Das Rheinische Prinzip_Kern_Final_Druck_19

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Das Rheinische Prinzip_Kern_Final_Druck_19
The Critical Ass DAS RHEINISCHE PRINZIP Band 1
The Critical Ass
DAS
RHEINISCHE
PRINZIP
Band 1
DAS
RHEINISCHE
PRINZIP
–
Die Katzen waren zurückgekehrt, besser, sie waren
einfach wieder da. Ich fand sie im Treppenhaus jenes Verlags, an den ich später noch oft dachte, und
gerade immer noch denke. Und auch wenn ich mir
zu jener Zeit noch eingebildet hatte, sie vielleicht aus
Trauer verwechselt zu haben, so kam mir doch die
Lautfolge ihres Schnurrens tief vertraut vor. Heute,
jetzt, hier auf der Felseninsel, wo Crabman Anderson
damals im Nebel verschwand, weiß ich endlich, dass
es Warnzeichen waren, die sie mir hatten senden
wollen. Katzensprache. Da hätte es eine Übertragung
geben müssen, als sie meine Beine umstrichen, ein
biologisches Blitzen, vielleicht einen Schlag, der alles,
was sie gesehen hatten, mit dem hätte synchronisieren sollen, was ich noch zu sehen hatte, und mir hätte
mitteilen wollen, wo sie vielleicht schon gewesen, warum sie dann verschwunden und einen ganzen Kontinent weit entfernt, wieder aufgetaucht waren, nun
da ich beinahe sicher bin, dass es die beiden Felllappen aus meinem Office waren. Jetzt sitze ich hier
nicht weniger nackt als Anderson, noch immer halb
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ahnungslos, halb steif vor Angst herum, Knie an den
Oberkörper gepresst, Fötalstellung, und mit mattem
Blick auf die kleinen treibenden Fischerboote der Bay
blickend, die einst zur Group gehört hatten und nun,
an andere Companies überschrieben, mit den selben
Aufträgen versehen, den unendlich leidenden, längst
ausgebeuteten Fluss durchkämmend, Staub aufwirbeln, vielleicht eine Metapher, Glasauge, und die ich
vielleicht schon in wenigen Stunden nicht mehr sehen werde, wenn die Kälte nicht mehr zu spüren sein
wird, und es dann Nacht sein wird, und das Denken
endet, alles. Jetzt, jetzt fällt mir dieser Traum wieder
ein, und wirklich denke ich dass auch er katzengleich
in mich hineingekrochen war, um mir Zusammenhänge mitzuteilen, die mir entgangen waren damals,
als ich den Verlag betrat...
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Prolog
Eigentlich müsste die Stadt längst ausgestorben sein.
Die Statistiken waren in den letzten Monaten in den
Himmel geschossen und die lokalen Fernsehnachrichten eine Zeit lang dazu übergegangen, einfach
nur noch Fotos der Vermissten einzublenden. Wenn
man das Ganze verstehen wollte, dachte sie, reichten
die Namen nicht. Da musste man auch an diejenigen
ran, die noch da und noch am Leben waren. Genau
deshalb war sie wieder in Trier.
Sie war seit Wochen erkältet. Müde lehnte die attraktive Bestsellerautorin Maja an einer Hauswand in der
Flussstraße. Die Schritte hinter ihr waren seit wenigen Sekunden verhallt. Sie presste sich etwas dichter an die kalte Wand und hielt den Atem an. Ihre
Füße schmerzten. Sie hatte die Nacht bis jetzt damit
verbracht, ein paar junge Leute an der Bergstraße zu
befragen. Für die Recherche zu ihrem neuen Buch
hatte sie sich tief in die Unterwelt dieser mittelgroßen
Stadt hineinbegeben. Es ging um mehr als ihre Karriere, auch wenn es tatsächlich Zeit wurde, wieder
etwas rauszubringen. Was sie hier tat, erschien ihr
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wie eine Mischung aus feministischer Aktion und investigativem Journalismus und immer, wenn sie versuchte, es anderen zu erklären, musste sie feststellen, dass es dabei nicht zuletzt um sie selbst ging,
um ihre eigenen Beziehungen und ihr eigenes Geld;
wäre das Geld erst aufgebraucht, würde sie alles genau wie sie erleben, die Stadt und was es bedeuten mochte, das Leben auf der Bergstraße. Sie stand
jetzt so dicht an der Wand, dass ihr Kleid im Schatten verschwand. Es war nichts mehr zu hören von
ihrem Verfolger und sie wollte nach Hause. Es war
ein guter Abend gewesen, das langsame Aufbauen
der Beziehung zu den Boys and Girls begann sich
auszuzahlen. Ihr Telefon war voll mit, zum Teil sogar
glaubwürdigen Anschuldigungen. Jetzt musste sie
nur noch den Hafen verlassen und dann bis zu einer
Straße, an der sie unerkannt ein Taxi rufen konnte.
Maja wagte endlich einen Schritt nach vorn. Sofort
fiel sie auf die nassen Pflastersteine, verletzte sich
die Knie, und schlug dann mit dem Kopf am Boden
auf. Sie spürte einen dumpfen Schmerz in ihren Beinen und konnte gerade noch den Kopf heben, um
die über sie gebeugte Gestalt zu erkennen. Zwei
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Schüsse in die Brust ließen Maja in der Mitte der
Flussstraße zusammensacken. Zwei Wochen später
erst, würde sie als vermisst gemeldet werden. Noch
später sollte man Fasern ihres Kleids an jener Hauswand in der Flussstraße finden. Sie würden für lange
Zeit der einzige Hinweis bleiben.
I
Nach dem Tod meiner Mutter hatte ich zu trinken begonnen und seitdem nicht mehr aufgehört. Meine
Zeitrechnung war einfach, die Leberwerte gaben mir
den Takt vor. Regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen strukturierten den Jahreswechsel. Die innere Uhr
stellte ich nach meinem Durst, alles Andere nannte
ich Arbeit. Ich wußte es damals nicht besser, aber
Leergut ist ein teuflisches Zeitmaß.
Ich lebte in Trier, Massachusetts, Stadt des Niedergangs, ein gebautes Symbol des Verfalls unweit
des Rheindeltas. Hier konnte man Untergehen, der
Fluss trieb einen dann irgendwann wieder an die
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Oberfläche, an Gelegenheiten fehlte es nicht. Man
kann wohl sagen, dass ich Menschen nie besonders
gemocht habe und so war meine Isolation selbst gewählt. Ich hatte mich für ein Weile aus dem Leben
zurückgezogen, mich dem Fluss überlassen, bis der
Zufall mich wieder ans Ufer spülte. Mit einem kleinen
Erbe bezog ich eine Kanzlei und wärmte einige alte
Kontakte wieder auf. Aber hier soll es nicht um diesen
Zufall gehen, sondern um eine andere Geschichte.
Mein Name ist Private, man nennt mich P. I. Bestimmung? Ich glaube nicht daran, aber es erleichterte
die Berufswahl. Anders als beispielsweise der Metzger aus meiner Nachbarschaft, der Bäcker hieß. Mein
Name ließ mir kaum eine andere Möglichkeit und so
wurde ich Private Investigator. Nicht wie Bäcker,
der trotzdem Metzger werden wollte und als Querulant endete. Aber Bäcker ist auch alte Schule, wendet immer alles nach außen. Empörung wäre nicht
mein Stil. Lieber würde ich Bäcker eins in die Fresse
hauen. Jedenfalls wurde ich Privatdetektiv mit einer
eigenen Kanzlei in einer der verwinkelten Nebenstraßen von Trier, Massachusetts und hier beginnt meine
Geschichte.
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Es war ein Vormittag wie jeder Andere und ich hatte
schon drei Tassen Grog getrunken, als Elaine meine
Kanzlei betrat. Elaine DeGreed war von großer,
schlanker Gestalt, und behandelte mich mit jener herablassenden Kühle, die ihr offenbar dazu geeignet
schien, meine versoffenen Sinne zu wecken. Kaum
hatte sie sich vorgestellt, sagte sie:
– Ich bin gekommen um meinen Husband Robert zu
diskreditieren.
– Wollen sie einen Drink?, fragte ich etwas verwirrt,
aber sie ging darüber hinweg als hätte sie nicht gehört, was ich gesagt hatte. So kochte ich also etwas
Wasser für mich allein auf und ließ sie weitersprechen. Elaine beschrieb ihren Mann in hastigen Zügen,
während sie in ihrer Handtasche nach Zigaretten angelte. Ich konnte ihr kaum folgen und schickte sie zum
rauchen vor die Tür. Wie sich später rausstellte, war
sie unglücklich verheiratet mit Robert Anderson. Robert war ein warmherziger Mensch, der Anderen mit
Offenheit und Freundlichkeit begegnete. Obwohl er
aus der reichsten und angesehensten Familie des Ortes kam, ließ er sich bei der Wahl seiner Freunde nie
von Standesdünkel leiten. Ob er mit Krabbenfischern
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fachsimpelte oder mit Großbanken verhandelte, Robert fand stets die richtigen Worte. Dafür musste er
sich nicht verstellen; sein Einfühlungsvermögen war
nicht berechnend, sondern echt. Der Deichbruch
und die Überschwemmung vor einigen Jahren hatten eine Zäsur in seinem Leben bewirkt. Robert war
schwer verletzt worden und lag lange Zeit im Koma.
Als er wieder aufwachte, war seine Kindheit beendet.
Auf Robert wartete eine lange Phase der Regeneration, aber er nahm die Herausforderung klaglos an.
Hartnäckig trainierte er, bis er körperlich wieder völlig hergestellt war. Viel schwerer verkraftete er aber
die Trennung von Jugendliebe Maja, die ihn schließlich dazu brachte, sich für beziehungs– und liebesunfähig zu halten. Als Robert Elaine einen Heiratsantrag machte, tat er es nicht aus großer Leidenschaft,
sondern aus dem Wunsch nach einer festen Partnerschaft, nach Intimität und Kindern. Als er dann jedoch Maja eines Tages wieder begegnete, musste er
erkennen, dass er sehr wohl noch zu starker Liebe
fähig war.
Was die Leitung der familieneigenen Reederei anging, ließ Robert seinem Stiefbruder den Vortritt.
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Während Kilian sich um die weltweiten Geschäfte
kümmerte, träumte Robert derweil davon, zu den
Wurzeln des Unternehmens zurückzukehren: Auf einem brachliegenden Hafengrundstück, das seit jeher
im Besitz der Familie war, wollte er die traditionelle
Werft – die seinerzeit der Grundstein des Reedereibetriebs Anderson gewesen war – wiederaufbauen,
um hier Holzbarken herstellen zu lassen. Aber all das
erfuhr ich nur bröckchenweise und es half nicht, dass
Elaine vor der Tür stand, während sie mit mir sprach.
Ich blieb in der Kanzlei und kochte einen weiteren
Grog auf: 200 ml heißes Wasser, 4 cl Rum und 3
Teelöffel Zucker.
Ich konnte mich gut an Robert erinnern, er war ein
Schnösel in den Grundschuljahren und ein Bully als
Teenager. Ich hasste ihn, aber das war nichts Besonderes, denn mit meinem Hass war ich durchaus
großzügig. Robert aber war ein außergewöhnliches
Arschloch, bevor er ins Koma fiel. Er hatte es geliebt,
jüngere Schüler zu quälen und war einfach durch und
durch Schwein. Nachdem er aber aus dem Koma
wieder aufgewacht war, schien er wesensverändert
und traf fortan stets den richtigen Ton. Er konnte
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stundenlang Krabbenfischern erzählen wie gut es
wäre, dass sie noch immer rausfahren, um Krabben
zu fischen, wo es doch längst keine Krabben mehr
zu fischen gab. Den Großbanken trat er selbstbewusst entgegen, und erzählte ihnen von den Krabbenfischern. Er verglich dann Krabben mit Geld, und
verstrickte sich in Widersprüche; wenigstens war er
echt. Und einfältig, ich kannte ihn.
– Elaine, es gibt ein Problem mit Robert, sagte ich, Ihr
Robert ist ein anderer als der Robert, den ich kenne.
Sofort trat sie in die Kanzlei, wo ich die Schubladen
gerade nach braunem Zucker durchsuchte.
– Was meinst Du? Du kennst Robert Anderson?
Ich erzählte ihr, wie Robert früher kleine Kinder gequält hatte, indem er sie Münzen essen ließ.
– Können wir ihn damit diskreditieren?, fragte Elaine
hoffnungsvoll, und ihre Augen leuchteten.
Während ich mir einbildete, Material für Elaines Case
zu sammeln, kam ich Maja in den kommenden Wochen immer näher. Wir trafen uns regelmäßig, ich
besuchte sie bei ihren Gastgebern und so wurde
ich langsam in den Freundeskreis der Andersons
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eingeführt. Irgendwann, so dachte ich, würde ich Anderson mit meinem Wissen um seine Vergangenheit
ausspielen können. Aber Ausspielen konnte er sich
selbst am Besten. Denn Robert hatte eine erotische
Lesung auf einer der Felseninseln im Fluss angekündigt. Ich unterstützte ihn bei diesem Entschluss und
bei unseren langen Gesprächen fiel mir seine durchaus ernsthafte Auseinandersetzungen mit Ästhetiken
des Widerstands auf. Es blieb mir allerdings schleierhaft, wem oder was er eigentlich widerstand.
Die Lichter, die am Ufer zwischen den Zuschauern
angebracht waren tauchten den Felsen, der in einem
gehörigen Abstand aus der Strömung aufragte, in
ein grellgelbes Licht. Ich konnte darin Umrisse einer
Gestalt ausmachen, doch erst als seine Stimme ansetzte, wusste ich sicher, dass der nackte Mann auf
dem Felsen tatsächlich Robert Anderson war.
Anderson las mit ruhiger und angenehmer Stimme.
Seine Texte waren ein grauenvoller Mix aus Bekenntnissen und Fantasien, die nach jedem Absatz ein betretenes Schweigen hervorriefen. Es wurde weder
applaudiert noch gelacht, schockiert sah man einem
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der prominentesten Vertreter der Stadt dabei zu, wie
er sich endgültig selbst dekonstruierte.
Maja war ziemlich bald nach den Ereignissen des
Anderson–Skandals und Robert Andersons Verschwinden abgereist, sie könne jetzt unmöglich hier
sein, das habe auch alles nichts mit ihr zu tun. Sie
sprach von sich am Telefon, ausgelaugt und sehr allein ließ sie mich in meiner Kanzlei zurück, aus der
jetzt auch noch die Katzen verschwunden waren.
II
Die Leuchter glommen mit halber Flamme, als er kurz
hinter dem Oberst durch die kleine Tür am Ende des
Korridors schlüpfend, in den Saal trat. Dieser war nun
zur Gänze in allen Schattierungen grüner Farbe ausgeschlagen, wobei das Grün der Wände vom Span
alter Kupferpaneele zu stammen schien. Der Raum
hatte keine Fenster, lediglich Nischen deuteten auf
eine Struktur der Oberflächen und diese niedrigen
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Ausfaltungen reichten kaum zur Mitte der Wandhöhe.
In ihnen waren wunderliche Statuen angebracht, die
wohl den Affekten gewidmet worden waren, diese
aber, da sie auf erschreckende Weise gänzlich kopflos waren, vermochten die Regungen der Seele lediglich noch mit den Handbewegungen und Verdrehungen der Körper auszudrücken. Der Oberst atmete
bereits schwer von dem Gewaltmarsch, den sie
durch die schier unzähligen Räume des Hauses zurückgelegt hatten. Er fingerte in seinem Revers nach
einem Taschentuch, fand keines, keuchte laut. Auch
wenn es doch einige Pausen des Staunens gegeben
hatte, so waren nun schon etliche Stunden vergangen, die sie mit zunehmender Hast der Suche nach
dem verschwundenen Schreiben gewidmet hatten,
denn jeden Augenblick konnte ihre Anwesenheit entdeckt und der Zweck ihres Kommens gänzlich nutzlos
geworden sein.
Doch aller Eile zum Trotz zwang dieser Saal, der
wohl einer fürstlichen Festgesellschaft mit Leichtigkeit Platz geboten hätte, dem soeben Eingetretenen
gewaltige Bewunderung ab. Alles war hier fein durchwirkt von Leichtigkeit, und einer gewaltigen, beinahe
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materiellen Liebe, die von den weder zufällig platziert
noch arrangiert wirkenden Objekten ausströmte und
deren Wirken sich im Zwielicht der Kerzen und im
Widerschein der kupfernen Paneele nun leise glimmend offenbarte, ja welche bei näherer Betrachtung
auch aus Gold getriebene Repoussées, kleine Abbilder vielleicht historischer, längst zurückliegender
Ereignisse preisgaben. Vielleicht aber, so dachte Ismael, würde dies Schauspiel umso heller strahlen, als
er es sich lediglich mitsamt dem Oberst nur erträumt
zu haben schien und er versuchte, etwas Stoffliches,
Verbindliches zu erhaschen, einen Moment der Gewissheit auszumachen, auf dass ihm das hier zu Sehende und auch die bereits gesehenen, schon hinter ihnen liegenden Säle, gänzlich real würden. Was
aber genau war da alles zu sehen gewesen? Beim
Versuch, sich zu erinnern, war so wirklich nur die
Büste des Hythlodeus recht eigentlich haften geblieben. Der Alte war zur Gänze entstellt gewesen, aus
rauhem Stein gehauen und überhaupt unansehnlich,
ungewaschen, soweit dies einer Plastik möglich war.
Aber hatte er, Ismael, sie wirklich erblickt? Alles war
jetzt scharf, klar, soviel stand fest, doch war das ein
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Beweis, und wenn ja, ein Beweis für was? Das Keuchen des Obersts hatte sich in den Sekunden seines
Abschweifens nicht verbessert, sondern ging nun in
ein Röcheln über, das ein Ringen um Luft geworden
war, der Kragen der Uniform saß zu fest und schnürte,
drückte den geschwollenen Hals, den Kehlkopf des
Militärs langsam und unerbittlich zu, dieser wedelte
nun mit den Armen, versuchte dann, die Schlinge aufzureißen, würgte, spuckte, indes es gelang ihm nicht,
den Todbringer zu zerfetzen. Ismael beugte sich über
den nun beinahe verstummten, bläulich, paneelfarben
grünlich sich verfärbenden Körper, der schon in das
Stadium einer Krampfhaltung überzutreten schien
und letzte Atmungen vollführte, keine Frage, es ging
zu Ende, das war unübersehbar, und der Gefährte erschauerte stumm, denn nun befand er sich allein in
dem fremden Hause, würde sich ohne einen freien
Rücken umsehen, und das verborgene Brevier auf eigene Faust suchen müssen. Unnötig, hier auch seine
Trauer zu beschreiben. Sie waren ja zusammen in der
Schule gewesen, hatten allerhand erlebt, Unfug angestellt, waren mit Delfinen geschwommen, hatten
dem präkolumbianischen Goldhandel nachgespürt,
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der sie von Muisca über Pijao und Popayan bis ganz
nach Quillacinga, El Dorado geführt hatte... Dies war
nun der Scheideweg. Oder war es noch immer der
Scheideweg eines Traumes? Sich vom nunmehr verstorbenen Oberst abwendend, schweifte der Blick
noch einmal in den gewaltigen Saal, der sich wundersam verwandelt zeigte. Die Leuchter strahlten viel
heller als noch am Anfang, es waren ihrer sieben, Ismael rechnete das vielleicht auch einer Gewöhnung
seiner Augen an das Halbdunkel zu, sie mochten nun
wohl handtellergroß geweitet sein. Aber niemand war
da, ihn zu betrachten oder erstaunt darüber zu sein.
III
Maja (am Telefon)
Vielleicht erinnerst du dich nicht richtig an das letzte
Mal. Das ist alles wie beim letzten Mal. Das ist, als
würde mir alles immer wieder passieren. Aber jetzt
fahre ich weg von hier. Dann kann es auch aufhören.
In B... sind dann ganz viele, die mich kennen, die sich
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an mich erinnern und das wird sicher ganz gut. Ich
kann hier nichts machen. Das ist auch nicht meine
Sache, was jetzt hier passiert. Vielleicht kannst du
das nicht verstehen. Das ist eine bestimmte Erfahrung, die ich mache, die ich immer wieder mache. Als
wäre das mein Problem. Das liegt nicht nur an der Art
wie ich aussehe, aber auch. Vielleicht kannst du das
deshalb nicht verstehen, vielleicht machst du diese
Erfahrungen nicht. Aber die, die mich besser kennen,
verstehen warum ich jetzt hier weg muss.
Robert
Er war jetzt die meiste Zeit wach und dachte viel
nach. Woran er sich erinnerte, sah er deutlich, alles
andere wusste er nicht. Er konnte sich einigermaßen
schlüssig erklären, wie die Geschichte, oder Teile der
Geschichte passiert waren. Unterschiedene, von einander getrennte Episoden im Innern der Geschichte
ließen sich auch ohne analytische Eingriffe nacherzählen, sogar aufschreiben. Das war passiert. Er
wusste nicht genau warum, aber so war es. Er hatte
es seinem Bruder erzählt, aber der schien schon
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gewusst zu haben, was passiert war und wann. Es
blieb allerdings undeutlich, was nicht mehr dazu gehörte, ob irgendetwas oder irgendjemand nicht mehr
zu dem gehörte, was passiert war. Das lag nicht an
ihm, das lag in der Natur der Sache. So wie die Unterscheidung im Innern lag. Er konnte immer nur beides meinen, Anfang und Ende, das Beginnende und
das Nicht–Endende. Er wusste wie es angefangen
hatte und auch, dass zumindest ein Teil geendet
hatte. Die beiden Momente waren unterschiedlich,
aber nicht gegensätzlich. Sie hatten nicht gleichzeitig stattgefunden und waren mit sehr verschiedenen
Erinnerungen verknüpft. Aber kleine Lachen von Zeit
hatten sich um sie gebildet, wie Tropfen, die zusammenlaufen, wie auf dem grünen Nylonstoff, der sein
Dach gewesen war, vorher und hinterher. Wenn genug Wasser an einer Stelle zusammenkam, dann
drang es auch durch. Gerade wenn man den Stoff
berührte von der anderen Seite, bekam man nasse
Hände, einen nassen Kopf und das ganze Wasser,
die ganze Zeit, war angekommen im Innern. Und die
Zeit unter und neben dem Zelt hatte angefangen und
später aufgehört, das konnte er unterscheiden und
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beide Momente waren sich nicht ähnlich, was auch
bedeutete, dass sie nicht mehr Sinn machten, wenn
man sie hintereinander betrachtete. Es gab keinen
Moment, der ein Schlüssel war, der die anderen aufschloss, kein durch die Zeit gehen, wie auf einem langen Flur, sondern da waren vor allem Pfützen, durchdringende Nässe, und ein Mehrwerden von Wasser.
In den Tagen danach, als er sie wieder zählte, waren diese verschiedenen Augenblicke zum Ereignis
geworden. Das Ereignis war nicht ein Moment, es
waren mehrere Momente, die keinen Sinn ergaben.
Diese Momente zusammen nannte er das Ereignis.
Wie eine neue Art zu zählen, gab es nur noch ineinander verlaufende Zeitpunkte in seinem Kopf, auch
das war das Ereignis. Immer wenn er in Berührung
mit Wasser kam, wünschte er sich, es wäre nicht
passiert. Aber mit dem Ereignis hatten auch alle Momente vor dem Ereignis aufgehört von Bedeutung zu
sein. Bereuen hieße, das wusste er, darüber nachdenken. Er würde hier und heute darüber nachdenken müssen, was vor einiger Zeit passiert war. Hier
und heute wäre ein anderer Tag, an dem andere Entscheidungen möglich wären. Er fühlte noch den Fluss
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an sich und das Wasser aus den Leitungen in dieser
Stadt war von derselben Sorte. Er hatte oft Angst zu
ertrinken. Es gab Momente, jetzt, oder dann, wenn er
von kurz nach dem Ereignis daran dachte, da dachte
er, er wäre eigentlich gerne ertrunken. Er weiss auch,
dass das nicht stimmt. Diese Absicht war irgendwie
ein Zeichen für irgendetwas, das wusste er auch. Er
erinnert sich an den Schleim zwischen seinen Fingern als er aus dem Fluss stieg. Er erinnert sich nicht,
gefunden worden zu sein, auch nicht, sich versteckt
zu haben.
P. I.
Am Anfang erinnert er sich selten. Er sieht immer alles mit andern Augen. Vierzehn Stunden Schlaf, die
Augen gehen auf und es sind immer andere. Aufwachen am immer gleichen Ort und das trotzdem immer
vergessen. Jeden Tag vergessen, wo das noch mal
ist, wie die Decke aussieht, und die Wand, und die
andere. Irgendwelche Dinge sind in der Zwischenzeit passiert. Der immer gleiche Ort ist falsch, nicht
gleich. Während im Kopf alles direkt hintereinander
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passiert und dazwischen immer noch Sachen, die
gar nicht passiert sind auch noch passieren, wo
im Halbschlaf Köpfe rollen, manchmal seiner, und
manchmal erst nachdem der erste Hieb seiner Henkerin nicht gleich das Ende war. Nie findet die Langeweile dazwischen statt. Da kommen alle auf einmal vor und er ist nie alleine. Hier die Wand und die
Decke und die andere, alles gleich. Schlaf ist wie ein
guter Freund. Er kann gut Zeit verbringen mit Schlaf.
Dann wach sein. Dann die anderen, nicht so gute
Freunde. Aus dem Haus, nie aus dem Haus raus, immer nur in den Garten, niemanden sehen. Das ist einsam, aber besser als Freunde treffen und sich gleich
beschissen fühlen. Dann lieber niemanden treffen. In
wacheren Momenten gibt es Tagträume. Als er einmal
aufwachte und nicht wusste, wie er da hin gekommen war, wo er war. Manchmal hätte er sich gerne
geschlagen, am liebsten mit ihr. Er weiss auch dass
das nicht geht und eigentlich will er das auch nicht,
will er etwas ganz anderes. Einmal nachts hatte er
Bier auf das Grab seiner Mutter gegossen. Da wollte
er einen Drink mit ihr teilen, auch wenn sie Bier nie
sonderlich gemocht hatte. Aber dann war ihm klar
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geworden, wie bescheuert das aussehen musste und
er war schnell nach Hause gegangen. Später irgendwann wurden aus den Stunden aus Selbsthass und
namenlosen abc–Serien, bei denen er weint, eine
Phase seines Lebens. Er fragt sich, was andere Menschen machen, wenn sie so einsam sind wie er. Was
sind das überhaupt für Gefühle, fragt er sich, und
wechselt die Sender. Gibt es andere Gefühle außer
Angst und keine Angst haben? Er fängt an zusammen
zu fassen, was er sieht. Er schreibt Kommentare, die
niemand liest.
