KIM Hyesoon

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KIM Hyesoon
KIM Hyesoon
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Koreanische Autoren
KIM Hyesoon
KIM Hyesoon
LiteraTOUR Korea
Ihre Vorstellungskraft und die
Geschwindigkeit der Sprache,
die den Leser entwaffnen
KIM Hyesoon
erfrischend. Die Entwicklung der Gedichtswelt von KIM Hyesoon,
einer geborenen Dichterin und auch einer hervorragenden
Theoretikerin, bedeutet gleichzeitig die Erweiterung des literarischen
Raums der modernen koreanischen Dichtung.
KIM Hyesoon hatte eine von Krankheit gezeichnete Kindheit. Die
Eltern, die als Lehrer oft den Dienstort wechseln mussten, vertrauten das
Kind den Großeltern mütterlicherseits an. ‚Die Kranke‘ und ‚die von
der Familie isolierte Tochter‘ war ihre Identität, die den Nährboden
ihres Andersseins bildete. Das Mädchen, das mit Schmerzen und in
KIM Hyesoon ist eine Dichterin, die im Namen der Mutter dichtet.
Einsamkeit aufwuchs, hielt die Situation meistens nur durch das Lesen
Während die meisten Poeten und Poetinnen „im Namen des Vaters“
aus. An der Universität verhalf ihr das Anderssein zu besonderen
dichten, strebt sie bereits früh nach dem Gedicht der ‚Weiblichkeit-
Fähigkeiten. Mit den Gedichten und den Kritiken, die sie zum ersten
Mütterlichkeit’. Gedichte zu schreiben ist ein Prozess, in dem ein
Mal in dieser Zeit schrieb, debütierte KIM Hyesoon in beiden
Dichter den Konflikt mit der Welt löst und seine Identität zu finden
Bereichen. Von da an schrieb sie mit ihrer originellen Vorstellung über
versucht. Es ist der traditionelle Weg des Subjekts, sich die Welt mit
den Körper und mit schnellem Sprachtempo Gedichte, die sich von den
eigenen Augen anzuschauen und ihr Sinn zu geben. Anders formuliert:
bestehenden deutlich unterschieden. Aus diesem Grund wurden ihre
das Subjekt rekonstruiert die Welt auf eigene Weise, gibt ihr einen
Gedichte zwar als fremdartig und schwierig empfunden, aber die
neuen Sinn und erschafft sie somit neu. Dies ist aber mehr oder weniger
Dichterin sagt: „wir müssen die Leser, die mit dem „Verstehenwollen“
ein gewalttätiger Akt, da die Sichtweise des Subjektes einseitig ist.
über uns herfallen, entwaffnen“. Ihre Gedichte ziehen die Leser in das
Die traditionelle Art des Gedichtschreibens geschieht in zweierlei
Tempo ihrer freien und dynmanischen Vorstellung hinein, und lassen
Hinsicht in der ‚väterlichen Ordnung‘: Einerseits beinhaltet sie die
sie sie fühlen.
Gewalttätigkeit des Blickes und die subjektivistische Weltanschauung.
Wie aber kann man die Sprachbarriere und die Realität, die schon seit
Andererseits existiert sie schon als eine feste Größe. Die dichterische
langem durch die Ordnung der Vatersymbolik funktioniert,
Welt KIM Hyesoons ist völlig frei von dieser Art. Die Dichterin strebt
durchbrechen und das Schreiben der ,Weiblichkeit- Mütterlichkeit‘
nach einer Poetik des ‚Körpers‘, die sich von der Gewalttätigkeit des
erlangen? Um dies zu erreichen, erforscht KIM Hyesoon alles, was das
Blickes, nämlich der einseitigen Sinngebung des Gegenstandes durch das
Ich gefangen hält und definiert auch all die zerstörerischen und
Subjekt, befreit. Dieses wird durch die Themen der Gedichte, den
aggressiven Vorstellungen über das Ich, welches in ihnen gefangen
Ausdruck, die Vorstellungskraft sowie die Struktur der Gedichte
bleibt. Dieses zeigt sich in ihrer Vorstellung von Selbstverletzung und im
verwirklicht. Ihre Gedichte unterscheiden sich grundsätzlich von denen
Bruch der normalen Sätze. Eine Methode, die den in der Realität
anderer Dichter, weil ihr Ausgangspunkt die Weiblichkeit-
abgerichteten Körper und den Körper (die Sprache) des Gedichtes
Mütterlichkeit ist. Da die Tradition des ‚Gedichtes der Weiblichkeit‘
zerlegt, um ihn neu zu konstruieren. KIM Hyesoon kombiniert eine
überhaupt nicht existiert, ist ihre Erschließung überraschend und
aggressive Vorstellung mit ihrer eigentümlichen
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LiteraTOUR Korea
KIM Hyesoon
Wahrnehmungsfähigkeit der Sprache, die den Humor, den Witz und
Doppelspiegelung, die sich immerfort widerspiegelnde Ebenen schafft.
