehen Kaffeetassen, liegen Papiere, keine Laptops. Der Tisch ist Oval, es sitzen einige jüngere Leute daran, in modernen Bürostühlen, ein hoher Rücken, aus schwarzen, perforierten Synthetikstoffen. Diese Leute sind sichtbar gelangweilt oder übermüdet jeweils mit sich selbst beschäftigt. Im Hintergrund weitere Angestellte, die mit bemerkenswert vielen Dingen in den Händen am Tisch vorbei laufen. Sie arbeiten, oder sie räumen das Büro aus, sie sprechen am Telefon, tragen kleinere Möbel und Kisten, Bilder oder Ausdrucke in der Hand, zuweilen auch im Mund usw. Am Tisch sitzen die Schwestern B. (22 und 18), der Maler Maler (45, sieht älter aus), ein als Tuxedo Mask gekleideter Mann uneinschätzbaren Alters (dank der Maske), 109 sowie einige andere junge und jüngere Menschen, Ferdi, Isi, Konsti usw. alle sehen ein bisschen so aus, als hätten sie mehrere Nächte nicht geschlafen. KILIAN: (Auf etwas das wir nicht gehört haben antwortend, den Gang vom Fahrstuhl entlang bis zum Konferenztisch gehend) Du hattest die Wahl: Bei der Gestaltung unserer Systemgastronomie, bei Happy Crabs einsteigen, als User Experience Architect – oder das hier. ROBERT: Ich dachte die Zeitung passt besser zu mir. (Pause) Aber vielleicht könnte ich auch erstmal was Kleineres machen. Das wäre auch okay für mich, vielleicht ein Fanzine oder nur online... KILIAN: (schüttelt den Kopf) Das ist wie damals als du dich lieber um Trixie und 110 Rambo kümmern wolltest, weil Kaa dir unheimlich war. Und wie ist das ausgegangen? (Kilian lächelt, legt den Arm – snakelike – um Robert.) ROBERT: Ich wusste vorher nicht, dass Trixie und Rambo Kaas Futter sein würden... KILIAN: (leiser) Mach dir keine Sorgen, du kannst hier keine Fehler machen. Wir sind zurück, Robert. ROBERT: Aber ich war noch nie hier... Kilian nickt in eine unbestimmte Richtung, zu allen und zu niemandem zugleich. 2 Leute am Tisch scheinen sich Fotos oder Texte zu schicken, Blicke zueinander und auf ihre Telefone, der Rest starrt etwas leer in die Gegend, Ferdi versucht, sich möglichst diskret zu übergeben, jemand anderes macht Kunst mit dem Fotokopierer. 111 ISI: (zu Kilian) Ferdi macht den Food–Blog. Das ist der erste Review: Das Essen war schlecht. KONSTI: (deutet auf die ältere der Schwestern B) Und sie macht Food Porn. ISI: Ja, es ist traurig. Es geht gleich los mit den Kämpfen um die billigen Plätze. KONSTI: Das ist Überleben im Dschungel. CORA B.: Food Porn hab ich nie gemacht! ISI: Aber damit kennt ihr euch doch aus! Mit dem Dschungelkönig als Vater! (kurze Pause – da hinein) MALER: (hilfreich) Dabei geht es um attraktiv angerichtetes Essen. ROBERT: Hallo, ich bin Robert Anderson, vielleicht kennen sie mich –? CORA B.: Das wusste ich. Robert wiederholt das zu Maler, den Schwestern B. usw, der Reihe nach, bis er sich allen vorgestellt hat, wir blenden aus, was erst wie ein lustiger Quirk wirkt, dauert viel zu lange. Außerdem kennt jeder am Tisch Robert. NORA B.: Müsst ihr gleich so gemein sein? 112 113 KONSTI: Ich fürchte, wir sind Trixie und Rambo. ERLICH: Erlich KILIAN: (lächelt, nickt) (klatscht in die Hände, will noch etwas sagen, ändert dann seine Meinung) (Zu Robert, den er derweil in ein Büro am Ende des großen Raums bugsiert) Fressen oder gefressen werden Robert, aber keine Sorge, ich habe hier ein paar Leute die dir dabei helfen. KILIAN: Genau, Herr Erlich. Also, Erlich, Senior Senior, sozusagen, der kennt sich aus, der wird dich hier unterstützen! ROBERT: Beim gefressen werden? KILIAN: Hier haben wir zum Beispiel Herrn – Kilian winkt einen der vorbei laufenden ehemaligen Mitarbeiter herein. 114 Erlich hört davon deutlich zum ersten Mal – er trägt unter anderem eine Bürolampe. KILIAN: (weiter) Erlich hat auch schon alles dabei für dein Büro! Mitgedacht! Kilian greift die Lampe, Erlich hält sie weiter fest. ERLICH: Diese Lampe steht für das letzte bisschen Stolz, das ich noch habe. Erlich gibt auf. 115 ERLICH: (weiter) Aber gut, nehmen sie die auch noch. Vermutlich haben die auch Lampen im Competence Call Center... Erlich wendet sich zum gehen. Kilian hält Erlich mit der anderen Hand fest, in der rechten noch die Lampe. KILIAN:: Jetzt vergessen sie das mal schnell. Jetzt machen sie uns hier mal das Licht an, und dann sehen wir weiter! (Erlich will ansetzen zu sprechen ...) KILIAN: (unterbrechened) Na! Jetzt aber! Keine Widerrede! (Erlich versucht es noch einmal ...) Wenn da noch Worte rauskommen: Falsch. Kennen sie meinen kleinen Bruder? Ja, genau der. Sie werden ihm hier jetzt mal zur Seite stehen, und das ganze Organisatorische übernehmen... 116 K. macht eine unbestimmte Handbewegung Richtung Konferenztisch. Erlich, Erlich. Das wird jetzt hier. Alles anders. Rhe Lax Magazin, mit Rh. Jetzt machen sie mal. Ich muss noch. Ach ja, Telefon. Na dann los. Gehen sie. Und nehmen sie Robert mit. Kilian klopft auf den Schreibtisch, winkt sie raus. KILIAN: (weiter) (ins Telefon) Am Apparat. ERLICH: Warten sie mal, jetzt wo sie schon meine Lampe und meinen Job haben, hole ich ihnen noch meinen Schreibtischstuhl. Erlich verlässt Robert. 117 CUT Am anderen Ende der Leitung, Innenraum, die Villa Anderson, ein Flur, helle Farben, creme–weiss, lindgrün usw., goldene, aber doch geschmackvolle Bilderrahmen Elaine, rauchend und ein Mann in einem weißen Overall, Art Spurensicherung. ELAINE: (zu Kilian am Telefon) (her normal sarcastic self) Wir haben 5 Putzfrauen. Kann Putzfrau ein Euphemismus sein? Ich habe das nie verstanden, wer hier eigentlich arbeitet. Erst war Geld da und dann keins mehr. Und jetzt ist wieder welches da. Wirklich, als hätte man da gar keinen Einfluss drauf. (Pause) Ich weiss warum es weg war, das war eindeutig Roberts Schuld. Alle haben hier zusammengearbeitet. Jeder hat da etwas beizutragen. Darum geht es doch, im Familienunternehmen. Sein Job war, sich rauszuhalten. Und dann macht er trotzdem was, und alles geht den buchstäblich den Bach runter! 118 (Pause) Ich suche ja. Irgendeinen Hinweis auf diesen Ausflugsdampfer, schon klar. (Pause) Was Robert angefasst hat? Es ist sein Haus, Kilian! Ich kann dir sagen was er nicht angefasst hat. Wenn du verstehst was ich meine – (wie zu sich selbst) Wenn ich Robert wäre und ein Geheimnis hätte... (Pause, dann lauter) würde ich einen Song darüber schreiben! Das ist es, Kilian! Er hat absolut keine Geheimnisse. Robert ist durchschaubar wie... SPURENSICHERUNG: Plexiglas? ELAINE: (irritiert) Wie in dieser Röhre, in die sie ihn damals gesteckt haben. Wie... diese Fotos von seinem Kopf mit diesem Hirnspin– 119 SPURENSICHERUNG: Kernspintomographen? ELAINE: (...) Ahhhhh– KILIAN: (VO) Gutes Beispiel. Sag bescheid, wenn du etwas findest. ELAINE: (weiter, K. ignorierend) Alles was da ist, kann man sehen. Und was nicht da ist. Wie dieser bescheuerte Schlüssel oder die Visitenkarte, oder was es ist, das ich hier suche Kilian legt auf. Das Telefon klingelt sofort wieder. KILIAN: Ja, Open sea unlimited Ja, geben sie mir die Zahlen. (Pause) 120 (dann in rascher Folge, als würde er einzelne Aussagen beantworten, wir verlassen ihn währenddessen langsam und kehren an den nahen Konferenztisch zurück) Unsinn. Quatsch. Das muss ich mir selber ansehen. Ach. Da muss man eben genau sein. (Pause) Erlich kommt zurück, Büro–Supplies sichtbar in allen möglichen Taschen. ROBERT: (zu Erlich) Er ist eben Perfektionist ERLICH: Ja, eben. Die Tür geht auf, Jessica, jung, bunte Haare, sehr patent, sehr rasch, kommt rein. 121 JESSICA: Hi! Mit einem Schwung hat sie Kaffeetassen verteilt, die Sitzordnung geändert, dem Maler Aspirin gegeben, und alles was an Müll auf dem Tisch lag, aus dem Fenster geworfen, sie streckt Robert die Hand entgegen. Sie nickt zu Kilian, der an der offenen Büro Tür steht. Kilian, noch immer am Telefon, wirft einen vielsagenden Blick auf die Uhr und schließt die Tür. JESSICA: (deutet auf Erlich) Was machen Sie denn noch hier? Erlich, das hier wird das ganz neue Rhelax Magazin. ERLICH: Mit Rh, hab schon gehört. Das klingt nach nichts, bei dem ich ihnen helfen könnte. Ich bin eher der nervöse Typ und gehe heute Abend nach Hause, ohne Stolz und ohne Lampe. 