Elaine
Sie erinnert sich noch daran, als D. das erste mal
von ihrem öffentlich geführten Tagebuch erzählte.
Das war etwa 2001 und sie hatte es für den grössten
selbstverliebten Quatsch gehalten, so verrückt, sie
hatte nicht gewusst, was sie sagen soll. Das hatte
auch daran gelegen, dass das Internet damals noch
nicht so eine Rolle spielte in ihrem Freundeskreis.
Auch wenn sie schon immer gerne bescheid wusste
über alles Neue und auch neuen Gadgets und
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Spielzeugen nicht abgeneigt war, war sie keine Visionärin. Heute schrieb sie schon lange keine Briefe
mehr und verschwendete auch sonst so wenig Zeit
wie möglich. Wie damals ging auch jetzt an jedem
Tag, zu jedem Zeitpunkt ein Schnitt durch ihren Bekanntenkreis, genauso wie durch die übrige Bevölkerung. Dieser Schnitt trennte die Öffentlichkeit von
allen anderen. Da waren die einen, die schon wussten was passiert war und die anderen, die immer
noch ganz mit sich beschäftigt waren. Auch damals
schon schaffte man besser irgendwann den Sprung
in die Öffentlichkeit, holte Informationsstände auf und
wusste bescheid wie alle anderen. Man konnte sich
eine Zeit lang wehren, man hatte die Zeitung nicht
gelesen, kein Radio gehört, man konnte auch mal für
ein paar Tage in den Urlaub fahren und nicht zu erreichen sein. Aber eigentlich gab es nicht mal damals
eine gute Entschuldigung, wenn man von etwas nicht
wenigstens nach den Abendnachrichten wusste. Ihr
erstes Smartphone war ein Blackberry gewesen, das
kaufte man damals, oder man ließ es sich schenken, so wie sie. Irgendwann hatte auch sie angefangen Fotos von sich ins Internet zu stellen, nicht als
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Tagebuch, aber doch Aufnahmen ihrer Ausflüge, Lunches und Treffen. Da wusste sie schon wie das funktionierte. Da war es schon Teil von ihr geworden, ihr
Urteil als das Urteil anderer zu verstehen. Sie wusste,
dass es manchmal schwer war, einen Körper zu haben und dass es ihre Unsicherheiten waren, die sie
gemein zu anderen machten und dass Anerkennung,
gerade männliche Anerkennung, manchmal wie ein
sicherer Hafen wirken konnte, wenn man auch nicht
für immer bleiben konnte, nicht zuletzt weil auch sie
älter wurde.
Sie hatte keine öffentliche Entschuldigung gewollt.
Diese Öffentlichkeit, die jetzt da draußen auf sie wartete, bildete sich ein zu wissen, was es bedeuten
musste für sie und ihren Mann, für die Familie. Sie
hatte eine ganze Weile versucht, die Blicke, denen
ihr zerbrochenes Familienglück ausgesetzt war, zu ignorieren. Es hätte ihr ein Ritual einfallen müssen, ein
Ersatz für die Pressekonferenz und den sprichwörtlichen Kniefall, der jetzt von ihm erwartet wurde und
den sie, erwartungsgemäß, annehmen würde. Es war
ihr nicht eingefallen und sie stand hier und wartete.
Er würde jetzt der Öffentlichkeit erklären, wie sein
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Zusammenbruch passieren konnte, es ihr erklären,
aber eigentlich allen anderen und sie würde ihm verzeihen, in dem sie lächelte und ihn wieder aufnahm
bei sich zu hause, in dem Haus, das so sehr seins
war wie ihres. Sie würde nicht öffentlich sprechen
müssen, sie hatte ja schon so viel durchgemacht,
aber sie würde sich doch öffentlich erklären, einfach
weil sie auch dasteht und er damit sein öffentliches
Urteil empfängt, das sie ausspricht oder fällt, indem
sie dasteht und sich anhört, was sie nicht verstehen
kann oder will, weil sie eben auch nichts damit zu tun
haben will, nicht Teil der Geschichte sein will, auch
wenn sie es längst ist, will sie es nicht, noch nicht
mal, um das Urteil zu fällen. Denn sie hat keine wirkliche richterliche Gewalt, niemand will hören, könnte
verstehen, wie sie ihn hasst, auch wenn alle ihr Recht
geben und öffentlich bekunden, wie schwer es für
sie sein muss, aber es ist nicht schwer. Sie könnte
ihn umbringen, das ist alles. Sie betritt hinter ihm den
Raum.
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Robert (einige Zeit später)
Er schläft wieder mehr als er wach ist, denkt aber
immer noch viel nach. Nicht nur die Zeit, die vor ihm
lag war ihm unbegreiflich. Am Anfang, oder irgendwann danach, hatte es Pläne gegeben, davor, und
dann hatte sich dieser Abstand einfach verringert,
von sich zum Ereignis, und sie waren ineinander gefallen, sein eigenes hier und jetzt, und dann war es
wahr geworden, und von innen gesehen war seine
Selbstauflösung vor allem furchteinflössend, nicht zuletzt, weil sie ja gar nicht funktioniert hatte. Die Therapie, die er öffentlich versprochen hatte, seiner Frau
versprochen hatte, brachte ihm bei, den Fluss als Bild
zu verstehen, sich sein Ertrinken von außen an zu sehen, keine Angst mehr zu haben vor dem Wasser.
Da konnte er ruhig im Dunkeln sitzen, an der tiefsten
Stelle, da sei Ruhe, sagte die Therapie. Von da aus
gesehen konnten die tiefen Punkte auch ein Ort der
Heilung sein. Den Fluss begann er ganz im Sinne der
Bildsprache der Therapie als eine temporäre Position
zu verstehen, etwas durch das er durch musste, aber
auch etwas, aus dem er irgendwann heraustrat. Im
wirklichen Fluss war es sehr kalt gewesen und die
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Strömung hatte ihn Kilometer weit fortgerissen. Aber
der Fluss als Bild, als Position, war ein ruhiger Ort,
an dem er noch kurz aushalten konnte. Von hier aus
konnte er sich wieder aufbauen, nicht Kraft schöpfen,
aber heilen. Wenn er sich konzentriert und nicht versucht, sich nicht zu erinnern, dann kann er es manchmal auch so sehen: Im Moment in dem er sich auflösen wollte, war er er selbst geworden. Er hatte seit
dem das Gefühl, eigentlich alle anderen Menschen
besser zu verstehen. Nicht dass er besonders viele
andere Menschen traf, aber so stellte er es sich vor.
Jede seiner alltäglichen Begegnungen ist aufgeladen von diesem Gefühl des Verständnisses. Er denkt
viele Stunden über den Blick der Kassiererin nach.
Er denkt, dass er sie verstehen kann, dass er weiß,
was sie denkt. Das ist alles nicht wahnsinnig komplex, nicht nur deswegen weil es um die Kassiererin
geht. Da kann man ruhig von sich auf Andere schließen. Das ist bei allen gleich. Niemand hat Scham für
sich gepachtet und jetzt kann er sie in allen lesen.
Wie er überhaupt alles lesen kann. Gesichtsausdrücke, Körper, Gesten kann er, als geheilter Mann, wunderbar dechiffrieren.
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P. I. (zur selben Zeit)
Die Schreibfehler sind ein Spaß, den er sich nur kurz
durchgehen lässt. Dann geht er zurück und bessert
alles wieder aus. Die eingehaltene Ich–Perspektive
macht das Anfangen einfacher, trifft aber doch nie
ganz den Ton, auch weil er ja keine Bekenntnisse
mehr schreiben will. Es soll wütend klingen, es fängt
immer mit Wut an und dann ist er meistens zu müde.
Es wird dann doch eher wieder eine Introspektion mit
eine Prise Selbstironie. Das kann er gut. Witze über
sich sind ihm lieber als welche über andere. Er ist ein
höflicher Typ. Er erwartet nicht weniger von seinen
Mitmenschen. Das ist nur fair. Auf Serien–Fieber.net
schreibt er Rekapitulationen schon während der Aussendung und wird beliebter Kommentator.
Er sieht sich an, wie die Superhelden ihre Eltern suchen. In der letzten Folge der Staffel geht es darum, wie sie die Stadt unter der Erde finden, die auf
den Sternkarten zu sehen war, die alle im Kopf gehabt zu haben schienen. Daran war einiges unlogisch. Er schaut dann alle Folgen noch mal durch.
Es erklärt sich nicht besser, aber es ist spät geworden und er schläft ein. Und er sieht sich an, wie die
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freundlich–ungewöhnliche Familie alle Kinder adoptiert. Wieder hat er angefangen zu weinen, als die
beiden Mütter ihren Kindern erzählen, wie stolz sie
auf sie sind. Er kann nicht glauben, wie schlicht das
ist, und dass ihn so etwas schlichtes so überfällt,
dass er weinen muss, auch wenn er nicht will, das
enttäuscht ihn tief. Von sich selbst enttäuscht und
mit dem Wissen, dass seine Mutter kaum je zu ihm
gesagt hat, sie sei stolz auf ihn, schaut er die Folge
noch einmal an. Beim zweiten Mal ist die Stimmung
zynisch und er gefällt sich besser. Er sieht sich auch
an, wie Märchen heute aussehen. Sie haben taillierte
Lederjacken an. Das hält noch nicht mal er aus. Er
sieht sich an, wie Seifenopern heute aussehen. Es
geht um Politik und um dreckige Geschäfte. Das ist
alles ziemlich langweilig. Aber er bleibt für die Sex–
und Folterszenen. Manchmal wird aus Sex Folter und
andersherum. Das ist irritierend. Soll er das aufregend finden? Ist diese Sendung für ihn gemacht? Ist
es zu spät sich das zu fragen?
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Robert
(noch etwas später, kurz bevor es wieder losgeht.)
Er versteht jetzt einiges viel besser, als er es früher tat.
Man darf den eigenen Schmerz nicht verwechseln mit
der Welt da draußen, mit dem was wirklich unerträglich ist. Er konnte ja, vielleicht im Gegensatz zu anderen, aber mit genauso viel Recht darauf, wieder glücklich werden, sich mit Liebe und Heilung beschäftigen.
Und genau das hatte er vor, jetzt wo er alle anderen
so gut verstehen konnte. Manchmal wurde sein Verständnis auch zum Problem, aber er konnte nicht für
andere mitwachsen und wenn seine Frau ihm immer
weniger erzählte, lag das vielleicht nur daran, dass er
aus jedem ihrer Sätze herauslesen konnte, was sie
wirklich sagen wollte, also auch ihre Angst und ihre
Scham. Vielen war das zunächst unangenehm. Aber
er würde seine neuen Fähigkeiten, seine Sensibilität
einzusetzen wissen. Er würde versuchen, anderen damit weiterzuhelfen. Darum ging es jetzt. Keine ästhetischen Experimente mehr, keine Kritik an denen, die
ihm eigentlich seine Zeit gaben, um über alles nachzudenken. Stattdessen wollte er zuhören und lieber
noch ein bisschen besser sprechen lernen.
34
IV
We fight from Nine to Five!
The Furious Five
Nach den Ereignissen des Frühlings hatte sich der
Sommer träge dahin geschleppt und wurde von einem frühen Kälteeinbruch geschluckt. Vom Rheindelta stiegen die feuchten Nebel auf, welche Trier
über weite Teile des Jahres in eine Schimäre verwandelten. Die Abwinde von den Bergen Massachusetts
drückten die Feuchtigkeit in die Stadt, wo sie sich
über Wochen festzusetzen drohte. Früher einmal war
das Mikroklima des Unterrheins ein wichtiger ökonomischer Faktor für Trier, bot es doch ideale Bedingungen für die Nebelfischer, die außergewöhnlich
reiche Fischgründe vorfanden. Eine lebhafte Industrie von Krabbenfischern hatte sich hier im beginnenden 19. Jahrhundert entwickelt, wo die phosphoreszierenden Dunstkrabbenkolonien es ihnen besonders
leicht machten. Denn aufgrund seiner Breite und der
verschlungenen Serpentinenläufe wurde der Strom
gebremst, jedoch nicht ohne regelmäßig die weiten,
35
angrenzenden Auen zu fluten. Nach diesen Hochwassern brauchten die Fischer lediglich leicht gebückt die Wiesen entlang des Ufers abzuschreiten
und die kleinen leuchtenden Süßwasserkrabben in
Körben einzusammeln. Auf dem Fluss hüllte der Nebel die Fischer ein und half ihnen dabei, ihre Arbeit
im Großen und Ganzen recht unmethodisch zu verrichten, ohne dass es sich in den Erträgen niederzuschlagen schien. In seiner Blütezeit kam Trier einer
progressiven Utopie recht nahe, es gab Ansätze eines Matriarchats und einen frühen Feminismus, Freikörperkultur, wenn das Wetter es zuließ und eine
nahezu klassenlose Gesellschaft. Denn die klimatischen Widrigkeiten hielten die vergnügungssüchtige
und zum größten Teil arthritische Oberschicht fern
und nur wenige, ausgesprochen onkelige Vorsteher unter den Fischern organisierten den Handel mit
den Wirtschaftsbaronen außerhalb der Stadtgrenzen zum Nutzen aller. Der Reichtum in den Fanggründen und die relativ geringen Mühen beim Einfahren der Fische regten die Freizeitkultur unter den
Einwohnern Triers an. Institutionen, Zeitschriften und
Lesezirkel schossen aus dem Boden, die Schriften
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Fouriers und Juana Inés de la Cruz zirkulierten und
nicht wenige Bewohner übten sich in Kunst und Bogenschießen. Das alte, martialische Stadtwappen
wurde abgeschafft und die Symbolpolitik gänzlich an
das gemeinschaftliche Leben delegiert. Gesten der
Freundschaft und Unterhaltung, Revuenummern, Laientheater, Krabben– und Beerenweinfeste prägten
das Gemeinwesen und außergewöhnlicher Produzentenstolz begleitete die tägliche Arbeit. Doch während sich der Liberalismus in den Windungen des
Rheins immer weiter ausbreitete, drohte bereits der
Niedergang dieser Wohlstandsepoche. Denn unter
den begünstigten Fangbedingungen am Fluss dezimierte sich die Zahl der Krabbenkolonien rapide, so
dass schließlich nur noch die – in Geschmack und
Handelspreis – etwas minderwertigeren Flusskrebse
übrig blieben. Die im Kiesbett nistenden Krustentiere erschwerten zusätzlich das Einholen, während
gleichzeitig die Preise in den Keller stürzten, da außerhalb der Stadtgrenzen der Handel immer weitere
Märkte erschloss. Vielleicht war man in Trier durch
das weitgehende Ausbleiben der Jahreszeiten davon ausgegangen man könnte auch der Geschichte
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entfliehen, vielleicht auch nur zu sehr mit sich Selbst
beschäftigt, der wirtschaftliche Niedergang traf die
Stadt jedenfalls unvorbereitet. Innerhalb weniger
Jahre pflügte eine äußere Wirklichkeit das gewachsene Gemeinwesen um und für Trier folgte ein anhaltender Zustand ökonomischer Strukturschwäche.
Mit der Einführung von verfallenden Wertpapieren,
ähnlich Silvio Gesells Freigeld, versuchte man eine
kurze Zeit dem äußeren Druck standzuhalten, doch
der progressive Zustand war nicht lange zu halten.
Heute ist die Stadt eine verschuldete Gemeinde ohne
Bibliotheken und dem Mikroklima verdankt sie die Eigenart lästiger Wetterbedingungen. An die Vergangenheit erinnert hier wenig – ein gammeliges Stadtarchiv mit seinem angeschlossenem Museum, zwei
oder drei Kindergärten, der Rheinische Landbote
und ein ständig wechselndes Stadtwappen, welches
sich jedoch von erratischem Städtemarketing nicht
leicht unterscheiden lässt. Trotzdem haben sich einige Traditionen gehalten, wenn auch eher aus folkloristischer Neigung und regionalem Trotz, denn aus
gelebter Realität. An Weihnachten und Ostern findet noch immer das Flusskrebsfest statt, welches
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ursprünglich als Herzstück ritualisierter Säkularität
eingeführt wurde. Die Fischer sahen darin eine Möglichkeit die Kirche hinter sich zu lassen, ohne das
Verbindende der Feiertage aufgeben zu müssen. Für
dieses Fest wurden die Flusskrebse nach einem speziellen Mondkalender gefangen und ausschließlich
nachts verarbeitet, wobei jeweils der dritte Teil des
Ertrags schon bei der Zubereitung und roh verspeist
wurde. Die übrigen zwei Drittel wurden von ihrer
Schale befreit, leicht gesalzen, kurz in Butterschmalz
angebraten und dann über den Verlauf zweier Nächte
in Apfelcidre weichgegart. Die sich daraus ergebende sämige Soße mit Polenta aufgefüllt, in einer
Form zu einer festem Masse versteift, gestürzt und
anschließend geschnitten wie eine Torte. Die Tortenstücke schließlich, wurden mit je einer leuchtenden
Dunstkrabbe garniert und bildeten jeweils den ersten wie auch den letzten Gang des Festtagsmenüs.
Von der Polentatorte, welche auch noch heute als
Trierscher Zins bekannt ist, musste ein geringer Teil
in einer intimen Zeremonie dem Fluss zurückgegeben
werden. Worin diese Zeremonien bestanden, lässt
sich nicht mehr so genau sagen, da die vorliegenden
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Beschreibungen stark voneinander abweichen und
den Eindruck vermitteln, dass es sich um eine Praxis disparater Privatmythologien handelte. Alle Überlieferungen stimmen jedoch darin überein, dass die
Polentamasse, um Auftrieb herzustellen, in die Form
einer Barke gepresst werden musste und anschließend, durch Feuerwerkskörper angetrieben, in die
Mitte des Flusses treiben sollte. Was davor und danach passierte, wie viele Menschen den Vorgang begleiten durften, was man dazu trank und wem man
eigentlich wirklich was zurückgeben wollte, diese Fragen werden von allen Quellen unterschiedlich oder
gar nicht beantwortet. Übereinstimmende Erwähnung
findet aber eine Pressform aus verstärktem Leder,
die in Größe und Form an einen Schuh erinnert und
über Generationen von den Einwohnern Triers geteilt und weitergereicht wurde, um die Polentabarken
darin zu formen. Dem Fluss wird schon lange nichts
mehr zurückgegeben, dennoch hat sich neben dem
Trierschen Zins bis heute dieser grobe Lederstrumpf
als regionalspezifisches Zeichen erhalten und wird
in großer Zahl auf den Kleinkunstmärkten in und um
Trier angeboten. Wie wenig aber tatsächlich von
40
den ursprünglichen Intentionen des Flusskrebsfests
überliefert ist, zeigt ein Blick in die weihnachtlichen
Wohnzimmer der Stadt, wo die Lederform häufig
als Christbaumschmuck oder Kerzenhalter verwendet wird. Ein Stadthistoriker fasste diesen Umstand
einmal in folgenreicher Dialektik als historischen
Sieg der Massenkultur über die Geschichte zusammen und löste damit eine hitzige Debatte aus. Sein
argumentativer Dreisprung hatte die Raffinesse multiple Geschichtlichkeiten zu postulieren und gleichzeitig die animistische Tendenz diese als handelnde
Einheiten der Massenkultur an die Seite zu stellen.
Denn der Sieg der Massenkultur folge aus der Spaltung der Geschichte in eine faktische, historische
Zeit, die permanente Aufarbeitung fordere und eine
gelebte Geschichte, welche Gegenwart und Zukunft
umfasse. Diese Zeitformen würde die Massenkultur
gegeneinander ausspielen, so dass schließlich beide
Geschichtlichkeiten in Konkurrenz zueinander träten.
Als Agenten der Massenkultur hätten die fragmentierten Geschichtsformen zu ihrer eigenen Marginalisierung beigetragen und die Deutungshoheit der Vergangenheit aus der Hand gegeben. Das Ergebnis sei
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ein osmotischer Historizismus, der Desäkularisierung,
Mittelalterfestivals und überhaupt allen Anachronismen zugrunde läge.
Weder die These der Spaltung der Geschichte, ihr
Zugriff auf Gegenwart und Zukunft, noch der ihr zugewiesene Subjektstatus wurden öffentlich angezweifelt und man muss wohl davon ausgehen, dass
einige Kritiker geringen Sachverstand in die folgende
Debatte trugen. Weit vom eigentlichen Gegenstand
entfernt, entlud sich eine aggressive, vor allem aber
diffuse Diskussion, über die Haltungen des Historikers. Man warf ihm zunächst ressentimentgetriebenen Kulturpessimismus vor, übersah dabei jedoch
seine deutlichen Sympathien für die Leistungen der
Massenkultur. In einem ausführlichen Feuilletonartikel antwortete dieser seinen Kritikern, indem er ausdrücklich die prometheischen Qualitäten der Massenkultur, ihren Innovationsgeist und insbesondere ihre
geschichtsbelebenden Eigenschaften hervorhob.
Woraufhin man ihm protofaschistische Erfüllungsfantasien unterstellte, deren er sich ein weiteres Mal
sachlich zu erwehren versuchte. Man habe schließlich ein gemeinsames Ziel, schrieb er versöhnlich in
42
einem offenen Brief im Rheinischen Landboten, denn
es bestehe kein Zweifel daran, dass Geschichte sich
nicht in historischer Linearität erschöpfe. Es gelte
vielmehr Modelle zu finden, die der Komplexität der
Gegenwart entsprächen. Man sei sich, so glaube
er, darüber einig, dass nicht nur die Massenkultur die Geschichte bestimmte, sondern diese auch
durch eigene gelebte Formen weitererzähle. Die Teilschuld der Geschichte an ihrem eigenen Vergessen
sei es, sich gegen sich selbst zu richten und ihre eigene Trennung voranzutreiben. Das aber sei lediglich
eine Analyse der gegenwärtigen Historizität und daran keinerlei Telos, oder gar Erfüllungsfantasien geknüpft. Geschichte sei schließlich genauso gemacht
wie jeder mittelmäßige Kellerkuchen, schloss er mit
einem etwas unglücklichen Bild. Dieser augenzwinkernde Vergleich wurde unmittelbar als Überheblichkeit ausgelegt. Man fühlte sich belächelt und die Kritikermeute warf sich in die Debatte wie Raubtiere auf
ihre Beute, um den Historiker nun endgültig zu zerfleischen. Die Teilschuld der Geschichte wurde dem
Akademiker als persönlicher Fehltritt angelastet und
die Mittelmäßigkeit bezog man auf sich Selbst. Im
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Internet fegte ein Shitstorm die letzten sachlichen Argumente von der Oberfläche, dem Historiker wurde
in der Folge menschenverachtender Neofeudalismus,
Nestbeschmutzung, Kastendenken und Antiamerikanismus vorgeworfen. Bitter enttäuscht zog er sich
frühzeitig in den Urlaub nach Imperia zurück, wo er in
der Hitze Liguriens für einige Zeit verstummte. Zweimal am Tag schleppte sich ein gebrochener Mann die
Felsen zum Strand herunter und man sah ihn tief in
Gedanken versunken, ohne dass er selbst zu wissen
schien, was ihn gerade beschäftigte. So hatte der
Sommer weitere Eskalationsstufen dieser Debatte
verhindert und im Herbst war die Aufregung allgemeiner Indifferenz gewichen.
In Frühsommer, während der Historikerstreit noch die
Feuilletons beschäftigte, entlud sich, gewissermaßen
auf einer Nebenbühne, ein ebenso emotionaler, wenn
auch um einiges intimerer Konflikt, welcher die lokale
Kunstszene betraf. Denn auch in dem überschaubaren Kreis regionaler Künstler hatte sich ein Diskurs
entlang der Themen Historizität und Geschichtserfahrung, Kitsch und Craftsmanship entwickelt und
44
man hielt es sich zugute einen ästhetischen Zugang
zur Geschichte der Massenkultur zu ermöglichen. In
nicht ganz ironischer Begeisterung für die Authentizismen der Tradition, behaupteten zwei eifersüchtig
befreundete Maler die Erinnerung an die säkularen
Bräuche Triers in ihrer Arbeit erfahrbar zu machen.