das Wortspiel meisterhaft beherrscht. Durch diese Kombination werden
Als ob der großstädtische Raum wie ein großer Spiegel, ein großer
die zerstörerischen und schockierenden Bilder gemildert und sie erhalten
Körperraum, gleich meinem Körperraum wäre, treten in ihren
sogar heitere, freie und dynamische Züge. Selbst die Anstrengung, die
Gedichten die Vergrößerung des Körpers und die verdoppelte Struktur
von der negativen Realität entfliehen will und die tragische
in Erscheinung. KIM Hyesoons Vorstellungen über den Körper
Unmöglichkeit des Entfliehens, die als das Glas symbolisiert wird, das
entstehen aus ihrem Verständnis von der ‚Weiblichkeit- Mütterlichkeit‘.
immer dicker wird, je stärker man daran klopft, gewinnen durch ihren
Ihrer Ansicht nach ist die Mutter ein Wesen, das das Kind gebärt und
flüssigen, schönen und witzigen Stil Heiterkeit und Flexibilität.
ernährt. Bei diesem Ablauf der Versorgung durchlebt eine Frau
Ihr Angriff auf den Körper und die Sprache sowie die Demontage der
verschiedene Identitäten als Kind, junge Frau und Mutter und wird mit
beiden war für sie ein Übergangsritual, um körperlich und sprachlich
sich selbst konfrontiert. KIM Hyesoon konkretisiert die weiblichen
neu geboren zu werden. Aber die Demontage ihres eigenen Körpers und
,Erlebnisse-Weiblichkeit‘, nämlich die Häufung und Koexistenz von
ihrer Sprache gefährdet auch die minimale Basis ihrer eigenen Existenz
verschiedenen ,Ichs‘ im ,Ich‘ in Inhalt und Form ihrer Gedichte.
als Dichterin. Daher beginnt KIM Hyesoon, ein neues Ich und eine
KIM Hyesoon betritt das neue Terrain ‚des Gedichts der Weiblichkeit‘,
neue Sprache zu konstruieren - ,das Dichten im Namen der Mutter‘ -,
das in der koreanischen Tradition bis dahin nicht existierte. Ihre
anstatt nur Zerstörung und Selbstverletzung weiter zu betreiben.
Gedichte, die keinen Vergleich kennen, zeigen originelle Vorstellungen
,Weiblichkeit- Mütterlichkeit‘ bedeutet für sie‚ ,das Verbinden mit den
und Sprache und sind sogar intelligenter als alle Theorien. Sie ist
Anderen‘. Frauen sind die Wesen, die in ihrem Körper Raum für einen
einzigartig in der modernen koreanischen Lyrik.
Anderen haben. Dies erlaubt es auch dem Anderen, den Platz
einzunehmen. So erleben Frauen mit dem Anderen eins zu werden,
erkennen ihn als ein ebenwürdiges Subjekt an und lieben. ‚Das Gedicht
der Weiblichkeit’ von KIM Hyesoon ist die dichterische Verwirklichung
dieser Körperlichkeit der Frauen.
