SVEN-DAVID SANDSTRÖM (*1942)
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SVEN-DAVID SANDSTRÖM (*1942)
SVEN-DAVID SANDSTRÖM (*1942) “A new heaven and a new earth” Motette für achtstimmigen Chor (1981) JURIS KARLSONS (*1948) “Selene’s Blue Birds” (nach einer griechischen Legende, 2011) EVIJA SKUĶE (*1992) “Moon Vocalise” (nach einem lettischen Volkslied) ĒRIKS EŠENVALDS (*1977) “The New Moon” (2012) PĒTERIS VASKS (*1946) “Plainscapes” für achtstimmigen gemischten Chor, Violine und Violoncello (2002) ***PAUSE*** SOFIA GUBAIDULINA (*1931) „Sonnengesang“ für Violoncello, Kammerchor und Schlagzeug (1997) I Verherrlichung des Schöpfers und seiner Schöpfung - Sonne und Mond II Verherrlichung des Schöpfers der vier Elemente: Luft, Wasser, Feuer und Erde III Verherrlichung des Lebens IV Verherrlichung des Todes JUGENDCHOR „KAMĒR...“ AISMA ATPILE, DITA DĀLE, LAUMA DĀRZNIECE, SOFIJA GARKULEGURĒVIČA, DANA ASNĀTE KĻAVA, BEĀTE LOCIKA, KRISTĪNE MATVEJEVA, EVIJA SKUĶE, SANTA STALIDZANE, INGA ZŪLE, Sopran SANTA ANSONE, MĀRA BĒRZIŅA, LĪVA BLŪMA, RŪTA ĪZĀKA, MARTA LORTKIPANIDZE, LAUMA MALNACE, DĀRTA TREIJA, LIENE ULMANE, MĀRA ZVIDRIŅA, Alt ANSIS BĒTIŅŠ, MATĪSS KĻAVIŅŠ, JĀNIS KRŪMIŅŠ, ANDRIS PIEKUSS, REINIS SPARĀNS, ANDREJS STUPINS, Tenor EMĪLS DĀLDERIS, AIVIS GRETERS, RIHARDS SAKNĪTIS, ARTŪRS UPATNIEKS, VILHELMS VĀCIETIS, Bariton IMANTS AUZIŅŠ, JĀNIS KALNIŅŠ, Bass NICOLAS ALTSTAEDT, Violoncello JOHANNES DICKBAUER, Violine RIHARDS ZALUPE, EDGARS SAKSONS, Perkussion JĀNIS LIEPIŅŠ, musikalische Leitung SONNENGESANG Höchster, allmächtiger, guter Herr, dein sind der Lobpreis, die Herrlichkeit und Ehre und jeglicher Segen. Dir allein, Höchster, gebühren sie, und kein Mensch ist würdig, dich zu nennen. Gelobt seist du, mein Herr, mit allen deinen Geschöpfen, zumal dem Herrn Bruder Sonne; er ist der Tag, und du spendest uns das Licht durch ihn. Und schön ist er und strahlend in großem Glanz, dein Sinnbild, o Höchster. Gelobt seist du, mein Herr, durch Schwester Mond und die Sterne; am Himmel hast du sie gebildet, hell leuchtend und kostbar und schön. Gelobt seist du, mein Herr, durch Bruder Wind und durch Luft und Wolken und heiteren Himmel und jegliches Wetter, durch das du deinen Geschöpfen den Unterhalt gibst. Gelobt seist du, mein Herr, durch Schwester Wasser, gar nützlich ist es und demütig und kostbar und keusch. Gelobt seist du, mein Herr, durch Bruder Feuer, durch das du die Nacht erleuchtest; und schön ist es und liebenswürdig und kraftvoll und stark. Gelobt seist du, mein Herr, durch unsere Schwester, Mutter Erde, die uns ernähret und trägt und vielfältige Früchte hervorbringt und bunte Blumen und Kräuter. Gelobt seist du, mein Herr, durch jene, die verzeihen um deiner Liebe willen und Krankheit ertragen und Drangsal. Selig jene, die solches ertragen in Frieden, denn von dir, Höchster, werden sie gekrönt werden. Gelobt seist du, mein Herr, durch unsere Schwester, den leiblichen Tod; ihm kann kein lebender Mensch entrinnen. Wehe jenen, die in schwerer Sünde sterben. Selig jene, die sich in deinem heiligsten Willen finden, denn der zweite Tod wird ihnen kein Leid antun. Lobt und preist meinen Herrn und sagt ihm Dank und dient ihm mit großer Demut. Text: Heiliger Franz von Assisi (1224/25), Übersetzung aus dem Altitalienischen unter Beibehaltung der Geschlechter in dieser Sprache. SVEN-DAVID SANDSTRÖM (*1942) Sven-David Sandström aus Schweden zählt zu den profilierten Komponisten unserer Zeit. Er hat faktisch zu allen Genres und Bereichen Stücke beigetragen: Kammermusik, symphonische und konzertante Orchestermusik, Bühnenwerke und Vokalwerke. Letztere nehmen aber einen breiten Platz in seinem Schaffen ein, Sandström komponiert enorm viel Musik für Vokalensembles. Dies ist nicht zuletzt bedingt durch seine intensive Zusammenarbeit mit dem