122 JESSICA: Alles was wir brauchen ist erstmal ein freier Tisch und dann einen freien Kopf. Machen wir hier draus mal eine gute Gesprächssituation. Erlich geht zum Tisch, drückt Ferdi, der sich übergeben hat, seine Plastiktüte in die Hand und wispert ihm etwas zu, der junge Mann erhebt sich und geht. ERLICH: Voila. CUT Zum Haus der Andersons. Elaine, wo wir sie verlassen haben, betritt mit der Spurensicherung das Dachgeschoss. ELAINE: Wir sollten ihn einfach fragen, wo er war. Ob er überhaupt noch was weiss. Kilian könnte die behämmerte Zeitung gleich dichtmachen. Und ich könnte zurückkehren zum ... 123 Während des Durchsuchens von Kisten, und Koffern auf dem Dachboden. ELAINE: (weiter) zum ... Verschwenden meiner Zeit. Wissen sie eigentlich, dass ich studiert habe? Ich hab es nie abgeschlossen, aber ich war kurz vor dem Diplom, Ich habe sogar mal einen Design–Preis gekriegt für meine Schmuckkollektion. Das waren Sektgläser, aber aus Porzellan die wurden dann zerschlagen und dann hatte man das zerbrochene Porzellan an einer Kette. Das sah so alleine ziemlich hübsch aus. dass man eben nicht benutzen kann. Das war ja der Witz. Hat nur keiner verstanden, von diesen Trotteln auf der Akademie. CUT Auf dem Dachboden. ELAINE: (weiter) Ich weiss nicht was ich hier mache. Nach allem was passiert ist, vielleicht wollen wir gar nicht wissen, was er getan hat – und was er davon noch weiss. Aber nicht sagt. CUT Eine Modenschau, Backstage. Sie hält ein paar ihrer weißen Ketten mit roten Flecken in der Hand. CUT Die Redaktionsräume. Jessica steht hinter Robert und spricht über eine Schulter, Erlich auf der anderen Seite, sie sind Engel/Teufel bzw. besser Manie und Depression, bzw. self–employed und gefeuert. ELAINE: (weiter, VO) Aber nicht sehr praktisch, die Modelle haben sich ständig geschnitten. Aber darum ging es ja: Design, JESSICA: Den ersten Tag liebe ich immer am meisten! Wenn man gar nicht weiter weiß vor lauter Arbeit! 124 125 ERLICH: Ich wäre jetzt wirklich froh, wenn es doch mein letzter Tag wäre. JESSICA: (zu Robert) Kurz zu mir: Mein Job ist eigentlich immer, mich, also meinen Job, überflüssig zu machen. (lacht) Und dieses mal mache ich ihren gleich mit überflüssig! ERLICH: Wenn das so ist, sind Sie schon fertig mit ihrem Job. Rekordzeit. Gratuliere. Von den Leuten, die hier sitzen, braucht man wirklich niemanden für eine Zeitung. JESSICA: Ich bin sicher, dass ihnen das hier viel bedeutet hat, Erlich. Das hört man und das muss ich respektieren, so viel Identifikation mit seiner Arbeit. (zu Robert) 126 Ich weiss nicht was sie hier sehen, aber ich sehe unser Startkapital. Lassen sie es für sich arbeiten, (Pause, schaut noch einmal in die Runde) Haben sie sich je gefragt, wer ein Freund, eine Quelle, ein Nahstehender ist, wenn sie Nachrichten aus der besseren Gesellschaft lesen? Es sind diese Leute! (stage whisper, immer halb laut, man sieht den anderen an, dass sie jedes Wort verstehen) JESSICA: (weiter) Das zum Beispiel ist Cora B. Erinnern sie sich an die Tochter des Dschungel Königs? ERLICH: (normale Lautstärke) Ich verstehe, wenn nicht. Man hat jetzt schon länger nichts von ihr gehört, der letzte Pressetermin wäre im Dezember Nacktrodeln im Treer Valley gewesen, aber der Winter war bis jetzt eher mild, also fiel das aus. 127 ERLICH: (weiter) (zu Robert, die Gruppe unfreiwillig motivierend) Alles was diese Leute haben ist ihre große Klappe und ihre Mobilfunkgeräte. Die tauschen die ganze Zeit irgendwelche Gerüchte aus, da ist nichts verifiziert, die wissen gar nicht wie das geht, die kennen nur die richtigen Leute und alles wird immer gleich brühwarm ge–shared und ge–liked und kommentiert – bis sich auch die richtigen Zeitungen darum kümmern müssen. Und dann wird das auf einmal relevant, nur weil sich jetzt angeblich die richtigen Leute dafür interessieren. CUT In der Villa. Sie durchsucht jetzt alle Räume mit der Spurensicherung, die stumm neben ihr her geht; sie geht dramatisch, nicht systematisch vor. Mit jedem Raum ändert sie ihren Tonfall, die Räume sind Facetten ihrer Beziehung zu Robert. Sie geht in die Küche, sucht in einigen Schränken. 128 ELAINE: (vorwurfsvoll) Das zweite Koma war ja gar keins. Das wollten wir erst so nennen. Aber dann haben ihn die Nachbarn im Haus rumrennen sehen. Und ich hatte schon so viel Arbeit investiert. Weil ich dachte, da wäre vielleicht noch was zu machen. Eigentlich denke ich das ja immer noch... Hätte ich besser auf ihn aufpassen können? Ich denke nicht. E. geht aus der Küche ins Bad, durchsucht Handtücher, den Medizinschrank. ELAINE: (weiter, streng) Es wäre besser für ihn, wenn ich immer wüsste was er tut. Wenn ich ihn kontrollieren könnte, rund um die Uhr... E. verlässt das Bad, lässt sich aufs Bett im Schlafzimmer fallen. 129 ELAINE: (erschöpft) Unsere Ehe ist seit Jahren vorbei. Ich kann gar nichts schlimmer machen... E. steht wieder auf, geht wieder die Treppe runter, ins Wohnzimmer. ELAINE: (gefasst, strategisch) Die Nachbarn würden aufhören darüber zu reden, wenn wir ihnen ein anderes Thema geben würden. Oder in die Karibik fliegen. Und er bleibt dort. CUT Büroraum der Redaktion. Kilian, noch immer am Telefon, sieht beunruhigt, dass am Konferenztisch die Arbeit aufgenommen wird. KILIAN: Wer braucht eine Pause? (zu jemandem, der einen Computer rausträgt) Sagen sie, wollen sie uns nicht mal was zu essen 130 holen? Nein? Na dann eben sie– (deutet auf einen der Texter, Isi oder Konsti) Sie gehen. Wohin denn? (unverständliche Antwort) Das ist nicht gut. Der nebenan ist besser. Konsti/Isi ab. Kilian blickt zu Robert, lächelt milde. CUT Draussen, ein Fluss in der Dunkelheit. Roberts Rettung/Kilian – der Perfektionist. Robert sitzt in eine Decke gehüllt auf einem Stein, er ist sehr dreckig, Kilian, über R. gebeugt, streicht Robert eine schlammige Haarsträhne aus dem Gesicht, Robert droht das Gleichgewicht zu verlieren, weil er versucht der Behandlung seines Kopfes auszuweichen, Kilian greift seine Schultern, in genau dem Moment macht Fotograf ein Foto, man sieht Kilian Robert quasi aus dem Fluss heben. Auf das Blitzlicht 131 reagierend, dreht Kilian sich um und lächelt Fotograf zu, lässt Robert los. Fotograf nickt. Robert fällt. Er würde lieber seinen Job verlieren, als den Gay– Pride–Bus zu fahren (BREAK) Welcher Superheld bist du, basierend auf deinem Sternzeichen – 2. Akt Die Redaktionsräume. Aufgeregte Gesichter – einander zugewandt, Robert lächelt Jessica an: Es hat geklappt! Alle sitzen am Tisch, es werden Geschichten und Überschriften vorgeschlagen, Storys gepitched. So, wie man sich vielleicht manchmal Spiegel online Panorama vorstellt, alles buzzfeed, Gawker usw.– Konsti und Isi lesen von ihren Telefonen ab, der Rest redet von seinen Eltern. CORA B: Wow, ich bin Wonder Women! DIE REDAKTION: (einander unterbrechend, zum Teil gleichzeitig) TUXEDO MASK: Ich bin Tuxedo Mask, ich habe kein Sternzeichen! ALLE: Hochzeit mit Hindernissen. MALER: Das war meine Mutter. Ihr zweiter Mann. ALLE: Vermeintliches Mordopfer plante Verschwinden minutiös. 30 Suppen–Rezepte you need in your life Die besten Looks aus Treer 132 MALER: Das war auch meine Mutter. 