„Erst wenn ich das Gefühl habe, mich mit diesem und jenem nicht als
Gegenstand der Beobachtung, sondern körperlich zu verbinden, kann
ich darüber Gedichte schreiben. Der dichterische Gegenstand ist nicht
als eine Existenz von außen anzusehen, da er selbst auch eine innere
Seite hat und ich eine innere und äußere Seite habe. Erst wenn ich
irgendwie mit ihm in Berührung komme und mich verbinde, dann wird
er für mich ein dichterischer Gegenstand“. Wie die Dichterin selbst
darüber sagt, wird die Dichotomie von Außen und Innen aufgelöst. Die
Struktur ihrer Gedichte, die der Möbiusschleife gleicht, wird immer
erweitert und verinnerlicht, und dadurch gewinnt sie Tiefe, so wie eine
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Gedichte
LiteraTOUR Korea
KIM Hyesoon
Die blutige Uhr
In meiner Brust tickt eine Uhr
sie hat sich ihr ganzes Leben lang noch nie ausgeruht
Eine Uhr, die Blut isst und Blut ausscheidet
Von ihr breiten sich rote Stämme
mit ausgestreckten Ästen über den ganzen Körper aus
wie nackte Zweige des Winterefeus
die die Zementuhr auf dem Turm umschlingen
In der Pupille
Deine Uhr konnte ich noch nie
Wie wenn jemand Sand ins endlose Meer
läuten lassen, und keiner
meiner Pupille schaufelt, einmal und zweimal
berührt meine Uhr aus blutigem Fleisch
das Augenlid herunterzieht
Wird auch diese grausame Uhr nachdenklich sein?
Wer brachte mir wohl bei,
Im Meer fließt das Wasser vom Bergfuß zum Berggipfel hin
dass ein Jahrhundert kurz, aber ein Tag lang sei?
Geschuppte Vögel fliegen tief
Tief ins Tal
Mal starrte ich auf die Sonnenuhr und wurde ohnmächtig
Die Tiefe wird hoch
und mal warf ich meinen Körper mit der Uhr in das Meer
Die Höhe wird tief
Doch kein Schreck, keine Liebe konnte diese Uhr anhalten
In der Dämmerung kommen meine verstorbenen Großmütter
Wir drei aus der Familie, deren Uhren
Zünden an unseren Füßen Licht an
zu unterschiedlichen Zeiten begonnen haben zu ticken
Die Wolken schweben unter den Füßen
sitzen um den Esstisch und füttern schweigend unsere Uhren
Die Menschen blicken durch Fenster im Boden
Keiner von uns legte die Uhr ab und
Stellte sie auf den Esstisch. Noch nicht
Die Väter legen Eier im Wind
Die Mütter pflegen ihre Kinder auf den Ästen
Ah, aus Leibeskräften schreie ich in dein Ohr:
Dort schöpft man fleißig aus Gebirgen Land
Ich liebe dich
Schöpft den Mond aus
Damit deine Uhr es hört und läutet
In meinem endlosen Meer, in dieser Tiefe
schreie ich
Verbirgt sich eine merkwürdig verkehrte Welt
Sind aber meine Worte, dass ich dich liebe, und
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KIM Hyesoon
Deine tickenden Worte nachmittags um drei Uhr
weil sie ständig nachwachsen
Dass du mich liebst, wirklich?
Eine Ratte, die sich unter knarrenden Fußbodendielen versteckt
Wir waren noch nie bis zu unseren Uhren vorgedrungen
zwischen den zehn Zehen und im Schädel, am dunkelsten Ort in
Draußen vor der Uhr zieht Wind auf
meinem Körper, wo kein Lichtstrahl eindringen kann
da rascheln die roten Zweige des Winterefeus
Eine Ratte, die seit Jahrzehnten in meinem Körper ihre Zähne wetzt
in meinem Körper und zittern im Wind
um zehn Finger Abzubeißen
In meinen Augen sammeln sich Tränen
Kannst du für einen Augenblick den Zeiger meiner Uhr anhalten?
in dieser Nacht
Kannst du diese Uhr ohne Zeiger in deine Arme schließen?
