WIE THEOLOGISCH IST DIE KOSMOLOGIE?
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WIE THEOLOGISCH IST DIE KOSMOLOGIE?
WIE THEOLOGISCH IST DIE KOSMOLOGIE? Fragen und Erwägungen eines Nicht-Theologen Frank Richter, Freiberg 1. Einleitende Bemerkungen Es war mancher Zufall im Spiel, wenn ein Philosoph aus der DDR nach der Wende sein Betätigungsfeld neu zu bestimmen suchte. Auf verschlungenen Wegen kam die eine oder andere Einladung an die noch existierenden wissenschaftlichen Einrichtungen, von deren Auflösung oder Abwicklung damals schon die Rede war. Auch gab es ja zunächst noch Geld, um solche neuen Begegnungen zu finanzieren und zu unterstützen. So habe ich Herrn Büttner im Jahre 1991 hier in Bochum getroffen und kennengelernt. Damals ging es z. B. um die für mich damals nicht gerade welterschütternde Frage, ob die Mauern von Jericho durch Trompeten- oder durch Posaunenklänge zum Einsturz gebracht worden waren. Das war meine erste Begegnung mit der Musikgeographie. In dieser Art von Wissenschaft kam auch – neben Musikwissenschaft und Geographie, natürlicherweise – Theologisches vor, auch Geschichtliches. Diese komplexe Herangehensweise gefiel mir: Als Student der Werkstoffwissenschaften an der Bergakademie Ende der 50er Jahre in der alten Bergstadt Freiberg hatte ich bei mir ziemlich schnell einen gewissen Hang zu allgemeineren Überlegungen bemerkt, der mich nach Berlin zum Studium zur Philosophie führte, freilich nicht zur Theologie. Dennoch blieben mir theologische Gedankengänge nicht im Verborgenen: entsprechende Interpretationen naturwissenschaftlicher Theorien durch Pius XII., Pascal Jordan, Theilhard de Chardin, Otto Spülbeck oder Gustav Wetter waren mir natürlich bekannt und sie gehörten zu meinen bevorzugten „Gegnern“ auch im philosophischen Wettstreit. Bezogen auf die Kosmologie ging es auch damals schon um Endlichkeit oder Unendlichkeit des Universums, um Wärmetod, um Evolution im Kosmos bzw. Evolution des Kosmos. Natürlich kam ich mir dabei sehr überlegen vor, da ich ja sowohl eine wissenschaftliche Weltanschauung als auch die Wissenschaften selber auf meiner Seite wußte bzw. wähnte. Auch war ich in einem Alter, in dem Toleranz häufig ziemlich kleingeschrieben wird. Andererseits konnte ich im Kreis um Hermann Ley schon etwas über Konstruktivität im Meinungsstreit, über Kommunikativität, über Dialog lernen. Die wichtigsten Partner in diesem Gespräch waren die Naturwissenschaftler, 234 Frank Richter Ingenieure und Mathematiker, die selber an weltanschaulichen, philosophischen, theologischen Fragen interessiert waren. Auch sei an dieser Stelle angemerkt: Ich stieß zur Philosophie, da ich den Eindruck hatte, es ginge um eine wichtige Weiterentwicklung von Marxismus und Materialismus. Das war in einem gewissen Maße auch der Fall, obwohl letztendlich nicht hinreichend. Das kann hier aber nicht dargestellt werden. Es muß freilich erwähnt werden – denn man wird sich vielleicht fragen, wieso heute immer noch jemand Materialist und Marxist sein kann... Deshalb soll hier wenigstens angedeutet werden: a) Wenn ich von „Materialismus“ spreche, dann meine ich nicht jene alltagssprachliche, pejorative Fassung, die nur (niedrige) materielle Bedürfnisse gelten läßt und Bewußtsein wie Menschsein generell auf solche Faktoren reduziert oder gar die Existenz von Bewußtsein leugnet, sondern eine Denkweise, die immer nach begleitenden und in bestimmter Weise strukturell möglicherweise tatsächlich entscheidenden materiellen Bedingungen für menschliches Denken und Handeln fragt – und zwar in Natur wie Gesellschaft, und dabei ausschließlich auf die Kräfte des Menschen setzt („Atheismus“). Theologische Interpretationen von naturwissenschaftlichen Theorien sehe ich genau aus diesem Grunde kritisch. Andererseits gibt es nicht nur diese strenge Polarität von Materialismus und Idealismus, Materialismus und Theologie, sondern auch theoretische und praktische Berührungspunkte. b) Unter „Marxismus heute“ verstehe ich eine an Marx orientierte, nicht unbedingt jeden Marxschen Gedanken und schon gar nicht alle nachfolgenden Marx- und Sozialismus-Interpretationen bedingungslos verteidigende Sicht auf die gesellschaftlichen Bedingungen individuellen Handelns – was insbesondere stets die Frage nach den handlungsleitenden Interessen einschließt. Frühere und heutige z. T. schwerwiegende und berechtigte Kritiken, von Gegnern wie Freunden, sind zu beachten, und insofern betrachte ich Materialismus und Marxismus nicht einfach für überholt. In diesem Sinne bin ich Materialist und Marxist. Da ich nicht zu den philosophischen West-Reisekadern der DDR gehörte, war Herr Büttner so ziemlich der erste „theologische Gegner“, den ich persönlich kennenlernte. Ich traf dabei jemanden, der naturgemäß von Materialismus und Marxismus nichts hielt, der aber bereit und in der Lage war, jemanden in seinen Kreis einzubeziehen und mit ihm zu kooperieren, der sich von jenen Konzepten zwar nicht bzw. nicht vollständig lösen wollte und konnte, aber andererseits auch kritisch über sein bisheriges Denken und Wirken nachzudenken bereit war. Dabei habe ich eine Menge über Theologie, Geographie, Wissenschaftsgeschichte und Musikwissenschaft gelernt. Konferenzen und gemeinsame Herausgeberschaften trugen zu intensiven Diskussionen bei – ob nun über den Gegenstand der Geographie, Probleme des Theologie und Physik 235 historischen Phänomens der Physikotheologie oder aktuelle theologische Fragestellungen an die Naturwissenschaften. Die Tatsache, daß Kollege Büttner ein spezielles Wissenschaftskonzept der Geographie, das Bochumer Modell, entwickelt hatte, während ich zu DDR-Zeiten für ein Freiberger Modell1 stritt, eröffnete dafür weitere Spielräume, die aus meiner Sicht noch längst nicht ausgeschöpft sind.2 Schon aus diesem Grunde möchte ich dem Jubilar noch viele Jahre erfolgreichen Schaffens wünschen. 