berühmten schwedischen Chordirigenten Eric Ericson. Sandströms Vokalmusikschaffen gipfelt in riesigen Chor-Orchesterwerken, mit denen er den Anschein erweckt, den barocken Geist in unsere Zeit übertragen zu wollen: mit der gigantischen „High Mass“, mit einem Magnificat, einem Weihnachtsoratorium, einem „Messias“, dem Oratorium „Moses“ und der Passion „Das Wort“. Sven-David Sandström löste mit seiner Entwicklung von einem Avantgardisten zu einem die Harmonie und die Melodik nicht scheuenden Komponisten Diskussionen aus, seine Musik sei „zu schön“ und eine Anhäufung Beifall heischender Effekte. Die tiefgreifende Strukturierung seiner Werke und die Komplexität ihres Klanges und ihres harmonischen Baus lassen Sandströms Musik über solche äußerlichen Einwände erhaben sein. Über seine zunächst von Serialismus und Atonalität beeinflusste „moderne“ Kompositionstechnik meint Sandström rückblickend: „Ich wagte damals nicht zu zeigen, wer ich bin, und versteckte mich hinter einer Fassade des handwerklichen Könnens.“ Seit vielen Jahren jedoch gibt er seinem musikalischen Gefühl und Ausdrucksstreben freien Lauf, was eine überaus farbige, vielfältige und stimmungsvolle Tonsprache ergibt. „Ich will eine Musik schreiben, die Menschen erreicht und berührt.“ Sandström schöpft aus einem schier unendlichen Reservoir melodischer und harmonischer Einfälle. Wobei die Verwendung traditioneller Formen oder vergangener Stilmittel nie epigonal oder rückwärts gewandt ist, vielmehr untersucht Sandström, ob sie sich in einer heutigen Musiksprache formulieren lassen. Auf diese Weise entstehen spannende Mixturen in harmonischer wie klanglicher Hinsicht, in denen immer auch eine klare Botschaft mitschwingt: das Staunen über das Wunder von Klang und Musik an sich. Hier verbindet sich auch das künstlerische Moment mit den Überzeugungen eines spirituellen Menschen. In der achtstimmigen Motette „A new Heaven and a new Earth“ überträgt Sandström das biblische Bild aus der Offenbarung vom verschwundenen Himmel und der verschwundenen Erde und dem neu vom Himmel und von Gott herabkommenden Jerusalem in faszinierende räumliche Wirkungen. In einer weitgehend fließenden Vielstimmigkeit breitet sich allmählich der Glanz einer neuen himmlischen und irdischen Sphäre aus. Gegen Ende der Komposition bricht Sandström das durchgängige Klangbild mit figurierten textlichen Passagen und pointierten Klangfiguren wie etwa Glissandos auf und holt die himmlische Vision in eine irdische Realität. And I saw a new heaven and a new earth, for the first heaven and the first earth were passed away; and there was no more sea. And I saw the holy city, the new Jerusalem, coming down from heaven, ready as a bride adorned for her husband. And from the throne I heard a great voice from heaven, saying: “See, God’s tent standing amidst mankind! He shall dwell among them, and they shall be his people, and God himself shall be with them. And He shall wipe away all tears from their eyes. Death shall be no more, and no crying, no mourning, and no more pain shall be, any more. For former things are passed away.” And He that sat on the throne said: “Behold! I make all things new.” Text: Aus der Offenbarung des Johannes, 21 JURIS KARLSONS (*1948) Juris Karlsons gilt unter den zeitgenössischen lettischen Komponisten als der bedeutendste Symphoniker. Seine Orchesterkompositionen zeichnen sich durch einen großen Reichtum an Kontrasten und Klangfarben aus. Entwickelt hat sich der symphonische Stil von Karlsons aus seinen vielen Bühnenmusiken, die der Musiker als Komponist am Rainis Künstlertheater geschaffen hat. Karlsons ist seit vielen Jahren Rektor und Professor der Lettischen Musikakademie und war in den Jahren des politischen Übergangs Lettlands in die Selbständigkeit Vorsitzender des lettischen Komponistenverbandes. Neben zahlreichen Bühnen- und Orchesterwerken befinden sich auch viele Vokalkompositionen in Karlsons’ Œuvre. Seine Chorwerke sind von großer poetischer Feinfühligkeit und schöner Melodik erfüllt. Für den „Mond-Zyklus“ des Jugendchores „Kamēr...