Lege ich mein Ohr an deine Brust
hallt das Pochen der blutigen Uhr, die von selbst weiter rennt
Fegefeuer
genau nach der Zeit.
Am Strand hinter dem Stadttor trank ich mittags Alkohol
und kehrte heim
In dieser Nacht
Schlief ich danach bis in die Nacht hinein?
Ich öffne und schließe die Augen, noch immer ist Finsternis
Eine Ratte nagt an einem weißen Hasen, der in den Schlaf fiel
Wo ist die Gegenwart
Aus dem Hasenstall quillt dunkles Blut
Die Gegenwart ist wie die Welt im Spiegel
Eine Ratte nagt an einem Ferkel, das in den Futtertrog fiel
das Licht dunkel, die Dunkelheit schimmernd wie Samt
Eine Ratte nagt an einem Neugeborenen, das in der Wiege liegt
Das Meer draußen vor dem düsteren Fenster ist heller
Die Mutter des Kindes ging ins Restaurant zum Abwaschen
als ein silbernes Tablett
Im Körper der frischen Leiche, die soeben begraben wurde
Schwarz ist die Sonne und schwarz sind auch die Sterne
Geht eine Ratte ein und aus
Die Menschen hier beginnen das Leben mit dem Tod
und schließen es mit der Geburt ab
Eine Ratte, die noch nie etwas aß, was nicht gestohlen war
Ich lag auf irgendeiner Stelle zwischen Tod und Leben
Eine Ratte, die mitten im Fressen schon beim leisesten Geräusch
und brachte die Müdigkeit hinter mich
ihren Schwanz kringelt
Wo ist die Gegenwart
Eine Ratte, die sich hinter einer Überwachungskamera versteckt und
Das Fegefeuer ist etwas, das in meinen Körper eindringt
jede Nacht unser Liebesleben beäugt
und seine Augen öffnet
Eine Ratte, die sich brüstet, alle Evolutionsvorgänge der
Als ich im Körper die Augen öffne, schwebt in meinem Kopf
Jahrhunderte durchlebt zu haben, aber täglich ihre Zähne abschleifen
ein dunkler Abgrund
muss
Ein Vulkan, der die Dunkelheit einsaugt
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stürzt in der Nähe des Herzens ein
und werden über den Zweigen ausgeschüttet
Ich strecke die Hand aus und berühre die Wand
In der Luft blühen auf einmal rosa Blüten
Die Wand hält die glitschigen Innereien
in einem Gefäß aus schwarzen Knochen
Ein rosa Blütenbaum reinigt die Luft
und liegt schräg auf der Seite
Dort, wo es den ganzen Winter kahl war
Diese Wand besitzt Geheimnisse wie ein Sack gefüllt mit Zeit
wird nun einige Tage gründlich geputzt
der unendlich viele Zeitraffer geschluckt hat
Die Frauen mit den Wasserkrügen strecken Stiele in die Luft mit
Mit letzter Kraft stehe ich auf und drücke den Schalter
rosa Lumpen
Als das Licht zuerst im Mund angeht
schrumpft das Fegefeuer, in dem das Licht dunkel
die Dunkelheit hell ist, im Inneren des Körpers zusammen
Eine Art Roman, in dem ich alle Figuren bin 1
Ich trage alle Äußere in meinem Körper
blicke in der Welt außerhalb des Spiegels umher
Ich könnte eine Schule bauen und zwar eine, in der ich selbst alle
Nochmals, wo ist die Gegenwart
Schülerinnen bin. Eine Schule, in der etwa das fünfzigjährige Ich und
das vierzigjährige Ich die beiden Enden des Springseils festhalten, und
das zehnjährige Ich hüpft. Zum Beispiel. Das jetzige Ich kann sowohl
Rosa Lumpen
dem Ich in den Windeln ‚Alle meine Entchen’ beibringen, als auch dem
Ich der Schülerin der Mittelstufe den korrekten Gebrauch der
In den Schößen der Frauen, die Wasserkrüge tragen
Damenbinden zeigen. Vielleicht könnte das Zehnjährige Ich, wer weiß,
möchte ich mich verstecken
das sechzigjährige Ich ernsthaft über ‚das Leben ist...’ zu belehren