133 ALLE: Maler über Alkoholfahrt: Ich habe einen Riesenfehler gemacht. Sieben Jahre Haft für Maler? MALER: Das war ich nicht! ALLE: Ich kann nicht zurücktreten. Meine Rolle ist alles was ich habe. Aufregung in Treer: Wer defäkierte auf die Stufen des Doms? Die Überwachungskameras zeigen eine Person in einem hellen Mantel. Ein Anschlag oder nur – TUXEDO MASK: Shitstorm. (lacht) ALLE: 7 Zeichen dafür dass sie es mit einem emotionalen Vampir zu tun haben 134 10 Zeichen die ihnen klar machen: Er nutzt sie nur aus 15 Anzeichen für ein gefühlloses Arschloch 15 Zeichen für einen leichten Alkoholismus Der Massenrausch war ein Therapie–Trip Es wird immer lauter, dann ausblenden Im Vordergrund: JESSICA: (zu Erlich) Das ist fast so wie damals als wir von Hand die Skyline von Treer in Orginialgröße, für das Bühnenbild von Katrin Krach gehäkelt haben. Das war auch erst unmöglich und dann – ERLICH: war es sinnlos, degradierend und hat ihr Selbstwertgefühl dauerhaft beschädigt? CUT In der Villa werden die Gefühle stärker... Elaine geht in die Garage, sie erschreckt sich vor 135 dem Hund des Nachbarn und beginnt zu fauchen wie eine Katze, der Spurensicherer will ihr helfen, sie kratzt ihn zum Dank. Der Spurensicherer rettet sich zurück ins Haus. Im Garten jagt E. etwas in die Hecken, im Eingangsbereich singt sie ein Lied. ELAINE: (Melodie She works hard for the money) Sie muss ganz schön suchen für das Geld, ganz schön suchen für das Geld CUT Die Redaktion. Das Gespräch wird wieder etwas organisierter, ruhiger, alle hören jetzt Nora, der kleinen Schwester B. zu, sie will ihre Geschichte zu Ende bringen. Erlich hat den Kopf auf dem Tisch abgelegt. NORA B.: Jedenfalls wurden dann diese Sonnenleuchten von dem Licht–Künstler, von der an sich sympathischen 136 Witwe von dem anderen Künstler als Synergie– Effekt sozusagen ins Operndorf geschickt. Das Operndorf meinte dazu: Sonne ist das einzige, was wir wirklich genug haben. Da funktioniert die Straßenbeleuchtung seit Jahren über Solarenergie. Ich dachte, das wäre doch eine gute Geschichte. Erlich schöpft das erste mal Mut, blickt auf. JESSICA: Wow, ich mag total wie du das erzählst und was du alles weißt, mag ich auch. Das einzige Problem ist, Nora, diese Leute kennt wirklich niemand, tut mir leid. Aber sonst wirklich eine super Geschichte – CORA B.: Sie kennt ja auch niemanden, noch nicht mal ihre Eltern sind wirklich berühmt. Was ich weiß, weil das auch meine Eltern sind. Sie ist überhaupt nur wegen mir hier. Und kennt keine Sau. JESSICA: (erklärend zu Robert) 137 Das stimmt, das haben sie vielleicht verpasst in den Jahren ihrer … Genesung. Noras erster Roman, Birthright –Die Dschungel–Prinzessin von Treer (alt: Candy, Blood, Sex and more Candy – zwinkerndes Smileyface) beruht wohl vor allem auf den Tagebüchern ihrer Schwester. Was vielleicht gut ist, immerhin ist die wenigstens ein bisschen älter. ERLICH: Band 2, Bound By Blood – Prinzessin der Wölfe wurde dann zur paranormal romance novel: 2 Werwölfe, eine Frau, und in Band 3 Blood Rites – Plötzlich selber Wolf versucht sie dann noch diesen Trend aufzuholen, den sie vielleicht verpasst hat. Da geht es um das Werwolf–Mädchen, das verfolgt wird und sich und seine Familie retten muss in einem Staat, in dem alle nach Haarfarben getrennt leben müssen, was für sie natürlich zum Problem wird. JESSICA: Erlich, ich wusste gar nicht, dass sie sich so für Teenager interessieren. (zwinkert) 138 ERLICH: Bitte? ROBERT: Werwölfe stehen nur für die Angst vor Veränderung. CUT Innenraum, Turnhalle als Seminarraum. Future Search Seminar: Robert lernt das Leiten von Workshops/Gruppen, mittel–alte Menschen in legerer Business–Kleidung, die Jacketts hängen über Stuhllehnen, bunte Zettel an diversen Pinnwänden, auf denen so etwas steht wie Wünsche (Mehr Spaß, Mehr Erfolg, Mehr Teilnehmer) und Ziele (Bis 2017 mit Future Search den Markt beherrschen, Auch mal nichts tun), Robert steht vorne vor den Pinnwänden, die anderen Seminarteilnehmer hören zu. ROBERT: Ich hatte eine Krise. Aber man weiß nie, was als nächstes kommt. (Applaus) 139 CUT Etwas später im selben Seminarraum. Alle sitzen im Stuhlkreis und haben Art Gebetsfahnen an den Armen, im Hintergrund schlägt eine Trommel, es gibt jede Menge Workshop–Material, bunte Blätter und Zettel, Robert schreibt mit einem grünem Stift auf grünes Papier, er versucht an einen anderen Stift oder an ein anderes Papier zu kommen, tauscht mit den Nachbarn, tauscht 1x zu oft, er endet mit blau auf blau. Der Seminarleiter liest vor, die Gruppe schreibt mit. SEMINARLEITER: Be prepared to be surprised TEILNEHMER: (überraschte Gesichtsausdrücke, ahh, ohhh, whooo) SEMINARLEITER: When it is (not) over, it is (not) over Jeder Mensch, der einem begegnet, ist der Richtige. (Alle lächeln sich gegenseitig an) 140 SEMINARLEITER: Und wenn wir richtig hinhören, können wir ihn auch verstehen. Robert nickt und notiert alles, kann es nicht lesen. CUT Die Redaktionsräume, alle genau wie zuletzt. ERLICH: Das ist mein Job, zu wissen was grad los ist, auch in der jungen Literatur. Und dann liefere ich ein paar Hintergründe dazu. Das ist auch mein Job, ein bisschen Recherche, Kontext, wissen, wo Leute herkommen! Und ihre Probleme– JESSICA: Erlich, es gibt nur 2 Arten sich mit etwas zu beschäftigen, entweder: Ich versteh zwar nicht alles, aber es interessiert mich. Oder: Ich verstehe alles, aber es interessiert mich nicht. Was denken sie, was wir hier wollen? Ich sag‘s ihnen: Wir wollen dieses Selbstverständnis! Wir wollen die, die es eh schon verstanden haben! 141 Die waren von Anfang an dabei. Das ist ein unschätzbarer Vorteil! MONTAGE Kinder, die sich bei einer Ausstellungseröffnung am Boden herumwinden und Ich will nach Hause rufen. Der Vater, der den Sohn die Autogrammkarten tragen lässt. Das Kind, das versucht die Mutter vom Pferd zu ziehen, mit dem diese durch die Stadt reitet. Die normale Type, ihre größten persönlichen Leistungen sind ihre Abiturfeier und eine Bronzemedaille im Schwimmen: ein Siegerarm reckt sich aus dem Becken, die Mutter sitzt auch im Schwimmbad mit Sonnenbrille. Der Maler, nicht als Kind sondern ausgewachsen, in einer Galerie, vielleicht in einem Atelier, Malereien streichelnd und umarmend. 142 CUT Die Redaktion. MALER: (weitersprechend) Und gerade weil ich diese Verbindung fühle, arbeite ich auch an der nicht–autorisierten Biografie meines Vaters – ich kann das alles wie aus erste Hand erzählen, ich bin wie er. Und ich wollte noch sagen, dass das was Sie hier machen Robert, also das ist eine ganz wichtige Arbeit – gut dass Sie jetzt hier sind, das muss auch mal jemand sagen, dass das jetzt eine gute Sache ist, dass Sie da sind. ROBERT: (nickt, lächelt) Genau wie du, Maler! ROBERT: (zu Erlich) Hol bunte Blätter! (BREAK) 143 3. Akt In der Villa Anderson. Elaine rennt nun ziellos durch das Haus, sie sucht nicht mehr wirklich, sie hat Gras in der Hochsteckfrisur, Spurensicherung steht mit dem Telefon in der Hand im Flur, tippt panisch. ELAINE: Wo war ich? Ich finde das, ich finde alles. Alles wird gefunden! Elaine sieht zur Tür der Kellertreppe. ELAINE: Ahhh –––– Spurensicherung, am Telefon, drückt es an ihr Ohr. KILIAN: (VO) (im Krisenmodus, gefasst, aber bestimmt) Elaine, hör zu, Elaine? Elaine GEH BITTE NICHT IN DEN KELLER 144 Elaine auf der Kellertreppe CUT Die Villa. Man hört Elaine die Treppe hinuntergehen, immer leiser durch Störgeräusche bis das Gespräch abbricht.. ELAINE: (VO) Gib gib gib meins meins meins CUT Die Redaktion. Alle haben jetzt die bunte Zettel in den Händen. ROBERT: Alle die hier sind, sind die Richtigen! Das habe ich jetzt verstanden. Wir können gar nichts falsch machen! Wir müssen einfach wir selbst sein. Das reicht vollkommen! TUXEDO MASK: (leise, traurig) Ich bin Tuxedo Mask. 145 Niemand darf mich erkennen... ROBERT: (weiter) Wenn es um die Zeitung geht, geht es um euch, nicht mehr um eure Eltern! Jetzt seid Ihr gefragt! Alle nicken begeistert, und beginnen, bunte Zettel vollzuschreiben. Tuxedo Mask steht traurig auf: Er kann nicht er selbst sein. Geht zur Tür. TUXEDO MASK Ich kann niemandem mein wahres Ich zeigen. /alt.: Ich kann nicht einfach ich selbst sein. Aus diesem Tuxedo komme ich nicht mehr raus! Kilian eilt aus dem Büro, rempelt den Typen an, der das Essen bringen sollte, rennt weiter. Das Essen fällt auf Tuxedo Mask: Flecken auf dem Tuxedo. Cliffhanger: Kann Tuxedo Mask etwas anderes tragen als einen Tuxedo? Man sieht ihn stehen bleiben und um eine 146 Entscheidung ringen. Fade to Black Ende VII Lehrling ist wer was begann, Geselle ist wer etwas kann, Meister dann, wer was ersann! Aus dem Mittelalter In diesen Tagen, Mitte der zehner Jahre, als dieses Ungetüm, das sich über ein Geschoss eines Barock– oder vielleicht sogar Renaissancepalais an der Peripherie der Altstadt erstreckte, im Übergang zu dem, was einmal Nobelvorort hieß, aber nun zu einer gutbürgerlichen Lage herunterbenannt war, gelegen, noch Publishing House war, weil es besser klang, und ganz auf Ebooks und Action Literature setzte. 