1 2 F. Richter 1991. Es sei hier kurz erwähnt, worin das Charakteristische jenes Freiberger Modells besteht: Es ging mir darum, ein Wissenschaftskonzept zu entwickeln, daß nicht die Physik, sondern die Technikwissenschaften als Paradigma wählt, was – nicht zuletzt auch hinsichtlich der Beziehungen von Philosophie und Wissenschaften – damit verbunden ist, daß der „Abstand“ zwischen Theorie und Praxis, und damit auch zwischen empirischtheoretischer Forschung und ethischer Wertung „verringert“ wird. Die Bestimmungsstücke meines Modells sind: 1. Gegenstand der Wissenschaft ist nicht so sehr die Welt an sich, sondern eigentlich der Mensch selber in seinen Beziehungen zur Natur und „zu sich selber“ 2. Methode der Erkenntnis ist weniger die Abstraktion, sondern eher die Konkretisierung – im Sinne einer Modellierung, die über Komplexitätszunahme möglichst nahe an die Realität wie an Entscheidungssituationen heranzukommen sucht 3. Ziel der Erkenntnis ist weniger die Abbildung objektiver Wirklichkeit, sondern eher die Vorbereitung von Entscheidungen. Unbestritten bleibt dabei, daß die klassischen Elemente des Wissenschaftsverständnisses nicht verloren gehen, sondern „dialektisch“ aufgehoben werden, und daß letztendlich doch immer ein Schritt in die Nicht-Wissenschaftlichkeit hinein getan werden muß, wenn dann wirklich entschieden werden muß: Produktion, Politik, persönliche Lebensgestaltung (Alltag). Man könnte übrigens lange darüber reflektieren, warum wohl ein Wissenschaftler sein theoretisches Konzept „Modell“ nennt. Mehrere Aspekte können dabei eine Rolle spielen: Ein eher wissenschaftsphilosophischer Vorbehalt gegenüber dem Wahrheits- bzw. Beweisbarkeitscharakter wissenschaftlicher „Theorien“ überhaupt, eine gewisse Skepsis gegenüber dem Gültigkeitsanspruch der eigenen Konzeption, die Einsicht in die überwältigende Komplexität des anstehenden Problems, die scheinbar die Vergabe des Attributs „theoretisch“ unmöglich macht. In einer Zeit, da sich der wissenschaftszentristische Anspruch der Aufklärung und die postmoderne Reaktion darauf (in gewisser Weise als Wiederholung der Wissenschaftskritik der Romantik) mehr oder weniger unversöhnlich gegenüberstehen, bekommt der Modellbegriff einen noch ausgeprägteren Kontext. Ich habe seinerzeit, beginnend in den frühen 80er Jahren, den Modellbegriff als eine Möglichkeit verstanden, sowohl gegen „postmoderne Beliebigkeit“, gegen prinzipielle Marxismus-Kritik wie auch gegen den Alleinvertretungsanspruch einer bestimmten Spielart marxistisch-leninistischer Philosophie und Ideologie die konstruktiven Aspekte und Leistungen eines materialistisch orientierten Wissenschaftsverständnisses in einen neuen Abschnitt der Entwicklung der Wissenschaftsphilosophie hinüberzunehmen und dabei gleichzeitig den verbreiteten, an der theoretischen Physik orientierten Wissenschaftsbegriff zu relativieren. So etwas ist sicher auch für die Geographie interessant, auch wenn ich aus naheliegenden persönlichen Gründen die Ingenieurwissenschaften für diesen Versuch wählte. 236 Frank Richter 2. Philosophie, Theologie, Naturwissenschaften Die Veranstaltungen im Büttnerschen Kreis führten zu für mich außerordentlich interessanten Diskussionen zum Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaften, zunächst einmal induziert durch wissenschaftshistorische Überlegungen zu den verschiedenen Positionen der Geographen Carl Ritter und Alexander von Humboldt zu eben diesem Thema. Über Humboldt hatte ich schon zu DDR-Zeiten gearbeitet, und es läßt sich an dieser Persönlichkeit ein ganzes Spektrum philosophischer Interpretationen des weltanschaulichen Gehaltes der Naturwissenschaften darstellen.3 Es ging den DDR-Philosophen primär immer darum, Humboldt als Bundesgenossen des philosophischen Materialismus zu interpretieren – trotz oder vielleicht gerade wegen seiner offensichtlichen Zurückhaltung in philosophischen Fragen. Das hing natürlich mit der marxistischen Vorstellung zusammen, daß Naturwissenschaftler immer und prinzipiell materialistisch eingestellt sind (selbst in dem Fall, daß sie das nicht selber wissen): ohne die Annahmen einer objektiv-realen Außenwelt und deren Erkennbarkeit keine Wissenschaft von der Natur; und diese beiden Prinzipien wurden ja gerade als die beiden Grundaussagen des Materialismus angesehen. Diese – zugegebenermaßen ziemlich schlichte – Konstruktion wurde gleichzeitig als Beweisstück dafür genommen, daß das Verhältnis von Materialismus und Naturwissenschaft historisch eigentlich für gelöst angesehen werden könnte: Kein einziges naturwissenschaftliches Ergebnis würde jemals gegen den Materialismus sprechen; andererseits war jede Indienstnahme solcher Ergebnisse für theologische Interpretationen eine unzulässige Grenzüberschreitung, die nicht selber wissenschaftlich gerechtfertigt werden könne. Nicht ganz erfolglos haben wir