In den Schößen der Frauen, die dort unten vom Brunnen aus
anfangen. Außerdem könnte ich wiederum einem Roman schreiben, in
mit Wasser vollgefüllte Krüge den Hügel hinauftragen
dem ich alle möglichen Figuren darstelle. Ich könnte einen Roman
möchte ich ruhen
erfinden, in dem das neunzehnjährige Ich, das sich wegen des
gebrochenen Herzens das Insektengift besorgt hatte, und das
Unter dem Baum dort, der Nahrung aus dem Boden holt
zwanzigjährige Ich, das dem Mann zugeschaut hat, wie er mit einer Axt
und in die Äste und Zweige pumpt
gegen unsere Hausmauer schlug, weil ich ihm gesagt hatte, ich mag dich
und der eine Schar von Frauen umarmt
nicht, zusammen vorkommen. Wie wäre es mit so einem Roman? In
möchte ich liegen und die Schöße der Frauen berühren
dem meine Mutter für das zehnjährige Ich und das sechzigjährige Ich
Fischgeruch breitet sich aus
einen gemeinsamen Tisch deckt. Ich meine damit einen solchen Roman,
worin das Ich vor der Heirat das jetzige Ich, das in einem Park sitzt,
Alle Treppen sind erklommen
ohrfeigt und das siebzigjährige Ich das Ich tröstet, das gerade geohrfeigt
Die Wasserkrüge können nirgendwohin
wurde.
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Eine Parkbank bei Mitternacht ohne brennendes Licht
Ich öffne gerade die Tasche
Die ganze Nacht lang saß ich da und wärmte mich am Feuer meiner
Ein Jahr mit dreihundertfünfundsechzig Tagen mal drei
Ichs
Der Tischdienst wurde mir überdrüssig, so lief ich heute Nacht von
Vor allem an dem jüngsten von ihnen, das an der Brust der Mutter
zu Hause weg
trinkt, wärmte ich mich am längsten
jammernd wie ein Hausmädchen in der Pubertät
Ich tastete aber auch die faltigen Brüste des siebzigjährigen Ichs ab
Als ich unbedacht die Tasche öffnete
Unter dem Vollmond war das Fortlaufen aus dem Haus im Winter
trafen sich gleichzeitig die zahlreichen Ichs mit dem Ich, das nach
behaglich
dem Fortlaufen aus dem Haus in der Kälte zittert
Als ob man einen Ofen umarmte, der sich allmählich abkühlt
Schau mal hin, hoch über der Schaukel schwebt da nicht mein Kopf
der aus meiner Tasche kam?
Eine Art Roman, in dem ich alle Figuren bin 3
Auf der Brust trage ich ein besticktes Taschentuch
Aus Angst vor dem Gesicht Buddhas entfloh ich aus dem
Jede Nacht beim Einschlafen
Pogyodang-Kindergarten
umarme ich ein ungeborenes Kind
Nein, ich habe nicht richtig hingeschaut, das ist noch ein paar Jahre
Weder ein Gesicht noch einen Namen trägt das Ich
später
Um das Kind nicht zu wecken, spreche ich leise:
Es war damals, als ich in einen Brunnen ohne Wasser fiel und schrie
„Die Erkältung, die es seit dem letzten Jahr hat, heilt nicht“
Schau mal hin, mit einem eben gekauften Gebäck in der Hand laufe
Ich gehe in das Kind hinein
ich dort wieder an den Straßenlaternen vorbei
das seit der Geburt nicht mal um eine Fußlänge gewachsen ist
Heimlich vor dem Großvater stahl ich Münzen aus dem
Geldschrank
Ein bläuliches Kind
Unter den Füßen dort in der Wassergrube krabbelt ein nacktes
Noch nicht ‚Ich’ ist das Kind
niedliches Ich zwischen meinen Knien
Weder gelb noch älteste Tochter und
Ai, dai, komm her, Kind, ich still dich mit meiner leckeren Milch
Vor allem nicht Kim Hyesoon
Das siebzigjährige Ich bemüht sich das vierzigjährige Ich zu trösten
ist das Kind
dabei pustet es immer wieder in das Laub der Baumalleen