Im Rückgriff auf die ledernen Pressformen des Flusskrebsfestes begannen beide ungefähr um den Jahreswechsel 2013/14 damit, ihre Bilder auf gestärktem
Leder zu malen. Die amorphen Lederstücke wurden
dafür vernäht, auf Keilrahmen aufgespannt und anschließend mit Knochenleim grundiert. Während aber
der eine der beiden Maler, Serge Wenzel, kleinere,
rechteckige Formate bevorzugte, die mit aggressiven Krusten von Essenresten überzogen waren und
in seiner Produktion Figuratives gänzlich ablehnte,
hatte sich Krailsheimer, der zweite Maler, darauf kapriziert menschengroße Shaped Canvases aus dem
vernähtem Leder zu produzieren, die er wie in einem
monströsen Fries unter die Decke hängte. Leicht anthropomorphe Formbilder wechselten sich mit den
Konturformen von Seefahrtmotiven ab. Das Leder war
an den meisten Stellen mit Sandpapier aufgeraut und
45
die Oberfläche dadurch hell und unregelmäßig. Vereinzelt fanden sich etwa faustgroße Schmauchspuren auf den Bildern, die aus der Nähe betrachtet den
zarten Eindruck äußerst kontrollierter Explosionen
vermittelten, auf Entfernung aber die Willkür von Kaffeeflecken ausstrahlten. An einigen Stellen waren die
Bilder perforiert, wobei Krailsheimer in einem Künstlergespräch darauf bestand, dass diese Perforationen
dem Produktionsprozess geschuldet waren und das
vernähen erst ermöglichten, also ihre Relevanz einzig aus ihrer Nützlichkeit zögen. Hier aber sah Serge
Wenzel, der befreundete Maler mit den Essensresten, die wirkliche Schwachstelle der Arbeiten und
verwies auf seine Bilder, die ja durchaus auch vernäht
seien, ohne gleichzeitig penetrante Perforationen aufzuweisen. Ein offener Produktionsprozess müsse ja
nicht immer gleich buchstäblich verstanden werden,
rief Wenzel mit überheblichem Lächeln aus dem Publikum. Und einigen Anwesenden erschien es so, als
habe er sich diese Pointe schon zu einem früheren
Zeitpunkt und für eine größere Öffentlichkeit zurechtgelegt. Übertrieben selbstbewusst bezeichnete Wenzel den Einsatz von Produktionsästhetik in der Malerei
46
als Gebrauchswertfolklore und er behauptete Nützlichkeit sei ohnehin eine debile Kategorie. Deutlich
in die Defensive gedrängt, konnte Krailsheimer nicht
anders als ebenfalls zurückschlagen und er bestand
nun seinerseits darauf, dass Essensreste in der Gegenwartskunst nichts weiter als regressive Theatralität darstellten. Eine Position die er persönlich einzig und allein einem wiederauferstandenen Antonin
Artraud zugestehen würde. Alles andere sei für ihn
nichts weiter als die Vermeesung der Kunst, wobei er
die mittlere Silbe unnatürlich lang betonte. Wenzel,
mittlerweile äußerst gereizt, wurde jetzt laut und behauptete, dass Krailsheimer gerade wieder seine Ignoranz unter Beweis gestellt habe, indem er gute 70
Jahre Kunstgeschichte oder welchen Zeitraum auch
immer er unter Gegenwartskunst verstünde, unter
eine banale Position subsumiere und damit wunderbare Regressionen schlicht und einfach missachte.
Von der Peinlichkeit der Szene bereits vollkommen
eingenommen, sah das schweigende Publikum jetzt
einen aufgestachelten Wenzel mit tiefrotem Kopf
zum nächsten Schlag ausholen. Dieter Roth, setzte
er nach, die unbekannten Nahrungsmittelexperimente
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von Forest Bess und insbesondere Trevor Davies
seien doch mit Meese nicht zu vergleichen.
– Wieso Trevor Davies? Welcher Trevor Davies? murmelte der nun angezählte Krailsheimer und man sah
ihm an, dass er zu taumeln drohte. Jetzt erst griff die
Kuratorin ein, die zuvor das Gespräch recht souverän moderiert hatte. Für einen Moment war sie von
der Verletzlichkeit der beiden Maler regelrecht enttäuscht gewesen, so dass sie zunächst nach Worten rang. Doch bald wieder im Besitz ihrer Souveränität und sichtlich um Ausgleich bemüht, lenkte sie
das Gespräch auf das regionale Brauchtum, welchem
schließlich beide hier anwesenden Künstler ihr Ausgangsmaterial schuldeten. Beim Wort Ausgangsmaterial verzogen jedoch, sowohl der angeschlagene Krailsheimer, als auch der nun stark schwitzende Serge
Wenzel nahezu synchron ihre ohnehin schon verbitterten Mienen. Beiden waren die Gefühle von Ekel
und Ablehnung deutlich abzulesen. Man ahnte, dass
man es mit einem gereiften Urheberschaftskonflikt zu
tun hatte und allen Anwesenden wurde unweigerlich
klar, dass diese Spannungen hier auf diesem Nebenschauplatz ausgetragen wurde. Angesichts dieses
48
Grundkonflikts war allerdings jeglicher Schlichtungsversuch zum Scheitern verurteilt. Tatsächlich gelang
es aber der nun wieder eloquent moderierenden Kuratorin den beiden Malern einige übellaunige und
einsilbige Antworten zu entlocken. Nach kurzer Zeit
wurde allerdings das Gespräch äußerst schroff von
Wenzel beendet, der nur auf den richtigen Moment
gewartet hatte, grußlos die Ausstellung verlassen zu
können. Die Kränkung saß auf beiden Seiten tief,
so dass man nicht nur das anschließend geplante
Abendessen vermied, sondern auch in den folgenden Sommermonaten kein Wort miteinander sprach,
während die lokale Kunstszene in dieser Zeit kaum ein
anderes Gossipthema fand.
Krailsheimer und Wenzel nahmen zentrale Positionen in Triers Kunstszene ein und so war es selbstverständlich, dass alle an ihren Auseinandersetzungen
Anteil nahmen. Der impulsive Serge Wenzel hatte,
seitdem er in den frühen 80er Jahren nach Trier gekommen war, eine beachtliche Produktivität an den
Tag gelegt und sich insbesondere in den letzten Jahren mit seinem Podcast Nicht hinauslehnen große
Aufmerksamkeit verschafft. In diesem einstündigen
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Format konnte man Wenzel dabei zuhören, wie er
sich mit abwesenden Malern unterhielt, indem er ihre
Stimmen imitierte. Er tat das empathisch, wenn auch
ohne besonderes Talent für die Feinheiten der Imitation. Männerstimmen wurden meistens gepresst
oder mit falschem Bass ein sonores Brummen erzeugt, welches Wenzel für Künstler reservierte die
vor 1980 verstorben waren. Frauenstimmen verlegte
er in ein überschaubares Repertoire an Kopfstimmen, was Serge Wenzel allerdings zu einer Klarheit
im Ausdruck zwang, die man von ihm sonst nicht
kannte. Weit entfernt von der Virtuosität ausgebildeter Countertenöre, klangen diese Stimmen angestrengt und hoch artifiziell. In guten Momenten gelang
es ihm aber mit den Kopfstimmen die prekäre Theatralität des späten Allessandro Moreschi herzustellen
und der Imitation dadurch ihre Lächerlichkeit zu nehmen. Aus diesem Grund sprach er besonders gerne
mit Künstlerinnen während seiner Sendung.
In den Gesprächen ging es um die Grundprobleme
der Malerei; Malerei und Gesellschaft, Malerei und
Krankheit, Malerei als Waffe, Malerei und Mord oder
Malerei als Meterware, wobei sich diese Themen
50
immer spontan aus dem Interviewverlauf entwickelten. Wenzel verließ sich in der Regel auf seine Assoziationskraft und die initiale Idee, dass die Malerei,
als kommentierende Disziplin, in einem redaktionellen Verhältnis zum Weltgeschehen stehe und mit
gelenkter Faszination zu eigentlich allem in Bezug
gesetzt werden könne. Im Rahmen dieser Malereimetapher sah er für sich selbst die Position eines leitartikelschreibenden Gonzojournalisten vor, der ausgewählten Lesern Erfahrungen vermittelte, welche
Wenzel nie gemacht haben konnte. Diese Annahmen
hatten Serge Wenzel dazu gebracht eine unmethodische Hermeneutik in die Gespräche einzuführen,
die alle besprochenen Themen seiner persönlichen
Perspektive unterzuordnen schien, dabei – und das
war Wenzel wichtig – aber nicht ohne Weltinteresse auskam. Auf dem Höhepunkt der Aufmerksamkeit hatte sich Nicht hinauslehnen in ein routiniertes
Talking–Heads–Format entwickelt, mit der entscheidenden Besonderheit, dass alle Gesprächsteilnehmer
Wenzels Kopf entsprungen waren und bestenfalls die
blassen Konturen ihrer Vorbilder wiedergaben. Dennoch war an diesen Gesprächen nichts unmittelbar
51
Satirisches auszumachen und er vermittelte großes
Interesse an seinen jeweiligen Gesprächspartnern.
Allgemein Umstritten war ein mehrstündiges Gespräch, welches Wenzel mit der schweigenden Lee
Lozano führte, deren Beiträge er durch lautes Atmen
füllte. Das Interessante dabei war vor allem, wie Wenzel die verschiedensten Stufen der Frustration durchlief, die das totale Schweigen seiner Gesprächspartnerin bei ihm auslöste. Mit Lee Lozano durchwatete
Serge Wenzel sämtliche Zustände der Vier–Säfte–
Lehre und das war an sich schon bemerkenswert, für
den Sanguiniker aber eine vollkommen unerwartete
Erfahrung. Von ursprünglicher Sympathie für die Konsequenz ihrer Haltung getragen, leitete er die Sendung durch lockere Assoziationen und persönliche
Erfahrungen der Stille ein, was Lozano mit gleichmäßigem Atmen aufnahm. Er sprach vom Regenerationstourismus in Kartäuserklöstern und dem Missverständnis der weißen Leinwand als Schweigen der
Malerei, um anschließend ausführlich von der Erfahrung der Stille in seinen Fieberträumen zu berichten.
Lozano atmete. Anfangs noch kumpelhaft belustigt,
stimmte Wenzel gelegentlich über die Dauer einiger
52
Minuten in ihr Schweigen ein, wohl auch um sich zu
Sammeln und mit weiteren Gedanken und Anekdoten abermals anzusetzen. Wenzel verlor sich für einige Zeit in der detaillierten Beschreibung der Badeszene des taubblinden Harald und seines Lehrers
in Werner Herzogs Land des Schweigens und der
Dunkelheit. Deutlich von seiner Sensitivität ergriffen, sprach er über die braunen Fliesen des westdeutschen Schulbades, Haralds erregte Spannung
im Wasser, die Synchronität der Abläufe zwischen
Lehrer und Schüler beim Duschen, das Einsetzen
der Bach Suite beim Baden und die Anteilnahme
der ebenfalls taubblinden Fini Straubinger vom Beckenrand. Es schien Wenzel jetzt deutlich zu irritieren, dass Lee Lozano auch hierzu nur schwieg.
Streng und traurig kündigte er für die kommenden
Minuten die Geräusche seiner Abwesenheit an. Im
Hintergrund konnte man die Waschmaschine laufen
hören und Serge Wenzel ging sich einen Kaffee kochen. Als er zurück kam, hatte er sich wieder ein wenig gesammelt und er begann sofort das Gespräch
mit weiteren Themen wieder aufzunehmen. Wenzel
sprach jetzt monotoner, er sprach von Schildkröten
53
als Haustieren, dem Unterschied von Stille und
Schweigen, Lippenlesern im modernen Fußball und
Gesprächen in den Techno–Clubs der 90er Jahre,
von denen er behauptete nicht das geringste verstanden zu haben. Offensichtlich hatte er sich nun vorgenommen seine Gesprächspartnerin herauszufordern,
indem er die Gedankenbrücken ausbaute und seine
Monologe mit nervenzehrendem Phlegma und immer
weiteren Einfällen in die Länge zog. Von den Lippenlesern und den Techno–Clubs der 90er Jahre führte
ihn sein Monolog zum Torfall in Madrid, wo 1998 vor
dem Anpfiff ein Fußballtor in Richtung der Zuschauertribüne geknickt war und den Spielbeginn um 76
Minuten verzögerte. Lee Lozano gähnte und Wenzel
wurde launischer. Ist Gähnen ein Beitrag oder nur reines Symptom der Müdigkeit? Serge Wenzel wirkte
verunsichert und stolperte in ein Netz von Plattitüden,
die er sich niemals zugetraut hatte und sich deshalb
still und unerbittlich vorwarf. Er sprach vom Geräusch
der Wolken, vom Geräusch der Stille, von Synästhesie und Auslassungen in der Musik. Kam von John
Cage zu Joseph Cornell, weil die geteilten Initialen
das nun mal nahelegten und hielt eine begeisterte
54
Rede über Rose Hobart. Cornells Found–Footage–
Film sei das bedeutendste Stück Langeweile, welches Obsession jemals hervorgebracht habe, so
Wenzel, während er sich insgeheim darüber ärgerte
Cage überhaupt erwähnt zu haben. Wäre Satie nicht
passender gewesen? Lozano hatte er zu diesem Zeitpunkt fast vergessen, es schien sie nicht zu stören.
Wenzel aber sah jetzt nur noch Störendes, vor allem
an sich Selbst und für die Dauer einer halben Stunde
richtete er sich ausschließlich an sein Über–Ich. Dieses Superego entfaltete sich als vernichtend kritische
Richtinstanz ohne Erbarmen und Wenzel sprach jetzt
schneller als gewöhnlich. Er wirkte fahrig und sprunghaft, verhaspelte sich zunehmend. Umständlich und
unnötig ausführlich, erklärte er, was ein McGuffin sei.
Sein Superego antwortete: Lame. In fast panischer
Reaktion verschleuderte er nun Pointe um Pointe, verschwendete Gesprächsthemen, die er sich für den
Höhepunkt der Sendung aufgehoben hatte. Wenzel
sprach von der asozialen Tat als ästhetisches Prinzip, er schwitzte stark. Wenzel sprach vom Anteil der
Nichtkunst in der Kunst; wo war dabei noch der gute
Gedanke? Er sprach von Selbstmord und Selbstbild
55
und schämte sich seiner Vorliebe für Alliterationen.
Serge Wenzel zitierte Rainald Goetz, wie dieser Heidi
Paris zitiert: Die Lücke, die wir hinterlassen, ersetzt
uns vollkommen und der Überwenzel antwortete ihm:
Boring, boring, boring. Dieser innere Sadist hatte nun
den Grad seiner größten Souveränität und Vernichtungskraft erreicht. Er bediente sich nur noch kleiner Gesten, welche seine Überlegenheit jedoch um
so stärker hervorhoben. Räuspern, nervöses Husten,
unruhig auf dem Stuhl nach vorne rutschen, all das
reichte aus, um Serge Wenzel kalt zu stellen. Der
Selbstvernichter gähnte schon bevor Wenzel den
Namen Rimb… ausgesprochen hatte. Das war der
Polizeigriff. Das Superego triumphierte endgültig und
Wenzel stockte. Er schwieg länger als zuvor und da
die Waschmaschine im Hintergrund nicht mehr lief,
konnte man ihn leise atmen hören.
Als Wenzel nach quälend langer Zeit wieder ansetzte
war auch Lozano wieder anwesend. Die Malerin
zeigte sich noch immer nicht Gesprächsbereit, aber
Wenzel bedrängte sie mit Fragen. Wo warst Du all
die Jahre? Warum sprichst Du nicht mit mir? Warum
machen wir das hier eigentlich? Serge Wenzel hatte
56
die Auszeit dazu genutzt seine Unsicherheit in einem
unerwarteten Kunstgriff nach Außen zu stülpen, wo
sie jetzt als ungesteuerte Aggression schubweise
abgegeben wurde. Wo beginnt Verachtung? Was
ist die Farbe der Wut? Wie malt man Ablehnung?
Warum sprichst Du nicht mit mir? Kennst Du Trevor
Davies? Warum sprichst Du nicht mit mir? Wenzels
erratisches Fragengewitter blieb natürlich unbeantwortet und diese Stille ließ seinen gereizten Ton äusserst despotisch erscheinen. Und wirklich unangenehm, wirklich despotisch wurde es mit der nächsten
Tirade. Wenzel schleuderte mit Ressentiments um
sich, er wurde anklagend und warf ihr den Rückzug
ins Verweigereridyll vor, ihre texanische Trailer–Park–
Seligkeit, bescheinigte Lozano ein phallozentrisches
Weltbild, nannte sie misogyn, äh misanthrop und es
klang als wütete er vor seinem Bücherregal. Einige
Bücher fielen krachend zu Boden und Lozano hyperventilierte, denn Wenzel war nun vollkommen außer
Atem geraten. Asthmatisches Röcheln füllte zwei unerträgliche Minuten. Wenzels Podcasthörer durchliefen in dieser Phase Fremdscham nach Fremdscham.
Er schien das zu spüren und er beschloss, die Sache
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doch nochmals anders anzugehen. Als Lee Lozano
nicht mehr nach Luft schnappte, war plötzlich auch
Serge Wenzel erstaunlich gefasst und ruhig, er
wirkte jetzt müde. Beide atmeten leise und gleichmässig. Das sei nicht schön gewesen, entschuldigte
er sich, aber nicht schön sei es auch sein Programm
hier ganz allein bestreiten zu müssen. Er frage sich
schon, warum sie überhaupt gekommen sei, wenn
sie von Beginn an vor hatte, hier nichts beizutragen.
Aber apropos Schweigen, das erinnere ihn an ein
Spiel aus seiner Kindheit, dabei sass man sich gegenüber und…Lee Lozano war erschöpft eingeschlafen, Serge Wenzel erzählte noch eine Weile weiter
und sein Superego ging sich einen Kaffee kochen.
Nachdem Wenzel diese Podcastfolge veröffentlicht hatte, nahm man ihm allgemein sein chauvinistisches Selbstdestruktionstheater übel und er frass
diese Kritik still in sich hinein. Über eine kurze Zeit
zeigte er für ihn ungewöhnliches soziales Unbehagen und arbeitete zurückgezogen an einer Nachfolgesendung, in welcher er die aufgeregten Reaktionen selbstkritisch aufzuarbeiten gedachte. Zu dieser
Sühnesendung kam es nicht mehr, denn am Ende
58
war es Krailsheimer, sein Freund und Nemesis, der
ihn überall leidenschaftlich verteidigte. Diese 130
minütige Aufnahme sei gelebter Liebesentzug und
Theater nur wenn man Theater als Dokumentation
des Möglichen verstehen möchte, so Krailsheimer.
Serge Wenzel verfüge über die paranoiden Erkenntnisse des Spieltheoretikers, dazu die Sensibilität eines Hypochonders und das offene Herz eines großen
Pathetikers. Wenigstens Wenzel schien zu verstehen,
was er damit meinte, es beruhigte ihn und man einigte sich darauf, die Freundschaft um ein weiteres
Jahr zu verlängern.
Triers Kunstszene, die all das mit Spannung verfolgte, schien von den Konflikten des Frühsommers
für eine Weile äusserst angeregt zu sein. Man fühlte
sich ein bisschen wie Damals, wobei dieses Damals
sich nicht genauer bestimmen ließ. Es musste jedenfalls zwischen 1978 und dem Beginn der neunziger
Jahre liegen, denn in ihrem Kern reichte die Szene
bis in die späten siebziger Jahre zurück und seit dem
letzten Jahrzehnt vor dem Jahrtausendwechsel hatte
Trier vor allem künstlerische Apathie erlebt. Man zog
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sich zurück, die wenigen Galerien schloßen nach und
nach und die individuelle Produktion vieler Künstler
litt unter der Notwendigkeit Geldjobs nachzugehen.
Einige wenige, darunter Krailsheimer und Wenzel,
nutzten diesen allgemeinen Eskapismus als künstlerische Weichenstellung für das was sie später die
Radikalisierung ihrer Praxis nennen sollten. Im wesentlichen Bestand diese Radikalisierung aus einer
gewissen Freude an der Apathie und kleineren Exklusionsspielchen, die vor allem diejenigen unter Triers
Künstlern zum Ziel hatten, welche sich auf Festanstellungen eingelassen hatten. In einer der wenigen
Ausstellungen die Krailsheimer in den 1990er Jahren
hatte, zeigte er unter dem Titel Der Kunst ihre Zeit
die freigelegten Stromleitungen des Ausstellungsraumes und eine kleine Serie ungerahmter Zeichnungen
auf Bierdeckeln. Damit hatte Krailsheimer für die folgenden Acht Jahre alles gesagt. Auch Serge Wenzel
zog sich stärker zurück und konzentrierte sich für eine
Weile aufs Schreiben. Er sprach gerne davon, dass
diese Texte nur für ihn selbst bestimmt seien und
er dachte darüber nach, seine bisherige Produktion
restlos zu zerstören. Dann aber erbte er ein Haus aus
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Familienbesitz und hatte fortan nicht nur kein Lagerproblem mehr, sondern noch dazu ein regelmäßiges,
wenn auch geringes Einkommen aus den Mieteinnahmen des Mehrparteienkomplexes. Wenzel wurde
Vermieter, gab darüber aber seine Produktion nie
gänzlich auf.
Zum überwiegenden Teil bestand die Szene aus zugezogenen Künstlern, die irgendwann dem irrtümlichen Ruf Triers gefolgt waren, eine Stadt mit Potenzial zu sein. Hatte man sich ursprünglich noch eine
Lower Eastside Entwicklung vorstellen können, so
wurde ab Anfang der nuller Jahre von Trier als dem
neuen Berlin gesprochen. Doch während man in
der Stadtverwaltung eher von einem neuen Bilbao
träumte, war man in der Folge unter Triers Hipstern
dazu übergegangen die Stadt, wenn nicht als das
neue Berlin, so doch wenigstens als das neue Detroit
abzüglich der Musikkultur anzusehen und Detroit immerhin war schließlich das neue Berlin, was das neue
New York war usw. Angesichts dieser Erbfolgeaussichten war es nicht unüblich sich unter den Künstlern Triers gegen alle Widerstände als Pioniere zu
verstehen. Lebte man doch in einer Stadt, die weder
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Bilbao, noch Berlin ähnelte, vielmehr den Charme von
New Jersey ausstrahlte, das Klima von Oslo erduldete
und das Nahverkehrsnetz von Los Angeles, die Kriminalitätsrate Johannesburgs, die Umgangsformen von
Wien, sowie die Fremdsprachenkenntnisse von Paris
aufwies. Dafür waren die Mietkosten seit Anfang der
neunziger Jahre stetig gesunken und erreichten alle
6 Monate ein neues Rekordtief. (Ein Tatbestand, der
dazu führte, dass Serge Wenzel sich wieder stärker
um Teilhabe am Kunstmarkt bemühte). Hier kann man
was machen, hieß es mal wieder zum Jahrtausendwechsel, doch auch die letzte Euphorie war nach den
Krisen der nuller Jahre einem Phlegma gewichen, was
dem Selbstbild der Pioniere deutlich zugesetzt hatte.
Dennoch waren es im Grunde diese Krisenerfahrungen, die das Bewusstsein für die eigenen Pionierleistungen über Jahrzehnte am Leben hielt. Denn wie die
Siedlertracks des 19. Jahrhunderts durchlitt man Plagen und Krisen mit erstaunlicher Resilienz, niemand
zählte die Opfer und die unerfüllten Hoffnungen kamen und gingen mit jedem Coffeeshop, wie sie hier
und da in der Nachbarschaft auf und bald wieder zu
machten. Nicht dass man unter den Pionieren die
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Gentrifizierung kaum erwarten konnte, es wäre nur
nett gewesen irgendwo einen guten Kaffee trinken zu
können.
Es gab viel Platz in Trier und ein paar der intakteren Innenstadtviertel erlebten den Zuzug kleinerer
Start–Ups, was zumindest die Stadtverwaltung begrüßte und mit Subventionen, billigen Immobilien
und Steuerentlastungen großzügig förderte. Die New
Economy Triers schuf sich in den verfallenden Gemeindebauten, eine Entsprechung der Garagenmythen des Valleys, und man versäumte es auch nicht,
die sorgfältig gepflegte Geek–Kultur und die Armut
des Anfangs durch ausgewählte Fotografen dokumentieren zu lassen. Ein Schachzug, welcher sich
unmittelbar als Ambitionsnachweis und in Form von
Start–Up–Credibility auszahlte, lange bevor man die
Geschäftsräume nach zeitgenössischen, selbstverständlich ironischen Farbenlehren umgestaltet hatte
und die alten Schreibtischböcke Egon–Eiermann–
Gestellen gewichen waren. Neben der Gründungsromantik hatte man aus dem Silicon Valley die durchaus
sinnvolle Idee, dass es bei einem Start–Up–Produkt
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irgendwie um Kommunikation gehen sollte, mitgebracht. So entstanden eine Reihe von Derivatanwendungen für bereits etablierte soziale Medien, die sich
vor allem durch ihre spezifischen, besser noch beschränkten Anwendungsmöglichkeiten auszeichneten. Triers New Economy schuf eine App, welche
leise akustische Signale verstärken konnte und unter dem Namen ASMRtist den wachsenden Markt
des Product–Unboxings, von Youtube–Flüsterkanälen und Sprachtutorials in Elbisch erschließen sollte.
Man produzierte hochsensibilisierte Mousepads für
manuelles High–Speed–Trading und erwarb sogar
Anteile der Smartphone Application Thummy, welche
einzig dazu diente, alleine mit dem Daumen Bilder beschneiden und in Webauflösung umrechnen zu können. Es überraschte die wenigsten, dass sich diese
Produkte auf längere Sicht nicht durchsetzten, so
dass bald der Verdacht aufkam, es handele sich bei
diesen Unternehmensgründungen lediglich um eine
realistische Aufführung gegenwärtiger ökonomischer
Bedingungen. Zwar wurden intern die jeweiligen Ziele
mit einer gewissen Identifikationsbereitschaft verfolgt,
aber den meisten Außenstehenden erschien es über
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weite Strecken wie eine undurchsichtige Farce, bei
der sich leptosome Jungunternehmer zu lauter Musik auf Sitzsäcken fläzten, während sie irgendwas
in ihren Laptop hackten. Ein so gewöhnlicher, wie
undurchschaubarer Prozess, der im grossen und
ganzen aber sehr gut zu Trier als wirtschaftlichem
Standort im Nebel passte. Erst viel später sollte sich
herausstellen, dass man tatsächlich einer Komödie
aufgesessen war und die strategischen Fäden hinter
diesen Unternehmensgründungen allesamt in der Anderson Group zusammenliefen. Nachdem schließlich
der Vorhang gefallen war, öffnete sich für Trier, Massachusetts – einen kurzen und erschütternden Moment lang – der Blick in die tiefschwarze Krämerseele
des Überunternehmers Kilian Anderson. Der Patron
der Anderson Group hatte in einem innovativen Geschäftstreflex kurzerhand das Prinzip des Creatio ex
nihilo ex nihilo erfunden und die gebündelte Unproduktivität immaterieller Arbeit eingesetzt, um Werte
zu schöpfen, die einzig aus der Darstellung von Unproduktivität hervor gingen. Als überzeugter Malthusianer richtete sich seine gesamte Schöpfungskraft
gegen die Symptome der Nutzlosigkeit und so war
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es aus seiner Perspektive nur folgerichtig den Anteil
von vermeintlicher Nicht–Arbeit in postfordistischen
Beschäftigungen wiederum für seine Produktivität
einzuspannen. All das Fläzen, Netzwerken, Pitchen
und Kaffee trinken hatte bei ihm einen ungleich direkteren Zugriff auf das Geld, operierte gar nicht erst
im dunstigen Reich des Möglichen, sondern war immer schon kalkulierbare Dividende, die es nur noch
abzuschöpfen galt. Man musste die Geeks nur gut
sichtbar im städtischen Raum ausstreuen und die
Subventionstöpfe der Stadt öffneten sich von ganz
allein. Nachhaltigkeit? Ja. Entwicklung? Ja. Projektarbeit? Ja, Ja, aber nur in eigener Sache, mit dem
größtmöglichen Nutzen und einem berechenbaren
Ergebnis. Trier zahlte Andersons Eigensinn mit großen Fördersummen, welche in den verschachtelten
Finanzmodellen diverser Offshore Gesellschaften seines Wirtschaftsimperiums versickert waren, während
der Haushalt dieser ohnehin schon hoch verschuldeten Stadt immer weiter in einem Meer von roten Zahlen zu versinken drohte.