dann nach 1959 versucht, „dennoch“ aufgetretene Schwierigkeiten bei einer materialistischen Interpretation von Relativitätstheorie, Quantenmechanik, Evolutionstheorie u. a. zu überwinden. Orthodoxe Marxisten hatten diese Theorien als mit dem Materialismus für unvereinbar erklärt und lehnten sie deshalb ab. Die Auseinandersetzung mit solchen Auffassungen wirkte sich positiv u. a. auf die materialistischen Konzepte von Raum und Zeit, des Determinismus und der Erkenntnistheorie aus. Aber es blieb doch das Grunderlebnis, daß es zwischen (materialistischer) Philosophie und Naturwissenschaften auch gewaltige Spannungen geben konnte. Dennoch hielten wir an der Überzeugung fest, daß der Materialismus sozusagen 3 siehe z. B. Richter 1986 Theologie und Physik 237 der natürliche Verbündete der Naturwissenschaften war; man mußte ihn nur den neuen Bedingungen anpassen. Mit der Zeit wurde mir klar, daß das so einfach nicht ist: Auch eine materialistische Philosophie kann nicht einfach ihre Aussagen naturwissenschaftlich legitimieren, und sie hat in der Interpretation naturwissenschaftlicher Theorien mit ähnlichen Problemen zu tun, wie z. B. die katholische Theologie. Es war und ist für mich verführerisch, diese Analogien näher zu analysieren.4 Das ist für mich als Nicht-Theologen gleichzeitig die Legitimation, die Beziehung von Theologie und Naturwissenschaften zu reflektieren. Letztendlich geht es mir dabei aber natürlich auch hier um die Beziehungen von materialistischer Philosophie und Naturwissenschaften. Auf jeden Fall gibt es gegenwärtig eine Menge hinsichtlich jenes Verhältnisses von Theologie und Wissenschaften zu beobachten. Geschichtliches scheint sich zu wiederholen: Zitiert Büttner den Geographen der beginnenden Neuzeit Keckermann mit dem Satz, ein Theologe müsse Geograph sein, um die Existenz und das Wirken Gottes begreifen zu können,5 so treten heute Physiker und Kosmologen mit ähnlichem Anspruch auf: Erst sie könnten wirklich die Existenz Gottes beweisen, sicherer als die Theologen selber. Das wäre also die Wiederauferstehung der Physikotheologie, wobei es in der Regel zunächst um die kausale Erklärung der Entstehung der Welt geht, über eine Reflexion des sog. anthropischen Prinzips aber auch der klassische TeleologieAspekt der Physikotheologie erneut auftaucht. Bei Frank J. Tipler, auf den ich später etwas eingehe, wird sogar der Versuch unternommen, Theologie als Zweig der Physik zu entwickeln; und diese dabei entstehende Kosmologie – wenn es denn noch eine ist – ist eine explizit christliche. Daß die Theologie über eine solche Schützenhilfe nicht unbedingt begeistert ist, soll hier schon angedeutet werden.6 Genau so interessant wäre es zu beobachten, wie sich atheistisch orientierte Naturwissenschaftler zu solchen Versuchen verhalten – wenn sie diese überhaupt zur Kenntnis nehmen. Also nicht erst durch die Wende provoziert und eingeleitet ergaben sich damit einige Fragestellungen: – Auf welche Weise sind eigentlich Philosophie und Theologie auf der einen, die Naturwissenschaften auf der anderen Seite miteinander vermittelt? Geschieht diese Vermittlung nur über die persönlichen Einstellungen des Philosophen, des Theologen, des Naturwissenschaftlers, ohne entsprechende wissenschaftssystematische, sozusagen innertheoretische Verknüpfung – oder existieren letztere doch und wie sind sie dann zu erfassen? Es ist dies also auch die Frage nach den „wissenschaftlichen Dimensionen“ von Philosophie und Theologie wie nach den „philosophischen und theologischen Dimensionen“ der Naturwissenschaften, und damit also auch die Frage nach 4 vgl. etwa Richter 1997 Büttner 1998, S. 30 6 vgl. dazu Löw S. 163f., der eine vernichtende Kritik bringt 5 238 Frank Richter dem Wissenschaftsbegriff bzw. den verschiedenen Wissenschaftsbegriffen oder -modellen, die solche wechselseitigen Zugriffe verbieten oder ermöglichen. – Handelt es sich dabei um Modelle, so impliziert dies, daß es auf diese Fragen nicht nur eine und nur eine Antwort geben muß. Man kann dann diese Unsicherheit als historisches Phänomen erklären und abtun, oder man macht ein Prinzip daraus: Letzte Antworten sind nicht mehr möglich, wir haben es mit Pluralität und Modellvielfalt zu tun – freilich tritt als neue Bedrohung nun die „postmoderne“ Beliebigkeit auf, von der man sich doch am liebsten wieder durch einen Alleinvertretungsanspruch schützen würde. Wie kommen Gesellschaften, wie kommen Wissenschaften, wie kommen Philosophien und Theologien mit dieser Widersprüchlichkeit aus, wie bewältigen sie sie, „wie halten sie sie aus“? – Für den von der materialistischen Philosophie Herkommenden stellt sich die Frage, was letztendlich vom „wissenschaftlichen Charakter des Materialismus“, von der „Unvereinbarkeit von religiösem Glauben und Wissenschaft“ oder vom „prinzipiell atheistischen Charakter der Naturwissenschaft“ übrigbleibt? Und wie soll denn nun die Beziehung von (materialistischer) Weltanschauung und Wissenschaft tatsächlich aussehen? Dabei muß ich ehrlich zugeben: mich beeindruckt – auch wenn ich dem Ergebnis in der Regel nicht zustimme – mit welcher Akribie in Methodik und Argumentation Theologen dieses Problem seit Jahrhunderten reflektieren. Es beginnt ja bereits alles mit der Frage, was wir unter „Wissenschaft“, unter „Naturwissenschaft“ verstehen, und wer dabei „wir“ sind... Hier gerät man in einen