Mit kräftigem Stoß gegen die Erde emporgeschnellt
Seine weißen Haare sind völlig aufgelöst und an der Stirm perlen
Immer noch ein junger Stern, ein blauer Funken, das Kind
Schweißtropfen
Im Bauch meiner Mutter die Augen noch nicht offen, das Kind
Meine Großmütter, die aus meinem Körper kamen, und meine
Nach meinem Tod wird es noch am Leben sein, das Kind
Töchter steigen als Monde und Sterne zum Himmer auf
Zwischen den einzelnen Blättern wurden sie als Wind weggeblasen
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Stimmen der Dichterin
und der Kritik
Jede Nacht beim Einschlafen
umarmt ein alter Mensch mich
Am Tage schläft er und in der Nacht ist er wach und umarmt mich
Zwischen jeder Falte seiner Haut wie Mutterkuchen
beherbergt dieser widerwärtige Mensch den Tod
Mitten in der Nacht umarmt er mich und schaut herab
Er kommt in mich hinein
In seinem Gesicht verlebte die Erde bereits ihre Zeit
In den endlos herabhängenden Brüsten
flossen Frühling, Sommer, Herbst und Winter millionenfach
Der Körper ist zwar höchst realistisch in ihren Gedichten, aber auch ein
Die Gebirgsketten haben schon ihre eigenen Rhythmen ausgespielt
höchst unrealistischer offener Raum - ein überall gelöcherter Körper.
Sein Name ist wie sein Gesicht zerfallen, der alte Mensch
Augen und Ohren sind die Löcher, durch die dieser Körper Zugänge zu
Zu alt, ein kleines Kind zu sein, der alte Mensch
den Dingen der Wirklichkeit hat. Jede Fantasie ihrer Gedichte erblüht
Erst wenn ich sterbe, wird auch er gestorben sein, der alte Mensch
aus ihrem Körper, und daher hat die Fantasie nicht ideelle sondern
der mich umklammert hält
völlig körperliche Eigenschaften. Aus diesem Grund sind ihre Gedichte
Wie drei Löffel sind wir aufeinander gelegt und
fantastisch und gleichzeitig realistisch.
drehen das Gesicht auf dem Kopfkissen gemeinsam um
- M UN Hye-Won, H ineingehe n in die überall ge löcherten Gedichte , in Der gut g ereif te Apfe l
Ich fürchte mich, ich fürchte mich
Mal, in der Mitte eingeklemmt
Derjenige, der von dem Gedicht, dem schicksalhaften Getriebensein
knirscht das Ich, über vierzig, mit den Zähnen
gefangen genommen ist, braucht ein lang andauerndes
Beschwörungsritual, bis das Gedicht meine Existenz total ausgesaugt
hat. Viele haben sich über mich lustig gemacht, nachdem ich bei einer
Gesprächsrunde gesagt habe: ein Dichter ist den ganzen Tag,
vierundzwanzig Stunden lang Dichter (dies bedeutet nur, er lebt in
einem anderen Rhythmus als dem des Alltages). Ich entdeckte aber beim
Lesen einmal zufällig, dass auch Jorge Luis Borges so etwas gesagt hatte.
-KIM Hyesoon
Nach meiner Erfahrung besteht das ‚Ich’ im subjektivsten Moment aus
sehr vielen Personen. Einschließlich einer Frau, einer Mutter, einer
Sammelband: [Die Frau im Wolkenschloss]
Bielefeld: Pendragon 2001
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Professorin und so weiter springen die unzähligen Ichs, die ich selbst
nicht mehr kenne, im subjektivsten Moment aus mir gemeinsam heraus,
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LiteraTOUR Korea
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und weil dies so ist, spüre ich das Verlangen, von allen gleichzeitig zu
vielfältigen Methoden, die sie als feministische Dichterin anwendet, den
reden. Anders ausgedrückt, wir gehen an Weihnachten in die Kirche.