So sehr sich der Rheinische Landbote auch darum
bemühte die Verstrickungen zu enthüllen, so komplex
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waren die Finanzkanäle gelegt und selbst Maja, für
kurze Zeit der Star unter den investigativen Journalisten Triers, hatte größte Schwierigkeiten Kilian Anderson Profite nachzuweisen, die im unmittelbaren
Zusammenhang mit den Subventionsdrainagen von
Triers New Economy standen. Es blieb bei vagen
Vermutungen und Anderson antwortete auf diese Anklagen, indem er kurzerhand den Mutterverlag der
Zeitung erwarb, eine Seilbahn auf den nahegelegenen Katzenbuckel stiftete und ein Privatmuseum eröffnete, welches seinem Werdegang gewidmet war.
Beim Pressetermin kurz vor der Eröffnung erschien
ein bestens gelaunter Kilian Anderson, der sich angesichts einiger Exponate einzelne Rührungstränen
wegdrückte und den Journalisten einfühlsam von seiner Familiengeschichte zu erzählen vermochte. Bei
den ausgestellten Objekten handelte sich um eine
große Zahl interaktiv erfahrbarer Familienfotos aus
dem Anderson–Clan und Reliquien eines global agierenden Wirtschaftslebens. Gezeigt wurden unter anderem die Gehhilfen, auf welche Anderson, als Folge
einer Sportverletzung, während einer Geschäftsreise
nach Mumbai angewiesen war und eine Auswahl
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von Serviettenzeichnungen, wie er sie bei langatmigen Verhandlungen gerne machte. Die versammelte
Presse lobte am folgenden Tag einhellig die mutige
Präsentation seiner Tagebuchfaksimiles als große
Geste der Transparenz. Der Sturm hatte sich gelegt
und Kilian Anderson segelte der Sonne entgegen.
Doch man sollte sich von diesem Subventionsfiasko nicht täuschen lassen, denn es gab durchaus
auch Erfolge, oder besser Teilerfolge auf Seiten der
Stadtregierung. Es war Trier gelungen in der Nähe
des alten Hafenareals eine Blindenstudienanstalt
anzusiedeln und dadurch neue Einwohner anzulocken, sowie einige bitter notwendige Arbeitsplätze
zu schaffen. Die sehbehinderten Akademiker halfen dabei den Mietmarkt etwas zu stabilisieren und
das Institut entwickelte sich in kurzer Zeit zu einem
Epizentrum interkultureller Begegnung. Die Blinden
belebten die Stadt nachhaltig. Doch wie jede städtebauliche Maßnahme immer auch Widerstände provoziert, so gab es auch bei diesem Projekt unvorhergesehene Probleme. Denn kurz nachdem die ersten
Studenten ihr Studium aufgenommen hatten, erlebte
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die Stadtverwaltung eine Springflut an gerichtlichen
Verfügungen, die allesamt auf Diskriminierungsklagen
beruhten. Beim Bau des Hauptgebäudes hatte man
grundlegende Gleichstellungsmaßnahmen aus Kostengründen vernachlässigt und auch die marode Infrastruktur Triers hatte deutlichen Verbesserungsbedarf
an Verkehrsanlagen, Bodenbelag und Straßenführung. Die Ampeln mussten mit akustischen und vibrierenden Warnanlagen versehen, Straßenübergänge
durch Schwellen gekennzeichnet, Flusspromenaden gesichert werden und insbesondere die üppige
Glas–Stahl–Architektur der Blindenuniversität erwies
sich in ihrem Aufbau als labyrinthisches Enigma für
Nicht–Sehende. Der vollkommene Verzicht auf ein
Leitsystem in Braille–Schrift war relativ leicht nachzubessern, größere Probleme bereiteten die Drehtüren, ausladende Betonplateaus, welche in die Architektur gestreut waren, sowie die diffuse Akustik, die
das Navigieren nach Gehör in diesem postmodernen
Schachtelbau unmöglich machte. Nach diesen Klagen etablierte die Opposition im Stadtrat kurzerhand
den Begriff der Blindförderung und nutzte jede Gelegenheit, die erfolgreiche Anwerbung des Instituts
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als Pyrrhussieg des Oberbürgermeisters Huebler zu
diskreditieren. Es half auch nicht, dass dieser eine
Integrationsdebatte dahin gehend eröffnete, dass es
den Nicht–sehenden gestattet werden müsse, ein Leben nach den Bedingungen der Sehenden zu leben.
Belastend kam hinzu, dass Huebler sich kurz darauf
bei einem intimen Empfang in den Hinterzimmern des
Presseballs im Gespräch mit einem Betriebsrat der
Anderson Print & Media Inc. etwas zu laut über die
Blindensignale beschwert und dabei von Lärmbelästigung gesprochen hatte. Sei es aus Hybris oder
als Folge seiner gegenwärtigen Proseccolaune, Mayor Huebler hatte sich jedenfalls nicht zuvor über die
Schultern geschaut. Denn hätte er das getan, so
wäre ihm sicherlich aufgefallen, dass direkt hinter ihm
Maja auffällig konzentriert mit ihrem iPhone beschäftigt war und so servierte er ihr an diesem Abend einen wahren Scoop, für den sie nicht einmal das Haus
hatte verlassen müssen. Maja tat was sie am besten
konnte und machte in kürzester Zeit aus der Integrationsdebatte eine folgenreiche Chauvinismusdebatte,
Trier erlebte einen weiteren Skandal und OB Huebler eine kurze Amtszeit. Gab es in dieser Stadt auch
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sonst nicht besonders viel verlässliches, so konnte
sich wenigstens Maja sicher sein, dass Trier genug
Konflikte bereitstellte, um in ihrem Job wohlgenährt
durch die Jahre zu kommen.
Als attraktive Bestsellerautorin war Maja der Quereinstieg in die Redaktion des Rheinischen Landboten
äusserst leicht gefallen. Nach dem Verschwinden von
Robert Anderson und der Trennung von P.I. hatte sie
sich für einige Zeit in B… mit einem neuen Buchprojekt beschäftigt, irgendwann aber festgestellt, dass
ihr der Feldherrenhügel der Ratgeber– und Femmeliteratur zu wenig Selbstbegegnung ermöglichte. Ihrer
Agentin erklärte sie, dass sie zwar noch über die gesamte Fülle ihrer Talente verfüge, sich jedoch beim
Schreiben nicht mehr spüre – der Erfolg tue ihr einfach nicht gut. Sie habe darüber hinaus feststellen
müssen, dass Ihr Lebenslauf ohnehin zu komplex und
aufregend sei für die Top–Down–Logiken der Selbstoptimierungspraxis. Das sei keine Produktionspanik, versicherte Maja, Schreibblockaden kenne sie
nur aus Fernsehserien und für Sinnkrisen habe sie
nun wirklich keine Zeit. Tatsächlich war sie viel zu
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sehr Kraftwerk, um ins Zaudern zu geraten und so
stürzte sie sich in einen weiteren Neuanfang. Im Sommer 2013 war sie nach Trier zurückgekehrt, um sich,
wie sie sagte, in bekannter Umgebung neu zu orientieren. In der Hoffnung auf unmittelbare Selbstbegegnung durch Andere, machte sie sich mit einem kleinen
Unternehmen unter dem Namen ConsuLife selbstständig und im Register der Wirtschaftskammer bot
sie ganzheitliche Lebensberatung, allgemeines Coaching, Hilfestellung zur Erreichung einer körperlichen
bzw. energetischen Ausgewogenheit mittels der Methode von Dr. Bach, mittels Biofeedback oder Bioresonanz, mittels Auswahl von Farben, mittels Auswahl
von Düften, mittels Auswahl von Lichtquellen, mittels
Auswahl von Aromastoffen, mittels Auswahl von Edelsteinen, mittels Auswahl von Musik, unter Anwendung
kinesiologischer Methoden, mittels Interpretation der
Aura, mittels Magnetfeldanwendung, durch sanfte
Berührung des Körpers bzw. gezieltes Auflegen der
Hände an bestimmten Körperstellen, mittels Cranio–
Sacral–Balancing, durch Berücksichtigung bioenergetischer, geobiologischer, elektrobiologischer, baubiologischer und geomantischer Gesichtspunkte,
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durch Berücksichtigung der Auswirkungen der energetischen Geometrie und Lichtphysik, mittels Feng
Shui, Zen, Vastu bzw. anderer lebensraumrelevanter
Aspekte verschiedener Epochen und Kulturen, mittels
Numerologie, mittels Wassersuche sowie radiästhetischen Untersuchungen mit Rute, Pendel etc., mittels
Wahrnehmung raumenergetischer Phänomene mit
und ohne Geräteunterstützung, durch Berücksichtigung von Planetenkonstellationen und lunaren Energien an. Wie nebenbei heilte sie auch die ein oder andere Neurodermitis und manchen ihrer Klienten gab
sie gelegentlich auch Anlagetipps mit auf den Weg.
Für eine Weile machte sie sich auf die Suche nach
einem gemütlichem Büro, bis sie feststellte, dass sie
in Sportkleidung die viel bessere Wirkung erzielte
und so nahm sie ihre Klienten für Anwendungen mit
auf ausgedehnte Walkingtouren durch die Parkanlagen der Stadt. Ihr Anspruch passte einfach nicht
in geschlossene Räume und frische Luft steigerte
ihre Luzidität.
Ein Grundstamm von Ratsuchenden fiel ihr praktisch
in den Schoss, als sie beim Einkaufen eine ehemalige Schulfreundin traf, die nur auf die Gelegenheit
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gewartet zu haben schien, mit ihr Zeit zu verbringen.
In der stillen Hoffnung mit einem Celebrity befreundet zu sein, konsultierte sie Maja regelmäßig und verrichtete eigenmächtige, aber durchaus erfolgreiche
Akquisearbeit in ihrem Freundeskreis. Der Wert von
Mundpropaganda, so Maja, ist nicht zu überschätzen
und so lud sie die Schulfreundin gelegentlich zu Fingerfood auf ihre Terrasse ein. Sie wusste aber, dass
sie vorsichtig sein musste mit diesen Verhältnissen,
denn ihre Leistungen waren von Freundschaftsdiensten teilweise ununterscheidbar und in diesen Beziehungen wuchsen Missverständnisse wie Sporen in
feuchten Kellern. Um ihre Integrität zu wahren und
professionell abrechnen zu können, hatte Maja sich
die freundliche Distanz einer Hebamme zugelegt und
so sprach sie auch gerne von sich als Geburtshelferin eines neuen Lebens. Kaum eine Intimität war ihr
zu krass, denn im Grunde interessierte sie sich nicht
allzu sehr für die Leben der Anderen und drohte doch
einmal ein Gespräch einen deprimierenden Verlauf zu
nehmen, so hatte sie immer ein gut bestücktes Arsenal von Lifechangern – kurze, optimistische Parabeln
über ihre Lebensentscheidungen – zur Hand und
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konnte damit das Gespräch elegant, aber bestimmt
an sich reißen. Für eine Person mit ihrem Selbstbewusstsein hatte sie jedoch eine außerordentliche Fähigkeit Projektionsflächen zu bilden und ihre Klienten
schätzten ihre umfassende Lebenserfahrung. Und
wirklich, sie schien die widersprüchlichsten Dinge
erlebt zu haben. Unerfüllter Kinderwunsch und das
schwinden des Eros in Langzeitbeziehungen mit Kindern, Tier– und Objektliebe, Singleleben und Dreiecksbeziehung, Hetero– und Homosexualität, Dom
und Sub, für alles hatte sie glaubhafte Erfahrungen
aus erster Hand aufzubieten. Auch deshalb schien
es ihr ratsam eine gewisse Distanz zu ihren Klienten aufrecht zu halten und ihr Privatleben etwas geschützter zu leben als es ihr sonst eingefallen wäre.
Nach einem guten Jahr im Wohlstand, hatte die Langeweile sie eingeholt und ihre Angst vor einer möglichen Steuerprüfung bewog sie dazu, sich abermals
umzuorientieren. Ihren Klienten schrieb sie in einer
SMS, dass es jetzt um sie gehen müsse und sie unmöglich ihre weiteren Talente länger brachliegen lassen könne. Nun sei die Zeit gekommen wieder etwas
Neues zu wagen. Maja dankte allen für ihr Vertrauen
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in sie und jedem einzeln für ihr jeweiliges Vertrauen
in ihre je eigenen Entscheidungsfähigkeiten. Wenige
Wochen später hatte sie schon in der Redaktion des
Rheinischen Landboten angeheuert. Maja fühlte sich
das erste mal seit langer Zeit wieder richtig frei – ihre
Ohren, ihr Mund und Herz gehörten einfach auf die
Straße. Sie hatte das Schreiben vermisst.
Majas Einstieg in die Redaktion des Rheinischen
Landboten fiel mit dem allgemeinen Niedergang der
Lokalpresse zusammen. War sie von Seiten der Redaktionsleitung noch als Kolumnistin eingeplant, die
mit ihrer Popularität den fallenden Absatz etwas abfedern mochte, so gelang es Maja aber beim Vorstellungstermin mit der ihr eigenen Suggestivkraft und einer mitreißenden Rede zur Bedeutung redaktioneller
Arbeitswirklichkeit, so etwas wie Optimismus zu verbreiten. Ihr ging es um nicht weniger, als die Rettung
des Print– und Qualitätsjournalismus und von den Logenplätzen der Kolumnisten sei ein solches Vorhaben
unmöglich durchzusetzen. Auf ihren Wunsch richtete
man ihr einen Arbeitsplatz im Zentrum des noch immer
pulsierenden Redaktionsalltags ein. Im Großraumbüro
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der Zeitung, dem Bauch der Redaktion, spüre man,
bevor man überhaupt wissen könne, behauptete sie
gegenüber dem Chefredakteur Erlich, der sich unmittelbar in sie verliebt hatte. Dieses Antizipationswissen,
gewissermaßen über die Haut von Redakteurin zu Redakteur übertragen, sei die Grundlage anspruchsvoller tagesaktueller Realitätsbewältigung und ein wesentlicher Wettbewerbsvorteil gegenüber der Isolation
der Blogger. Was das Blatt jetzt benötige sei ein pumpendes Herz im Zentrum dieser Übertragungen, um
die Informationen schnell und geleitet zirkulieren zu
lassen. Dem Gehirn sei eine solche Funktion nicht zusätzlich zuzumuten und demnach würde sie den Chefredakteur auch nicht in die Pflicht nehmen wollen, so
Maja, sie könne sich aber durchaus vorstellen diese
Aufgabe zu übernehmen, um mit ihren Möglichkeiten
auch gleich noch die grauen Zellen in der Chefetage
mit Sauerstoff zu versorgen. An diesem Tag bezog
sie ihren Schreibtisch inmitten der Redaktion und die
einzelnen Ressorts des Rheinischen Landboten wurden um sie herum angeordnet, als befände man sich
nicht in den Büros einer Zeitung, sondern erlebte das
Innere eines Benthamschen Panoptikums.
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Wenn Maja morgens aus dem Nebel der Stadt trat
und mit der Hand über ihren Arbeitsplatz strich, genoss sie für einen kurzen Moment jenen Zustand,
den sie das Blätterrauschen nannte, es knisterte um
sie herum, die Poren öffneten sich, osmotisch zogen
ihre Zellen die Informationen aus der Luft, Serotonin schoss durch ihren Körper und das Herz begann
kräftig zu schlagen; ein neuer Tag konnte beginnen.
Mit Maja hatte sich der Erfolg eingestellt und zum Jahresende konnte Erlich der, um einigen Druck erleichterte Chefredakteur des Rheinischen Landboten, die
beste Quartalsbilanz seit Jahren vorweisen, er fühlte
sich so leicht wie schon lange nicht mehr. Mit seinen Gefühlen gegenüber Maja, waren auch die Absatzzahlen der Zeitung gewachsen. Das kommende
Jahr lag wie ein großes Versprechen vor ihm, wann
hatte er das letzte Mal solche Zuversicht gespürt?
Erlich dachte jetzt kaum mehr an seine Exfrau und er
genoss die Arbeit wie nie zuvor, mit Maja in der Redaktion fühlte er sich als Chef unter Gleichen. Sanfte
Hände, fester Griff hatte sie ihm einmal in einer Kaffeepause, während eines ausgiebigen Gesprächs
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über Führungsstile, als Rat mit in sein Büro gegeben
und da es aus ihrem Munde kam, war Erlich bereit
dieses Prinzip auf sein ganzes Leben anzuwenden.
Er übte sich in bestimmter Zurückhaltung, sah sich
als sanften Mentor, während gleichzeitig seine Fantasie die Grenzen ihrer Möglichkeiten abtastete. In Erlichs Tagträumen breitete sich ein zeitloser, arbeitsfreier Zustand vor ihm aus, in dem sie beide, Maja
und Erlich, im Bett lümmelnd, frühstückten, als seien
sie Jennifer und Jonathan Hart, die aus reiner Muße
aufklärerisch in die Gesellschaft hineinwirkten – einfach nur weil ihre Liebe nun mal Überschüsse produzierte. So lange war es her, dass Erlich ferngesehen
hatte, ein Defizit, welches seine Fantasie deutlich zu
beschränken schien.
Maja hingegen hatte sich, nicht zuletzt mit Hilfe von
Erlich, Zugang zu den Hinterzimmern der Gesellschaft erschlossen, aus denen sie in der Folge Skandal um Skandal ans Tageslicht zerrte. Der Rheinische
Landbote entwickelte unter ihrer Zugkraft das Profil
einer vierten Gewalt, die diesen Namen auch verdiente und selbst ihre Feinde mussten rückwirkend
anerkennen, dass sie es geschafft hatte in nur einem
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Jahr in dieser Redaktion, fast schon eine eigene Ära
zu prägen. Man lobte Majas Integrität und es fanden
sich nicht wenige unter ihren medialen Opfern, die
zumindest ihre Hartnäckigkeit zu schätzen wussten.
Doch selbstverständlich beförderte diese kompromisslose Härte auch Widerstände und wie jede ehrgeizige Persönlichkeit, kam auch sie nicht ohne das
ein oder andere Karrierescharmützel aus. Ihr Auftrag
verlangte es von ihr, hier und da auch mal jemand
hinter sich zu lassen und so wuchs das Lager derjenigen, die sie am liebsten am Boden gesehen hätten.
Ehemalige ConsuLife–Klienten von denen sie zu viel
wusste, die Zielpersonen ihrer zahlreichen Scoops,
Kolleginnen und Kollegen, die ein oder andere Sekretärin, halbseidene Gewerkschafter und Luden,
Krabbenfischer und Postboten, sie alle hegten ihre
je eigenen Abneigungen gegenüber der kompromisslosen Journalistin. Doch wie auch Krankheiten sich
gegenseitig in Schach zu halten vermögen und dadurch das Ausbrechen einzelner Symptome gelegentlich verzögern, hatte die heterogene Zusammensetzung dieses Lagers wirksame Allianzen gegen
sie verhindert und so war es am Ende ein einzelner,
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dafür ungleich mächtigerer Gegenspieler, welcher ihrer Karriere beim Rheinische Landboten ein schnelles Ende bereitete.
Noch am Morgen ihrer Entlassung im Oktober 2015
erschien ein kämpferischer Leitartikel in welchem
Maja schrieb, das Problem und das Glück des Lebens im Spätkapitalismus sei die soziale Vergleichbarkeit, das eigentliche Problem aber die Last der Vielen, die das Glück nur als fehlendes Glück kannten,
die Probleme des sozialen Vergleichs dafür tagtäglich
und ausschließlich antrafen. Dort aber wo das Glück
mit vollen Händen ausgestreut war, setze der soziale
Vergleich aus, da man sich letztlich nur noch mit sich
selbst vergleichen konnte und man diese Spiegelsucht wohl kaum mehr als soziale Angelegenheit betrachten könne. So werde das Problem des sozialen
Vergleichs ein weiteres Mal zum Problem des weitaus
größeren Teils der Gesellschaft, da Probleme nun mal
nicht einfach von selbst verschwinden, sondern lediglich verlagert würden. Dadurch entkoppele sich aber
letztlich das Glück des weitaus geringeren Teils der
Gesellschaft vom sozialen Vergleich und damit dem
Problem, um letztlich nur noch problembereinigten
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Eigensinn zu produzieren. Irgendwie rettete sie dieses Gleichnis noch über die gesamte Artikellänge
von 6.500 Zeichen und endete, in Antizipation dessen was geschehen sollte, mit dem Satz: ich war, ich
bin, ich werde gewesen sein. Im ganzen Artikel hatte
sie nicht einen einzigen Namen genannt und dennoch
wussten ihre Leser gegen wen sich dieses Plädoyer
richtete. In den Wochen zuvor war kaum ein Tag vergangen, an dem der Rheinische Landbote nicht weitere Enthüllungen zu Triers New Economy Skandal
veröffentlichte und Kilian Anderson stand im Zentrum
dieser Anklagen. Von da an ging alles sehr schnell.
Der Mutterverlag des Rheinischen Landboten hatte
der Finanzkraft Andersons nichts entgegen zu setzen
und selbst wenn man das üppige Übernahmeangebote abgelehnt hätte, sprach alles für eine feindliche
Absorption durch die Anderson Media & Print Inc.
Kilian hatte sich buchstäblich über Nacht den Verlag einverleibt und richtete mit Hilfe einer schlagkräftigen Bande von White–Collar–Criminals und pedantischen Winkeladvokaten, ein arbeitsrechtliches
Massaker an. Majas Arbeitsplatz wurde als erstes geräumt, Chefredakteur Erlich wurde mit dem Vorwand
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des familiären Eigenbedarfs freigestellt zu kündigen
oder seinen laufenden Vertrag unter der Führung des
wieder aufgetauchten Robert Anderson zu vollenden,
das Politikressort geschlossen. Am Ende einer Woche hatte Kilian nahezu die gesamte Redaktion durch
die Kinder von Celebrities ersetzt, die allesamt das
Zeug hatten, Triers traditionsreichste Zeitung innerhalb kürzester Zeit zu ruinieren. In den folgenden Wochen berichtete der Rheinische Landbote umfassend
von den Fortschritten am Bau der neuen Seilbahn auf
den Katzenbuckel und die gesamte Redaktion schien
nichts sehnlicher zu erwarten, als die Eröffnung des
Andersonschen Privatmuseums.
Maja war es nicht möglich loszulassen, hatte sie sich
einmal festgebissen und so beschloss sie, ihre Recherche eigenmächtig weiter zu führen. Sie besann
sich auf ihre Fähigkeiten als Bestsellerautorin und
von diesem Tag an arbeitete sie fiebrig an einem Enthüllungsbuch über die kriminellen Geschäftspratiken
des Globalunternehmers, Krabbenbarons und Zeitungsverlegers Kilian Anderson. Sie betrat damit einen Pfad, der sie später in die dunkle Sackgasse der
Bergstraße führen sollte.
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Unweit der Bergstraße, im inneren Altstadtring,
steckte sich Elaine DeGreed ihre noch nassen Haare
mit einer strassbesetzten Nadel hoch. Es war ein
feuchtkalter Morgen, sie schlüpfte in ihren Mantel und
verließ ihr Townhouse in Richtung Norden. Als sie vor
die Tür trat, fiel ihr Blick auf eine übergewichtige Frau
am Ende der Straße, die einen kleinen Terrier spazieren führte. Ein Apfel auf Zahnstochern, dachte sie und
lächelte grimmig in sich hinein. Endstation Schlaganfall, hätte Robert zu ihr gesagt, wäre er noch hier und
noch immer der sprühende junge Mann, in den sie
sich einmal verliebt hatte. Und sie hätte gelacht, während er sofort losgegangen wäre, um der Dicken einen Krabbencocktail mit besonders viel Mayo zu kaufen, nur um sie ein bisschen verlegen zu sehen. So
war Robert eben bevor er ins Koma gefallen war, ein
Mann mit Humor. Elaine drängte sich an der Dicken
vorbei und dann war sie die Einzige in dieser ganzen
verschissen Stadt, die Elaine zulächelte. Im weitergehen dachte Elaine, dass vielleicht dieser mächtige
Leib nur dazu da war, ein mächtiges Herz zu tragen.
Sie wäre am liebsten zurückgeeilt und hätte sich mit
der Dicken auf eine Bank gesetzt und ihr von Robert
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erzählt, von Robert wie er war und wie er geworden
ist und wie er schlussendlich verschwand, um sie allein auf einem Haufen wertloser Geschäftsanteile sitzen zu lassen und wie er seinen Businessplan vergessen hatte. Klar, sie mochte seinen Humor, aber
wegen ein paar Witzen hatte sie ihn nicht geheiratet.