theoretischen Zirkel hinein: Gibt es prinzipiell verschiedene Perspektiven auf diese Frage von Philosophie, Theologie, Naturwissenschaft her – dann kann man gar nicht aus einer übergreifenden Perspektive reflektieren; ist eine solche Perspektive doch möglich – wie soll man sie sich erarbeiten, wenn man vom „modernen“ Wissenschaftsverständnis ausgeht, ja ausgehen muß? Und was bleibt dann von der Spezifik der Gegenstände? Kann und soll man von einem Naturwissenschaftler als Wissenschaftler erwarten, daß er die ethischen Konsequenzen seines Tuns umfassend berücksichtigt? Und wenn man das verneint, gilt dasselbe für einen Mediziner, der auf dem Gebiet der Humangenetik forscht – was ja vielleicht gar keine (reine) Naturwissenschaft mehr ist? Analoges ließe sich generell zu den Technikwissenschaften sagen. Was halten wir heute noch von einer „sauberen“ Arbeitsteilung zwischen Wissenschaft und Ethik?7 7 vgl. dazu auch die Debatten um Finalismus und Lyssenkoismus in früheren Jahren. Hier ist auf Konsequenzen einer politischen bzw. ideologisch direkt determinierten Naturwissenschaft verwiesen worden. Ohne Zweifel drohen aber von einer ethikfreien Naturforschung vergleichbare Gefahren. Theologie und Physik 239 Nun könnte man ja denken, Wissenschaftler wie Manfred Büttner sind der Beweis dafür, daß es eine übergreifende Perspektive gibt. „Geographie der Geisteshaltung“, schon „Religion/Umweltforschung“ sprengen enge Grenzen von Disziplin und Disziplinarität. Vielleicht springt er aber auch einfach von einer Perspektive zur anderen, und strenggenommen denkt er gar nicht interdisziplinär, sondern „nur“ multidisziplinär?! Bei aller Entwicklung in Wissenschaft wie Wissenschaftsverständnis ist offensichtlich das hier interessierende Problem im großen und ganzen unverändert erhalten geblieben. Gesellschaftliche bzw. geistige Anforderungen an die Wissenschaften (vgl. die Wissenschaft im Mittelalter, aber auch die der Aufklärung und Neuzeit bis in die Gegenwart hinein) sind mit Wissenschaftskonzepten konfrontiert, die solche Wechselbeziehungen generell ablehnen. Allgemein akzeptable Klärungen sind nicht in Sicht. Eine Akzeptanz der Existenz verschiedener Wissenschaftsmodelle und deren Tolerierung scheint schwer möglich. Es läßt sich aber auch nicht mehr einfach ein Modell verordnen, was in der Geschichte gelegentlich möglich war. Was übrig bleibt, ist offensichtlich nur noch die Kommunikation über jene Vielzahl von Konzepten – mit der Hoffnung, daß letztendlich dabei die Vorzüge wie Grenzen eines jeden Konzeptes deutlich werden. Wenn das so ist, kann jeder – ohne die Überzeugung von der (relativen) Wahrheit seines Konzeptes zu verlieren, die Existenzberechtigung auch anderer Modelle akzeptieren.8 3. Neues9 im Verhältnis von Theologie, Philosophie und Wissenschaft 3. 1. Selbstorganisation, Evolution und Singularität Ich will hier keinen Vortrag über Selbstorganisation und Evolution halten. Ich will nur sagen, daß durch diese neuen Theorieansätze nicht nur in den betreffenden Naturwissenschaften eine neue Entwicklungsetappe eingeleitet worden ist, sondern auch für die materialistische Philosophie und die Theologie(n) in ihrem jeweiligen Verhältnis zu diesen Wissenschaften. Die Ausgangssituation war dabei ganz verschieden – oder sie schien es wenigstens zu sein: 1. Hatte der Materialismus schon immer die Auffassung vertreten, die Welt sei Ursache ihrer selbst (causa sui), sie sei in ständiger Bewegung und Entwicklung begriffen, so konnten nun Selbstorganisation und Evolution als Anwendungsfälle von Dialektik und Materialismus systematisch ohne Schwierigkeiten angenommen werden. Wechselhafte Mehrheiten z. B. in der Auseinandersetzung um den Darwinismus sollten nun der Vergangenheit 8 9 Vgl. dazu Richter 1992 „Neu“ ist natürlich auch hier relativ zu sehen. Ansätze für eine Theorie der Selbstorganisation gibt es bereits in den 70er Jahren. 240 Frank Richter angehören, „dialektische Sprünge“ durch Singularitäten belegbar werden, usw. 2. Hatten Theologien dagegen in der Regel ein Schöpfungskonzept (creatio ex nihilo, providentia) vertreten und Evolutionstheorien zumeist abgelehnt, mußten Selbstorganisation und Evolution auf den ersten Blick als kontrareligiös erscheinen. Sprachen noch klassische Kosmologien (WärmetodKonzept, Urknall-Theorie) eher für theologische Thesen zur Genesis, so tauchten nun kosmologische Modelle auf, die erneut ohne Gott als Schöpfer auskamen oder aber Gott mit der Selbstorganisation selber identifizierten. Da stand dann die Auseinandersetzung mit dem Pantheismus an, usw.10 Sehr schnell zeigte sich, daß diese Gegenüberstellung prinzipiell nicht richtig ist. So wie der Materialismus in neue Schwierigkeiten geriet (bzw. die „alten“ nicht völlig ausräumen konnte – Urknall, Lebensentstehung), konnten Theologen und Physiker den neuen Theorien auch neue theologische Interpretationen unterlegen. Ich hatte nach der Wende die Gelegenheit, solche Anstrengungen in Veranstaltungen der ESSSAT (European Society for the Studies of Science and Theology) zu beobachten. Die Selbstorganisation und Evolution im Universum läßt sich sogar mit der providentia zusammenbringen (Gott ist nicht nur Schöpfer zu Weltenbeginn, sondern auch Weltenlenker zu jeder Zeit, die Schöpfung ist mit der Weltentstehung nicht abgeschlossen). Gleichzeitig muß sich vor allem die evangelische Theologie erneut verstärkt mit dem Thema der natürlichen Theologie beschäftigen. 