Logos-Zentralismus, der die symbolische Ordnung der Väter bildet, zu
Man könnte meinen, bei einer solchen Gelegenheit existiert nur ein
prüfen, zu verspotten und auseinander zu nehmen.
frommes Ich. Aber in Wirklichkeit springen da meine unrettbar
- KIM Seung-Hee
verdorbenen Ichs aus mir heraus. In Gedichten zeige ich gleichzeitig die
Ichs, die einander so fremd und feindselig sind.
Die Art der Offenbarung von KIM Hyesoons Gedichten liegt im
- KIM Hyesoon
Wesentlichen in der Aussendung der in Bildern umgewandelten
Melodien, die im Körper gefangen geblieben und verrückt geworden
Trotz der Dominanz des Negativen, die ihre Gedichte ausstrahlen, wird
sind. Also die Verbildlichung des Klanglichen. Was hier mit
der Ton von Elastizität und Heiterkeit begleitet, die von Tragik weit
Klanglichem gemeint ist, ist nicht ein physikalischer Klang, sondern
entfernt ist. Sie betont und zeigt uns das Fürchterliche der Welt, aber
etwas, was zwar klar existiert, aber schwer zu begreifen ist. Zum Beispiel
stürzt nicht darein, sondern drückt es mit ihrer spezifischen,
eine Verrücktheit, die den Körper erfasst, aber deren Grund man nicht
hochsensiblen Sprache aus und gewinnt dadurch Lebendigkeit. Anstatt
kennt. Wenn so etwas seine Gestalt im Körper zeigt, erscheint es im
von dem Gewicht der Realität überwältigt zu werden, geht sie einen
Traum, vor allem in einem bösen Traum. Die meisten Gedichte von
Schritt zurück, transformiert sie, verdreht sie absichtlich und eröffnet
KIM Hyesoon laufen wie ein Film, als ob der böse Traum in der tief
uns damit eine neue Möglichkeit, sie mit anderen Augen zu sehen.
fesselnden Nacht im dunklen Kino auf die helle Leinwand der Fantasie
Dieses hat mit ihrer starken Lust auf Spielen zu tun, die ihre Gedichte
ausgestrahlt werden würde. Selbst am Tag träumt sie ununterbrochen
durchströmt. Die Dichterin beherrscht meisterhaft Witz, Humor,
böse Träume.
Übertreibungen und Wortspiele und bremst somit den Lauf des
- YI In-Seong, Sie, Yona’s rote Fantasie, Kritik über Ein Schälchen roter Spiegel
Gedichts, der geradewegs zu extremer Verzweiflung hinführen könnte.
- NAM Jin-Woo, Furchterregendes Spiel - Die Gedichtswelt von KIM Hyesoon in Unsere
Negative
KIM Hyesoons spezifische Eigenschaft besteht aus der freien und
dynamischen Sprache und dem Tempo ihrer Vorstellungskraft. <…>
Ihre Gedichte zeigen uns karnevalesken schwarzen Humor gegen den
beherrschenden Diskurs; aber auch lustigen Schamanentanz, bei dem
sich all die surrealistischen, irrealen und realen Hybriden wie in einem
Eintopf treffen und gegeneinander und füreinander spielen. In ihren
Gedichten stellt sie durch die Verwendung von Umgangssprache,
Parodie und Lyrik den Zeitgeist, die Wirklichkeit der Frauen und das
Innenleben des heutigen Menschen dar. Ausgezeichnet sind ihre
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[Mitleidige Liebesmaschine]
Seoul: Moonhak Kwa Jisung Sa 1997
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LiteraTOUR Korea
KIM Hyesoon
Biographie
25 Jahren acht Gedichtbände. In ihrer Gedichtswelt, in der Elastizität,
Lebendigkeit und Anspannungen genauso wie ihre explosiven
Schaffenskräfte überquellen, präsentiert sie die breiteste und tiefste Form
aus ungezwungen Vorstellungen und freiem Stil. Sie ist Professorin an
der Seoul- Fachhochschule für Künste im Fach Literatur und
Preisträgerin von verschiedenen Literaturpreisen: KimsooyeongLiteraturpreis (1997), Hyundaeshi (Modernes Gedicht)-Werkpreis
(2000), Sowol-Literaturpreis (2001).