Der Businessplan war sicherlich nicht alles, aber er
hatte ihr die Entscheidung erleichtert und dann nach
der Hochzeit war ihr irgendwann aufgefallen, dass er
gar nichts mehr verfolgte, weder Business noch Plan
in seinen Handlungen auszumachen war und er auf
einmal vor hatte, Holzbarken zu bauen und das konnte
ja nicht der Businessplan sein, für den sie ihn geheiratet hatte. Die Dicke hätte ihr aufmunternd zugenickt
und gesagt, dass sie Holzbarken eigentlich ganz gern
habe. Elaine hätte kurz gelacht, sich für ihre Tränen
entschuldigt und gefragt, ob ihr Kajal auch nicht verronnen sei. Sie hätte dann weitererzählt, dass sie ja
eigentlich gar nicht die Zeit habe hier mit ihr, der Dicken, am Morgen auf einer Bank zu sitzen, denn eigentlich müsste sie schon längst zur Arbeit, denn ja,
seitdem Robert verschwunden war und sie auf einem Haufen wertloser Papiere sitzen gelassen hatte,
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musste sie in einer Eventagentur arbeiten. Die Dicke
hätte sie dann gefragt, was das denn sei, eine Eventagentur und sie hätte geantwortet hauptsächlich Fun,
aber trotzdem würde sie das Nicht–Arbeiten jederzeit
dem Spaß auf der Arbeit vorziehen, allein schon wegen der Nachbarn. Die Dicke hätte nur still ihren Terrier gekrault und Elaine hätte die Möglichkeit genutzt
ihren Kopf an ihre fleischigen Schultern zu lehnen
und die Gedanken zu ordnen. Robert sei an sich ein
sehr guter Schwimmer und deshalb sein Verschwinden als Unfall kaum denkbar. Den Fluss kannte er in–
und auswendig, so dass es natürlich ein leichtes für
ihn gewesen sein musste, nach seiner beschämenden Lesung einfach in das Wasser zu steigen und
im Schutz der Dunkelheit auf der anderen Seite wieder heraus zu klettern. Die Dicke hätte zu bedenken
gegeben, dass ihr Terrier auch einmal den Fluss zu
durchqueren versuchte, dann aber hätte er plötzlich aufgegeben und sei so weit abgetrieben worden, dass sie, die Dicke, schon innerlich Abschied
von ihm, dem Terrier, genommen hatte. Elaine hätte
ihr den Finger auf den Mund gelegt und den Kopf in
ihren Schoß sinken lassen. Sie wäre kurz eingenickt,
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dann aber wieder aufgewacht, weil der Terrier sie eifersüchtig von der Seite angeknurrt hätte. Für einen
Selbstmord hatte Robert keinen Grund, er hatte ja
sie, Elaine und seine Liebe zu Maja kannte keinerlei
existenzielle Dimension. Kurz hätte sie den Kopf angehoben und dann weitergesprochen, indem sie die
schweigende Dicke mit schmalen Augen fixierte. Es
war ihr gutes Recht nach dem Businessplan zu suchen und Private I sollte da nur ein bisschen nachhelfen, sein – Roberts – Glück etwas schütteln, damit am Ende womöglich diese Wohlstandsaussicht
wieder irgendwo in seinem – Roberts – vernebelten
Hirn aufgetaucht wäre. Als Ehefrau eines Minderbemittelten sei es ihre Pflicht das Beste aus ihrem Mann
heraus zu holen, hätte Elaine der Dicken und ihrem
Terrier erklärt. Ja, ja die Liebe verpflichtet, hätte die
ihr zugestimmt und Elaine hätte sich für einen Moment ganz leicht gefühlt, beinahe so als versinke sie
in dem mächtigen Schoss der Hundehalterin. Elaine
hätte die Beine angezogen. Dann erst wäre ihr aufgefallen, dass die Dicke von Liebe gesprochen hatte
und sie hätte die Stirn in Falten gelegt und gesagt
Liebe vielleicht nicht gerade, aber das was danach
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kommt, eine gut verwaltete Partnerschaft. Und die Dicke hätte zu sich selbst gesagt, der Charakter einer
Frau zeigt sich nicht, wo die Liebe beginnt, sondern
wo sie endet. Das hätte Elaine verwirrt, aber gleichzeitig hätte sie gespürt, dass sie diesen Schoß nicht
mehr würde verlassen können und sie sich hier neben
diesem Terrier für die Ewigkeit würde einrichten müssen, dass sie diesen Schoß eigentlich nie verlassen
hatte. Elaine DeGreed schüttelte sich, die Kälte kroch
in ihr hoch, sie hatte die U–Bahnstation erreicht und
fuhr zur Arbeit, im Büro erwarteten sie acht Stunden
Spaß.
Während Trier nach dem Mord auf der Rheinland und
dem Verschwinden der Anderson Brüder, in kurzer
Zeit zur alten Ordnung zurück gefunden hatte, erlebte
Private I die unproduktivste Phase seines an Produktivität nicht eben reichen Lebens. Der fortschreitenden Verwahrlosung ausgesetzt und dem Wahn näher als dem Leben, durchlitt er die Leere, welche
Maja hinterlassen hatte, als sie ihn zurück ließ, um
in B… an einem neuen Buchprojekt zu arbeiten. Sie
mochte B… für die Unruhe dort und erklärte ihm
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beim Abschied, diese Stadt, B…, sei niemals Sein,
sondern immer nur Werden. Dafür hasste er B… und
dafür, dass Maja es vorzog dort zu sein und nicht
hier bei ihm. Er litt, sie hätte gewusst wie er mit seiner Schuld umzugehen hätte, dessen war er sich sicher. Doch statt ihn zu unterstützen hatte sie ihm die
Bronchitis hinterlassen, einen Fernseher vor sein Bett
geschoben und war nach B... gereist, um sich nicht
mehr bei ihm zu melden. Es blieb ihm nichts anderes
übrig als obsessiv diese Lücke zu bearbeiten, in dieses unendliche Loch immer mehr Alkohol zu gießen,
solange bis es sich nicht mehr so leer anfühlte. Er zog
sich dann seine Socken aus und stieg in einen See
aus Ethanol, um langsam mit ihm zu verdampfen. Die
Nächte durchwälzte er in Schuldgefühlen und fand
er irgendwann doch in den Schlaf, so träumte er den
immer gleichen Traum von Glasauge. Dieser saß auf
einem Billardtisch und hatte die Beine übereinander
geschlagen. Mit gekrümmten Rücken trank Glasauge
ein großes Bier, welches er in einem unendlich langen Zug leerte. Während er trank schoss das Bier in
Fontänen aus seinen tödlichen Wunden und verteilte
sich in einer schäumenden Lache auf dem Filz des
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Tisches. P.I. verspürte dann jedes Mal einen unnachgiebigen Drang den Billardtisch zu schützen und die
Lache aufzuwischen. Wohlwissend, dass er mit diesem Stück Stoff unmöglich die Bierfontänen versiegen lassen konnte, riss er sich sein Hemd vom Körper. Meistens wachte er dann schweißgebadet auf
und fand für den Rest der Nacht nicht mehr in den
Schlaf zurück. Die Wachzustände verbrachte er damit
Majas Bücher zu streicheln und da sie es war, die ihm
den Fernseher vor sein Bett gestellt hatte, war er bereit diesem Bildschirm seine gesamte Aufmerksamkeit zu opfern. Eines Tages begann P.I. zu glotzen.
Der geschichtsbewusste Kilian Anderson hatte sich
nach dem CO2–Emissionsskandal unbemerkt nach
Elba abgesetzt, um dort, in erreichbarer Nähe des
Europäischen Festlands und im Kreis enger Mitarbeiter, auf den richtigen Moment zu warten das
Steuer seiner Unternehmensgruppe wieder an sich
zu reißen. Die Anderson Group wurde nach dem Verschwinden von Kilian und Robert einer Treuhandgesellschaft übereignet. Eine Meinungsverschiedenheit
im Verwaltungsrat der Treuhänder verhinderte jedoch
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zunächst die Zerschlagung des Konzern und einzig
der als besonders toxisch geltende Reedereibetrieb
wurde abgestossen, um Insolvenzmasse aus der Unternehmensgruppe herauszulösen und angefallene
Schulden zu tilgen. Arthur Wessely, der Vorsitzende
des Verwaltungsrates, hatte soziales Feingefühl bewiesen, als er gegenüber Leberecht Sücher, seinem
Vorgesetzten und engsten Vertrautem in der Führungsriege, einen schrittweisen Stellenabbau durchsetzte. Er verteidigte seinen Plan der schleichenden
Gesundung unter Verweis auf die Fehler, welche man
in der ehemaligen DDR gemacht hatte. Mit den Erfahrungen der historischen Misere konfrontiert, zog
Sücher zähneknirschend seinen Shock–Treatment–
Entwurf der Massenentlassung zurück, nicht ohne
aber im Stillen weiterhin an diesem Szenario festzuhalten. Die Zwei, zwischen die nach eigenen Aussagen eigentlich kein Blatt passen sollte, hatten aufgrund dieser Differenzen plötzlich wieder reichlich
Platz zwischen sich und diese Spannung übertrug
sich seismographisch nach unten. Somit war auch ein
wesentlicher Teil von Wesselys Plan gefährdet, ging
es doch in erster Linie darum Vertrauen aufzubauen,
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um die notwendigen Reformen auf einem gefestigten Fundament durchführen zu können. Bald kursierten erste Gerüchte zur fehlenden Arbeitsplatzsicherheit und befeuerten das Mistrauen der Angestellten.
Diese Nachrichten erreichten Kilian auf Elba über
ein diskretes Netz von Informanten, die ihre Loyalität zu ihm nicht ausgesetzt hatten. Solche Neuigkeiten kurbelten seinen Geschäftstrieb an, doch es bedurfte schon noch etwas mehr als das Gerücht von
Unzufriedenheit unter den Angestellten, um seinem
Wahnsinnsplan zum Erfolg zu verhelfen. Kilian musste
sich gedulden, seine Zeit würde kommen, da war er
sich sicher. Sein Blick senkte sich auf den Staub von
Elba, der all das war, was er bald schon nicht mehr
sein würde.
Nachdem P.I. den Fernseher eingeschaltet hatte,
setzte ein neues Zeitmaß ein. Die Tage und Nächte
wirkten nun ununterscheidbar, ganze Vormittage vergingen, ohne dass sich der Zeiger seines Weckers
auch nur um Millimeter bewegt zu haben schien, während er es an anderen Tagen kaum schaffte auf die
Toilette zu gehen, da die Zeit so schnell verflog. Sein
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Körper hatte sich ganz dem Fließen der Zeit angepasst und so lag er meist hingegossen auf seiner Matratze und durchlebte einen Alltag, der vollkommen
vom Fernsehprogramm und gelegentlichen Fieberträumen bestimmt wurde. P.I.s phantastische Gegenwart war durchsetzt von der Fernsehwirklichkeit der
Vormittage wo Richter auf Angeklagte, Gerichtsvollzieher auf Schuldner, Polizisten auf Verkehrssünder
und Mediatoren auf Choleriker trafen. Er trieb durch
die redundanten Konflikte des Nachmittags und da
er immer wieder einschlief, den Abspann durchdöste,
erfuhr er die Programmabfolge wie eine unendliche
Überstruktur gesellschaftlichen Elends. Supernannies hackten auf Patchworkfamilien ein, Patchworkfamilien schimpften auf homosexuelle Beamte, öffentliche Angestellte falteten Sozialhilfeempfänger
zusammen und die Richterin verteilte an alle Verwarnungen. Es war überwältigend wie Alles mit Allem zusammen fiel. Die Konflikte gingen in Liebe über, die
Liebe endete im Streit, nach der Trennung ging es
ins Wüstencamp und am Ende wartete wieder ein
Sturm des Begehrens. P.I. sah kochende Celebrities, tanzende Skifahrer, kackende Kleinunternehmer,
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er sah die Lieblingsmaler der kochenden Prominenten beim Wettmalen, sah Serge Wenzel wie er
ein Kamerateam aus seinem Atelier scheuchte, sah
Glasauge beim Russisch Roulette, Antworten ohne
Fragen und sprechende Köpfe, die in immer neuen
Zusammensetzungen aufeinander eindroschen, er
sah Nasen, Beine, Münder, Hände, Augen, Ärsche.
Fernsehen offenbarte sich als ekstatischer Rausch,
als eklektizistisches Monster, welches sich Unmengen von Ichentwürfen einverleibte, um sie in einem
größeren Ganzen aufzulösen. Dieses entwendete Erleben weckte in ihm das Begehren sich dem Monster vollkommen hinzugeben, Teil dieser ichvernichtenden Egomaschine zu sein und sich darin zu verlieren.
Er wünschte nichts sehnlicher, als dieses Monster zu
füttern, dass es auch ihn verspeiste, seine Biografie
vertilgte und mit ihr auch gleich noch die ganze private Misere schluckte, die sein Leben zur Hölle gemacht hatte.
Für Kilian war das Warten auf Elba immer mehr zur
Willensprobe geworden, die Untätigkeit brannte unter
seiner Haut. Gegenüber den treuen Mitarbeitern, die
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ihm auf die Insel gefolgt waren, verhielt er sich zunehmend unberechenbar und tyrannisch. Er intrigierte
und demütigte ohne Muster und es fehlte nicht viel
und diese eingeschworene Gemeinschaft wäre unter
der Last seiner zynischen Launen eingebrochen. Anderson litt am Machtentzug, er fühlte sich impotent
und fürchtete seine angeborenen Führungsqualitäten
zu verlieren, sollte er noch länger dazu verdammt sein
auf das Mittelmeer zu starren. Umso mehr belebten
ihn die Nachrichten, welche ihn über einen befreundeten Wirtschaftsanwalt aus Trier erreichten. Dieser
berichtete, man habe exklusiven Zugriff auf ein Privatvideo, in welchem ein sichtlich überarbeiteter, möglicherweise betrunkener Leberecht Sücher behauptete
von einem Elefanten geschwängert worden zu sein.
Die Empfängnis sei eine Sache weniger Minuten gewesen, so Sücher in dem Video, an sich nicht unangenehm, nur habe er seither unter Kurzatmigkeit,
Seitenstechen und einer ungewöhnlich gespannten
Bauchdecke zu leiden. Sücher knöpfte sogar noch
sein Hemd auf und zeigte auf eine Stelle links neben
dem Bauchnabel, wo er gelegentliche Bewegungen
wahrgenommen habe. Er frage sich, so Sücher, ob
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die Austragungszeit der eines Menschen oder der eines Elefanten entsprechen würde, denn lange sei so
ein Zustand nicht zu ertragen. Nachdem Kilian das
Video einige Male hintereinander angeschaut und der
Anwalt ihm wiederholt erklärt hatte, dass es keinen
Zweifel über die Echtheit des Dokuments gäbe, war
er wie ausgewechselt. Das war es worauf er gewartet hatte, Vitalität durchströmte seinen ganzen Körper.
Doch er war nicht herzlos, es tat ihm fast ein wenig
leid für Sücher, denn er schätzte ihn menschlich und
auch die Scheinschwangerschaft erschien ihm keineswegs allzu abwegig, so etwas konnte unter Hochdruckentscheidern wie ihnen durchaus mal vorkommen. Doch als Unternehmer hatte er Verpflichtungen
und seine war es nun mal, nicht weiter beobachten
zu müssen, wie die Anderson Group unter der Verwaltung der Treuhänder langsam zu Grunde ging. Dafür musste aber zunächst der Vorstandsvorsitzende
Sücher weg und der hatte mit dem Video das makellose Beweismaterial für eine aussichtsreiche Unzurechnungsfähigkeitsklage von sich aus geliefert. Kilian Anderson setzte sein Anwälte in Bewegung und
begann damit seine Koffer zu packen.
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Unterdessen war sich Private I seiner Sache ganz sicher, er musste zum Fernsehen. Diese ganze introspektive Kraftarbeit der vergangenen Zeit sollte ein
Ende finden; es musste ihm jetzt darum gehen, sich
und all seine Erfahrungen irgendwo sinnvoll einzubringen. Die Anleihe, die ein Leben immer auch sein
konnte, endlich auch mal einzulösen. Vielleicht hatte
sein ausuferndes Selbstmitleid und die Isolation nur
den Zweck gehabt diese Erkenntnis zu befördern. Er
sah keine andere Möglichkeit, als sich an das Fernsehen zu verschenken.
Zunächst versuchte er es bei zwei Nachrichtenredakteuren, die er einmal bei einem Abendessen über
Maja kennengelernt hatte. Als die aber nur höfliche
Absagen zurückmeldeten, ging er in die Offensive. Er
schrieb sämtliche Sendeanstalten an, die ihm einfielen und deren Programm in den letzten Monaten seinen Lebensraum gestaltet hatte. Sein lückenhafter CV
erreichte Game–Show–Caster, Fernsehrichter, Drehbuchautoren, Locationscouts, Kameraleute, Ausstatter, Darsteller und unzählige Fernsehredakteure, die
allesamt mit den Skills eines mittelalten Privatdetektivs wenig anzufangen wussten. Doch der Lebenslauf
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verschwand nicht einfach, tauchte hier und da wieder
auf, zirkulierte durch die Abteilungen der Sender und
wurde immer weiter nach unten gereicht. Gelegentlich bekam er ein unbezahltes Internship angeboten,
auch die Gebäudereinigung brauchte Verstärkung,
doch es verlangte ihm nach echter Teilhabe, vielleicht
sogar nach etwas Sichtbarkeit.
Es war nur ein Zufall, dass Jack Weisser eines Morgens mit schnellen Schritten die Projektentwicklung durcheilte und dabei P.I.s Lebenslauf von einem
Schreibtisch wehte. Es war einem weiteren Zufall zu
verdanken, dass es Weisser in diesem Moment einfiel, die heruntergewehten Zettel auch wieder einzusammeln. Dabei fiel sein Blick auf die Biografie von
Private I und Weissers Miene hellte sich auf. Jack
Weisser hatte sich mühsam in den Hierarchien des
Senders hochgedient und stand vor seinem ersten
eigenständigen Projekt als ausführender Produzent.
Gerade hatte er erfolgreich ein Treatment durch die
Abteilungen gepitcht und es sollte jetzt darum gehen den Stoff für einen Piloten auszuerzählen. Das
Buddy System, sein neues Serienformat, erfüllte alle
Voraussetzungen ein echter Quotenhit zu werden,
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das spürte Weisser. Eine Telenovela mit Privatdetektiven und erotisch knisternder Spannung zwischen
den Ermittlern, sowas fällt nicht oft vom Himmel, das
war Stoff mit Potenzial. Was Weisser jetzt brauchte
war ein bisschen Insiderinformation und einige Tage
ruhe. Er faltete P.I.s CV mehrmals und steckte ihn in
die Innentasche seines Sakkos. Er würde ihn später
anrufen.
Der Pförtner Jakob Taubstein saß am Empfangstresen der Anderson Trust, als Kilian Anderson mit einer
Delegation von Anwälten das Foyer betrat und direkt
auf ihn zusteuerte.
K.A.: Erinnern Sie sich an mich?
J.T.: Ja, Sie haben vor zwei Jahren meinen Hund
überfahren.
K.A.: Ich fahre nie, das muss mein Bruder gewesen
sein. Ich bin KILIAN Anderson, ich bin ihr Chef.
J.T.: So, so. Wissen Sie dieser Hund war mein Ein
und Alles, ich hielt ihn für eine Mischung aus Labrador und Riesenschnauzer, bis sich irgendwann herausstellte, dass er ein Englischer Setter war. Da war
die Enttäuschung natürlich erst mal groß, aber an
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solchen Sachen wächst man ja und wir waren danach unzertrennlich.
K.A.: Hat mein Bruder Sie kompensiert?
J.T.: Nein, Sie sagten damals es wäre meine Schuld.
Hunde hätten auf dem Firmengelände nichts zu suchen, ich hielt ihre Aussage für plausibel.
K.A.: Mein Bruder sagte das?
J.T.: Vielleicht, ich erinnere mich nicht mehr so genau.
K.A.: Gut, nehmen Sie das und lassen Sie uns rein.
Anderson legte einen Schein auf den Tisch, er zwinkerte Taubstein zu, der Pförtner zwinkerte zurück. Er
griff nach dem Schein und betätigte den Türöffner.
Kilian Anderson war nach Trier zurückgekehrt.
V
Doch dieser innere, nun auch äußere Weckruf ist
noch nicht alles, was ihn dann beschäftigt. Insgeheim schreitet er dann, in dieser Millisekunde des
Zerplatzens, die kleine Kapelle ab, die er sich aus
seinen Verfehlungen gebaut hat, in der er dreimal
100
täglich, immer in der Mittagspause, die er stets allein
verbringt, am ebenfalls äußeren Ende des Korridors
der zu den anderen Offices führt, da hinten beim Kopierraum, leise in sich selbst zurückgezogen Gebete
spricht, an den Gott, der er selbst ist, da er nicht an
fremde Hilfe glaubt, sein Gott–Ich, diese unter nun
trägem Fleisch begrabene Ermächtigungsmaschine,
dieses an sich selbst erlahmte Ding. Jetzt, nach endlosen Empowerment–Seminaren, die er in den 90ern
in La Gomera besucht hatte, als er noch glaubte,
dass da etwas sei, das die Kräfte bewegt und das
im Inneren des Lebens wirken sollte, jetzt hatte er die
Technik der inneren Einkehr endlich verräumlicht und
so externalisiert von sich schieben können, dass es
ihm gefahrlos erschien, fortan regelmäßig in sich aufzukreuzen. Da ging er dann wieder hin zu sich, wenn
die anderen bei Hard Candy schufteten und kniete
nieder vor etwas, dass er die Innere Mitte nannte,
aber eigentlich ein ganz weit rechts gelegenes Außen
war, in dass er sich also hinein– oder hinausgeschlichen hatte, das unentwegt Hate verbreitete, immer
nur Hate, Hate, dahin wo der Weltzorn wohnte, der
in ihm wie ein Tier bandwurmartig vor sich hin fraß,
101
wovon er aber die Klappe halten musste, damit Kilian ihn nicht verlachte, der ja hier jetzt der Boss war,
und was Robert, der ja aus dem gleichen Stall kam
und der wiederum aus dem gleichen Holz geschnitzt
war wie er, dieser nur wenige Jahre jüngere Benjamin
Blümchen wohl gewusst haben mochte, und nun mit
sich fortgenommen hatte, unauffindlich verschwunden, vielleicht von Walen oder Robben verschlungen,
es trieb ihn schier zur Raserei, denn wenn er noch
an das hier, diesen Kinderzirkus so wirklich geglaubt
hätte, hätte es ihm einerlei sein können. So hatte Robert, selbst wenn er nun tot sein mochte, Erlich in jedem Fall etwas voraus.
102
VI
Die Charaktere
ROBERT – Ende 30, trotzdem jugendlich, naiv–
freundlich, hört Stimmen, will dass alle anderen auch
bescheid wissen, so bescheid wie er
SCHREIBER – mid 50s, Hut, Schreibblock, geht der
Story buchstäblich auf den Grund
FOTOGRAF – 20–30, junger Fotograf, Profi, macht
seinen Job
KILIAN – Roberts Stiefbruder, älter als Robert. Geschäftsmann, deutsche Erotik, Art Gerhard Schröder,
will – auf lange Sicht – die behämmerte Zeitung loswerden, sein Stiefbruder nimmt wider erwarten den
Job in der Zeitung an. Kilian hat auch andere Sorgen.
Diese drehen sich um die sonstigen Geschäfte der
Familie, um Geld und Krabben.
DIE SCHWESTERN B.: CORA – Nacktrodlerin,
Tochter des Dschungelkönigs usw. 22, sowie ihre
kleine Schwester NORA, 18 – deutlich weniger gut
aussehend – trägt Brille o.ä., schreibt, unter anderem
über ihre große Schwester (das Verhältnis spiegelt
Robert und Kilian)
103
MALER – etwa 50, ist Maler und erfolglos, sichtbar
Trinker, Problem der Erdbeernase; als Sohn eines bekannten Malers, will Maler jetzt auch mal was mit der
ganzen Bedeutung, die da immer schon um ihn herum war, zu tun haben
TUXEDO MASK – alterslos, tatsächlich verrückt,
mehr noch als Robert
FERDI, ISI usw. – gut, zumeist schwarz gekleidete
junge Menschen (also teuer, aber auch: Stil kaputte
Unterhemden usw.), sie scheinen vor allem deswegen in der Redaktion zu sein, weil sie noch nicht
nach Hause gehen konnten, weil die Substanzen
sie noch ein bisschen wach halten (Treer ≠ Berlin),
von Beruf sind sie Kunstberater oder Inneneinrichter,
Schmuckdesigner, Publizisten, Entrepreneur, Privatier, Self–Published–Author
1.Assistent ERLICH – Mitte 50, dünne Beine, runder
Bauch, mit kleinen aber feinen Händen, die auch bei
leichteren Belastungen anfangen zu zittern. Weil Kilian keine Ahnung von Zeitungen hat, behält er den
Redakteur noch ein paar Tage in der Redaktion. Erlich hat keine berufliche Perspektive, er weiß nicht,
wie es weiter geht, er hasst Kilian, aber er kann auch
104
nicht im Call Center oder bei Amazon anfangen.
Roberts 2. Assistentin JESSICA ALBERN – jung, dagegen ist kräftig, in jeder Hinsicht, ein Veteran überfordernder Kulturarbeitsschlachtfelder, ihr Haar hat
verschiedene Farben; sie könnte einen sächs. Akzent
haben, ist aber nicht zwingend. Sie arbeitet für Kilian, doch sie missversteht ihren Auftrag und verfolgt
so widersprüchliche Strategien: Für Kilian ist die Zeitung eine Art Abschreibungsobjekt, ein hoffnungsloser Fall – Jessica aber ist ein geradezu idiotisches
Arbeitstier mit einem Hang zum Masochismus, sie will
ihm beweisen, dass die Zeitung laufen kann, irgendwann auch ohne sie und sich so zugleich überflüssig
machen. Nach ihrem Gig bei der Zeitung verliert sie
ausgebrannt plötzlich stark an Gewicht. Dies führt zu
einer etwa zweijährigen Karriere in einer action–geladenen RTL–Eigenproduktion, danach 3. Karriere, die
Körperpflegeprodukt–Serie Ehrliche Creme, Ehrliche
Bodylotion usw. nicht ohne dabei an ihren ehemaligen Kollegen in der Redaktion denken zu müssen
ELAINE, Roberts Ehefrau, Kilians Schwägerin, ist direkt, nicht subtil, Typ Desperate Housewife, die mit
der Affäre.
105
SPURENSICHERUNG
SEMINARLEITER FUTURE SEARCH
COLD OPEN
Draussen.
Eine Gruppe Zuschauer am Rand eines Flusses, sie
schauen auf den Fluss, man sieht eine beleuchtete
Insel, auf der Insel schreit und ruft, singt und tanzt jemand, Art Kurt–Cobain–Gesang: Man versteht kein
Wort.