11 Diese Situation ist durch eine neue Erscheinung noch verstärkt worden: Die Entdeckung der Singularität durch systematisch vorgehende Wissenschaften. Solche individuellen, streng genommen nicht wiederholbaren natürlichen Ereignisse treten im Zusammenhang mit modernen Forschungen zur Evolution und Selbstorganisation deutlich in das Blickfeld: Der Urknall, wenn es ihn denn gab (und wenn es sich dabei tatsächlich um eine Singularität handelt), die Entstehung des Lebens auf unserem Planeten, die Entwicklung des Menschen, historische Einschnitte in der Gesellschaftsentwicklung wie gravierende Einschnitte im Leben jedes einzelnen Menschen – von der Geburt bis zum Tod. Im vergangenen Jahrhundert waren Wissenschaften, die sich mit einmaligen Ereignissen beschäftigten, noch aus dem Kreis der exakten Wissenschaften ausgeschlossen worden.12 Heute sind Kosmologie, Geologie, Evolutionsbiologie, Ingenieurwissenschaften u. a. mit dem Phänomen der Singularität unmittelbar – und nun auch theoretisch – konfrontiert. Abstrahiert der klassische Theoriebegriff vom einzelnen Ereignis und führt er über eine Verallgemeinerung zu Voraussagen für eine ganze Klasse von möglichen 10 vgl. dazu u. a. Daecke, S. 18 vgl. dazu Bresch (Hrsg.) 1990 und Andersen/Peacock 12 vgl. die Differenzierung zwischen nomothetischen und idiographischen Wissenschaften durch den Neukantianismus 11 Theologie und Physik 241 Ereignissen, geht es jetzt auch um das Einzelne – und damit näher heran an die reale Wirklichkeit. Dabei geraten die Wissenschaften an die Grenze ihrer Gegenstände wie ihres Selbstverständnisses. Besonders dramatisch ist es in der Physik. Aus der Relativitätstheorie läßt sich die Existenz von Singularitäten ableiten – von Punkten unendlicher Dichte und unendlicher Raum-ZeitKrümmung, und das sind schon sehr merkwürdige „Gegenstände“, mit denen die Physik eigentlich nichts anfangen kann und wo ihre Theorien ihre Gültigkeit verlieren. Das führt zu unterschiedlichen neuen Modellansätzen in der globalen Relativitätstheorie bzw. Kosmologie, nicht selten aber auch zu „theologischen“ Antworten. Wenn die Standardinterpretation der kosmologischen Evolution zu dem Ergebnis kommt, daß vor dem Urknall „nichts“ war, keine Materie, kein Raum und keine Zeit – dann ist das vielleicht ein Beleg für die creatio ex nihilo, usw.? Theologisch-religiöse Positionen zur Schöpfungsgeschichte scheinen physikalisch belegbar zu sein und eine natürliche Theologie könnte wieder hoffähig werden.13 Wie gesagt: Früher scharf bekämpfte Theorien wie die der Evolution werden mittlerweile zu Bestätigungen einer creatio continua und zur physikalischen Konkretisierung der providentia als Ausdruck eines auch heute noch allgegenwärtigen und aktiven Schöpfers. Es erscheint aber auch als denkbar, daß Gott eine Welt geschaffen hat, die er mit den Prinzipien der Evolution, und damit auch mit dem Prinzip Zufall ausstattet und nun sich frei entfalten läßt. Ob es sich dabei immer noch bzw. wieder um die alte Logik des Argumentes handelt, das Gott als erklärenden „Lückenbüßer“ in wissenschaftlich nicht klärbaren Fragen einsetzt, und die ja mittlerweile von den meisten Theologen abgelehnt worden war, ist für mich schwer zu klären. Jene Logik geht ja davon aus, daß die Welt insgesamt rational erklärbar sein muß; und wenn das die Wissenschaften alleine nicht können, dann muß eben Gott als erklärende Ursache herhalten. Gleichzeitig ist das dann ein Beleg für die Existenz Gottes.14 Diese Logik – das könnte man einwenden – gilt freilich unter der Voraussetzung, daß die Wissenschaften „eigentlich“, prinzipiell ohne die Theologie auskommen. Eine richtige wissenschaftliche Erklärung ist uns allemal lieber – Gott als Lückenbüßer. Nomen est omen... 13 14 Wright 1992 Auf die Argumente gegen eine solche natürliche Theologie kann hier nicht eingegangen werden. Klar ist jedoch, daß die Annahme, Gott sei sozusagen auch im Detail für die natürlichen Gegebenheiten zuständig, jegliche Gottesvorstellung den Erkenntnissen der Naturwissenschaften zugänglich und damit theologisch von den Naturerkenntnissen abhängig macht. Offenbarungstheologie muß sich davon wohl immer abgrenzen. 242 Frank Richter Lassen wir diese Voraussetzung fallen – etwa mit einer Betonung der Rolle von Singularitäten im Naturgeschehen, die nicht auf allgemeine Gesetze zurückgeführt werden können, dann ist das „Finden“ von Gott in der Natur nicht mehr unbedingt das Resultat einer Lückenbüßer-Argumentation. Es gibt deshalb wohl eine – eher systematische als unbedingt historische – „Entwicklung“ der Lückenbüßer-Logik: – Gott wird als Naturkraft eingesetzt, wenn die verfügbare Theorie für einen bestimmten Fakt keine Erklärung liefert (so löst z. B. Newton bestimmte Gravitationsprobleme im euklidisch-unendlichen Weltall, oder Gott ist die Entstehungsursache hochkomplexer biologischer Organismen, oder Gott löst den Urknall aus, da die Kosmologie keine physikalische Ursache für den Urknall angeben kann). Historische Erklärungsgrenzen werden dabei (vorschnell?) für prinzipielle wissenschaftlichen Erkenntnisgrenzen gehalten.15 – Der Übergang von der klassischen Physik zur Quantenphysik bzw. Relativitätstheorie wird genutzt, um für Gott einen „Raum“ zu finden, in dem er existieren kann, ohne mit den (klassischen?) Gesetzen