“ hat Karlsons eine griechische Legende der Mondgöttin Selene zur Vertonung aufgegriffen. Die Göttin verliebt sich in den irdischen König Endymion. Die sieben großen blauen Vögel, die von Selene vor einen silbernen Triumphwagen gespannt wurden, sammeln im Auftrag der Göttin Tropfen des Mondlichts für Endymion. Der König schlürft vom göttlichen Mondtrank und wird immer schöner und jünger. Seit nunmehr schon Tausenden Jahren sammeln die Vögel Selenes die Mondtropfen. Glücklich, wer sie dabei entdeckt, ihm ist ewige Jugend, Gesundheit und ewiges Glück geschenkt. Vor der Morgendämmerung fliegen die blauen Vögel knapp über dem Erdboden. Man kann dann ein leises Läuten der Mondglocken hören. Und vielleicht findet man einige Tropfen Mondlichts. Die Menschen nennen die Tropfen Selene. Zur Vertonung der Legende hat Karlsons begonnen, Altgriechisch zu lernen. Er hat eine Vokalise aus nur 20 griechischen Worten komponiert, die in der Partitur versteckt sind und aus denen das dramatische Gefüge der Komposition gewonnen wurde. Worte wie Gesundheit, Jugend, Schönheit, Licht, Liebe, Mond, Vogel, Himmelsblau ... EVIJA SKUĶE (*1992) Evija Skuķe, Mitglied des Jugendchores „Kamēr...“, beschäftigt sich intensiv mit verschiedenen Gesangsformen und setzt diese in Beziehung zur Darstellenden Kunst, Naturwissenschaft und Mythologie. Die junge Musikerin hat die Domchorschule von Riga absolviert und ist derzeit Studentin in der Kompositionsklasse von Selga Mence an der Lettischen Musikakademie. Für ihre Komposition „Moon Vocalise“ für den Chor „Kamēr...“ hat sie die Darstellungen und Verkörperungen des Mondes in den Mythologien vieler verschiedener Völker untersucht. Bei einigen ist der Mond ein alter Mann, bei anderen wieder eine junge Frau. Skuķes Mondlied basiert auf der Lyrik eines lettischen Volksliedes, die Musik stellt aber einen großen Mondkreis dar, ähnlich einem Käseleib, und irgendwo weit entfernt im Osten am Horizont einer Wüste oder eines Flussufers emporsteigend. „Mein Mond ist mystisch, voll von Leben. Es scheint nur, dass die Nacht still ist. Aber im Mondlicht passieren die aufregendsten Dinge“, so die Komponistin. ĒRIKS EŠENVALDS (*1977) Ēriks Ešenvalds, Meisterschüler der Kompositionsklasse von Selga Mence an der Lettischen Musikakademie, erweiterte seinen kompositorischen Horizont in internationalen Meisterklassen und durch Studien unter anderem bei Klaus Huber in Deutschland und Jonathan Harvey sowie Philippe Manoury in Frankreich. Seine Musik erklang bald bei wichtigen Festivals wie den Klangspuren Schwaz, dem Bodensee-Festival, den Schwetzinger Festspielen, dem Bergen Kammermusikfestival in Norwegen und der Biennale d’Art Vocal in Frankreich, aber auch in China, den Vereinigten Staaten von Amerika, Australien und Großbritannien. Als Composer in Residence des Trinity College der Universität von Cambridge konnte er die englische Musiköffentlichkeit stark auf sich aufmerksam machen und wurde für den British Composer Award nominiert. In den USA erhielt er die Auszeichnung „Philadelphia Inquirer“ als Komponisten-Entdeckung des Jahres. Sein Schaffen enthält viele vokalmusikalische Kompositionen vom Chorlied und von polyphonen A-cappella-Sätzen bis zum großen Oratorium („Passion und Auferstehung“, „Bei Sonnenaufgang“) mit Orchester. Daneben gibt es einige Kammermusikwerke und größer besetzte, konzertante Werke. Ešenvalds scheut sich nicht, verschiedene stilistische Einflüsse und auch populäre Themen in seine Kompositionen aufzunehmen und mit individueller Phantasie und überaus kraftvoller Klang- und Tonsprache zu transformieren, reflektieren und auch zu determinieren. In seinen Chorwerken entfacht er eine enorme Vielfalt aus vokalen Ausdrucksformen vom Sprechgesang bis zu Klangmalereien mit Lauten. Sein Beitrag zum „Mond-Zyklus“ des Jugendchores „Kamēr...