ROBERT:
kommmmm wuiiiii uuuuuu biasssssddd
ZOOM IN/Spy Camera
Robert (mitte 30) nackt, alt. in Unterhosen, lächelt unsicher, bevor er zur nächsten unverständlichen Zeile
ansetzt.
ROBERT:
wuiiiii iiiiiichhhhh wuiiiiiiiillllll
wuiii uuuuuu biassssdddd
106
Ähhhhhrrrinnnääährunnnnnnn
Ähhhhhrrrinnnääährunnnnnnn
Ähhhhhrrrinnnääährunnnnnnn
Vorne im Publikum, jemand hält einen Flyer Lesung
von Robert Anderson. Direkt am Fluss steht Schreiber (Mitte 50, mit Fernglas und Presseausweis um
den Hals, Zigarette im Mundwinkel, nicht angezündet,
Notizblock in der Hand, Hut) und dreht sich zu Fotograf (late 20s, mit Kamera) um.
SCHREIBER:
Machst du jetzt Bilder davon?
FOTOGRAF:
Ich versuche es.
Aber es ist schwer – ohne hinzusehen.
Fängt an zu fotografieren
Robert Anderson hat seine Lesung beendet, er atmet schwer und blickt Richtung Publikum, er scheint
aber nichts zu sehen, auch hört er keine Reaktionen,
er weiß sichtlich nicht wie er mit dieser Situation
107
umgehen soll, zunächst bleibt er stehen, niemand reagiert, alle scheinen wie gelähmt, man hört die Spiegelreflexkamera klicken, es ist still.
Um einen eleganten Abgang bemüht, aber auch mit
verletztem Stolz (einzig ein Buh–Ruf war zu vernehmen) geht Robert mit festem Gesichtsausdruck ab,
d.h. in den Fluss. Gleichzeitig geht das Licht aus.
SCHREIBER:
(...)
FOTOGRAF:
(Kopfschütteln)
(lacht)
Ist das jetzt Leute oder reicht das für die Titelseite?
SCHREIBER:
Kommt bisschen drauf an, wo er wieder rauskommt... und wer uns bis dahin bezahlt.
Schreiber blickt zu Fotograf, tippt sich mit dem Stift
an den Hut und folgt Robert in den Fluss. Fotograf
bleibt zurück.
108
1. Akt
TITLE: Etwa 2 Jahre später
Innenraum.
Die Redaktionsräume des Rheinischen Landboten:
ein großer Raum mit 2 Reihen kleinerer Schreibtische,
darauf Bildschirme, an nur wenigen dieser Arbeitsplätze sitzen Mitarbeiter. Sie sitzen abgewandt von einem grossen Konferenztisch im Vordergrund. Auf dem
Konferenztisch stehen Kaffeetassen, liegen Papiere,
keine Laptops.
Der Tisch ist Oval, es sitzen einige jüngere Leute daran, in modernen Bürostühlen, ein hoher Rücken, aus
schwarzen, perforierten Synthetikstoffen. Diese Leute
sind sichtbar gelangweilt oder übermüdet jeweils mit
sich selbst beschäftigt. Im Hintergrund weitere Angestellte, die mit bemerkenswert vielen Dingen in den
Händen am Tisch vorbei laufen. Sie arbeiten, oder sie
räumen das Büro aus, sie sprechen am Telefon, tragen kleinere Möbel und Kisten, Bilder oder Ausdrucke
in der Hand, zuweilen auch im Mund usw. Am Tisch
sitzen die Schwestern B. (22 und 18), der Maler Maler (45, sieht älter aus), ein als Tuxedo Mask gekleideter Mann uneinschätzbaren Alters (dank der Maske),
109
sowie einige andere junge und jüngere Menschen,
Ferdi, Isi, Konsti usw. alle sehen ein bisschen so aus,
als hätten sie mehrere Nächte nicht geschlafen.
KILIAN:
(Auf etwas das wir nicht gehört haben antwortend,
den Gang vom Fahrstuhl entlang bis zum
Konferenztisch gehend)
Du hattest die Wahl: Bei der Gestaltung unserer
Systemgastronomie, bei Happy Crabs einsteigen,
als User Experience Architect – oder das hier.
ROBERT:
Ich dachte die Zeitung passt besser zu mir.
(Pause)
Aber vielleicht könnte ich auch erstmal was
Kleineres machen.
Das wäre auch okay für mich, vielleicht ein Fanzine
oder nur online...
KILIAN:
(schüttelt den Kopf)
Das ist wie damals als du dich lieber um Trixie und
110
Rambo kümmern wolltest, weil Kaa dir unheimlich
war. Und wie ist das ausgegangen?
(Kilian lächelt, legt den Arm – snakelike – um
Robert.)
ROBERT:
Ich wusste vorher nicht, dass Trixie und Rambo
Kaas Futter sein würden...
KILIAN:
(leiser)
Mach dir keine Sorgen, du kannst hier keine Fehler
machen. Wir sind zurück, Robert.
ROBERT:
Aber ich war noch nie hier...
Kilian nickt in eine unbestimmte Richtung, zu allen und
zu niemandem zugleich. 2 Leute am Tisch scheinen sich
Fotos oder Texte zu schicken, Blicke zueinander und auf
ihre Telefone, der Rest starrt etwas leer in die Gegend,
Ferdi versucht, sich möglichst diskret zu übergeben, jemand anderes macht Kunst mit dem Fotokopierer.
111
ISI:
(zu Kilian)
Ferdi macht den Food–Blog. Das ist der erste
Review: Das Essen war schlecht.
KONSTI:
(deutet auf die ältere der Schwestern B)
Und sie macht Food Porn.
ISI:
Ja, es ist traurig. Es geht gleich los mit den Kämpfen
um die billigen Plätze.
KONSTI:
Das ist Überleben im Dschungel.
CORA B.:
Food Porn hab ich nie gemacht!
ISI:
Aber damit kennt ihr euch doch aus! Mit dem
Dschungelkönig als Vater!
(kurze Pause – da hinein)
MALER:
(hilfreich)
Dabei geht es um attraktiv angerichtetes Essen.
ROBERT:
Hallo, ich bin Robert Anderson, vielleicht kennen sie
mich –?
CORA B.:
Das wusste ich.
Robert wiederholt das zu Maler, den Schwestern B.
usw, der Reihe nach, bis er sich allen vorgestellt hat,
wir blenden aus, was erst wie ein lustiger Quirk wirkt,
dauert viel zu lange. Außerdem kennt jeder am Tisch
Robert.
NORA B.:
Müsst ihr gleich so gemein sein?
112
113
KONSTI:
Ich fürchte, wir sind Trixie und Rambo.
ERLICH:
Erlich
KILIAN:
(lächelt, nickt)
(klatscht in die Hände, will noch etwas sagen,
ändert dann seine Meinung)
(Zu Robert, den er derweil in ein Büro am Ende des
großen Raums bugsiert)
Fressen oder gefressen werden Robert,
aber keine Sorge, ich habe hier ein paar Leute die
dir dabei helfen.
KILIAN:
Genau, Herr Erlich.
Also, Erlich, Senior Senior, sozusagen, der kennt
sich aus, der wird dich hier unterstützen!
ROBERT:
Beim gefressen werden?
KILIAN:
Hier haben wir zum Beispiel Herrn –
Kilian winkt einen der vorbei laufenden ehemaligen
Mitarbeiter herein.
114
Erlich hört davon deutlich zum ersten Mal – er trägt
unter anderem eine Bürolampe.
KILIAN: (weiter)
Erlich hat auch schon alles dabei für dein Büro!
Mitgedacht!
Kilian greift die Lampe, Erlich hält sie weiter fest.
ERLICH:
Diese Lampe steht für das letzte bisschen Stolz, das
ich noch habe.
Erlich gibt auf.
115
ERLICH:
(weiter)
Aber gut, nehmen sie die auch noch. Vermutlich haben
die auch Lampen im Competence Call Center...
Erlich wendet sich zum gehen. Kilian hält Erlich mit der
anderen Hand fest, in der rechten noch die Lampe.
KILIAN::
Jetzt vergessen sie das mal schnell. Jetzt machen
sie uns hier mal das Licht an, und dann sehen wir
weiter!
(Erlich will ansetzen zu sprechen ...)
KILIAN:
(unterbrechened)
Na! Jetzt aber! Keine Widerrede!
(Erlich versucht es noch einmal ...)
Wenn da noch Worte rauskommen: Falsch.
Kennen sie meinen kleinen Bruder? Ja, genau der.
Sie werden ihm hier jetzt mal zur Seite stehen, und
das ganze Organisatorische übernehmen...
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K. macht eine unbestimmte Handbewegung Richtung
Konferenztisch.
Erlich, Erlich. Das wird jetzt hier. Alles anders.
Rhe Lax Magazin, mit Rh. Jetzt machen sie mal.
Ich muss noch.
Ach ja, Telefon.
Na dann los. Gehen sie. Und nehmen sie Robert
mit.
Kilian klopft auf den Schreibtisch, winkt sie raus.
KILIAN: (weiter)
(ins Telefon)
Am Apparat.
ERLICH:
Warten sie mal, jetzt wo sie schon meine Lampe
und meinen Job haben, hole ich ihnen noch meinen
Schreibtischstuhl.
Erlich verlässt Robert.
117
CUT
Am anderen Ende der Leitung, Innenraum, die Villa
Anderson, ein Flur, helle Farben, creme–weiss,
lindgrün usw., goldene, aber doch geschmackvolle
Bilderrahmen
Elaine, rauchend und ein Mann in einem weißen
Overall, Art Spurensicherung.
ELAINE:
(zu Kilian am Telefon)
(her normal sarcastic self)
Wir haben 5 Putzfrauen. Kann Putzfrau ein
Euphemismus sein? Ich habe das nie verstanden,
wer hier eigentlich arbeitet. Erst war Geld da und
dann keins mehr. Und jetzt ist wieder welches da.
Wirklich, als hätte man da gar keinen Einfluss drauf.
(Pause)
Ich weiss warum es weg war, das war eindeutig
Roberts Schuld. Alle haben hier zusammengearbeitet. Jeder hat da etwas beizutragen. Darum geht es
doch, im Familienunternehmen. Sein Job war, sich
rauszuhalten. Und dann macht er trotzdem was,
und alles geht den buchstäblich den Bach runter!
118
(Pause)
Ich suche ja. Irgendeinen Hinweis auf diesen
Ausflugsdampfer, schon klar.
(Pause)
Was Robert angefasst hat? Es ist sein Haus, Kilian!
Ich kann dir sagen was er nicht angefasst hat. Wenn
du verstehst was ich meine –
(wie zu sich selbst)
Wenn ich Robert wäre und ein Geheimnis hätte...
(Pause, dann lauter)
würde ich einen Song darüber schreiben!
Das ist es, Kilian! Er hat absolut keine Geheimnisse.
Robert ist durchschaubar wie...
SPURENSICHERUNG:
Plexiglas?
ELAINE:
(irritiert)
Wie in dieser Röhre, in die sie ihn damals gesteckt
haben. Wie... diese Fotos von seinem Kopf mit
diesem Hirnspin–
119
SPURENSICHERUNG:
Kernspintomographen?
ELAINE:
(...)
Ahhhhh–
KILIAN: (VO)
Gutes Beispiel.
Sag bescheid, wenn du etwas findest.
ELAINE:
(weiter, K. ignorierend)
Alles was da ist, kann man sehen. Und was nicht da
ist. Wie dieser bescheuerte Schlüssel oder die
Visitenkarte, oder was es ist, das ich hier suche
Kilian legt auf.
Das Telefon klingelt sofort wieder.
KILIAN:
Ja, Open sea unlimited
Ja, geben sie mir die Zahlen.
(Pause)
120
(dann in rascher Folge, als würde er einzelne
Aussagen beantworten, wir verlassen ihn währenddessen langsam und kehren an den nahen Konferenztisch zurück)
Unsinn.
Quatsch.
Das muss ich mir selber ansehen.
Ach.
Da muss man eben genau sein.
(Pause)
Erlich kommt zurück, Büro–Supplies sichtbar in allen
möglichen Taschen.
ROBERT:
(zu Erlich)
Er ist eben Perfektionist
ERLICH:
Ja, eben.
Die Tür geht auf, Jessica, jung, bunte Haare, sehr patent, sehr rasch, kommt rein.
121
JESSICA:
Hi!
Mit einem Schwung hat sie Kaffeetassen verteilt, die
Sitzordnung geändert, dem Maler Aspirin gegeben,
und alles was an Müll auf dem Tisch lag, aus dem
Fenster geworfen, sie streckt Robert die Hand entgegen. Sie nickt zu Kilian, der an der offenen Büro
Tür steht. Kilian, noch immer am Telefon, wirft einen
vielsagenden Blick auf die Uhr und schließt die Tür.
JESSICA:
(deutet auf Erlich)
Was machen Sie denn noch hier? Erlich, das hier
wird das ganz neue Rhelax Magazin.
ERLICH:
Mit Rh, hab schon gehört. Das klingt nach nichts,
bei dem ich ihnen helfen könnte. Ich bin eher der
nervöse Typ und gehe heute Abend nach Hause,
ohne Stolz und ohne Lampe.
122
JESSICA:
Alles was wir brauchen ist erstmal ein freier Tisch
und dann einen freien Kopf. Machen wir hier draus
mal eine gute Gesprächssituation.
Erlich geht zum Tisch, drückt Ferdi, der sich übergeben hat, seine Plastiktüte in die Hand und wispert
ihm etwas zu, der junge Mann erhebt sich und geht.
ERLICH:
Voila.
CUT
Zum Haus der Andersons.
Elaine, wo wir sie verlassen haben, betritt mit der Spurensicherung das Dachgeschoss.
ELAINE:
Wir sollten ihn einfach fragen, wo er war. Ob er
überhaupt noch was weiss. Kilian könnte die behämmerte Zeitung gleich dichtmachen. Und ich könnte
zurückkehren zum ...
123
Während des Durchsuchens von Kisten, und Koffern
auf dem Dachboden.
ELAINE:
(weiter)
zum ... Verschwenden meiner Zeit.
Wissen sie eigentlich, dass ich studiert habe? Ich
hab es nie abgeschlossen, aber ich war kurz vor
dem Diplom, Ich habe sogar mal einen Design–Preis
gekriegt für meine Schmuckkollektion. Das waren
Sektgläser, aber aus Porzellan die wurden dann zerschlagen und dann hatte man das zerbrochene
Porzellan an einer Kette. Das sah so alleine ziemlich
hübsch aus.
dass man eben nicht benutzen kann. Das war ja der
Witz. Hat nur keiner verstanden, von diesen Trotteln
auf der Akademie.
CUT
Auf dem Dachboden.
ELAINE: (weiter)
Ich weiss nicht was ich hier mache. Nach allem was
passiert ist, vielleicht wollen wir gar nicht wissen,
was er getan hat – und was er davon noch weiss.
Aber nicht sagt.
CUT
Eine Modenschau, Backstage.
Sie hält ein paar ihrer weißen Ketten mit roten Flecken
in der Hand.
CUT
Die Redaktionsräume.
Jessica steht hinter Robert und spricht über eine
Schulter, Erlich auf der anderen Seite, sie sind Engel/Teufel bzw. besser Manie und Depression, bzw.
self–employed und gefeuert.
ELAINE: (weiter, VO)
Aber nicht sehr praktisch, die Modelle haben sich
ständig geschnitten. Aber darum ging es ja: Design,
JESSICA:
Den ersten Tag liebe ich immer am meisten! Wenn
man gar nicht weiter weiß vor lauter Arbeit!
124
125
ERLICH:
Ich wäre jetzt wirklich froh, wenn es doch mein
letzter Tag wäre.
JESSICA:
(zu Robert)
Kurz zu mir: Mein Job ist eigentlich immer, mich, also
meinen Job, überflüssig zu machen.
(lacht)
Und dieses mal mache ich ihren gleich mit
überflüssig!
ERLICH:
Wenn das so ist, sind Sie schon fertig mit ihrem Job.
Rekordzeit. Gratuliere. Von den Leuten, die hier sitzen, braucht man wirklich niemanden für eine
Zeitung.
JESSICA:
Ich bin sicher, dass ihnen das hier viel bedeutet hat,
Erlich. Das hört man und das muss ich respektieren,
so viel Identifikation mit seiner Arbeit.
(zu Robert)
126
Ich weiss nicht was sie hier sehen, aber ich sehe
unser Startkapital. Lassen sie es für sich arbeiten,
(Pause, schaut noch einmal in die Runde)
Haben sie sich je gefragt, wer ein Freund, eine
Quelle, ein Nahstehender ist, wenn sie Nachrichten
aus der besseren Gesellschaft lesen? Es sind diese
Leute!
(stage whisper, immer halb laut, man sieht den anderen an, dass sie jedes Wort verstehen)
JESSICA:
(weiter)
Das zum Beispiel ist Cora B. Erinnern sie sich an
die Tochter des Dschungel Königs?
ERLICH:
(normale Lautstärke)
Ich verstehe, wenn nicht. Man hat jetzt schon länger
nichts von ihr gehört, der letzte Pressetermin wäre im
Dezember Nacktrodeln im Treer Valley gewesen, aber
der Winter war bis jetzt eher mild, also fiel das aus.
127
ERLICH:
(weiter)
(zu Robert, die Gruppe unfreiwillig motivierend)
Alles was diese Leute haben ist ihre große Klappe
und ihre Mobilfunkgeräte. Die tauschen die ganze
Zeit irgendwelche Gerüchte aus, da ist nichts verifiziert, die wissen gar nicht wie das geht, die kennen
nur die richtigen Leute und alles wird immer gleich
brühwarm ge–shared und ge–liked und kommentiert
– bis sich auch die richtigen Zeitungen darum kümmern müssen. Und dann wird das auf einmal relevant, nur weil sich jetzt angeblich die richtigen Leute
dafür interessieren.
CUT
In der Villa.
Sie durchsucht jetzt alle Räume mit der Spurensicherung, die stumm neben ihr her geht; sie geht dramatisch, nicht systematisch vor. Mit jedem Raum ändert
sie ihren Tonfall, die Räume sind Facetten ihrer Beziehung zu Robert. Sie geht in die Küche, sucht in
einigen Schränken.
128
ELAINE:
(vorwurfsvoll)
Das zweite Koma war ja gar keins. Das wollten wir
erst so nennen. Aber dann haben ihn die Nachbarn
im Haus rumrennen sehen. Und ich hatte schon so
viel Arbeit investiert. Weil ich dachte, da wäre vielleicht noch was zu machen. Eigentlich denke ich das
ja immer noch...
Hätte ich besser auf ihn aufpassen können?
Ich denke nicht.
E. geht aus der Küche ins Bad, durchsucht Handtücher, den Medizinschrank.
ELAINE: (weiter, streng)
Es wäre besser für ihn, wenn ich immer wüsste was
er tut.
Wenn ich ihn kontrollieren könnte, rund um die Uhr...
E. verlässt das Bad, lässt sich aufs Bett im Schlafzimmer fallen.
129
ELAINE:
(erschöpft)
Unsere Ehe ist seit Jahren vorbei. Ich kann gar
nichts schlimmer machen...
E. steht wieder auf, geht wieder die Treppe runter,
ins Wohnzimmer.
ELAINE:
(gefasst, strategisch)
Die Nachbarn würden aufhören darüber zu reden,
wenn wir ihnen ein anderes Thema geben würden.
Oder in die Karibik fliegen. Und er bleibt dort.
CUT
Büroraum der Redaktion.
Kilian, noch immer am Telefon, sieht beunruhigt, dass
am Konferenztisch die Arbeit aufgenommen wird.
KILIAN:
Wer braucht eine Pause?
(zu jemandem, der einen Computer rausträgt)
Sagen sie, wollen sie uns nicht mal was zu essen
130
holen?
Nein? Na dann eben sie–
(deutet auf einen der Texter, Isi oder Konsti)
Sie gehen.
Wohin denn?
(unverständliche Antwort)
Das ist nicht gut. Der nebenan ist besser.
Konsti/Isi ab.
Kilian blickt zu Robert, lächelt milde.
CUT
Draussen, ein Fluss in der Dunkelheit.
Roberts Rettung/Kilian – der Perfektionist.
Robert sitzt in eine Decke gehüllt auf einem Stein, er
ist sehr dreckig, Kilian, über R. gebeugt, streicht Robert eine schlammige Haarsträhne aus dem Gesicht,
Robert droht das Gleichgewicht zu verlieren, weil er
versucht der Behandlung seines Kopfes auszuweichen, Kilian greift seine Schultern, in genau dem Moment macht Fotograf ein Foto, man sieht Kilian Robert quasi aus dem Fluss heben. Auf das Blitzlicht
131
reagierend, dreht Kilian sich um und lächelt Fotograf
zu, lässt Robert los. Fotograf nickt. Robert fällt.
Er würde lieber seinen Job verlieren, als den Gay–
Pride–Bus zu fahren
(BREAK)
Welcher Superheld bist du, basierend auf deinem
Sternzeichen –
2. Akt
Die Redaktionsräume.
Aufgeregte Gesichter – einander zugewandt,
Robert lächelt Jessica an: Es hat geklappt!
Alle sitzen am Tisch, es werden Geschichten und
Überschriften vorgeschlagen, Storys gepitched. So,
wie man sich vielleicht manchmal Spiegel online Panorama vorstellt, alles buzzfeed, Gawker usw.–
Konsti und Isi lesen von ihren Telefonen ab, der Rest
redet von seinen Eltern.
CORA B:
Wow, ich bin Wonder Women!
DIE REDAKTION:
(einander unterbrechend, zum Teil gleichzeitig)
TUXEDO MASK:
Ich bin Tuxedo Mask, ich habe kein Sternzeichen!
ALLE:
Hochzeit mit Hindernissen.
MALER:
Das war meine Mutter. Ihr zweiter Mann.
ALLE:
Vermeintliches Mordopfer plante Verschwinden
minutiös.
30 Suppen–Rezepte you need in your life
Die besten Looks aus Treer
132
MALER:
Das war auch meine Mutter.
133
ALLE:
Maler über Alkoholfahrt: Ich habe einen Riesenfehler
gemacht. Sieben Jahre Haft für Maler?
MALER:
Das war ich nicht!
ALLE:
Ich kann nicht zurücktreten. Meine Rolle ist alles
was ich habe.
Aufregung in Treer: Wer defäkierte auf die Stufen
des Doms? Die Überwachungskameras zeigen
eine Person in einem hellen Mantel.
Ein Anschlag oder nur –
TUXEDO MASK:
Shitstorm.
(lacht)
ALLE:
7 Zeichen dafür dass sie es mit einem emotionalen
Vampir zu tun haben
134
10 Zeichen die ihnen klar machen: Er nutzt sie nur
aus
15 Anzeichen für ein gefühlloses Arschloch
15 Zeichen für einen leichten Alkoholismus
Der Massenrausch war ein Therapie–Trip
Es wird immer lauter, dann ausblenden
Im Vordergrund:
JESSICA:
(zu Erlich)
Das ist fast so wie damals als wir von Hand die
Skyline von Treer in Orginialgröße, für das
Bühnenbild von Katrin Krach gehäkelt haben.
Das war auch erst unmöglich und dann –
ERLICH:
war es sinnlos, degradierend und hat ihr
Selbstwertgefühl dauerhaft beschädigt?
CUT
In der Villa werden die Gefühle stärker...
Elaine geht in die Garage, sie erschreckt sich vor
135
dem Hund des Nachbarn und beginnt zu fauchen
wie eine Katze, der Spurensicherer will ihr helfen, sie
kratzt ihn zum Dank. Der Spurensicherer rettet sich
zurück ins Haus.
Im Garten jagt E. etwas in die Hecken, im Eingangsbereich singt sie ein Lied.
ELAINE:
(Melodie She works hard for the money)
Sie muss ganz schön suchen für das Geld, ganz
schön suchen für das Geld
CUT
Die Redaktion.
Das Gespräch wird wieder etwas organisierter, ruhiger, alle hören jetzt Nora, der kleinen Schwester B.
zu, sie will ihre Geschichte zu Ende bringen. Erlich
hat den Kopf auf dem Tisch abgelegt.
NORA B.:
Jedenfalls wurden dann diese Sonnenleuchten von
dem Licht–Künstler, von der an sich sympathischen
136
Witwe von dem anderen Künstler als Synergie–
Effekt sozusagen ins Operndorf geschickt. Das
Operndorf meinte dazu: Sonne ist das einzige, was
wir wirklich genug haben. Da funktioniert die
Straßenbeleuchtung seit Jahren über Solarenergie.
Ich dachte, das wäre doch eine gute Geschichte.
Erlich schöpft das erste mal Mut, blickt auf.
JESSICA:
Wow, ich mag total wie du das erzählst und was du
alles weißt, mag ich auch. Das einzige Problem ist,
Nora, diese Leute kennt wirklich niemand, tut mir
leid. Aber sonst wirklich eine super Geschichte –
CORA B.:
Sie kennt ja auch niemanden, noch nicht mal ihre
Eltern sind wirklich berühmt. Was ich weiß, weil das
auch meine Eltern sind. Sie ist überhaupt nur wegen
mir hier. Und kennt keine Sau.
JESSICA:
(erklärend zu Robert)
137
Das stimmt, das haben sie vielleicht verpasst in den
Jahren ihrer … Genesung. Noras erster Roman,
Birthright –Die Dschungel–Prinzessin von Treer
(alt: Candy, Blood, Sex and more Candy – zwinkerndes Smileyface) beruht wohl vor allem auf den
Tagebüchern ihrer Schwester. Was vielleicht gut ist,
immerhin ist die wenigstens ein bisschen älter.
ERLICH:
Band 2, Bound By Blood – Prinzessin der Wölfe
wurde dann zur paranormal romance novel:
2 Werwölfe, eine Frau, und in Band 3 Blood Rites –
Plötzlich selber Wolf versucht sie dann noch diesen
Trend aufzuholen, den sie vielleicht verpasst hat. Da
geht es um das Werwolf–Mädchen, das verfolgt
wird und sich und seine Familie retten muss in einem Staat, in dem alle nach Haarfarben getrennt leben müssen, was für sie natürlich zum Problem wird.