147 Als überall Verknotungen im Web sich den Readern öffneten, und Nischenverlage von immer größeren Konsortien geschluckt worden waren, die auch Tiernahrung oder Stahlwerke und neuerschlossene Kohleflöze verwalteten, denn es war eine allesumfassende Energiewende im Gange, die vor allem vampirmässig Körperenergie zu betreffen schien, und dabei unentwegt Warmes in Kaltes zu verwandeln schien, war eben auch dieses Relikt geschluckt worden. Die Zombiezeit begann. Langsam zu einem Sammelbecken der Caviar Gauche verkommen, waren hier nur Söhne und Töchter verblieben. Sie flohen, soweit man von einer tatsächlichen Bewegung sprechen konnte, vor den Angeboten der Konkurrenz aus Projektentwicklern von Startups, die sich hier angesiedelt hatten, weil das Wasser von guter Qualität und die Mieten halb so billig wie in California waren, und weil man so, ohne wirklich etwas zu tun, Flagge zeigen und protestieren konnte gegen das Establishment, von dem niemand mehr wusste, was das einmal gewesen, als was es gedacht worden war. Und sie flohen auch aus den Fängen des Real Estates, dessen neue Losungen sich anschickten, gegen 148 die aufgeblasenen sich schneeballmathematisch dahinwälzenden Finanzmodelle einer Scheinökonomie endlich gute und wahre Werte mit dem Sprachglanz alter Tage zu bestreichen, und einen neuen, weil sauberen, reinen Materialismus auf dem Fundament der Worte zu errichten, wogegen so recht nichts einzuwenden war außer dem berechtigten Vorwurf allzu emphatischer Anteilnahme an allzu äußerlicher Ökonomie, der sich aber auch aus einem Mangel an Antrieb, der die Verlagsadepten erfasst hatte, und sie zu Bloggern im Dienste der egalitären, immer gleichen Biografien gemacht hatte, speiste. Biografien, die in einer kaum noch nachzuvollziehenden Endlosschleife sich rotierend perpetuierten, und bei denen sich nichts änderte außer die Namen der Protagonisten, und die, ohne dabei sarkastisch zu lächeln, in Wirklichkeit ihre Eigenen geworden waren. Morgens erschienen sie noch betrunken vom Vorabend missmutig in der Enfillade der Verlagsräume, die sich so im Ring zum Open Office formten, einer Architektur, deren Sinn ihnen noch niemals wirklich eingeleuchtet hatte, aber die ein gutes Schlachtfeld für den gemeinsamen morgendlichen Kampf mit dem kaum 149 noch vorhandenen Kater bot, und dem sie auch, mit im Vorzimmer aufgestellten Schüsseln voller Aspirin bewaffnet, begegneten. Draußen lärmten dann bisweilen noch immer die Touristen aus der Altstadt, die in der Nacht zuvor hinaus in die etwas billigeren Spätshops gezogen waren, wo sie sich dann bis in die Morgenstunden zu Junggesellenabschiedsritualen zusammenwarfen, und stifteten wiederum mit immer gleicher, bacchantischer Verve neue Verbindungen zu Junggesellinnen; irgendwo in Polen war ein Zug mit Nazigold gefunden worden. Heute, hier, jetzt stand Birte Coppius am Fenster, an einen der schweren Klappläden gelehnt, und schien abwesend. Philipp näherte sich ihr, langsam an sie heranpirschend, auch um sie zu erschrecken, wie sie so gedankenversunken dastand, und sie ihm überhaupt wenig Spaß machte. Er packte sie von hinten, mit den Armen unter ihre Achseln schnellend sie ergreifend, und warf sie ruckartig herum, wobei diese einen spitzen Schrei ausstieß und sich mehr im Scherz als im Ernst entwindend ein laut hörbares – 150 – Philipp du Sau! entgleiten liess, dem er nur ein hingeächztes Superlativ, etwa – Du bist die Allerperverseste von uns dreckigen Büroschnallen! oder dergleichen erwidern hätte können, aber dann doch nichts sagte, und sie daraufhin, als wäre nichts gewesen – und es war ja auch nichts, Birtes lose Gedanken waren verflogen – schnell mit gespielt autoritärem Klang in der Stimme zu einem Ratespiel ermunterte, wie sie es oft spielten, wenn die Vormittage gar zu lang wurden, etwa Vogelnamen mit S, oder einer musste eine Musikerin sagen und der andere deren Trauma erraten, wahlweise auch die Todesart. Das floss dann zugleich auch in die neue Ausgabe in Form einer coolen Liste ein, und so erspielten sie sich, mit einigen Schminktips oder horoskopartigen Ratschlägen, alles mit Humor durchwebt, sowie kleinen Reportagen von versteckten Paradiesen spielerisch das Heft, ganz so, wie sie es in den langen Urlauben im Hinterland getan hatten, unter öder Verwandschaft leidend oder um die Wartezeit für ein italienisches Eis zu überbrücken, dass die Eltern hatten kaufen müssen, oder in den Autofahrten zurück von den Reiterhöfen in der Peripherie nach Hause. 151 Sie waren nie wirklich zynisch, denn dazu hätten sie enttäuscht oder verbittert sein müssen, und da sie nie etwas erstrebt oder erlangt hatten, konnte kein Verlust oder Entmutigung den Gleichklang der von Ironie durchwehten Verlagstage misstönig stören. Durch die Buntglasscheiben, in denen man je nur ein kleines Vieleck öffnen konnte, drang die Außenwelt in facettierten Kaleidoskopdrehungen ins Innere ihrer Arbeitswelt, wurde sanft hineingespült, und ließen dabei einen kleinen Wind spüren, wenn man ans Fenster trat, um das eingefärbte Treiben des Platzes zu beobachten. Sich vollständig um die zwei große Innenhöfe dieses riesigen Baus erstreckend, in einer Anordnung, die einem runden Ring mit verschiedenen inneren Kreisbahnen glich, aber dem tatsächlich ein rechteckiger Grundriss zugrunde lag, war alles schwer und alt. Es wog das von kirschholzvertäfelten Wänden eingekeilte Interieur des Verlags durch die Tiefe der Räume noch umso schwerer, und die von kleinen Tolomeoleuchten nur spärlich erhellten, im einstigen Herrenrauch ihrer Vorfahren tiefrot eingefärbten Gipsdecken 152 drückten, schwer bestuckt, von oben herab auf das darunterliegende Verlagswesen. Diese waren über und über mit Puttoköpfen beklebt, welche aus einer undefinierbaren, nur vage geometrisch zu nennenden floralen Masse herausstaken, und darin wie die, still Päderastie verströmende, Kinderversion der Laokoongruppe, ja einer missglückten Copy–Paste Aktion anheimgefallen und ineinanderkopiert erschienen, und deren tödliches Missgeschick im neuen Energiesparlicht der Jahrtausendwende umso Bedauerlicher wirkte. Auch im Springerverlag sollte es solche Räume geben, noch von der London Times, doch fehlte denen vermutlich jenes Bizarre, das den opulenten Rahmen für das stellte, was sie hier ihr Live– Roleplay nannten. Überall an den Wänden hatten, wie aus fernen, unlesbaren Vorzeiten einmal, welche vor ihnen Spuren verbreitet, und sie hatten alles unberührt fortleben lassen, und nur dann, wenn es pragmatische Entscheidungen verlangten, in die höhligen Ruinen vergangener Nützlichkeiten eingegriffen. An den Wänden hingen noch vereinzelt vergilbte Land– und Grußkarten, Ausschnitte längst eingestellter 153 Gazetten, die frühe Automobile zeigten, und diverse Mahnungen in Form von Stichen, die etwa einen riesenhaften Greis im wallenden Gewand, umringt von nackten Jünglingen zeigte, die einen langen Spieß einem flackernden Feuer entgegen zu schleppen schienen, und dem ein kleiner Sinnspruch beigefügt war, etwa Die Zeit ist der tödliche Ratgeber der Jugend. Oder heiter stilisierte Jagdgrotesken, in denen eine Rotte wilder Schweine sich in einen Jagdhund verbiss, was wohl ein antiker Spaß auf die Unvorhersehbarkeit der Welt sein mochte, aber ebenso rätselhaft blieb, wie so Vieles, das die Mitarbeiter, Familienmitglieder, und manchmal gar Mitbewohner dieses dunklen Hauses umfing. Denn es war so Manches hier oft nur Andeutung, und nichts schien wirklich ernst, denn in den Hallen des Verlages, in denen es noch Räume gab, die keiner von ihnen je betreten hatte, atmete noch immer ein leichter Sommerhauch von Lavendel aus allen Ecken dieses seltsamen Mausoleums, ein Wort, das sie liebten, denn es erinnerte sie an Äsops Fabeln. Alles war wie in einem Internat, doch ohne Lehrer; wirklicher noch, aber von ähnlichem Geheimnis durchweht. 