“ lässt den Himmelskörper als etwas kühlen, blassen, distanzierten und immer einsamen Gesellen erkennen. Manchmal ist er in einen schönen Mantel gehüllt – und wenn der Himmel in einem Meer von Wolken versinkt, wünscht man sich als einzigen Begleiter durchs Leben den Mond. In einer solchen Stimmung schrieb Ešenvalds seine Komposition „The New Moon“ über ein Gedicht der US-amerikanischen Poetin Sara Teasdale (1884–1933). Day, you have bruised and beaten me, / As rain beats down the bright, proud sea, / Beaten my body, bruised my soul, / Left me nothing lovely or whole – / Yet I have wrested a gift from you, / Day that dies in dusky blue: For suddenly over the factories / I saw a moon in the cloudy seas – / A wisp of beauty all alone / In a world as hard and gray as stone – / Oh who could be bitter and want to die / When a maiden moon wakes up in the sky? Text: Sara Teasdale PĒTERIS VASKS (*1946) Pēteris Vasks, 1946 in Aizpute in Lettland geboren, arbeitete zu Zeiten der sowjetischen Besetzung des Baltikums als Kontrabassist in mehreren Symphonie- und Kammerorchestern und als Musiklehrer in seinem Heimatland. Heute lebt Vasks als freischaffender Komponist in Riga. In seinen Kompositionen verfolgt er oft die Spuren alter Musik und lässt sich von den archaisch-folkloristischen Wurzeln der Musik Lettlands inspirieren. Religiöse Themen und sakralmusikalische Elemente spielen eine bedeutende Rolle. In den kompositorischen Mitteln greift Vasks zu modernen Techniken und Klangmöglichkeiten. Einen zentralen Raum in seinem Schaffen nimmt die Auseinandersetzung mit der Situation des Menschen in seinem ökologischen und soziologischen Umfeld ein. Vasks thematisiert direkt oder in Metaphern die drohende ökologische Zerstörung und die Unterdrückung humaner Werte. In seiner „Musica dolorosa“ für Kammerorchester etwa reagierte Vasks auf die leidvolle Situation schöpferischer und frei denkender Menschen in einem totalitären System. An der von blutigen Auseinandersetzungen und militärischen Interventionen gekennzeichneten Wende des Baltikums aus der sowjetischen Umklammerung in die Unabhängigkeit komponierte Vasks seine Symphonie „Stimmen“, Stimmen des Glaubens, der Liebe, des Gewissens. Vasks empfindet es als seine Verpflichtung, „Licht ins Leben“ seines Volkes zu tragen, „das soviel gelitten hat und trotz seiner wieder gewonnenen Freiheit noch so weit von ihr entfernt ist.“ Zu seiner Komposition „Plainscapes“ schreibt der Komponist: „Die Schönheit der Natur Lettlands war Anregung für viele meiner Arbeiten, denn sie hat mir einzigartige Glücksmomente geschenkt. Das flache Land ist eine der Dominanten der lettischen Landschaft, ein Ort, wo man den Horizont sehen, den Sternenhimmel beobachten kann. ‘Plainscapes’ ist aus drei Vokalisen gebildet, die durch kleine Interludien getrennt sind. Die Dynamik dieser diatonischen, meditativen Komposition ist fast durchgehend piano. Doch am Ende der dritten Vokalise ändert sich der Charakter. Ein ansteigendes Crescendo führt zum Höhepunkt – zur Vision des Erwachens der Natur.