JESSICA:
Erlich, ich wusste gar nicht,
dass sie sich so für Teenager interessieren.
(zwinkert)
138
ERLICH:
Bitte?
ROBERT:
Werwölfe stehen nur für die Angst vor Veränderung.
CUT
Innenraum, Turnhalle als Seminarraum.
Future Search Seminar: Robert lernt das Leiten von
Workshops/Gruppen, mittel–alte Menschen in legerer Business–Kleidung, die Jacketts hängen über
Stuhllehnen, bunte Zettel an diversen Pinnwänden,
auf denen so etwas steht wie Wünsche (Mehr Spaß,
Mehr Erfolg, Mehr Teilnehmer) und Ziele (Bis 2017
mit Future Search den Markt beherrschen, Auch mal
nichts tun), Robert steht vorne vor den Pinnwänden,
die anderen Seminarteilnehmer hören zu.
ROBERT:
Ich hatte eine Krise.
Aber man weiß nie, was als nächstes kommt.
(Applaus)
139
CUT
Etwas später im selben Seminarraum.
Alle sitzen im Stuhlkreis und haben Art Gebetsfahnen
an den Armen, im Hintergrund schlägt eine Trommel,
es gibt jede Menge Workshop–Material, bunte Blätter und Zettel, Robert schreibt mit einem grünem Stift
auf grünes Papier, er versucht an einen anderen Stift
oder an ein anderes Papier zu kommen, tauscht mit
den Nachbarn, tauscht 1x zu oft, er endet mit blau
auf blau.
Der Seminarleiter liest vor, die Gruppe schreibt mit.
SEMINARLEITER:
Be prepared to be surprised
TEILNEHMER:
(überraschte Gesichtsausdrücke, ahh, ohhh, whooo)
SEMINARLEITER:
When it is (not) over, it is (not) over
Jeder Mensch, der einem begegnet, ist der Richtige.
(Alle lächeln sich gegenseitig an)
140
SEMINARLEITER:
Und wenn wir richtig hinhören, können wir ihn auch
verstehen.
Robert nickt und notiert alles, kann es nicht lesen.
CUT
Die Redaktionsräume, alle genau wie zuletzt.
ERLICH:
Das ist mein Job, zu wissen was grad los ist, auch in
der jungen Literatur. Und dann liefere ich ein paar
Hintergründe dazu. Das ist auch mein Job,
ein bisschen Recherche, Kontext, wissen, wo Leute
herkommen! Und ihre Probleme–
JESSICA:
Erlich, es gibt nur 2 Arten sich mit etwas zu beschäftigen, entweder: Ich versteh zwar nicht alles,
aber es interessiert mich.
Oder: Ich verstehe alles, aber es interessiert mich
nicht. Was denken sie, was wir hier wollen? Ich
sag‘s ihnen: Wir wollen dieses Selbstverständnis!
Wir wollen die, die es eh schon verstanden haben!
141
Die waren von Anfang an dabei. Das ist ein unschätzbarer Vorteil!
MONTAGE
Kinder, die sich bei einer Ausstellungseröffnung am
Boden herumwinden und Ich will nach Hause rufen.
Der Vater, der den Sohn die Autogrammkarten tragen
lässt.
Das Kind, das versucht die Mutter vom Pferd zu ziehen, mit dem diese durch die Stadt reitet.
Die normale Type, ihre größten persönlichen Leistungen sind ihre Abiturfeier und eine Bronzemedaille
im Schwimmen: ein Siegerarm reckt sich aus dem
Becken, die Mutter sitzt auch im Schwimmbad mit
Sonnenbrille.
Der Maler, nicht als Kind sondern ausgewachsen, in
einer Galerie, vielleicht in einem Atelier, Malereien
streichelnd und umarmend.
142
CUT
Die Redaktion.
MALER:
(weitersprechend)
Und gerade weil ich diese Verbindung fühle, arbeite
ich auch an der nicht–autorisierten Biografie meines
Vaters – ich kann das alles wie aus erste Hand erzählen, ich bin wie er.
Und ich wollte noch sagen, dass das was Sie hier
machen Robert, also das ist eine ganz wichtige
Arbeit – gut dass Sie jetzt hier sind, das muss auch
mal jemand sagen, dass das jetzt eine gute Sache
ist, dass Sie da sind.
ROBERT:
(nickt, lächelt)
Genau wie du, Maler!
ROBERT:
(zu Erlich)
Hol bunte Blätter!
(BREAK)
143
3. Akt
In der Villa Anderson.
Elaine rennt nun ziellos durch das Haus, sie sucht
nicht mehr wirklich, sie hat Gras in der Hochsteckfrisur, Spurensicherung steht mit dem Telefon in der
Hand im Flur, tippt panisch.
ELAINE:
Wo war ich?
Ich finde das, ich finde alles.
Alles wird gefunden!
Elaine sieht zur Tür der Kellertreppe.
ELAINE:
Ahhh ––––
Spurensicherung, am Telefon, drückt es an ihr Ohr.
KILIAN: (VO)
(im Krisenmodus, gefasst, aber bestimmt)
Elaine, hör zu, Elaine? Elaine GEH BITTE NICHT IN
DEN KELLER
144
Elaine auf der Kellertreppe
CUT
Die Villa.
Man hört Elaine die Treppe hinuntergehen, immer leiser durch Störgeräusche bis das Gespräch abbricht..
ELAINE: (VO)
Gib gib gib
meins meins meins
CUT
Die Redaktion.
Alle haben jetzt die bunte Zettel in den Händen.
ROBERT:
Alle die hier sind, sind die Richtigen! Das habe ich
jetzt verstanden. Wir können gar nichts falsch machen! Wir müssen einfach wir selbst sein. Das reicht
vollkommen!
TUXEDO MASK: (leise, traurig)
Ich bin Tuxedo Mask.
145
Niemand darf mich erkennen...
ROBERT: (weiter)
Wenn es um die Zeitung geht, geht es um euch,
nicht mehr um eure Eltern! Jetzt seid Ihr gefragt!
Alle nicken begeistert, und beginnen, bunte Zettel
vollzuschreiben.
Tuxedo Mask steht traurig auf: Er kann nicht er selbst
sein. Geht zur Tür.
TUXEDO MASK
Ich kann niemandem mein wahres Ich zeigen.
/alt.: Ich kann nicht einfach ich selbst sein.
Aus diesem Tuxedo komme ich nicht mehr raus!
Kilian eilt aus dem Büro, rempelt den Typen an, der
das Essen bringen sollte, rennt weiter. Das Essen fällt
auf Tuxedo Mask: Flecken auf dem Tuxedo.
Cliffhanger: Kann Tuxedo Mask etwas anderes tragen
als einen Tuxedo?
Man sieht ihn stehen bleiben und um eine
146
Entscheidung ringen.
Fade to Black
Ende
VII
Lehrling ist wer was begann,
Geselle ist wer etwas kann,
Meister dann, wer was ersann!
Aus dem Mittelalter
In diesen Tagen, Mitte der zehner Jahre, als dieses Ungetüm, das sich über ein Geschoss eines
Barock– oder vielleicht sogar Renaissancepalais an
der Peripherie der Altstadt erstreckte, im Übergang zu
dem, was einmal Nobelvorort hieß, aber nun zu einer
gutbürgerlichen Lage herunterbenannt war, gelegen,
noch Publishing House war, weil es besser klang, und
ganz auf Ebooks und Action Literature setzte.
147
Als überall Verknotungen im Web sich den Readern
öffneten, und Nischenverlage von immer größeren
Konsortien geschluckt worden waren, die auch Tiernahrung oder Stahlwerke und neuerschlossene Kohleflöze verwalteten, denn es war eine allesumfassende
Energiewende im Gange, die vor allem vampirmässig
Körperenergie zu betreffen schien, und dabei unentwegt Warmes in Kaltes zu verwandeln schien, war
eben auch dieses Relikt geschluckt worden. Die Zombiezeit begann.
Langsam zu einem Sammelbecken der Caviar Gauche verkommen, waren hier nur Söhne und Töchter
verblieben. Sie flohen, soweit man von einer tatsächlichen Bewegung sprechen konnte, vor den Angeboten
der Konkurrenz aus Projektentwicklern von Startups,
die sich hier angesiedelt hatten, weil das Wasser von
guter Qualität und die Mieten halb so billig wie in California waren, und weil man so, ohne wirklich etwas zu
tun, Flagge zeigen und protestieren konnte gegen das
Establishment, von dem niemand mehr wusste, was
das einmal gewesen, als was es gedacht worden war.
Und sie flohen auch aus den Fängen des Real Estates, dessen neue Losungen sich anschickten, gegen
148
die aufgeblasenen sich schneeballmathematisch dahinwälzenden Finanzmodelle einer Scheinökonomie
endlich gute und wahre Werte mit dem Sprachglanz
alter Tage zu bestreichen, und einen neuen, weil sauberen, reinen Materialismus auf dem Fundament der
Worte zu errichten, wogegen so recht nichts einzuwenden war außer dem berechtigten Vorwurf allzu
emphatischer Anteilnahme an allzu äußerlicher Ökonomie, der sich aber auch aus einem Mangel an Antrieb, der die Verlagsadepten erfasst hatte, und sie
zu Bloggern im Dienste der egalitären, immer gleichen Biografien gemacht hatte, speiste. Biografien,
die in einer kaum noch nachzuvollziehenden Endlosschleife sich rotierend perpetuierten, und bei denen
sich nichts änderte außer die Namen der Protagonisten, und die, ohne dabei sarkastisch zu lächeln, in
Wirklichkeit ihre Eigenen geworden waren. Morgens
erschienen sie noch betrunken vom Vorabend missmutig in der Enfillade der Verlagsräume, die sich so
im Ring zum Open Office formten, einer Architektur,
deren Sinn ihnen noch niemals wirklich eingeleuchtet hatte, aber die ein gutes Schlachtfeld für den
gemeinsamen morgendlichen Kampf mit dem kaum
149
noch vorhandenen Kater bot, und dem sie auch, mit
im Vorzimmer aufgestellten Schüsseln voller Aspirin
bewaffnet, begegneten. Draußen lärmten dann bisweilen noch immer die Touristen aus der Altstadt,
die in der Nacht zuvor hinaus in die etwas billigeren
Spätshops gezogen waren, wo sie sich dann bis in
die Morgenstunden zu Junggesellenabschiedsritualen
zusammenwarfen, und stifteten wiederum mit immer
gleicher, bacchantischer Verve neue Verbindungen zu
Junggesellinnen; irgendwo in Polen war ein Zug mit
Nazigold gefunden worden.
Heute, hier, jetzt stand Birte Coppius am Fenster, an
einen der schweren Klappläden gelehnt, und schien
abwesend. Philipp näherte sich ihr, langsam an sie heranpirschend, auch um sie zu erschrecken, wie sie so
gedankenversunken dastand, und sie ihm überhaupt
wenig Spaß machte.
Er packte sie von hinten, mit den Armen unter ihre
Achseln schnellend sie ergreifend, und warf sie
ruckartig herum, wobei diese einen spitzen Schrei
ausstieß und sich mehr im Scherz als im Ernst entwindend ein laut hörbares –
150
– Philipp du Sau! entgleiten liess, dem er nur ein hingeächztes Superlativ, etwa
– Du bist die Allerperverseste von uns dreckigen Büroschnallen! oder dergleichen erwidern hätte können,
aber dann doch nichts sagte, und sie daraufhin, als
wäre nichts gewesen – und es war ja auch nichts,
Birtes lose Gedanken waren verflogen – schnell mit
gespielt autoritärem Klang in der Stimme zu einem
Ratespiel ermunterte, wie sie es oft spielten, wenn
die Vormittage gar zu lang wurden, etwa Vogelnamen
mit S, oder einer musste eine Musikerin sagen und
der andere deren Trauma erraten, wahlweise auch die
Todesart. Das floss dann zugleich auch in die neue
Ausgabe in Form einer coolen Liste ein, und so erspielten sie sich, mit einigen Schminktips oder horoskopartigen Ratschlägen, alles mit Humor durchwebt,
sowie kleinen Reportagen von versteckten Paradiesen
spielerisch das Heft, ganz so, wie sie es in den langen Urlauben im Hinterland getan hatten, unter öder
Verwandschaft leidend oder um die Wartezeit für ein
italienisches Eis zu überbrücken, dass die Eltern hatten kaufen müssen, oder in den Autofahrten zurück
von den Reiterhöfen in der Peripherie nach Hause.
151
Sie waren nie wirklich zynisch, denn dazu hätten sie
enttäuscht oder verbittert sein müssen, und da sie
nie etwas erstrebt oder erlangt hatten, konnte kein
Verlust oder Entmutigung den Gleichklang der von
Ironie durchwehten Verlagstage misstönig stören.
Durch die Buntglasscheiben, in denen man je nur ein
kleines Vieleck öffnen konnte, drang die Außenwelt
in facettierten Kaleidoskopdrehungen ins Innere ihrer
Arbeitswelt, wurde sanft hineingespült, und ließen dabei einen kleinen Wind spüren, wenn man ans Fenster trat, um das eingefärbte Treiben des Platzes zu
beobachten.
Sich vollständig um die zwei große Innenhöfe dieses
riesigen Baus erstreckend, in einer Anordnung, die
einem runden Ring mit verschiedenen inneren Kreisbahnen glich, aber dem tatsächlich ein rechteckiger
Grundriss zugrunde lag, war alles schwer und alt. Es
wog das von kirschholzvertäfelten Wänden eingekeilte Interieur des Verlags durch die Tiefe der Räume
noch umso schwerer, und die von kleinen Tolomeoleuchten nur spärlich erhellten, im einstigen Herrenrauch ihrer Vorfahren tiefrot eingefärbten Gipsdecken
152
drückten, schwer bestuckt, von oben herab auf das
darunterliegende Verlagswesen. Diese waren über
und über mit Puttoköpfen beklebt, welche aus einer
undefinierbaren, nur vage geometrisch zu nennenden
floralen Masse herausstaken, und darin wie die, still
Päderastie verströmende, Kinderversion der Laokoongruppe, ja einer missglückten Copy–Paste Aktion
anheimgefallen und ineinanderkopiert erschienen,
und deren tödliches Missgeschick im neuen Energiesparlicht der Jahrtausendwende umso Bedauerlicher wirkte. Auch im Springerverlag sollte es solche
Räume geben, noch von der London Times, doch
fehlte denen vermutlich jenes Bizarre, das den opulenten Rahmen für das stellte, was sie hier ihr Live–
Roleplay nannten.
Überall an den Wänden hatten, wie aus fernen, unlesbaren Vorzeiten einmal, welche vor ihnen Spuren verbreitet, und sie hatten alles unberührt fortleben lassen, und nur dann, wenn es pragmatische
Entscheidungen verlangten, in die höhligen Ruinen
vergangener Nützlichkeiten eingegriffen. An den
Wänden hingen noch vereinzelt vergilbte Land–
und Grußkarten, Ausschnitte längst eingestellter
153
Gazetten, die frühe Automobile zeigten, und diverse
Mahnungen in Form von Stichen, die etwa einen riesenhaften Greis im wallenden Gewand, umringt von
nackten Jünglingen zeigte, die einen langen Spieß einem flackernden Feuer entgegen zu schleppen schienen, und dem ein kleiner Sinnspruch beigefügt war,
etwa Die Zeit ist der tödliche Ratgeber der Jugend.
Oder heiter stilisierte Jagdgrotesken, in denen eine
Rotte wilder Schweine sich in einen Jagdhund verbiss, was wohl ein antiker Spaß auf die Unvorhersehbarkeit der Welt sein mochte, aber ebenso rätselhaft
blieb, wie so Vieles, das die Mitarbeiter, Familienmitglieder, und manchmal gar Mitbewohner dieses dunklen Hauses umfing. Denn es war so Manches hier oft
nur Andeutung, und nichts schien wirklich ernst, denn
in den Hallen des Verlages, in denen es noch Räume
gab, die keiner von ihnen je betreten hatte, atmete
noch immer ein leichter Sommerhauch von Lavendel
aus allen Ecken dieses seltsamen Mausoleums, ein
Wort, das sie liebten, denn es erinnerte sie an Äsops
Fabeln.
Alles war wie in einem Internat, doch ohne Lehrer; wirklicher noch, aber von ähnlichem Geheimnis durchweht.
154
Es gab keine Privatheiten vor den Anderen, und zwischen Maxi, Sisi und Bibi, Ferdl oder Isa, wie sie sich
noch immer wie in Jugendtagen nannten, denen alles
ein Spiel war, außer dem Spiel selbst, eine tiefe Verbundeneit. Das war ihnen einzig heilig ernst, dieses
Spiel, in welchem sie fortwährend einander aufzogen, nachts wie verängstigte Kinder durch die Zimmer
huschten, haschten, und sich aneinander drängten, kuschelten, wenn es regnete, und die kleinen Wasserperlen im nun müderen Farbspiel der Bewölkung die Fenster hinunterliefen. Kurz, sie waren Einander und Allem
vertraut. Wie schon ihre Großeltern an den Badeorten der Riviera sich begegnet waren, heiter ausgelassen geplanscht hatten an den mit Kabinen übersähten
Steinstränden, inmitten eines großen Geheimnisses,
das noch immer keine Auflösung, aber die Ahnung
eines Mitwissens verbreitete, waren sie in jeder Hinsicht Verwandte und Bekannte zugleich, und kannten
sie wohl auch Zänke und Eifersüchteleien, so vertrugen sie sich alsbald wieder, denn in den alten Hallen
des Verlags erschien das oft gar klein und unwichtig.
Wenn sie abends um die wenigen verbliebenen Kaminattrappen, die einstmals, um den Räumen halt zu
155
geben, in die Türstöcke eingebracht worden waren,
sich versammelten, und sich Räubergeschichten erzählten oder einfach den gelesenen Tratsch der anderen Klatschblogs einander vorsagten, verstrichen die
Stunden im frohen Gleichklang der alten Chronometer und Pendeluhrkästen rings umher, deren Pendel
schon lange keinerlei Dienst mehr taten, und wussten
sich an der richtigen Stelle. Und manchmal gingen
sie dann nicht einmal mehr nach Hause, sondern ließen sich in die schweren Chesterfieldmöbel hinabsinken, berauscht von seltenem Mezcal oder auch einem Port, kleinen Mitbringseln, die sie aus wundervoll
prismatisch geschliffenen Gläsern, wenn auch nicht
eben passend, aber vor allem der kleinen Überschreitungen wegen heimlich verlockend, tranken, in den
Nebel der Dämmerung hinein, der sie auch im Inneren der Verlagssäle mit langsamem Schwarzblau, im
feuerlosen Kaminzimmer zu umfangen schien.
Manchmal erschienen ihnen dann aber auch Gespenster an den Zimmerecken, formten sich aus
achtlos fortgeworfenen und selbst sorgsam drapierten Kleidungsstücken an Stuhlkanten und Kleiderhaken, Monstren aus sich abzeichnenden Umrissen
156
erlangten ein Leben, grauenerregende Kreaturen, die
dann den vielleicht zu früh in den Morgenstunden erwachten Schläfern im Dämmerzustand aus Wachen
und Traum jede Bewegung zu versagen schienen,
denn ein Ruck, ein zu tiefer Atemzug, auch das zu
schnell über die Augen geworfene Wollplaid konnte
die Untiere, einen Oger vielleicht gar, zum Leben erwecken, die, obzwar noch keinen von Ihnen je erreicht
und hinabgezogen, aber dadurch in ihrer starren Position umso bedrohlicher wirkten, und das grässliche
Potential eines plötzlichen Angriffs ins Unermessliche
zu steigern schienen. Dann war ihnen alles Gesicht,
unfähig sich zu rühren, belebten sich die Gegenstände, das Kirschholz ächzte und wie glühende, atmende Augen schienen die kleinen Lichter der Computer auf den Tischen rings umher die Schläfer zu
fixieren, und in ihrer Einsamkeit, unfähig, die Situation
zu erhellen, sehnten sie sich noch tiefer in die vertraute Umgebung des bunten Tags zurück, während
die Minuten in Regungslosigkeit sich entsetzlich zu
dehnen begannen. Nur der Gedanke an die Arbeit
der Redaktion half ihnen, sich Zurückzubesinnen auf
die Arbeit an den Biografien, den Verhältnissen und
157
Gemeinschaften, die sich um sie herum banden und
lösten, half ihnen dann in den Gleichklang der Sicherheiten gewohnter Realitätsvorstellung zurück. Und
wenn endlich Sisi die Stille mit einer Drehung und
einem leisen Atmen durchbrach, und der bis dahin
unsichtbaren Gemeinschaft eine Physis in der Dunkelheit verlieh, die einen verteidigungsbereiten Organismus gegen die stummen Unholde verriet, dann
sanken auch Ferdinand, oder vielleicht auch Konstantin in den Halbschlaf, aus dem sie unruhig erwacht
waren, zurück.
Im Traum erschien ihnen dann alles viel leichter, und
auch wenn sie sich nicht mehr der eben noch bedrohenden, und nun glücklich geendeten Situation erinnerten, und in eine freilich unerlebte Jugendepisode
zurückkehrten, dann sahen sie oft den kleinen Bach
in strahlender Frische sich durch das Tal winden, der
teils erdacht, teils aber auch zusammenerinnert war.
Kleine Leuchtpunkte, schwarmhaft tanzende Glühwürmchen irrlichterten über das lautlose Rauschen
dieses Bildes hinweg, und Ferdinand Konstantin, der
sich dann von Außen betrachtete, und sich selbst
158
über die Wasseroberfläche beugend im kräuselnden
Spiegelbild bewunderte, starke Zeichen der Zuneigung verspürend zu diesem Ander–Ich, dass dort wie
ein kleines, unbehaart sehniges Reh, mit Grazie und
Anmut, aber nicht ohne eine Wollust an diesem androgynen Halbwesen verspürend Alles in ein farbiges
Licht zu tauchen schien, das inmitten der schwirrenden Leuchtpunkte ein lebendiges Zentralgestirn entfachte, das sich im klaren Wasser des Bachs verzerrt
ebenfalls als wabernde Corona mitspiegelte, und dabei die seltsam schroffe Landschaft ringsum gleich
miterhellte, die sich hinter den Wiesen rund um den
Bach aufgetürmt hatte, und ein pulsierendes Leuchten, dass Wellen über die Fluren sandte, brach sich
dann an den von Burgruinen unterschiedlicher Zeiten
bestandenen Felsnadeln, an denen diese eigentlich
gegen jede Schwerkraft mehr zu hängen schienen,
und zu denen es die kleinen Lichter magisch hinaufzog. Alles mochte hier etwas bedeuten, doch es blieb
fremd und erschloss sich nicht, und ehe er die verschiedenen Eindrücke hatte ordnen können, drängte
sich in dieses Bild eine den Bachlauf hinaufschwimmende kleine bunte Ente, der in dichter Folge eine
159
Schar schnatternder Küken folgte, die sich zu einem
Ring aus Tieren verband. Das Schnattern wurde nun
rhythmischer, und wie das Licht, das zuvor von dem
rehgleichen Doppelgänger ausgegangen war, begann es nun selbst zu pulsieren, lauter und immer
lautere Klänge ausstoßend. Er erwachte. Die Sonne
brach schon mit rotgelbem Strahl als neuer Morgen
in die Räume des Verlags. Was der Entenkreis gewesen sein mochte, an den nun Konstantins Erinnerung völlig erblasste, war das schrille Geschrei eines
fortwährend betätigten kleinen Türglöckchens, das im
darunterliegenden Geschoss einen Besucher verkündete, und dessen Widerhall ihn nun vorzeitig aus allen erdenklichen Träumen gerissen hatte...
VIII
Nach Majas Verschwinden, das mir damals in allen Kanälen entgegenbrüllte, war ich soweit. Ich begann, nun ausschließlich Gin zu trinken, und vergrub
mich in die wenigen Fakten, die es dazu gab. Ihre
160
plötzliche Abwesenheit schwemmte Gerüchte wie
Treibholz an die trübe Oberfläche der Wirklichkeit,
und das Wenige, was gesichert schien, brachte mich
keinen Schritt weiter.
Maja hatte ein neuerliches Loch in mich hineingeschlagen, etwa auf der Höhe des Brustkorbs, das
eiterte und Schmerzen verursachte. Und die ich mit
Alkohol zu desinfizieren suchte, während ich gleichzeitig volltrunken, aber dennoch luzid und klar die
letzten Spuren zu einem Häufchen türmte, einfach
alles, was ich wusste. Und diese fast unerträgliche innere Aufspaltung in Delirium und innere Investigation
drohte mich langsam zu zerfressen. Die Wohnung,
die um mich herum verkam, in der ich langsam umkam, lag in einem etwas heruntergekommenen Wohnviertel unweit des Hafens. Die heruntergezogenen Venetian Blinds drückten auch den Lärm des beinahe
schon erstorbenen Warenverkehrs dort draußen zu
seltsam dumpfen Lebenszeichen nieder. Touristen,
die den nunmehr brachen Schiffsfriedhof zu einer Sehenswürdigkeit und Vergnügungsmeile gemacht hatten, hinterließen spitze Schreie über dem Bass der
letzten Maschinen.
161
Maja hatte Recht behalten, sich in vollendeter Egomanie zu sonnen. Sie war für sich das absolut Wichtigste, das Zentrum der Welt gewesen, etwas Unwidersprechliches. Nun, da sie unauffindbar fort war,
hatte sie mir ihren Job überlassen.
Auch wenn wir in der kurzen Zeit unseres sporadischen Zusammenseins selten über etwas Anderes als
sie gesprochen hatten, begann ich, diese Gespräche
auf eine Weise zu vermissen, die, je mehr ich an sie
dachte, von immer bedeutsamerem Inhalt wurden. Ich
hatte recht eigentlich Wenig bis Nichts für sie empfunden, und dieses Wenige als etwas Körperliches
wahrgenommen, aber dieses Verlangen nach Majas
nahezu vollendeter Oberfläche bekam nun fast unerträgliche Substanz.
Die völlige Abwesenheit jeglichen Affekts damals
schien ihr jetzt eine Perfektion zu verleihen, die mich
vor Sehnsucht beinahe den Verstand zu kosten drohte.