154 Es gab keine Privatheiten vor den Anderen, und zwischen Maxi, Sisi und Bibi, Ferdl oder Isa, wie sie sich noch immer wie in Jugendtagen nannten, denen alles ein Spiel war, außer dem Spiel selbst, eine tiefe Verbundeneit. Das war ihnen einzig heilig ernst, dieses Spiel, in welchem sie fortwährend einander aufzogen, nachts wie verängstigte Kinder durch die Zimmer huschten, haschten, und sich aneinander drängten, kuschelten, wenn es regnete, und die kleinen Wasserperlen im nun müderen Farbspiel der Bewölkung die Fenster hinunterliefen. Kurz, sie waren Einander und Allem vertraut. Wie schon ihre Großeltern an den Badeorten der Riviera sich begegnet waren, heiter ausgelassen geplanscht hatten an den mit Kabinen übersähten Steinstränden, inmitten eines großen Geheimnisses, das noch immer keine Auflösung, aber die Ahnung eines Mitwissens verbreitete, waren sie in jeder Hinsicht Verwandte und Bekannte zugleich, und kannten sie wohl auch Zänke und Eifersüchteleien, so vertrugen sie sich alsbald wieder, denn in den alten Hallen des Verlags erschien das oft gar klein und unwichtig. Wenn sie abends um die wenigen verbliebenen Kaminattrappen, die einstmals, um den Räumen halt zu 155 geben, in die Türstöcke eingebracht worden waren, sich versammelten, und sich Räubergeschichten erzählten oder einfach den gelesenen Tratsch der anderen Klatschblogs einander vorsagten, verstrichen die Stunden im frohen Gleichklang der alten Chronometer und Pendeluhrkästen rings umher, deren Pendel schon lange keinerlei Dienst mehr taten, und wussten sich an der richtigen Stelle. Und manchmal gingen sie dann nicht einmal mehr nach Hause, sondern ließen sich in die schweren Chesterfieldmöbel hinabsinken, berauscht von seltenem Mezcal oder auch einem Port, kleinen Mitbringseln, die sie aus wundervoll prismatisch geschliffenen Gläsern, wenn auch nicht eben passend, aber vor allem der kleinen Überschreitungen wegen heimlich verlockend, tranken, in den Nebel der Dämmerung hinein, der sie auch im Inneren der Verlagssäle mit langsamem Schwarzblau, im feuerlosen Kaminzimmer zu umfangen schien. Manchmal erschienen ihnen dann aber auch Gespenster an den Zimmerecken, formten sich aus achtlos fortgeworfenen und selbst sorgsam drapierten Kleidungsstücken an Stuhlkanten und Kleiderhaken, Monstren aus sich abzeichnenden Umrissen 156 erlangten ein Leben, grauenerregende Kreaturen, die dann den vielleicht zu früh in den Morgenstunden erwachten Schläfern im Dämmerzustand aus Wachen und Traum jede Bewegung zu versagen schienen, denn ein Ruck, ein zu tiefer Atemzug, auch das zu schnell über die Augen geworfene Wollplaid konnte die Untiere, einen Oger vielleicht gar, zum Leben erwecken, die, obzwar noch keinen von Ihnen je erreicht und hinabgezogen, aber dadurch in ihrer starren Position umso bedrohlicher wirkten, und das grässliche Potential eines plötzlichen Angriffs ins Unermessliche zu steigern schienen. Dann war ihnen alles Gesicht, unfähig sich zu rühren, belebten sich die Gegenstände, das Kirschholz ächzte und wie glühende, atmende Augen schienen die kleinen Lichter der Computer auf den Tischen rings umher die Schläfer zu fixieren, und in ihrer Einsamkeit, unfähig, die Situation zu erhellen, sehnten sie sich noch tiefer in die vertraute Umgebung des bunten Tags zurück, während die Minuten in Regungslosigkeit sich entsetzlich zu dehnen begannen. Nur der Gedanke an die Arbeit der Redaktion half ihnen, sich Zurückzubesinnen auf die Arbeit an den Biografien, den Verhältnissen und 157 Gemeinschaften, die sich um sie herum banden und lösten, half ihnen dann in den Gleichklang der Sicherheiten gewohnter Realitätsvorstellung zurück. Und wenn endlich Sisi die Stille mit einer Drehung und einem leisen Atmen durchbrach, und der bis dahin unsichtbaren Gemeinschaft eine Physis in der Dunkelheit verlieh, die einen verteidigungsbereiten Organismus gegen die stummen Unholde verriet, dann sanken auch Ferdinand, oder vielleicht auch Konstantin in den Halbschlaf, aus dem sie unruhig erwacht waren, zurück. Im Traum erschien ihnen dann alles viel leichter, und auch wenn sie sich nicht mehr der eben noch bedrohenden, und nun glücklich geendeten Situation erinnerten, und in eine freilich unerlebte Jugendepisode zurückkehrten, dann sahen sie oft den kleinen Bach in strahlender Frische sich durch das Tal winden, der teils erdacht, teils aber auch zusammenerinnert war. Kleine Leuchtpunkte, schwarmhaft tanzende Glühwürmchen irrlichterten über das lautlose Rauschen dieses Bildes hinweg, und Ferdinand Konstantin, der sich dann von Außen betrachtete, und sich selbst 158 über die Wasseroberfläche beugend im kräuselnden Spiegelbild bewunderte, starke Zeichen der Zuneigung verspürend zu diesem Ander–Ich, dass dort wie ein kleines, unbehaart sehniges Reh, mit Grazie und Anmut, aber nicht ohne eine Wollust an diesem androgynen Halbwesen verspürend Alles in ein farbiges Licht zu tauchen schien, das inmitten der schwirrenden Leuchtpunkte ein lebendiges Zentralgestirn entfachte, das sich im klaren Wasser des Bachs verzerrt ebenfalls als wabernde Corona mitspiegelte, und dabei die seltsam schroffe Landschaft ringsum gleich miterhellte, die sich hinter den Wiesen rund um den Bach aufgetürmt hatte, und ein pulsierendes Leuchten, dass Wellen über die Fluren sandte, brach sich dann an den von Burgruinen unterschiedlicher Zeiten bestandenen Felsnadeln, an denen diese eigentlich gegen jede Schwerkraft mehr zu hängen schienen, und zu denen es die kleinen Lichter magisch hinaufzog. Alles mochte hier etwas bedeuten, doch es blieb fremd und erschloss sich nicht, und ehe er die verschiedenen Eindrücke hatte ordnen können, drängte sich in dieses Bild eine den Bachlauf hinaufschwimmende kleine bunte Ente, der in dichter Folge eine 159 Schar schnatternder Küken folgte, die sich zu einem Ring aus Tieren verband. Das Schnattern wurde nun rhythmischer, und wie das Licht, das zuvor von dem rehgleichen Doppelgänger ausgegangen war, begann es nun selbst zu pulsieren, lauter und immer lautere Klänge ausstoßend. Er erwachte. Die Sonne brach schon mit rotgelbem Strahl als neuer Morgen in die Räume des Verlags. Was der Entenkreis gewesen sein mochte, an den nun Konstantins Erinnerung völlig erblasste, war das schrille Geschrei eines fortwährend betätigten kleinen Türglöckchens, das im darunterliegenden Geschoss einen Besucher verkündete, und dessen Widerhall ihn nun vorzeitig aus allen erdenklichen Träumen gerissen hatte... VIII Nach Majas Verschwinden, das mir damals in allen Kanälen entgegenbrüllte, war ich soweit. Ich begann, nun ausschließlich Gin zu trinken, und vergrub mich in die wenigen Fakten, die es dazu gab. Ihre 160 plötzliche Abwesenheit schwemmte Gerüchte wie Treibholz an die trübe Oberfläche der Wirklichkeit, und das Wenige, was gesichert schien, brachte mich keinen Schritt weiter. Maja hatte ein neuerliches Loch in mich hineingeschlagen, etwa auf der Höhe des Brustkorbs, das eiterte und Schmerzen verursachte. Und die ich mit Alkohol zu desinfizieren suchte, während ich gleichzeitig volltrunken, aber dennoch luzid und klar die letzten Spuren zu einem Häufchen türmte, einfach alles, was ich wusste. Und diese fast unerträgliche innere Aufspaltung in Delirium und innere Investigation drohte mich langsam zu zerfressen. Die Wohnung, die um mich herum verkam, in der ich langsam umkam, lag in einem etwas heruntergekommenen Wohnviertel unweit des Hafens. Die heruntergezogenen Venetian Blinds drückten auch den Lärm des beinahe schon erstorbenen Warenverkehrs dort draußen zu seltsam dumpfen Lebenszeichen nieder. Touristen, die den nunmehr brachen Schiffsfriedhof zu einer Sehenswürdigkeit und Vergnügungsmeile gemacht hatten, hinterließen spitze Schreie über dem Bass der letzten Maschinen. 