“ SOFIA GUBAIDULINA (*1931) Sofia Gubaidulina stammt aus der Tartarischen Volksrepublik, die bis zu deren Zerfall zum sowjetischen Imperium gehörte. Ihre Musikstudien begann Gubaidulina in ihrem Heimatland und setzte die Ausbildung in Moskau bei Nikolai Pejko fort, einem Assistenten von Dmitri Schostakowitsch. Den Unterricht bei Pejko beschrieb Gubaidulina als „sehr glücklich“, Pejko sei ein guter Pädagoge und ein großer Künstler mit einer guten analytischen Begabung und einem makellosen Geschmack gewesen. Den kompositorischen Weg, den die Studentin aus der exotischen Republik ging, fanden hingegen die Moskauer Zentralisten schlichtweg „falsch“, auch wenn man ihr „Talent“ zubilligte. Schostakowitsch gab der jungen Kollegin aber einen Rat abseits von der offiziellen Konservatoriums-Linie: Sie solle ihren Weg weiterverfolgen, so fehlgeleitet er auch erscheinen möge. Ein weiser Spruch, der Gubaidulina zweifellos Selbstbewusstsein für ihre weitere künstlerische Entwicklung gab. Scheinbare Gegensätze fügen sich im Komponieren Gubaidulinas zusammen. Zunächst einmal bildet für sie Bach immer eine wesentliche Orientierungsmöglichkeit. „Unablässig lerne ich von Bach und werde weiterhin von ihm lernen. Er ist ein Phänomen und für mich ein Ideal: eine sehr stark vom Intellekt geprägte Arbeit, eine gute durchdachte Formgebung und ein feuriges Temperament.“ Überträgt man diesen Ausspruch auf das Schaffen Gubaidulinas, so kann man auch dort die von ihr bei Bach geschätzten Merkmale beobachten: Zum einen ist jedes ihrer Werke von einer zwingenden Konstruktion und einem konsequenten Verarbeitungsprinzip des verwendeten Materials geprägt, andererseits wirkt die Musik aber nie konstruiert, sondern ist immer von einem spontanen, unmittelbaren Temperament erfüllt. Dabei dominiert weder das eine noch das andere, weder die Ratio, noch das intuitive Moment. Beide gehen eine harmonische Verbindung ein. Es scheint so, als könne Gubaidulina im Prozess des Komponierens vom emotionalen Moment etwas zurücktreten und ihn aus einer gewissen kontrollierten Distanz nacherleben, gleichzeitig vermag sie die Konstruktion und die Form mit Ausdrucksstärke und Inhalten zu füllen, damit diese nicht leere Hülsen bleiben. Es überrascht nicht, dass Gubaidulina auch in Anton Webern einen Leitstern erkannte. Strenge Konstruktion und innigster Ausdruck auf engem Raum zu erleben, prägte zweifellos das musikalische Denken der Künstlerin. Sie begann sich intensiv mit Zahlenprozessen wie dem Goldenen Schnitt und der Fibonacci-Reihe auseinanderzusetzen und die Ordnungen in ihre Musik zu integrieren oder auf ihnen aufzubauen. Will man serielle Gesetzmäßigkeiten aufspüren, so findet man diese nicht in der Organisation einzelner Töne oder Tonhöhen zueinander, sondern in der Anordnung ganzer Rhythmik-Komplexe und Tonsysteme. Mit der Rhythmik organisiert Gubaidulina die Zeit, aus den sich ergebenden Dissonanzen und Konsonanzen der Töne und Akkorde gewinnt sie die Harmonie, die letztendlich in allen ihren Werken erreicht wird. Das sind übergeordnete, beinahe über dem Werk schwebende Ordnungen, die in den Details dann viele Freiheiten und Freizügigkeiten zulassen. Diese Ordnungen stellen für Gubaidulina aber immer auch göttliche Ordnungen dar, womit die Spiritualität in ihr Schaffen hineinwirkt. Seien es Bach´sche Choräle oder Motive aus der russisch-orthodoxen Musik, sehr oft bilden sakrale Themen Ausgangspunkte für Gubaidulinas Kompositionen. Inmitten des atheistischen sozialistischen Lebensumfeldes klammerten sich Künstler in der Sowjetunion an Motive des christlichen Glaubens, der den offiziell Unverstandenen Zuflucht gewährte und Kraft gab. Gubaidulina komponiert kaum absolute Musik, vielmehr sind die meisten ihrer Werke religiös, literarisch, philosophisch oder mythologisch inspiriert, was sich auch in einigen der Werktitel niederschlägt. Sie folgte sowohl antiken Texten etwa aus Ägypten oder Persien, als auch moderner Lyrik, etwa von Marina Zwetajewa oder T. S. Eliot. Der Horizont von Gubaidulinas Musik reicht aber noch viel weiter. Man muss über herkömmliche europäische Denkungsarten hinausgehen, um ihn ganz erfassen zu können. Diesbezüglich stellt es kein unwichtiges Detail in Gubaidulinas Biographie dar, dass sie Mitte der siebziger Jahre zusammen mit ihren Komponistenkollegen Viktor Suslin und Wjatscheslaw Artjomow die Gruppe „Astreja“ gründete, in der auf seltenen russischen, kaukasischen und mittelasiatischen Volksinstrumenten improvisiert wurde, wobei die Musiker auf ungeahnte, ungekannte klangliche Ergebnisse stießen. So ist es wohl nicht vermessen, Gubaidulinas musikalischen Kosmos von barocker Kontrapunktik bis zum Orientalismus zu spannen. 