der Physik in Konflikt zu geraten (Karl Heim). Hier ist nicht ein einzelnes Problem, sondern ein neues, mit der alten Physik nicht verträgliches Paradigma die Lücke. – Jene Logik taucht unter der Bedingung von Zufällen und Singularitäten mit neuer Legitimation wieder auf: es sind – aus heutiger Sicht – nicht mehr historische Erkenntnisgrenzen, die für göttliches Wirken sprechen, sondern mit einiger Begründung scheint es sich nun wirklich um prinzipielle Erkenntnisgrenzen der Wissenschaften zu handeln (wie eben das „Zusammenbrechen“ der physikalischen Theorie bei unmittelbarer Annäherung an den Urknall, die Rolle von Zufällen im Naturgeschehen, die es schwierig macht, Verletzungen von Naturgesetzen zu erkennen,16 usw.) – Wenn nun auch Singularitäten Gegenstand wissenschaftlicher Theorienbildung werden können (so wie das St. Hawking17 annimmt), fällt auch die Möglichkeit einer solchen Lücke weg. Kitty Ferguson sagt, es sei „heute intellektuell nicht mehr vertretbar, den Unglauben lediglich auf die Annahme und die Hoffnung zu gründen, daß die Wissenschaft schließlich doch noch zu umfassenden Erklärungen gelangen wird. 15 Die Ablehnung dieser Logik durch Theologen hat ja den Grund, daß – falls sie zuträfe – Gott durch physikalische Experimente faßbar würde in dem Sinne, daß Physik entscheiden könnte, ob Gott in einer bestimmten physikalischen Situation als Ursache existent ist oder nicht. Die Theologie wird damit von Naturerkenntnissen strukturell abhängig und die Offenbarungstheologie verliert ihre unabhängige Stellung. 16 Wir können nicht sicher sein, wo sich die Lücken befinden, durch die Gott möglicherweise eingreifen könnte. Siehe Ferguson S. 304/305 17 Hawking, S.23, 28 sieht die vollständige Beschreibung des Universums als Ziel der Forschung an, darunter auch die derUrsachen für die Entstehung eines sich verändernden Kosmos. Theologie und Physik 243 Wir gestehen uns eine Art Pattsituation zu..“18 Die Frage ist aber, ob diese Ergänzung unbedingt durch Religion und Theologie erfolgen muß. Auch wenn eine scientistische Interpretation von Philosophie sicherlich fehlgeht, so sollte man der Philosophie aber nicht jede wissenschaftliche Kompetenz absprechen. In einem gewissen Umfang, der wohl aber historisch keine Konstante ist, läßt sich auch die Welt als Ganzes wissenschaftlich betrachten – auch wenn dies also mit rein naturwissenschaftlichen und mathematischen Mitteln nicht möglich sein sollte. Es ist nur eine Situation denkbar, in der Theologie und Philosophie auch diese Bastion aufgeben müßte: Wenn sich Wissenschaften wie die Kosmologie der Welt tatsächlich erfolgversprechend als Ganzes zuwenden könnten.Aber auch dann würde es sich dabei wieder nur „um die Welt als Ganze in einer bestimmten Beziehung“ handeln. Für Philosophie und Theologie bleibt also immer Raum. Das ist mit der Standardinterpetation des Weltalls als eines zeitlich und räumlich unbegrenzten, zugleich endlichen Systems in gewisser Hinsicht gegeben. Die Unmöglichkeit einer kosmologischen Analyse der Welt als Ganze bezieht sich dann nur noch auf ein offenes euklidisches Weltall. Andererseits ist die Standardinterpretation aber auch noch nicht gesichert. Denken wir in diesem Zusammenhang an die erst unlängst wieder verstärkt in die Öffentlichkeit gedrungene Frage der Neutrino-Masse, von der nicht nur die Bestimmung der Gesamtmasse im Universum abhängt, sondern auch die Entscheidung, welches der drei Fridmannschen Universen (eben offen, gekrümmt geschlossen, gekrümmt offen) unser Weltall am besten beschreibt. Offensichtlich ist aber, daß mit der Wissenschaft etwas passiert ist, das üblichen Wissenschaftsstandards nicht enstpricht. Demzufolge ist auch die Debatte um die Beziehung von Philosophie, Theologie und Naturwissenschaften neu entbrannt. Dabei werden wir uns beim gegenwärtigen Wissensstand wohl für eine gewisse Weile auf die von Ferguson angesprochene, im allgemeinen Verständnis existierende „Pattsituation“ zwischen Materialismus und Theologie in der uns hier interessierenden Frage nach Ewigkeit oder Geschaffensein der Welt einrichten müssen. Bezogen auf die entsprechende kosmologische Theorie würde ich das so akzeptieren. Auch heute noch lehne ich jedoch eine solche „Gleichberechtigung“ auf heuristisch-methodologischer Ebene ab. Würde man nämlich an den Grenzen des Wissens theologische Antworten zulassen und ernstlich akzeptieren, führte das zur Blockade weiterer wissenschaftlicher Forschung. Insofern halte ich auch heute noch „materialistische“ erkenntnistheoretische Orientierungen für die Naturwissenschaften für effizienter als theologische. Hinsichtlich der Person des Naturwissenschaftlers mag das schon wieder ganz anders aussehen: Der benötigt 18 Ferguson S. 273 244 Frank Richter vielleicht gerade einen Hinweis auf einen Gott als Schöpfer und Weltenlenker, um sich und seinen Mut im riesigen Weltall nicht zu verlieren. 3. 