Kein lärmendes Getobe, keine Streits waren da in der
Erinnerung, keine hingehauchten Schwüre, alles perlte
an dieser glatten Gestalt wie aus einem Ingres–Gemälde ölig ab, aber in meiner Erinnerung begann ihre
unleugbare Ignoranz langsam zu Noblesse zu werden.
162
Wieder und wieder las ich ihre Bücher, es mochte
ein halber Regalmeter gewesen sein, die ich nun begann, dauerhaft aus den Bibliotheken zu entleihen,
um sie dem Zugriff fremder Leser zu entziehen, Maja
sollte mir gehören, oder die Schweine sollten wenigstens dafür zahlen, in ihr herumzustöbern. Immer
wieder durchkämmte ich ihre Bestseller nach Hinweisen, aber da war Nichts. Sie waren von so makelloser Oberfläche, wie sie selbst mir jetzt erschien. Die
Figuren darin, eher die Gestalten ihrer Bücher, waren
sämtlich Frauen, die zwischen Männern standen, und
welche wie Staffage um die Begehren Ersterer herumlungerten. Sie alle bekamen jetzt Majas Gesicht,
das ich manchmal aus Mangel an Erinnerung erfinden musste, oder welches mir als sehr jugendliche
Version von den Buchrücken höhnisch und siegesgewiss entgegenblitzte wie jedem beliebigen Leser.
Und das mich hinabstieß in den Kreis dieser Pappkameraden, mit denen sie als austauschbares Gefolge
die Hohlwelten ihrer Ichphantasien schlampig beklebt
hatte. Und denen ich dann wiederum eifersüchtige
Blicke und Hass entgegensandte, wenn ich mich unter diesen wähnte, und mich dann selbstmitleidig in
163
meiner Austauschbarkeit suhlte. Dann schenkte ich
mir meist noch ein großes Glas Gin ein, um diesen
Schlick richtig und gut anzufeuchten, sodass ich aus
ihm kleine Urnen für mein Private Ich hätte töpfern
können.
Heute weiß ich, dass ich eigentlich langsam alles an
ihr vergaß, und sie gerade deshalb nicht vergessen
konnte, und wofür ich begann, sie zu hassen. Und
das war ein starkes Gefühl, welches ich, weil ich es
mit ihr zu verwechselte, an ihrer, Maja, Maja, Maja,
Maja statt zu lieben begann.
Ein Anruf verkündete mir den Fund eines Abschiedsbriefes. Damals dachte ich noch daran, wie falsch das
eigentlich war, diese heitere und gehässige Materialistin mit dem Wunsch nach einem freiwilligen Ableben auszustatten, und in dem Schreiben, das überraschenderweise an mich adressiert war, und in dem
sie mich, da, wer immer dieses Machwerk verfasste,
ahnte, dass ich für derlei Medien empfänglich war,
in Geheimschrift aufforderte, an dem Verlag, der ihre
Ära so schmählich und plötzlich in ein investigatives,
prekäres Nichts verabschiedet hatte, ein rächendes
Exempel zu statuieren, standen einige hingehuschte
164
Liebesworte an mich gut lesbar im Betreff, aber
das klang so gar nicht nach der Egomanin, die jetzt
durch meine Liebestätigkeit zur Exomanin geworden
war. Dennoch, in dem Augenblick starb etwas in mir,
und vielleicht war es sogar die Perspektive auf diese
Trümmer von völlig zerrüttetem Subjektmüll, ein stinkender Haufen, aus dem, wie die Scherben eines zerbrochenen Glases, kleine glitzernde Angebote, etwas
Menschliches, gefährlich herausstaken, die mich nun
gänzlich um den Verstand brachten...
IX
P.I. war nun drauf und dran, den kümmerlichen Rest
des verbliebenen Selbst auch noch mit einem großen Knall zu verabschieden, und sich in die völligen
Obsoletheit eines Daseins ohne Maja hineinzusuhlen, aber mit der unerbittlichen Verve, die die Nachricht von ihrem offensichtlichen, zwar nur durch ein
Indiz belegten, aber dennoch gewollt erscheinenden
Ende erzeugte, brach das Überschallprojektil dieser
165
Perspektive durch sein Bewusstsein wie durch einen
zerfetzenden Schaumstoffbrocken. P.I denkt, die Rakete startet. – Nimm mich mit, kleiner werdende Rakete, trag mich raus ins Nichts, ruft er noch in sich
hinein, – hier ist es auch öde und heiß aber Draußen
ists ehrlich kalt. Außen kalt. In mir ist es aber kälter
noch, das Universum wird wärmen. Und sie:
– Du kannst nicht mit!, so schreit die Rakete dann
mit einem alles zerstiebenden Beben. – Sie trägt dich
nicht, kleiner Fettsack...bleib lieber unten, du bist ja
sowieso feige. Wenn ich hier in der Atmosphäre zerplatzte, dann platzt du mit, regnest als fettiger Staub
auf die Felder. Traurig bleibt P.I. also am inneren Startfeldrand und blickt der verdrehten Kerze nach, diesem
sich langsam entfernenden Licht hinterher. Heißer
noch drückt das Denken da plötzlich, Erinnerung nun
schon fast ans nahezu völlig verglommene Gleißen.
Und träumend von Staub geht ein dicker alter Hund
in ihm heimlich ins Nichts, und alles dreht sich plötzlich in diesem Vakuum. Der Hund findet ein paar Artgenossen, 3, 4 Köter nun, und so balgen sie sich wie
huschende Blinklichter auf einem spiegelnden Grund,
sich windend, und zu einem Kneuel verbalgt, dann
166
sich gegenseitig wie verschlingend, fetzend fressend,
einem hängen die Gedärme seitlich heraus, die dann
ein Eigenleben führen, sich sogleich in Formationen
tanzend winden, und in die übrigen Tiere einzudringen
versuchen, während der Erste ein unhörbares Ultraschallstöhnen von sich zu geben scheint, hinein ins
Schwarz von P.I.s Umnachtung, denn im Kopf ist‘s
schon spät, zu spät um noch umzukehren aus der inneren Einbahnstraße, und so fügt er sich still in sich
ein, auch um das Gebell, das da sein müsste und
dennoch immer unhörbar bleibt, vielleicht doch noch
ins Bewusstsein zu bekommen, aber da sitzt nur die
Grinsekatze Maja gruselig und feist wie damals, als
sie noch ein Kind wie das auf den Fotos gewesen war
die sie ihm gezeigt hatte, schon rotstichig gewordenene Farbbilder in diesem Album hinter den Schnapsflaschen, im Hallerregal verborgen. Und dann war ihm
noch kurz, als hätte er eine telepathische Übertragung
zu ihr, in die nun doch immer wilder sich verbeißenden, fetzenden Hunde hinein, halbtot schon, aber mit
unverminderter Beißhärte gegen dieses neue Sich–
Hund–Selbst, dann schnell das Album aufklappen,
und neben das Fremdwörterlexikon mit den von der
167
Investigativratgeberin selbst ergänzten Begriffen gelegt, aus Partykonversationen herausgeklaubte Fetzen von Normalverstand oder in Symposien heimlich
notiert, nun gänzlich im Hundegefetz aufgelöst, anstoßend, und in dem Album die Seite mit dem Lesezeichen aufgeschlagen, eine kleine, goldene Pegasus–Readers–Digest–Nadel markiert den Punkt. Sie
kannten sich ja alle noch aus der Odenwaldschule,
Kilian, Robert, Maja. Sie waren für ihr Leben ausgebildet worden, und es wäre leicht gewesen zu behaupten, dass sie ihre Zeit damit verbrachten, kleine
verstümmelte Strichmännchen in ihren Notizheften zu
quälen, aber sie hatten gar keine, waren Anwender
durch und durch, fiebrig von der politischen Macht
des Konsumenten faselnd, kannten Christian Bale
noch von der Zeit bei George in Como, sich permanent dabei gegenseitig in die trainierten Hintern kneifend, blöde Scherze besoffen, bekokst machend, und
sich Bestellzettel vorlesend, dabei in den Arsch einer
Rehbergerskulptur kletternd, als wären und waren sie
noch immer 14? Voran kriechend dann wiederum voller Poppers, und das Paradigma vom Hoffmann’schen
Erzähler der sich anmaßt von jedem gefragt zu werden
168
was denn mit den Figuren jetzt sei...keinerlei Exzess,
sondern nur dumpf voran, voran, voran... diese peitschenden Pulse, nun gänzlich in die Hunde hineingeschnitten, in einem Hundeinnenraum eingekapselt die
Motive offengelegt, und Majas Stimme so durchdringend wie ein Märchen über das Gebell, nun gut hörbar hinausgeschrien, in das Gebell verwandelt, kleine
Sätze. Maja spricht wie in einem Südstaatentraum,
– Bobby Pratchett, der kleine Billy und Mae, damals
die Hauptstraße in Vermont hinuntergerannt, am alten Indianerfriedhof vorbei, von dem nur noch ein
paar Reste geblieben waren. Dann an Johnny Tate’s
Scheune ganz außer Atem, sich die Seite gehalten,
stechend. Der Geruch von gedüngten Feldern auch in
dem Städtchen, Gülle überall, aber süß. Die Flötenlutscher pfeifen lassen, durch das Wäldchen, und dann
am Bach wieder abschlagen und zurück. Manchmal
eine kleine Rangelei, wegen einem Wort, oder Streit,
fiktive Waffen aufzählen, am Ende unsterblich sein.
Dann Schluss. Nur nicht nach Hause, wo es muffig
war, und alles schweigend... little john, little john, play
your tiny vibrafone... hatten vergessen, dass es schon
spät war, hatten dann den Weg gesucht, im Dunkeln,
169
die Ulmen hoch am Bach, den Stock zum Mähen hohen Grases nun wie einen Speer gegen die unsichtbar verborgenen, lauernde Gestalten im Wald... Eigentlich ziemlich öde Gedanken, dachte P.I.
Und da wacht P.I. auf, schon Monate später, aus diesem zombiehaften, inversen Wachkoma das Majas
Tod hinterlassen hat und steht am Grab, zuvor aber
erstmal am offenen Sarg, der wie ein Einbaum aus
Ulmenholz ohne Paddel wirkt und mit einigen Erinnerungsstücken und Devotionalien gefüllt ist, offensichtlich von Verwandten hineingelegt, die sie gar nicht,
oder nicht mehr allzu gut kannten. Dann wiederum an
der Grube, zweimal leere Ausschachtungen hintereinander, Sarkasmus der Realitätseffekte.
Einige versprengte, grau–schwarze Gestalten, in
Trauer um die nicht einmal tot anwesende Maja, drängen sich unter die spärlich vorhandenen Schirme,
denn es hatte nun spontan zu regnen begonnen,
und nur die Übervorsichtigen waren vorbereitet gewesen. Sie sorgten nun mit großzügiger Miene für
ein Bild stützender Nähe, das seltsam gebrochen
wirkte, wenn man die nicht vorhandenen Beziehungen der Anwesenden im Licht der nun zu teilenden
170
Bedürfnisse sah, dabei aber ein jeder wohl wissend
um die tatsächlichen Abhängigkeitsverhältnisse der
Grillentrauernden inmitten der Ameisentrauernden,
die nun auch gänzlich aufgehört hatten zu fiedeln.
– Und ich stellte mir vor während ich in meiner Tasche
nach der anknöpfbaren Kapuze für meine schwarze
NorthFace Funktionsjacke kramte, auch der Ulmenholzeinbaum wäre offengeblieben, und schwömme
treibend auf dem sich langsam füllenden Bassin des
ausgehobenen Grabes, und füllt sich dann ebenfalls
mit Regenwasser, all die kleinen Briefe und die neu
gekauften Stofftiere, deren Vorgänger Maja wahrscheinlich sämtlich schon als Kind zermartert und
verhackstückt, zerteilt, geblendet hatte, so wie sie
mit Luftgewehren auf Frösche geschossen und überhaupt keine Gelegenheit ausgelassen haben mochte,
dieser gotthaften Dominanz ihres herrischen Selbst,
die sie später so selbstverständlich auf den Körpern
ihrer Untergebenen, getarnt als Fürsorge, entlud, einige Lebend– und Sachopfer darzubringen, denn ja,
sie war eine Großmeisterin des des Devianten, – nun
vielleicht schon gewesen? – , überall verehrt für ihre
Einfühlsamkeit, aber in dieser kalten Form, stumme
171
Psychopathologie, Abziehbild des Mitgefühls. Und all
das saugte sich dann mit dem abregnenden, erkalteten Kondensat des Rheinwassers voll, und in einem
inneren Zeitraffer verrotteten die Polyesterteile und
schimmelten die Abschiedswünsche in dieser Doppelwanne, deren hölzerner Sargschiffsteil in einem
finalen, inneren Tusch in der schlammigen Grube,
Majas Grab, versank. Das Wasser quoll dann in mir
weiter, während ich den Verwandten unter den misstrauischen Blicken der Eltern, beide aneinandergestützt mit verhärmten, zornigen Mienen, die mir stumm
eine Mitschuld an Majas Verschwinden zu geben
schienen und die obgleich sie mich nicht kannten, mir
einen verderblichen Einfluss zudachten.
Und den P.I. in den Mikropolitiken ihrer gemeinsamen
Zeit tatsächlich niemals hätte geltend machen können, dachte er, während er widerwillig diese ebenfalls widerstrebend entgegengestreckten, schlaffen Hände schüttelte, und – Mein Beileid, murmelte.
Denn es war weniger ihre alles kontrollierende, obsessive Ichbesessenheit, die einen solchen Einfluss
allein schon kategorisch ausgeschlossen hätte, vielmehr hatte sie eine solche Klarheit hinsichtlich der
172
Verfasstheit der Weltverhältnisse durchdrungen, die,
obgleich ohne jede empirische Grundlage, dennoch
völlig verunmöglicht hätte, äußere Einflüsse auf Majas
Entscheidungen zuzulassen, und in dem Moment, indem ihm dieser Umstand klar vor Augen trat, durchbrach die braune Schlammbrühe die Außenwände
des Grabes in ein fiktives Dunkel hinein, durch unzählige, kleine Kapillare im Erdmantel, wälzte sich
in den unterirdischen Strom, die gelösten Polymere
aus den Erinnerungsstücken mit sich führend, in das
Ganze des Grundwassers, und bahnte sich, unendlich langsam, an– und abschwellend den Weg zurück
in den Rhein, der über das große Delta an den Rändern der Agglomeration Triers ins Meer mündete. Der
Einbaumschlamm und die Grubenschwebteile, nach
dem Wässern der im Dauernebel faulenden Maisfelder, und mit unzähligen Molekülen anderer Quellen
vermengt, gingen dann in die Bäume am Stadtrand,
in die Nahrungsmittel über, wo die Reste der Erinnerung an Majas Verschwinden sich über die morgendlichen Fruchtsäfte und erinnerungsschwanger fauligen Cornflakes an den Fühstückstischen Triers einen
Weg in die Herzen der Menschen bahnten, und sich
173
dann einige, wenige Wasserteilchen beim Rückstrom
durch die Klippen sanft strudelnd um die unzähligen
Beinchen der Leuchtkrabben strömend legten, dann
hinaus in das Unbekannte flossen, wo sie sich vielleicht doch mit der ebenfalls – Irgendwo da Draussen! befindlichen Maja zu vereinen trachteten.
X
Jetzt, am Fenster stehend und rauchend, erschienen
ihm darüber hinaus die Diskussionen der letzten Tage
wie eine nutzlose, ja geradezu lächerliche und im
Geiste fortzuwischende, unerträgliche Plage, der die
inneren Windungen seines Hirns, die bei ihm nicht
selten mit dem Magen verbunden zu sein schienen,
Untertan waren. Die Zigarette langsam zum Mund
führend, und den Blick über den nun gänzlich leeren Innenhof der ehemaligen Schokoladenfabrik im
Hinterhaus und die hineinstrebenden Kreativarbeiter schweifen lassend, kam dem Cheflektor des CILANE Verlages sein eigenes Dasein verschenkt und
174
albern vor, es schüttelte den geübten Menschenkenner innerlich hin und her angesichts der zu ertragen
gewesenen, gehörten Exegesen und dem dummen
Geschwätz, das gerade nun, in den letzten Stunden
der Verlagssitzung, in den Entscheidungsmomenten
der sich beschleunigenden Mühle des Redaktionsschlusses allgemein getauscht worden war, und auf
ekelerregende Weise, jetzt da er gänzlich allein war,
in ihm nachhallte.
Der Verlag. Dieses uralte Wort, das er manchmal
stumm vor sich hin wiederholte, ehrfürchtig zunächst,
dann schneller werdend, bis es ganz seinen Wortsinn
in der inneren Fliehkraft seiner Gedanken von sich zu
schleudern drohte, und die Außenwände der Blase
seiner Wortexistenz verklebte, so dass dann kein Hinaussehen mehr vom nun gänzlich leeren Zentrum aus
möglich war, sondern sich nur noch ein schaler Blick
auf das schleimige Trümmerfeld dieser Hohlwelt ergab, und ließ ihn, den Logoklasten, wie er sich dann
halb ehrfürchtig, halb spöttisch selbst zu nennen
erlaubte, angesichts seiner auf das ohnehin etwas
schal schmeckende Leben gerichteten, autoaggressiv innerlich tobenden Zerstörungswut zittern.
175
Maximilian war tödlich beleidigt. Er war gedemütigt
worden von Malte, dem Buhler, denn ein vorangestelltes Neben hätte nur eine unzulässige Nähe zu seiner
Daphne (Isabelle), wie er sie heimlich und für sich
nannte bedeutet, sowie zu deren forsch vorgetragenen
Einsprüchen betreffs der Aufteilung der Ressorts, und
er fühlte den brennenden Schmerz einer nur schwer
zu heilenden Verletzung. Dass sich der Name dieses
kleinlichen Newcomer–Wichts – so war er kürzlich
in der Finanzsitzung vom Ressortchef Medien in der
Kaffeepause heruntergeekelt worden – nun auch noch
auf den wiederum von Maximilian über Isabelle gebreiteten Mantel aus betörender Phantasiekreatur reimte,
klang dabei umso übler in den Gehörgängen des Altvorderen nach. Malte, Daphne...hatte er nicht deutlich genug darauf hingewiesen, dass er die Reportage über den Fortgang der Irrenschau, wie sie das
Format Homestory Dschungelkönig abschätzig und
erschauernd zugleich intern getauft hatten, und dem
sich die beiden Redakteure nun mit fortschreitender
Hartnäckigkeit zu widmen schienen, für einen irreparablen Fehltritt hielt? Er trug ihnen dabei vor allem
auch ihren ungestümen Arbeitswillen und das etwas
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trotzige Insistieren auf der Fortführung der ihm völlig
übertrieben erscheinenden Außenrecherche in nahezu
sämtlichen anderen Recherchen nach,
– Da ist doch jede Menge Internet im Haus, warum so
an die Leute rankriechen? hatte er Malte angeblafft,
der dann kleinlaut, trotzig wie ein Schulbengel durch
ihn hindurch zu Daphne gewendet gesagt hatte, er,
der Alte, sei eben doch ein realitätsfickender technokratischer Kopist!, ganz so, als wäre er gar nicht
im Raum gewesen; gesagt hatte dieser das mit so
einer plötzlich einbrechenden Infamie der dritten Person, die man von sich einst innig Liebenden, aber einander nun bis zur Widerwart abstossenden Paaren
kannte, die sich für das Fehlen des einst geliebten
Gegenstands im Anderen entschädigen, indem sie
die Hülle um diesen Gegenstand versachlichen, um
wenigstens diese zum nun gehassten neuen Gegenstand machen zu können, und die sich für den Verlust
mit der Objektivierung der Reste öffentlich rächten.
Gerade so war auch er innerhalb weniger Sekunden
im Nu objektiviert, und ganz und gar nicht heimlich
überwunden worden, das spürte er nun am ganzen
dinglichen Körper.
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Denn insgeheim waren seine Bedenken dabei vor
allem der Zusammenarbeit beider gewidmet. Deren wachsende Vertrautheit marterte ihn seit Tagen,
der sein quälendes Verlangen nach ihrer, Daphne –
Isabells Nähe, nun in der braunen Farbe des Ekels
tränkte. Es hatte sich schon längst ausgebreitet, und
alles in ihm innerlich ausgehöhlt; dieses Wollen! Und
über der unerträglichen Penetranz des nahezu nicht
wahrnehmbaren, aber damit umso schneidender in
ihn hineinkriechenden Geruchs der Freelancerin, der
so oft von ihrem Schreibtisch aus in das sich vor ihm
ausbreitende, zu ihm ins zähe Tagesgeschäft und die
höflich zu personalisierenden, negativen Beantwortungen der von Anfragen junger Autoren überquellenden Accounts hinübersickerte, dieser scent, der
ihn in den Wahnsinn zu treiben drohte, ganz langsam
ihn innerlich anhob, einfach geil machte, so dass er
jeden Moment der Anwesenheit des permanent im
Weg zu sein scheinenden Maltes wie eine nur ihm allein gewidmete Zumutung, die nur mit einem inneren
und mühsam nach Außen zu unterdrückenden Weg,
weg weg!! –Schrei zu verkraften war, empfand, diese
sich ungeachtet der deutlich zur Schau gestellten
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Ablehnung ihrerseits ausbreitenden Qual, die noch
in der widerwärtigen hundeartigen Anwesenheit dieses jungen Lektors unermesslich sich steigerte, oder
gar durch Malte allein begründet zu sein schien, und
dann wiederum in ihrer Aufmerksamkeit zu diesem
krass krüppelnd zerrspiegelte, dieser ekle Lektor, der
Maximilians sonst ihm selbst unstrittig erscheinende
Wirkung aufs andere Geschlecht seltsam zu hemmen schien, ihn dahinkastrierte an seinem eigenen
Arbeitsplatz, inmitten der eigenen Projektleitung nahezu öffentlich ersticken und unwiderruflich in Frage
zu stellen drohte, Weeeeeeg!! dann noch gerufen,
doch laut diesmal, und hinausgerannt, eine Übelkeit
vortäuschend, die dann wiederum nicht einmal mehr
simuliert war...
Und dann, langsam, kippt er sacht über den Rand.
So sieht er sich noch selbst, kurz. Ganz nach unten, schneller noch als er sich begreift, also gedacht hat, fliegt er der inneren Zerschellung entgegen, kesselt dann zu Boden, wie ein mit flüssigem
Blei beschwertes Ei platzt er dann an der Kante
des Glastischs nachhaltig auseinander, der zarte
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Liquid–Glass–Korpus seiner Selbst, in dem so viele
kleine, halb geschmolzene Objekte eingeklebt zu sein
scheinen, dass sie kaum noch zu unterscheiden sind;
kleine Perlen, Knöpfe, Ministuff...
– Siehst du mich? fragt es dann aus der Stille,
– Kannst du mich hören?
– Ich weiss, wer du bist, sagt er dann so leise, dass
nur er es hören kann, aber dennoch bestimmt,
– Lass mich doch hier drin, du bist dieses verschollene Gewissen, das verfluchte andere ‚Ich’, das mir
das Alles hier mies macht, mich mit diesem Unsinn
quält!.
– Nein, ich bin deine Frau!
Aber hatte er denn eine?
XI
Damals in jenen Tagen in den Verlagen, in dieser
doppelseitigen, Bau gewordenen Klatschgazette,
verstand ich das Treiben da noch nicht. Alles war
so übersteigert, geschraubt, zu schnell, obwohl, ja,
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gerade weil sich dort nichts zu bewegen schien. Und
die kleinen Biorädchen in den beiden Verlagsteilen,
die doch nahezu keinerlei Austausch untereinander
pflegten, schienen ganz und gar selbstgenügsam
vor sich her und hin alles, was zu erlangen möglich
gewesen war, unter sich und einander aufgeteilt zu
haben, dabei eine Geziertheit vor sich hertragend,
die mir damals unbegreiflich war. Aber wenn es da
noch etwas Drittes gegeben hatte? Und ich deute
jetzt die Ablehnung, die mir damals entgegenschlug
nostalgisch in Richtung dieses mir noch heute fernen Punktes...ein alternatives Sein vielleicht? Inmitten
dieses schäumenden Hasses, mit denen mich Kilians
Worte in seinen letzten Atemzügen überflutet hatten...
etwas Wahres? Hier, in der Kälte dieser Nacht, in der
mir alles nun seltsam begreiflich ist, fügen sich die
Puzzleteile aneinander, aber sie ergeben ein leeres
Motiv. Ich sehe nur noch Maja vor mir, von der ich
weiß, dass sie da auf der anderen Seite der Wasseroberfläche auf mich warten wird, oder was immer von ihr übrig ist, und da ich nicht an ein Morgen
oder Nachleben glaube, können wohl unsere kleinen
Schwebteile, zu denen wir als Meerjungfrauenschaum
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verkleidet wohl einst heruntergefressen oder geschliffen werden, in den kommenden Jahrtausenden ab
und zu einmal sich zart berührend ineinander treiben.
Ich höre die Wellen, die mich gleich unter sich aufnehmen werden, und rate dir, geneigte Leserin, lieber
nicht auf meine Rückkehr zu warten.
versandete still genau da, wo ich die letzten Monate
stets, wann immer meine häuslichen Ginvorräte beendet waren, den endlos aneinandergereihten, schummrigen Morgen entgegentrank. Am Nebentisch zündete
soeben der krakeelend lärmende Redakteur im Medienressort des Rheinischen Landboten, Ben Tewag,
seinen Begleiter an.
XII
Aber diesen einen Gedanken hatte ich noch, als
ich zum letzten Mal, bevor der Verlag eine Rolle in
meinem Leben zu spielen begann, und Der Spiegel seine Agressionen auf den überraschenden Erfolg dieses, nach Majas Verschwinden zum Witzblatt
mutierten Klatschorgans mit dem hingeätzten Demokratie lebt von Alternativen, politische Medien sollten sie transportieren können! in das Morgengrauen
hinein abqualifizieren sollte. Aber mein Engagement
in die noch zu schildernden Ereignisse, die sich in
Gang setzen sollten, war noch nicht vollzogen, und
ich blieb allein in der Eckbank jener Hafenkneipe und
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