1997 widmete Gubaidulina dem russischen Cellisten und Dirigenten Mstislaw Rostropowitsch zu dessen 70. Geburtstag eine Vertonung des „Sonnengesangs“ des Heiligen Franz von Assisi. Franziskus verfasste den „Sonnengesang“ Ende des Jahres 1224 und Anfang des Jahres 1225, als er bereits schwer krank war. Es handelt sich um ein Gebet, welches die Schönheit der Schöpfung preist: von Sonne, Mond und Sternen, über Luft und Wetter, Wasser und Feuer bis zu Mutter Erde, und schließlich den Tod. Franziskus betrachtet die Welt nicht romantisch-pantheistisch, sondern dankt Gott für das Geschaffene. Im Gegensatz zu den in der Kirche obligatorischen lateinischen Texten dichtete Franz von Assisi in der altitalienischen Umgangssprache. Sein Sonnengesang wird daher manchmal auch als Beginn der italienischen Literatur, ja als ein Vorläufer von Dantes „Divina Commedia“ betrachtet. Entsprechend dem Widmungsträger kommt in Gubaidulinas Vertonung dem Violoncello die dominante Solostimme zu. Das Violoncello „singt“ den Lobpreis, denkt über die Worte des Heiligen nach, führt sie weiter, reflektiert sie. Eine Stimme auch, die mahnt, wie der Mensch mit der Schöpfung umgeht. Schläge von der Großen Trommel erklingen. Und am Ende tritt das Instrument Flexaton mit süßen Glissandi in ein Responsorium mit dem Chor ein. Der Chor singt in sphärischen Harmonien, stimmt mit psalmodierenden Passagen irdische Kirchengesänge an und deklamiert einige Sätze des Heiligen in nachhaltigem Sprechgesang. Perkussionsinstrumente pendeln in den Pulsschlag der heiligen Worte ein und geben ihnen eine dramatische Bedeutung. Sofia Gubaidulina schrieb über ihren „Sonnengesang“: „Dieses Werk habe ich dem wahrscheinlich größten Cellisten des 20. Jahrhunderts, Mstislaw Rostropowitsch, zu seinem 70. Geburtstag gewidmet. Und natürlich haben Inhalt und Charakter des Werkes auch mit seiner Persönlichkeit zu tun, die in meiner Vorstellung stets von Sonne, Sonnenlicht und Sonnenenergie erhellt ist. Die ungewöhnliche Kraft und Klangtiefe seines Instrumentes haben mich zu einer sehr wichtigen musikalischen Geste angeregt. ... Mir war klar, dass dieser Text auf keinen Fall fröhlich gesungen werden darf. Auf keinen Fall darf die Ausdruckskraft dieses Hymnus durch Musik verstärkt werden. Die Musik darf bei der Berührung mit solch heiligen Texten keineswegs gewählt, künstlich kompliziert oder übertrieben spannungsvoll wirken. Der Text stellt vielmehr eine Verherrlichung des Schöpfers und seiner Schöpfung durch einen sehr bescheidenen, einfachen Franziskanermönch dar.“ Texte: Rainer Lepuschitz Quellen: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Bärenreiter; wikipedia; Materialien des Chores „Kamēr...“ JUGENDCHOR „KAMĒR...“ Der Jugendchor „Kamēr...“ wurde 1990 von Māris Sirmais gegründet und bis 2012 von ihm geleitet. Sein Nachfolger als Künstlerischer Leiter und Chefdirigent ist Jānis Liepiņš. Der Chor wurde bei mehr als 70 Chorwettbewerben ausgezeichnet. So ging der Chor als Sieger aus den Konkurrenzen von Marktoberndorf, Spittal, Tolosa, Tours und Gorizio hervor, er gewann 2004 den Europäischen Grand Prix für Chorgesang und siegte 2006 bei der Chorolympiade im chinesischen Xianmen. Die jungen SängerInnen profilierten sich bei Konzertgastspielen u. a. in Deutschland, Polen, Österreich, der Schweiz, in Frankreich, Spanien, Irland, Finnland, Dänemark, den Niederlanden, in Tschechien, der Türkei, in China und den USA als eines der herausragenden Vokalensembles in der heutigen Musikwelt. Der Chor „Kamēr...