2. Renaissance der christlichen Physik? Mit Büttner möchte ich als christliche Physik, christliche Kosmologie, Biologie usw. eine Wissenschaft verstehen, die in ihr theoretisches System nicht nur einen Schöpfergott einzubauen sucht, sondern auch für Jesus Christus einen Platz finden will.19 Dabei geht es also nicht etwa „nur“ um die ethische Begleitung naturwissenschaftlicher Forschung, sondern um innertheoretische Begriffe und Theorien, die strenggenommen nicht nur eine Entsprechung zu christologischen Begriffen besitzen, sondern mit solchen identisch sind. Mercator20, Comenius, Theilhard de Chardin können zu in diesem Sinne christlichen Naturwissenschaftlern gerechnet werden. Aus neuester Zeit gesellt sich zu ihnen Frank J. Tipler, Physiker auf dem Gebiet der globalen Relativitätstheorie. Tipler versucht, im Prinzip sämtliche christliche „Dogmen“ nicht nur mit der Physik der globalen Relativitätstheorie als verträglich nachzuweisen, sondern jene aus den Theorien der letzteren abzuleiten. Die Theologie werde damit zu einem Teilgebiet der Physik, wobei die (neue) natürliche Theologie zur Offenbarungstheologie in einem Verhältnis stünden, das dem von kopernikanischer und ptolemäischer Astronomie analog sei.21 Tipler kritisiert im Vorwort jene „liberalen Theologen“ (ohne Namen zu nennen; er sagt auch: „der typische liberale amerikanische Theologe oder Religionswissenschaftler“), die an wesentliche Inhalte der christlichen Religion nicht mehr glauben, insbesondere nicht an die Auferstehung der Toten. Dagegen liefere seine Omegapunkttheorie den wissenschaftlichen Beweis a) für die Existenz Gottes und b) für einen persönlichen Gott, der alle Menschen liebt und sie nach dem Tode auferstehen läßt. Tiplers Motto: Ich bin zwar Atheist, aber wenn meine Omegapunkt-Theorie bestätigt wird, werde ich Christ. Bei dieser Theorie gehe es um reine Physik, die ihren Ursprung sogar in einem atheistischen wissenschaftlichen Materialismus (Friedrich Engels, sowie Bernal und Haldane) habe. Theologische Bezugspunkte sind für Tipler u. a. Paulus, Tillich und Theilhard (den er eher für einen Poeten als einen Wissenschaftler hält, nur den Namen Omegapunkt habe er ihm zu Ehren übernommen), sowie Pannenberg. Seine physikalischen Bezugspersonen sind u. a. Hawking und Penrose. 19 vgl. etwa den Beitrag Büttners zu Comenius auf dieser Konferenz bzw. im Konferenzband vgl. dazu Büttner 1995 21 Tipler S. 406 20 Theologie und Physik 245 Nun, was soll man dazu sagen? Soll man hierzu überhaupt etwas sagen?22 Früher hätte ich versucht, Tipler trotz oder gerade wegen seiner christologischen Orientierung gegen die christliche Theologie auszunutzen – nach dem Motto: Herr Staatsanwalt, ich gratuliere Ihnen zu diesem Zeugen! Zu so etwas habe ich heute keine Lust mehr. Insofern interessieren mich mehr die technischen Details bei Tipler – etwa wie er sich die Besiedlung des Weltalls durch den Menschen vorstellt, welche Möglichkeiten und Grenzen dafür bestehen, wie kosmologische Theorien hier hineinspielen usw. Interessant ist dann freilich wieder, warum jemand von einer atheistisch-materialistischen Tradition her dann einer christologischen Wende verfällt. Da wäre im Extrem zu fragen: stehen wir am Anfang einer neuen „christologischen“ Etappe der Wissenschaften – sozusagen als Reaktion darauf, daß sich naive Vorstellungen im Sinne eines „Kreationismus“, verbunden mit pauschalen Ablehnungen von Evolutionstheorien, nicht durchsetzen konnten und einem regelrechten Evolutions-Boom Platz machen mußten? Oder sollte man „nur“ sagen: Wir stehen (wieder einmal) am Beginn einer neuen Etappe der Beziehung von Naturwissenschaften und Theologie/Philosophie? Es kommen auf alle Fälle verschiedene Dinge zusammen, so z. B. – die Vorstellung, aus der Wissenschaft heraus müßte mehr als bisher über grundlegende weltanschauliche (und ethische) Fragen gesagt werden. (Angebliche oder tatsächliche Defizite oder Forschungsdesiderata im Wissenschaftsbetrieb?) – ein Unzufriedensein mit der „Verarbeitung“ neuer naturwissenschaftlicher Theorien durch die Theologie bzw. Philosophie von heute (angebliche oder tatsächliche Defizite? Akzeptanz oder Fallenlassen einer natürlichen Theologie?) – eine immer stärker werdende Akzeptanz von wissenschaftlichen Evolutionstheorien (im Unterschied zu einem großen Teil unseres Jahrhundert, in dem der Darwinismus schon vielfach für abgeschrieben galt – freilich nicht im Realsozialismus..) – ein offensichtlich immer größer werdender Abstand (hinsichtlich der Faßlichkeit) zwischen Alltagswissen, Religion, Theologie und Naturwissenschaften. In der Tendenz gilt: Außer den Kosmologen versteht niemand anderes mehr die Kosmologie usw. Sie müssen sich also selber helfen und können keine Erklärungshilfe mehr von den Philosophen, Theologen usw. erwarten. Theologisierende Naturforscher als neue, dritte Form der Kultur? Die Zeiten wiederholen sich, und Analogien zu den 20er bis 50er Jahren unseres Jahrhunderts sind überdeutlich: Die „Philosophen“ scheinen erneut in der „falschen“ Fakultät zu sitzen. 