161 Maja hatte Recht behalten, sich in vollendeter Egomanie zu sonnen. Sie war für sich das absolut Wichtigste, das Zentrum der Welt gewesen, etwas Unwidersprechliches. Nun, da sie unauffindbar fort war, hatte sie mir ihren Job überlassen. Auch wenn wir in der kurzen Zeit unseres sporadischen Zusammenseins selten über etwas Anderes als sie gesprochen hatten, begann ich, diese Gespräche auf eine Weise zu vermissen, die, je mehr ich an sie dachte, von immer bedeutsamerem Inhalt wurden. Ich hatte recht eigentlich Wenig bis Nichts für sie empfunden, und dieses Wenige als etwas Körperliches wahrgenommen, aber dieses Verlangen nach Majas nahezu vollendeter Oberfläche bekam nun fast unerträgliche Substanz. Die völlige Abwesenheit jeglichen Affekts damals schien ihr jetzt eine Perfektion zu verleihen, die mich vor Sehnsucht beinahe den Verstand zu kosten drohte. Kein lärmendes Getobe, keine Streits waren da in der Erinnerung, keine hingehauchten Schwüre, alles perlte an dieser glatten Gestalt wie aus einem Ingres–Gemälde ölig ab, aber in meiner Erinnerung begann ihre unleugbare Ignoranz langsam zu Noblesse zu werden. 162 Wieder und wieder las ich ihre Bücher, es mochte ein halber Regalmeter gewesen sein, die ich nun begann, dauerhaft aus den Bibliotheken zu entleihen, um sie dem Zugriff fremder Leser zu entziehen, Maja sollte mir gehören, oder die Schweine sollten wenigstens dafür zahlen, in ihr herumzustöbern. Immer wieder durchkämmte ich ihre Bestseller nach Hinweisen, aber da war Nichts. Sie waren von so makelloser Oberfläche, wie sie selbst mir jetzt erschien. Die Figuren darin, eher die Gestalten ihrer Bücher, waren sämtlich Frauen, die zwischen Männern standen, und welche wie Staffage um die Begehren Ersterer herumlungerten. Sie alle bekamen jetzt Majas Gesicht, das ich manchmal aus Mangel an Erinnerung erfinden musste, oder welches mir als sehr jugendliche Version von den Buchrücken höhnisch und siegesgewiss entgegenblitzte wie jedem beliebigen Leser. Und das mich hinabstieß in den Kreis dieser Pappkameraden, mit denen sie als austauschbares Gefolge die Hohlwelten ihrer Ichphantasien schlampig beklebt hatte. Und denen ich dann wiederum eifersüchtige Blicke und Hass entgegensandte, wenn ich mich unter diesen wähnte, und mich dann selbstmitleidig in 163 meiner Austauschbarkeit suhlte. Dann schenkte ich mir meist noch ein großes Glas Gin ein, um diesen Schlick richtig und gut anzufeuchten, sodass ich aus ihm kleine Urnen für mein Private Ich hätte töpfern können. Heute weiß ich, dass ich eigentlich langsam alles an ihr vergaß, und sie gerade deshalb nicht vergessen konnte, und wofür ich begann, sie zu hassen. Und das war ein starkes Gefühl, welches ich, weil ich es mit ihr zu verwechselte, an ihrer, Maja, Maja, Maja, Maja statt zu lieben begann. Ein Anruf verkündete mir den Fund eines Abschiedsbriefes. Damals dachte ich noch daran, wie falsch das eigentlich war, diese heitere und gehässige Materialistin mit dem Wunsch nach einem freiwilligen Ableben auszustatten, und in dem Schreiben, das überraschenderweise an mich adressiert war, und in dem sie mich, da, wer immer dieses Machwerk verfasste, ahnte, dass ich für derlei Medien empfänglich war, in Geheimschrift aufforderte, an dem Verlag, der ihre Ära so schmählich und plötzlich in ein investigatives, prekäres Nichts verabschiedet hatte, ein rächendes Exempel zu statuieren, standen einige hingehuschte 164 Liebesworte an mich gut lesbar im Betreff, aber das klang so gar nicht nach der Egomanin, die jetzt durch meine Liebestätigkeit zur Exomanin geworden war. Dennoch, in dem Augenblick starb etwas in mir, und vielleicht war es sogar die Perspektive auf diese Trümmer von völlig zerrüttetem Subjektmüll, ein stinkender Haufen, aus dem, wie die Scherben eines zerbrochenen Glases, kleine glitzernde Angebote, etwas Menschliches, gefährlich herausstaken, die mich nun gänzlich um den Verstand brachten... IX P.I. war nun drauf und dran, den kümmerlichen Rest des verbliebenen Selbst auch noch mit einem großen Knall zu verabschieden, und sich in die völligen Obsoletheit eines Daseins ohne Maja hineinzusuhlen, aber mit der unerbittlichen Verve, die die Nachricht von ihrem offensichtlichen, zwar nur durch ein Indiz belegten, aber dennoch gewollt erscheinenden Ende erzeugte, brach das Überschallprojektil dieser 165 Perspektive durch sein Bewusstsein wie durch einen zerfetzenden Schaumstoffbrocken. P.I denkt, die Rakete startet. – Nimm mich mit, kleiner werdende Rakete, trag mich raus ins Nichts, ruft er noch in sich hinein, – hier ist es auch öde und heiß aber Draußen ists ehrlich kalt. Außen kalt. In mir ist es aber kälter noch, das Universum wird wärmen. Und sie: – Du kannst nicht mit!, so schreit die Rakete dann mit einem alles zerstiebenden Beben. – Sie trägt dich nicht, kleiner Fettsack...bleib lieber unten, du bist ja sowieso feige. Wenn ich hier in der Atmosphäre zerplatzte, dann platzt du mit, regnest als fettiger Staub auf die Felder. Traurig bleibt P.I. also am inneren Startfeldrand und blickt der verdrehten Kerze nach, diesem sich langsam entfernenden Licht hinterher. Heißer noch drückt das Denken da plötzlich, Erinnerung nun schon fast ans nahezu völlig verglommene Gleißen. Und träumend von Staub geht ein dicker alter Hund in ihm heimlich ins Nichts, und alles dreht sich plötzlich in diesem Vakuum. Der Hund findet ein paar Artgenossen, 3, 4 Köter nun, und so balgen sie sich wie huschende Blinklichter auf einem spiegelnden Grund, sich windend, und zu einem Kneuel verbalgt, dann 166 sich gegenseitig wie verschlingend, fetzend fressend, einem hängen die Gedärme seitlich heraus, die dann ein Eigenleben führen, sich sogleich in Formationen tanzend winden, und in die übrigen Tiere einzudringen versuchen, während der Erste ein unhörbares Ultraschallstöhnen von sich zu geben scheint, hinein ins Schwarz von P.I.s Umnachtung, denn im Kopf ist‘s schon spät, zu spät um noch umzukehren aus der inneren Einbahnstraße, und so fügt er sich still in sich ein, auch um das Gebell, das da sein müsste und dennoch immer unhörbar bleibt, vielleicht doch noch ins Bewusstsein zu bekommen, aber da sitzt nur die Grinsekatze Maja gruselig und feist wie damals, als sie noch ein Kind wie das auf den Fotos gewesen war die sie ihm gezeigt hatte, schon rotstichig gewordenene Farbbilder in diesem Album hinter den Schnapsflaschen, im Hallerregal verborgen. Und dann war ihm noch kurz, als hätte er eine telepathische Übertragung zu ihr, in die nun doch immer wilder sich verbeißenden, fetzenden Hunde hinein, halbtot schon, aber mit unverminderter Beißhärte gegen dieses neue Sich– Hund–Selbst, dann schnell das Album aufklappen, und neben das Fremdwörterlexikon mit den von der 167 Investigativratgeberin selbst ergänzten Begriffen gelegt, aus Partykonversationen herausgeklaubte Fetzen von Normalverstand oder in Symposien heimlich notiert, nun gänzlich im Hundegefetz aufgelöst, anstoßend, und in dem Album die Seite mit dem Lesezeichen aufgeschlagen, eine kleine, goldene Pegasus–Readers–Digest–Nadel markiert den Punkt. Sie kannten sich ja alle noch aus der Odenwaldschule, Kilian, Robert, Maja. Sie waren für ihr Leben ausgebildet worden, und es wäre leicht gewesen zu behaupten, dass sie ihre Zeit damit verbrachten, kleine verstümmelte Strichmännchen in ihren Notizheften zu quälen, aber sie hatten gar keine, waren Anwender durch und durch, fiebrig von der politischen Macht des Konsumenten faselnd, kannten Christian Bale noch von der Zeit bei George in Como, sich permanent dabei gegenseitig in die trainierten Hintern kneifend, blöde Scherze besoffen, bekokst machend, und sich