“ trat bei wichtigen Festivals wie dem Asiago-Festival, dem Kammermusikfest Lockenhaus, dem Boswiler Sommer, dem Stimmen-Festival in Deutschland, dem Kronsberg Festival und dem Bodensee Festival auf. Viele renommierte Interpreten haben die Zusammenarbeit mit dem Chor gesucht: Gidon Kremer und die Kremerata Baltica, Peter Schreier, Yuri Bashmet, Julius Berger. Neben einem vielfältigen traditionellen Repertoire mit Musik von der Renaissance bis in die Romantik führt der Chor auch regelmäßig zeitgenössische Werke von den bedeutendsten Komponisten unserer Zeit wie Arvo Pärt, Gija Kantscheli, Pēteris Vasks, John Adams und Sofia Gubaidulina auf. Der Chor hat auch zahlreiche Kompositionsaufträge vergeben. Das vielfältige musikalische Wirken des Chores ist auch in zahlreichen CD-Aufnahmen dokumentiert, darunter die Alben „World Sun Songs“, „Moon Songs“ und „The Madrigals of Love“. Der Chor wirkt auch auf einer Einspielung der Violakonzerte „Styx“ von Kantscheli und „Myrrh-Bearer“ von Tavener mit Maxim Rysanow als Solisten mit. Für seine künstlerische Arbeit wurde dem Chor der Große Lettische Musikpreis verliehen. Das lettische Wort Kamēr... steht für „Weile“, „Zeit“, „Zeitspanne“. Die drei Punkte stehen dafür, dass auch in der zukünftigen Entwicklung des Chores alles möglich ist. JĀNIS LIEPIŅŠ Jānis Liepiņš, Jahrgang 1988, ist seit wenigen Monaten Künstlerischer Leiter und Chefdirigent des Jugendchores „Kamēr...“. Er schloss das Studium in Chordirigieren an der Lettischen Musikakademie ab und setzt seine Studien nun in Orchesterdirigieren fort. In Berlin hat er im Rahmen eines Erasmus-Stipendiums bereits ein Jahr lang Orchesterdirigieren (bei Lutz Köhler) studiert. An der Royal Academy of Music in London absolvierte er einen Meisterkurs bei Colin Metters. Den Jugendchor „Kamēr...“ dirigiert Liepiņš seit dem Jahr 2006 in zahlreichen Konzerten in Lettland und bei internationalen Festivals. Unter seiner Leitung gewann der Chor den 25. Internationalen Béla Bartók-Chorwettbewerb in Ungarn. 2007 gewann Liepiņš Teodor Reiter’s Internationalen Chordirigenten-Wettbewerb, war 2009 Finalist im Eric Ericsson’s Internationalen Chordirigenten-Wettbewerb und wurde vom Lettischen Kulturministerium mit dem Preis „For Excellence in International Competitions“ ausgezeichnet. NICOLAS ALTSTAEDT Nicolas Altstaedt, der 1982 als Sohn deutsch-französischer Eltern in Heidelberg geboren wurde, war einer der letzten Schüler des russischen Cellisten Boris Pergamenschikow (1948–2004) an der Berliner Musikhochschule Hanns Eisler, wo er seine Studien dann bei Eberhard Feltz fortsetzte. Altstaedt gewann bedeutende Preise: den Deutschen Musikwettbewerb, die Adam International Cello Competition in Neuseeland, den Marguerite Duetschler Preis des Festivals Gstaad, ein Fellowship des Borletti Buitoni Trust und den Credit Suisse Young Artist Award, mit dem ein Auftritt als Solist in einem Konzert mit den Wiener Philharmonikern beim Lucerne Festival verbunden ist. Als Solist tritt Nicolas Altstaedt auch mit anderen führenden Orchestern wie dem TonhalleOrchester Zürich, den Bamberger Symphonikern, dem RSO Stuttgart, der Kremerata Baltica und der Sinfónica de la Juventud Venezolana auf. Als Kammermusiker konzertiert er mit Künstlern wie Gidon Kremer, Yuri Bashmet, Alexander Lonquich, Daniel Hope, Jörg Widmann und dem Quatuor Ebène. Als leidenschaftlicher Interpret zeitgenössischer Musik arbeitet Nicolas Altstaedt eng mit den Komponisten Thomas Adès, HK Gruber und Sofia Gubaidulina zusammen. Regelmäßig ist Altstaedt auf den bedeutenden Konzertpodien Europas, der USA, Australiens und Asiens zu hören. Er zählt zu den wenigen europäischen Künstlern, die in die Lincoln Center