22 Paul Davies akzeptiert Tipler offensichtlich als Kollegen, auch wenn er ihm wilde Spekulationen vorwirft. Vgl. Davies S. 228. Löw behandelt Tipler nur deshalb, weil er vom Verlag dazu gedrängt worden sei. 246 Frank Richter – die scheinbare oder wirkliche Niederlage des wissenschaftlichen Materialismus oder Atheismus als weltanschauliche Grundlage der Wissenschaften (nicht reduziert auf 1989, sondern schon seit den 20er Jahren des Jahrhunderts) – allgemein beklagter Werteverlust (oder Wertewandel) und Krisenbewußtsein in unserer Zeit, wieder mal ein Jahrhundertende – mit Jahrhundertendeschmerz, Angst vorm neuen Jahrtausend..? Mit dem Sozialismus verschwindet eine (die?) Alternative zum Kapitalismus. Diese Aspekte machen zusammen eine neue Situation aus, obwohl die einzelnen Aspekte selber schon geraume Zeit existieren mögen. Dabei werden Ansätze zu neuem Denken bei einzelnen Partnern häufig nicht wahrgenommen oder erst viel später. Da beziehe ich sogar den Papst ein, dessen Aufsatz von 198723 sicher viele nicht gelesen haben. Dieser Aufsatz ist auf Ausgleich bedacht und will keine Seite überfordern. Freilich bleibt vieles offen und unklar. Auf der anderen Seite nähern sich auch Protestanten naturtheologischen Positionen an, usw. Ein vorläufiges Resumee zu Tipler könnte so aussehen: 1. Das Thema „Ewigkeit des Lebens“ ist schon relevant, auch heute. Ich bin nicht der Meinung, daß diese Frage wie auch die nach der Ewigkeit des Weltalls uninteressant ist gegenüber den aktuellen sozialen, ökologischen und ökonomischen Problemen. Dieses Thema hat etwas zu tun mit den Hoffnungen auch für das gegenwärtige Leben. Für mich ist es aber keine Frage der individuellen Fortexistenz, sondern des Lebens generell. Das ist sozusagen die materialistische Sicht auf die Frage nach dem Sinn des Lebens: Eine endliche sinnerfüllte individuelle Existenz, verbunden mit dem „Glauben“ und z. T. Wissen um die (mögliche) Weiterentwicklung der Menschheit im Rahmen der im Kosmos gegebenen und vielleicht auch gestaltbaren natürlichen Bedingungen für diese Weiterexistenz. Ob die Fortexistenz menschlichen Lebens selber unendlich ist oder nicht, mag gegenüber der riesigen Zeitspanne, die der Menschheit von der Evolution des Kosmos her verbleibt, irrelevant sein. 2. Interessant sind auf alle Fälle die Versuche Tiplers, die „klassischen“ Vorstellungen von Tod und Unsterblichkeit mit einer nichtklassischen kosmologischen Theorie zu verbinden. Da Tipler hier nicht nur einfach auf den Urknall rekurriert, ist ein solches Vorhaben wohl doch nützlich. Nur auf eine solche Weise kann m. E. heute noch sinnvoll auf naturwissenschaftliche Weise über einen „Schluß der Evolution“ o. ä. nachgedacht werden. Unabhängig davon, ob das dann wieder christologisch interpretiert werden darf und kann24, so ist doch klar, daß mit den klassischen Raum- und 23 24 John Paul 1990 So glaubt Tipler annehmen zu können, daß sich die individuellen Zeitkegel aller jemals gelebt habenden menschlichen Indiviuenim kurz vor Erreichen des sog. Omegapunktes, Theologie und Physik 247 Zeitvorstellungen bestenfalls der „Schöpfergott“, notfalls mit einem „Schuß providentia“ angedacht werden kann. Bereits die Verbindung von UrknallTheorie und Schöpfung erfordert ja nichtklassische Geometrie und Physik. 3. Für eine atheistische Position ist es sinnvoll, darüber nachzudenken, ob und wie bestimmte religiöse Dogmen (im Christentum, aber auch woanders) in vor- bzw. nichtwissenschaftlicher Weise bestimmte Wünsche, Ahnungen und Vorstellungen allgemein-menschlicher Seinsreflexion artikulieren, die erst nach historischer „Überwindung“ der – freilich wiederum historisch notwendigen – klassischen Etappe der Physik zum Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtungsweise werden können (vgl. Kant). Insofern ist Tiplers Versuch dann auch für nicht-religiöse Weltanschauungen und deren Begründungsversuche interessant. Solche allgemeinmenschlichen Aspekte der Seinsreflexion sind u. a.: – die Extrapolation von einem endlichen menschlichen Wesen auf ein „göttliches“ unendliches Wesen mit den daraus folgenden Eigenschaften wie Allmacht, Allwissenheit und Güte. – die Frage nach der Existenz von Körper und Geist nach dem biologischen Tod – die Frage nach den Möglichkeiten einer Evolution der Menschheit als Ganze im Kosmos – Fragen nach der möglichen Verbindung von Unendlichem und Endlichem schon im Endlichen, bezogen auf die bereits genannten Aspekte: Auftreten von „göttlichen Personen“ in der Gegenwart, Prophetie, Auferstehung, Wunder usw. 4. Für eine materialistische Philosophie bleiben dennoch – als bisher unwiderlegte – Behauptungen stehen: Religion wie Gottesvorstellungen sind Menschenwerk; das höchste Wesen für den Menschen ist der Mensch selber; eine Lösung für die Menschheitsprobleme sollten die Menschen im „Diesseits“ suchen und finden. „Glatte“ Lösungen dafür gibt es freilich nicht; der Mensch ist und bleibt ein – vorerst irdisches, später vielleicht einmal kosmisches – Risikounternehmen. Insofern fallen Materialismus und Humanismus zusammen. Tiplers Versuch ist dann bestenfalls bei erneuter „Uminterpretation“ in materialistischem Sinne relevant. Summary dem Ende der kosmischen Zeit, vereinigen und dort in Gestalt einer Computersimulation auferstehen: Der physikalische Mechanismus der individuellen Auferstehung ist die Emulation aller seit langem toten Personen – und ihrer Welten – in den Computern der fernen Zukunft. 248 Frank Richter The author considers himself as materialist and marxist in an non-orthodox way and discusses the recent relations between materialist philosophy, theology and cosmology. It seems to be true, that as well materialistic philosophy as theology, being confronted with evolution and selforganisation, get new possibilities but even new problems of explanation. Dealing with the concept of Tiplers physics of immortality , the articles concentrates on the aspect, if there are relevant momentums for a materialistic conzept of cosmic life of mankind in the future. Literaturverzeichnis ANDERSEN, S. und PEACOCKE, A. 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