Bestellzettel vorlesend, dabei in den Arsch einer Rehbergerskulptur kletternd, als wären und waren sie noch immer 14? Voran kriechend dann wiederum voller Poppers, und das Paradigma vom Hoffmann’schen Erzähler der sich anmaßt von jedem gefragt zu werden 168 was denn mit den Figuren jetzt sei...keinerlei Exzess, sondern nur dumpf voran, voran, voran... diese peitschenden Pulse, nun gänzlich in die Hunde hineingeschnitten, in einem Hundeinnenraum eingekapselt die Motive offengelegt, und Majas Stimme so durchdringend wie ein Märchen über das Gebell, nun gut hörbar hinausgeschrien, in das Gebell verwandelt, kleine Sätze. Maja spricht wie in einem Südstaatentraum, – Bobby Pratchett, der kleine Billy und Mae, damals die Hauptstraße in Vermont hinuntergerannt, am alten Indianerfriedhof vorbei, von dem nur noch ein paar Reste geblieben waren. Dann an Johnny Tate’s Scheune ganz außer Atem, sich die Seite gehalten, stechend. Der Geruch von gedüngten Feldern auch in dem Städtchen, Gülle überall, aber süß. Die Flötenlutscher pfeifen lassen, durch das Wäldchen, und dann am Bach wieder abschlagen und zurück. Manchmal eine kleine Rangelei, wegen einem Wort, oder Streit, fiktive Waffen aufzählen, am Ende unsterblich sein. Dann Schluss. Nur nicht nach Hause, wo es muffig war, und alles schweigend... little john, little john, play your tiny vibrafone... hatten vergessen, dass es schon spät war, hatten dann den Weg gesucht, im Dunkeln, 169 die Ulmen hoch am Bach, den Stock zum Mähen hohen Grases nun wie einen Speer gegen die unsichtbar verborgenen, lauernde Gestalten im Wald... Eigentlich ziemlich öde Gedanken, dachte P.I. Und da wacht P.I. auf, schon Monate später, aus diesem zombiehaften, inversen Wachkoma das Majas Tod hinterlassen hat und steht am Grab, zuvor aber erstmal am offenen Sarg, der wie ein Einbaum aus Ulmenholz ohne Paddel wirkt und mit einigen Erinnerungsstücken und Devotionalien gefüllt ist, offensichtlich von Verwandten hineingelegt, die sie gar nicht, oder nicht mehr allzu gut kannten. Dann wiederum an der Grube, zweimal leere Ausschachtungen hintereinander, Sarkasmus der Realitätseffekte. Einige versprengte, grau–schwarze Gestalten, in Trauer um die nicht einmal tot anwesende Maja, drängen sich unter die spärlich vorhandenen Schirme, denn es hatte nun spontan zu regnen begonnen, und nur die Übervorsichtigen waren vorbereitet gewesen. Sie sorgten nun mit großzügiger Miene für ein Bild stützender Nähe, das seltsam gebrochen wirkte, wenn man die nicht vorhandenen Beziehungen der Anwesenden im Licht der nun zu teilenden 170 Bedürfnisse sah, dabei aber ein jeder wohl wissend um die tatsächlichen Abhängigkeitsverhältnisse der Grillentrauernden inmitten der Ameisentrauernden, die nun auch gänzlich aufgehört hatten zu fiedeln. – Und ich stellte mir vor während ich in meiner Tasche nach der anknöpfbaren Kapuze für meine schwarze NorthFace Funktionsjacke kramte, auch der Ulmenholzeinbaum wäre offengeblieben, und schwömme treibend auf dem sich langsam füllenden Bassin des ausgehobenen Grabes, und füllt sich dann ebenfalls mit Regenwasser, all die kleinen Briefe und die neu gekauften Stofftiere, deren Vorgänger Maja wahrscheinlich sämtlich schon als Kind zermartert und verhackstückt, zerteilt, geblendet hatte, so wie sie mit Luftgewehren auf Frösche geschossen und überhaupt keine Gelegenheit ausgelassen haben mochte, dieser gotthaften Dominanz ihres herrischen Selbst, die sie später so selbstverständlich auf den Körpern ihrer Untergebenen, getarnt als Fürsorge, entlud, einige Lebend– und Sachopfer darzubringen, denn ja, sie war eine Großmeisterin des des Devianten, – nun vielleicht schon gewesen? – , überall verehrt für ihre Einfühlsamkeit, aber in dieser kalten Form, stumme 171 Psychopathologie, Abziehbild des Mitgefühls. Und all das saugte sich dann mit dem abregnenden, erkalteten Kondensat des Rheinwassers voll, und in einem inneren Zeitraffer verrotteten die Polyesterteile und schimmelten die Abschiedswünsche in dieser Doppelwanne, deren hölzerner Sargschiffsteil in einem finalen, inneren Tusch in der schlammigen Grube, Majas Grab, versank. Das Wasser quoll dann in mir weiter, während ich den Verwandten unter den misstrauischen Blicken der Eltern, beide aneinandergestützt mit verhärmten, zornigen Mienen, die mir stumm eine Mitschuld an Majas Verschwinden zu geben schienen und die obgleich sie mich nicht kannten, mir einen verderblichen Einfluss zudachten. Und den P.I. in den Mikropolitiken ihrer gemeinsamen Zeit tatsächlich niemals hätte geltend machen können, dachte er, während er widerwillig diese ebenfalls widerstrebend entgegengestreckten, schlaffen Hände schüttelte, und – Mein Beileid, murmelte. Denn es war weniger ihre alles kontrollierende, obsessive Ichbesessenheit, die einen solchen Einfluss allein schon kategorisch ausgeschlossen hätte, vielmehr hatte sie eine solche Klarheit hinsichtlich der 172 Verfasstheit der Weltverhältnisse durchdrungen, die, obgleich ohne jede empirische Grundlage, dennoch völlig verunmöglicht hätte, äußere Einflüsse auf Majas Entscheidungen zuzulassen, und in dem Moment, indem ihm dieser Umstand klar vor Augen trat, durchbrach die braune Schlammbrühe die Außenwände des Grabes in ein fiktives Dunkel hinein, durch unzählige, kleine Kapillare im Erdmantel, wälzte sich in den unterirdischen Strom, die gelösten Polymere aus den Erinnerungsstücken mit sich führend, in das Ganze des Grundwassers, und bahnte sich, unendlich langsam, an– und abschwellend den Weg zurück in den Rhein, der über das große Delta an den Rändern der Agglomeration Triers ins Meer mündete. Der Einbaumschlamm und die Grubenschwebteile, nach dem Wässern der im Dauernebel faulenden Maisfelder, und mit unzähligen Molekülen anderer Quellen vermengt, gingen dann in die Bäume am Stadtrand, in die Nahrungsmittel über, wo die Reste der Erinnerung an Majas Verschwinden sich über die morgendlichen Fruchtsäfte und erinnerungsschwanger fauligen Cornflakes an den Fühstückstischen Triers einen Weg in die Herzen der Menschen bahnten, und sich 173 dann einige, wenige Wasserteilchen beim Rückstrom durch die Klippen sanft strudelnd um die unzähligen Beinchen der Leuchtkrabben strömend legten, dann hinaus in das Unbekannte flossen, wo sie sich vielleicht doch mit der ebenfalls – Irgendwo da Draussen! befindlichen Maja zu vereinen trachteten. X Jetzt, am Fenster stehend und rauchend, erschienen ihm darüber hinaus die Diskussionen der letzten Tage wie eine nutzlose, ja geradezu lächerliche und im Geiste fortzuwischende, unerträgliche Plage, der die inneren Windungen seines Hirns, die bei ihm nicht selten mit dem Magen verbunden zu sein schienen, Untertan waren. Die Zigarette langsam zum Mund führend, und den Blick über den nun gänzlich leeren Innenhof der ehemaligen Schokoladenfabrik im Hinterhaus und die hineinstrebenden Kreativarbeiter schweifen lassend, kam dem Cheflektor des CILANE Verlages sein eigenes Dasein verschenkt und 174 albern vor, es schüttelte den geübten Menschenkenner innerlich hin und her angesichts der zu ertragen gewesenen, gehörten Exegesen und dem dummen Geschwätz, das gerade nun, in den letzten Stunden der Verlagssitzung, in den Entscheidungsmomenten der sich beschleunigenden Mühle des Redaktionsschlusses allgemein getauscht worden war, und auf ekelerregende Weise, jetzt da er gänzlich allein war, in ihm nachhallte. Der Verlag. Dieses uralte Wort, das er manchmal stumm vor sich hin wiederholte, ehrfürchtig zunächst, dann schneller werdend, bis es ganz seinen Wortsinn in der inneren Fliehkraft seiner Gedanken von sich zu schleudern drohte, und die Außenwände der Blase seiner Wortexistenz verklebte, so dass dann kein Hinaussehen mehr vom nun gänzlich leeren Zentrum aus möglich war, sondern sich nur noch ein schaler Blick auf das schleimige Trümmerfeld dieser Hohlwelt ergab, und ließ ihn, den Logoklasten, wie er sich dann halb ehrfürchtig, halb spöttisch selbst zu nennen erlaubte, angesichts seiner auf das ohnehin etwas schal schmeckende Leben gerichteten, autoaggressiv innerlich tobenden Zerstörungswut zittern. 