Chamber Music Society New York aufgenommen wurden. Aus seiner Diskographie ragen u. a. Einspielungen der Haydn-Konzerte und von Werken Robert Schumanns und Wilhelm Killmayers heraus. Nicolas Altstaedt musiziert auf einem Violoncello von Nicolas Lupot (Paris 1821), das ihm von der Deutschen Stiftung Musikleben zur Verfügung gestellt wurde. Seit 2012 leitet der Künstler als Nachfolger Gidon Kremers das Kammermusikfest Lockenhaus. JOHANNES DICKBAUER Johannes Dickbauer hat eine große künstlerische Bandbreite. Er ist als klassischer Violinsolist, Kammermusiker, Jazzer, Volksmusikant, Komponist und Arrangeur tätig. Der Schüler von Ernst Kovacic studierte des Weiteren am Curtis Institute of Music in den USA bei Pamela Frank und nahm an Meisterkursen mit Dave Douglas, Uri Caine, dem Guarneri String Quartet, Shmuel Ashkenasi und Claude Frank teil. Der Preisträger des Concours International de Violon von Sion konzertiert als Solist mit Klangkörpern wie der Wiener Kammerphilharmonie, dem Dohnanyi Budafolk Orchester unter der Leitung von Shlomo Mintz und dem Wiener Kammerorchester. Johannes Dickbauer musizierte noch unter der Leitung des legendären Dirigenten und Geigers Yehudi Menuhin. Dickbauer gewann zwei Mal den Wettbewerb Musica Juventutis in Wien und konnte in der Folge einerseits mit einem klassischen Programm im Wiener Konzerthaus debütieren, andererseits gemeinsam mit Manu Mayr das Jazz-Duo-Projekt „Cardboard Heroes“ mit großteils selbst komponierten Stücken verwirklichen. Vier Jahre lang war Johannes Dickbauer Mitglied im radio.string.quartet.vienna, welches in kürzester Zeit den Aufstieg in die europäische Jazz-Szene geschafft hat. Für das Quartett komponierte und arrangierte er einige Stücke, die mittlerweile auf vier CD-Alben beim renommierten Label ACT erschienen sind. Mit der gemeinsam mit der Geigerin und Bratschistin Lily Francis gegründeten Gruppe KammerConnect konzertierte Dickbauer im Wiener Musikverein und in den USA. RIHARDS ZAĻUPE (*1983) Rihards Zaļupe schloss das Meisterstudium in Schlagwerk und Komposition an der J. Vitols Musikakademie von Lettland ab. Das Studium führte ihn auch an die Musikhochschule Köln. Einen Meisterkurs im Marimba-Spiel und in Komposition für Marimba absolvierte er bei dem renommierten Musiker Keiko Abe, außerdem nahm er an der Internationalen Katarzyna Mycka Marimba Meisterklasse teil. Seit 2006 ist Zaļupe Schlagwerker im Lettischen Nationalen Symphonieorchester und unterrichtet an der Lettischen Musikakademie. 2008 nahm er sein erstes CD-Album „Marimba Dance“ auf, auf dem auch Kompositionen von ihm für Marimba solo, im Duo mit Klavier und für Chor zu hören sind und das den Lettischen „Music Records Award“ in der Kategorie „Debüt des Jahres“ gewann. Weitere „Music Records Awards“ gewann Zaļupe für eine Aufnahme mit seinem Trio Xylem und dem Album „Christmas Letter“ und für das Album „In the Mood of Giya Kancheli“. EDGARS SAKSONS Edgars Saksons absolvierte seine Schlagwerk-Ausbildung an der Lettischen Musikakademie in der Klasse von V. Racevskis und an der Kunstakademie von Utrecht in der Meisterklasse von H. Fehber. Heute ist Edgars Saksons selber Leiter der Schlagwerkklasse an der Lettischen Musikakademie. Saksons tritt in Konzerten als erster Schlagwerker des Lettischen National-Symphonieorchester sowie als Schlagwerker der Kremerata Baltica, des Kammermusikensembles von Riga und der Staatlichen Akademischen Chores von Lettland, des Lettischen Radiochores und des Jugendchores „Kamēr...“ auf. Als Solist konzertierte er mit Schlagwerkkonzerten von Sofia Gubaidulina, James McMillan und Rihards Zaļupe und dem Marimba-Konzert von Ney Rosauro in verschiedenen Ländern Europas und in den Vereinigten Staaten von Amerika. Außerdem musiziert er gemeinsam mit dem Klavierduo Antra und Normunds Viksnes.