KIM Hyesoon ist 1955 in Uljin in der Provinz Kyeongbuk geboren. Die
Eltern waren Lehrer. Da Lehrkräfte nach einer bestimmen Anzahl von
Dienstjahren regelmäßig an andere Ort versetzt wurden, wurde das
kleine Mädchen den Großeltern mütterlicherseits anvertraut. Das Lesen
in der kleinen Bibliothek des Großvaters, eines leidenschaftlichen Lesers,
war das Einzige, was sie als Kind im Leben mit den zwei Greisen
machen konnte. Sie litt lange an der tuberkulösen Pleuritis. Die
Grundschuljahre verbrachte sie, indem sie häufig im Zimmer des oberen
Stockes lag und den zwischen den Weinblättern schimmernden
Sonnenschein am Fenster beobachtete. Dabei musste sie zusehen, wie
der Eiter unter ihren Rippen mit einer Spritze herausgesaugt wurde.
Diese Erfahrungen waren ihre archetypischen Erlebnisse von Einsamkeit
und Tod. In der Schulzeit las sie viele Gedichte, aber das Dichten
begann sie erst während des Studiums. Als ihr erstes Gedicht 1977 mit
dem ersten Preis bei einem Literaturwettbewerb für Studierende
gewürdigt wurde, dachte sie, vor der Gedichtswelt brauche sie nun keine
Angst mehr zu haben. Von diesem Zeitpunkt an entluden sich ihre
eingesperrten Talente. 1978 gewann sie noch als Studentin den
begehrten Literaturpreis des Donga-Frühjahrswettbewerbs im Genre
Kritik. Ein Jahr nach ihrem Debüt als Kritikerin veröffentlichte sie
Gedichte in der Zeitschrift Moonhak Kwa Jisung Sa (Literatur und
Intellekt). Nach ihrem Debüt legte KIM Hyesoon eine fruchtbare
Schaffenskraft an den Tag und veröffentlichte in einer Zeitspanne von
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Bibliographie
Gedichte
INHALT
[Auf einem noch anderen Stern] Seoul: Moonhak Kwa Jisung Sa 1981
1
Über die literarische Welt von KIM Hyesoon:
[Der von Vater gebaute Strohmann]
Ihre Vorstellungskraft und die Geschwindigkeit der Sprache,
Seoul: Moonhak Kwa Jisung Sa 1985
die den Leser entwaffnen
[Die Hölle eines Sterns] Seoul: Moonhak Kwa Jisung Sa 1988
2
Gedichte
[Unsere Negative] Seoul: Moonhak Kwa Jisung Sa 1990
3
Stimmen der Dichterin und der Kritik
[Mein Upanisad, Seoul] Seoul: Moonhak Kwa Jisung Sa 1994
4
Biographie
[Mitleidige Liebesmaschine] Seoul: Moonhak Kwa Jisung Sa 1997
5
Bibliographie
[Bitte, Herr Fabrikant einer Kalenderfabrik]
Seoul: Moonhak Kwa Jisung Sa 2000
[Ein Schälchen roter Spiegel] Seoul: Moonhak Kwa Jisung Sa 2004
Prosa
[Inka im Herzen]/Märchen Seoul: Hanyang 1996
[Die brodelnde Liebe]/Reiseberichte Seoul: Hakgose 1997
[Der tief fliegende Vogel sieht genauer]/Fabel Seoul: Cheknamu 1991
Übersetzung
Sammelband: [Die Frau im Wolkenschloss] Bielefeld: Pendragon 2001
20
IMPRINT
photographer
HAN younghee
writer
LEE Soojong
translater
KANG Yeo-Kyu