175 Maximilian war tödlich beleidigt. Er war gedemütigt worden von Malte, dem Buhler, denn ein vorangestelltes Neben hätte nur eine unzulässige Nähe zu seiner Daphne (Isabelle), wie er sie heimlich und für sich nannte bedeutet, sowie zu deren forsch vorgetragenen Einsprüchen betreffs der Aufteilung der Ressorts, und er fühlte den brennenden Schmerz einer nur schwer zu heilenden Verletzung. Dass sich der Name dieses kleinlichen Newcomer–Wichts – so war er kürzlich in der Finanzsitzung vom Ressortchef Medien in der Kaffeepause heruntergeekelt worden – nun auch noch auf den wiederum von Maximilian über Isabelle gebreiteten Mantel aus betörender Phantasiekreatur reimte, klang dabei umso übler in den Gehörgängen des Altvorderen nach. Malte, Daphne...hatte er nicht deutlich genug darauf hingewiesen, dass er die Reportage über den Fortgang der Irrenschau, wie sie das Format Homestory Dschungelkönig abschätzig und erschauernd zugleich intern getauft hatten, und dem sich die beiden Redakteure nun mit fortschreitender Hartnäckigkeit zu widmen schienen, für einen irreparablen Fehltritt hielt? Er trug ihnen dabei vor allem auch ihren ungestümen Arbeitswillen und das etwas 176 trotzige Insistieren auf der Fortführung der ihm völlig übertrieben erscheinenden Außenrecherche in nahezu sämtlichen anderen Recherchen nach, – Da ist doch jede Menge Internet im Haus, warum so an die Leute rankriechen? hatte er Malte angeblafft, der dann kleinlaut, trotzig wie ein Schulbengel durch ihn hindurch zu Daphne gewendet gesagt hatte, er, der Alte, sei eben doch ein realitätsfickender technokratischer Kopist!, ganz so, als wäre er gar nicht im Raum gewesen; gesagt hatte dieser das mit so einer plötzlich einbrechenden Infamie der dritten Person, die man von sich einst innig Liebenden, aber einander nun bis zur Widerwart abstossenden Paaren kannte, die sich für das Fehlen des einst geliebten Gegenstands im Anderen entschädigen, indem sie die Hülle um diesen Gegenstand versachlichen, um wenigstens diese zum nun gehassten neuen Gegenstand machen zu können, und die sich für den Verlust mit der Objektivierung der Reste öffentlich rächten. Gerade so war auch er innerhalb weniger Sekunden im Nu objektiviert, und ganz und gar nicht heimlich überwunden worden, das spürte er nun am ganzen dinglichen Körper. 177 Denn insgeheim waren seine Bedenken dabei vor allem der Zusammenarbeit beider gewidmet. Deren wachsende Vertrautheit marterte ihn seit Tagen, der sein quälendes Verlangen nach ihrer, Daphne – Isabells Nähe, nun in der braunen Farbe des Ekels tränkte. Es hatte sich schon längst ausgebreitet, und alles in ihm innerlich ausgehöhlt; dieses Wollen! Und über der unerträglichen Penetranz des nahezu nicht wahrnehmbaren, aber damit umso schneidender in ihn hineinkriechenden Geruchs der Freelancerin, der so oft von ihrem Schreibtisch aus in das sich vor ihm ausbreitende, zu ihm ins zähe Tagesgeschäft und die höflich zu personalisierenden, negativen Beantwortungen der von Anfragen junger Autoren überquellenden Accounts hinübersickerte, dieser scent, der ihn in den Wahnsinn zu treiben drohte, ganz langsam ihn innerlich anhob, einfach geil machte, so dass er jeden Moment der Anwesenheit des permanent im Weg zu sein scheinenden Maltes wie eine nur ihm allein gewidmete Zumutung, die nur mit einem inneren und mühsam nach Außen zu unterdrückenden Weg, weg weg!! –Schrei zu verkraften war, empfand, diese sich ungeachtet der deutlich zur Schau gestellten 178 Ablehnung ihrerseits ausbreitenden Qual, die noch in der widerwärtigen hundeartigen Anwesenheit dieses jungen Lektors unermesslich sich steigerte, oder gar durch Malte allein begründet zu sein schien, und dann wiederum in ihrer Aufmerksamkeit zu diesem krass krüppelnd zerrspiegelte, dieser ekle Lektor, der Maximilians sonst ihm selbst unstrittig erscheinende Wirkung aufs andere Geschlecht seltsam zu hemmen schien, ihn dahinkastrierte an seinem eigenen Arbeitsplatz, inmitten der eigenen Projektleitung nahezu öffentlich ersticken und unwiderruflich in Frage zu stellen drohte, Weeeeeeg!! dann noch gerufen, doch laut diesmal, und hinausgerannt, eine Übelkeit vortäuschend, die dann wiederum nicht einmal mehr simuliert war... Und dann, langsam, kippt er sacht über den Rand. So sieht er sich noch selbst, kurz. Ganz nach unten, schneller noch als er sich begreift, also gedacht hat, fliegt er der inneren Zerschellung entgegen, kesselt dann zu Boden, wie ein mit flüssigem Blei beschwertes Ei platzt er dann an der Kante des Glastischs nachhaltig auseinander, der zarte 179 Liquid–Glass–Korpus seiner Selbst, in dem so viele kleine, halb geschmolzene Objekte eingeklebt zu sein scheinen, dass sie kaum noch zu unterscheiden sind; kleine Perlen, Knöpfe, Ministuff... – Siehst du mich? fragt es dann aus der Stille, – Kannst du mich hören? – Ich weiss, wer du bist, sagt er dann so leise, dass nur er es hören kann, aber dennoch bestimmt, – Lass mich doch hier drin, du bist dieses verschollene Gewissen, das verfluchte andere ‚Ich’, das mir das Alles hier mies macht, mich mit diesem Unsinn quält!. – Nein, ich bin deine Frau! Aber hatte er denn eine? XI Damals in jenen Tagen in den Verlagen, in dieser doppelseitigen, Bau gewordenen Klatschgazette, verstand ich das Treiben da noch nicht. Alles war so übersteigert, geschraubt, zu schnell, obwohl, ja, 180 gerade weil sich dort nichts zu bewegen schien. Und die kleinen Biorädchen in den beiden Verlagsteilen, die doch nahezu keinerlei Austausch untereinander pflegten, schienen ganz und gar selbstgenügsam vor sich her und hin alles, was zu erlangen möglich gewesen war, unter sich und einander aufgeteilt zu haben, dabei eine Geziertheit vor sich hertragend, die mir damals unbegreiflich war. Aber wenn es da noch etwas Drittes gegeben hatte? Und ich deute jetzt die Ablehnung, die mir damals entgegenschlug nostalgisch in Richtung dieses mir noch heute fernen Punktes...ein alternatives Sein vielleicht? Inmitten dieses schäumenden Hasses, mit denen mich Kilians Worte in seinen letzten Atemzügen überflutet hatten... etwas Wahres? Hier, in der Kälte dieser Nacht, in der mir alles nun seltsam begreiflich ist, fügen sich die Puzzleteile aneinander, aber sie ergeben ein leeres Motiv. Ich sehe nur noch Maja vor mir, von der ich weiß, dass sie da auf der anderen Seite der Wasseroberfläche auf mich warten wird, oder was immer von ihr übrig ist, und da ich nicht an ein Morgen oder Nachleben glaube, können wohl unsere kleinen Schwebteile, zu denen wir als Meerjungfrauenschaum 181 verkleidet wohl einst heruntergefressen oder geschliffen werden, in den kommenden Jahrtausenden ab und zu einmal sich zart berührend ineinander treiben. Ich höre die Wellen, die mich gleich unter sich aufnehmen werden, und rate dir, geneigte Leserin, lieber nicht auf meine Rückkehr zu warten. versandete still genau da, wo ich die letzten Monate stets, wann immer meine häuslichen Ginvorräte beendet waren, den endlos aneinandergereihten, schummrigen Morgen entgegentrank. Am Nebentisch zündete soeben der krakeelend lärmende Redakteur im Medienressort des Rheinischen Landboten, Ben Tewag, seinen Begleiter an. XII Aber diesen einen Gedanken hatte ich noch, als ich zum letzten Mal, bevor der Verlag eine Rolle in meinem Leben zu spielen begann, und Der Spiegel seine Agressionen auf den überraschenden Erfolg dieses, nach Majas Verschwinden zum Witzblatt mutierten Klatschorgans mit dem hingeätzten Demokratie lebt von Alternativen, politische Medien sollten sie transportieren können! in das Morgengrauen hinein abqualifizieren sollte. Aber mein Engagement in die noch zu schildernden Ereignisse, die sich in Gang setzen sollten, war noch nicht vollzogen, und ich blieb allein in der Eckbank jener Hafenkneipe und 182 183